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Full text of "Agrarpolitische Zeit- und Streitfragen"

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Vorträge, Referate und Gukachken 
von 


Auguſt von Miaskowski. 


Leipzig, 
Verlag von Duncker & Hum bl 


1889. 


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Hoavarpolitilche 
Zeil- und Streitfragen. 


Porkräge, Referate und Gukachten 


von 


Auguſt von Miaskowski. | 


Leipzig, 
Verlag von Duncker & Humblot. 
1889. 


r. Georg Banlfen, 


8 


hrofeſor der Staatswiſſenſchaften, 


Geheimer Regierungs-Rat er F 
5 5 zum N 
achkzigſten Geburtstage. 5 
| Den R 


er 
Pi . 5 2 
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Bochgeehrter Bert! 


Es ſind vor kurzem zehn Jahre verfloſſen, ſeitdem Sie 
meinen erſten größeren agrargeſchichtlichen, die Schweiz behan— 
delnden Arbeiten Ihre Aufmerkſamkeit und Anerkennung haben 
zu teil werden laſſen. 

Ihr wohlwollendes Urteil iſt mir damals zum Antriebe 
geworden, auf dem einmal betretenen Gebiete weiter zu arbeiten. 

Mit den rein hiſtoriſchen Studien verknüpfte ſich bei mir 
bald das Intereſſe an Fragen der Agrarpolitik, und als Frucht 
dieſer doppelten Anregung erwuchs meine in den Jahren 1882/84 
erſchienene Arbeit über das Erbrecht und die Grundeigentums— 
verteilung in Deutſchland. 

Auch habe ich ſeitdem, Ihrem Beiſpiele folgend, mit praf- 
tiſchen Landwirten Fühlung zu gewinnen geſucht und wiederholt 
vor denſelben Gegenſtände meines ſpeciellen Arbeitsgebiets be— 
handelt. f 

Auf dieſe Weiſe ſuchte ich das, was ich der Praxis an 
Anregung und Belehrung verdanke, derſelben durch Verarbeitung 


des empfangenen Materials und Klärung der nicht ſelten wirr 


durcheinander ſchwirrenden Anſichten und Entwürfe wiederzugeben. 

Dieſe in Vorträgen, Referaten und Gutachten abgelagerte 
Thätigkeit hat ihre einzelnen Spuren in einer Reihe von Zeit— 
ſchriften hinterlaſſen. Als Ganzes dürfte ſie aber weder 


meinen wiſſenſchaftlichen Fachgenoſſen noch denjenigen meiner ehe— 


maligen Kollegen aus der Praxis, mit denen ich im Preußiſchen 


VIII 


Landesökonomie-Kollegium und im Deutſchen Landwirtſchaftsrate 
während einer Reihe von Jahren zuſammen gearbeitet habe, 
bekannt geworden ſein. 

Es iſt mir daher ein Bedürfnis, dieſe Zeugniſſe meiner 
theoretiſch-praktiſchen Thätigkeit in dem Augenblick, in dem die⸗ 
ſelbe ihren Abſchluß gefunden hat, zu ſammeln und ſie in ihrer 
Geſamtheit meinen Fachgenoſſen und Mitarbeitern zur Beurteilung 
vorzulegen. 

An dem Inhalt der einzelnen in dieſen Sammelband auf⸗ 
genommenen Vorträge u. ſ. w. habe ich nichts geändert und nur 
einzelne kleinere formelle Veränderungen vorgenommen. 

Wiederholungen derſelben Gedanken ließen ſich nicht ganz 
vermeiden und mögen aus dem verſchiedenen Anlaß der einzelnen 
Vorträge und aus den verſchiedenen Kreiſen, in denen ſie gehalten 
worden, erklärt werden. 

Wollen Sie, hochgeehrter Herr, der Sie als Siebenziger die 
Erſtlinge meiner agrargeſchichtlichen Studien mit Wohl⸗ 
wollen aufgenommen haben, mir geſtatten, daß ich Ihnen dieſen 
agrarpolitiſchen Sammelband zum 80. Geburtstage zueigne? 

Mögen Sie in demſelben das Beſtreben erkennen, das mich 
ſtets geleitet hat: die Theorie im Zuſammenhange mit dem Leben, 
ſeinen wechſelnden Erſcheinungen und Forderungen zu erhalten 
und dieſelbe doch zugleich nach Möglichkeit davor zu bewahren, 
daß ſie zum Tummelplatz der Parteileidenſchaften werde, und 
mögen Sie mir auch das Zeugnis nicht verſagen, daß ich 
meine durch theoretiſche Studien gewonnenen Überzeugungen der 
Praxis gegenüber mit Feſtigkeit und zugleich mit Mäßigung ver⸗ 
treten habe. 


Breslau, im Mai 1889. 


Auguſt von Miaskomski. 


ie Lage des Bauernftandes in Preußen. 1883. . . 5 
gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 188383. 95 
5 6 8 und eg in Deutfchland. 


4 Er eu 
Anerbenrecht Aud 8 künftige bürgen org 5 

das Ben Reich. 1886. r 169 

| . 192 


5 11 . 218 
Währungsfrage. 18866. 3 


ländliche Genoſſenſchaftsweſen in 8 1887. a 

Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 1887. 288 

Wucher auf dem Lande und die es des auchn 
Kredits 1888. 5 . 282 


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I 
Horialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 


Vortrag, gehalten im Bernoullianum zu Baſel im Jahre 1880. 


T: 


H. A.! In der Geſchichte der hiſtoriſchen Wiſſenſchaften der letzten 
hundert Jahre giebt es kaum eine bemerkenswertere Thatſache als 
das plötzliche Eintreten des Begriffs der Geſellſchaft in den Ge- 
ſichtskreis der Forſchung und die große Bedeutung, welche die 
ſociale Auffaſſung der Dinge für die verſchiedenen hiſtoriſchen 
Disciplinen gewonnen hat. 

Wie eine aus dem Meer auftauchende Inſel iſt der Wiſſen⸗ 
ſchaft dieſes Gebiet plötzlich zugewachſen. An einzelnen Ver⸗ 
ſuchen, das Land zu entdecken, hat es freilich auch früher 
nicht gefehlt, ohne daß man übrigens mehr als eine Ahnung 
von der Exiſtenz desſelben gewonnen hätte. Auch blieben dieſe 
Verſuche vereinzelt, ohne Zuſammenhang unter ſich und ohne 
Einfluß auf die geſamten wiſſenſchaftlichen Beſtrebungen der Zeit. 


1 v. Miaskowski, Die Verfaſſung der Land-, Alpen- und Forſt⸗ 
wirtſchaft der deutſchen Schweiz in ihrer geſchichtlichen Entwicklung vom 
13. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Baſel 1878. 

v. Miaskowski, Die ſchweizeriſche Allmend in ihrer geſchichtlichen 
Entwicklung vom 13. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Leipzig 1879. 

Blumer, Staats⸗ und Rechtsgeſchichte der ſchweizeriſchen Demo- 
kratieen. St. Gallen. Bd. I 1847. Bd. II 1850. 

v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 1 


2 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 


Den Begründern der politiſchen Doktrin der Neuzeit (16. 
und 17. Jahrhundert) und den in der Mitte des 18. Jahrhun⸗ 
derts auftretenden Okonomiſten ſowie ihren Nachfolgern fehlte 
freilich größtenteils ſelbſt dieſe Ahnung. 

Weder bei Hugo Grotius, Hobbes, Milton und Locke noch 
bei Rouſſeau und Bentham noch auch bei Quesnay, Turgot und 
den unmittelbaren Nachfolgern von Adam Smith findet ſich die 
Spur eines Verſtändniſſes für die geſellſchaftlichen Gebilde, ihre 
Bewegungen, Kräfte und Geſetze ſowie für den beſtimmenden 
Einfluß, der von dieſer Sphäre auf das Leben des einzelnen 
Menſchen ſowie des Staats als der politiſch organiſierten Ge⸗ 
ſamtheit ausgeht. 

Über dem ausſchließlichen Gegenſatz von Individuum und 
Staat, in dem das Weſen der politiſchen Doktrin bis in unſer 
Jahrhundert hinein allgemein befangen war, überſah man das 
große Mittelgebiet, das zwiſchen beiden liegt. Der Staat wurde 
ausſchließlich als auf einer Summe von Individuen ruhend gedacht. 
Ja dieſe einzelnen ſollten nach der Anſicht der Naturrechtslehrer 
den Staat gleichſam durch eine Art Vertragsſchluß ins Leben ge- 
rufen haben. i 

Dieſelbe Auffaſſung beherrſchte auch die ältere National⸗ 
ökonomie. Wohl ſuchte dieſe die Beziehungen, welche zwiſchen 
dem einzelnen und dem Güterleben beſtehen, klarzulegen; aber 
über die atomiſtiſche Auffaſſung des Volks als eines Aggregats 
von Individuen vermochte doch auch ſie ſich nicht zu erheben. 
Und dieſes Individuum, das als Ausgangspunkt aller wirtſchaft⸗ 
lichen Bewegungen und Geſetze dienen ſollte, war nicht etwa ein 
beſtimmter Typus ſeiner Zeit, ſeines Volkes, ſeiner Klaſſe, wie 
ihn nach Künſtlerart neuerdings Riehl und andere zu ſchildern 
verſucht haben; es war auch kein nach dem Geſetz der großen 
Zahl ermittelter Durchſchnittsmenſch, mit dem die Statiſtik heute 
operiert, ſondern eine an dem plumpen Seil des Egoismus 
automatenhaft in Bewegung geſetzte Marionette ohne Fleiſch 
und Blut. 

Vollends davon, daß dieſe einzelnen Individuen je nach Art des 


Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. a 3 


Beſitzes und Erwerbs, nach Beruf und Beſchäftigung, nach Glaube 


und Geiſtesrichtung, nach Bildung und Sitte wieder zu mannig— 


fach über⸗ und durcheinander geſchichteten Gruppen zufammen- 


treten, daß die Angehörigen dieſer Gruppen ſich ebenſo ſtark 
untereinander anziehen wie nach außen abſtoßen, kurz von alledem, 
was wir heute als Weſen und Leben der Geſellſchaft bezeichnen, 
findet ſich bei den meiſten politiſchen und ökonomiſchen Schrift— 
ſtellern bis in den Ausgang unſeres Jahrhunderts keine Ahnung. 
Freilich Pufendorf, Montesquieu und Adam Smith, die größer als 
ihre Vorgänger, aber auch als die meiſten ihrer unmittelbaren 
Nachfolger waren, iſt dieſes Gebiet nicht völlig unbekannt ge— 
blieben. Wiederholt haben namentlich die letzteren beiden das— 
ſelbe geſtreift. Da die Exkurſe A. Smith' aber für ſein ganzes 
Syſtem von nebenſächlicher Bedeutung geblieben ſind, ſo gelang— 
ten auch bei ihm die fruchtbaren Gedankenkeime zu keiner wei- 
teren Verwertung. 

Erſt die Revolution, die am Schluß des vorigen Jahrhun⸗ 


| derts über Frankreich hereinbrach und ſich dann im übrigen 


Europa fortſetzte, hat mit ihren unheimlichen Blitzesſtrahlen 
auch das bis dahin im Dunkel verborgen gebliebene Gebiet der 


Geſellſchaft beleuchtet und damit den Blicken aller bloßgelegt. 


Als gleich in den erſten Jahren der Revolution die vorher ge— 
ſtellten politiſchen und ſocialen Forderungen gleichſam mit einem 
Schlage erfüllt wurden und ſich dennoch keine Zufriedenheit und 
Ruhe einſtellte, fing man an zu begreifen, daß unmittelbar nach 
Erfüllung der Forderungen des tiers état, die man irrtümlicher— 
weiſe bis dahin für die Forderungen des ganzen Volks gehalten 
hatte, neue Begehren aufgetaucht ſeien, die den Inſtinkten und 
Intereſſen des vierten Standes entſprachen und ſich mit denen 


des tiers état keineswegs deckten. So wurde man erſt durch 


den Widerſpruch der verſchiedenen Klaſſenintereſſen auf die Klaſſen 

ſelbſt und durch dieſe wieder auf die Geſellſchaft aufmerkſam. 
Aber erſt in unſerem Jahrhundert iſt es gelungen, das Ge— 

biet der Geſellſchaft ſelbſtändig abzugrenzen und ſeiner Erforſchung 


eine Stelle im Kreiſe der Staatswiſſenſchaften zuzuweiſen. Um 
* 


4 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 


dieſe grundlegende Arbeit haben ſich u. a. beſonders verdient 
gemacht Hegel, Krauſe und Ahrens, L. v. Stein, Al. de Tocque⸗ 
ville, R. v. Mohl, R. v. Gneiſt. 

Aber es genügte nicht, den Rahmen für dieſes weite Gebiet 
feſtgeſtellt zu haben. Es bedurfte der Rahmen auch eines ent⸗ 
ſprechenden Inhalts. Und ſo wurde denn bald von verſchiedenen 
Seiten ein umfangreiches thatſächliches Material, namentlich 
über die Zuſtände der handarbeitenden und von ihrem Tagelohn 
lebenden Klaſſen herbeigeſchafft. Wenn dasſelbe anfangs an 
Zuverläſſigkeit und Objektivität der Darſtellung auch vieles zu 
wünſchen übrigließ, ſo war es immerhin ein Verdienſt, die Auf⸗ 
merkſamkeit auf dieſes weite Gebiet bisher unbekannt gebliebener 
Thatſachen hingelenkt zu haben. An dieſe erſten Anfänge ſchloſſen 
ſich dann weniger leidenſchaftliche und daher zuverläſſigere Ar⸗ 
beiten hervorragender Arzte, welche teils im wiſſenſchaftlichen 
teils im philanthropiſchen Intereſſe unternommen worden waren, 
ferner die Arbeiten der offiziellen und privaten Statiſtik, der 
parlamentariſchen Enquetekommiſſionen und einzelner Gelehrter an. 

Und während wir uns noch mitten in der Herbeiſchaffung, 
Darſtellung und Verarbeitung des thatſächlichen Materials be⸗ 
finden, von dem wir erſt eine möglichſt umfaſſende Kenntnis der 
geſellſchaftlichen Zuſtände verſchiedener Völker und verſchiedener 
Zeiten erwarten, tauchen bereits tauſend Fragen auf, die 
ihre Beantwortung aus theoretiſchen und praktiſchen Gründen 
heiſchen. 

tit dem plötzlich in den weiteſten Kreiſen der wiſſenſchaft⸗ 
lichen Welt erwachten Intereſſe für die Zuſtände und Vorgänge 
des ſocialen Lebens geht nun aber keineswegs Hand in Hand 
der Umfang und die Zuverläſſigkeit der auf dieſem neuen For⸗ 
ſchungsgebiete gewonnenen Reſultate. 

Wer wollte ſich aber angeſichts der großen Jugend der 
Socialwiſſenſchaft, namentlich wenn er das hohe Alter anderer 
Disciplinen damit vergleicht, darüber wundern? Ja wer dürfte 
dies, wenn er zugleich die großen Schwierigkeiten erwägt, welche 
bereits bei der Feſtſtellung ſocialer Thatſachen, noch mehr aber 


Socialpolitifches aus den Schweizer Alpen. 5 


bei der Ermittelung von Kauſalzuſammenhängen und vollends 
bei der Auffindung von ſocialen Geſetzen zu überwinden ſind? 

Handelt es ſich doch um ein Gebiet, dem wir perſönlich 
durchaus nicht ſo unintereſſiert gegenüberſtehen, wie etwa der 
Naturforſcher dem Gegenſtande ſeiner Unterſuchung. Vielmehr 
gehören wir alle durch Geburt, Vermögen, Beruf oder Neigung 
einer beſtimmten ſocialen Bevölkerungsklaſſe an. Durch Er— 
ziehung, Umgebung und Gewohnheit haben unſere Anſchauungen 
über ſociale Verhältniſſe ferner von vornherein eine beſtimmte 
Richtung erhalten, von der wir uns auch bei unſeren wiſſen— 
ſchaftlichen Arbeiten nicht immer freizuhalten vermögen. Den 
Gegenſtand unſerer Unterſuchungen haben wir ſodann häufig 
erſt mühſam aus dem Rechts- und politiſchen Leben, mit dem 
er faſt untrennbar verflochten iſt, loszulöſen. Endlich treten die 
ſocialen Geſetze nicht, wie die meiſten Geſetze der unorganiſchen 
Natur, immer und üllerall, wo ſie in ihrer Wirkſamkeit nicht 
durch entgegenwirkende Geſetze gehemmt ſind, zu Tage. Handelt 
es ſich doch in der ſocialen Welt nur, ſoweit der Naturfaktor als 
Grund und Boden, Fruchtbarkeit und Höhenlage desſelben, 
Klima u. ſ. w. einerſeits und als phyſiſche Beſchaffenheit des 
Menſchen andererſeits in Betracht kommt, um einen überall 
gleichen und wenigſtens in hiſtoriſcher Zeit unwandelbaren Fak— 
tor, dem daher auch immer gleiche Reſultate entſprechen. So⸗ 
weit dagegen der Menſch und ſeine Geſchichte in der ſocialen 
Welt mit ins Spiel kommt, hört die Allgemeingültigkeit der ab— 
geleiteten Regeln auf, ſo daß wir demnach das ſociale ebenſo 
wie das wirtſchaftliche Gebiet nur zum geringſten Teil von 
Natur⸗, zum größten Teil dagegen von hiſtoriſchen Entwicke— 
lungsgeſetzen beherrſcht finden. 


II. 


Im nachfolgenden möge uns geſtattet ſein, einige dem 
ſocialen Gebiet angehörige und noch nicht vollſtändig erledigte 
Punkte zur Beſprechung zu bringen. Dieſelben fügen ſich uns 


A — 


6 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 


am beſten in folgende Fragen, für die wir nach einer Antwort 
ſuchen wollen. 

Dieſe Fragen ſind: 

1. In welchem Verhältnis ſtehen die geſellſchaftlichen Zu⸗ 
ſtände eines Volkes zu ſeiner politiſchen Verfaſſung wie über⸗ 
haupt zu ſeinem politiſchen Leben? 

2. Wie verhalten ſich die verſchiedenen ſocialen Aaffen, in 
die ſich ein Volk gliedert, zueinander? Stehen fie im Verhält⸗ 
nis dauernder Harmonie oder dauernden Widerſtreits oder 
folgen vielleicht auf längere Perioden des Gleichgewichts kürzere 
Zeitabſchnitte, in denen dieſes Gleichgewicht geſtört iſt und die 
ſocialen Klaſſen in einen mehr oder minder heftigen Kampf unter⸗ 
einander geraten? 

3. Angenommen daß ſich ſociale Klaſſenkämpfe, ſei es 
nun dauernd oder nur vorübergehend, bei jedem Volke einſtellen, 
welche Bedeutung in denſelben hat das Privateigentum am 
Grund und Boden, wie es ja gegenwärtig mit Ausnahme nur 
einiger weniger Länder Europas — und zwar eines Teils der 
Schweiz und Süddeutſchlands ſowie Rußlands — überall zu 
ausſchließlicher Herrſchaft gelangt iſt, und welche Folgen würde 
in dieſer Beziehung die von den Anhängern des extremen und 
gemäßigten Socialismus befürwortete gänzliche oder teilweiſe 
Erſetzung des Privateigentums durch das Kollektiveigentum haben? 
Würden dadurch insbeſondere etwa vorhandene Klaſſengegenſätze 
und Klaſſenkämpfe beſeitigt oder wenigſtens gemildert werden? 

4. Welches wären überhaupt die wahrſcheinlichen Folgen 
des Geſamteigentums am Grund und Boden für das Kultur⸗ 
leben der Völker? 

Zur Beantwortung dieſer Fragen ſoll uns ein Material 
dienen, das zu dem beſten und beweiskräftigſten gehört, welches ſich 
überhaupt der ſocialen Betrachtung und Durchforſchung darbietet. 
Wir entnehmen dasſelbe der Geſchichte und Statiſtik der wirtſchaft⸗ 
lichen und ſocialen Verhältniſſe in den Urkantonen der Schweiz. 

Dieſe liegen uns zunächſt fern genug, als daß uns durch 
perſönliche Beziehungen oder ſonſtige Voreingenommenheit der 


Soctalpolitifches aus den Schweizer Alpen. 7 


Blick getrübt ſein könnte, und doch wieder nicht genug fern, als 
daß uns nach Einſichtnahme in die Quellen der Geſchichte dieſer 
Gegenden und nach wiederholtem Beſuch derſelben eine für die 
wirtſchaftliche und ſociale Entwickelung jener Gebirgsländer 
wichtige Seite unbekannt geblieben ſein wird. Es darf dies um 
ſo ſicherer angenommen werden, als die Geſchichts- und unter 
ihnen namentlich die Rechtsquellen der Schweiz, wenigſtens vom 
Augenblick der Konſtituierung der Waldſtätte als ſelbſtändiger 
Gemeinweſen an, ununterbrochen, freilich bald reichhaltiger bald 
dürftiger fließen, indem die Entwickelung der Schweiz ſeit jener 
Zeit nicht durch ähnliche tiefgreifende und langandauernde Er— 
eigniſſe, wie der dreißigjährige Krieg es für einen Teil Deutſch— 
lands war, unterbrochen worden iſt. 

Bei der Freiheit und Offentlichkeit des ſocialen und poli- 
tiſchen Lebens in den Urkantonen erſcheinen die einzelnen Vor⸗ 
gänge dort an ſich und in ihren Motiven viel durchſichtiger als 
in Ländern, wo das Volk lange Zeit nur Objekt einer Politik 
war, deren tiefere Beweggründe die Schwelle der Kabinette, der 
Ratsſtuben und der Kanzleien nicht zu überſchreiten pflegten. 

Ferner iſt das wirtſchaftliche und ſociale Leben der Ur⸗ 
ſchweiz nicht durch politiſche Vorgänge völlig heterogener Natur 
durchkreuzt worden. Auch waren die Intereſſen der verſchiedenen 
Volksklaſſen dort einfacherer Art als in Ländern mit dichterer 
Bevölkerung und reicherer Kultur. 
| Der größte Vorzug, den die Geſchichte der Urſchweiz für 
unſeren Zweck bietet, beſteht aber ſicher darin, daß ſich die ein- 
zelnen Phaſen der Klaſſenbewegung Schritt für Schritt vom 
13. Jahrhundert bis in die Gegenwart genau verfolgen laſſen. 
In Ländern, in denen die geſamte Wirtſchaftsordnung auf dem 
ausſchließlichen Privateigentum ruht, verteilen ſich die Reibungen, 
Kämpfe, Waffenſtillſtands⸗ und Friedensſchlüſſe unter den ver- 
ſchiedenen Klaſſen über den ganzen ſocialen Körper, ohne daß es 
immer zu einer Verzeichnung ihrer Spuren gekommen wäre. Sie 
müſſen daher von dem Hiſtoriker aus indirekt für ſie zeugenden 
Thatſachen und Außerungen mühſam im Geiſte rekonſtruiert 


8 Socialpolitifches aus den Schweizer Alpen. 


werden, was wegen der Dürftigkeit, Unvollſtändigkeit und zum 
Teil auch Unzuverläſſigkeit ſolcher indirekter Zeugniſſe außer⸗ 
ordentlich ſchwer fällt. Anders in Ländern, in denen ſich bis in 
die Gegenwart hinein das Kollektiveigentum am Grund und 
Boden in großer Ausdehnung erhalten hat, wie in der Urſchweiz. 
Hier laſſen ſich aus den ununterbrochen fortlaufenden Beſchlüſſen 
der Landsgemeinden und Genoßſamen ſowie aus den Beſtim⸗ 
mungen der Landbücher und anderer Rechtsquellen, ſoweit ſie 
ſich auf die Benutzung des Kollektiveigentums beziehen, ziemlich 
deutlich die Stellung der einzelnen ſocialen Gruppen zu dieſem 
Gegenſtande und zueinander, ihre Bedürfniſſe und Machtver⸗ 
hältniſſe herausleſen. In dieſen Urkunden finden ſich gleichſam 
wie in weichem Wachs die Spuren der Kämpfe und Kompro⸗ 
miſſe, der Siege und Niederlagen der einzelnen Klaſſen abgedrückt 
und für die Nachwelt aufbewahrt. Es bedarf daher nur einiger 
Übung, um die dem unkundigen Auge auf den erſten Blick un⸗ 
verſtändlich erſcheinenden Runen zu entziffern und zu deuten. 
Zu den obigen Vorzügen unſeres Materials geſellt ſich dann 
noch ein weiterer. So gleichartig die Schweizer Alpenwelt in 
wirtſchaftlicher und ſocialer Beziehung auf den erſten Blick auch 
erſcheint, ſo weiſt ſie bei näherer Betrachtung doch eine außer⸗ 
ordentlich große Fülle mannigfaltiger Zuſtände und Formen auf. 
Namentlich repräſentieren die einzelnen Kantone, ja zum Teil 
bereits die einzelnen Teile eines Kantons ſehr verſchiedene Ent⸗ 
wickelungsſtufen des wirtſchaftlichen Lebens. Während z. B. 
viele Gegenden des Kantons Graubünden und des Kantons Uri 
uns noch in der Gegenwart Zuſtände zeigen, die zur Zeit der 
Befreiung der Waldſtätte in der Schweiz allgemein geweſen ſind, 
haben ſich andere Kantone, wie z. B. der Kanton Schwyz, namentlich 
aber der Kanton Glarus, von dieſem primitiven Zuſtande in der 
Gegenwart weit entfernt. In einem entwickelten Kommunikations⸗ 
weſen, in der bis in die entfernteſten Dörfer und Sennhütten 
eindringenden Geldwirtſchaft, und in Glarus auch in einer 
ſtark entwickelten Induſtrie haben dieſe letzteren Kantone zahl⸗ 
reiche Elemente des modernſten Wirtſchaftslebens in ſich aufge⸗ 


Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 9 


nommen und dementſprechend auch die Nutzung ihres Gemein— 
landes umgebildet. Indem wir uns von dieſen letzteren Kantonen 
in jene auf primitiver Wirtſchaftsſtufe ſtehenden begeben, verſetzen 
wir uns damit gleichſam aus der Gegenwart in Zuſtände einer 
entlegenen Zeit zurück. Beim Anblick dieſer erhalten dann die ver— 
gilbten Geſchichtsblätter friſche Farbe und Leben, ſo daß die 
ſtellenweiſe erhaltenen Überreſte der Vergangenheit uns die allge⸗ 
meinen Zuſtände früherer Jahrhunderte anſchaulich machen. 
Aber nicht nur dieſen Vorteil bieten uns die Zuſtände der 
ſchweizeriſchen Alpenwelt, daß wir die hiſtoriſchen Vorgänge 
eines Landes hier an den gegenwärtigen Zuſtänden eines anderen 
wie in einem Laboratorium ſtudieren können, ſondern auch noch 
den anderen, daß die Schweiz und namentlich ihre Alpenwelt 
gleichſam das jahrhundertealte Experimentierfeld für das Kol— 
lektiveigentum an Grund und Boden iſt, von deſſen Einführung 
in anderen Ländern die Heilung der „kranken Zeit“ erwartet 
wird. 
| Indem im nachfolgenden ein Bild der ſocialen Verhältniſſe, 
wie ſich dieſelben in den Alpengegenden der Schweiz auf Grund 
des Kollektiveigentums ausgebildet haben, gegeben werden ſoll, 
wird dasſelbe der Hauptſache nach auf die Zuſtände der bereits 
früh zu politiſcher Selbſtändigkeit gelangten Kantone um den 
Vierwaldſtätter See und zwar namentlich auf die Kantone 
Schwyz, Uri, Ob- und Nidwalden mit ihrer faſt ausnahmslos 
katholiſchen Bevölkerung zu beſchränken ſein. Nur hier und da 
ſollen, ſofern die größere Mannigfaltigkeit und Deutlichkeit des 
Bildes es verlangen, auch der Kanton Glarus, jener Milch— 
bruder der Urkantone, ſowie das Berner Oberland und einige 
Teile Graubündens, deren Bevölkerung im Gegenſatz zu den 
Urkantonen weſentlich proteſtantiſch iſt, kurz berührt werden. 


III. 


Wenn wir uns in die Urkantone zur Zeit, als die Be— 
freiung derſelben vollzogen war, verſetzen, ſo finden wir eine 


10 Socialpolitifches aus den Schweizer Alpen. 


weſentlich bäuerliche Bevölkerung, welche größtenteils auf Ein⸗ 
zelhöfen und in kleineren Weilern und nur ausnahmsweiſe in 
geſchloſſenen Dörfern ſaß, vor. In den jetzigen Kantonen 
Schwyz und Uri, im Haslethal, im Entlebuch, in dem 
jetzigen Graubündener Kreiſe Kloſters und an manchen anderen 
Orten ſind dieſe Bauern dann unter ſich vereinigt zu großen 
Markgenoſſenſchaften, welche wahrſcheinlich dereinſt dieſes Land 
beſiedelt haben. Umgeben und zum Teil auch durchbrochen und 
zerſetzt waren dieſe Markgenoſſenſchaften durch das Gebiet klei⸗ 
nerer oder größerer Grundherrſchaften. In Unterwalden be⸗ 
deckten dieſe faſt ausnahmslos den Boden. Während die auf 
freier Erde ſitzenden Bauern Freie waren, ſaßen auf dem grund⸗ 
herrſchaftlichen Erbe teils Hörige teils ebenfalls Freie, aber 
verſchiedenen Laſten und Dienſten unterworfene. Nur ein Teil 
des grundherrſchaftlichen Bodens, und wahrſcheinlich der kleinere, 
wurde von den Beamten der Grundherrſchaften für Gefahr und 
Rechnung dieſer bewirtſchaftet. Die ökonomiſchen Verhältniſſe 
der freien Bauern mögen denen der grundherrlichen Hinterſaſſen, 
wenn wir von den Laſten, welche dieſe zu tragen hatten, ab⸗ 
ſehen, ſehr ähnlich geweſen ſein. Auch die von den Bauern be⸗ 
ſeſſenen und bewirtſchafteten „Huben und Schuppoſen“ waren an⸗ 
fangs von großer Gleichartigkeit der Fläche oder doch des Er- 
trags, und zu jeder derſelben gehörte die in jener Zeit notwendige 
Nutzung des Gemeinwaldes und der Gemeinweide, gleichgültig 
ob dieſe ſich im Eigentum der Grundherrſchaft oder der bäuer- 
lichen Genoſſenſchaft befanden. Aber während ſich die wirt— 
ſchaftlichen und ſocialen Verhältniſſe der Bauern, und zwar der 
freien ſowohl wie der grundherrlichen, im Lauf der Zeit immer 
mehr differenzierten, wurde ihre perſönliche Stellung je länger 
je mehr gleich, und zwar ward das Recht der freien Landleute 
zum Typus auch für das Recht ſämtlicher anderen Landbewohner. 
Zwar blieben die Grundherrſchaften auch nach Schwächung der 
habsburgiſch-öſterreichiſchen Macht, welche erfolgte, als dieſe eben 
im Begriff ſtand, ſich zwiſchen das Reich und die Waldſtätte 
einzuſchieben und zur eigentlichen Landesherrſchaft zu entwickeln, 


Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 11 


noch eine Zeitlang im Beſitz ihrer Gerechtſame wirtſchaftlichen 
Inhalts. Denn aus mehr als einem Quellenzeugnis geht aufs 
unzweideutigſte hervor, daß den Grundherren nach wie vor 
Zehnten, Zinſen und Frohnen geleiſtet wurden. Aber die Beſei— 
tigung der habsburgiſch⸗öſterreichiſchen Macht hatte fie doch der 
weſentlichen politiſchen Stütze beraubt, an die ſie ſich in Zeiten 
der Not und im Widerſtreit der Intereſſen mit der Bauerſame 
hätten anlehnen können. Und ſo erblicken wir denn in den 
nächſten Jahrhunderten auf der einen Seite die Bauerſame, auf 
der anderen die grundherrliche Gewalt in einem Kampf um die 
wirtſchaftliche, ſociale und politiſche Suprematie, deſſen Ausgang 
übrigens nach der Schlacht am Morgarten, namentlich aber nach 
der Schlacht bei Sempach mit Sicherheit feſtſtand, wenn nicht 
unerwartete Ereigniſſe den Grundherren von außen her zu Hülfe 
kamen. Dieſe blieben indes aus. So vollzog ſich denn hier in 
den Alpengegenden, deren rauhe Luft ebenſo wie der trotzige 
Sinn ihrer Bevölkerung den Grundherrſchaften nicht günſtig war, 
jener Zerbröckelungsprozeß der grundherrlichen Gewalt, einige 
Zeit vordem ſich derſelbe in den Kantonen der Ebene fortſetzte. 
Aber während in der Ebene zum Teil die größeren Städte ſowie 
einige Länder die Gerechtſame der Grundherrſchaften an ſich 
brachten, während dann in ihrer Hand ſich die Grundherrſchaft 
zur Landesherrſchaft und dieſe wieder zur Staatshoheit ent— 
wickelte, verſchwanden in den Alpengegenden die meiſten, nament⸗ 
lich weltlichen Grundherrſchaften, ohne eine andere Spur zu 
hinterlaſſen als die Ruinen von Bauwerken, die uns noch heute 
an eine anders geartete Vergangenheit dieſer Länder erinnern. 
Einige Grundherren, und zwar namentlich die größeren geiſt— 
lichen, haben in den erſten Jahrhunderten nach Befreiung der 
Waldſtätte ihren Hinterſaſſen ausdrücklich geſtattet, ſich von ihren 
Pflichten gegen Bezahlung größerer oder geringerer Summen 
Geldes loszukaufen, was denn auch vielfach geſchah. Die meiſten 
grundherrlichen Rechte ſcheinen aber im Lauf der Zeit ohne ſolche 
Ablöſung erloſchen zu ſein, indem das den Grundherren zu— 
ſtehende Obereigentum mit ſeinem Recht auf Abgaben und 


12 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 


Dienſte, ſeinen Fiſcherei-, Jagd- und anderen Gerechtſamen ſich 
im Lauf der Zeit immer mehr verflüchtigte und immer inhalts⸗ 
loſer wurde. Die Geſchlechter des hohen Adels wanderten aus 
und die des niederen folgten ihnen entweder oder ſtarben aus 
oder gingen in der Bauerſame auf. Und ähnlich wie dem wirt⸗ 
ſchaftlichen Inhalt des grundherrlichen Rechts ging es auch den 
in demſelben enthaltenen politiſchen Befugniſſen, welche teils 
auf größere, teils auf kleinere genoſſenſchaftliche Verbände und 
ihre frei gewählten Organe übergingen. So blieb denn der 
Helvetik, als ſie nach dem Vorbilde der franzöſiſchen National⸗ 
verſammlung die Aufhebung aller Feudalrechte dekretierte, in den 
Urkantonen nicht viel zu thun übrig. Was ſie jetzt als eine 
Konſequenz des Naturrechts für die ganze Eidgenoſſenſchaft durch⸗ 
führen wollte, das hatte ſich in den Urkantonen im Lauf einer 
jahrhundertealten Geſchichte infolge der allmählichen Verlegung 
des Schwerpunktes der wirtſchaftlichen, ſocialen und politiſchen 
Macht in die Bauerſame gleichſam von ſelbſt vollzogen. Und 
auch die neueſte demokratiſche Bewegung in der Schweiz mit 
ihrem unerſchöpflichen Füllhorn politiſcher Rechte brachte nichts, 
was die Kantone der Urſchweiz nicht bereits ſeit Jahrhunderten 
wenn auch in etwas anderer, aber jedenfalls weniger künſtlicher 
Form beſeſſen hätten. 

Dieſer kurz skizzierte wirtſchaftliche und politiſche Rahmen 
umſchließt den oben bereits angedeuteten ſocialen Inhalt, den 
wir jetzt näher zu erörtern haben werden. 

Die Gliederung der Bevölkerung in den ſchweizeriſchen 
Alpengegenden war zur Zeit der Gründung der Waldſtätte faſt 
ebenſo einfach, wie ſie es jetzt iſt. Nur an der Peripherie, nach 
oben und nach unten hat ſich die ſociale Schichtung der Bevöl⸗ 
kerung im Lauf der Zeit verändert und zwar derart, daß ſie in 
ihrer oberen Schicht einfacher und in ihrer unteren komplizierter 
geworden iſt. In ihrem Kern dagegen iſt ſie dieſelbe geblieben. 

Dieſen bildete und bildet eine „habliche“ Bauerſame, die ſich 
in ihren einzelnen Gliedern anfangs ähnlicher war als jetzt, wo 
die größere Freiheit und Beweglichkeit des Verkehrs ſowie die 


Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 13 


505 mittlerweile eingedrungene Geldwirtſchaft eine größere Verſchie— 
denheit in den Vermögensverhältniſſen der Bauern bewirkt hat. 


Eine Veränderung nach unten von größter Tragweite ging 
namentlich dadurch vor ſich, daß ſich allmählich eine eigene nichts 
oder nur wenig (vielfach nur ein Haus, einen Gemüſegarten und 
etwas Kleinvieh) beſitzende Klaſſe ſelbſtändiger Landbewohner her— 
ausbildete. Noch im 13. Jahrhundert und wohl auch ſpäter hatte 
der Bauer ſeine ganze Arbeitskraft im Hauſe: ſie beſtand aus 
ſeinen erwachſenen Söhnen und Töchtern, zu denen dann noch 
weitere Verwandte ſowie fremde Perſonen hinzukamen. Aber 
auch dieſe letzteren werden als weitere Glieder der Familie an— 
geſehen und gingen in ihr auf. Parallel mit der allmählichen 
Differenzierung des Grundbeſitzes und mit der Verengerung und 
zugleich Lockerung des Familienbandes ging die Entſtehung jener 
oben erwähnten ſelbſtändigen kleinen Exiſtenzen. Da ihr Beſitz 
zu gering war, um ſie allein zu ernähren, ſo mußten ſie durch 
Arbeit für andere das zu ihrem Lebensunterhalt Erforderliche hin— 
zuzuerwerben ſuchen. Es iſt das die Klaſſe der in früheren Jahr— 
hunderten ſogenannten armen Leute, der „Tagwner“, „Tauner“, oder 
nach heutigem Sprachgebrauch der kleinen Leute, der Lohnarbeiter, 
Tagelöhner. Dieſe Klaſſe rekrutierte ſich gewöhnlich aus den 
jüngeren Söhnen der „hablichen“ Bauern, wenn ſie, vordem ſie ſich 
etwas Rechtes erworben und ohne daß ihnen das Glück in der 
Geſtalt einer reichen Erbtochter oder ſonſt gelächelt hätte, einen 
eigenen Hausſtand gründeten. Auch größere, habliche“ Bauern, welche 
durch eigene Schuld oder durch Unglück herabgekommen waren, ſanken 
bisweilen zu den ſogenannten armen Leuten herab. Ein weiteres 
Kontingent lieferten bisweilen die „Reisläufer“ nach ihrer Heim⸗ 
kehr: denn wenn die einen aus fremden Dienſten Ruhm und 
Beute heimbrachten, ſo verloren die anderen in jenen wilden 
Kriegszeiten des 14. und 15. Jahrhunderts mit der heimiſchen 
Sitte und Zucht nicht ſelten das einzige Kapital, das ſie aus 
der Heimat mitgenommen hatten. Dazu kam die Not, welche 
die häufigen Kriege dieſer beiden Jahrhunderte ſowie Peſtilenz 
und Mißwachs über jene von der Natur ohnehin nicht reich aus⸗ 


Fe EN 


14 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 


geſtatteten Länder zu bringen pflegten. Solche Kalamitäten 
hatten jedesmal zur Folge, daß ein Teil der „Hablichen“ wenig⸗ 
ſtens zeitweilig in die Klaſſe der Armen und ein Teil dieſer 
wieder in die der Almoſengenöſſigen herabſank. | 

Für den ſocialen Charakter des Landes von geringerer Be⸗ 
deutung als dieſer nach unten auslaufende Zerbröckelungsprozeß 
der „hablichen“ Bauerſame iſt der Einfluß jener höheren aber 
dünnen Schicht, die ſich über die Bauerſame lagerte. Dieſe be⸗ 
ſtand zur Zeit der Befreiung der Waldſtätte aus größeren und 
kleineren Grundherren, die entweder ausnahmsweiſe dem höheren, 
der Regel nach aber dem niederen Adel angehörten, ſowie den po⸗ 
litiſchen und wirtſchaftlichen Beamten der damaligen Zeit: den 
Vögten, Amtleuten, Meiern, Kellern und Forſtern, von denen die 
erſteren nicht ſelten ebenfalls adeligen Standes waren. Je mehr 
wir uns der Gegenwart nähern, deſto mehr verſchwindet dieſes der 
mittelalterlichen Bevölkerung der Alpenwelt eine gewiſſe Man⸗ 
nigfaltigkeit und zugleich einigen Glanz verleihende Element. 
Es bleiben und zwar bis auf unſere Tage nur die Klöſter mit 
ihren herrſchenden und dienenden Inſaſſen übrig, und an dieſe 
ſchließen ſich die Vertreter und Diener der katholiſchen Kirche an, 
welche in den Schweizer Alpen ſtets eine freundliche Heimſtätte 
fanden. Das verſchwindende grundherrliche Element findet dann 
namentlich ſeit dem 17. Jahrhundert einen teilweiſen Erſatz in 
denjenigen Familien, die ſich regelmäßig im Beſitz der Magiſtra⸗ 
turen des Landes befanden. Wurden dieſe auch durch freie 
Wahlen und zwar gewöhnlich nur auf kurze Zeit eingeſetzt, ſo 
mußten dieſe Wahlen doch naturgemäß in einem Lande, in dem 
die Keime höherer und feinerer Kultur nur dünn geſäet waren, 
immer wieder auf denſelben Kreis von Perſonen fallen. So 
bildete ſich denn eine Ariſtokratie derjenigen Familien aus, in 
denen die oberſten Amter gleichſam erblich waren. 

Und wie hervorragendes Talent und höhere Bildung neben 
anderen Eigenſchaften und Verdienſten zum Eintritt in dieſen 
Kreis und zum dauernden Verharren in demſelben geführt hatten, 
jo hat die ſtete Beſchäftigung mit den Staatsgeſchäften — wo— 


Socialpolitifches aus den Schweizer Alpen. 15 


zu namentlich auch die Vertretung der Länder auf der Tagſatzung 
ſowie die Verhandlungen mit fremden weltlichen und geiſtlichen 
Mächten gehörten und neuerdings wenigſtens die Vertretung in 
den eidgenöſſiſchen Räten gehört — in dieſen Familien wieder 
einen Schatz von Traditionen, Erfahrungen und Kenntniſſen an— 
geſammelt. Den letzteren ſuchten die einzelnen Glieder dieſer 
Ariſtokratieen fort und fort durch den Beſuch auswärtiger Uni— 
verſitäten und Kollegien zu vermehren oder doch zu erhalten. 

Endlich iſt für die Bildung einer höheren Geſellſchaftsſchicht 
in den Urkantonen von der größten Bedeutung geweſen die 
Stellung, die zu allen Zeiten die abgehärteten und tapferen 
Söhne der Alpenwelt in fremden Militärdienſten eingenommen 
haben. Durch dieſe Söldnerdienſte war ein wirkſames Mittel 
gegen eine etwaige Übervölkerung jener nur eine dünne Bevöl⸗ 
kerung ernährenden Länder gegeben. Dann aber brachten die auf 
ihre alten Tage häufig in ihre Heimat zurückkehrenden Landesſöhne, 
wenn ihnen das Glück günſtig geweſen war, neben reichlichen 
Penſionen nicht ſelten beträchtliches Vermögen ſowie die Er— 
rungenſchaften einer feineren geiſtigen und geſellſchaftlichen Bil— 
dung mit. Noch heute zeugt manches ſtattliche und geſchmack— 
volle Gebäude, mancher wertvolle und kunſtreiche Hausrat ſowie 
die importierte Kultur ſeltener Pflanzen oder Baumſorten für 
den günſtigen Einfluß, den der fremde Dienſt auf die Urkantone 
gehabt hat. Mag man das Aufhören dieſer vom politiſchen 
Standpunkt nicht unbedenklichen Beziehungen der Schweizer zu 
fremden Mächten auch mit Freuden begrüßen: für das Kultur- 
leben jener Gegenden bedeutet dasſelbe immerhin einen Verluſt, 
der neuerdings durch die Begünſtigung der Auswanderung der 
überſchüſſigen Bevölkerung nach Amerika, durch den Bau von 
Eiſenbahnen, durch die Einführung von übrigens nur mühſam 
Fuß faſſenden Induſtrieen, ja ſelbſt durch die Entwickelung der 
Fremdeninduſtrie nicht vollſtändig ausgeglichen iſt. 

Eine mittlere Stellung zwiſchen dieſen verſchiedenen Klaſſen, 
bald mehr zu der einen bald mehr zu der anderen ſich neigend, 
nehmen, nachdem ſich das Handwerk von der Landwirtſchaft ge— 


16 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 


trennt hat, die kleinen ſelbſtändigen Handwerker und ſonſtigen 
Gewerbtreibenden wie: Schmiede, Müller, Ziegler, Wagner, 
Bäcker, Metzger, Wirte u. ſ. w. ein. Zu dieſen ſind dann in 
den letzten Jahrzehnten in überreicher Zahl entweder ſelbſtändig 
oder in Verbindung mit anderen Gewerben auch die Hotel- und 
Penſionsbeſitzer mit ihrem dirigierenden Perſonal hinzugetreten. 
Der unterſten Klaſſe der kleinen Leute gehörten ferner früher 
die Säumer, Botführer, Sennen u. ſ. w. und gehören gegen⸗ 
wärtig die Droſchkenkutſcher, Fremdenführer, das zahlreiche 
Dienſtperſonal der Hotels u. ſ. w. an. 

So hat ſich denn im Lauf der Zeit an die breite und den 
Charakter der Geſellſchaft in den Alpengegenden beſtimmende 
Schicht der „hablichen“ Bauern nach oben eine ſpärliche Bevölke⸗ 
rungsklaſſe mit höherer Bildung und größerem Kapitalbeſitz, 
welche den Ackerbau und die Viehzucht nur etwa nebenbei zum 
Zweck der Befriedigung ihrer häuslichen Bedürfniſſe treibt, an⸗ 
geſchloſſen. Nach unten geht die Bauerſame dann durch Ver⸗ 
mittelung der kleinen und kleinſten Haus- und Gartenbeſitzer 
über in die Klaſſe der völlig Beſitzloſen und läuft endlich in 
die Almoſengenöſſigen aus. 

Das eben in allgemeinen Zügen Dargeſtellte mag durch ein 
konkretes Bild veranſchaulicht werden, zu welchem Zweck die 
Gliederung der Bevölkerung der im Berner Oberlande liegenden 
Gemeinde G. vorgeführt werden ſoll. Dieſe Berggemeinde zählt 
ca. 700 Haushaltungen. Davon entfallen ca. 20—30 auf die 
„hablichen“ Bauern. Dieſe beſitzen je ca. 3—5 Jucharten Land 
(1 Juchart = 36 Ar), mit welchem reichlich bemeſſene 
Nutzungen der Gemeinalpen und des Gemeinwaldes verbunden 
ſind. Ihren Boden bebauen die Beſitzer mit Hülfe ihrer Ange⸗ 
hörigen ſowie gemieteter Knechte und Mägde. Der Viehſtand 
wechſelt in den einzelnen Haushaltungen zwiſchen 6—10 Kühen. 
Über dieſer Klaſſe ſtehend bewohnen das weitläufig gebaute 
Dorf der Pfarrer, Schulmeiſter und einige Hotel- und Penſions⸗ 
beſitzer, welche letzteren nur während des Sommers ihre Reſidenz 
hier aufſchlagen. Somit kommen dieſe Perſonen für das ſociale 


Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 17 


Bild der Bevölkerung wenig in Betracht: in wirtſchaftlicher 
Hinſicht erſcheinen ſie in den Sommermonaten als Abnehmer 
eines kleinen Teils der in der Gemeinde erzeugten Produkte, 
namentlich der Milch, ſofern ſie nicht ſelbſt Kühe halten, ſowie 
als Dienſtherren einiger Knechte und Mägde. Das meiſte, was 
ſie von Produkten verbrauchen, beziehen ſie jedoch aus der Ferne 
und auch ein Teil des Dienſtperſonals wird von außen mitge- 
bracht. An die habliche Bauerſame ſchließen ſich unmittelbar 
an 350 Haushaltungen, die wahrſcheinlich größtenteils im Lauf 
der Zeit durch fortgeſetzte Teilungen des Grundbeſitzes aus der 
erſteren Klaſſe entſtanden ſind. Dieſe Haushaltungen beſitzen je 
ca. eine Juchart Land mit den zu demſelben gehörigen Perti— 
nenzen am Gemeindeboden und 1—3 Kühe. Auf dieſer Baſis 
leben die einzelnen Familien, ihre kleinen Acker ſelbſt bebauend 
und ihr Vieh ſelbſt beſorgend, entweder ohne Nebenverdienſt und 
zwar alsdann kümmerlich genug, oder ſie ſuchen und finden 
nebenbei im Sommer einen Verdienſt als Fremdenführer, 
Packträger, Droſchkenkutſcher u. ſ. w., im Winter wohl auch als 
Holzarbeiter, Eisbrecher u. ſ. w., und kommen dann bei nicht zu 
großer Kinderzahl gut aus. Die unterſte aus 320—330 Haus⸗ 
haltungen beſtehende Klaſſe endlich beſitzt gar kein Land und wohnt 
bei anderen zur Miete oder beſitzt höchſtens ein kleines, wenn 
auch häufig ſtark verſchuldetes Häuschen und etwas Kleinvieh. 
Die einzelnen Mitglieder dieſer Klaſſe ſuchen ſich ihren Lebens— 
unterhalt als Landarbeiter, Kuhhirten, Sennen, Fremdenführer, 
Träger u. ſ. w. zu verdienen und bringen ſich in normalen 
Zeiten bei nicht zu vielen Kindern kümmerlich durch: bei außer⸗ 
ordentlichen Krankheiten und größerer Kinderzahl, die nicht ſelten 
auf zehn und mehr anzuſteigen pflegt, muß dann die Gemeinde 
helfen. 

Bei dieſer Gelegenheit mag zugleich darauf aufmerkſam gemacht 
werden, daß die Grenzlinie zwiſchen der Klaſſe der kleinen Leute, 
d. h. den Armen im mittelalterlichen Sinn des Wortes, und den 
Almoſengenöſſigen oder Armen im heutigen Sinn in den Schweizer 


Landgemeinden mit ihrer lokalen Autonomie durchaus nicht ſo 
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 2 


18 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 


ſcharf gezogen iſt wie in anderen Ländern, in denen das Regle⸗ 
ment und die bureaukratiſche Ausführung desſelben mehr zur 
Geltung gelangen. So wird z. B. den ſelbſtändigen kleinen 
Leuten nicht ſelten eine vorübergehende, ja bisweilen ſogar eine 
dauernde Beihülfe aus dem Gemeindeſäckel zu teil, ohne daß ſie 
deshalb als almoſengenöſſig angeſehen und demnach behandelt 
würden. Es geſchieht das nicht nur zeitweilig beim Eintreten 
beſonderer Unglücksfälle (Mißwachs der Kartoffeln, lang anhal⸗ 
tende Krankheit oder Tod des Familienvaters u. ſ. w.), ſondern auch 
dauernd für den Fall der Belaſtung des Familienvaters mit einer 
für ſeine Einkünfte zu großen Familie. So erweiſt ſich z. B. 
die dem Berner Oberlande angehörige Gemeinde G. vermögens⸗ 
loſen Eltern gegenüber durchaus nicht ſchwierig. Die Praxis in 
dieſer Gemeinde geht dahin, daß während vier Kinder auch von 
vermögensloſen Eltern ſelbſt erhalten werden müſſen, für die dieſe 
Zahl überſteigenden Kinder die Gemeinde ſorgt. Ein direktes 
Zuwiderhandeln gegen das Malthusſche Geſetz, wird mancher da⸗ 
bei ausrufen! Aber Kinder ſind eben keine Pflanzen oder Tiere, 
die man mit dem billigen Troſt zu Grunde gehen laſſen darf, 
daß für ſie an der Tafel der Natur kein Platz gedeckt iſt. 

Übrigens verdient bemerkt zu werden, daß die Vermögens⸗ 
verteilung in vielen Gemeinden der ſchweizeriſchen Urkantone 
gegenwärtig eine beſſere iſt als die eben dargeſtellte, indem die 
habliche Bauerſame meiſt noch einen größeren Platz einnimmt 
und der Zerbröckelungsprozeß innerhalb derſelben nicht ſoweit 
vorgeſchritten iſt wie in dem obigen Fall. 

Doch nehmen wir den abgeriſſenen Faden unſerer Darſtellung 
wieder auf. Die wirtſchaftlichen Verhältniſſe, aus denen die oben 
geſchilderte einfache ſociale Gliederung erwuchs, waren von jeher 
weſentlich agrikole, wie ſie es auch heute noch ſind. Von ſeinem 
eigenen Erbe aus betrieb der Bauer die Viehzucht und den Ader- 
bau. Der letztere nahm noch im 13. und den folgenden Jahr⸗ 
hunderten einen viel größeren Umfang ein als gegenwärtig. 
Denn bei dem geringen regelmäßigen Verkehr der Alpengegenden 
mit anderen Ländern mußten ihre Bewohner das, was ſie für 


Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 19 


ihren Lebensunterhalt brauchten, auch ſelbſt hervorzubringen 
ſuchen. Den Ackerbau ſcheinen ſie urſprünglich hauptſächlich an 
der Sonnenſeite der Vorberge auf Höhen betrieben zu haben, die 
gegenwärtig nur noch als Wieſen und Weiden benutzt werden. 
In die Thäler iſt derſelbe dann erſt herabgeſtiegen, als dieſe 
vollſtändig trocken und damit anbaufähig geworden waren. 
Während ſich an dem dem Ackerbau unterworfenen Teil des 
Landes bereits früh das Privateigentum ausgebildet hatte, blieben 
die reichen Weiden, auf denen ſich das Vieh tummelte, und auch 
noch ein Teil der Wieſen, welche das nötige Winterfutter für 
das Vieh hergeben mußten, in vielen Gegenden bis auf unſere 
Tage im Beſitz der größeren Markgenoſſenſchaften, ſo z. B. in 
Uri, Schwyz, Graubünden, oder im Beſitz kleinerer lokaler Ver- 
bände, die ihren Urſprung nicht ſelten auf die Hofverfaſſung 
zurückführen, ſo z. B. in Ob⸗ und Nidwalden, Zug, Glarus u. ſ. w. 
Ebenſo war auch der noch mit urwaldähnlichen Stämmen be— 
ſtandene und von dem Weidegebiet noch nicht geſonderte Wald— 
boden damals allen gemeinſam. Derſelbe lieferte in reichlichem 
Maße das nötige Bau⸗ und Brennholz und diente außerdem 
noch als Viehweide. Wie das Getreide, ſo ſcheint auch das 
Vieh weſentlich dem eigenen Bedarf der Bevölkerung gedient zu 
haben. Der Export des Getreides und Viehes war gegenüber 
dem eigenen Konſum nicht groß. Die Bereitung des „Rauch— 
ziegers“ (einer Art Ziegenkäſe) und überhaupt die Käſebereitung 
im kleinen war ſchon früh bekannt; die Käſebereitung im großen 
dagegen hat erſt ſpäter, beſtimmt ſeit dem 13. Jahrhundert, auf 
den größeren Kloſterhöfen von Diſſentis, Pfeffers, Einſiedeln, 
Engelberg u. ſ. w. ſowie auf den Alpen größerer Adliger ihren 
Anfang genommen. Die nicht ſelbſt verbrauchten Produkte der 
Alpengegenden wurden in die Ebene geſchafft und gegen dieſelben 
die Erzeugniſſe dieſer Länder ſowie ferner Zonen eingetauſcht. 
Als dann der Verkehr zwiſchen Deutſchland und Italien den Weg 
über den Gotthard einzuſchlagen begann, wurde namentlich Luzern 
ein wichtiger Durchgangspunkt für Waren und Reiſende. Die 
Bergleute in den Waldſtätten waren gewohnt, die Märkte in 
2 * 


20 Socialpolitifches aus den Schweizer Alpen. 


Luzern zu beſuchen, um der Stadt einen Teil ihrer Lebensmittel 
zu liefern und Salz ſowie andere Waren (Gewürze, feine Ge⸗ 
webe, Zierat, Schmuck u. dgl.) einzutauſchen. Im 14. und 
noch häufiger im 15. Jahrhundert begegnen wir dann den Urnern, 
Schwyzern und Unterwaldnern, indem ſie ihr junges Vieh über 
den Gotthard auf italieniſche Märkte bringen, und etwas ſpäter 
finden wir auch die Glarner über den Panixer Paß nach Graubünden 
und über den Lukmanier nach Lugano und Mailand vordringen, 
um ihre jungen Tiere dort abzuſetzen. a 

Wahrſcheinlich würde dieſer Verkehr bald größere Dimen⸗ 
ſionen angenommen haben, wenn nicht die alte Straße für den 
indiſch⸗europäiſchen Verkehr, die über das mittelländiſche Meer, 
Italien und die Tiroler Alpen nach dem Oſten und über die 
Schweizer Alpen nach dem Weſten Europas führte, einerſeits 
infolge der türkiſchen Eroberungen in Aſien und Europa, dann 
aber auch infolge der Entdeckung des neuen Seewegs nach Indien 
ſowie der Entdeckung Amerikas zu vollſtändiger Bedeutungsloſig⸗ 
keit verurteilt worden wäre. Durch Verlegung dieſer Handels⸗ 
ſtraße aus dem Centrum Europas an ſeine weſtlichen Küſten 
ſanken Italien, Deutſchland und zum Teil auch die Schweiz, wo 
ſich auf Grund dieſes Verkehrs und der in ſeinem Gefolge auf⸗ 
tretenden Geldwirtſchaft ein höheres wirtſchaftliches Leben zu 
regen begonnen hatte, in den Zuſtand der Naturalwirtſchaft 
zurück. Aus dieſem Zuſtande haben ſich die Länder der Schweiz 
dann wieder erſt ſeit dem vorigen Jahrhundert und zwar nur 
teilweiſe und dazu ſehr langſam erhoben. 

Die geringen Veränderungen, welche ſich im Lauf der letzten 
Jahrhunderte im wirtſchaftlichen Leben der Alpengegenden vollzogen 
haben, waren einmal durch die zunehmende Leichtigkeit und Gewohn⸗ 
heit des Verkehrs derſelben mit den ebenen Teilen der Schweiz, dann 
aber auch durch das Anwachſen der eigenen Bevölkerung bedingt. 

Die beſſeren Kommunikationsmittel und die größere Rechts⸗ 
ſicherheit ermöglichte dann auch die regelmäßige Zufuhr fremden 
Getreides, ſo daß der in früherer Zeit dem Ackerbau nur wider⸗ 
willig dienende Boden dem Pflug und dem Spaten immer mehr 


Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 21 


entzogen werden konnte, um ſeiner natürlichen Beſtimmung ge— 
mäß als Wieſe zu dienen. 

Als Beleg für die Abnahme des Getreidebaues in den Ur— 
kantonen möge uns geſtattet ſein, zwei Thatſachen hier anzu— 
führen, nämlich daß noch im 12. und 13. Jahrhundert von 
Obwalden aus mit Getreide beladene Nachen über den See nach 
Luzern gingen, ſo daß ihre Ankunft für den Getreidepreis in 
Luzern maßgebend war, während ſeit den fünfziger Jahren unſeres 
Jahrhunderts der Getreidebau in Obwalden faſt ganz aufgehört 
hat, ſo daß alles in dieſem Kanton konſumierte Getreide von 
außen herbeigeſchafft werden muß. 

Die allem wirtſchaftlichen Fortſchritt zu Grunde liegende 
Arbeitsteilung, wonach jeder einzelne Menſch ſowie ganze Klaſſen 
und endlich ganze Völker um ſo ausſchließlicher nur dasjenige 
hervorbringen und treiben, wozu ſie die beſten Anlagen und Vor— 
ausſetzungen mitbringen, veranlaßte auch die Alpenbewohner, daß 
ſie ſich im Lauf der letzten Jahrhunderte immer mehr von dem 
Ackerbau ab⸗ und der Viehzucht ausſchließlich zubwandten. Der 
durchſchnittlich kleine Beſitz jener Gegenden führte dann in Ver⸗ 
bindung mit den weiten Gemeinweiden und Wäldern zu jener 
ſpecifiſch bäuerlichen Art der Alpenwirtſchaft, wonach das Vieh 
ſich nur im Winter im Stall befindet, vom Frühjahr an bis ſpät 
in den Herbſt hinein dagegen in größeren und kleineren Partieen 
teils auf dem Privateigentum im Thal, teils auf den im Gemein- 
eigentum befindlichen Vor⸗, Mittel⸗ und Hochalpen „geätzt“ wird. 

Während ſomit auf der einen Seite das auf der Sonnenſeite 
der ſanften Gebirgsabhänge liegende Gelände in den letzten Jahr— 
hunderten dem Ackerbau entzogen wurde, mußte andererſeits wieder 
ein Teil der Thalſohle infolge vermehrter Bevölkerung zu Ge- 
müſe⸗ und Krautgärten und ſeit Einführung des Kartoffelbaues 
im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts auch zu Kartoffel- 
äckern eingerichtet werden. | 

Eine weitere der Neuzeit angehörende Kulturveränderung 
betraf dann das Vorrücken der Weide auf Koſten des Waldes, 
ſo daß dieſer immer mehr und mehr zurückwich. Infolge der 


22 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 


Transporterleichterungen, des in der Ebene teilweiſe eingetretenen 
Holzmangels, verbunden mit hohen Holzpreiſen, drang der Holz⸗ 
handel bereits am Schluß des vorigen, namentlich aber in der 
erſten Hälfte des gegenwärtigen Jahrhunderts tief in die Alpen⸗ 
wälder vor und veranlaßte hier jene kurzſichtigen Kahlſchläge, die 
das Klima rauher machten, den Ackerboden ſtellenweiſe zu voll⸗ 
ſtändiger Unfruchtbarkeit verdammten und endlich die bekannten 
periodiſch wiederkehrenden Waſſerverheerungen in der Ebene ver⸗ 
anlaßten. Erſt in unſeren Tagen iſt durch kräftiges Einſchreiten 
des Bundes eine pfleglichere Benutzung der Alpenwälder bewirkt 
und damit der Wiederholung der obigen Vorgänge in der Zu⸗ 
kunft vorgebeugt worden. 

So hat ſich denn innerhalb des weiten politiſchen Rahmens 
eine höchſt einfache ſociale Gliederung der Alpenbewohner auf 
Grund ebenſo einfacher wirtſchaftlicher Verhältniſſe herausgebildet. 
Dieſe ſind auch heute noch weſentlich agrikoler Natur, ſo daß 
Handel und Gewerbe im ganzen nicht mehr leiſten, als was der 
geringe Bedarf der Landbewohner über diejenigen Produkte hin⸗ 
aus, die das Land ſelbſt erzeugt, verlangt. Das Städteweſen 
endlich iſt wenig entwickelt. 


IV. 


Für die Land- und Alpenwirtſchaft der Schweiz iſt noch heute, 
wie vor ſechshundert Jahren, das Kollektiveigentum von weſent⸗ 
licher Bedeutung. Der im Kollektiveigentum befindliche Boden 
wird nach dem Sprachgebrauch des Kantons Schwyz als Allmend 
bezeichnet, d. h. als das, was allgemein iſt, im Gegenſatz zum 
Eigen. Der größte Teil der Wälder, Streurieder und Weiden, 
aber auch noch ein Teil der Wieſen, Gärten und Getreide- ſowie 
Kartoffelfelder in der Urſchweiz und in den angrenzenden Ge⸗ 
birgskantonen befindet ſich auch heute noch im Kollektiveigentum 
größerer oder kleinerer Genoſſenſchaften, deren Beziehungen zum 
Staat und zur Gemeinde bald loſe bald enge ſind. 

So übertrifft z. B. in dem gegenwärtigen Bezirk (dem ehe⸗ 
maligen altfreyen Lande) Schwyz der Umfang des Allmendbodens das 


Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 23 


geſamte in Privateigentum befindliche Land um ein beträchtliches. 
Leider liegen uns keine ganz genauen Angaben über den Umfang 
dieſer beiden Kategorieen des Grundbeſitzes vor. Zu der Allmend 
des Bezirks Schwyz gehört das ganze Hochgebirge ſowie alle größeren 
Waldungen und ſehr ausgedehnte Gärten, Wieſen, Streu- und 
Torfländereien. Das ſteuerbare Grundvermögen der beiden dieſem 
Bezirke angehörigen Hauptkorporationen, der Ob- und Unter⸗ 
Allmendkorporation, betrug nach der Taxation einer Experten⸗ 
kommiſſion allein über 6 500 000 Fres. Und ebenſo ſchätzt eine 
aus dem Jahre 1851 —52 ſtammende notoriſch ſehr niedrige 
Taxe die der Bezirksgemeinde Uri gehörigen Allmenden auf ca. 
6000000 Fres. 

Innerhalb der Allmend im weiteren Sinn unterſcheidet man 
dann wieder die Thal- oder Bodenallmend, die Allmendalpen 
(nach urneriſchem Sprachgebrauch) und die Gemeinwälder. Da 
der bei weitem größte Teil der Allmend ſich in der perſönlichen 
Nutzung der Bewohner jener Länder befindet, ſo haben dieſe an 
dem Schickſal derſelben ein faſt ebenſo intenſives Intereſſe wie 
an dem Schickſal ihres Privateigentums. Dieſes ſtarke Intereſſe 
ſpricht ſich nicht nur in dem regelmäßigen Beſuch der Allmend— 
verſammlungen aus. Es giebt keinen anderen Gegenſtand — außer 
etwa die Angelegenheiten der Kirche —, welcher überhaupt die 
Gemüter der Landleute ſo ſehr zu erregen, ſie zu feſten Parteien zu 
gruppieren und gelegentlich erbitterte Kämpfe zu veranlaſſen vermag, 
wie die Fragen, die ſich an die Art der Allmendnutzung knüpfen. 

Dieſes intenſive und teilweiſe gegenſätzliche Intereſſe der ver- 
ſchiedenen Genoſſen an der Allmend hat ſich erſt mit der größeren 
Differenzierung der Klaſſen unter den Gebirgsbewohnern eingeſtellt. 
Aber nicht nur die Klaſſenbildung, auch die allmähliche Verſchie— 
bung der Kulturen ſowie überhaupt die ganze Wirtſchafts⸗ 
geſchichte jener Länder finden ihren Ausdruck in der Geſchichte 
der Allmenden und ihrer Nutzung. 

Dieſe Allmenden wurden zur Zeit der Befreiung der Wald— 
ſtätte von den Bauern ohne Unterſchied, ob ſie auf eigenem oder 
fremden Boden ſaßen, ſowie von den Grundherren für ihr Salland, 


24 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 


deſſen Bedeutung aber je länger um ſo mehr verſchwindet, genützt. 
Unter den Bauern haben wir die Vorſtände der bäuerlichen 
Haushaltungen zu verſtehen, in denen ſo ziemlich alle Einwohner 
des Landes, ſoweit ſie nicht den höheren Ständen angehörten, 
damals untergebracht waren. 

Da dieſe Nutzung anfangs nur in natura erfolgte und die 
Familienangehörigen alles, was ſie bedurften, von dem Familien⸗ 
vorſtande erhielten, ſo hatten die zur Haushaltung eines Bauern 
gehörigen Söhne und Töchter ſowie ſonſtigen Angehörigen ebenſo⸗ 
wenig das Intereſſe wie die Fähigkeit, die Allmende ſelbſtändig 
zu nutzen. So waren denn, wenn man von den Grundherr⸗ 
ſchaften abſieht, die hablichen Bauern damals faktiſch die einzigen 
Nutznießer. Auch der Umfang und die Art ihrer Nutzung richtete 
ſich ausſchließlich nach ihrem wirtſchaftlichen Bedürfnis, und 
dieſes wurde wieder thatſächlich durch die Größe ihres Privat⸗ 
beſitzes an Land, Gebäuden und Vieh beſtimmt. Dabei war die 
Allmendnutzung durch keinerlei beengende Vorſchrift der Geſamt⸗ 
heit beſchränkt. 

Der Bauer holte ſich alſo ſelbſt ſoviel Holz aus dem Walde, 
als er zum Bau und zur Reparatur ſeiner Gebäude, zur An⸗ 
fertigung ſeiner Gerätſchaften und zur Feuerung bedurfte. 

Er trieb ferner ſoviel Vieh auf die Gemeinweide, als er 
beſaß und überwintern konnte, und nahm ſoviel von dem All⸗ 
mendboden unter den Pflug und die Hacke, als er über ſein 
Privateigentum hinaus noch nutzen mochte. In der Regel lag 
für dieſe letztere Art der Nutzung übrigens kein Bedürfnis vor. 

Ein Widerſtreit der Intereſſen unter den Nutzungsberechtigten 
trat erſt ein, als der „habliche“ Bauerſtand aufhörte die einzige 
wirtſchaftlich maßgebende Klaſſe zu ſein und der Getreidebau 
immer mehr zu Gunſten des Wieſenbaues und der Weidewirt⸗ 
ſchaft eingeengt wurde. Was zunächſt die höhere über der bäuer- 
lichen ſtehende Klaſſe betrifft, ſo kommt ſie für die Allmend⸗ 
nutzung nicht beſonders in Betracht. Sie nutzte die Allmend 
ebenfalls nach Maßgabe ihres in eigener Bewirtſchaftung be⸗ 
findlichen Sondereigen, und dieſes überragte — ſeit die Grund⸗ 


Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 25 


herrſchaft und die Hofverfaſſung ihre Bedeutung verloren — den 
größeren bäuerlichen Grundbeſitz nur noch ausnahmsweiſe. 

Um ſo bedeutſamer wurde die Ausbildung einer eigenen 
Klaſſe von Leuten, welche gar kein oder nur wenig Land und 
Vieh beſaßen. Je zahlreicher dieſelbe wurde, deſto deutlicher trat 
ihr von dem Intereſſe der Bauern verſchiedenes, ja demſelben 
entgegengeſetztes Intereſſe an der Allmend zu Tage. 

Die bisherige Art der Nutzung war ihnen entweder gar 
nicht oder nur wenig zu ſtatten gekommen. 

Am meiſten Vorteil brachte ihnen noch der Gemeinwald. 
Aber den wichtigſten Beſtandteil desſelben, das Bauholz, konnten 
ſie entweder gar nicht benutzen, wenn ſie keine eigenen Häuſer 
beſaßen, oder konnten es doch wenigſtens nicht in dem Maße 
benutzen wie die Bauern, wenn ihre Häuschen klein und dürftig 
waren. Dagegen kam das Brennholz auch ihnen zu ſtatten. 

Den geringſten Nutzen hatten ſie von den Wieſen und weiten 
Weidetriften zu Berg und Thal: denn zur Benutzung dieſer fehlte 
ihnen das Vieh entweder ganz oder ſie beſaßen doch nur eine 
Kuh oder ein paar Ziegen und Schafe, während der reiche Bauer 
die Bodenallmend und Gemeinalp durch ſeine Sente, beſtehend 
aus 20 bis 40 Stück Großvieh, beweiden ließ. 

Und auch durch Abtretung und Verlehnung (Verpachtung) 
ſeines Nutzungsanteils an dritte Perſonen durfte ſich in der 
Regel niemand einen Vorteil aus der Allmend verſchaffen. Denn 
bereits früh hatte der Grundſatz, daß die Thal- und Alpenweiden 
ebenſo wie die Gemeinwälder nur von den in der betreffenden 
Gemeinde oder doch im Lande angeſeſſenen Genoſſen und nur 
nach Maßgabe ihres privaten Grundbeſitzes benutzt werden 
durften, Rechtskraft erhalten. Der rechtliche Ausdruck für dieſen 
Grundſatz freilich konnte ein ſehr verſchiedener ſein: entweder 
war die Geſamtnutzung der Allmend in ideelle Teile zerlegt 
und mit dem Privatgrundbeſitz als deſſen Pertinenz verknüpft. 
Es war damit jedem Privateigentümer eines Stückes Land zu⸗ 
gleich ein der Größe dieſes letzteren entſprechender ideeller Anteil 
an der Allmendnutzung eingeräumt, ſo daß bei Veräußerungen die 


26 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 


Allmendnutzung regelmäßig mit dem Privateigentum an den 
neuen Erwerber überging. Zur Ausbildung ſolcher Rechte iſt es 
jedoch in den Schweizer Alpen nur ausnahmsweiſe gekommen: 
ſo z. B. in einzelnen Gemeinden des Berner Oberlandes und 
Graubündens. Dagegen war es Regel, daß die Nutzungsbe⸗ 
rechtigung einen rein perſönlichen Charakter hatte und an die 
perſönliche Zugehörigkeit zu größeren oder kleineren Verbänden 
geknüpft war. In Schwyz und Uri hatte jeder Landesangehörige, 
in Nid⸗ und Obwalden jeder Angehörige eines kleineren gemeinde⸗ 
ähnlichen Lokalverbands, einer ſogenannten Urte oder Teilſame, 
das Recht, die Allmend zu benutzen. Dieſe rein perſönliche Berech⸗ 
tigung wurde dann durch Vererbung oder durch Einkauf in den 
betreffenden Verband erworben. Für die perſönlichen Nutznießer 
erhielt der oben angeführte Rechtsſatz bisweilen folgende Faſ⸗ 
ſung: daß nur das dem berechtigten Genoſſen dauernd gehörige 
Vieh oder doch nur das mit deſſen eigenem Heu durchwinterte Vieh 
auf die Gemeinweiden getrieben werden dürfe und daß das 
von dem Genoſſen aus dem Gemeinwalde bezogene Holz von 
ihm ſelbſt benutzt, aber nicht verkauft werden ſolle. 

Unter ſolchen Umſtänden zog der nichthabliche Genoſſe bei 
perſönlich gleichem Nutzungsrecht mit dem Hablichen dennoch 
faktiſch einen viel geringeren Vorteil aus ſeinem Recht als dieſer. 
Faktiſche Ungleichheiten bei gleichem Recht waren aber auf die 
Dauer in einem Gemeinweſen unhaltbar, in dem die hinſichtlich 
der Benutzung der Allmend gleichberechtigten Genoſſen auch poli⸗ 
tiſch gleichberechtigt waren und über die Schickſale der Allmend 
und ihrer Benutzung allein zu beſtimmen hatten. 

Ihre politiſche Macht haben die Nichthablichen denn auch benutzt, 
um ſich Schritt für Schritt einen ihrem gleichen Recht entſprechen⸗ 
den faktiſchen Anteil an der Allmendnutzung zu erkämpfen. Freilich 
iſt dieſer ſchleichende und chroniſche Gegenſatz der Intereſſen für 
gewöhnlich durch das beiden Klaſſen auf anderen Gebieten Ge⸗ 
meinſame verdeckt worden und nur ſelten in ein akutes Stadium 
getreten. Letzteres geſchah nur in Zeiten großer Geiſtesbewegungen, 
die auch in materieller Beziehung nach Veränderungen hindrängten: 


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Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 27 


ſo namentlich zur Zeit der Reformation und Gegenreformation 
ſowie zur Zeit der mit der franzöſiſchen Revolution in Zuſam—⸗ 
menhang ſtehenden Helvetik und ſodann wieder in unſeren Tagen, 
da die ſociale Frage die Gemüter beſonders lebhaft in Anſpruch 
nimmt. Es geſchah ferner nach großen Veränderungen in der 
wirtſchaftlichen Kultur und Technik, wie namentlich infolge 
der obenerwähnten Kulturverſchiebungen in der Alpenwelt. Wurde 
der Intereſſengegenſatz dann akut, ſo fehlte es gelegentlich nicht 
an heftigen Feindſchaften, erbitterten Fehden und tumultuariſchen 
Auftritten, wie namentlich gelegentlich des ſogenannten Hörner— 
und Klauenſtreits, der in den dreißiger Jahren dieſes Jahr- 
hunderts im Kanton Schwyz tobte. 

In dieſem Klaſſenſtreit der Hablichen mit den Armen hatte 
die Bauerſame zum zweitenmal einen harten Strauß zu be— 
ſtehen. Zum erſtenmal focht ſie ihn mit den Vertretern der 
grundherrlichen Gewalt aus. In demſelben handelte es ſich 
damals um die politiſche Alternative: ob die Grundherrſchaft 
oder die Bauerſame das Schickſal dieſer Länder fortan be— 
beſtimmen ſollte, ſodann aber auch um die Beantwortung der 
ſocialpolitiſchen Frage: ob es den Grundherren gelingen werde, 
ihr Obereigentum zum vollen Privateigentum zu ſteigern und 
die auf demſelben ſitzenden Bauern zu einer Art von Pächtern 
herabzudrücken oder ob umgekehrt ihr Obereigentum zu einem 
unweſentlichen Schein herabſinken und dagegen das bäuerliche 
Nutzungsrecht ſich zum vollen Privateigentum verdichten würde. 
Der Ausgang jenes politiſchen und ſocialen Kampfes iſt bekannt: 
die Bauern blieben Sieger. 

Einen anderen Erfolg hatte der Kampf um die Allmend— 
nutzung. In früheren Jahrhunderten ſind freilich die hablichen 
Bauern auch auf dieſem Gebiet mit ihren Intereſſen durchge— 
drungen; aber dieſer ihr temporärer Sieg hatte doch nur die 
Bedeutung einer Verzögerung des ſchließlichen Reſultats. 

Die Folge ſolcher Siege der Bauerſame war, daß der ihnen 
günſtige faktiſche Zuſtand der Allmendnutzung für eine Weile 
auch geſetzlich ſanktioniert wurde. 


28 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 


Erlangten dagegen die ſogenannten Armen d. h. die Nicht⸗ 
hablichen einen Vorteil über die Hablichen — ſei es nun, daß ſie 
zufällig die Majorität in der Genoſſenverſammlung hatten oder 
daß ſie durch ihre drohende Haltung die Hablichen zu Konzeſſionen 
veranlaßten oder daß Rückſichten der Gerechtigkeit und Billigkeit 
bei dieſen entſchieden — jo kam es regelmäßig zu Kompromiſſen, 
in denen die Forderungen der Armen zu partieller Anerkennung 
gelangten. 

In letzterer Beziehung dürfte die Bedeutung der Kirche und 
ihrer Diener, die in den Urkantonen überhaupt einen beſtim⸗ 
menden Einfluß ausüben, nicht zu unterſchätzen ſein. Aber auch 
andere Faktoren drängten dahin, daß die beiden Bevölkerungs⸗ 
klaſſen, die nun einmal auf derſelben Scholle ſitzen und in jeder 
Beziehung aufeinander angewieſen ſind, ſich ſchließlich gewöhnlich 
miteinander verſtändigten, ohne daß eine ſolche Verſtändigung 
doch den Charakter einer völligen Niederlage des einen Teils 
hatte. 

Auf dieſem Wege kam allmählich ein Ausgleich der verſchie⸗ 
denen Intereſſen auf dem Gebiet der Allmendnutzung in folgender 
Richtung zu ſtande. 

Während die Hablichen, je mehr in der Wirtſchaft der 
Alpengegenden die Viehzucht zu prävalieren anfing, um ſo mehr 
dahin drängten, daß die Allmend, abgeſehen vom Walde, möglichſt 
ausſchließlich als Weide von den Genoſſen gemeinſam benutzt 
wurde, weil ſie, die von ihren im Privatbeſitz befindlichen Gärten, 
Ackern und Wieſen den nötigen Bedarf an Gemüſe, Knollengewächſen 
und Getreide für ſich und das Winterfutter für ihr Vieh erhielten, 
von der Benutzung der Gemeinweide im Sommer durch ihren 
ſtarken Viehſtand den größten Vorteil genoſſen, wußten die Armen 
ſeit dem 16. Jahrhundert durchzuſetzen, daß immer größere Teile 
der Allmend zum Anbau von Gemüſe, Getreide, Flachs und ſeit 
dem vorigen Jahrhundert auch von Kartoffeln in Sondernutzung 
übergingen. Dies geſchah dann entweder ſo, daß alle Genoſſen 
gleiche Stücke erhielten oder daß nur die Armen, gleichſam als 
Entſchädigung für die umfangreiche Weidenutzung der Hablichen, 


Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 29 


bei der Verteilung ſolcher kleinen Parzellen zur Sondernutzung 
berückſichtigt wurden. 

Ein anderer Modus der Ausgleichung der Allmendbenutzung 
zwiſchen reich und arm beſtand dann darin, daß während die 
Sentenbauern die Thalallmend und Vorberge nur im Frühjahr 
und Spätherbit durch ihr Vieh benutzten, für den Sommer da- 
gegen ihre Herden auf die Höhen trieben, den Armen auch für 
dieſe Jahreszeit in der Nähe ihrer Behauſung im Thal oder auf 
den Vorbergen ſogenannte Heimkuhweiden eingeräumt wurden. Auf 
dieſe treibt der nichthabliche Genoſſe dann ſeine Kuh oder ſeine 
Ziegen, die ihm und ſeinen Kindern die nötige Milch zur täglichen 
Nahrung geben und die er daher nicht für den ganzen Sommer 
entbehren kann. 

Auch wurden von der Regel, daß jeder Genoſſe nur ſein 
im Thal durchwintertes Vieh auf die Gemeinweide treiben darf, 
zu Gunſten der Armen manche Ausnahmen zugelaſſen. So in- 
dem man denſelben geſtattete, eine geringe Anzahl von fremdem 
Vieh, gewöhnlich bis zu 2 Kühen, auf die Allmend zu treiben. 
Ihr Vorteil beſtand dann darin, daß ſie die Milch der fremden 
Kühe während der Weidezeit benutzen durften oder daß ſie von 
dem Beſitzer der Kühe eine Geldentſchädigung für die Weide 
erhielten. 

Die gebräuchlichſte Art der Ausgleichung beſtand aber darin, 
daß an die Stelle der unbegrenzten Zahl von Vieh, die der 
Genoſſe anfangs auf die Gemeinweide treiben durfte, eine limitierte 
Zahl trat. Dieſe Begrenzung wurde namentlich notwendig, ſeit 
die Vermögensungleichheiten größer geworden waren und dadurch 
die Gefahr entſtand, daß einzelne reichere Genoſſen mit ihrem 
Vieh, daß ſie ja beliebig vermehren konnten, die Allmenden allein 
nutzen würden. Dieſer Gefahr war nun allerdings zum Teil 
bereits dadurch geſteuert, daß das auf die Gemeinweide zu trei— 
bende Vieh im Lande oder in der Gemeinde durchwintert ſein 
mußte. Doch hatte man im Verlauf der Zeit in einigen Kan- 
tonen dieſe Regel dahin abgeſchwächt, daß es bereits genügte, 
wenn das Vieh ſich zu dieſem Zweck nur an einem beſtimmten 


30 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 


Tage im Winter (gewöhnlich dem 30. November oder 6. Dezember) 
des vorhergehenden Jahres oder auch ſchon im Märzmonat desſelben 
Jahres im Lande oder in der Gemeinde befand. Namentlich im 
letzeren Fall war die Möglichkeit gegeben, daß kurz vor dieſem 
Tage ein reicher Spekulant maſſenhaft Vieh aufkaufte, dasſelbe 
während des Sommers auf den Gemeinalpen unentgeltlich weiden 
ließ, um es dann im Herbſt zu verkaufen. Um dieſe Ausbeutung 
des Gemeinbeſitzes durch das große Kapital unmöglich zu machen, 
wurde beſtimmt, daß kein Genoſſe mehr als 10, 15 oder 30 
Stück Vieh auf die Allmend treiben dürfe. 

Aber durch dieſe Beſtimmung war doch nur die Ausbeutung 
des Gemeineigentums durch einige reiche Genoſſen verhindert. 

Nun mußte auch noch für diejenigen geſorgt werden, die, 
weil ſie kein Vieh beſaßen, an der Benutzung der Gemeinalpen 
faktiſch auch keinen Anteil hatten. 

Zu dieſem Zweck fing die Allmendgenoſſenſchaft an, von 
den die Allmend befahrenden Genoſſen eine Abgabe, den ſogenannten 
Auflag, zu erheben. Dieſe Abgabe hatte zu verſchiedenen Zeiten 
und in verſchiedenen Gegenden nicht immer denſelben Zweck. 
Entweder nämlich wurde ſie nur von demjenigen Vieh erhoben, 
das den Genoſſen ausnahmsweiſe über das zuläſſige Maximum 
hinaus auf die Gemeinalpen zu treiben geſtattet war. In dieſem 
Fall war die Abgabe recht hoch und entſprach ungefähr dem 
Pachtſchilling für die Benutzung von Privatalpen. Oder es wurde 
die Abgabe von allem Vieh erhoben, das die Genoſſen auf die 
Allmend trieben, und zwar entweder nach proportionalem oder 
progreſſivem Fuß. Im letzteren Falle hatte der Beſitzer von 20 
Kühen an Abgabe mehr zu zahlen als den zwanzigfachen Betrag 
deſſen, was der Beſitzer einer Kuh zahlte; im erſteren Fall da⸗ 
gegen nicht. 

Es hat jedoch jahrhundertewährende Kämpfe gekoſtet, ehe 
die Genoſſen ſich dazu bequemten, für das, was ſie bisher un⸗ 
entgeltlich genutzt hatten, eine Entſchädigung zu zahlen. 

Dieſe Abgabe war anfangs ſehr gering, wurde aber im 
Lauf der Zeit immer mehr erhöht, dann aus einer proportio⸗ 


Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 31 


nalen zu einer progreſſiven gemacht und endlich ſoweit geſtei— 
gert, daß ſie auf den höheren Steuerſtufen faktiſch der Höhe 
eines mäßigen Pachtſchillings gleichkommt. 

Übrigens iſt in dieſer Richtung ſelbſt in den am weiteſten 
gehenden Alpengegenden noch nicht der letzte Schritt gethan 
worden. Dieſer würde in der Verpachtung der Allmenden an den 
Meiſtbietenden — ſei es nun unter Beſchränkung der Meiſtbot— 
ſtellung auf die Genoſſen oder ohne ſolche Schranke — beſtehen. 
Dieſen Weg haben jedoch fürs erſte nur einige Gemeinden der 
Ebene beſchritten. 

Eine ähnliche Entwickelung hat auch die Benutzung der Ge— 
meindewälder erfahren; ſie beginnt mit dem ſogenannten Frei- 
holzhieb, wobei jeder Genoſſe ſich ſeinen Bedarf aus dem Walde 
ſelbſt ausſuchen, herunterſchlagen und abholen kann. Darauf 
folgt die Einengung der unbegrenzten Freiheit durch die Forſt— 
ordnung, die Bildung von begrenzten Holzanteilen für jeden 
Genoſſen durch die Forſtverwaltung, ferner die Erhebung einer 
Abgabe von jedem Holzloſe, die ſogenannte Stumpenlöſung, und 
endlich die öffentliche Verſteigerung der einzelnen Holzloſe an 
die Genoſſen. f 

Übrigens finden ſich, wie ſchon angedeutet, alle dieſe verſchie⸗ 
denen Stadien der Alpen- und Forſtnutzung auch heute noch neben⸗ 
einander in den einzelnen Ländern und Gemeinden der Schweiz vor. 

Der Erlös der Abgabe für die Benutzung der Gemeinweide 
wurde urſprünglich zur Melioration der Alpen verwendet. Gegen⸗ 
wärtig dient er faſt ausſchließlich zur Verteilung von Geldan- 
teilen unter die Genoſſen. Dabei iſt aber wieder ein verſchiedenes 
Verfahren zu unterſcheiden. In einigen Gemeinden werden, dem 
ſtarken Zuge nach Gleichheit in den demokratiſchen Urkantonen 
entſprechend, aus dem Gelderlös gleiche Geldanteile gebildet und 
dieſe an ſämtliche Genoſſen ohne Unterſchied, ob ſie reich oder 
arm ſind, gezahlt. Der Habliche zahlt ſomit ſeine Abgabe von 
der Allmendnutzung und empfängt andererſeits einen Geldanteil. 
Der Arme zahlt nichts, benutzt die Gemeinweide aber auch nicht und 
empfängt nur einen Geldanteil. In anderen Gemeinden werden 


32 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 


dagegen die Geldanteile nur an diejenigen verteilt, welche die 
Gemeinweiden nicht ſelbſt benutzen. In dieſem Fall nutzen die 
Hablichen die Allmenden in natura und zahlen eine mäßige Ab⸗ 
gabe für dieſe Nutzung; die Armen nutzen ſie nicht, empfangen 
dagegen aber einen Geldanteil. 

Der letztere Weg wird neuerdings vielfach auch bei der 
Waldnutzung eingeſchlagen, indem es den einzelnen Genoſſen 
freigeſtellt iſt, ob ſie ihre Holzanteile in natura oder ſtatt der⸗ 
ſelben ein beſtimmtes Geldäquivalent empfangen wollen. 

Bei der Sondernutzung einzelner Stücke der Thalallmend 
als Garten oder Wieſe bedarf es weiterer ausgleichender Maß⸗ 
regeln nicht, da dieſe Nutzung entweder den Armen ausſchließlich 


oder doch wenigſtens in demſelben Maße zu gute kommt wie 


den Reichen. Die Erhebung einer Nutzungsabgabe iſt daher hier 
in der Regel nicht üblich. 

Außer der Sondernutzung von Gemüſegärten, Kartoffellän⸗ 
dereien, einzelnen Wieſen u. ſ. w. ſind den Armen aber noch 
andere Nutzungen eigentümlich. Ihre Ziegen erklimmen die 
höchſten, ſonſt unwegſamen und nur dürftiges Futter bietenden 
Alpen und durchſtreifen die Gemeinwälder. Die Rückſichten auf 
den rationellen Forſtbetrieb ſind in der Regel nicht ſtark genug, 
um die Ziege, dieſe Kuh des kleinen Mannes, definitiv aus den 
Wäldern zu vertreiben. Aus den Wäldern holt ſich der kleine 
Mann ferner auch die nötige Streu für ſein Vieh und der ſteile 
Berggrat mit ſeinen Weide- und Wieſenplätzen muß ihm auf 
gefährlicher Fahrt das nötige Futter bieten, damit er ſeinen 
kleinen Viehſtand den Winter hindurch ernähren könne. 

Der Gelderlös der Abgabe von der Allmendnutzung wird 
wohl gelegentlich auch zur Unterſtützung ſolcher Induſtrieen ver⸗ 
wendet, welche den Armen Arbeit und Brot geben ſollen, oder 
er dient zur Beförderung der Auswanderung der Genoſſen, wenn 
ihre Zahl den Nahrungsſpielraum zu überſteigen droht. 

Im Verlauf der jahrhundertealten Geſchichte der Allmend⸗ 
nutzung tritt ferner allmählich, aber deshalb nicht minder deutlich 
folgender bedeutſame Umſchwung zu Tage. 


Socialpolitifches aus den Schweizer Alpen. 33 


Die Allmend diente anfangs weſentlich den Produktions- 
zwecken der Bauern als den einzigen landwirtſchaftlichen Pro— 
duzenten der Alpengegenden. Für fie war bei dem geringen Um⸗ 
fang des privaten Grundbeſitzes die Allmend in jener Zeit ein 
notwendiger Beſtandteil ihrer Wirtſchaft. Was uns in einer 
ſpäteren Zeit als eigene Klaſſe der Nichthablichen oder Armen ent- 
gegentritt, war anfangs, wie wir bereits oben zeigten, in der 
Familie des Bauern inbegriffen. Mit der Ausdehnung des Privat- 
eigentums der Bauern, mit dem Fortſchreiten der land- und alpen- 
wirtſchaftlichen Technik und mit der Ausbildung einer hauptſächlich 
auf ihre Arbeit angewieſenen Klaſſe ändert ſich dann allmählich 
der Charakter der Allmendnutzung. Die hablichen Bauern wiſſen 
ſich jetzt zum Teil von der Allmendnutzung unabhängig zu machen, 
indem ſie auch im Sommer zur Stallfütterung übergehen oder für 
ihr Vieh eigene Weiden erwerben oder fremde Privatweiden 
pachten. Und ſoweit ſie dies nicht thun, beginnen ſie jetzt 
wenigſtens ihre Allmendnutzung — wenn auch zunächſt noch nicht 
voll — zu bezahlen. In demſelben Grade, wie der Habliche 
von der Allmendnutzung unabhängig wird, gewinnt ſie dann 
aber für die ärmere Klaſſe an Bedeutung. Sie wird jetzt die 
Stütze, welche dieſe meiſt davor behütet, der Almoſengenöſſigkeit 
anheimzufallen. Sie bildet durch ihren die ſocialen Ungleich— 
heiten abſtumpfenden Charakter endlich auch die wirtſchaftliche 
Baſis, auf der die demokratiſche Verfaſſung jener Gegenden ſicher 
fundiert erſcheint. 

Die Allmendnutzung ſchützt dieſe Verfaſſung jetzt ſowohl davor, 
daß ſie zum Schein und zur Lüge herabſinkt, als auch davor, 
daß ſie durch ſociale Revolutionen erſchüttert wird. 

Aber freilich zu abſoluter Ruhe iſt dieſe jahrhundertealte 
durch den Dualismus von reich und arm erzeugte Bewegung 
in den Alpengegenden auch jetzt noch nicht gekommen. Nur iſt 
dafür geſorgt, daß dieſe ſich in Zukunft ebenſo gleichmäßig und 
allmählich, im Wege maßvoller, das Nebeneinanderbeſtehen beider 
Klaſſen ermöglichender Kompromiſſe vollziehen wird, wie ſolches 
bisher geſchehen iſt. 


v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 3 


34 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 


Denn wieder birgt die Gegenwart eine Anzahl von Streitfragen 
in ihrem Schoß, die ihrer Erledigung in der Zukunft harren. Nur 
einige derſelben mögen hier kurz angedeutet werden. 

Während die Ausübung des perſönlichen Nutzungsrechts 
früher abhängig gemacht war von dem Führen „von eigen Feuer 
und Licht“, d. h. von dem Innehaben einer eigenen Haushaltung, 
und von der Anſäſſigkeit in dem Bezirk derjenigen Gemeinde 
oder größeren Genoſſenſchaft, die im Beſitz der Nutzungsgüter 
war, wird jetzt an dem Fortbeſtehen dieſer beiden Requiſite ge⸗ 
rüttelt. Das erſtere iſt bereits vielfach beſeitigt, ſo daß gegen⸗ 
wärtig meiſt jeder männliche Genoſſe und bisweilen auch jede 
Genoſſin von einem beſtimmten Lebensjahr an (dem 25., 20., 
15. Jahre und ausnahmsweiſe auch noch früher) eo ipso nutzungs⸗ 
berechtigt iſt. Und auch an der Beſeitigung des zweiten Re⸗ 
quiſits wird ſeitens derjenigen, welche den privatrechtlichen Cha⸗ 
rakter der Allmendgenoſſenſchaft betonen, energiſch gearbeitet. Sie 
möchten nämlich den Allmendnutzen — in Geld umgewandelt — 
auch den in der Ferne weilenden Genoſſen zukommen laſſen, und 
es hängt hiermit der zu einer gewiſſen Berühmtheit gelangte 
Rekurs der berniſchen Gemeinde Lammlingen zuſammen. Doch ſtößt 
dieſes Beſtreben einſtweilen noch auf mannigfachen Widerſpruch. 
Ja die Vertreter des Widerſpruches beſchränken ſich nicht auf 
die reine Negation, ſondern möchten die vielfach abgebrochenen 
Beziehungen zwiſchen der Allmendgenoſſenſchaft und der Orts⸗ 
gemeinde wieder erneuern, indem fie den Allmendnutzen den orts⸗ 
anweſenden Genoſſen und außerdem auch noch den am Ort an⸗ 
geſeſſenen Nichtgenoſſen zuzuführen wünſchen. : 

Wenn die letzteren beiden künftiger Erledigung harrenden 
Punkte des Allmendweſens den beſtehenden Klaſſengegenſatz auch 
wenig berühren, ſo iſt das in ungleich höherem Grade der Fall 
bei einer anderen Strömung, die ſich in den letzten Jahrzehnten 
gegen das ganze Allmendweſen als ſolches richtet. Dieſe knüpft an 
den mannigfach vorkommenden ſchlechten wirtſchaftlichen Zuſtand der 
Gemeinalpen und Gemeinwälder an und weiſt auf den Wider⸗ 
ſpruch hin, der darin liegt, daß die Gemeinden einerſeits zur Beſtrei⸗ 


Socialpolitifches aus den Schweizer Alpen. 35 


tung ihrer Ausgaben Steuern erheben und andererſeits Nutzungen 
verteilen oder doch geſtatten, daß mit ihnen in Verbindung ſtehende 
halb öffentliche Genoſſenſchaften eine ſolche Verteilung vornehmen. 
Um dieſen Dualismus zu beſeitigen und zugleich eine beſſere Kultur 
des Allmendbodens zu erzielen, iſt die Verteilung der Allmend zu 
Privateigentum oder doch die ausſchließliche Verwertung desſelben 
für den Gemeindeſäckel im Wege des Verkaufs oder der Verpachtung 
in Vorſchlag gebracht worden. Durch dieſe letzteren Mittel be— 
abſichtigt man dann die Gemeindeſchulden zu bezahlen, die Ge- 
meindeſteuern zu vermindern und weitere öffentliche Anſtalten zu 
begründen und zu unterhalten. Bei dieſer Frage ſcheiden ſich 
die Intereſſen der beiden Klaſſen wieder aufs deutlichſte. Der 
Allmendnutzen, wie er ſich im Lauf der Zeit ausgebildet hat 
und wie er die Tendenz zeigt, ſich in Zukunft noch mehr 
zu entwickeln, kommt weſentlich den unteren nichthablichen 
Klaſſen zu gute. Die Abſchaffung und Verminderung der Steuern 
infolge fiskaliſcher Benutzung der Allmend dagegen würde faſt 
ausſchließlich die beſitzenden Klaſſen erleichtern. Endlich kommt 
die Verwendung der Allmendnutzungen zum Bau neuer Schul— 
häuſer, zur Anlegung neuer Wege, zur Begründung von wiſſen— 
ſchaftlichen Sammlungen, zur beſſeren Beleuchtung der Straßen 
u. ſ. w. hauptſächlich auch wieder den beſitzenden Klaſſen zu gute 
oder befriedigt doch für die unteren Klaſſen ein weniger dringendes 
Bedürfnis vor einem dringenderen. Denn täuſche man ſich nicht! 
Für den kleinen Mann iſt das Holz, an deſſen Feuer die Win— 
deln ſeiner Kinder getrocknet werden und durch das er ſich ſelbſt 
und ſeinen greiſen Eltern eine warme Stube ſchaffen kann, das 
Stück Wieſe und Weide, das ihm das Halten einer Kuh oder 
Ziege für ſich und ſeine Kinder geſtattet, endlich der Gemüſe— 
und Kartoffelgarten, der ihm bei hohen Gemüſe- und Kartoffel- 
preiſen und geringem Verdienſt den Bezug der notwendigſten 
Lebensmittel ſichert, von ungleich größerer Wichtigkeit als gute 
Wege und Straßenbeleuchtung, als ſchöne Sammlungen und 
gute (oder gar am Ende ſchlechte) Schulen, für die übrigens 

3 * 


— 


36 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 


Staat und Gemeinde ja auch ohnehin ſorgen müſſen. Dabei iſt 
freilich nicht zu leugnen, daß die Geldgabe, wie ſie neuerdings 
immer mehr üblich wird, die denkbar unzweckmäßigſte Form der 
Bürgernutzung iſt, weil ſie zu ihrer Aneignung keinerlei Arbeit 
vorausſetzt wie die eigentliche Allmendnutzung, und ferner, daß 
viele Gemeinwälder und Gemeinalpen ſchlecht bewirtſchaftet 
werden. Aber die Geldgabe dürfte nur eine vorübergehende 
Nutzungsform ſein und die Bewirtſchaftung der Gemeinwälder 
und Gemeinalpen läßt ſich, wie manche Erfahrungen lehren, auch 
ohne ihre Überleitung in das Privateigentum auf eine höhere 
Stufe heben. Zudem weiſt die Natur in den Alpengegenden 
ſelbſt darauf hin, daß die großen Alpen und Gebirgswälder ſich 
in einer Hand befinden müſſen. Da es in den Schweizer Alpen 
aber im allgemeinen an großen Vermögen fehlt, ſo iſt die ge— 
noſſenſchaftliche Form des Eigentums großer Korporationen die 
einzig mögliche, durch die Alpen und Wälder vor einer unwirtſchaft⸗ 
lichen Zerſplitterung unter eine große Anzahl kleiner Beſitzer be⸗ 
wahrt werden. Sodann iſt es für die Thalbewohner der Alpen⸗ 
kantone eine Lebensfrage, daß ihnen die Benutzung der Alpen und 
Gebirgswälder nicht abgeſchnitten werde; die dauernde Verbindung 
von Thal und Berg iſt aber bei vorwaltendem kleinen Vermögen der 
Thalbewohner am beſten durch das Kollektiveigentum an den Alpen, 
an welchen dann den im Thal wohnenden Genoſſen das Nutzungs⸗ 
recht zuſteht, gewährleiſtet. Aber wenn dieſe Verbindung von 
Grundbeſitz im Thal und Alpennutzung für die Hablichen eine 
Lebensfrage iſt, ſo iſt nicht minder die Allmendnutzung für die 
Armen eine Wohlthat von unermeßlichem Segen. Denn ſie ſchützt 
dieſelben davor, daß ſie der entwürdigenden Almoſengenöſſigkeit 
anheimfallen. Und wo ſich dieſe dennoch einfand, da iſt ſie 
gewöhnlich die Folge der Branntweinpeſt und anderer Schäden, 
die den in den Alpengegenden im allgemeinen wohlthätigen 
Einfluß des Allmendnutzens paralyſieren. 

Wie die Alpenkantone der Schweiz daher einer von oben 
dekretierten Verteilung des Gemeinlandes zu Privateigentum oder 
einer zwangsweiſen Umwandlung des Allmendgutes in Kämmerei- 


Soctalpolitifches aus den Schweizer Alpen. 37 


gut bisher abhold geweſen find, jo werden fie es hoffentlich in 
ihrem eigenen Intereſſe auch in Zukunft bleiben. Das ſetzt aber 
voraus, daß die Schattenſeiten der bisherigen Nutzung und Be— 
wirtſchaftung der Allmenden in Zukunft möglichſt beſeitigt werden. 


V. 


Wir ſind am Schluß. Es bleibt uns nur noch übrig, das 
Facit aus der bisherigen Darſtellung zu ziehen und damit die 
oben aufgeworfenen Fragen zu beantworten. 

1. Hinſichtlich des Zuſammenhangs, welcher zwiſchen der 
ſocialen Gliederung und der politiſchen Verfaſſung eines Volkes 
beſteht, lehren die Erfahrungen der Schweiz in Verbindung 
mit der Geſchichte anderer Völker, daß man wohl politiſche 
Verfaſſungen nach der gleichen Schablone auf die mannigfachſten 
Geſellſchaftsgliederungen aufpfropfen kann, daß politiſche Ver— 
faſſungen ohne entſprechende ſociale Grundlage aber entweder 
zur Korruption der politiſchen Verfaſſung durch die Geſellſchaft 
oder zur zwangsweiſen Umbildung der Geſellſchaft durch die 
Verfaſſung führen müſſen. 

Eine demokratiſche Verfaſſung in Staat und Gemeinde, wie 
ſie beiſpielsweiſe in den Urkantonen beſteht, ſetzt zu ihrer ge— 
deihlichen Wirkſamkeit voraus eine einfache ſociale Gliederung, 
geringe und loſe Abhängigkeitsverhältniſſe unter den verſchiedenen 
Klaſſen, eine möglichſt geringe Zahl wirklich Armer d. h. Al- 
moſengenöſſiger und ein gemeinſames ſtarkes namentlich auch 
auf wirtſchaftlicher Grundlage ruhendes Intereſſe aller Klaſſen 
an der Erhaltung der beſtehenden Ordnung. Alles das trifft 
mehr oder minder in den Urkantonen ein und dient dazu, die 
demokratiſche Verfaſſung dort zu wirklich unverfälſchter Aus— 
führung gelangen zu laſſen. 

2. Ein weiterer Satz, den wir aus der obigen Darſtellung 
ableiten können, iſt dieſer: daß ſelbſt unter den einfachſten Ver- 
hältniſſen die Geſellſchaft ſich in Klaſſen gliedert; ferner, daß 
die Intereſſen dieſer Klaſſen teils harmoniſch teils gegenſätzlich 


38 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 


ſind und daß die Gegenſätzlichkeit ſich in beſtimmten Zeitpunkten 
zu ſchroffſter Feindſchaft ſteigern kann. In einem Gleichgewichts⸗ 
verhältniſſe werden die Klaſſen und ihre Intereſſen ſtehen in 
Zeiten, in denen das religiöſe, ſittliche und geiſtige Leben des 
Volks zu einer gewiſſen Ruhe gelangt iſt, die Verfaſſung des 
wirtſchaftlichen Lebens den vorliegenden Bedürfniſſen entſpricht 
und die geſellſchaftliche Gliederung ſich an die wirtſchaftliche 
Verfaſſung anſchließt. Dagegen wird es zu Reibungen und 
Kämpfen unter den verſchiedenen Klaſſen kommen, wenn die be⸗ 
ſtehende wirtſchaftliche und ſociale Lage eines Volkes den allge⸗ 
mein gewordenen Bedürfniſſen ganzer Klaſſen nicht entſpricht, 
wenn in dieſen zugleich neue Ideale für die Umgeſtaltung des 
äußeren Lebens auftauchen, ſowie namentlich dann, wenn die 
beſtehenden religiöſen, ſittlichen und politiſchen Anſchauungen ſich 
verändern, was dann leicht auch die politiſche und ſociale 
Ordnung ins Schwanken bringen kann. In ſolchen Zeiten teilen 


ſich Bewegungen und Erregungen, welche anfangs nur ein Gebiet 


betreffen, wie ein Lauffeuer auch anderen Gebieten mit. Aber 
wenn in ſolchen Zeiten die unteren Klaſſen und ebenſo die kranken 
Teile der oberen Geſellſchaftsſchicht den Maßſtab für das Mög⸗ 
liche und Erreichbare verlieren, ſo iſt das immer nur ein Beweis 
für die zu geringe Macht derjenigen Faktoren, welche, wie die 
Religion, die gemeinſame Sitte, die geſchichtliche Tradition ſo⸗ 
wie die Vaterlandsliebe, beſtimmt ſind, das Gefühl der Gemein⸗ 
ſamkeit unter den verſchiedenen Klaſſen wach und rege zu erhalten. 

3. Fragen wir weiter, welche Bedeutung das Kollektiveigen⸗ 
tum für die Geſellſchaft ſowie das Verhältnis ihrer einzelnen 
Klaſſen zueinander hat, ſo ſehen wir, daß dasſelbe, vorausge— 
ſetzt daß das Privateigentum in gewiſſem wenn auch beſchränktem 
Umfange nebenbei beſtehen bleibt, den Klaſſenkampf nicht zu be⸗ 
ſeitigen vermag. Und alles Privateigentum will ja ſelbſt der 
extreme Socialismus der Gegenwart nicht aufgehoben wiſſen, 
ſondern neben dem Kollektiveigentum an ſämtlichen Produk⸗ 
tionsmitteln und am Grund und Boden das Privateigentum an 
den Gebrauchsgütern beſtehen laſſen. Alſo angenommen daß in 


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Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 39 


irgend einer entfernten Zukunft die Forderungen des extremen 
Socialismus realiſiert würden, ſo würde doch immer das Fort— 
beſtehen des Privateigentums an den Gebrauchsgütern den Keim 
zu ungleichen Vermögensverhältniſſen in ſich tragen. Und welche 
Legion von Dienern der Wohlfahrtspolizei gehörte nicht außerdem 
dazu, um die Einhaltung der meiſt nur durch die Zweckbeſtim— 
mung des einzelnen Individuums gezogenen Grenzlinie zwiſchen 
Gebrauchsgut und Kapital zu beaufſichtigen. Daß dieſe Grenz- 
linie aber auch trotz der vielen Argusaugen doch immer wieder 
zu Gunſten des Privateigentums verſchoben werden würde, zeigt 
jede Seite der Geſchichte der ſchweizeriſchen Allmend. Bei der 
Verſchiedenheit der Begabung und Charakteranlage der einzelnen 
Menſchen ſowie bei der Verſchiedenheit der Entwicklung der 
geiſtigen und ſittlichen Fähigkeiten, die auch der rigoroſeſte Schul— 
zwang und die konſequenteſte Uniformierung des Schulweſens 
nicht ganz zu beſeitigen vermöchte, — würden die Vermögens— 
verhältniſſe, ſelbſt wenn man ſie anfangs vollſtändig gleich 
machen wollte, allmählich doch wieder ungleich werden, womit 
dann wiederum Klaſſenunterſchiede gegeben wären. Dieſe müßten 
ſich um ſo ſicherer einſtellen, wenn mit dem Privateigentum auf 
beſchränktem Gebiete auch das Erbrecht als ſein Komplement 
zugelaſſen werden würde. Die verſchiedenen Intereſſen dieſer 
Klaſſen würden dann bei der Benutzung des Gemeineigentums 
wenn auch in abgeſchwächter Weiſe, ſo doch immerhin noch 
deutlich genug zur Geltung gelangen. Und der Widerſtreit der 
Intereſſen müßte ebenſo zum Klaſſenkampf führen wie gegen— 
wärtig. Ein ſolcher iſt unter den oben angegebenen Voraus— 
ſetzungen und in dem gleichfalls oben bezeichneten Umfange 
überhaupt unvermeidlich, ſolange noch ein Reſt von Freiheit 
und Privateigentum beſtehen bleibt. Erſt wenn es gelingen ſollte, 
ein Volk vollſtändig zu kaſernieren, das Individuum zu einer 
Nummer und die Familie zu einer jeden ſittlichen Inhalts baren 
Geſchlechtsgemeinſchaft zu degradieren, — und das wäre die 
notwendige Konſequenz der vollſtändigen Aufhebung des Privat- 
eigentums — erſt dann wäre jede Spur verſchiedener Klaſſen 


40 Soctalpolitifches aus den Schweizer Alpen. 


und damit auch der Kampf unter denſelben beſeitigt. Ein ſolcher 
Zuſtand müßte aber ſchließlich notwendig dahin führen, daß 
der Bedarf jedes einzelnen nach einem beſtimmten Normalmaß 
von der Geſamtheit geregelt würde. Der auf dieſem Wege 
erzielte Friede der Geſellſchaft wäre dann der Ruhe des Fried- 
hofs zu vergleichen, auf dem die individuelle Freiheit begraben 
läge. Ein ſolcher Preis iſt aber ein zu teurer, als daß er, ſelbſt 
wenn man den höchſten Grad und die allgemeinſte Verbreitung 
der materiellen Wohlfahrt dafür eintauſchen könnte, gezahlt 
werden würde. Selbſt ein Volk, das an die größte Tyrannei 
nach unſeren Begriffen gewöhnt iſt, müßte vor dieſer Konſequenz 
zurückſchrecken. 

Es verlangt vielmehr die Geſamtordnung unſeres heutigen 
Lebens, deren Grundlage im Gegenſatz zum ſocialiſtiſchen Zu⸗ 
kunftsſtaat, wie wir ihn uns nach den einzelnen ſocialiſtiſchen 
Poſtulaten konſtruieren, die individuelle Freiheit auf allen Ge⸗ 
bieten iſt, auch als Baſis unſeres wirtſchaftlichen Thuns und 
Laſſens die Freiheit und ihre Ausgeſtaltung in der Güterwelt 
als Privateigentum und Erbrecht. Aber wenn die gegenwärtige 
Geſamtordnung unſeres Daſeins, ohne die uns das Leben nicht 
lebenswert erſcheinen würde, auch im allgemeinen die Herrſchaft 
des Privateigentums in der Welt der beweglichen Güter und 
am Grund und Boden verlangt, ſo iſt dadurch doch nicht 
ausgeſchloſſen, daß innerhalb gewiſſer Grenzen auch das Kollektiv⸗ 
eigentum am Grund und Boden, d. h. das Grundeigentum von 
Gemeinden und anderen öffentlichen Körperſchaften, deſſen Nutzung 
den G iedern dieſer Gemeinſchaften freiſteht, Platz greifen könne. 
Ja dieſes ſoll das Privateigentum dort einengen, wo jo eigen⸗ 
artige Verhältniſſe des Bodens, ſeiner Konfiguration und ſeines 
Klimas vorliegen wie in den Alpengegenden, ohne daß dadurch 
dem Prinzip des Privateigentums etwas vergeben wäre. Aber 
auch ohne ſolche natürliche Grundlage ſoll das Kollektiveigentum 
in beſcheidenerem Umfange neben dem herrſchenden Privateigentum 
Platz finden. Denn während das Privateigentum hauptſächlich 
denjenigen Klaſſen, in deren Händen ſich die Leitung des Pro— 


Socialpolitifches aus den Schweizer Alpen. 4] 


duktionsprozeſſes und die Anſammlung des Kapitals befindet, zu 
gute kommt, kann das Kollektiveigentum bei zweckmäßiger Be— 
nutzung — in den ländlichen Gemeinden — dazu dienen, die 
untere Klaſſe zu heben und ſie vor Verarmung und direkter 
Staatsunterſtützung zu bewahren, den Gegenſatz zwiſchen reich 
und arm zu mildern und in dem Armen das Gefühl zu ſtärken, 
daß er an den Geſchicken ſeiner Heimat, an ihrem Wohl und 
Wehe lebhaft mitintereſſiert iſt. Kleine und vollſtändig unent- 
geltliche oder nur niedrig vergoltene Landnutzungen haben für 
die unteren Klaſſen der Landbewohner eine ähnliche Bedeutung 
wie das Verſicherungsweſen für die ſtädtiſchen und induſtriellen 
Arbeiter. | 

4. Wenn wir hiernach zu dem Reſultat gelangt find, daß 
das Kollektiveigentum von überwiegend wohlthätigem Einfluß 
für das wirtſchaftliche, ſociale und politiſche Leben der Schweizer 
Alpenkantone iſt, ſo darf doch auch die Kehrſeite des eben dar— 
geſtellten Bildes nicht überſehen werden. 

Die wirtſchaftliche Ordnung dieſer Länder ruht bei ausge— 
dehntem Kollektiveigentum und dünner Bevölkerung ausſchließlich 
auf dem Ackerbau und der Viehzucht und weiſt demzufolge einen 
mehr einfachen und harmoniſchen ſocialen Bau auf, als er ſich 
in Ländern mit entwickelten Induſtrie- und Handelsverhältniſſen 
und dichter Bevölkerung, in denen die geſamte Güterwelt im 
heftig wogenden Kampf ums Daſein dem Privateigentum unter— 
worfen iſt, findet. Dafür entbehren die Alpenkantone aber auch 
jener höheren Kultur, wie ſie aus der mannigfachen Reibung 
der Gegenſätze eines reich bewegten Lebens entſpringt, jener 
Kultur, für welche große Völker in der bisweilen ſchroffen Un— 
gleichheit ihrer ſocialen Verhältniſſe einen hohen Preis zahlen 
müſſen. 

Und in der That ſind ſelbſt die ſpärlichen Elemente höherer 
Kultur, die ſich bei dem Gebirgsvolk der Schweizer Alpen finden, 
demſelben von außen zugetragen und bedürfen ſtets wieder 
der Erneuerung von außen, um nicht völlig zu verſchwinden. 
Als älteſte und noch gegenwärtig bedeutendſte Kulturträgerin 


42 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 


in jenen Ländern erſcheint die katholiſche Kirche. Dieſe lehrte 
das rauhe Gebirgsvolk nicht nur glauben und beten, ſie zog auch 
die Grundlinien für ihr ſittliches und wirtſchaftliches Leben, ſie 
baute ihm Kirchen und Schulen und ſenkte die erſten Keime der 
Wiſſenſchaft und Kunſt in jenen harten Boden. Und auch noch 
gegenwärtig erhalten ſeine Prieſter und Künſtler gewöhnlich ihre 
Ausbildung in fremden Kollegien und Kunſtſchulen, ſeine Advo⸗ 
katen, Richter und Arzte auf auswärtigen Univerſitäten. 

Sollen wir das etwa bedauern? 

Wir denken nein. 

Erblicken wir doch in jenen innigen Wechſelbeziehungen 
zwiſchen der Natur jener Länder und den Lebensordnungen ihrer 
Bewohner ein Stück weiſer Zweckmäßigkeit. 

Jene Gebirgsgegenden vermögen ihrer natürlichen Beſchaffen⸗ 
heit nach nur eine dünne Bevölkerung zu ernähren und — es 
findet ſich das Privateigentum, das in ſeiner unendlichen Teil⸗ 
barkeit zu immer neuen Anſiedelungen und damit zu einer un⸗ 
begrenzten Vermehrung der Bevölkerung führt, von einem großen 
Teil jenes Bodens ausgeſchloſſen. 

Bodenart, Bodenkonfiguration und Klima jener Länder weiſen 
dieſelben im Frieden auf das primitive Gewerbe der Viehzucht 
und im Kriege auf die Verteidigung enger Thalſchluchten und 
ſteiler Gebirgspäſſe im unregelmäßigen Kampf hin und — die 
einfache ſociale Gliederung ſowie der harte Beruf ihrer Bevöl⸗ 
kerung bewahrt ſie vor einer feineren Kultur, deren Träger jenen 
Aufgaben wahrſcheinlich nicht gewachſen wären. 


S EN 


ne Ex. 220 


1) 


Die Tage des Bauernſtandes in Preußen. 


Referat für das Preuß. Landes⸗Okonomie⸗Kollegium. 
Februar 1883. 


Meine Herren! Indem ich mich hiermit dem mir gewordenen 
Auftrage unterziehe, Ihnen über die Reſultate der im vorigen 
Jahr ſeitens des Landwirtſchaftsminiſteriums veranſtalteten En— 
quete über die bäuerlichen Wohlſtands- und Beſitzverhältniſſe zu 
referieren und aus dem gewonnenen Reſultat meine Konkluſionen 
zu ziehen, muß ich mir im voraus Ihre Nachſicht dafür erbitten, 
daß mein Vortrag einen viel größeren Umfang annehmen wird, 
als es ſonſt an dieſer Stelle üblich zu ſein pflegt. 

Zu meiner Entſchuldigung möge dienen, daß ich bei der mir 
für dieſe Arbeit eingeräumten kurzen Friſt und bei meinen 
ſonſtigen Amtspflichten nicht die nötige Muße fand, um mein 
Referat in gedruckter Form in Ihre Hände gelangen zu laſſen. 
Ich bin ſomit darauf angewieſen, Ihnen dasſelbe hier mündlich 
vorzutragen !. 


1 Die in dem Bericht erwähnten Thatſachen find, ſoweit nicht be— 
ſondere Quellen für dieſelben ausdrücklich angegeben worden ſind, den zu 
einem eigenen Bande zuſammengefaßten Berichten über die bäuerlichen 
Wohlſtands⸗ und Beſitzverhältniſſe entnommen. (Vgl. Verhandlungen des Kgl. 
[Preußiſchen] Landes⸗Okonomie⸗Kollegiums, III. Seſſion der II. Sitzungs⸗ 
periode. Berlin 1883.) 


44 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


In dieſem Referat werde ich zuerſt über Anlaß und Methode 
der angeſtellten Enquete und ſodann über ihr Reſultat zu ſprechen 
haben. Hierauf will ich eine Diagnoſe der gegenwärtigen Lage 
des preußiſchen Bauernſtandes zu geben verſuchen und ſchließlich 
die Mittel und Wege andeuten, die den preußiſchen Bauernſtand 
meiner Anſicht nach aus ſeiner gegenwärtigen mißlichen Lage 
herausführen können. 


I. 


Die allgemeine Veranlaſſung zu der vorliegenden Enquete 
war durch die geringe Übereinſtimmung der Urteile über die gegen⸗ 
wärtige Lage unſeres Bauernſtandes gegeben. Stehen ſich doch 
ſeit einigen Jahren die Urteile über dieſen Gegenſtand diametral 
gegenüber, ohne daß bisher eine Ausgleichung unter denſelben 
ſtattgefunden hätte. Die einen halten den bäuerlichen Grund⸗ 
beſitz, im weſentlichen ohne Zuthun ſeines Beſitzers, für über⸗ 
ſchuldet und ſehen denſelben in immer größere Abhängigkeit vom 
Geldkapital geraten. Dieſer Anſicht nach iſt das Hinabſinken 
des Bauernſtandes zu einem ländlichen Proletariat nur eine 
Frage der Zeit; nur durch energiſche und tief in die gegen- 
wärtige Agrarverfaſſung eingreifende Maßregeln könnte es aufge- 
halten werden. Die anderen dagegen geben allenfalls zu, daß der 
Bauernſtand wie überhaupt der Stand der ländlichen Grund⸗ 
beſitzer ſich in einer Kriſis befindet, die aber größtenteils von 
ihm ſelbſt durch die in den 50 er und 60 er Jahren gezahlten un⸗ 
vernünftig hohen Kaufpreiſe veranlaßt worden iſt. Nur durch Opfer, 
die die Grundbeſitzer ſelbſt tragen müſſen, kann nach dieſer An⸗ 
ſicht die Kriſis beſeitigt werden. 

Dieſer Gegenſatz der Anſichten tritt gleichmäßig in der 
Wiſſenſchaft und in der Preſſe, in den Parlamenten und in 
Regierungskreiſen zu Tage. 

Ihn durch Beibringung eines unanfechtbaren Thatſachen— 
materials zu beſeitigen und an ſeine Stelle ein durch Thatſachen 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 45 


begründetes Urteil zu ſetzen, liegt um ſo mehr im Intereſſe der 
Staatsregierung, als ſie nur aus einer unbefangenen Würdigung 
des beſtehenden Zuſtandes einen richtigen Maßſtab für ihr 
weiteres Verhalten gewinnen kann. 

Den unmittelbaren Anſtoß zu der auch ſonſt genugſam ge— 
rechtfertigten Enquete hat die Staatsregierung dann wohl er— 
halten durch die bekannten von den Abgeordneten v. Huene 
und Knebel im Abgeordnetenhauſe geſtellten Anträge und die 
von dem Grafen v. Schlieben im Herrenhauſe an die Staats- 
regierung gerichteten Interpellationen, welche teils in den Februar 
teils in den Mai des vorigen Jahres fallen. 

Mußte demnach über kurz oder lang geſchehen, was im 
vorigen Jahre wirklich geſchehen iſt — nämlich die Vornahme 
einer Unterſuchung der bäuerlichen Wohlſtands- und Beſitz— 
verhältniſſe —, ſo bleibt der Staatsregierung doch das Verdienſt, 
zur rechten Zeit einen Schritt gethan zu haben, der auch erſt 
viel jpäter — und dann vielleicht zu ſpät — hätte geſchehen 
können. 

Statt der Veranſtaltung einer eigentlichen Enquete mit 
Vorladung und Vernehmung von Zeugen, mit Kreuzverhör ıc. 
hat die Staatsregierung es vorgezogen, den auch bei früheren 
Gelegenheiten, namentlich im Reich, eingeſchlagenen Weg der 
Verſendung eines Fragebogens zu betreten. 

Was nun dieſen letzteren betrifft, ſo wurde derſelbe im 
Juni vorigen Jahres an die landwirtſchaftlichen Centralvereine 
ſämtlicher Provinzen mit der Weiſung verſandt, daß die Ant— 
worten zum November eingehen ſollten. 

Daß man ſich zunächſt an die landwirtſchaftlichen Vereine 
wandte, war gewiß richtig. Sind ſie doch diejenigen Organe, 
die dem Landwirt am nächſten ſtehen. Und wenn ihre Thätigkeit 
auch vorwiegend auf das techniſche Gebiet gerichtet iſt, ſo hängt 
dieſes doch ſo innig mit dem ſocialwirtſchaftlichen zuſammen, 
daß die Vereine notwendig Kenntnis von den Vorgängen auch 
auf dieſem letzteren nehmen müſſen. 

Eine andere Frage freilich iſt, ob den landwirtſchaftlichen 


46 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


Vereinen die Quellen, aus denen ſie den Stoff zur Beantwortung 
der an ſie gerichteten Fragen zu ſchöpfen hatten, immer offen⸗ 
lagen. Und ferner: ob ſie überall die nötigen Kräfte beſaßen, 
um den Gegenſtand der Frageſtellung methodiſch in einer ſolchen 
Weiſe zu behandeln, daß die von ihnen abgefaßten Berichte 
auf jeden Unbefangenen von überzeugender Wirkung ſein mußten. 

Erſcheinen dieſe Bedenken nicht ganz unberechtigt, ſo wäre 
es zweckmäßig geweſen, dem Fragebogen eine etwas präcijere 
Faſſung zu geben oder denſelben doch mit einer Inſtruktion über 
die Art, wie er zu beantworten geweſen wäre, zu verſehen. 

Ohne eine ſolche Inſtruktion lag die Verſuchung für die 
landwirtſchaftlichen Vereine ſehr nahe, auf die allgemein ge⸗ 
haltenen Fragen ebenſo allgemein zu antworten. 

Werden aber Fragen wie die, ob eine „beſondere“ Höhe 
oder „ſchnelle“ Zunahme der Verſchuldung des Grundbeſitzes 
vorliegt oder ob „häufige“ Subhaſtationen und „mehrfache“ 
Parzellierungen in den „letzten“ Jahren vorgekommen ſind, mit 
ja oder nein beantwortet, ſo iſt durch ſolche Antworten wenig 
gewonnen. 

Ferner kann man ſich des Eindrucks nicht ganz erwehren, 
daß einige Berichte ihr ſpecifiſches Kolorit durch die optimiſtiſche 
oder peſſimiſtiſche Lebens- und Weltanſchauung ſowie den 
politiſchen oder ſocialwirtſchaftlichen Parteiſtandpunkt ihrer Ver⸗ 
faſſer erhalten haben. Es fällt daher ſchwer, aus ſolchen mehr 
oder minder ſubjektiven Urteilen die Thatſachen ſelbſt heraus⸗ 
zuſchälen, namentlich aber dieſe verſchieden nuancierten Bilder mit⸗ 
einander zu vergleichen. 

Das eben Geſagte ſchließt nicht aus, daß alle Bericht⸗ 
erſtatter ihr Beſtes gegeben haben und daß unter den ein- 
gelaufenen Berichten ſich einige vorzügliche befinden, die den be— 
handelten Gegenſtand in ſcharfer und, wie mir ſcheint, vollſtändig 
objektiver Beleuchtung erſcheinen laſſen. Es ſind das namentlich 
diejenigen Berichte, deren Verfaſſer ſich nicht darauf beſchränkt 
haben, die ihnen gebotenen Unterlagen der Zweigvereine zu⸗ 
ſammenzuſtellen, ſondern die — getrieben von dem Bewußtſein 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 47 


der Verantwortlichkeit ihrer Stellung oder von lebhaften In⸗ 
tereſſe für den behandelten Gegenſtand — ſelbſt Umſchau ge— 
halten und den Quellen, aus denen ein richtiges Urteil zu ge— 
winnen iſt, nachgeſpürt haben. 

Zu den letzteren Arbeiten ſind u. a. auch die Berichte einiger 
Landräte und ſonſtigen Verwaltungsbeamten zu rechnen, die für 
ihren Kreis oder einen Teil desſelben aus den Grund- und 
Hypothekenbüchern, aus den Klaſſenſteuerrollen, aus den Subhaita- 
tionsverzeichniſſen ꝛc. eine Fülle von Thatſachen für die Be⸗ 
urteilung des Bauernſtandes und ſeiner gegenwärtigen Lage 
beigebracht haben. 

Dieſe zum Teil vorzüglichen Arbeiten laſſen es bedauern, 
daß — wenn man nun einmal von einer wirklichen En⸗ 
quete abſehen wollte — nicht gleichzeitig mit den landwirtſchaft— 
lichen Vereinen direkt eine größere Anzahl von Landräten, Amts— 
richtern, Kataſter⸗ und Hypothekenbeamten (deren Auswahl man 
wohl am zweckmäßigſten den Ober- oder Bezirkspräſidenten hätte 
überlaſſen können) um ihre Meinungsäußerungen angegangen 
worden iſt. Der Beruf dieſer Perſonen bringt ſie mit dem 
Bauernſtande in tägliche Berührung und ſie beſitzen, ſofern ſie 
längere Zeit am Orte thätig ſind, eine genaue Kenntnis der 
ſocialwirtſchaftlichen Verhältniſſe ihrer Amtsbezirke. Auch er— 
ſcheinen ſie nach den wenigen eingegangenen Proben durchaus 
befähigt, das ihnen zugängliche Material methodiſch zu ver— 
arbeiten. Bei gehöriger Auswahl der zu befragenden Perſonen 
hätte man ohne Zweifel auf die Beibringung eines reichhaltigen 
und zugleich wohl geſichteten Materials rechnen können. 

Nach dem Vorausgeſchickten ſind eine Anzahl von Berichten 
nur mit der größten Vorſicht zu benutzen und die in denſelben 
beigebrachten Zahlen nur zum Teil verwertbar. Ja manche der 
letzteren ſind ſchlechterdings unbrauchbar, weil ſie entweder der 
Zeit nach nicht weit genug zurückreichen, wie z. B. die uns aus 
den letzten Jahren mitgeteilten Zahlen über die vorgekommenen 
Subhaſtationen, oder weil ihnen nicht die Grundzahlen, auf die 
ſie bezogen werden müſſen, beigegeben ſind, wie z. B. bei den An⸗ 


48 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


gaben über die Zahl der parzellierten Höfe, denen vielfach Daten 
über die Zahl der Höfe überhaupt wie über den Umfang der⸗ 
ſelben nicht beigefügt ſind. Endlich ſind die für die verſchiedenen 
Provinzen ermittelten und verarbeiteten Zahlen häufig unter⸗ 
einander unvergleichbar, weil ſie nach verſchiedenen Geſichts⸗ 
punkten gewonnen worden ſind. Ich erinnere nur daran, daß 
die Ermittelung der Verſchuldung des Grundbeſitzes von den 
meiſten Berichterſtattern auf die hypothekariſche Verſchuldung be⸗ 
ſchränkt, von einigen dagegen auch auf die perſönliche Ver⸗ 
ſchuldung der Beſitzer ausgedehnt worden iſt. Ferner daran, 
daß die Verſchuldung des Grundbeſitzes in einigen Berichten in 
Beziehung geſetzt iſt zu dem durchſchnittlichen Verkehrswert, in 
anderen dagegen zum Ertragswert und in dritten endlich zu 
einem ſogenannten wahren Wert des Grundbeſitzes, deſſen Be⸗ 
deutung mir nicht ganz klar geworden iſt. Die durch dieſe ver⸗ 
ſchiedene Berechnungsart gewonnenen Prozentzahlen ſind natürlich 
untereinander nicht vergleichbar. 

Gehe ich nun auf die Bedeutung der geſtellten 5 Fragen 
ein, ſo iſt es klar, daß man durch dieſelben einmal die Ver⸗ 
änderungen des Wohlſtandes und ſodann die Beſitzverſchiebungen 
treffen wollte. 

Auf den erſten Gegenſtand beziehen ſich die Fragen: 1. Iſt 
eine beſondere Höhe oder ſchnelle Zunahme der Verſchuldung 
des ländlichen Grundbeſitzes in den letzten Jahren wahrzu⸗ 
nehmen? 2. Wenn dies der Fall, in welchen Gegenden, bis zu 
welcher Höhe und aus welchen Urſachen? und 3. Haben häufige 
Subhaſtationen ländlicher Grundſtücke ſtattgefunden? 

Indeſſen laſſen die Antworten auf dieſe Fragen doch nur 
in bedingter Weiſe einen Schluß auf die Wohlſtandsverhältniſſe zu. 

Die abſolute Zunahme der doch allein mit Sicherheit zu ermit- 
telnden hypothekariſchen Verſchuldung des bäuerlichen Grundbeſitzes 
ſpricht an ſich durchaus noch nicht für den Niedergang des Wohl— 
ſtandes der bäuerlichen Bevölkerung. Denn einmal kann eine Zunahme 
der hypothekariſchen Verſchuldung ja nur oder doch größtenteils 
auf einer Konverſion von perſönlichen Schulden in hypothekariſche 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 49 


beruhen. Und dafür, daß die Zunahme eines Teils der hypo— 
thekariſchen Verſchuldung ſo aufzufaſſen iſt, liegen unbeſtreitbare 
Beweiſe aus Hannover, Pommern und aus anderen Provinzen 
vor. Ferner iſt in der Zunahme der hypothekariſchen Ver— 
ſchuldung auch dann kein beſorgniserregendes Symptom zu er— 
blicken, wenn mit derſelben eine Verbeſſerung der Gebäude und 
ihrer inneren Einrichtung, eine Vermehrung des Betriebskapitals 
und namentlich des Viehſtandes, eine intenſivere Bewirtſchaftung 
des Bodens und demgemäß auch eine Erhöhung des Ertrags— 
und Verkehrswertes desſelben parallel geht. Ja wenn gar alle 
dieſe Momente in ſtärkerem Grade eintreten als die Verſchuldung 
ſelbſt, ſo wird ſogar auf ein Steigen des Wohlſtandes geſchloſſen 
werden müſſen. Um zu einem ſicheren Schluß zu gelangen, 
müßte demnach nicht nur das Fortſchreiten der Verſchuldung, 
ſondern auch das Verhältnis derſelben zu der Wertbewegung der 
Bauerngüter konſtatiert werden. 

Wie die Zunahme der hypothekariſchen Verſchuldung des Grund— 
beſitzes nicht notwendig ein ungünſtiges Zeichen für die Wohlſtands— 
verhältniſſe zu ſein braucht, ſo kann auch aus dem Gleichbleiben 
oder Zurückgehen der hypothekariſchen Verſchuldung nicht mit Sicher— 
heit auf günſtige Vermögensverhältniſſe geſchloſſen werden. Denn 
wenn die Benutzung des Perſonalkredits durch die Bauern auch 
in der Abnahme begriffen iſt, ſo ſpielt derſelbe doch noch immer 
eine bedeutende Rolle, ſo daß in Gegenden, in denen die Ver— 
ſchuldung des Bauernſtandes notoriſch eine ſehr hohe iſt, dieſe 
Lage aus den Hypotheken- und Grundbüchern keineswegs immer 
erſichtlich wird. Denn wo das Kreditbedürfnis des Bauern 
hauptſächlich von ſeinen Verwandten und Freunden befriedigt 
wird, da wird das Verlangen nach Beſtellung einer Hypothek 
oder gar nach Eintragung derſelben ins Grundbuch als kränkendes 
Mißtrauen angeſehen, deſſen Außerung man dem Schuldner ſo— 
lange als nur irgend thunlich zu erſparen ſucht. Sodann iſt 
der gewerbsmäßige Geldverleiher in der Regel kein Freund 
der Hypothek, weil ſich die hohen Zinſen und Proviſionen 


hierbei weniger leicht verſchleiern laſſen als bei der wechſel— 
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit- u. Streitfragen. 4 


50 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


mäßigen Form des Darlehns. Auch veranlaßt der Wunſch nach 
Steuerhinterziehung den Gläubiger, ſeinem Schuldner gegenüber 
häufig geradezu die Bedingung zu ſtellen, daß die Schuld bei 
der Klaſſenſteuerveranlagung nicht angegeben und noch viel weniger 
durch hypothekariſche Eintragung kundbar gemacht werde. 

Eine ſolche Begünſtigung der Perſonal- vor der hypothekariſch 
intabulierten Realſchuld ſetzt natürlich voraus, daß der Gläubiger 
ſeine Forderung vor den Folgen eines Prozeſſes oder einer Sub⸗ 
haſtation ſicherſtellen könne. Das geſchieht gewöhnlich in der 
Weiſe, daß er alle übrigen auf denſelben Schuldner lautenden 
Forderungen aufkauft und den Schuldner dann im geeigneten 
Augenblick veranlaßt, ihm ſein Grundſtück abzutreten. 

Dies führt mich auf die Frage nach der Bedeutung, welche 
die Vermehrung der Subhaſtations-Fälle für die Beurteilung 
des Wohlſtands hat. Gewiß werden wir von einer rapid und 
ſtark ſteigenden Zahl der Subhaſtationen bäuerlicher Grundſtücke 
auf einen Rückgang des Wohlſtandes ſchließen dürfen. Aber 
nicht ebenſo ſicher wäre der umgekehrte Schluß von einer ſich 
gleichbleibenden oder gar einer abnehmenden Zahl von Subhaſta⸗ 
tionen. Denn nach den Berichten ſuchen faſt in allen Provinzen 
ſtark verſchuldete bäuerliche Beſitzer und ihre Gläubiger der 
Subhaſtation durch Parzellierung und Verkauf ihrer Grundſtücke 
zuvorzukommen. Was aus der Provinz Sachſen berichtet wird, 
daß nämlich die größte Zahl der parzellierten Güter zur Subhaſta⸗ 
tion reif war, dürfte demnach die Regel auch für die übrigen 
Provinzen ſein. 

So kommt es denn zur Subhaſtation nur dort, wo es den 
betreffenden Beſitzern ſelbſt an Unternehmungsluſt fehlt und wo 
ſich auch der zu ſolchem Geſchäft bereite Vermittler nicht ein⸗ 
ſtellt, weil es in der betreffenden Gegend überhaupt oder doch 
wenigſtens zur Zeit an Kaufliebhabern für ſolche Parzellen fehlt, 
oder endlich, wo die verſchuldeten Güter zu klein ſind, um eine 
weitere Parzellierung zuzulaſſen. 

Demnach müſſen zur Beurteilung der Wohlſtandsverhältniſſe 
außer den Antworten auf die Frage 1—3 auch die Antworten 


Spa KR TEE 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 51 


auf die Frage 4: Sind größere und mittlere Bauerngüter mehr- 
fach von den bisherigen Beſitzern parzelliert oder durch ge— 
werbsmäßige Unternehmer ausgeſchlachtet worden? herangezogen 
werden. 

Außerdem iſt durch dieſe Frage 4 auch der zweite Haupt- 
gegenſtand der Enquete, nämlich der über die in den letzten Jahr— 
zehnten ſtattgehabten Veränderungen in den Grundbeſitzverhält— 
niſſen des Bauernſtandes, getroffen worden. Endlich will die 
Frage 5: Sind die betreffenden Parzellen mehr zur Arrondierung 
des größeren und mittleren Beſitzes oder zur Etablierung kleinerer 
Wirtſchaften oder Häuslerſtellen benutzt worden? die Richtung 
fixieren, in der ſich dieſe Beſitzveränderungen vollzogen haben. 


II. 


Ich wende mich nunmehr zur Feſtſtellung des nach Maßgabe 
der obigen Geſichtspunkte ermittelten Reſultats der Enquete, 
wobei ich mich darauf beſchränken will, den empfangenen Geſamt⸗ 
eindruck zu ſchildern. 

Bezüglich der Einzelheiten und namentlich der Zahlenbelege 
verweiſe ich auf die in Ihren Händen befindlichen Berichte. 

Daß die Verſchuldung des bäuerlichen Grundbeſitzes in den 
letzten 3 bis 4 Jahren beſonders ſtark gewachſen ſei, findet ſich 
in einer Anzahl von Berichten ausdrücklich negiert, ja es ſcheinen 
ſich die Verhältniſſe in dieſer allerletzten Zeit etwas gebeſſert 
zu haben. Dagegen wird ziemlich allgemein zugegeben, daß die 
Verſchuldung in den letzten 10—20 Jahren erheblich zugenommen 
habe. Durch ziffermäßige Belege für einzelne Gemeinden, Kreiſe 
und ganze Provinzen wird dieſe Thatſache näher zu erhärten 
geſucht. 

Da die Zahlen ſich aber faſt nur auf die Zunahme der 
hypothekariſchen Verſchuldung beziehen, ſo iſt der Beweis nicht 
ſtringent, ſolange nicht zugleich der Umfang der perſönlichen 
Verſchuldung des Bauernſtands zur Zeit der früher geringeren 
und der gegenwärtig ſtärkeren hypothekariſchen Verſchuldung 


genau feſtgeſtellt iſt. Dieſer Punkt hat namentlich in Pommern 
4 * 


52 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


zu einer lebhaften Kontroverſe Anlaß gegeben, indem einerſeits 
behauptet wird, daß nur eine Konverſion der perſönlichen in 
hypothekariſche Schulden vorliege, während andererſeits auch für 
die Gegenwart auf das Beſtehen einer ſtarken perſönlichen Ver⸗ 
ſchuldung neben der bedeutend angewachſenen hypothekariſchen 
Laſt hingewieſen wird. 

Was die gegenwärtige Höhe dieſer letzteren betrifft, ſo iſt 
ſie eine ſehr ungleiche in den verſchiedenen Provinzen, Kreiſen 
und Gemeinden. Während einesteils für Schleswig-Holſtein, 
Oſt⸗ und Weſtpreußen, Nieder- und Mittelſchleſien, Branden⸗ 
burg 2c. konſtatiert wird, daß es in einzelnen Gegenden eine An⸗ 
zahl ganz unverſchuldeter Bauerngüter giebt, kommen in dieſen 
ſowie in den anderen Provinzen auch wieder einzelne Güter vor, 
die bis zu ihrem vollen Verkehrswert oder gar über denſelben hinaus 
verſchuldet ſind. Die zwiſchen dieſen beiden Extremen liegende 
große Zahl von Bauerngütern ſcheint in den günſtiger ſituierten 
Gegenden bis ¼ oder gar bis zu /, in den weniger gut ſituierten 
Gegenden dagegen bis zu 8 oder gar ¼ des Verkehrswertes 
der Güter verſchuldet zu ſein. 

Was ſodann das Verhältnis der Verſchuldung zu dem 
Wohlſtande des Bauernſtands betrifft, ſo haben nur wenige Be⸗ 
richte dieſe Frage direkt beantwortet. Wo ſolches nicht ge— 
ſchehen iſt, muß auf dieſes Verhältnis aus dem Komplex der zu 
Tage getretenen Wohlſtandsſymptome geſchloſſen werden. Da 
die beigebrachten Zahlen nur ausnahmsweiſe beweiskräftig und 
untereinander vergleichbar ſind, ſo wird der Geſamteindruck, den 
die Schilderung der bäuerlichen Verhältniſſe macht, entſcheiden 
müſſen. 

Danach ſcheint trotz der allgemeinen Zunahme der Ver— 
ſchuldung doch nur für einen Teil der Monarchie eine Abnahme 
des bäuerlichen Wohlſtandes angenommen werden zu dürfen. 
Insbeſondere wird eine ſolche Abnahme beſtritten für einen 
großen Teil Oſtpreußens und Schleswig-Holſteins, für Teile der 
Provinzen Weſtpreußen, Sachſen und Brandenburg ſowie Teile 
von Nieder- und Mittelſchleſien. Hier wie ausnahmsweiſe auch 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 53 


in einigen Kreiſen der anderen Provinzen, ſo namentlich in Han— 


nover und Weſtfalen, erfreuen ſich hauptſächlich diejenigen größeren 
Bauern eines blühenden Wohlſtands, die in den Fluß- oder See- 
marſchen oder ſonſt auf fruchtbarem Boden ſitzen und vorzugs— 
weiſe Viehzucht, Rübenbau und landwirtſchaftliche Nebengewerbe 
treiben. 

Dagegen ſcheint der Wohlſtand im allgemeinen in der Ab— 
nahme begriffen zu ſein in einem großen Teil der Provinzen 
Poſen und Pommern (hier namentlich in den von der polniſchen 
Bevölkerung bewohnten Landesteilen), in einem großen Teil 
Oberſchleſiens, des Regierungsbezirks Kaſſel und der Rhein— 
provinz ſowie Hannovers, Weſtfalens und Naſſaus. Auch ge— 
hören hierher einige mehr oder minder umfangreiche Teile der— 
jenigen Provinzen, für die im allgemeinen ein zunehmender oder 
doch gleichbleibender Wohlſtand konſtatiert iſt. 

In ungünſtigen Wohlſtandsverhältniſſen befinden ſich nament— 
lich diejenigen Bauern, deren Güter die Spannfähigkeit verloren 
und die dennoch ſelbſt die frühere Lebensſtellung beibehalten haben, 
ſowie die Beſitzer kleiner Stellen, ſofern ſie die nötige Gelegenheit 
zur Verwendung ihrer überſchüſſigen Arbeitskraft entweder nicht 
finden oder nicht ſuchen; ſodann auch die in entlegenen 
Gegenden mit ſchlechten Verkehrswegen wohnenden Bauern, die 
entweder bei rauhem wechſelndem Klima (Gebirgsgegenden) oder 
auf kargem Boden (Geeſt, Moor ꝛc.) Cerealienbau treiben. 

Aber ſelbſt dieſe ungünſtigen Verhältniſſe wiſſen die Bauern 
einiger Gegenden bisweilen durch ihre ausdauernde Arbeit und 
Entſagung zu überwinden, ſo daß ſich ausnahmsweiſe auch die 
Bauern mancher Geeſtdiſtrikte in ihrem früheren Wohlſtande 
erhalten haben. 

Die oben hervorgehobenen günſtig ſituierten Gegenden dürften 
aber doch, auch wenn man die betreffenden Berichte als vollſtändig 
objektive Kriterien anſehen wollte, den kleineren Teil des geſamten 
Areals einnehmen. Für den größten Teil des Bauernſtands 
ſcheint mir ein Rückgang des Wohlſtands ſeit den ſechziger Jahren 
unzweifelhaft vorzuliegen. 


54 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


Dieſer Rückgang beginnt in der Regel damit, daß das müh⸗ 
ſam erſparte Kapital angegriffen und aufgebraucht und der etwa 
vorhandene Wald niedergeſchlagen wird. Dann pflegt der Bauer 
die notwendigen Reparaturen der Gebäude und Ergänzungen am 
Betriebskapital zu unterlaſſen. Hierauf erfolgt auch die Ver⸗ 
äußerung dieſes oder jenes Stückes Vieh ſowie manches Haus⸗ 
geräts und Zierats, bis dann endlich die unproduktive Ver⸗ 
ſchuldung beginnt. Steht dem Bauern kein ſolider Kredit zu 
Gebote oder hat er nicht die Umſicht ihn zu benutzen, ſo gerät 
er gewöhnlich in die Hände gewerbsmäßiger Geldverleiher, womit 
dann in der Regel ſein Untergang beſiegelt iſt. 

Dieſer Prozeß vollzieht ſich hier langſam und dort raſch. 
Auch hat derſelbe bei den Bauern der einen Gegend ſchon früh 
begonnen und dann bereits zur Vernichtung des Bauernhofes 
und zur Deklaſſierung des Bauern geführt. In anderen Gegenden 
hat ſich der Bauernſtand noch bis in die Gegenwart vollſtändig 
kräftig zu halten gewußt. In dritten endlich — und dieſe 
dürften die große Mehrzahl bilden — iſt der Niedergang bereits 
ebenfalls, jedoch ſpäter als im erſten Fall eingetreten, ſo daß 
ſich hier der Bauernſtand gegenwärtig noch im vollen Kampf mit 
den für ſeine Exiſtenz verderblichen Elementen befindet. Auf 
dieſe laſſen ſich zugleich die weſentlichſten Verſchuldungsurſachen 
zurückführen. 

Was dieſe letzteren betrifft, ſo ſind es teils die ſeit 
den ſechziger Jahren ins Sinken gekommenen Preiſe bei der 
einen Art von Bodenprodukten, teils die Unveränderlichkeit der Preiſe 
bei einer anderen und eine nur mäßige Steigerung bei einer 
dritten, welche den Bauern namentlich deshalb ſo hart treffen, weil 
gleichzeitig die landwirtſchaftlichen Produktionskoſten erheblich 
geſtiegen ſind. 

Mag der Rückgang oder das Stillſtehen der Woll- und 
Getreidepreiſe ſowie die Steigerung der Produktionskoſten 
in verſchiedenen Gegenden auch in ſehr ungleichem Grade 
erfolgt ſein, ſo iſt doch ſoviel ſicher, daß dieſe beiden die 
Geld-Reinerträge weſentlich ſchmälernden und das Sinken 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 55 


des Grundwerts beſtimmenden Momente ihre Einwirkung überall 
ausüben. 

Was die Vermehrung der Produktionskoſten betrifft, ſo iſt 
der ſtarken Steigerung der Arbeitslöhne eine Erhöhung der 
Lebensanſprüche der bäuerlichen Beſitzer vorhergegangen. Iſt die 
erſtere hauptſächlich eine Folge des Aufſchwunges, den Handel 
und Induſtrie ſeit dem Jahre 1870 genommen haben, ſo iſt die 
letztere wieder zurückzuführen auf die beiſpiellos günſtige Lage 
der ländlichen Grundbeſitzer in den fünfziger und ſechziger Jahren. 
Endlich ſind beide Thatſachen wohl nicht außer Zuſammenhang 
mit der durch die Freizügigkeit und das Hinauswachſen der 
Induſtrie auf das Land bedingten Annäherung zwiſchen Stadt 
und Land, ſo daß ſtädtiſche Lebensgewohnheiten, ſtädtiſche Ver— 
gnügungs⸗ und Putzſucht immer weiter auf das Land dringen. 

Und wie mit der Erhöhung des Arbeitslohnes nicht zugleich 
auch die Arbeitsleiſtung gewachſen iſt, ſondern im Gegenteil viel- 
fach über eine Abnahme derſelben geklagt wird, ſo hat auch mit 
der Übertragung ſtädtiſcher Lebensanſprüche und Lebensgewohn- 
heiten auf den Bauernſtand nicht zugleich auch eine entſprechende 
Annäherung desſelben an das ſtädtiſche Element mit Bezug auf 
die Anſtelligkeit, Gewandtheit ſowie die Fähigkeit, vorhandene 
günſtige Konjunkturen auszunutzen und ſich auf ungünſtige ent— 
ſprechend einzurichten, ſtattgefunden. Semler in ſeinem hoch— 
intereſſanten Buche über die amerikaniſche Konkurrenz! findet 
bei einem Vergleich des amerikaniſchen Farmers mit dem deut— 
ſchen Bauer, daß dem letzteren eine gewiſſe halsſtarrige Un— 
beweglichkeit, die lieber das Ungemach über ſich ergehen läßt, als 
daß ſie demſelben vorbeugt, eigentümlich ſei. Mögen ſich dieſe 
Verhältniſſe ſeit Semlers Fortgang aus dem Vaterlande 
auch etwas geändert haben, mag namentlich unſer Viehzucht und 
Viehhandel treibender Marſchbauer und unſer mit der Zucker⸗ 


Semler, Die wahre Bedeutung und die wirklichen Urſachen der 
amerikaniſchen Konkurrenz in der landwirtſchaftlichen Produktion. Wismar 
1881. 


56 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


fabrikation in Berührung tretender Rübenbauer viel von ſeiner 
früheren Unbeweglichkeit eingebüßt haben, ſo dürfte im großen 
Ganzen die obige Darſtellung Semlers doch auch heute noch 
richtig ſein. | 

Und zwar hängt dieſe Schattenſeite des Bauern mit feinen 
guten Seiten gleichſam als Revers der Medaille, wenn auch, 
wie ich glaube, nicht untrennbar zuſammen. Denn noch heute 
entſpricht der Unempfänglichkeit gegen das, was wir mit einem 
banalen Wort als die Anforderungen der Zeit bezeichnen, die 
zähe Kraft im Ertragen des Schwierigſten und die Gewohnheit 
harter, andauernder, aber den Blick nur auf das Nächſte 
richtender Arbeit. 

Zu dieſen in der Perſon des Bauern liegenden Hinder— 
niſſen des wirtſchaftlichen Fortſchreitens kommen dann noch 
in der Rheinprovinz, Naſſau, Hohenzollern, Thüringen und Ober⸗ 
ſchleſien folgende in der Grundbeſitzverteilung enthaltene Hemm⸗ 
niſſe einer rationellen Kultur: die zu weit getriebene Parzellierung 
des Bodens, die Gemengelage, der Mangel an Zugänglichkeit 
der einzelnen Parzellen, der vielfach noch faktiſch beſtehende Flur⸗ 
zwang ꝛc. 

In die ungünſtige Periode, die mit dem Schluß der 60er 
und dem Anfang der 70 er Jahre beginnt, fällt außerdem noch 
eine ununterbrochene Reihe von teils mittelmäßigen, teils weniger 
als mittelmäßigen Ernten. Nur im letzten Jahr ſcheint in den⸗ 
jenigen Gegenden, die nicht unter dem Regenüberfluß gelitten 
haben, eine Wendung zum Beſſeren eingetreten zu ſein. Zieht 
man ſodann noch in Betracht, daß das an ſich unbefriedigende 
Ernteergebnis des letzten Jahrzehnts noch vielfach durch Über— 
ſchwemmungen geſchädigt worden iſt, ſo wird man ſich über 
die ſchwierige Lage des Landmannes nicht wundern dürfen. 


Eine nicht geringe Anzahl von Bauern hat endlich durch | 


Feuersbrünſte, Viehſterben und Hagelſchaden ſchwer gelitten, da 
ſie nicht verſichert waren. 

Auch wurden die geringeren Naturalerträge nicht einmal, 
wie in früheren Zeiten, durch hohe Preiſe kompenſiert. So 


S 


’ u 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 57 


mußten denn wegen der niedrigen Preiſe der nicht reichlich ge— 
ernteten Bodenprodukte ſowie wegen der hohen Produktionskoſten 
die in Geld ausgedrückten Reinerträge gering ausfallen. 


Dazu kommt, daß in dieſem Zeitraum die Laſt der auf 
dem Grundbeſitz ruhenden Staats-, namentlich aber der Kommunal- 
ſteuern gewachſen iſt, während die Reinerträge, aus denen ſie 
doch gezahlt werden müſſen, herabgegangen ſind. Zuſchläge zu 
den Staatsſteuern von 2 bis 300 Prozent für Kommunalzwecke 
ſcheinen am Rhein und in Oberſchleſien nicht zu den Selten— 
heiten zu gehören, ja in einigen Fällen wird ſogar von Zu— 
ſchlägen bis zu 500 Prozent berichtet. 

Sofern dieſe Zuſchläge die Einkommen- und Klaſſenſteuer 
der Handel und Gewerbe treibenden Klaſſen ſowie der Rentiers 
treffen, mögen ſie — wie häufig behauptet worden iſt — in der 
That nur nominell hohe ſein, d. h. durch niedrige Einſchätzung 
zur Staatsſteuer kompenſiert werden. 


Bei den Zuſchlägen zu den Grund- und Gebäudeſteuern iſt 
das anders. Gehören dieſe ohne Berückſichtigung der vorhandenen 
Schulden erhobenen Ertragsſteuern ſchon überhaupt zu den ir— 
rationellſten, ſo treten ihre Mängel noch beſonders ſcharf hervor 
in den zu Kommunalzwecken ſtattfindenden Zuſchlägen von be— 
deutender Höhe. Am härteſten werden dieſe dort empfunden, 
wo der bäuerliche Grundbeſitz ſtark verſchuldet iſt und die un— 
günſtige Lage eine weſentliche Steigerung der faktiſchen Erträge 
gegenüber den Grundſteuerreinerträgen ausſchließt. So wird z. B. 
aus Oberſchleſien berichtet, daß im Kreiſe Lublinitz die Staats— 
und Gemeindeſteuern aller Art ſowie die Reallaſten vom durchſchnitt— 
lichen Reinertrag des bäuerlichen Grundbeſitzes 73 Proz. abſorbieren. 


Und wenn daran erinnert wird, daß die Kommunalſteuern doch 


weſentlich zu produktiven Zwecken verwendet werden und ſich in 
den erhöhten Erträgen des Grundbeſitzes wieder erſetzen, ſo darf doch 
dagegen geltend gemacht werden, daß die ſteigenden Armenlaſten 
einem produktiven Zweck nicht gewidmet find, daß die Schul⸗ 


58 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


und Kirchenlaſten der landwirtſchaftlichen Produktion direkt ent⸗ 
weder gar nicht oder doch nur allmählich zu gute kommen und 
daß die Wegelaſten nur langſam in den erhöhten Erträgen der⸗ 
jenigen Grundſtücke wieder erſcheinen, die überhaupt für den Ab⸗ 
ſatz produzieren, während die Steuer doch ſofort für allen Grund⸗ 
beſitz entrichtet werden muß. 

In denjenigen Gegenden, in welchen in den letzten Jahrzehnten 
eine wachſende Verſchuldung des Grundbeſitzes eingetreten iſt, iſt 
dieſelbe hauptſächlich bewirkt worden durch die in den 50er und 60er 
Jahren zu hohen Preiſen und mit unzulänglichen Mitteln abgeſchloſ⸗ 
ſenen Gutskäufe ſowie durch die nach Maßgabe des Verkehrswerts er⸗ 
mittelten Erbteile der Geſchwiſter des den Hof übernehmenden Erben. 

Wenn in einem Punkt unter den verſchiedenſten Berichten 
die vollſtändigſte Übereinſtimmung beſteht, fo iſt es in dieſem: 
daß diejenigen bäuerlichen Güter am wenigſten verſchuldet ſind, 
welche ſeit Generationen zu einer mäßigen den Ertragswert nicht 
überſteigenden Taxe vom Vater auf den Sohn vererbt worden 
ſind. Wo die Bauernhöfe dagegen in den letzten Jahrzehnten im 
Wege des Kaufs die Hand gewechſelt haben oder wo die Ber- 
erbung derſelben nach Maßgabe des allgemeinen Inteſtaterbrechts 
mit ſeinen hohen Taxen ſtattgefunden hat, da liegt gewöhnlich 
eine ſtarke Verſchuldung vor. Denn Verkäufe und Erbüber⸗ 
tragungen, welche in eine Zeit ſteigender Grundwerte fallen, 
müſſen hohe Kaufſchillinge und Antrittsgelder ergeben. Soweit 
dieſe dann nicht bar ausbezahlt werden konnten — und das 
iſt doch nur teilweiſe geſchehen —, beſchweren fie den Grund: 
beſitz mit einer Laſt, die in der Gegenwart um ſo drückender iſt, 
je ſtärker infolge der oben angeführten Umſtände der Grund⸗ 
wert im letzten Jahrzehnt zurückgegangen iſt. 

Zu einer wahren Kalamität werden dieſe mit dem Sinken 
des Grundwerts einen immer größeren Bruchteil desſelben re— 
präſentierenden Schulden namentlich dort, wo es an einer ge— 
nügenden dem Intereſſe des bäuerlichen Beſitzes Rechnung tragen⸗ 
den Organiſation des Kredits fehlt. 

Das meiſte Kapital, das der Bauer zur Überwindung vor⸗ 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 59 


übergehender Kalamitäten, zu Betriebs- und Meliorationszwecken, 
zur Abfindung ſeiner Geſchwiſter oder zur Bezahlung des Kauf— 
ſchillings bedurfte, pflegte er, ſofern er ſich dasſelbe nicht ſelbſt 
erſpart hatte, in früheren Zeiten allgemein ſeinen bäuerlichen Nach- 
barn oder Verwandten oder einem ſtädtiſchen Kaufmann, einem Stif- 
tungsfonds oder einer Sparkaſſe zu entlehnen. Und auch noch in 
der Gegenwart ſcheint dieſe Art rein individueller Kreditgebung 
in den vorwiegend bäuerlichen Bezirken mit geſunden Wohlſtands— 
verhältniſſen, wie z. B. in Schleswig-Holſtein, in einigen Teilen 
Hannovers, Weſtfalens, Brandenburgs ꝛc., eine bedeutende Rolle 
zu ſpielen. Aber dort ſowohl wie in noch höherem Grade in 
den weniger gut ſituierten Gegenden tritt dieſe, wenn ich mich ſo 
ausdrücken darf, unorganiſierte Art der Befriedigung des bäuerlichen 
Kreditbedürfniſſes immer mehr zurück. Je mehr ſich das Kapital 
dem Staat und der Gemeinde, den Banken, den Aktiengeſell— 
ſchaften aller Art ſowie dem Handel und der Induſtrie zuwendet, 
ein je größerer Wert ſeitens des Kapitaliſten auf den Beſitz zu 
jeder Zeit an der Börſe realiſierbarer Papiere gelegt wird, je mehr 
ferner der Familienſinn abnimmt und der nachbarliche Zuſammen— 
hang ſchwindet, deſto ſpärlicher fließen für den Bauern die oben 
erwähnten Kreditquellen. Wird dann nicht zugleich durch eine 
zweckmäßige Kreditorganiſation für billigen, ſtetigen und unkünd— 
baren Kredit geſorgt, ſo verfällt der Bauer, zumal bei zu⸗ 
nehmender Verſchuldung — wie ſie der Gegenwart eigen iſt —, 
leicht dem gewerbsmäßigen Geldverleiher. 

Von den kleineren Städten aus nähert ſich dieſer dem 
Bauern in der verſchiedenſten Geſtalt: bald als Hauſierer, der 
ihm Branntwein und Schnittwaaren aufdrängt; bald als Vieh— 
verleiher, der ihm ein paar Kühe in den leer gewordenen Stall 
ſtellt, oder als Viehhändler, der mit ihm das Vieh ein- und 
austauſcht. Iſt der Bauer bereits bei dieſen Geſchäften häufig 
auf den Kredit des Händlers angewieſen, ſo weiß er nun auch, 
an wen er ſich in der Geldnot zu wenden hat. Die Aus- 
dehnung der Wechſelfähigkeit auch auf den Bauernſtand ermöglicht 
es jetzt dem Geldverleiher, infolge der mit der Wechſelform 


60 b Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


verbundenen Zahlungsſchraube, auch ſolchen verſchuldeten Perſonen 
Kredit zu gewähren, denen er ihn ohne dieſe Form nicht ge- 
währen würde. Die Beſeitigung der Zinsbeſchränkungen durch 
die preußiſche Verordnung vom 12. Mai 1866 und das Geſetz 
des norddeutſchen Bundes vom 14. November 1867 brachten dann 
auch dort, wo ſich in dem gewerbsmäßigen Geldverleiher wenn auch 
nicht die Stimme des Gewiſſens, ſo doch die Furcht vor der 
Beſtrafung regte, ſelbſt dieſe zum Schweigen. Und ſo ſehen wir 
denn ſeit jener Zeit bis zum Jahre 1880 faſt in allen Provinzen 
den Wucherer ſich an den in bedrängte Lage gelangenden Bauern 
wie die Flechte an den Baum anſetzen und nicht eher ruhen, bis 
der Baum, vollſtändig von ihr überzogen und ſeines Saftes be- 
raubt, morſch zuſammenbricht. 

Mit dem Haufier- und Viehhandel ſowie mit dem Leihge⸗ 
werbe verknüpft ſich dann naturgemäß auch der Handel mit Im⸗ 
mobilien als die letzte Konſequnz des wucheriſchen Treibens. 

Wie ich bereits oben erwähnte, kann die Subhaſtation des 
Bauerngutes häufig nur durch rechtzeitigen Verkauf desſelben zu 
hohem Preiſe vermieden werden. Ein hoher Kaufpreis für einen 
verſchuldeten und deteriorierten Hof läßt ſich aber gewöhnlich 
nur durch parzellenweiſen Verkauf desſelben erzielen. Denn der 
Begehr nach kleinerem Grundbeſitz iſt namentlich in Zeiten der 
Kapitalplethora und ſteigender Grunderträge groß. Aber auch 
unter weniger günſtigen Bedingungen iſt der Wunſch des bäuer⸗ 
lichen Nachbarn, ſeinen Hof zweckmäßig zu arrondieren oder zu 
vergrößern, und das Streben des ländlichen und Induſtriear⸗ 
beiters ſowie des kleinen Handwerkers nach Erwerbung eines 
Landſtücks zum Aufbau eines Hauſes, zur Erzeugung der not- 
wendigſten Lebensmittel und zur Verwendung ſeiner Muße⸗ 
ſtunden ſowie der Arbeitskraft ſeiner Frau und ſeiner Kinder 
vorhanden. 

Dieſe Situation benutzt bisweilen der Bauer ſelbſt, ſei er 
nun ſtark verſchuldet oder nicht, um ſich ſeines Beſitzes zu einem 
möglichſt hohen Preiſe zu entäußern. Mit dem erzielten Rein⸗ 
gewinn wandert er dann aus, um ſich jenſeits des Ozeans ein 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 61 


neues Heim zu gründen, oder er zieht in die Stadt und giebt 
ſich hier gelegentlich wohl auch ſelbſt dem Geldwucher hin oder 
er kauft ein anderes größeres Gut oder er ſinkt, wenn der Er— 
lös gering ausgefallen iſt, zum Kätner, Gärtner, Häusler oder 
gar zum Einlieger herab. So wird uns übereinſtimmend aus 
Schleswig⸗Holſtein, Poſen, Sachſen und aus anderen Provinzen 
berichtet. 

In den weitaus meiſten Fällen aber führt die ſtarke Ver— 
ſchuldung des Bauern zur Ausſchlachtung ſeines Hofes entweder 
durch ſeinen ſtets gefälligen Geſchäftsfreund oder deſſen Helfers— 
helfer. Um an Steuern und Stempel zu ſparen, erfolgt der 
Verkauf dabei gewöhnlich auf den Namen der Bauern, wenngleich 
für Gefahr und Rechnung des Ausſchlächters. Durch endloſe 
Zeitungsannoncen wird die Privatverſteigerung, in welcher Form 
der parzellenweiſe Verkauf ſich häufig vollzieht, eingeleitet. 
Freigebige Libationen von Spirituoſen und die Überredungs— 
künſte der Ausſchlächter und ihrer Schlepper müſſen die Kauf— 
luft anfeuern. Daß er in der Regel viel höhere Preiſe zu er- 
zielen weiß als der Bauer ſelbſt, iſt übrigens nicht durch dieſe 
Manipulationen, ſondern auch dadurch bedingt, daß er den 
Käufern den Kaufſchilling kreditieren kann. Nur ausnahmsweiſe 
behält der Bauer die Gebäude und einen kleinen Reſt ſeines 
früheren Guts. Meiſt geht auch dieſes in fremde Hände über. 
Dem kleinen Erlös, den derſelbe im beſten Fall übrigbehält, 
ſteht der meiſt reichlich bemeſſene Gewinn des Ausſchlächters 
gegenüber. So brachte beiſpielsweiſe die Ausſchlachtung von 52 
Höfen in dem pommerſchen Amt Freienwalde den gewerbsmäßigen 
Parzellanten bei einem Geſamterlös der Verkäufer von 1779000 
Mark — 197530 Mark ein, alfo etwas über 10 Prozent. 

Wird durch ſolche Parzellierungen die Verteilung des 
Grundbeſitzes auch bisweilen entſprechend dem vorhandenen Be— 
dürfnis korrigiert, indem die benachbarten Bauernhöfe und 
Rittergüter beſſer arrondiert werden und das Bedürfnis nach 
Schaffung kleiner Häuslerſtellen befriedigt wird, ſo geſchieht dies 


62 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


doch immer nur auf Koſten des Verſchwindens eines ſpannfähigen 
Bauernhofes. Den neuen Käufern aber erwächſt aus den über⸗ 
nommenen Verpflichtungen eine Laſt, die nicht nur für den Be⸗ 
ſitzer kleiner Stellen, ſondern auch für die Bauern, welche ihren 
Beſitz erweitert haben, häufig den Keim zum wirtſchaftlichen 
Untergang enthält. Denn ebenſo bereitwillig, wie der Güter⸗ 
händler einen Teil des Kaufſchillings kreditiert, ebenſo unerbitt⸗ 
lich pflegt er bei Nichteinhaltung der Termine zu ſein. So 
ſchafft er ſich denn in den Käufern neue Objekte für ſeine Thä⸗ 
tigkeit, die immer weiter um ſich greift und aus dem wirtſchaft⸗ 
lichen Niedergang möglichſt vieler Exiſtenzen für ſich Gewinn zu 
ziehen ſucht. 

In Zeiten ſinkender Ertrags- und Verkehrswerte des Grund 
und Bodens, wie in der Gegenwart, pflegen die Ausſchlächter 
ihre Thätigkeit, wie uns von manchen Seiten berichtet wird, 
eine Weile einzuſtellen, aber freilich nur, um dieſelbe bei günſtiger 
Gelegenheit wieder aufzunehmen. 

So zerbröckelt denn auf der einen Seite der bäuerliche 
Grundbeſitz, dieſer feſteſte Stützpunkt unſerer ſocialen Ordnung 
auf dem Lande, in Kleinbauern- und Häuslerſtellen. Und 
parallel dieſem Prozeß geht eine Klaſſenbewegung, die immer 
weitere Kreiſe unſerer ländlichen Bevölkerung dem Proletariat 
zuführt. Denn die kleinen Häuslerexiſtenzen ſind unter den un⸗ 
günſtigen klimatiſchen und Bodenverhältniſſen unſeres Nordoſtens 
nur dort lebensfähig, wo fie ihren Beſitz nicht bereits über— 
ſchuldet antreten und wo ſich für ſie genügende Arbeit in der 
Induſtrie, im Berg- und Hüttenweſen oder auf großen Land⸗ 
gütern vorfindet. Endlich hat ſich die, verglichen mit dem 
Bauernſtande, viel geringere Widerſtandsfähigkeit dieſer kleinen 
Stellenbeſitzer in ungünſtigen Zeiten nach den übereinſtimmenden 
Nachrichten ſämtlicher Berichte in dem letzten Jahrzehnt wieder 
recht deutlich gezeigt. 

Und mit dem eben geſchilderten Prozeß verbindet ſich dann 
ein anderer, der in der Aufſaugung des bäuerlichen Beſitzes ent- 
weder direkt oder indirekt, nach ſeiner Parzellierung, durch den 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 63 


mittleren und großen beſteht. Freilich zeigt ſich derſelbe faſt 
nur im Nordoſten, und auch hier ſoll er in einigen Provinzen, 
z. B. in Oſt⸗ und Weſtpreußen, in Pommern, aber auch in 
Schleswig⸗Holſtein, ſeit den 50 er Jahren zum Stillſtand ge— 
kommen ſein. 

Der für den großen Umfang der Rittergüter zu geringe 
Kapitalbeſtand verbietet es denſelben angeblich, ſich zu erweitern. 
Doch können dieſem gegen die Vergrößerung ſprechenden Mo— 
ment unter Umſtänden andere und zwar ſtärkere Gründe das 
Gleichgewicht halten. 

So führt z. B. der Rübenbau dort, wo er Platz greift, 
vielfach zu einer Umwälzung der vorhandenen Beſitzverhältniſſe 
und namentlich zur Bildung großer Güter, wie mit ſeltener 
Einmütigkeit aus Norderdithmarſchen und aus dem Regierungs— 
bezirk Kaſſel, aus den Provinzen Hannover, Sachſen und Schle— 
ſien berichtet wird. Ja es ſcheint faſt, als ob die unter bejon- 
derer ſtaatlicher Protektion (verſteckte Ausfuhrprämie!) ſtehende 
Rübenzuckerinduſtrie für die Enteignung des deutſchen Bauern— 
ſtandes im 19. Jahrhundert dieſelbe Bedeutung haben wird, wie 
ſie die ebenfalls ſtaatlich begünſtigte Wollinduſtrie mit ihren 
hohen Wollpreiſen für die Verwandlung der bäuerlichen Acker 
in gutsherrſchaftliche Wieſen und Weiden ſeit dem 15. Jahr- 
hundert in England gehabt hat!“. Auch trifft der oben gegen 
die Vergrößerung der vorhandenen Güter und gegen die Bildung 
neuer großer Beſitzkomplexe angeführte Grund überall dort nicht 
zu, wo an großen Kapitalien kein Mangel iſt. Mögen dieſe 
nun im Handel und in der Induſtrie erworben ſein oder aus 
anderen Quellen, wie z. B. aus den nicht verzehrten Revenuen 
grundbeſitzender Magnaten entſpringen: immer ſuchen ſie in letzter 
Inſtanz ihre Inveſtierung im Grundbeſitz. So zeigt der Be— 
richt für Schleſien, daß von Breslau aus namentlich in Mittel- 
ſchleſien dieſer Agglomerationsprozeß des ländlichen Grundbeſitzes 


1 E. de Laveleye-Bücher, Das Ureigentum. Leipzig 1879. 
Si. 455 ff. 


64 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


auch in letzter Zeit nicht ſiſtiert iſt. So ſind ferner im branden⸗ 
burgiſchen Kreiſe Prenzlau 75 Prozent der eingegangenen 
Bauernſtellen mit Rittergütern vereinigt und im Kreiſe Soldin 
etwa 60 Prozent der vorhandenen Bauerngüter von den benach⸗ 
barten Großgrundbeſitzern aufgekauft. Vollends aber in der 
Provinz Poſen hat die Inkorporierung von Bauerngütern in die 
Gutsbezirke koloſſale Dimenſionen angenommen. Hier zählte 
man im Jahre 1880 an bäuerlichen Nahrungen, welche ſelb⸗ 
ſtändigen Gutsbezirken inkommunaliſiert waren, 500 mit einem 
Flächengehalt von 29 280 Morgen und an bäuerlichen Nahrungen, 
welche zwar in das Eigentum von Beſitzern ſelbſtändiger Guts⸗ 
bezirke übergegangen, aber nicht zugleich inkommunaliſiert waren, 
2332 mit einem Flächengehalt von 148953 Morgen. Es find 
demnach in der Provinz Poſen 2832 frühere Bauernhöfe mit 
zuſammen 178 233 Morgen in den Beſitz von Rittergutsbeſitzern 
gelangt. 

Alles in allem genommen hat der Bauernſtand, von zwei 
Seiten eingeengt, in den letzten Jahrzehnten nicht unerheblich 
an Terrain verloren. Hinſichtlich dieſes Gegenſtandes erlaube 
ich mir auf die von mir geſammelten Daten zu verweiſen !. 
Den vorliegenden Berichten entnehme ich im ſpeciellen folgende 
Zahlen: 

Im pommerſchen Kreiſe Neuſtettin waren von den bei 
Regulierung des Beſitzes vorhanden geweſenen 2402 ſpannfähigen 
Bauernhöfen im Jahre 1878 nur noch übrig 1031 Höfe: 1306 
waren zerſtückelt und 65 von benachbarten Rittergüten abſorbiert 
worden. 5 

In der Provinz Schleſien ſind nach einem Bericht des 
Oberpräſidenten zwiſchen 1850 und 1880 verſchwunden 4923 
Bauerngüter mit einem Areal von 194855 ha. 

In der Provinz Poſen find zwiſchen 1859 und 1880, alſo in 


1 v. Miaskowski, Das Erbrecht und die Grundeigentumsvertei⸗ 
lung im Deutſchen Reiche. Erſte Abteilung. Leipzig, Duncker und Hum⸗ 
blot. 1882. S. 126—164. 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 65 


nur 21 Jahren, 8396 — 17,54 Prozent ſämtlicher ſpann⸗ 
fähigen Bauerngüter verloren gegangen, dagegen hat das Ge— 
ſamtareal der ſpannfähigen Bauerngüter nur 104 505 Morgen 
— 3 Prozent eingebüßt. 


III. 


In der obigen Darſtellung habe ich verſucht, die Eindrücke 
zu fixieren, welche die Berichte auf mich gemacht haben. Es bleibt 
mir jetzt noch übrig, für den ermittelten Zuſtand einen kurzen 
und prägnanten Ausdruck zu finden. Vielleicht läßt ſich derſelbe 
treffend als der einer Kriſis bezeichnen, die aus dem akuten in 
das ſchleichende Stadium übergeht. Am deutlichſten wird der 
ſpecifiſche Charakter der gegenwärtigen Kriſis übrigens hervor— 
treten aus einem Vergleich des gegenwärtigen, aus dem Anfang 
der ſiebziger Jahre (für einige Teile des Deutſchen Reichs aber 
bereits aus einer früheren Zeit) datierenden Zuſtandes der Dinge 
mit der Kriſis, die der deutſche Grundbeſitz in den 20er und 30er 
Jahren durchlebt hat. 

Des landwirtſchaftlichen Notſtandes am Schluß der 40er 
und am Anfang der 50er Jahre dagegen braucht hier nicht weiter 
gedacht zu werden, weil er von kurzer Dauer war und wenig 
Analogieen mit der Gegenwart darbietet. 

Ich hebe zunächſt das den beiden Kriſen der 20 er und 
70 er Jahre Gemeinſame hervor, um dann auf dieſem Hinter- 
grunde die weſentlichen Verſchiedenheiten um ſo deutlicher her— 
vortreten zu laſſen. 

Auch in den 20 er Jahren war auf eine kurze Zeit be— 
ginnender Proſperität, wie ſie ſich nach Beſeitigung der Kon— 
tinentalſperre, namentlich aber nach Eintritt des Friedens ein— 
zuſtellen anfing, eine faſt 20 jährige Notſtandsperiode für den 
norddeutſchen Grundbeſitz eingetreten. 

Das durch die hohen Getreidezölle Englands bewirkte Stocken 
der Getreideausfuhr nach England erzeugte im vorwiegend 
agrikolen Norden Deutſchlands ſo niedrige Getreide— a Fleiſch⸗ 


v. Miaskows ki, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 


66 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


preiſe, daß der Landwirt bei denſelben nicht beſtehen konnte. Ge⸗ 
ſteigert wurde dieſe Kalamität dann noch durch eine Reihe ſchlechter 
Ernten, die bei der geringen Nachfrage nicht einmal eine 
Steigerung der Preiſe zu bewirken vermochten. Dazu kam dann 
eine ſtarke, zum Teil noch aus den Kriegszeiten herrührende 
Verſchuldung vieler Rittergüter. Wie jetzt, jo trat auch damals 
die Kriſis in zahlreichen Sequeſtrationen und Subhaſtationen der 
verſchuldeten Güter zu Tage. So waren beiſpielsweiſe von der 
ſchleſiſchen Landſchaft im ungünſtigſten Jahr der Napoleoniſchen 
Zeit, nämlich im Jahre 1811, nur 100 inkorporierte Güter ſe⸗ 
queſtriert, während ihre Zahl um Weihnachten 1831 auf 114 
jtieg!. Die Grundbeſitzer konnten ihre Steuern nicht bezahlen; 
die Getreidehändler wurden bankerott; Handel und Schiffahrt 
lagen darnieder und die Armenlaſten nahmen ungeheuere Dimen⸗ 
ſionen an. Mit den niedrigen Getreidepreiſen ſank auch der 
Ertragswert der Güter und mit dieſem ihr Verkehrswert. In 
Dithmarſchen z. B. gab der Staat die Hufen, welche er für die 
ſchuldig gebliebenen Steuern erworben hatte, fleißigen Knechten 
zum Geſchenk hin, um wenigſtens in Zukunft die Steuern nicht 
zu verlieren. Für den Bauernſtand war dieſer Zuſtand um ſo 
gefährlicher, als er erſt eben aus der Gutsunterthänigkeit entlaſſen 
worden war und ſeine Wirtſchaft zum Teil neu einrichten mußte. 
In dieſem Zuſtande des Niedergangs, in dem er die frühere 
grundherrliche Stütze entbehrte und doch noch nicht auf eigenen 
Füßen zu ſtehen vermochte, iſt ein Teil des Bauernſtandes zu 
Grunde gegangen und ſein Beſitz den benachbarten Rittergütern 
inkorporiert worden. 

Als die ſchwächeren Elemente unter den Rittergutsbeſitzern 
und Bauern den Kampfplatz geräumt und die übriggebliebenen 
ſich in die neuen Verhältniſſe eingelebt hatten, als die Getreide⸗ 
ausfuhr nach England wieder zuzunehmen anfing und die ſich im 
Inlande entwickelnde Induſtrie ſowie die nach den Kriegen raſch 


1 v. Görtz, Die Schleſiſche Landſchaft. Ein Kulturbild der Provinz 
Schleſien im Hinblick auf ihre Land- und Forſtwirtſchaft. Breslau 1869. 
S. 149. 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 67 


anwachſende Bevölkerung eine größere Nachfrage nach Boden— 
produkten und damit höhere Preiſe für dieſelben erzeugte, begann 
dann — ſeit dem Schluß der 30 er Jahre — eine beiſpiellos 
günſtige Periode für die deutſche Landwirtſchaft. 

Da bei ſteigenden Roherträgen und Preiſen die Produktions- 
koſten im ganzen bis zum Anfang der ſiebenziger Jahre ſich nur 
wenig veränderten und auch die Lebenshaltung des Bauern bis 
dahin weſentlich dieſelbe blieb, ſo mußten die Reinerträge der 
Güter und ebenſo ihre Ertragswerte ununterbrochen ſteigen. Daß 
dann die Kaufpreiſe die Ertragswerte noch bei weitem überſtiegen, 
hatte ſeinen Grund in der Hoffnung auf ununterbrochen ſteigende 
Erträge ſowie in der parallel mit dem Anwachſen des beweglichen 
Kapitals ſteigenden Nachfrage nach Grundbeſitz. Freilich gegen 
den Schluß dieſer Periode beginnen die Produktionskoſten zu 
ſteigen und erhöht ſich auch teilweiſe die Lebenshaltung des 
Bauern: doch werden dieſe beiden Momente recht wirkſam erſt 
in der nächſten Periode, die im ganzen erſt am Anfang der 70er 
Jahre beginnt. 

Dieſe letzte Kriſis wird eingeleitet durch das Fallen der 
Wollpreiſe infolge der auſtraliſchen Konkurrenz; ſie ſetzt ſich 
dann in der Verdrängung des deutſchen Getreides vom engliſchen 
Markt durch die amerikaniſche und indiſche Einfuhr fort und 
ſchließt mit dem Eindringen des unter beſonders günſtigen Be⸗ 
dingungen produzierten ungarischen, ruſſiſchen und amerikaniſchen 
Getreides nach Deutſchland. Ob und in welchem Grade der 
Getreideeinfuhr auch die Fleiſcheinfuhr zu folgen vermag, läßt 
ſich noch nicht genau überſehen. Genug, die Folgen ſind dieſelben 
wie zur Zeit der erſten Kriſis: für einige Getreidearten niedrige 
Preiſe, fallende Gutserträge und ein Sinken der Ertrags- und 
Verkehrswerte des Grundbeſitzes. Hierauf folgt die wachſende 
Verſchuldung desſelben, die Zunahme der Subhaſtationen, der 
häufige Wechſel im Beſitz der Rittergüter und die Expropriation 
eines Teils des Bauernſtandes !. 

Die Lage der Gegenwart erſcheint ſonach bereits ſchlimm 


J. Conrad, Die Getreidezölle, in feinen Jahrbüchern Bd. 24. 
5 * 


68 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


genug, wenn man nur diejenigen Punkte berückſichtigt, in denen 
ſie mit der älteren Kriſis übereinſtimmt. Denn wer vermag 
heute das Ende der durch die Konkurrenz des Oſtens und Weſtens 
eingeleiteten Bewegung abzuſehen? 

Noch bedenklicher aber erſcheint die Kriſis der Gegenwart, 
wenn man zugleich die ſie von den Zuſtänden der 20 er Jahre 

unterſcheidenden Züge ins Auge faßt. 

Damals befand man ſich in einem durch die neuere Agrar⸗ 
geſetzgebung geſchaffenen Übergangszuſtande, doch war zu hoffen, 
daß die noch latente Fülle von perſönlicher Energie, Kraft und Um⸗ 
ſicht für die Landwirtſchaft nutzbar gemacht werden würde, heutzu⸗ 
tage iſt dieſe Kraft der Landwirtſchaft bereits vielfach zu gute ge⸗ 
kommen. Aber was einerſeits an größerer Energie und Umſicht für 
die Wirtſchaft gewonnen iſt, das dürfte andererſeits zum Teil an 
Enthaltſamkeit und Einfachheit der Sitten verloren gegangen 
ſein. Damals ſtand zu erwarten, daß die ſich entwickelnde Sn- 
duſtrie eine vermehrte Nachfrage nach Bodenprodukten und 
damit auch höhere Preiſe erzeugen werde; heute ſtehen höhere 
Preiſe für die Bodenprodukte infolge der vermehrten Nachfrage 
der Induſtrie bei freiem auswärtigen Getreidehandel wohl kaum 
in Ausſicht. Damals hatte man bei der Produktion und dem 
Abſatz inländiſcher Produkte nur mit den Kulturſtaaten des weſt⸗ 
lichen Europa zu rechnen; heute kommen auch die Länder des 
öſtlichen Europa und andere Weltteile in Betracht. Damals war 
nur der Rittergutsbeſitz verſchuldet, der Bauernſtand dagegen trat 
mit einem im ganzen unverſchuldeten Grundbeſitz in die Kriſis 
ein, und auch während der Kriſis durfte er denſelben infolge 
des Edikts vom 14. Sept. 1811 § 29 und 54 nur bis zu Ya 
des Wertes verſchulden (dieſe Beſchränkung wird erſt durch das 
Geſetz vom 20. Dezember 1843 beſeitigt); heutzutage tritt der 
Bauernſtand bereits zum Teil ſtark verſchuldet mit Reſtkaufgeldern 
und Erbanteilen in die Kriſis ein. Und hiermit im engſten Zu⸗ 
ſammenhange ſteht, daß die Anwendung des allgemeinen Inteſtat— 
erbrechts mit feinen Vorſchriften über die Taxation des Nach— 
laſſes nach dem Verkehrswert und über die völlig gleiche Be- 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 69 


handlung der Geſchwiſter damals noch allgemein durch eine ſtarke 
bäuerliche Sitte ausgeſchloſſen wurde, während dieſe Sitte jetzt 
vor dem geſchriebenen Recht im Weichen begriffen iſt, ſo daß 
dieſes ſeine unheilvolle Wirkung auf Verſchuldung und Grund— 
beſitzverſchiebung immer ſtärker zu äußern beginnt!. Das Fehlen 
zweckmäßiger Kreditorganiſationen für den Bauernſtand ferner 
konnte nicht viel ſchaden in einer Zeit, in der die Benutzung 
des bäuerlichen Kredits durch die Geſetzgebung beſchränkt war 
und es im Notfall an hülfsbereiten Verwandten, Freunden und 
Nachbarn nicht fehlte; heute iſt dieſe Art der Kreditbefriedigung 
in der Abnahme begriffen, trotzdem der Kreditbedarf größer ge— 
worden und die rechtliche Zuläſſigkeit ſeiner Benutzung nunmehr 
unbeſchränkt iſt. In die durch das Fehlen entſprechender 
Kreditorganiſationen entſtandene Lücke tritt jetzt der mit 
außerordentlichem Raffinement vorgehende Stand der gewerbs— 
mäßigen Geldverleiher und Gutsausſchlächter ein, der gleichſam 
das Amt des ſtaatlichen Exekutors an ſich zu ziehen weiß: 
in den zwanziger und dreißiger Jahren dagegen fehlte dieſe 
Klaſſe entweder noch vollſtändig oder dieſelbe begann ihre Thätig— 
keit doch erſt in einigen Gegenden, ſo z. B. während der dreißiger 
Jahre in den 4 paderborniſchen Kreiſen. 

Was folgt nun aus der eben gezogenen Parallele? Meines 
Erachtens, daß die gegenwärtige Kriſis nicht allein dem inneren 
Heilungsprozeß überlaſſen werden darf, und zwar weil ſie teils 
durch Begehungs- teils durch Unterlaſſungsfehler des Staates 
nicht unweſentlich mit beſtimmt iſt. Dieſem erwächſt ſomit die 
Aufgabe, den freien Bauernſtand, den er zu Anfang dieſes 
Jahrhunderts geſchaffen hat, am Schluß desſelben zu erhalten. 
Was hat nun aber in dieſer Beziehung zu geſchehen? Mit der 
Beantwortung dieſer Frage gelange ich zu dem vierten und letzten 
Punkt meines Referats. 


1 Von der Wirkſamkeit der neueren Höfegeſetze kann fürs erſte nur 
für Hannover und Oldenburg die Rede ſein, weil die Höfegeſetze hier bereits 
aus dem Jahre 1873 und 1874 ſtammen, während ein ſolches für Lauen⸗ 
burg erſt 1881 und für Weſtfalen gar erſt 1882 erlaſſen worden iſt. 


70 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


IV. 

Waren die Umriſſe des Bildes, das ich aus den Berichten 
herzuſtellen ſuchte, wenig deutlich und iſt namentlich die Ent⸗ 
wickelung in den nächſten Jahren ungewiß, ſo wird ſich hieraus 
die Forderung ergeben, daß die Staatsregierung, wie ſie ſchon 
bisher der Erforſchung der bäuerlichen Wohlſtands- und Beſitz⸗ 


verhältniſſe ihre Aufmerkſamkeit gewidmet hat, ſo auch hinfort 


ihre auf dieſes Ziel gerichteten Beſtrebungen nicht einſtellen ſoll. 
Denn nur wenn wir genau wiſſen, wie es um den Bauern⸗ 
ſtand in den verſchiedenen Teilen des Landes ſteht, wird es 
möglich ſein, das in jedem Fall Zweckmäßige und Erreichbare 
anzuordnen und durchzuführen. | 

Nun hat die Staatsregierung außer der uns heute be⸗ 
ſchäftigenden Unterſuchung auch Ermittelungen angeordnet über 
die hypothekariſche Verſchuldung des Grundbeſitzes in einzelnen 
Amtsbezirken. Sie läßt ferner eine Statiſtik der Subhaſtationen 
aufſtellen und benutzt die Reſultate der Gebäudeſteuer⸗Veranla⸗ 
gung, um aus denſelben die Landwirtſchafts-Einheiten nach be⸗ 
ſtimmten Größenkategorieen feſtzuſtellen. 

Endlich unterſtützt die Staatsregierung den Verein für 
Socialpolitik, welcher eine Reihe von Publikationen in Angriff 
genommen hat, in welchen die bäuerlichen Zuſtände der verſchie⸗ 
denen Teile Deutſchlands nach einzelnen Typen von Perſonen, 
welche mit den örtlichen Verhältniſſen vertraut ſind, dargeſtellt 
werden ſollen. 

Das iſt, namentlich wenn man berückſichtigt, daß das In⸗ 
tereſſe an der Erhaltung des bäuerlichen Grundbeſitzes bei uns 
erſt ſeit kurzer Zeit erwacht iſt, ſchon ſehr viel, aber es iſt doch 
noch lange nicht genug. Ich möchte daher als dringend wünſchens⸗ 
wert bezeichnen, daß eine Ausdehnung der fürs erſte nur für 
einzelne Amtsbezirke angeordneten Statiſtik der hypothekariſchen 
Verſchuldung auf das Gebiet der ganzen Monarchie erfolge. 
Zwar würde dieſe Statiſtik kein ganz vollſtändiges Bild der 
Verſchuldung des ländlichen Grundbeſitzes geben. Denn einesteils 


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Die Lage des Bauernftandes in Preußen. 71 


pflegen nicht alle bezahlten hypothekariſchen Schulden gelöſcht 


zu werden und andererſeits belaſten den Bauernſtand neben den 


hypothekariſchen Schulden noch andere und gewiß ſehr beträcht— 
liche rein perſönliche Schulden. Aber trotz dieſer Mängel jeder 
Statiſtik über die hypothekariſche Verſchuldung wäre es doch 
außerordentlich wichtig, den geſamten Stand der hypothekariſchen 
Belaſtung ländlichen Grundbeſitzes in Preußen zu kennen. Die 
Ermittelung von Typen mag genügen in Fällen, in denen es 
ſich um die individuelle Betrachtung ſehr komplizierter Er— 
ſcheinungen handelt, die ſich der generell verfahrenden ſtatiſtiſchen 
Aufnahme entziehen: im gegebenen Fall dagegen reicht dieſe 
Methode um ſo weniger aus, als es ſich ja gerade um die Er— 
mittelung der geſamten hypothekariſchen Belaſtung des 
deutſchen Grundbeſitzes handelt und als man ſich bei den Folge— 
rungen, die man aus der Verſchuldung der typiſchen Bezirke auf 
die Geſamtheit zieht, ſehr leicht irren kann. 

Sodann würde ich wünſchen, daß die Zu- und Abnahme 
der hypothekariſchen Verſchuldung des ländlichen Grundbeſitzes 
fortlaufend Jahr für Jahr aus den Hypothekenbüchern ausge— 
zogen und für die verſchiedenen Beſitzkategorieen mit Unterſcheidung 
der einzelnen Verſchuldungsurſachen zuſammengeſtellt werde. Die 
Ausfüllung der betreffenden Formulare, welche mit der Eintragung 
in die Hypothekenbücher und der Löſchung aus denſelben Hand 
in Hand zu gehen hätte und durch die betreffenden Hypotheken- 
beamten vorzunehmen wäre, kann unmöglich viel Zeit bean- 
ſpruchen !. 

Ferner erſcheint mir eine reichere Gliederung der Sub— 
haſtationsſtatiſtik etwa nach Art der für das Jahr 1880 vorge— 
nommenen bayeriſchen Aufnahme wünſchenswert. 


1 Über die für Frankreich und Öfterreich vorliegende Statiſtik der 
hypothekariſchen Belaſtung des Grundbeſitzes ſ. L. v. Stein, Die drei 
Fragen des Grundbeſitzes und ſeiner Zukunft. Stuttgart 1881. S. 196 ff. 
v. Inama⸗Sternegg, Die Statiſtik des Grundeigentums und die ſo⸗ 
ciale Frage, in der öſterreichiſchen ſtatiſtiſchen Monatsſchrift Jahrg. VIII 
Heft IV. 


72 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


Endlich würde ich großen Wert darauf legen, daß die zur 
Klarſtellung der Lage des Bauernſtandes in Preußen für not⸗ 
wendig gehaltenen Ermittelungen auch in den übrigen deutſchen 
Staaten — womöglich zu gleicher Zeit — vorgenommen werden. 
Es könnte die Königl. Preußiſche Staatsregierung vielleicht ein 
ſolches gemeinſames Vorgehen ihrerſeits bei den betreffenden 
Miniſterien der übrigen Staaten anregen. 

Damit wäre dann der feſte Rahmen gegeben, der durch die 
individuelle Beſchreibung einzelner typiſcher Bezirke zweckmäßig 
ausgefüllt werden könnte, und zugleich ein allgemeiner Maßſtab 
für das Urteil feſtgeſtellt, ohne den typiſche Einzeldarſtellungen 
leicht verwirrend wirken können. 

Zugleich bin ich aber nicht der Anſicht, daß der Staat mit 
ſeinen etwaigen zur Erhaltung des Bauernſtandes in Angriff zu 
nehmenden Maßnahmen zu warten hätte, bis eine vollſtändig 
ſichere Grundlage für die Beurteilung der beſtehenden bäuerlichen 
Wohlſtands- und Beſitzverhältniſſe gewonnen wäre. 

Denn ſoweit ſind dieſe denn doch im allgemeinen klar 
geſtellt, daß man wenigſtens weiß, wo die Hebel anzuſetzen ſind. 

Soll nun etwa unſere heutige auf der Freiheit des Indivi⸗ 
duums und ſeines Beſitzes ruhende Agrarverfaſſung weſentlich 
abgeändert und zur Wiedereinführung einer den einzelnen bin⸗ 
denden Geſamtordnung, wie ſie früheren Jahrhunderten eigen 
war, zurückgekehrt werden? 

Auf etwas Ähnliches läuft der neueſte Vorſchlag des geiſt⸗ 
vollen Lorenz v. Stein! hinaus, der einerſeits den Dualis⸗ 
mus von geſchloſſenen Hufen und walzenden Grundſtücken, wie 
er ſich noch gegenwärtig im Königreich und in der Provinz 
Sachſen ſowie in einigen thüringiſchen Ländern faktiſch vorfindet, 
zu einem allgemeinen, durch die Rechtsordnung garantierten 
machen will und der andererſeits das Individualeigentum an 
einem Teil des Bodens zugleich in eine Art Kollektiveigentum 


1 L. v. Stein, Bauerngut und Hufenrecht. Gutachten, erſtattet an 
die K. K. Miniſterien des Ackerbaues und der Juſtiz. Stuttgart 1882. Ferner: 
Die drei Fragen des Grundbeſitzes und ſeiner Zukunft. Stuttgart 1881. 


* 


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Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 73 


und die Individualwirtſchaft in eine Kollektivwirtſchaft um— 
wandeln möchte. 

Oder ſoll etwa nach den Vorſchlägen des Freiherrn v. 
Vogelſang eine durch Geſetz dekretierte Schließung der Hypo— 
thekenbücher des ländlichen Grundbeſitzes und eine ſyſtematiſch 
geordnete Hypothekenablöſung durch eine ſtaatliche Hypotheken— 
Ablöſungskaſſe eintreten !? 

Oder ſoll durch Übertragung der amerikaniſchen homestead 
laws, wie man ſie bei uns bisher aufgefaßt hat, auf deutſchen 
Boden der Bauer vor dem Verdrängtwerden von ſeiner Scholle 
dadurch geſchützt werden, daß von Geſetzes wegen für einen Minimal- 
grundbeſitz eine Einrichtung geſchaffen werde, die dem kraft letzt— 
williger Verfügung beſtehenden Familienfideikommiß nicht un- 
ähnlich ſehen würde? 

Ich möchte dieſe Fragen fürs erſte verneinen. 

Denn iſt auch die Lage eines Teiles unſeres Bauernſtandes 
eine wenig befriedigende, ſo iſt ſie doch noch lange nicht ſo 
verzweifelt, daß radikale Umwälzungen der beſtehenden Agrar— 
verfaſſung, wie die vorgeſchlagenen, notwendig oder auch nur 
wünſchenswert wären. 

Auch darf wohl erwähnt werden, daß die Vorſchläge 
L. v. Steins und v. Vogelſangs nicht auf deutſchem, 
ſondern auf öſterreichiſchem Boden erwachſen ſind. Hier aber 
ſcheinen die Zuſtände der bäuerlichen Grundbeſitzer nach den aus 
dem letzten Jahrzehnt zur allgemeinen Kenntnis gelangten 
Zahlen über die Zunahme der Verſchuldung, über die ſteigende 
Zahl der Zwangsvollſtreckungen und über die dabei erlittenen 
Kapitalverluſte allerdings viel ſchlimmer zu ſein als bei uns. 

Aber wenn ich die obigen radikalen Vorſchläge fürs erſte 


1 Freiherr von Vogelſang, Die Grundbelaſtung und Entlaſtung. 
Wien 1879. Derſelbe, Die Notwendigkeit einer neuen Grundentlaſtung. 
Wien 1880. Derſelbe, Die ſocialpolitiſche Bedeutung der hypothekariſchen 
Grundbelaſtung. Wien 1881. Neubelaſtung des Grundbeſitzes in elf Jahren 


und Vorſchlag zur Schuldentlaſtung, im Wiener Vaterland 1882 No. 218 
und 224. 


74 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


verwerfe, ſo bin ich doch von der Notwendigkeit überzeugt, daß 
die ohne Verletzung der Fundamentalſätze unſerer beſtehenden 
Agrarverfaſſung gegebenen Mittel zur Erhaltung unſeres Bau⸗ 
ernſtandes um ſo ſchleuniger, umfaſſender und energiſcher in 
Angriff genommen werden ſollen. 

Denn wenn mir auch die Vorſchläge zu einem weitgehenden 
Eingreifen des Staats in die beſtehende Ordnung der Dinge in der 
Gegenwart nicht genügend begründet erſcheinen, ſo muß ich mich 
noch viel entſchiedener gegen diejenigen wenden, welche die gegen⸗ 
wärtige Kriſis lediglich aus dem Geſichtspunkt individueller Schuld 
und Sühne behandeln. Weil, ſo wird nicht ſelten geltend ge⸗ 
macht, die Kriſis weſentlich dadurch bedingt iſt, daß der ländliche 
Grundbeſitz von ſeinen jetzigen Beſitzern zu ſo hohen Preiſen ge⸗ 
kauft oder im Erbgange übernommen worden iſt, wie ſie ſchon 
damals den Erträgen nicht entſprachen und noch weniger heute 
entſprechen, ſo iſt auch eine Beſſerung in der Lage des Grund⸗ 
beſitzes lediglich dadurch zu erzielen, daß der Wert desſelben ſich 
wieder au niveau der gegenwärtigen Erträge ſetze. 

Als ob es denn eine ſo kleine Sache iſt, wenn ein ganzer 
Stand und gerade derjenige Stand, der mit den feſteſten Banden 
an das Vaterland geknüpft iſt, Millionen und Milliarden ſeines 
Vermögens plötzlich in die Erde verſinken ſieht? Als ob eine 
ſolche Expropriation ſich überhaupt vollziehen läßt, ohne daß zahl⸗ 
loſe Exiſtenzen und zwar die ſchwächeren, d. h. die am meiſten 
verſchuldeten, dadurch ruiniert würden? Und wenn nun gar 
dieſe von dem Verluſt ihrer ganzen Habe und damit ihrer ſocialen 
Stellung bedrohten Perſonen einen weſentlichen Teil derjenigen 
Klaſſe bilden, die der Staat von jeher als ſeine Hauptſtütze im 
Krieg und Frieden angeſehen hat? Und wenn damit zugleich 
die Baſis dieſer Klaſſe, die bäuerliche Hufe, auseinanderbricht, 
ſo daß keine Kunſt des Politikers ſie ſpäter wieder herſtellen 
kann? Kann denn überhaupt von einer individuellen Schuld 
derjenigen geſprochen werden, die in Zeiten ſteigender Guts⸗ 
erträge im Vergleich zu der ſpäter eintretenden Kriſis zu hohe 
Kaufpreiſe für ihren Grundbeſitz gezahlt haben, oder waren dieſe 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 75 


5 nicht vielmehr die Folge allgemeiner Konjunkturen? Mir ſcheint, 


daß der Staat ſich der Pflicht, einer ganzen Klaſſe, die durch 
eine für ſie unglückliche Verkettung von Umſtänden in die gegen— 
wärtige kritiſche Lage gekommen iſt, die hülfreiche Hand zu bieten, 
nicht entſchlagen darf. Und zwar dies um ſo weniger, als 
derſelbe durch Erhaltung des Grundbeſitzerſtandes nur einen Akt 
der Selbſterhaltung ausübt und als er durch ſein eigenes Ver— 
halten nicht unweſentlich zur Verſchärfung der gegenwärtigen 
Kriſis beigetragen hat. 

Daß er dabei das durch die Geſamtlage bedingte Herab— 
gehen des Grundwertes nicht vollſtändig aufhalten kann, iſt jelbit- 
verſtändlich; nur darauf kann und ſoll er hinwirken, daß der 
Prozeß ſich möglichſt langſam und ſchmerzlos für die durch den— 
ſelben Betroffenen vollziehe und daß die gegenwärtigen Grund— 
beſitzer und unter dieſen wieder namentlich die Bauern als Stand 
möglichſt in ihrem Beſitz erhalten werden. 

Iſt der Anſtoß zur gegenwärtigen Kriſis durch die Kon— 
kurrenz unſerer Produktion mit derjenigen von Ländern, die unter 
beſonders günſtigen Produktionsbedingungen wirtſchaften, gegeben, 
ſo liegt die Frage ſehr nahe, ob dieſe Konkurrenz für uns nicht 
durch Maßregeln der Zollgeſetzgebung beſeitigt werden könnte. 
Auf dieſe Frage möchte ich hier aber nur ungern eingehen, da 
die landwirtſchaftlichen Zölle inſofern mit den gewerblichen Zöllen 
aufs engſte zuſammenhängen, als die erſteren ohne die letzteren 
nicht möglich ſind, die Behandlung der ganzen Zollfrage mich 
aber zu weit führen würde. Nur ſoviel erlaube ich mir zu be— 
merken, daß wenn es richtig iſt, was von kompetenter Seite 


neulich angeführt wurde“, daß nämlich ein wirkſamer Schutz 
des deutſchen Weizenbaues auf den am ungünftigiten ſituierten 


Grundſtücken gegenüber denjenigen Preiſen, welche durch die 


Produktionskoſten der fi) in günftigfter Lage befindenden Land⸗ 


1 A. Meitzen, Die Individualwirtſchaft der Germanen und die 
drohende Kapitalkriſis unſeres Grundbeſitzes, in Conrads Jahrbüchern 
N. F. Bd. VI Heft 1 u. 2 S. 20 ff. 


76 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


wirte des amerikaniſchen Weſtens beſtimmt ſind, nur durch einen 
Zoll von 8 Mark pro 100 kg zu ermöglichen iſt, — an einen 
ſolchen oder überhaupt einen erheblich höheren Zoll, als wir ihn 
gegenwärtig beſitzen, nur gedacht werden könnte, wenn die mittel⸗ 
europäiſchen Staaten ſich zu einem gemeinſchaftlichen Zollverbande 
zuſammenſchließen würden. 


Doch ſind in den obigen Zahlen nur zwei Extreme ins Auge 
gefaßt. Sofern daher weniger günſtig ſituierte amerikaniſche 
Konkurrenten und unter vorteilhafteren Bedingungen wirtſchaftende 
Landwirte bei uns in Frage kommen, dürfte die durch die über⸗ 
ſeeiſche Konkurrenz drohende Gefahr weniger groß und die Aus⸗ 
ſicht auf ihre Beſiegung nicht ganz hoffnungslos ſein. Doch ge⸗ 
hört dieſe Frage ja noch immer zu den beſtrittenſten, und unſere 
Staatsregierung hat ſich neuerdings dadurch einen neuen An⸗ 
ſpruch auf den Dank der Landwirte erworben, daß ſie dem 
Studium derſelben ihre volle Aufmerkſamkeit widmet. 


Wie aber auch die Entſcheidung in der Konkurrenzfrage 
ausfallen möge, ſo wird der Blick unſerer Landwirte in jedem 
Fall darauf gerichtet ſein müſſen, ihre Produkte zu den möglichſt 
geringen Koſten hervorzubringen. Dabei werden ſie ſich zugleich 
in höherem Grade, als dies bisher geſchehen iſt, denjenigen Kul⸗ 
turen zuzuwenden haben, deren Produkte gegenwärtig die relativ 
höchſten Preiſe aufweiſen. 

Daß namentlich der Viehzucht und Verarbeitung animaliſcher 
Produkte ſowie dem Gemüſe⸗, Handelsgewächs- und Obſtbau 
größere Aufmerkſamkeit geſchenkt werden muß, gilt heutzutage 
für eine Binſenwahrheit. 

Bei dieſer Gelegenheit mag es übrigens nicht unangemeſſen 
ſein, auch einmal daran zu erinnern, daß die Grenzen, bis zu 
welchen der Getreidebau durch die Mehrerzeugung von Futter⸗ 
kräutern, Gemüſe und Handelsgewächſen eingeſchränkt werden kann, 
ſehr enge ſind. Denn bereits die Inanſpruchnahme von weiteren 
4 Prozent der gegebenen Ackerfläche des Deutſchen Reichs zum 
Anbau von Futterpflanzen würde ausreichen, um den gegen⸗ 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 77 


wourtig 50 Pfd. pro Kopf der Bevölkerung betragenden Fleiſch⸗ 


konſum um weitere 10 Pfd. pro Kopf zu vermehren. Eine noch 


höherezFleiſchproduktion würde aber aller Wahrſcheinlichkeit nach 
die Fleiſchpreiſe bedeutend ſinken und damit die Viehzucht un— 
rentabel machen. Und wollte man nur 1 Prozent der Acker— 
fläche des Deutſchen Reichs mehr als bisher mit Handels— 
gewächſen und Gemüſe anbauen, ſo würden damit dieſer Kultur 
ſchon neue 287 000 ha zugewieſen werden. Es blieben ſomit 
von den 50,2 Prozent der deutſchen Ackerfläche, auf denen gegen— 
wärtig Getreide gebaut wird, nach Abzug der obigen beiden 
anderen Verwendungen noch immer über 45 Prozent übrig. 

Sonach wird die Lage des Grundbeſitzes in Zukunft wohl 
weſentlich mit davon abhängen, ob und inwieweit es gelingen 
mag, die Koſten der Getreideproduktion weſentlich niedriger zu 
ſtellen oder, was ja auf dasſelbe herauskommt, bei gleichbleibenden 
Koſten den Ertrag bedeutend zu ſteigern. Bedeutet doch ein 
durchſchnittlicher Mehrertrag von einem Scheffel Weizen pro 
Morgen für die deutſchen Landwirte einen jährlichen Mehrgewinn 
von 300 Mill. Mark. 

Alſo hier wird der Hebel anzuſetzen ſein, und daß auf dem 
Gebiete der landwirtſchaftlichen Technik noch große Verbeſſerungen 
möglich ſind, davon muß man ſich unwillkürlich überzeugen, 
wenn man einen hervorragenden Kenner der deutſchen Landwirt- 
ſchaft! anführen hört, daß unſerem Getreidebau noch lange nicht 
diejenige Sorgfalt gewidmet wird, deſſen er fähig iſt. Wenn 
beiſpielsweiſe die verſchiedenen Weizenvarietäten ſich in ihren 
Körnererträgen wie 7 zu 19 und in ihren Stroherträgen wie 21 
zu 25 ſtellen, ſo müſſen noch ſehr große Steigerungen der Ge— 
treideerträge durch Anpaſſung der auf den verſchiedenen Boden— 
arten am beſten gedeihenden Getreidevarietäten an dieſelben 


E | ſowie überhaupt durch individuellere Behandlung der Landwirt— 


1 Drechsler, Die Steigerung des Reinertrages durch den Getreide— 
bau. Vortrag, gehalten in der Sitzung des landwirtſchaftlichen Vereins 
der goldenen Aue am 14. März 1882 zu Nordhauſen. 


78 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


ſchaft möglich ſein. So wird denn die Verbeſſerung der Zu⸗ 
ſtände des Grundbeſitzes in erſter Linie von den Grundbeſitzern 
und Landwirten ſelbſt abhängen: von ihren Kenntniſſen und ihrem 
Überblick, ihrem Fleiß und ihrer Ausdauer. 

Wenn ferner Semler als Charakteriſtikum unſeres Bauern⸗ 
ſtandes die große Unbeweglichkeit und geringe Anſtelligkeit 
desſelben anführt und wenn er den Hauptgrund hierfür in der 
weiten ſocialen Kluft findet, die denſelben von ſeinen höher ge⸗ 
bildeten Berufsgenoſſen trennt“, jo wird dem Bauern nicht anders 
zu helfen ſein, als daß er in Zukunft dem größeren Landwirt 
näher rückt. In den landwirtſchaftlichen Vereinen wäre nun ein 
ſolcher Vereinigungs- und Ausgleichungspunkt gegeben: von 
denſelben halten ſich die Bauern vieler Gegenden aber noch immer 
fern. So wird denn wohl der größere Landwirt den Bauer 
aufſuchen müſſen, wozu ſich in den neu entſtehenden Bauern⸗ 
vereinen eine paſſende Gelegenheit finden würde. Die gemein⸗ 
ſame Arbeit und der vereinte Kampf für dieſelben Intereſſen des 
Grundbeſitzes wird dann vielleicht auch den Bauer über ſich 
ſelbſt hinausheben und ihn ſeinem rührigeren größeren Nachbar 
allmählich annähern. 

Daß die landwirtſchaftlichen Vereine und Schulen ihre 
ſegensreiche Arbeit auf dem Gebiet der landwirtſchaftlichen Tech- 
nik dabei nicht nur nicht vermindern, ſondern angeſichts der Ge⸗ 
fahr der Lage womöglich noch verdoppeln ſollen, verſteht ſich von 
ſelbſt. Auch wird der große Grundbeſitz nach wie vor die Be⸗ 
deutung einer Verſuchsſtation für den mittleren und kleinen 
Grundbeſitz haben. 

Indes hilft alles Können und Wollen des Bauern doch nur 
wenig, wo das wirtſchaftliche Fortſchreiten desſelben durch faktiſche 
Hemmniſſe der Grundbeſitzverteilung und namentlich durch die zu 
weit gehende Parzellierung gehindert iſt. Es wird daher nichts 
anderes übrigbleiben, als nach geſchehener Durchführung der 
Konſolidation nach naſſauiſchem Muſter auch in der Rhein⸗ 


1 Semler a. a O. S. 97 ff. 


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Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 79 


provinz, in Hohenzollern ꝛc. die weitere Verkleinerung der einzelnen 


Parzellen unter ein beſtimmtes Minimum herab nach naſſauiſchem, 
heſſen⸗darmſtädtiſchem, thüringiſchem und badiſchem Beiſpiele 
zu verbieten. Auch wäre wohl zu erwägen, ob nicht an die 
Wiederbelebung einer geſetzlichen Beſtimmung gedacht werden 
könnte, wie ſie in dem Landdiſtrikt der Republik Florenz im 
XV. Jahrhundert aus der zu weit getriebenen Parzellierung des 
Grundbeſitzes entſprungen war. Dieſelbe beſtand darin, daß die 
Beſitzer unbebauter Grundſtücke, deren Wert 1— 200 Lire nicht 
überſtieg, zum Verkauf derſelben an den Beſitzer der benachbarten 
Grundſtücke gezwungen waren, falls dieſer ihn verlangte und ſein 
Grundbeſitz das zu expropriierende Grundſtück von 2 bis 3 Seiten 
einſchloß. Es lag dieſer Beſtimmung augenſcheinlich die Abſicht 
der Regierung zu Grunde, aus den in der Feldmark zerſtreut 
liegenden Parzellen größere abgerundete Güter zu ſchaffen, 
welche eine Familie zu ernähren und die öffentlichen Laſten zu tragen 
im ſtande wären 1. 

Auch in einem anderen Punkt würde ich den Bauernſtand 
— aber nicht nur ihn — einem Zwange unterwerfen. In 
einigen Berichten nämlich wird konſtatiert, daß der Bauer nur 
ſelten aus freier Initiative ſeine Gebäude und ſein Inventar 
gegen Feuersgefahr und die Frucht ſeiner Felder gegen Hagel— 
ſchaden zu verſichern pflegt. Trifft ihn dann das Unglück, ſo 
kann hierin der Keim zu ſeiner Verſchuldung und ſeinem Ruin 
enthalten ſein. Hier wünſchte ich nun, daß an die Beſtimmungen 
des Geſetzes vom 12. März 1881 — welches die Viehbeſitzer 
zur Zwangsverſicherung ihres Viehes veranlaßt für den Fall, 


daß dasſelbe infolge des Befallenwerdens von beſtimmten Seuchen 


polizeilicher Tötung unterworfen werden ſollte — angeknüpft 
würde, um auch die Verſicherung gegen Feuersgefahr und Hagel— 
ſchäden obligatoriſch zu machen. Durch einen ſolchen Zwang 
würde eine nicht unbedeutende Quelle der Verſchuldung ver— 
ſtopft werden. 


1 Pöhlmann, Die Wirtſchaftspolitik der Florentiner Renaiſſance. 
Leipzig 1879. S. 12. 


80 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


Je mehr ferner der bäuerliche Haushalt noch immer in der 
Naturalwirtſchaft ſteckt, deſto ſchwieriger wird es ſein, das zum 
Lebensunterhalt Verbrauchte von den eigentlichen Produktions⸗ 
koſten auszuſcheiden. Die Folge dieſer geringen Überſichtlichkeit 
iſt nicht ſelten ein großer Mangel an haushälteriſchem Sinn, 
ſoweit es ſich wenigſtens um die Verwendung des auf der 
eigenen Scholle Produzierten handelt. Dazu hat ſich infolge 
der für den Landwirt günſtigen Periode (von Mitte der 40er bis 
zum Schluſſe der 60 er Jahre) hier und da eine den jetzigen Ver⸗ 
hältniſſen nicht mehr entſprechende allzu üppige Lebenshaltung 
eingeſtellt. Dieſe plötzlich herunterzuſchrauben iſt namentlich in 
einer bäuerlichen Wirtſchaft außerordentlich ſchwierig. Widerſpricht 
dem ſchon der konſervative Charakter des Bauern, ſo machen 
noch die Rückſichten auf die an der Lebenshaltung der Bauern⸗ 
familie teilnehmenden und größtenteils ſehr prätentiös gewordenen 
Knechte und Mägde ſolches beſonders ſchwierig. 

Und doch verlangt die Kriſis der Gegenwart eine Rückkehr 
zu größerer Einfachheit und Mäßigkeit, wie die Kriſis der 20 er 
Jahre ſie ebenfalls gebracht hat. 

Wird dieſe Veränderung auch nicht anders als von innen 
heraus infolge der harten unerbittlichen Notwendigkeit bewirkt 
werden, ſo kann ſie der Staat doch befördern durch Einſchränkung 
des Hauſierhandels mit Branntwein und durch Verminderung der 
Schänken, deren Einfluß namentlich in den Zeiten des bäuerlichen 
Niedergangs von vielen Vereinen als ſehr verderblich bezeichnet 
wird. 

Auch müßte der Verbildung der Bauerntöchter in ſtädtiſchen 
Penſionaten nach Möglichkeit geſteuert und in Gegenden, in 
denen die Hausfrauen zur Führung des Haushalts nicht ge— 
ſchickt genug ſind, für eine beſſere Unterweiſung ihrer Töchter 
Sorge getragen werden. Auf dieſem Gebiete erwachſen den 
Bauernvereinen ſchöne Aufgaben. 

Was ſodann die ſonſtigen hohen Produktionskoſten der 
bäuerlichen Wirtſchaft betrifft, ſo dürfte es ſehr ſchwierig, wenn 
nicht überhaupt unmöglich ſein, den gegenwärtigen Stand der 


9 9 * 9 * „ e > 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 81 


landwirtſchaftlichen Arbeitslöhne herabzudrücken, ſolange der 


Verdienſt in den Städten und Fabrikdiſtrikten ein bedeutender 
iſt. Und vom ſocialpolitiſchen Standpunkte iſt die ſeit einem 
Jahrzehnt ſich vollziehende Nivellierung der Löhne ja eine erfreuliche 
Thatſache. Zu bedauern bleibt nur, daß die Leiſtungen den Lohn— 
erhöhungen nicht parallel gegangen ſind, ſondern daß im Gegen— 
teil — wie aus mehreren Gegenden berichtet wird — die 
Leiſtungen des Arbeiters geringer und ſeine ganze Haltung un— 
zuverläſſiger geworden iſt. Da der Geldlohn nicht weſentlich 
herabgedrückt werden kann, ſo müßte wenigſtens dahin gewirkt 
werden, daß der Gebrauchswert der Arbeit entſprechend ſteige. 
Eine Beſſerung der ländlichen Arbeiterverhältniſſe hat eine 
Neugeſtaltung der Gemeindeverhältniſſe im Oſten der Monarchie 
zur Vorausſetzung. 

Diejenigen Gebiete, auf denen der Staat im Intereſſe des 
bäuerlichen Grundbeſitzes am wirkſamſten thätig ſein kann, be— 
treffen außer der Gemeindegeſetzgebung die Steuer-, Erbrechts— 
und Gewerbegeſetzgebung ſowie die Organiſation des landwirt— 
ſchaftlichen Kredits und die Domänenverwaltung. 

Da der Bauer namentlich durch die Kommunalſteuer un— 
verhältnismäßig hart betroffen wird, ſo gilt es hier Wandel zu 


ſchaffen durch eine beſſere Verteilung der Laſten zwiſchen Staat 


und Kommunalverband und durch Einführung eines zweck— 
mäßigeren Syſtems von Kommunalſteuern. Auch dieſe Reform 
iſt meines Erachtens ohne vorhergehende Anbahnung geſunder 
Gemeindeverhältniſſe und ohne Reform der Armen- und Schul- 
geſetzgebung nicht durchzuführen. Ein näheres Eingehen auf dieſen 
Punkt iſt jedoch an dieſer Stelle unmöglich. Ich will mich daher 
darauf beſchränken, die Dringlichkeit dieſer Reformen durch die 
Rückſicht auf den bäuerlichen Notſtand noch beſonders zu 


betonen. 


Wenn oben konſtatiert wurde, daß der im ererbten Familien⸗ 
beſitz ſich erhaltende Bauer durchſchnittlich weniger verſchuldet 
iſt und demnach auch der Gefahr, von Haus und Hof verdrängt 


zu werden, weniger unterliegt als derjenige Bauer, der ſeinen 
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 6 


82 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


Grundbeſitz gekauft hat, ſo folgt daraus, daß alles gethan werden 
muß, um dem Bauerngute den Charakter des Familienbeſitzes 
zu bewahren. Dies hängt nun freilich in erſter Linie von der 
Stärke des Familienſinnes ab, und auf dieſen kann der Staat 
wenn überhaupt, ſo nur auf indirektem Wege durch die Schule 
u. ſ. w. einwirken. Aber dieſer Familienſinn bedarf doch einer 
feſten Stütze, an der er ſich aufrichten und erhalten kann, wie 
die Rebe am Baume. Eine ſolche Stütze nun kann für den Fa⸗ 
milienſinn das geltende Erbrecht ſein, ſofern es den vorhandenen 
Bedürfniſſen des Grundbeſitzes und den im Volk lebenden In⸗ 
ſtinkten Rechnung trägt. Leider hat ein ſolches dem preußiſchen 
Bauernſtande ſeit ſeiner Emancipation gefehlt; denn das geltende 
gemeine und preußiſche Inteſtaterbrecht hat nicht ſtützend, ſondern 
zerſetzend auf den Familienſinn des Bauernſtandes eingewirkt. 
Bisher freilich hat eine ſich als Überbleibſel einer älteren Rechts⸗ 
ordnung darſtellende Verehrungsſitte die Anwendung des all⸗ 
gemeinen Erbrechts wirkſam paralyſiert. Doch hat dieſe Sitte 
— ich meine namentlich die in den öſtlichen Provinzen ſo ſehr 
verbreitete Übung der Gutsübergabe- oder Altenteilverträge — 
auch ihre ſehr nachteiligen Seiten, wie namentlich der Poſener 
Bericht beweiſt. Der Verluſt der Arbeit des ſich bereits mit 
50, ja bisweilen ſogar ſchon mit 40 Jahren auf den Altenteil 
ſetzenden Bauern, die Überlaſtung des Gutsübernehmers mit 
großen Abfindungen, die Vergiftung der Beziehungen zwiſchen 
Eltern und Kindern und häufige Prozeſſe zwiſchen denſelben ſind 
der hohe Preis für die Erhaltung des bäuerlichen Grundbeſitzes 
in der Familie durch das Mittel der Übergabeverträge. 
Zugleich pflegt in dem ungleichen Kampfe zwiſchen dem geſchrie⸗ 
benen Recht und der Sitte die letztere mit der Zeit dem erſteren 
naturnotwendig zu weichen, wie der eiſerne Topf beim Zuſammen⸗ 
ſtoß mit dem irdenen dieſen unfehlbar in Scherben ſchlägt. Daß 
die alte Vererbungsſitte denn auch in der That in der Abnahme 
begriffen iſt, wird von mehr als einem Bericht beſtätigt. Die 
durch keine Sitte mehr zurückgehaltene Anwendung des allge⸗ 
meinen Erbrechts auf den ländlichen Grundbeſitz muß aber mit 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 83 


Notwendigkeit entweder zu unwirtſchaftlicher Zerſtückelung oder 
zur Überſchuldung und indirekt ebenfalls wieder zur Zer— 
ſtückelung oder zur Aufſaugung des bäuerlichen Grundbeſitzes 
durch das Geldkapital bezw. den großen Grundbeſitz führen. 

Damit iſt aber zugleich die wichtigſte Urſache für den Unter- 
gang unſeres Bauernſtandes gegeben, die um ſo ſtärker wirken 
muß, je weniger der Bauernſtand im Vergleich mit dem größeren 
Gutsbeſitz, welcher noch immer zum Teil nach Lehn- und Stamm⸗ 
guts⸗ ſowie nach Fideikommißgutserbfolge vererbt wird, ge— 
ſchützt iſt. 

Eine Beſeitigung dieſer in letzter Inſtanz wichtigſten Ver⸗ 
ſchuldungsurſache des bäuerlichen Grundbeſitzes kann nur durch 
eine Reform des Inteſtaterbrechts bewirkt werden. Dieſe aber 
muß darin beſtehen, daß der Bauernhof vom Geſetz als das be— 
handelt wird, was er in Wirklichkeit iſt, nämlich als eine Ein- 
heit. Derſelbe ſollte daher nach dem Geſetz ungeteilt nur einem 
Erben deferiert werden, ſo daß die ſämtlichen Geſchwiſter nur 
in den Wert des Gutes zu ſuccedieren haben. Und ſodann ſollte 
die Auseinanderſetzung zwiſchen dem das Gut antretenden An- 
erben und ſeinen Geſchwiſtern auf Grund des Ertrags- und 
nicht des Verkehrswertes ſtattfinden. Denn nur die Anwendung 
jenes bei der Taxation des nachgelaſſenen Guts ermöglicht die 
Erhaltung desſelben in der Familie; die Anwendung dieſes, 
nämlich des Verkehrswertes, drängt dasſelbe dagegen naturnot= 
wendig aus der Familie heraus oder führt doch allmählich zur 
Verkümmerung der Vermögensverhältniſſe der Familie. Erhielte 
ein ſolches der Natur des Grundbeſitzes angepaßtes Inteſtat— 
erbrecht nur ſubſidiäre Bedeutung, ſo daß es dem Beſitzer un— 
benommen bliebe, auch anders frei über ſein Gut zu verfügen, 
— wobei übrigens die durch das geltende Pflichtteilsrecht gezo— 
genen Schranken erweitert werden müßten — ſo ließe ſich 
gegen dasſelbe auch vom Standpunkt der gegenwärtig gel- 
tenden Agrarverfaſſung nichts einwenden. Ja im Gegenteil, ein 
ſolches Erbrecht dürfte der auf dem Prinzip der Freiheit ruhenden 
und die Arrondierung des Grundbeſitzes anſtrebenden Agrarver— 

6 * 


84 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


faſſung der Gegenwart beſſer entſprechen als das gegenwärtig 
geltende gemeine Erbrecht. Freilich wird man ein ſolches An⸗ 
erbenrecht nur dort einführen dürfen, wo die notwendige Voraus⸗ 
ſetzung desſelben — ein entſprechender auf die Erhaltung der 
Grundbeſitzeinheiten gerichteter Familienſinn — vorhanden iſt. 
Es ſcheint nun der Boden für die Einführung des Anerbenrechts 
überall dort gegeben zu ſein, wo ſich der Trieb und die Sitte, 
den Grundbeſitz in irgend welcher Form, secundum, praeter oder 
ſelbſt contra legem, in der Familie zu erhalten, vorfindet. 
Zu dieſen Formen gehören auch die in den ſechs öſtlichen 
Provinzen allgemein verbreiteten Altenteilsverträge. Es gilt 
daher, für die denſelben zu Grunde liegende Intention, im 
Inteſtaterbrecht, das ja auch nur den präſumtiven Willen des 
Erblaſſers ausſprechen ſoll, eine andere Form zu finden, durch 
die zugleich die den Übergabeverträgen anhaftenden Mängel 
beſeitigt werden. Ob die Grenzziehung zwiſchen denjenigen 
Landesteilen, für welche das Anerbenrecht einzuführen, und 
denjenigen, für welche das allgemeine Erbrecht beizubehalten 
ſein wird, beſſer durch die Reichs- oder Landesgeſetzgebung 
erfolgen ſoll, mag einſtweilen eine offene Frage bleiben. 

Da auch hier Gefahr im Verzuge iſt und der Weg der 
Landesgeſetzgebung für einzelne Provinzen bereits beſchritten iſt, 
das Reichs⸗Civilgeſetzbuch aber noch in weitem Felde ſteht, jo 
würde ich mich im Augenblick für den Erlaß von Landes- und 
Provinzialgeſetzen entſcheiden, ſo jedoch, daß auch innerhalb der 
einzelnen Provinz weitere Unterſcheidungen möglich blieben und 
daß der Frage der ſchließlichen Regelung des Erbrechts für den 
land- und forſtwirtſchaftlich benutzten Boden im deutſchen Civil⸗ 
geſetzbuch dadurch nicht präjudiziert würde. Daß das Syſtem 
der hannoverſchen Höferolle — bei der großen Abneigung des 
Bauernſtandes vor letztwilligen Verfügungen — nicht aus⸗ 
reicht, ſcheint mir nach den bisherigen Erfahrungen unzweifelhaft 
zu fein. Denn die hannoverſchen Verhältniſſe, auf die man ſich 
ſeitens der Vertreter des Syſtems der Höferolle gern beruft, ſind 
ſo exceptioneller Natur, daß die hier erfolgte Eintragung von 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 85 


ca. 60 Prozent der Höfe für den Umfang, in dem die Höferolle 
in anderen Provinzen benutzt werden wird, nichts beweiſt. Auch 
beruht dieſe Angabe nicht auf einer genau durchgeführten Sta— 
tiſtik, und in mehreren der Berichte wird darüber geklagt, daß 


die Höfe ſelbſt in Hannover in großem Umfange nicht einge— 


tragen ſind. In Oldenburg dagegen, wo allein eine genügende 
Statiſtik der eingetragenen Grunderbſtellen beſteht, waren im 
Jahre 1880 erſt etwas über 25 Prozent ſämtlicher behauſter 
landwirtſchaftlicher Privatbeſitzungen dem Grunderbrecht unter— 
ſtellt worden !. 

Dasſelbe Ziel einer Verhütung der Überſchuldung des 
bäuerlichen Grundbeſitzes müßte auch durch eine entſprechende 
Organiſation des Kredits angeſtrebt werden. 

Allem zuvor möchte ich hier feſtſtellen, daß, ſo hoch ich auch 
Rodbertus' theoretiſche Verdienſte ſtelle, ich doch kein Freund 
ſeines praktiſchen Vorſchlags: die Kapitalſchulden in Renten- 
ſchulden umzuwandeln, bin, ſofern er nämlich mehr beſagen will, 
als daß die Friſten für den Kredit der Landwirte den Betriebs: 
perioden der Landwirtſchaft und der für den Landwirt beſtehenden 
Schwierigkeit, ſein Kapital flüſſig zu machen, angepaßt werden 
ſollen. Übrigens ſind ſelbſt die eifrigſten Anhänger dieſes Vor⸗ 
ſchlages angeſichts der ſinkenden Grundrente und zugleich des 
fallenden Zinsfußes vor der Umwandlung der Kapital- in 
Rentenſchulden kopfſcheu geworden. Mit den langen Terminen 
der Grundſchulden muß meines Erachtens vielmehr der Amorti— 
ſationszwang verbunden werden. 

Wird der Individual-Kredit in der Gegenwart immer ſel⸗ 
tener, ſo muß der Bauer, wenn nicht für einen ſeinem Bedürfnis 
entſprechenden billigen, ſtetigen und mit Amortiſationszwang ver- 
bundenen Kredit durch die Organiſation von entſprechenden Ein⸗ 
richtungen geſorgt wird, unfehlbar dem Wucher verfallen. Nun iſt 
zwar in den letzten Jahrzehnten und namentlich in den letzten Jahren 


I Paul Kollmann, Die Anwendung des bevorzugten Erbrechts am 
Grundeigenthum im Herzogthum Oldenburg zu Anfang des Jahres 1880. 
Oldenburg 1883, S. 17. 


86 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


in dieſer Beziehungen manches geſchehen. Einige Landſchaften haben 

die Gewährung von Realkredit über den urſprünglich beſchränkten 
Kreis der ſogenannten inkorporierten Güter ausgedehnt. Aus 
Schleſien, Poſen und Weſtpreußen wird auch über die günſtigen 
Erfolge dieſer Maßregel berichtet. Aber immer noch iſt der Ge⸗ 
brauch, der von dem Kredit der Landſchaften ſeitens der mittleren 
und kleineren Grundbeſitzer gemacht wird, ein verhältnismäßig 
geringer. Die hauptſächlichen Gründe für dieſe Zurückhaltung 
der Bauern dürften in der Entfernung der Landſchaftsverwaltung 
von den Wohnorten der Bauern, in der Koſtſpieligkeit der landſchaft⸗ 
lichen Taxe, in der niedrigen Beleihungsgrenze für diejenigen 
Güter, die von der Aufnahme einer Specialtaxe abſehen wollen, 
ſowie in der langen Dauer und Weitläufigkeit der ganzen An⸗ 
leiheoperation zu ſuchen ſein. Einen teilweiſen Erſatz für die 
Landſchaften liefern in einem Teil der Rheinprovinz die Raiff⸗ 
eiſenſchen Darlehnskaſſen, indem ſie nicht nur das Bedürfnis 
nach Perjonal-, ſondern auch das nach Realkredit befriedigen; 
letzteres freilich in der in der Rheinprovinz allgemein üblichen 
Weiſe der Gewährung verhältnismäßig kurzer Kreditfriſten. Der 
Verſuch, dieſe ſegensreich wirkende Inſtitution auch in andere 
Provinzen zu verpflanzen, dürfte nur dort gelingen, wo ſich zu⸗ 
gleich die ſpecifiſchen Vorausſetzungen für dieſelbe finden. 
Dieſe ſind: eine dichte, ortſchaftsweiſe zuſammenwohnende Be⸗ 
völkerung, deren vermögendere und gebildetere Beſtandteile ſich 
der mühevollen Aufgabe zu unterziehen bereit ſind, die Leitung 
und Unterſtützung der Kaſſen zu übernehmen, und deren ärmere 
Glieder zugleich genug geſunden Sinn beſitzen, um ſich dieſer 
Leitung zu unterwerfen und dieſelbe auch ihrerſeits zu unter- 
ſtützen. Wo dieſe Vorausſetzungen gegeben ſind, da ſollte die 
Ausbreitung der ländlichen Kreditgenoſſenſchaften mit Energie 
betrieben werden. Bewähren ſich dieſelben in einer Gegend, ſo 
iſt damit zugleich auch das Vorhandenſein der erforderlichen 
Grundlagen für den weiteren genoſſenſchaftlichen Zuſammenſchluß 
der kleineren Beſitzer zu anderen Zwecken erwieſen, wie eben⸗ 
falls das Beiſpiel der Rheinprovinz und Heſſen-Darmſtadts 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 87 


zeigt. Wo dieſe Vorausſetzungen indes fehlen, wie zum 
Teil in unſeren öſtlichen Provinzen, da wird auf andere 
Weiſe für eine Befriedigung zunächſt der Bedürfniſſe nach Real- 
kredit geſorgt werden müſſen. Daß dieſe Befriedigung nicht 
durch kapitaliſtiſche Aktiengeſellſchaften geſchehen ſoll, hat die 
Geſchichte der Hypothekenbanken gezeigt; der Kredit, den ſie ge— 
währen, iſt zu teuer, und das Intereſſe der Grundbeſitzer von 
ihnen nur gewahrt, ſoweit es mit dem Intereſſe des beweglichen 
Kapitals zuſammenfällt. Wenn es demnach nicht das Geld— 
kapital und ſeine Organiſationen ſind, ſo werden es andere 
Kreiſe und Inſtitutionen ſein müſſen: die größeren Grundbeſitzer 
und ſonſtigen ländlichen Honoratioren, die Kommune oder der 
Staat, welche den dem Bauern erforderlichen Kredit für ihn 
zu organiſieren haben, es ſei denn daß aus den Bauern-Vereinen 
ſelbſt eigene bäuerliche Landſchaften erwachſen. Zunächſt wird 
aber wohl darnach zu ſtreben ſein, daß die alten ritterſchaftlichen 
Landſchaften die Gewährung von Realkredit an die Bauern 
möglichſt erleichtern und fördern. 

Neben den Darlehnskaſſenvereinen, wo ſolche beſtehen, ſollten 
die Sparkaſſen und Provinzialhülfskaſſen vorzüglich dem Per⸗ 
ſonalkredit dienen, deſſen Organiſation ja noch mehr vernachläſſigt 
erſcheint als die des Realkredits. Wenn ich hier der genoſſen— 
ſchaftlichen Vorſchußvereine und Volksbanken nach dem Syſtem 
Schulze in ihrer Beziehung zur Landwirtſchaft nicht beſonders 
gedenke, ſo geſchieht es deshalb, weil ich glaube, daß der von 
denſelben ins Auge gefaßte Zweck durch die Darlehnskaſſenvereine 
beſſer erreicht wird. Auch tritt neuerdings die Forderung, die 
Reichsbank den Bedürfniſſen des Landwirts nach Perſonalkredit 
mehr als bisher dienſtbar zu machen, immer deutlicher 
hervor. Dies könnte entweder geſchehen, indem die Centralſtelle 
und ebenſo die verſchiedenen Filialen der Reichsbank dem Land- 
wirt ſowohl im Wechjeldisfont- wie im Lombardgeſchäft längere 
Kreditfriſten, etwa von 6—12 Monaten, gewähren. Zu dieſem 
Zweck müßten ſie ſich dann freilich auch durch Ausgabe lang— 
terminlicher Obligationen oder auf anderen Wegen längeren 


88 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


Kredit zu verſchaffen in der Lage ſein. Oder es könnte ſo ge⸗ 
ſchehen, daß ein Teil des dem Reich aus der Geſchäftsführung 
der Reichsbank zufließenden Reingewinns den Einzelſtaaten zum 
Zweck der Unterſtützung des landwirtſchaftlichen Kredits über⸗ 
geben würde. Dieſe Summen wären dann vielleicht den Provinzial⸗ 
hülfskaſſen zum Zweck der Erhöhung ihres Dotationsfonds zuzuteilen 
und dieſe eben mit der Organiſation des Perſonalkredits ſpeciell für 
den mittleren und kleinen Grundbeſitz zu betrauen. Zu dieſem 
Zweck müßten ſie ſich dort, wo Darlehnskaſſenvereine in genügender 
Anzahl beſtehen, mit dieſen in Rapport ſetzen und in der Perſon 
von eigenen Kaſſenvereins-Inſpektoren eine Mittelinſtanz ſchaffen, 
welche die Aufgaben hätte, einesteils die Darlehnskaſſenvereine 
zu kontrollieren und banktechniſch zu beraten und anderenteils 
die für die Provinzialhülfskaſſen erforderlichen Nachrichten über 
den Vermögensſtand und die Kreditwürdigkeit der Kredit ſuchen⸗ 
den Bauern zu beſchaffen und endlich die Verhandlungen zwiſchen 
den Kreditnehmern und den Provinzialhülfskaſſen möglichſt zu 
erleichtern und zu fördern. Wo Danrlehnskaſſenvereine nicht 
beſtehen und ſich auch nicht begründen laſſen, da würde auch für 
die Herſtellung beſonderer örtlicher Organe des Perſonalkredits 
zu ſorgen ſein. Ob ſich hierfür die beſtehenden Sparkaſſen eignen 
würden, deren Organismus nach einem Vorſchlage des ſchle⸗ 
ſiſchen landwirtſchaftlichen Centralvereins durch Einrichtung einer 
eigenen Abteilung für den Perſonalkredit zu vervollſtändigen 
wäre, oder ob hierfür eigene lokale Organe der Provinzialhülfs⸗ 
kaſſe zu begründen wären, möchte ich fürs erſte dahingeſtellt 
ſein laſſen. Im ganzen aber wird man bei Löſung des 
ſchwierigen Problems ſowohl für die Befriedigung des legitimen 
Kreditbedürfniſſes nach Möglichkeit zu ſorgen als auch zu ver— 
meiden haben, daß durch allzu leichte Kreditgewährung der 
Bauer zu unvorſichtiger oder gar leichtfertiger Kreditbenutzung 
verleitet werde. 

Iſt aber einmal für das vorhandene Kreditbedürfnis des 
Bauern durch entſprechende Organiſationen in genügender Weiſe 


Bi 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 89 


geſorgt, ſo wird man den gewerbsmäßigen Geldverleihern und 
Güterausſchlächtern ihr Handwerk legen können und legen müſſen. 
Eine Anzahl von landwirtſchaftlichen Vereinen — nämlich 


die Vereine für Heſſen, Schleswig-Holſtein ꝛc. — ſprechen ſich 


ſehr entſchieden für eine Erſchwerung des Güterausſchlachtens 
aus. Zu dieſem Zweck bringen ſie u. a. die Einführung einer 
hohen Gewerbeſteuer in Vorſchlag. Mir ſcheint jedoch, daß dieſes 
Mittel in Zeiten, in denen die gewerbsmäßige Güterparzellierung 
überhaupt vorteilhaft iſt, nur dahin führen würde, daß die den 
Güterausſchlächtern auferlegte Steuer von ihnen auf ihre Opfer 
abgewälzt werden würde. Auch die ſonſtigen Mittel, welche von der 
Geſetzgebung einiger deutſcher Staaten in Anwendung gebracht ſind, 
um das Güterausſchlachten zu erſchweren, haben ſich nicht alle ge— 
nügend bewährt: ich denke hier an die ältere preußiſche, an die 
bayeriſche, kurheſſiſche und württembergiſche Geſetzgebung. So 


entſteht denn die Frage, ob es nicht möglich und zugleich ge— 


raten wäre, die gewerbsmäßige Parzellierung von Grundſtücken 
als gemeinſchädlich überhaupt zu verbieten und unter polizeiliche 
Strafe zu ſtellen. Wenn das deutſche Handelsgeſetzbuch den ge— 
werbsmäßigen Kauf und Verkauf von Grundſtücken in der Ab⸗ 
ſicht, dadurch einen Gewinn zu erzielen, nicht zu den Handels— 
geſchäften zählt, d. h. denſelben nicht den für Handelsgeſchäfte 
beſtehenden handelsrechtlichen Normen unterwirft, ſo dürfte hierin 
bereits ein Fingerzeig für die weitere Behandlung dieſes Gegen— 
ſtandes enthalten ſein. Und in der That liegt hier kein Zweig 
des Handels vor, dem eine volkswirtſchaftlich nützliche Funktion 
innewohnt. Denn den wenigen möglichen, aber nicht notwendigen 
Vorteilen der gewerbsmäßigen Güterparzellierung ſtehen über— 
wiegende und zudem ſicher eintretende Nachteile gegenüber. Ich 
habe bereits früher auf dieſelben hingewieſen und faſſe ſie hier 
nochmals kurz dahin zuſammen, daß die gewerbsmäßige Güter⸗ 
parzellierung in der Regel ebenſowohl zum Ruin derjenigen, von 
denen die Güter gekauft, als auch derjenigen, denen ſie ganz 
oder ſtückweiſe verkauft werden, ſowie überhaupt zur Ver⸗ 
ſchlechterung der Grundeigentumsverteilung führt. Auch arbeiten 


90 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


ſich gewerbsmäßige Güterausſchlächter und wucheriſche Geldver⸗ 
leiher gegenſeitig in die Hände, ſo daß die Güterparzellierung 
den Schlußakt einer Leidensgeſchichte und zugleich den Beginn einer 
Kette von weiteren Vexationen bezeichnet. 

Es wird daher in einem der Berichte ausdrücklich darauf 
hingewieſen, daß wer dem Wucher auf dem Lande wirkſam 
begegnen will, den Schlußakt desſelben, bei dem häufig gerade der 
größte Gewinn realiſiert wird und auf den alles andere gleich- 
ſam nur vorbereitend hinweiſt, d. h. die gewerbsmäßige Güterzer⸗ 
ſtückelung zu beſeitigen ſuchen muß. Dieſe durch ein Verbot zu 
treffen, iſt nun zwar nicht leicht, da ſie ſich häufig in die Form des 
Auftrages kleidet. Doch genießen die Güterausſchlächter in 
ihrem Bezirk vollſtändige Notorietät. Verzeichnet doch eine 
Aachener Feuerverſicherungsgeſellſchaft die Güterausſchlächter auf 
ihrer ſchwarzen Tafel, ſo daß, wenn ein Hof in den Beſitz einer 
ſolchen Perſon gelangt, derſelben der Verſicherungsvertrag ſofort 
gekündigt wird. Auch bezweifle ich nicht, daß es einer ſach⸗ 
gemäßen Formulierung der zu verbietenden Handlung durch den 
Geſetzgeber ſowie einer der Intention des Geſetzes, dem all⸗ 
gemeinen Rechtsgefühl und den konkreten Einzelheiten des ge⸗ 
gebenen Falls gleichmäßig Rechnung tragenden Rechtſprechung 
unſerer Richter gelingen werde, das Richtige zu treffen, wie in 
der ungleich ſchwierigeren Frage der Definition und Anwendung 
des Wucherbegriffes das Richtige getroffen zu ſein ſcheint. 
Wenigſtens wird in mehreren der uns vorliegenden Berichte der 
günſtigen Folgen des Deutſchen Reichsgeſetzes betreffend den 
Wucher vom 24. Mai 1880 für den Bauernſtand gedacht. Na⸗ 
mentlich der Bericht des poſenſchen Centralvereins ſpricht es 
ſehr beſtimmt aus, daß es mit dem Bauernſtand einiger Teile 
der Provinz nie ſoweit gekommen wäre, wenn dieſes Geſetz und 
die erſt in den letzten Jahren geſchaffenen Kreditorganiſationen 
früher beſtanden hätten. 

Sollte ſich indes der oben angegebene Weg, die gewerbsmäßige 
Güterausſchlachtung durch die Geſetzgebung auszuſchließen, als un⸗ 
beſchreitbar erweiſen, ſo müßten wenigſtens die Bauernvereine mit 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 91 


allen ihnen zur Verfügung ſtehenden Mitteln der Güterausſchlach— 
tung entgegenzuwirken ſuchen. Dies könnte u. a. durch Unterſtützung 
in Verfall geratener Bauern, durch Ankauf ihrer Güter ſowie 
durch Warnung vor dem Treiben der Güterausſchlächter geſchehen. 

Doch kann mir entgegnet werden, daß die Reform des Erb— 
rechts und die Organiſation des landwirtſchaftlichen Kredits 
doch nur im ſtande ſind, den Bauer vor der Überſchuldung 
zu bewahren; was aber dann, wenn er bereits überſchuldet iſt? 
Soll man ihn, wenn man den privaten Exekutor, den Güteraus— 
ſchlächter, beſeitigt, nun ohne weiteres der ſtaatlichen Zwangs- 
vollſtreckung überlaſſen? Ich ſage entſchieden: Nein! Schon 
oben habe ich darauf hingewieſen, daß die Bauernvereine in die 
leer gewordene Lücke eintreten könnten. Und wo dieſelben fehlen 
oder ſich nicht darauf einlaſſen wollen und wo die Zwangsvoll— 
ſtreckung daher größere Dimenſionen annimmt, da ſollte der Staat 
vor außerordentlichen Maßregeln nicht zurückſchrecken, ähnlich wie 
er ja auch am Anfang des Jahrhunderts zum Schutze der Grund— 
beſitzer Moratorien erlaſſen hat. Auch könnte der Staat oder 
die Gemeinde ſolche zur Subhaſtation reife Güter ankaufen, um 
ſie damit dem Bauernſtande zu erhalten. 

Das ſetzt allerdings den ernſten Willen zu einer ſchöpferiſchen 
Domänenpolitik voraus, welche ich übrigens mit dem Augenblick 
für möglich und zugleich für angezeigt halte, in dem die Staats⸗ 
domänen aus dem Reſſort des Finanzminiſteriums ausgeſchieden 
ſind. Fortan ſollten die Domänen nicht nur Ertragsquellen, 
ſondern zugleich die wichtigſten Mittel zur Schaffung und Er— 
haltung geſunder Grundbeſitz- und Socialverhältniſſe auf dem 
Lande ſein. Wo es gilt, einen untergehenden Bauernſtand zu 
erhalten, da kaufe der Staat die dem Verfall entgegengehenden 
Güter an, und wo der Bauernſtand verſchwunden iſt, da benutze 
er die vorhandenen Domänen, um neue Bauern- und Häusler— 
ſtellen zu begründen. Ein ſolches Vorgehen des Staates wäre 
um jo wichtiger, als durch dasſelbe auch dem privaten Lati— 
fundienbeſitz ein nachahmungswertes Beiſpiel gegeben werden 
würde. Durch einige mißlungene Verſuche ſollte ſich die Do— 


92 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


mänenverwaltung von weiteren Verſuchen nicht abhalten laſſen, 
zumal wenn das Mißlingen durch die ungeſchickte Durchführung 
genügſam erklärt werden kann. Die Frage der Domänenzerlegung 
iſt für diejenigen Gegenden, in denen der Bauernſtand bereits ver⸗ 
ſchwunden iſt oder doch zu verſchwinden droht, nun einmal ge⸗ 
ſtellt; es wäre daher wünſchenswert, daß zur Löſung derſelben 
der Verſuch ihrer Durchführung nach einem wohldurchdachten 
Plan zunächſt in kleinen Dimenſionen gemacht werden würde. 

Schließlich füge ich noch hinzu, daß der Staat hinfort auch 
alle allgemeinen Maßregeln der Geſetzgebung und Verwaltung 
auf die Frage hin, ob und wiefern ſie der Erhaltung des 
Bauernſtandes förderlich ſein können, prüfen ſollte. 

Zugleich kann ich konſtatieren daß hiermit bereits ein er⸗ 
freulicher Anfang gemacht iſt, indem die Intereſſen des Grund⸗ 
beſitzes in den letzten Jahren ſeitens der Staatsregierung 
eine viel unbefangenere Prüfung und zugleich eingehendere Be⸗ 
rückſichtigung erfahren haben als in dem vorhergegangenen 
Jahrzehnt. 

Ich erlaube mir dieſes Urteil durch zwei Beiſpiele zu 
belegen. 

Bei Beratung des Entwurfs zur Subhaſtationsordnung vom 
15. März 1869 und zum Geſetz über den Eigentumserwerb und 
die dingliche Belaſtung der Grundſtücke ꝛc. vom 5. Mai 1872 
vermochten die den Intereſſen des Grundbeſitzes Rechnung 
tragenden Geſichtspunkte, welche nunmehr in dem neueſten Geſetz⸗ 
entwurf, betreffend die Zwangsvollſtreckung in das unbewegliche 
Vermögen, volle Berückſichtigung gefunden haben, noch nicht 
durchzudringen. 

Zugleich darf bei dieſer Gelegenheit wohl hervorgehoben 
werden, daß es weſentlich liberale Abgeordnete — ich nenne hier 
namentlich den jetzigen Oberbürgermeiſter Dr. Miquel und den 
Dr. Lasker — waren, welche damals mit ebenſo großer Ent⸗ 
ſchiedenheit wie Sachkenntnis einen Standpunkt vertraten, welcher 
gegenwärtig von allen Parteien und namentlich von der konſer⸗ 
vativen Partei vertreten wird. Während der Vertreter der Staats⸗ 


ai le ci 


Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 93 


regierung damals aber aus formalzjuriftifchen Gründen wider- 
ſprach, hat die Staatsregierung jetzt, durch die Macht der 


Thatſachen eines Beſſeren belehrt, ſelbſt die Initiative ergriffen, 


um den von ihr damals zurückgewieſenen Gedanken in die Ge- 
ſetzgebung einzuführen. 

Ein anderes Beiſpiel iſt ſodann folgendes. Gegenüber der 
außerordentlich maßvollen Forderung der Provinz Hannover nach 
Einführung des Syſtems der Höferolle für die Vererbung des 
bäuerlichen Grundbeſitzes äußerte ſich noch eine im Jahre 1872 
verfaßte Denkſchrift des preußiſchen Miniſteriums ſchlechterdings 
ablehnend !. Im Jahre 1874 wurde dann aber doch, allerdings 
in einer durch die Staatsregierung ſowie das Abgeordnetenhaus 
weſentlich verſtümmelten Geſtalt, die Vorlage des hannoverſchen 
Provinziallandtages zum Geſetz erhoben, und im Jahre 1879 
entſchloß ſich die Staatsregierung, das hannoverſche Höferecht, 
zum Teil ſogar über die urſprüngliche Vorlage des hannoverſchen 
Provinziallandtages hinaus, auszubauen. Ja im Jahre 1880 
geſchah das, was im Jahre 1872 als unerhört und unvereinbar 
mit den Traditionen der preußiſchen Geſetzgebung angeſehen 
wurde, nämlich daß die Staatsregierung den Gedanken einer 
Ausdehnung des hannoverſchen Höferechts auf die altpreußiſchen 
Provinzen des Oſtens ins Auge faßte. Sollte da nicht auch 
die weitere Hoffnung begründet ſein, daß die Staatsregierung 
in Zukunft, nach Maßgabe der gewonnenen Einſicht, den be— 
rechtigten Intereſſen des Grundbeſitzes ihre Aufmerkſamkeit in noch 
höherem Grade zuwenden werde? 

Doch ich eile zum Schluß, indem ich die oben gegebenen 
Anregungen in den Antrag zuſammenfaſſe: 

Das Landesökonomiekollegium wolle die Staatsregierung 
erſuchen, 

eine Kommiſſion niederzuſetzen, deren Aufgabe es ſein 
würde, ſich einerſeits mit der weiteren Klarſtellung der 


1 Entwurf eines Geſetzes, betreffend das bäuerliche Recht in der Pro⸗ 
vinz Hannover, nebſt Begründung. Als Manuſkript gedruckt. Berlin, Geh. 
Ober⸗Hofbuchdruckerei. 1872. 


94 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 


gegenwärtigen Lage des preußiſchen Bauernſtandes und 
ſeiner Entwickelung in den nächſten Jahren und anderer⸗ 
ſeits mit der Beratung und Vorbereitung derjenigen 
Maßregeln zu beſchäftigen, welche der gegenwärtigen 
Notlage des Bauernſtandes zu ſteuern und ſeine Stellung 
zu befeſtigen geeignet wären. 

Zum Schluß geſtatten Sie mir noch einen Wunſch aus⸗ 
zuſprechen. 

Der bekannte alte Satz: „Handwerk hat einen goldenen 
Boden“ iſt in ſeiner Anwendbarkeit auf die Gegenwart vielfach 
zweifelhaft geworden. 

Auch von dem Bauernſtande ſagt der Dichter: 


Nimm Hack' und Spaten, grabe ſelber, 
Die Bauernarbeit macht dich groß, 
Und eine Herde goldner Kälber, 
Sie reißet ſich vom Boden los! 
Sorgen wir dafür, ein jeder an ſeinem Platz, daß der vom 
Dichter ausgeſprochene Gedanke auch in Zukunft wahr bleibe, 
wie er es in der Vergangenheit war! 


Auf Grund dieſes Referats beſchloß das Landesökonomie⸗ 
kollegium einſtimmig: 
die Staatsregierung zu erſuchen 

1. ihre fortgeſetzte Aufmerkſamkeit der weiteren Klar⸗ 
ſtellung der gegenwärtigen Lage des ländlichen 
Grundbeſitzes, namentlich ſeiner Verſchuldung und 
ſonſtigen Belaſtung ſowie ſeiner Bewegung, zu 

widmen und 
2. diejenigen Maßregeln zu ergreifen, welche die 
Stellung des Bauernſtandes zu befeſtigen im 

ſtande wären. 


III. 


Die gegenwärtige Tage der deutſchen 
Tandwirtſchaft. 


Vortrag, gehalten auf Veranlaſſung der Geheſtiftung in Dresden 
Februar 1888. 


H. A.! Wenn man heute von der Lage der deutſchen Landwirt— 
ſchaft ſpricht, ſo verſteht man darunter vornehmlich die Lage der— 
jenigen, welche infolge der Selbſtbewirtſchaftung oder Verpachtung 
ihrer Güter eine Grundrente aus denſelben beziehen. Somit han⸗ 
delt es ſich in erſter Linie um die ländlichen Grundeigentümer 
und erſt in zweiter um die ländlichen Pächter und Arbeiter 
ſowie die an dem Gedeihen der Landwirtſchaft indirekt beteiligten 
Klaſſen. 

Die Höhe der Grundrente wird aber wieder durch den 
Stand der Guts wirtſchaft ſowie die Einwirkung der Volks- und 
Weltwirtſchaft auf dieſelbe beſtimmt. Wegen der innigen Be- 
ziehungen, die zwiſchen der Technik des Landbaues und der 
Landwirtſchaft beſtehen, wird freilich auch die techniſche Seite 
des Landbaues nicht ganz überſehen werden dürfen. 

Die jeweilige Höhe der Grundrente eines Gutes ergiebt ſich, 
wenn man von den Geldroherträgen desſelben die Betriebskoſten 
nebſt der Verzinſung und Amortiſation des geſamten nicht un— 
trennbar mit dem Grund und Boden verbundenen Kapitals 
u. ſ. w. ſowie einen mittleren Unternehmergewinn, der in 


96 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 


engſter Beziehung zur Lebenshaltung der Eigentümer und Pächter 
zu ſtehen pflegt, abzieht. Die Grundrente dient zur Verzinſung 
des Grundkapitals im weiteſten Sinne, alſo einſchließlich des 
im Grund und Boden fixierten und mit demſelben untrennbar 
verbundenen Kapitals. Gehört das Grundkapital ausſchließlich 
dem Grundeigentümer, ſo fällt ihm allein die Grundrente zu; 
haben aber auch andere Perſonen, die Gläubiger des Grund⸗ 
eigentümers, Anteil an demſelben, ſo muß er die Grundrente mit 
ihnen teilen. 

Sinken nun die Geldroherträge und bleiben die Ausgaben 
bezw. der Unternehmergewinn unverändert, oder ſteigen die 
Ausgaben bezw. der Unternehmergewinn und bleiben die 
Geldroherträge unverändert, ſo muß die Grundrente ſinken 
bezw. das Grundkapital ſich ſchlechter verzinſen. Über⸗ 
ſteigen die Roherträge die Ausgaben nur um ein weniges oder 
decken gar die Roherträge die Ausgaben nicht mehr, ſo daß die 
Grundrente bedeutend unter den landesüblichen Zinfuß ſinkt oder 
gar vollſtändig verſchwindet, ſo kann man in erſterem Falle von 
einer landwirtſchaftlichen Kriſis, in letzterem von einem Notſtande 
ſprechen. Die Kriſis und der Notſtand können ſich zu einer 
öffentlichen Kalamität ſteigern, wenn die Zahl der von derſelben 
betroffenen Rentenbezieher eine große iſt und die Kriſis indirekt 
auch auf andere Berufskreiſe ihren Einfluß ausübt. 


I. 


Bei Beantwortung der Frage, ob die deutſche Landwirtſchaft 
ſich gegenwärtig in einer Kriſis oder gar in einem Notſtand be⸗ 
findet, ſtehen ſich in der wiſſenſchaftlichen Litteratur, in der 
Tagespreſſe und in den Parlamenten, wenn wir von unterge⸗ 
ordneten Meinungsnuancen abſehen, drei Hauptanſichten gegen⸗ 
über. | 

Unter denſelben wird die eine hauptſächlich von den Ver⸗ 
tretern des beweglichen Kapitals, des Handels und zum Teil 
auch der Induſtrie vertreten. Sie gelangt zum Ausdruck vor⸗ 
nehmlich in der liberalen Preſſe und negiert das Vorhandenſein 


Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 97 


ſowohl eines wirklichen Notſtandes als einer Kriſis, indem ſie 
nur eine Depreſſion der wirtſchaftlichen Lage der Landwirte zu— 
giebt. Aber auch dieſe wird nur als eine im Verlauf der wirt- 
ſchaftlichen Entwickelung mit naturgeſetzlicher Regelmäßigkeit auf: 
tretende Erſcheinung aufgefaßt, die übrigens nur vorübergehender 
Natur iſt. Geſtützt wird dieſe Anſicht durch die Ausſagen ein— 
zelner Landwirte, die ſich in relativ günſtigen Verhältniſſen 
befinden, und durch das äußere Auftreten mancher Großgrund— 
beſitzer in den Städten, das den Anſchein großer Wohlhabenheit 
erzeugt. Im Zuſammenhange mit dieſer Diagnoſe wird jede In— 
tervention des Staates zu Gunſten der Landwirtſchaft abgewieſen, 
weil ſie den übrigen Erwerbszweigen, namentlich dem Handel 
und der Induſtrie, ſowie den fixierten Exiſtenzen und Lohnar⸗ 
beitern ſchade und unter den Landwirten vornehmlich den großen 
und größten Grundbeſitzern, alſo denjenigen, die eine Unter: 
ſtützung am wenigſten bedürfen, nütze. 

Übereinſtimmend mit dieſer erſten Anſicht erkennen auch die 
Socialiſten einen ſpecifiſchen Notſtand der ländlichen Grundbeſitzer 
nicht an. Die allgemeine Depreſſion ſämtlicher Erwerbszweige 
dagegen wird von ihnen auf die ſich in der Gegenwart immer 
ungünſtiger und excentriſcher geſtaltende Verteilung des Ein— 
kommens und Vermögens zurückgeführt. Je mehr ſich das Kapital 
in einigen wenigen Händen konzentriere und je höher das abſolute 
von dieſen Bevorzugten bezogene Renteneinkommen trotz des 
relativen Sinkens der Rente anwachſe, deſto weniger ſeien ſie in 
Ä der Lage, ihren geſamten Rentenbezug zu verbrauchen. Da der 
; nicht perſönlich verbrauchte Reſt Fapitalifiert wird, ſo wachſe der 
4 Kapitalbeſitz lawinenartig. Von ihm, der eine produktive Ver⸗ 

| wendung ſucht, gehe der Anreiz zur Steigerung der Produktion 

3 ins unermeßliche aus, während doch die Maſſen keine vermehrte 
| Kaufkraft aufweiſen, da fie in ihrem Einkommen auf die Be⸗ 
ſtreitung der Lebensnotdurft beſchränkt ſeien. Und auch die 
kapitalkräftigen Glieder der Geſellſchaft, deren Bedürfniſſe ſchon 
durch die bisherige Produktion vollſtändig befriedigt ſeien, können 


dem weiteren Anwachſen der Produktion eine entſprechende 
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 7 


8 
* 


98 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 


Steigerung der Nachfrage nicht entgegenbringen. Demnach wird 
die gegenwärtige allgemeine Notlage auf eine unzulängliche und 
ungerechte Verteilung des Einkommens und Vermögens zurück⸗ 
geführt und die Vorbedingung für dieſelbe in der heutigen 
Rechtsordnung und namentlich in der Inſtitution des Privat⸗ 
eigentums und Erbrechtes erblickt. Eine Beſſerung dieſer nach 
Anſicht der Socialiſten durch und durch ungeſunden Zuſtände, 
unter denen die von ihren Arbeitgebern um einen Teil ihres 
Arbeitsproduktes gebrachten Arbeiter am meiſten leiden, wäre 
ſomit nur durch Beſeitigung des Privateigentums und Erbrechts 
an den Produktionsmitteln bezw. am Grund und Boden zu 
erreichen. 

Von der erſten und zweiten Anſicht gleich verſchieden iſt eine 
dritte, die hauptſächlich von einer großen Anzahl landwirtſchaft⸗ 
licher Fachblätter und einer kleineren Zahl politiſcher Zeitungen, 
meiſt konſervativer Richtung, vertreten wird. Sie hat in den 
letzten Jahren, in engſtem Zuſammenhange mit dem Sinken der 
Preiſe faſt aller Produkte des Landbaues, eine ſehr große An⸗ 
zahl von Anhängern in den landwirtſchaftlichen und dieſen nahe⸗ 
ſtehenden Kreiſen ſowie in den politiſchen Vertretungskörpern 
gefunden. Nach dieſer Anſicht iſt die Notlage der Landwirte eine 
allgemeine und äußerſt bedenkliche, indem ſie bei längerer Fort⸗ 
dauer einen großen Teil der jetzigen Grundbeſitzer und unter 
ihnen namentlich den Bauernſtand mit dem Verluſte ihres Be⸗ 
ſitzes bedroht. Das in den Städten mühelos erworbene Kapital 
werde dann die maſſenhaft zur Subhaſtation gelangenden Güter 
zu niedrigen Preiſen zuſammenkaufen. Auch dränge die unrentabel 
gewordene Landwirtſchaft zum Aufgeben des Ackerbaues und zur 
Umwandlung der Acker in Wieſen und Weiden. Der Stand der 
hiſtoriſchen Beſitzer aber, welcher dem Staate im Kriege und im 
Frieden die feſteſte Stütze geboten habe, werde zum Proletariat 
herabgedrückt werden. Als letzte Urſache dieſer bedenklichen Zu⸗ 
ſtände werden bezeichnet: Der ungenügende Schutz, den die 
deutſche Landwirtſchaft gegenüber der überſeeiſchen und ruſſiſchen 
Konkurrenz bis vor kurzem gefunden habe, die Hochwertigkeit 


er a 
4 


Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 99 


unſerer Valuta und die Entwertung des Silber- und Papier⸗ 
geldes in einer Reihe mit uns in der Getreideproduktion kon— 
kurrierender Staaten ſowie die Übermacht, die das bewegliche 
Kapital infolge der modernen Geſetzgebung über das Grund— 
kapital erlangt habe. Die dem hiſtoriſchen Grundbeſitzerſtande 
drohende Gefahr könne daher nur vermieden werden durch Schutz— 
zölle, welche ſo hoch ſind, daß ſie den Vorſprung, den das Aus— 
land in ſeinen billigeren Produktionskoſten vor dem Inlande 
hat, ausgleichen, durch Begründung einer bimetalliſtiſchen 
Staatenunion, damit der durch die angebliche Goldknappheit und 
durch die Entwertung der Valuta in einer Reihe von Ländern 
gegebene künſtliche Anreiz zum Export ihrer landſchaftlichen Pro— 
dukte beſeitigt und die Lage der verſchuldeten Gutsbeſitzer gegen- 
über ihren Gläubigern verbeſſert werde. Endlich bildet die 
Forderung der Übernahme ſämtlicher hypothekariſcher Schulden 
der Grundbeſitzer durch den Staat und die Herabſetzung der an 
dieſen zu zahlenden Zinſen auf das Niveau der Zinſen der 
Staatsſchulden zwar noch keinen integrierenden Beſtandteil dieſes 
Programmes, dieſelbe hat ſich aber gleichwohl mehrfach an die 
Offentlichkeit gewagt. 

Einzelne Schriftſteller haben dann noch von dieſen drei 
weitverbreiteten Standpunkten abweichende Anſichten über die 
gegenwärtige Lage der Landwirtſchaft ausgeſprochen. 

Indes genügt es, die oben charakteriſierten drei Standpunkte 
im Auge zu haben. | 

Da es ſich in dieſer Arbeit lediglich um eine Diagnoſe der 
gegenwärtigen Lage der deutſchen Landwirtſchaft handelt, 
jo können aus der folgenden Betrachtung namentlich alle die- 
jenigen Erklärungsverſuche fortbleiben, die über den Gegenſtand 
hinausgehen, ſei es nun, daß ſie die angeblich unbefriedigende 
Lage ſämtlicher Erwerbszweige auf die Goldknappheit und die 
Goldteuerung oder auf die fehlerhafte Vermögens- und Ein⸗ 
kommenverteilung zurückführen. Eine ſolche Vereinfachung des 
Problems iſt für unſere Zwecke nicht nur zuläſſig, ſondern ſogar 
geboten, weil die Lage der Landwirtſchaft gegenwärtig eine gleich 

7 * 


100 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 


unbefriedigende iſt in den Ländern mit Gold-, Silber-, Papier⸗ 
und ſogenannter hinkender Währung und weil ſie früher, na⸗ 
mentlich in den vierziger bis ſechsziger Jahren, eine ſehr befrie⸗ 
digende war trotz der beſtehenden von den Socialiſten ſtigma⸗ 
tiſierten Rechtsordnung. 


II. 


Um die gegenwärtige Lage der Landwirtſchaft in ihrer 
Eigenart zu erfaſſen, muß zunächſt in einigen Worten auf die 
hinter uns liegenden Decennien zurückgegangen werden. 

Nach Überwindung einer ſchweren Zeit trafen ſeit dem 
Schluß der 30 er Jahre eine Reihe von günſtigen Umſtänden 
zuſammen, um eine ſteigende Proſperität der deutſchen Land⸗ 
wirtſchaft im allgemeinen bis in die Mitte der 70 er Jahre und 
für den deutſchen Südoſten (Bayern) wenigſtens bis zu den 60er 
Jahren herbeizuführen. Zu dieſen Umſtänden gehörten die lange 
Friedenszeit und das Anwachſen der Bevölkerung, die Gründung 
des Zollvereins, das Aufblühen der inländiſchen Induſtrie und 
des Handels, der Ausbau eines dichten Chauſſee- und Eiſen⸗ 
bahnnetzes ſowie die Hebung der Binnenſchiffahrt, die Befreiung 
des bäuerlichen Bodens von den feudalen Laſten, die Arrondierung 
der großen und bäuerlichen Güter, die Gemeinheitsteilungen, das 
Eindringen rationeller Betriebsmethoden in die landwirtſchaftliche 
Praxis namentlich der größeren Güter, die Erleichterung und 
ſeit den 40 er Jahren die Freigebung der Getreideeinfuhr nach 
England, ſowie im Zuſammenhange mit allen dieſen Momenten 
die Vermehrung der landwirtſchaftlichen Produktion und zugleich 
die noch ſtärkere Vermehrung der Nachfrage nach ihren Erzeug— 
niſſen ſowie infolgedeſſen die Preisſteigerung derſelben. 

Die verbeſſerten Verkehrsmittel, die anfangs die heimiſchen 
Produkte der Induſtrie und des Landbaues dem Auslande zu⸗ 
geführt hatten, begannen nun aber allmählich auch die aus⸗ 
ländiſchen Produkte der billiger produzierenden Länder dem In⸗ 
lande zuzuführen. Beſchwerden über den Druck, den die in- 


Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 101 


ländiſchen Preiſe hierdurch zu erleiden anfingen, tauchten zuerſt 
in den 50 er Jahren über die auſtraliſche Wolle und in den 
60 er Jahren, zunächſt in Bayern, über das öſterreichiſche, un: 
gariſche und rumäniſche Getreide auf. Dieſelben kulminieren 
dann in den 70er und 80 er Jahren in den allgemeinen Klagen 
über den Preisdruck, den das ruſſiſche und überſeeiſche Getreide 
ſowie der Branntwein und Zucker der Hauptproduktionsländer 
auf den europäiſchen Markt ausüben. | 

Will man dieſe für die wirtſchaftliche Entwickelung Mittel- 
europas bedeutſame Thatſache begreifen und auf eine allgemeine 
Formel zurückführen, ſo kann man ſagen, daß die Weltwirtſchaft 
eben im Begriffe ſteht, in eine neue höchſt wichtige Phaſe ihrer 
Entwickelung zu treten. 

Was man für das Altertum und für das Mittelalter als 
Weltwirtſchaft bezeichnet hat, verdient nicht ganz dieſen Namen. 
Kommen doch in der alten Welt im weſentlichen nur die Be⸗ 
ziehungen der am mittelländiſchen Meer gelegenen Länder unter- 
einander in Betracht. Was darüber hinaus an ſporadiſchen 
Verbindungen der altklaſſiſchen Kulturvölker mit Afrika und dem 
ſüdweſtlichen Aſien, mit Indien und China, mit den Zinninſeln 
und den Nordſeeländern bekannt geworden iſt, war für das 
wirtſchaftliche Leben dieſer Völker nur von geringer Bedeutung, 
indem ſie aus den ferneren Ländern hauptſächlich nur Purpur⸗ 
muſcheln, koſtbare Gewänder, Seidenſtoffe, Gewürze und nur 
ausnahmsweiſe Getreide bezogen. Und auch das Mittelalter hat 
bis zu dem Zeitalter der großen Entdeckungen den Kreis dieſer 
Beziehungen nur nach dem Norden und Nordoſten Europas er— 
weitert. Aber auch jetzt noch, wie ſchon früher, blieb es für den 
Verkehr von Land zu Land, von Weltteil zu Weltteil charakte⸗ 
riſtiſch, daß den einzelnen weſt- und mitteleuropäiſchen Ländern 
aus nah und fern hauptſächlich nur diejenigen Waren zuge: 
führt wurden, die ſie ſelbſt gar nicht erzeugen konnten oder doch 
nicht genügend erzeugten. Namentlich die Zufuhr des Getreides 
aus den öſtlichen Ländern hat nur die Verteuerung desſelben im 
Weſten verhütet, da die eigenen Ernten hier der vorhandenen 


102 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 


Nachfrage, namentlich in Mißwachsjahren, nicht genügten. Sollen 
doch die Niederlande im 16. Jahrhundert trotz der hohen Technik 
ihres Landbaues nur ein Viertel ihres Getreidebedarfs ſelbſt 
produziert haben. Demnach wird bei der frühe eingetretenen 
Induſtrieblüte dieſes Landes auch ſchon für die dem 16. voran⸗ 
gegangenen Jahrhunderte angenommen werden dürfen, daß ihre 
Getreideproduktion dem inländiſchen Bedarf nicht genügt habe. 
Dieſelbe Bedeutung der Ergänzung des fehlenden Bedarfs hatten 
auch die anderen aus den Oſtſeeländern, aus Polen und Rußland 
durch Vermittlung namentlich hanſeatiſcher Kaufleute dem Weſten 
zugeführten Produkte: außer dem Getreide waren dies vornehm⸗ 
lich Wachs, Häute, Pelzwerk, Hederichsöl, Seehundſchmiere, Pech, 
Blei, Eiſen u. a. m. 

Eine Ausnahme von der Regel, daß die den einzelnen weſteuro⸗ 
päiſchen Ländern aus dem Auslande zugeführten Rohprodukte 
der inländiſchen Produktion nicht ſchädlich waren, ſondern die⸗ 
ſelbe in willkommener Weiſe ergänzten, bilden nur die im 
Altertum aus Karthago und Sicilien in Rom zuſammenfließenden 
Getreidemaſſen, welche die Preiſe des italiſchen Getreides weſent⸗ 
lich drückten und die Latifundienbildung begünſtigt zu haben 
ſcheinen. 

Dieſer Charakter des Welthandels ändert ſich mit der Auf- 
findung des Seeweges nach Indien und der Entdeckung Amerikas. 
Die ſeit dem 16. Jahrhundert in großen Maſſen nach Europa 
ſtrömenden Edelmetalle, namentlich das Silber, üben jetzt auf 
den europäiſchen Bergbau inſofern einen Einfluß aus, als ſie 
ihn in den weniger ergiebigen Bergwerken nicht mehr lohnend er⸗ 
ſcheinen laſſen. Aber auch jetzt noch beſchränkt ſich im übrigen 
der Import Europas weſentlich auf Gegenſtände hohen ſpecifiſchen 
Wertes: außer den Edelmetallen auf Edelſteine, Gewürze, Droguen, 
koſtbare animaliſche Produkte, wie Seide, Federn und Elfenbein, 
endlich auch ſeltene Manufakte der Leder-, Metall- und Tertil- 
induſtrie, wie ſie namentlich dem ſtilvollen Kunſtſinn und der ma⸗ 
nuellen Geſchicklichkeit der aſiatiſchen Kulturvölker zu verdanken 
find. In den nächſten Jahrhunderten belebt ſich dann die Schiff: 


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Be Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 103 


fahrt auf dem atlantiſchen Ocean immer mehr. Auch der un— 


geheure pacifiſche Ocean, der bis dahin im Weltverkehr nur als 
trennendes Element gewirkt hatte, wird jetzt durch Vermittelung 
einer regelmäßigen Schiffahrt dem Handel dienſtbar gemacht; 
endlich wächſt in Auſtralien eine neue durch ihren Gold- und 
Diamantenreichtum, ſowie durch ihre Schafzucht ausgezeichnete 
Welt empor. Neben ſeiner Extenſivität nimmt der Welthandel 
jetzt auch an Intenſivität erſtaunlich zu. Aber noch bis in die 
Mitte unſeres Jahrhunderts bleiben von demſelben, wenigſtens 
ſoweit es ſich um die Überwindung großer Entfernungen handelt, 
die landwirtſchaftlichen Produkte des inneren Rußland ſowie der 
überſeeiſchen Länder wegen ihrer hohen Frachtkoſten größtenteils 
ausgeſchloſſen. 

Erſt der, um dieſe Zeit erfolgten außerordentlichen Ver— 
mehrung des beweglichen Kapitals, der Vervollkommnung 


der Technik und ihrer Einwirkung auf die Verkehrswege und 


Verkehrsmittel ſowie der Verbilligung der Frachten gelingt es 
ſchließlich, die Produkte des jungfräulichen, im ganzen leicht zu 
bearbeitenden und in ſeinen Erträgen ſicheren Bodens jener 
fernen Länder dem weſtlichen und mittleren Europa in uns 
geheuren Maſſen zuzuführen. Welchen Einfluß der Eintritt der 
landwirtſchaftlichen Produkte in den Welthandel gehabt hat, 
zeigen u. a. folgende Zahlen. Während man den Warenumſatz 
im Welthandel im Jahre 1860 auf 29, 1865 auf 35 Milliarden 
Mark ſchätzte, war dieſe Umſatzſumme im Jahre 1882 auf 67 
Milliarden geſtiegen. 

Auf die Erſchließung der Kornkammern an der Donau und 
im inneren Rußland folgt die Zugänglichmachung des Getreide— 
reichtums (und zum Teil auch ſchon der Viehproduktion) der 
nordamerikaniſchen Union, Indiens, Chiles, Argentiniens, Agyp⸗ 
tens, Kanadas und Ausſtraliens für Mittel-Europa. Mit ziffer⸗ 
mäßiger Beſtimmtheit tritt uns dieſe Entwicklung deutlich vor 
Augen in der Vergrößerung des europäiſchen Imports aus dieſen 
Ländern, wobei hervorgehoben werden mag, daß der Weizen 
hauptſächlich in England, der Roggen und Hafer in dem öſtlichen 


104 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 


Teil Preußens zuſammenſtrömt, ſo daß in London und in Berlin 
die Preiſe dieſer Produkte für die geſamte Welt zur Fixierung 
gelangen. Der auf dem Londoner Markt im Jahre 1850 
feilgebotene Weizen umfaßte 16 203 312 Centweight (1 Cw. = 
50,8 kg), im Jahre 1870 aber bereits 30 901 229 Cw. und 
vollends 1885: 61 489 864 Cw. — Die in London ausgebotene 
Weizenmenge hatte ſich ſomit zwiſchen 1850 und 1870 verdoppelt 
und zwiſchen 1850 und 1885 vervierfacht. 

Damit iſt eine weitere wichtige Wendung des Welthandels 
bezeichnet. Das Weſen dieſer neuen Phaſe beſteht darin, daß 
fortan die landwirtſchaftlichen Produkte fremder Länder und 
Erdteile auf dem europäiſchen Markte zuſammenſtrömen, nicht 
nur, wie bisher, in ſolchen Quantitäten, die zur Ergänzung des 
eigenen Bedarfs dienen, ſondern in Konkurrenz mit den Pro⸗ 
dukten des europäiſchen Landbaues weit über dieſes Maß hinaus, 
und daß ſie ferner zu Preiſen angeboten werden, welche niedriger 
ſind als diejenigen, die bisher in Europa bezahlt wurden und 
auf die ſich die europäiſche Landwirtſchaft eingerichtet hat. 
Es weiſen die Getreidepreiſe in Deutſchland folgende Ver— 
änderungen auf. Setzt man mit Conrad (Jahrbücher für 
Nationalökonomie und Statiſtik, N. F. Bd. XV Heft 4 S. 323) 
die Durchſchnittspreiſe für die Hauptgetreidearten (Weizen, Roggen, 
Gerſte und Hafer) zwiſchen 1847/67 — 100, fo verhielten ſich 
zwar die Preiſe von 1868/72 wie 109, von 1873/74 wie 117, 
aber ſeitdem beginnt ein anhaltendes Sinken, ſo daß die Preiſe 
von 1875/77 = 110, die von 1878/80 —= 93 und die von 
1881/85 — 89 find, und auch ſeitdem hat ſich, wie weiter zu 
zeigen ſein wird, der Preisrückgang fortgeſetzt. 

Verſchärft wird dieſe durch das Zuſammenſtrömen der land⸗ 
wirtſchaftlichen Produkte der oſteuropäiſchen und überſeeiſchen 
Länder verurſachte Kriſis noch durch Valutadifferenzen, welche 
zwiſchen den Ländern der Gold- oder doch der ſogenannten hinkenden 
Währung einerſeits und den Ländern der Silber- und der Papier⸗ 
währung andererſeits beſtehen. Denn für die Länder mit minder⸗ 


Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 105 


jr | wertiger Valuta kommt, durch das Schwanken ihres Geldwerts 


und ihrer Wechſelkurſe nach unten, zu den natürlichen und volks— 
wirtſchaftlichen Vorzügen ihrer Produktion noch ein künſtlicher 
Anreiz zum Export hinzu. Dieſer hat in dem Silberwährungs— 
lande Indien und in dem Papierwährungslande Rußland neben 
anderen Gründen die Ausdehnung des Getreidebaues und Ex— 
portes während der letzten Jahrzehnte weit über ihre bisherigen 
Grenzen hinaus erweitert. So betrug die Ausfuhr Indiens an 
Weizen im Jahre 1870 erſt 3910, 1880 aber bereits 109 778 
und 1887: 1 113 167 Tonnen. Dagegen hat in dem letzten 
Jahrfünft die Weizenausfuhr Nordamerikas ſucceſſive abgenom— 
men. Denn während im Jahre 1880 noch 99 572 329 Buſhel 
Weizen aus Nordamerika exportiert wurden, war der Export 
im Jahre 1883 auf 41 655 653 Buſhel geſunken und hat ſich 
im Jahre 1885 erſt wieder auf 52 382 587 Buſhel gehoben. 


Der Vorſprung, den Indien infolge ſeiner minderwertigen 
Valuta vor Nordamerika und anderen Exportländern beſitzt, dient 
zum Teil dazu, um ſeine größeren Frachtkoſten auszugleichen. 
Denn während die Fracht für 1000 kg Weizen von New York 
über Boſton nach Hamburg im Oktober 1887 nur 10,2 Mark 
betrug, kam ſie von Bombay nach London um erde Zeit auf 
20,7 Mark zu ſtehen. 


Auch iſt dieſer Anreiz zum Export Indiens und Rußlands 
nur ein vorübergehender, weil der durch die Valutadifferenzen 
erzielte außerordentliche Gewinn der Landwirte und Händler 
jener Länder mit minderwertiger Valuta infolge des weiteren 
Sinkens der Produktenpreiſe auf dem Weltmarkte und des 
Steigens der inländiſchen Produktionskoſten ſchließlich verloren 
gehen muß. 

Endlich kann auch zugeſtanden werden, daß die Anſammlung 
von großen Vermögen in einigen Händen dazu beigetragen hat, 
die Produktion überhaupt, alſo auch die landwirtſchaftliche, ins 
unermeßliche zu ſteigern, während doch die effektive Nachfrage 
nach den landwirtſchaftlichen Produkten mit dem Angebot nicht 


106 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 


gleichen Schritt zu halten vermag; bei den Reichen nicht, wein 


ſie hier auf natürliche phyſiſche Schranken der Konſumtions⸗ 
fähigkeit ſtößt, bei den arbeitenden Klaſſen nicht, weil ſie durch 


ihr Einkommen und das Entſtehen gewiſſer mit der wachſenden 


Geſelligkeit zuſammenhängender Bedürfniſſe begrenzt iſt. 


Als das Reſultat all dieſer Faktoren ergiebt ſich ein Sinken 
zunächſt der Woll- und Getreidepreiſe, dann aber auch der Preiſe 
der meiſten übrigen landwirtſchaftlichen Produkte, wobei der Be⸗ 
ginn und das Tempo des Preisrückganges für die einzelnen 
Produkte allerdings verſchieden iſt. 


Wenn die Abnahme der landwirtſchaftlichen Proſperität für 
ganz Deutſchland bereits ſeit der Mitte der ſiebziger Jahre be⸗ 
ginnt, ſo hat das ſeinen Grund in dem Zuſammentreffen des 
wenn auch zunächſt nur mäßigen Rückganges der Getreidepreiſe 
mit einer Reihe ſchlechter Ernten, während ihr damals noch die 
verhältnismäßig hohen Preiſe einer Reihe von anderen Pro⸗ 
dukten der Landwirtſchaft und der landwirtſchaftlichen Neben⸗ 
gewerbe, ſo z. B. der Hülſenfrüchte, des Fleiſches, des Zuckers 
und Branntweins, entgegenwirkten. 


Seit den achtziger Jahren verſchlimmert ſich dann die Lage 
der Landwirtſchaft trotz der beſſeren Ernten der letzten ſechs bis 
ſieben Jahre infolge des weiteren, jetzt ſehr ſtarken Sinkens 
der Getreidepreiſe und des gleichzeitigen Preisrückganges faſt 
aller übrigen landwirtſchaftlichen Produkte und unter dieſen 
namentlich auch des Branntweins und Zuckers. Setzt man mit 
Conrad (Jahrbücher für Nationalökonomie und Statiſtik, N. F. 
Bd. XVI Heft 3 S. 296— 297) die Preiſe der landwirtſchaftlichen 
Produkte in Deutſchland für den Durchſchnitt der Jahre 1879 
— 1882 — 100, fo verhalten ſich die Preiſe des Jahres 1887 
folgendermaßen: Weizen = 78,5, Roggen — 73,1, Gerſte = 82,1, 
Mais — 76,1, Hafer = 76,6, Weizenmehl = 78,3, Roggenmehl 
— 73,6, Kartoffelſpiritus = 93,0, Rohzucker = 67,0. 

Bezeichnet das Billigerwerden der Gebrauchs- und Verbrauchs⸗ 
güter und Kapitalien ſchon überhaupt einen wichtigen Kultur⸗ 


ſein, wenn er ſich, wie im gegebenen Fall, auf die von den 


* Miaſſen konſumierten Nahrungsmittel bezieht. Mag der Vorteil, 


den die Konſumenten und unter ihnen namentlich die Lohn— 
arbeiter von dem Preisrückgang der Rohprodukte haben können, 
ihnen auch nicht vollſtändig zu gut gekommen ſein, weil Zwiſchen⸗ 
händler, Müller, Bäcker und Fleiſcher, ihre Preiſe noch nicht ent— 
ſprechend herabgeſetzt haben, ſo iſt es doch nicht fraglich, ob, 
ſondern nur wann dieſes geſchehen wird. Auch giebt es eine 
Reihe von Mitteln der Geſetzgebung und der genoſſenſchaftlichen 
Organiſation, um die Herbeiführung dieſes Zeitpunktes künſtlich 
zu beſchleunigen. 

Aber dieſes erfreuliche Bild hat doch auch ſeine ernſte Kehr— 
ſeite. Der Preisrückgang der meiſten landwirtſchaftlichen Pro— 
dukte ſchmälert zunächſt die in Geld ausgedrückten Roherträge 
der Landwirtſchaft. 

Ob zugleich auch eine Verminderung der Grundrente ein— 
tritt, hängt noch von anderen Faktoren ab, namentlich davon, 
ob und wieweit es gelingt, die ſachlichen und perſönlichen Aus— 
gaben der Landwirte zu reduzieren. 


III. 


Um über dieſen Punkt ins klare zu kommen, haben wir zu 
fragen: in welchem Zuſtande befanden ſich die Landwirte bei Be⸗ 
ginn des Preisrückganges und mit welchen Mitteln ſuchten ſie 
demſelben zu begegnen? 

Hierauf iſt zunächſt zu antworten, daß die Zeit der land⸗ 
wirtſchaftlichen Proſperität, die im ganzen bis in die Mitte der 
ſiebziger Jahre dauerte, einen außerordentlichen Aufſchwung 
der landwirtſchaftlichen Technik namentlich auf den größeren, 
aber auch auf den bäuerlichen Gütern zur Folge gehabt hat. 
Dieſer Aufſchwung trat hervor in dem Übergang zu intenſiveren 
Betriebsſyſtemen, in dem zunehmenden Gebrauch von künſtlichem 
Dünger und von Kraftfutter, in der Verbeſſerung der landwirtjchaft- 


108 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 


lichen Geräte, in der vermehrten Anwendung von Maſchinen und 
Dampfkraft, in der ſorgfältigeren Bearbeitung des Bodens, 
namentlich aber in der Vervollkommnung der landwirtſchaftlichen 
Nebengewerbe und unter dieſen wieder beſonders der Rübenzucker⸗ 
fabrikation und der Branntweinbrennerei. Gelang es den Fort⸗ 
ſchritten der landwirtſchaftlichen Technik, dadurch die Natural⸗ 
roherträgniſſe bedeutend zu ſteigern, ſo ermöglichten die hohen 
Preiſe der landwirtſchaftlichen Produkte auch die Erzielung hoher 
Geldroherträge. Da während des erſten Teils dieſer Periode der 
Proſperität die Produktionskoſten und namentlich die Arbeits⸗ 
löhne niedrig ſtanden, die Lebenshaltung der ländlichen Grund⸗ 
beſitzer und Pächter einfach und die Steuerlaſt eine geringe 
war, ſo mußte auch die Grundrente ſteigen. 

Dieſe erhöhte Grundrente führte dann wieder, namentlich bei 
den vermögenderen und umſichtigeren Landwirten, zur Vornahme 
von umfangreichen Meliorationen. Sie hatte aber auch zur Folge, 
daß gegen Ende dieſer Periode das Leben der größeren Grund⸗ 
beſitzer manche luxuriöſe Gewohnheiten annahm und ihre ganze 
Exiſtenz ſich ſehr weſentlich hob. Den größeren Grundbeſitzern 
folgte dann langſam und zögernd der Bauernſtand, indem er ſich 
manchen bis dahin nicht gekannten Luxus in der Kleidung, häus⸗ 
lichen Einrichtung und Kindererziehung, namentlich aber im 
Hausbau geſtattete. Angeregt durch die ſteigende Nachfrage nach 
Arbeitern ſeitens der Induſtrie hoben ſich im Anfange der 
ſiebziger Jahre auch die Löhne der landwirtſchaftlichen Arbeiter. 
Und dieſen höheren Löhnen entſprach nicht etwa zugleich eine 
höhere Arbeitstüchtigkeit. Im Gegenteil! die Klagen über die 
geringe Brauchbarkeit, namentlich über die Unzuverläſſigkeit der 
ländlichen Arbeiter haben ſeitdem zugenommen, ſo daß die höheren 
Löhne ſich zugleich häufig mit geringeren Leiſtungen verbinden. 
Hand in Hand mit dem allgemeinen nationalen Aufſchwung er⸗ 
folgte am Schluſſe dieſer Periode auch die Verwendung reich⸗ 
licherer Mittel ſeitens des Staates und der Kommunen für 
Zwecke, die bis dahin vernachläſſigt worden waren, was wieder 
eine Erhöhung der auf die einzelnen Landwirte fallenden Steuern 


Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 109 


38 


8 zur Folge hatte. Nun entſprachen dieſen erhöhten Laſten der Land— 


den. Aber dieſe Leiſtungen kommen den Grundbeſitzern direkt ent— 
weder gar nicht oder doch nur nach längeren Zeiträumen zu gute. 

Die Jahre der Proſperität haben ſomit zur Folge gehabt, 
daß die Grundrente zwar bedeutend geſtiegen war, zugleich aber 
auch, daß der Staat und die Gemeinden ſowie die geſamte 
ländliche Bevölkerung viel anſpruchsvoller geworden waren. 

Die erhöhte Grundrente gelangte aber nicht nur während 
des Beſitzes, ſondern auch beim Beſitzwechſel zum Ausdruck. Wie 
der Beſitzer ſelbſt, ſo wollten auch alle ſeine Kinder leben, und 
das Leben, daß der Beſitzer auf dem Lande geführt hatte, wollte 
er auch in der Stadt fortſetzen, nachdem er ſein Gut verkauft 
oder ſeinen Kindern übergeben hatte. Ja nicht ſelten trachtete 
der größere Gutsbeſitzer beim Kauf ſeines Gutes lediglich dar— 
nach, dasſelbe möglichſt bald wieder mit Vorteil zu verkaufen, 
um dann in der Stadt ſein früheres Leben, aber ohne die 
frühere Mühe und Arbeit, fortſetzen zu können. Und dem 
größeren Gutsbeſitzer folgte auch hierin mancher Bauer, wenn— 
gleich die dem Bauernſtande innewohnende vis inertiae denſelben 
im ganzen von der Beſchreitung dieſes Weges abgehalten hat. 
Dabei verlangten die Beſitzer beim Verkauf ihrer Güter Preiſe, 
deren Höhe ſich durch die bisherige Grundrente allein nicht recht— 
fertigen ließ. Und wenn ſie zu den hohen Preiſen dennoch 
Käufer fanden, ſo erklärt ſich dieſes aus dem Umſtande, daß 
die Käufer, weil die Grundrente in den letzten Jahrzehnten geſtiegen 

war, auch auf ihr ferneres Steigen in der Zukunft mit Be— 
5 ſtimmtheit rechnen zu können meinten. So wurde denn in den 
N hohen Kaufpreiſen bereits in der Gegenwart die künftig erwartete 
Steigerung der Grundrente diskontiert. Begünſtigt ward dieſe 
die Preiſe des Grundbeſitzes ſteigernde Tendenz noch durch die 
Anſammlung großer Kapitalmaſſen in Handel und Induſtrie, 
indem viele eine ſichere Anlage ihres Kapitals in Grund und 
Boden und nicht ſelten auch eine Art Nobilitierung ihres Er- 
werbs durch den landwirtſchaftlichen Beſitz und Beruf ſuchten. 


110 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 


Alle dieſe Vorgänge hatten eine bedeutende Steigerung der Güter⸗ 
preiſe beim Kauf ſowohl wie beim Erbübergang zur Folge. 

An dieſem Kaufs- und Verkaufstaumel nahmen aber nicht 
nur diejenigen Perſonen teil, deren Geldkapital ausreichte, um 
den Kauf bar zu bezahlen, ſondern auch ſolche, die genötigt 
waren, ſich einen beträchtlichen Teil des Kaufſchillings und der 
Übernahmegelder kreditieren zu laſſen. Erſchienen doch ſolche 
Kreditkäufe zu einer Zeit, in der man mit Sicherheit auf ein 
weiteres Steigen der Grundrente und ein Sinken des Zinsfußes 
rechnen zu können glaubte, als durchaus vorteilhaft, zumal wenn 
man berückſichtigt, daß das größere Gut zugleich das kreditfähigere 
iſt und daß ſich dasſelbe für mancherlei Kulturarten und Be⸗ 
triebsformen beſſer eignet als ein kleineres. 

Hieraus ergaben ſich denn namentlich für die größeren Güter 
des Nordoſtens folgende Reſultate: ihre Preiſe waren nicht nur 
entſprechend der effektiv erhöhten Grundrente, ſondern weit über 
dieſes Maß hinaus geſtiegen; ferner war der größere Grund⸗ 
beſitz — ſoweit er nicht gebunden war oder ſeine Beſitzer 
in dieſem Tanz um das goldene Kalb die Erhaltung des 
Familienbeſitzes der Erzielung eines bedeutenden Geldgewinnes 
nicht vorgezogen hatten — in hohem Grade mobiliſiert worden; 
endlich war die hypothekariſche Verſchuldung der größeren einem 
häufigen Beſitzwechſel unterworfenen Güter eine beträchtlichere 
geworden als die des mittleren bäuerlichen Grundbeſitzes, der 
nicht ſo häufig wie jener die Hand gewechſelt hatte. So hat 
die in zweiundfünfzig Amtsgerichtsbezirken des preußiſchen 
Staates im Jahr 1883 von A. Meitzen ermittelte Höhe der 
Grundbuchſchulden ergeben, daß — unter Ausſchluß der rechtlich 
gebundenen Güter — die größeren Güter zum Achtundzwanzig⸗ 
fachen, die Bauerngüter zum Achtzehnfachen und die kleineren 
bäuerlichen Stellen nur zum Zwölffachen des Grundſteuerreiner⸗ 
trags verſchuldet ſind. 

Ahnliche Erſcheinungen, wie bei dem großen Grundbeſitz im 
Nordoſten, finden ſich auch bei dem aus vielen Parzellen zuſam⸗ 
mengeſetzten kleinbäuerlichen Beſitz Mittel-, Süd- und Weſtdeutſch⸗ 


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Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 111 


lands, wenngleich fie hier zum Teil aus anderen Gründen ent- 
4 ſpringen. Es ift namentlich die in den langen Friedensjahren ftarf 
aangewachſene Bevölkerung und ihr allgemeines Beſtreben, die ge— 
machten Erſparniſſe in Grund und Boden anzulegen, der ſoge— 
nannte Landhunger, ſowie ihr Kleben an der Scholle, wodurch die 
Preiſe der einzelnen Parzellen auf eine ſolche Höhe getrieben 
werden, daß die Verzinſung des Kaufſchillings durch die Grundrente 
eine minimale wird oder, was dasſelbe iſt, daß bei landesüblicher 
Verzinſung des Kaufpreiſes der Beſitzer für ſeine dem Landbau 
auf der eigenen Scholle gewidmete Arbeit im Ertrage derſelben 
keinen Entgelt mehr findet. Da ferner die im perſönlichen 
Dienſt ſowie in der Induſtrie gemachten Erſparniſſe und das 
im Erbwege oder durch Heirat gewonnene Geldkapital nicht 
immer ausreichen, um den Kaufſchilling bar zu bezahlen, ſo 
wird auch hier der häufige Beſitzübergang zur Hauptveranlaſſung 
für die Verſchuldung der kleinen Grundbeſitzer. Daher zeigt ſich 
% in dem, verglichen mit dem Nordoſten, agrarpolitiſch anders ge— 
| arteten Süden und Weſten der kleine parzellierte Grundbeſitz am 
meiſten verſchuldet, während der größere und beſſer arrondierte 
bäuerliche Beſitz und ebenſo der meiſt rechtlich gebundene größere, 
namentlich ſtandesherrliche Beſitz viel weniger verſchuldet iſt. Zu 
dieſem Reſultat gelangt unter anderem die badiſche Enquete von 
1882/83, indem in den zur Unterſuchung gelangten Gemeinden 
die kleinen Beſitzungen (bis zu 2 Hektar) die relativ größte Be- 
laſtung mit Schulden aufweiſen. Dieſelbe Erſcheinung wird auch 
für einige Teile Bayerns, für Kärnten, Krain und Steiermark 
beſtätigt. Eine Ausnahme von dieſer Regel bilden nur die badiſchen 
Gemeinden mit geſchloſſenem Beſitz und Anerbenrecht, indem hier 
die geſchloſſenen einem irrationell geſtalteten Anerbenrechte unter⸗ 
worfenen Hofgüter von 5—20 Hektar am höchſten verſchuldet 
ſind. Dazu kommt dann noch als weitere Kalamität des kleinen 
Beſitzes jener Gegenden eine bis zur Unwirtſchaftlichkeit geſteigerte 
Teilung der einzelnen Parzellen. 

In den Strudel der gewagten Preisbildung und der Mobi⸗ 
liſierung des Grundbeſitzes hat ſich der ſpannfähige Bauernſtand 


112 Die gegenwärtige Lage der deutfchen Landwirtſchaft. 


mit arrondiertem Beſitz und althergebrachter Erbfolge im Norden 
ſowohl wie im Süden am wenigſten hineinziehen laſſen. Von 


ihm läßt ſich nach den wenigen Anhaltspunkten, die wir dafür = 
beſitzen, denn auch annehmen, daß er im allgemeinen durch Hypo 


thekariſche Schulden am wenigſten belaſtet iſt. Dagegen leidet 
er unter ſeinen Perſonalſchulden mehr als der große Grund⸗ 
beſitzer, weil es für ihn vielfach noch an Anſtalten fehlt, die 
ihm einen ſeinen Bedürfniſſen entſprechenden Perſonalkredit ver⸗ 
mitteln, und weil er dort, wo dieſelben beſtehen, ſie noch nicht 
genügend zu benutzen verſteht. Daher gerät er bereits bei relativ 
geringer Verſchuldung leicht in die Hände von Wucherern, die 
ſeine momentanen Verlegenheiten benutzen, um ihn zu ruinieren. 
Auch befindet er ſich in einem Übergangsſtadium, indem der 
Geldverkehr erſt jetzt in die Bauernwirtſchaft vollſtändig ein⸗ 
dringt. Dieſem doppelten Andrange der Weltwirtſchaft und des 
Geldverkehrs fühlt ſich der noch von den Feſſeln und Gewohn⸗ 


heiten der älteren naturalwirtſchaftlichen Periode beherrſchte 


Bauer, dieſer konſervatipſte Beſtandteil unſerer ſocialen Schich⸗ 
tung, nicht ganz gewachſen. Ihm fehlt noch viel von der Be⸗ 
weglichkeit, Rührigkeit und Anſtelligkeit des amerikaniſchen 
Farmers, der in der Anwendung der Errungenſchaften der land⸗ 
wirtſchaftlichen Technik, in der Ausnutzung gegebener Konjunk⸗ 
turen und in der Anpaſſung ſeiner Wirtſchaft an dieſelben un⸗ 
ſerem Bauer weit überlegen iſt. Wenn dieſer auch weniger als 
der große Grundbeſitzer unter dem Zwange ſteht, den die durch 
ſociale Rückſichten gebotene Lebenshaltung und Kindererziehung 
dem letzteren auferlegt, ſo laſtet doch ſeine inferiore ſociale 
Stellung ſchwer auf ihm und verhindert jenen Aufſchwung, den 
der in ſocialer und politiſcher Beziehung ſich der vollſten Gleich⸗ 
heit mit ſeinen Mitbürgern erfreuende amerikaniſche Farmer zu 
nehmen vermag. 

So hat denn die gegenwärtige Kriſis unſeren deutſchen 
Grundbeſitzerſtand ſchlecht vorbereitet gefunden: mit hohen für 
ſeinen Grundbeſitz gezahlten Kaufpreiſen und ſtarker Verſchul⸗ 
dung, mit geſteigerten Produktionskoſten, Staats- und Gemeinde⸗ 


Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 113 


abgaben, mit einer erhöhten Lebenshaltung und mannigfachen 
Luxusbedürfniſſen, aber zugleich mit verhältnismäßig geringem 
Kapitalbeſitz iſt er in dieſelbe eingetreten. Kein Wunder daher, 
daß den infolge geſunkener Preiſe verminderten Geldroherträgen 
nun auch bald eine Verminderung der Grundrente entſprach. 
Wenn die geſunkene Grundrente ſomit gegenwärtig eine niedrigere 
Verzinſung des Grundkapitals, in dem neben den gezahlten 
hohen Kaufpreiſen noch mancherlei zum Teil nicht unbedeutende 
Kapitalverwendungen der gegenwärtigen Beſitzer enthalten ſind, 
bewirkt als vor der Kriſis, ſo verdient doch hervorgehoben zu 
werden, daß ein ähnliches Schickſal auch die Beſitzer des in 
ſoliden Effekten (Staatspapiere, landſchaftliche Pfandbriefe 
u. ſ. w.) angelegten Geldkapitals infolge der Zinsreduktion be— 
troffen hat. Unter dieſen Kapitalbeſitzern befinden ſich in einer be— 
ſonders ſchlimmen Lage diejenigen kleinen Kapitaliſten, die aus 
irgend einem Grunde nicht in der Lage ſind, die Schmälerung ihres 
fundierten Einkommens durch Arbeitsverdienſt erſetzen zu können. 
Aber während die Kapitaliſten Großbritanniens und Frank— 
reichs einen niedrigeren Zins beziehen als die Kapitalbeſitzer 
Deutſchlands, werden umgekehrt die Grundbeſitzer Deutſchlands 
durch das Sinken der Grundrente ſchwerer betroffen als die Grund— 
beſitzer Großbritanniens und Frankreichs, und zwar aus einer 
Reihe von Gründen, die wir hier nur kurz andeuten können. 


IV. 


Verglichen mit Deutſchland, deſſen Grundbeſitzverteilung im 
ganzen eine geſunde iſt, indem ſich bei uns große, mittlere und 
kleinere Güter in mannigfachen, der äußeren Naturausſtattung 
und den volkswirtſchaftlichen Zuſtänden angepaßten Miſchungs⸗ 
verhältniſſen vorfinden, hat Großbritannien eine viel weniger 
günſtige Verteilung ſeines Bodens. Die extrem ariſtokratiſche 
Verteilung des Grundbeſitzes in Großbritannien hat neben ihren 
überwiegenden Schattenſeiten aber doch auch einige wenige Vor— 
züge, die beſonders während der gegenwärtigen Kriſis deutlich 


zu Tage getreten ſind. Die ſehr großen und wenig wee 
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 


114 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 


Grundbeſitzer, die nicht ſelten in ihrer Hand den Beſitz von 
Bergwerken, ſtädtiſchen Häuſern und neuerdings auch überſeeiſchen 
Ländereien verbinden, können die Kriſis viel leichter überſtehen 
als die deutſchen Grundbeſitzer, die neben ihrem Grund und 
Boden nur ſelten Kapital, aber häufig Schulden beſitzen. So 
wird das Sinken der Grundrente bei den großbritanniſchen 
Grundbeſitzern zum Teil kompenſiert durch das Steigen der Berg⸗ 
werks⸗, Häuſer⸗ und überſeeiſchen Landrente. Und wenn eine 
ſolche Kompenſation auch nicht eintritt, ſo gefährdet die Ver⸗ 
minderung der an ſich großen Einkommen doch noch nicht die 
Exiſtenz derjenigen, die ſie beziehen. Die großen und größten 
Grundbeſitzer waren daher vielfach in der Lage, ihren Pächtern 
die Pachtgelder zu ſtunden und auf einen Teil ihres Pacht⸗ 
ſchillings definitiv zu verzichten und trotzdem ihre verpachteten 
Grundſtücke noch bedeutend zu meliorieren. Wo den Pächtern 
ſolche Konzeſſionen nicht gemacht worden ſind und ſie ihre Pacht 


aufgeben mußten, da haben ſie als kapitaliſtiſche Unternehmer 


von einer viel größeren Geſchäftsroutine, als unſere ſtarren 
Bauern ſie beſitzen, in einem anderen Unternehmen diesſeits oder 
jenſeits des Oceans ihr Fortkommen gefunden. Damit ſoll nun 
durchaus nicht geleugnet werden, daß auch viele engliſche Pächter 
ihr Kapital verloren und daß die zahlreichen großen ſowie die 
wenigen mittleren und kleineren engliſchen Grundbeſitzer — 
unter den letzteren namentlich die lebenslänglichen Nutznießer 
von Pfarrländereien — empfindliche Verluſte erlitten haben, 
ſondern nur darauf hingewieſen werden, daß die gegenwärtige 
Kriſis an ſich in ihren letzten Konſequenzen für Großbritannien 
keine ſo tiefgehenden wirtſchaftlichen, politiſchen und ſocialen 
Wirkungen haben wird wie in Deutſchland. Dieſes erklärt ſich 
indeſſen nicht nur durch die größere Widerſtandsfähigkeit der eng⸗ 
liſchen Grundbeſitzer, ſondern auch daraus, daß an dem Blühen 
der Landwirtſchaft in England ein geringerer Teil der Bevöl⸗ 
kerung direkt intereſſiert iſt als in Deutſchland. Und die gewerb⸗ 
und handeltreibenden Klaſſen Großbritanniens haben infolge 
der Verbilligung der landwirtſchaftlichen Produkte zu den Vor⸗ 


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Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 115 


zügen des wohlfeilſten Kapitals, der wohlfeilſten Kohlen und 
Maſchinen noch den der wohlfeilſten Nahrungsmittel erhalten, 
ein Vorzug, der namentlich der Induſtrie zu gute kommen muß. 
Denn iſt dieſe an den Umſätzen des geſamten Welthandels mit 
ca. 46 Prozent beteiligt, und droht ihr dieſer Anteil durch die 
konkurrierenden Nationen geſchmälert zu werden, ſo findet ſie in 
dem Billigerwerden der Lebensmittel, das bereits teilweiſe zu einer 
Herabſetzung der Löhne geführt hat, eine weſentliche Kräftigung 
für ihre bedrohte Poſition. 

Ahnliches wie für England gilt auch für Frankreich. Der 
mittlere und kleine Grundbeſitzer nimmt hier eine größere Fläche 
ein als in manchen Teilen Deutſchlands und ſpeciell in Preußen. 
Die von dem Code civil geſtützte Sitte der Naturalteilung des 
ererbten Grundbeſitzes, das weit verbreite régime conjugal, der 
haushälteriſche und ſparſame Sinn des Franzoſen, endlich auch 


die mangelhafte Hypothekenverfaſſung haben hier bisher eine ſo 


ſtarke hypothekariſche Verſchuldung des ländlichen Grundbeſitzes 
verhindert, wie ſie bei uns beſteht. Freilich iſt die Kriſis auch 
in Frankreich bisher nicht ſpurlos an dem ländlichen Grundbeſitz, 
namentlich dem größeren, vorübergegangen. Aber immerhin 
laſtet ſie auf Frankreich aus den angegebenen Gründen, ſowie 
weil dasſelbe wegen ſeines größtenteils fruchtbaren Bodens und 
milderen Klimas mancherlei Früchte bauen kann, die der über- 
ſeeiſchen Konkurrenz nicht unterliegen, weniger ſchwer als auf 
Deutſchland. 

Was die Kriſis bei uns beſonders drückend macht, das 
ſind, außer den ungünſtigeren klimatiſchen und Bodenverhält— 
niſſen und dem geringeren Kapitalreichtum, namentlich im 
Nordoſten Deutſchlands, mancherlei Mängel unſerer Agrarver- 
faſſung und der Sitte unſerer landwirtſchaftlichen Kreiſe. Da⸗ 
hin gehören die Gewohnheit, im Vergleich zum vorhandenen 
Kapitalbeſitz zu große Güter zu kaufen, die hohen Kaufpreiſe 
und Übernahmetaxen, der häufige Beſitzwechſel der Güter, die 
ſtarke Gebundenheit der Lebenshaltung und der Konſumtions— 


gewohnheiten, namentlich unſerer größeren Grundbeſitzer, durch 
8* | 


116 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 


äußere ſociale Rückicchten und Standesgewohnheiten, die geringe 


Rührigkeit unſeres Bauernſtandes u. a. m. 


V. 


Wenn ſomit infolge der in Deutſchland geltenden Agrar- 
verfaſſung und landwirtſchaftlichen Sitte die Kriſis ſich bei uns 
auch mehr verſchärft als in anderen Ländern, ſo bewirkt dieſer 
Umſtand doch auch wieder, da die Bedingungen der Produktion, 
die Agrarverfaſſung und landwirtſchaftliche Sitte in den ver⸗ 
ſchiedenen Teilen Deutſchlands ſehr ungleich ſind, daß die Kriſis 
bei uns keineswegs alle Grundbeſitzer mit gleicher Schwere trifft. 
Zunächſt ſei hier auf den Unterſchied in der Lage des weſtlichen 
und öſtlichen Deutſchland hingewieſen, indem die Preiſe der 
landwirtſchaftlichen Produkte im Weſten und Süden zum Teil 
nicht unbedeutend höher ſtehen als im Oſten. Zu den höheren 
Preiſen kommen dann im Weſten und Süden noch hinzu das 
günſtigere Klima, die größere Fruchtbarkeit des Bodens, der 
größere Kapitalreichtum, die größere Rührigkeit der Bevölkerung 
ſowie die größere Zahl konſumtionsfähiger Städte. Haben dieſe 
Vorzüge nicht verhindern können, daß auch hier ein Rückgang 
der Grundrente eingetreten iſt, ſo dürfte er doch nicht ſo be— 
deutend ſein wie in dem von der Natur weniger begünſtigten, 
noch zum Teil in der Naturalwirtſchaft ſteckenden, weniger kapital⸗ 
kräftigen, weniger induſtriellen und ſtädtereichen Oſten. 

Was die Beſitzer der rechtlich gebundenen größeren Güter⸗ 
komplexe, der ſogenannten Herrſchaften betrifft, deren Zahl 
auch in Deutſchland keine geringe, wenn auch keine ſo große iſt wie 
in Großbritannien, ſo ſind ſie durch die Kriſis meiſt nur inſofern 
betroffen, als ſie von ihren großen Gutserträgen gegenwärtig nicht 
mehr ſoviel kapitaliſieren können wie in Zeiten der Proſperität. 

Aber auch unter den Beſitzern des dem freien Verkehr unter- 
worfenen Grundbeſitzes hat die wirtſchaftliche Depreſſion einen 
ſehr ungleichen Grad erreicht. Abgeſehen von den ſehr großen, 
rechtlich gebundenen Herrſchaften iſt der größere Grundbeſitz im 


Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 117 


Nordoſten von der gegenwärtigen Kriſis ſtärker betroffen als der 
mittlere und kleine. Es iſt dies nicht zum wenigſten dadurch 
bedingt, daß mit der Größe des Grundbeſitzes die Quote der 
zum Verkauf zu bringenden Produkte wächſt, ſo daß die kleinen 
Grundbeſitzer ihre Produkte größtenteils ſelbſt verzehren und 
daher unter dem Preisfall weniger zu leiden haben. Daß der 
größere frei veräußerliche und verſchuldbare Grundbeſitz von der 
gegenwärtigen Kriſis ſtärker getroffen wird als der mittlere und 
kleinere, beweiſen u. a. die Zahlen der für 1886/87 für Preußen 
aufgeſtellten Statiſtik der Zwangsverſteigerungen land- und forſt⸗ 
wirtſchaftlicher Grundſtücke. Demnach nimmt, in Verhältnis⸗ 
zahlen ausgedrückt, unter den Gründen, welche die Subhaſtation 
herbeigeführt haben, die ungünſtige Lage der Landwirtſchaft ein: 
bei den Beſitzungen von 50 ha und mehr = 17,02 Prozent 


= = = = 50 — 7,07 ha ==710 = 
2 2 2 z 7, 07 — 2 ha == 3, 13 = 
0 - „2 ha bis 75 a2 = 2,56 - 


Mit biste gutachtlich begründeten Nachrichten ſtimmt auch 
die ſtatiſtiſch feſtgeſtellte Thatſache überein, daß der Anteil an 
den Subhaſtationen überhaupt bei den größeren Beſitzungen ver— 
hältnismäßig weit bedeutender iſt als bei den kleineren. 

Es entfielen nämlich: 


auf Beſitzungen 
von 50 ha und darüber von der ee EN Fläche = 77,81 Proz. 


- 50—10 ha = = „ 216,21 
„10 —2 ha RE = z „„ 
dis 25 a = — 0,73: >» 


Freilich tritt der bereits oben erwähnte Dualismus in den 
Agrarverhältniſſen des Nordens und Nordoſtens einer- und des 
Südens andererſeits auch in der Subhaſtationsſtatiſtik hervor, 
indem im Süden der kleine Grundbeſitz von den Subhaſtationen 
ſtärker betroffen wird als der mittlere und große. Im Norden 
und Nordoſten dagegen ſcheint der kleine Grundbeſitz ſich relativ 
am beſten zu befinden, namentlich dann, wenn die Arbeitskraft 
der Beſitzer ausreicht, um ihre Gütchen ohne Hinzuziehung fremder 
Lohnarbeiter zu beſtellen, und wenn ſie auf denſelben Gemüſe⸗ 
und Handelsgewächſebau oder Viehzucht betreiben. 


118 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 


Außerdem befinden ſich die Beſitzer von Gütern, welche die⸗ 
ſelben zu mäßigen Taxen von ihren Eltern ererbt haben, im all⸗ 
gemeinen in beſſerer Lage als diejenigen, die ſie zu hohen 
Preiſen gekauft oder von ihren Geſchwiſtern übernommen haben. 
Mit dieſer Unterſcheidung fällt größtenteils die Unterſcheidung 
der Beſitzer ſtark und wenig verſchuldeter Güter zuſammen. 

Wer ferner die nötige wirtſchaftliche und techniſche In⸗ 
telligenz und das erforderliche Betriebskapital beſaß, vermochte 
ſchon im voraus die herannahende Kriſis zu erkennen und ſich 
mit einer raſchen Wendung den veränderten Konjunkturen an- 
zupaſſen. Insbeſondere haben diejenigen die Nachteile der Kriſis 
am beſten pariert, welche vorzugsweiſe Produkte erzeugen, deren 
Preiſe gar nicht gefallen ſind, wie z. B. Gemüſe und manche 
Handelsgewächſe, oder welche bei der Erzeugung von ſolchen 
Produkten, deren Preiſe jeweilen relativ am wenigſten gefallen 
waren, ſich in der Vorhand befanden und nicht ſolange warteten, 
bis nun auch das Angebot dieſer Produkte im Inlande ein ſo 
ſtarkes wurde, daß auch ihre Preiſe ſanken. 

Endlich werden diejenigen Beſitzer die Kriſis leichter über⸗ 
ſtehen, die in der Erziehung ihrer Kinder von der ſocialen Sitte 
und ihren Anforderungen weniger abhängig als andere oder 
perſönlich fähig und bereit ſind, ihren Verbrauch auf das durch 
das Sinken der Preiſe gebotene Niveau herabzuſetzen. 


VI. 


Folgt nun ſchon aus dem Bisherigen, daß die deutſchen 
Grundbeſitzer von der gegenwärtigen Kriſis in ſehr verſchiedenem 
Grade betroffen worden ſind, ſo werden dieſe Differenzen noch 
vergrößert, ja es wird die Kriſis in ihren Wirkungen für einige 
Beſitzer noch weſentlich gemildert durch eine Reihe von Umſtänden, 
die der Depreſſion entgegenwirken. 

Hierher gehört freilich eine allgemeine Verminderung der 
Produktionskoſten nicht. Denn namentlich die Löhne der länd⸗ 
lichen Arbeiter, welche einen weſentlichen Poſten unter den 
Produktionskoſten ausmachen, ſind, wenn man von vereinzelt 


Dr u — 
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Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 119 


gebliebenen exceſſiven Lohnerhöhungen der Gründerzeit abſieht, 


im ganzen auf derjenigen Höhe geblieben, die ſie in den ſiebziger 
Jahren erreicht haben. Die ſachlichen Produktionskoſten dagegen 
haben ſich im einzelnen infolge des Sinkens der Preiſe für Me- 
tallwaren, Geräte, Maſchinen, künſtlichen Dünger, Kraftfutter ꝛc. 
niedriger geſtellt. 

Das Hauptgegengewicht gegenüber den geſunkenen Preiſen 
der Bodenprodukte übt aber der um 1 Prozent und mehr ge— 
ſunkene Zinsfuß des Geldkapitals aus. Dadurch iſt namentlich 
für die verſchuldeten Gutsbeſitzer eine weſentliche Entlaſtung er— 
wachſen. Aber freilich iſt dieſe Entlaſtung keine gleichmäßige, 
ſondern, je nach der Perſon der Gläubiger und Schuldner, eine 
ſehr verſchiedene geweſen. 

Mit der Reduktion des Zinsfußes ſind die Landſchaften 
nämlich früher vorgegangen als die Sparkaſſen und Bodenkredit⸗ 
banken, und dieſe wieder früher als die Stiftungen und manche 
Privatgläubiger. Es haben demnach den meiſten Vorteil von 
der bisherigen Zinsreduktion die größeren Grundbeſitzer überhaupt 


und ſpeciell bezüglich ihrer erſten Hypotheken, den geringſten die 


mittleren und kleineren Grundbeſitzer bezüglich ihrer zweiten 
Hypotheken und Perſonalſchulden gehabt. Indeſſen iſt das 
Sinken des Zinsfußes für das Geldkapital doch in einer an- 
deren Beziehung dem geſamten ländlichen Grundbeſitz zu gut ge— 
kommen. Mag der Verkehrswert, d. h. der durchſchnittliche Kauf— 
preis für den ländlichen Grundbeſitz, in Zeiten der Proſperität im 
allgemeinen und im beſondern in Ländern mit dichter Bevölkerung 
auch mehr oder minder bedeutend über dem Ertragswert desſelben 
ſtehen, ſo bildet dieſer letztere doch immer den feſten Punkt, um 
den die Kaufpreiſe oscillieren und von dem ſie beſtimmt werden. 
Dieſer Ertragswert ergiebt ſich aber aus der Kapitaliſation der 
durchſchnittlichen Grundrente nach dem für das Geldkapital 
landesüblichen Zinsfuß. Wenn nun auch die Grundrente infolge 
der gegenwärtigen Kriſis zurückgegangen iſt, ſo iſt dafür mit dem 
Sinken des Zinsfußes der Multiplikator erhöht worden. Da⸗ 
durch dürfte ſich wohl hauptſächlich erklären, daß während die 


120 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 


Pachtgelder in manchen Gegenden einen nicht unbedeutenden 
Rückgang erfahren haben, die Kaufpreiſe der Grundſtücke, abge⸗ 
ſehen von vereinzelten Notverkäufen, im allgemeinen durchaus 
nicht in demſelben Grade geſunken ſind wie die Grundrente; ja, 
daß im freihändigen Verkaufe noch immer ſehr hohe Kaufpreiſe 
gezahlt werden. Freilich gelangt die gegenwärtige Kriſis auch 
auf dieſem Gebiete darin zum Ausdrucke, daß der Beſitzwechſel 
in der Gegenwart ein viel langſameres Tempo eingeſchlagen hat, 
indem zwar eine große Anzahl von Gütern zum Verkaufe an⸗ 
geboten werden, die Käufer aber im Vergleich zu den früheren 
Zeiten der Proſperität viel zurückhaltender geworden ſind. 

Ferner haben der Kriſis in den letzten Jahren entgegen⸗ 
gewirkt eine Reihe guter Ernten. Denn während in die ſiebziger 
Jahre eine Reihe ungünſtiger Ernten fallen, weiſen die achtziger 
Jahre gute oder doch wenigſtens mittlere Ernten auf. Das 
größere Quantum der gewonnenen Produkte hat daher den Preis⸗ 
ſturz einigermaßen auszugleichen vermocht. Und was von der 
Geſamtheit der Landwirte in günſtigen Jahren gilt, das gilt 
von einzelnen derſelben überhaupt, ſofern es ihnen gelungen iſt, 
in den Jahren der Proſperität und über dieſelben hinaus durch 
zweckmäßig vorgenommene Meliorationen und ſorgfältige Kultur 
die Quantität ihrer Produktion zu ſteigern und die Qualität 
derſelben den Bedürfniſſen des Marktes anzupaſſen. 

Auch haben die Landwirte hie und da den Verſuch gemacht, 
ihre Reinerträge dadurch zu erhöhen, daß ſie die Verarbeitung 
ihrer Produkte wieder mehr ſelbſt in die Hand nahmen und ſich in 
dem Bezuge ihrer ſachlichen Produktionsmittel ſowie in dem Abſatze 
ihrer Produkte von den Zwiſchenhändlern zu emancipieren ſuchten. 

In erſterer Beziehung verdienen beſonders Erwähnung die 
allerdings nur vereinzelt gemachten Verſuche, das auf den eigenen 
Feldern gewonnene Getreide ſelbſt zu vermahlen ſowie das 
Mehl zu Brot für den Verkauf auf dem Lande und in den 
nahegelegenen Städten zu verbacken, und namentlich die in 
weitem Umfang eingetretene Verarbeitung der Milch zu Molkerei⸗ 
produkten und der Abſatz derſelben an die Konſumenten durch 


Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 121 


Molkereigenoſſenſchaften. In letzterer Beziehung iſt zu erwähnen 
der von den Landwirten mancher Gegenden ins Werk geſetzte 
genoſſenſchaftliche Bezug von Saatgut, Kraftfutter, künſtlichem 
Dünger und Maſchinen ſowie der gemeinſchaftliche Abſatz von 
Vieh und Fleiſch, ebenfalls mit Umgehung der Händler. Immer⸗ 
hin find das nur einzelne Anfänge, jo daß für die Vereins- 
und Genoſſenſchaftsthätigkeit hier noch ein weites Gebiet der 
praktiſchen Bethätigung offenliegt. 

Endlich möge noch derjenigen ſtaatlichen Thätigkeit gedacht 
werden, welche die allgemeine Förderung der Volkswirtſchaft und 
die ſpecielle Unterſtützung der Landwirtſchaft verfolgt. Hierher ge— 
hören im allgemeinen die mannigfachen Verbeſſerungen in den 
Verkehrsſtraßen und Verkehrsmitteln und ſpeciell die Förderung 
des landwirtſchaftlichen Vereins-, Unterrichts- und Ausſtellungs— 
weſens ſowie die ſeit 1879 eingeſchlagene Zollpolitik. 

Während in England das Vorwiegen der induſtriellen und 
Handelsintereſſen die Abhaltung der landwirtſchaftlichen Pro— 
dukte des Auslands durch Schutzzölle verhindert hat, ſo daß die 
engliſche Landwirtſchaft ſich kurzer Hand zur Einſchränkung des 
Cerealienbaues entſchließen mußte, find in Frankreich, Oſterreich⸗ 
Ungarn, Portugal, Italien und Schweden-Norwegen agrariſche 
Zölle eingeführt und ebenſo in Deutſchland die Agrarzölle nach 
ihrer Einführung im Jahre 1879 zweimal, in den Jahren 1885 
und 1887, erhöht worden. 

Daß trotz dieſer dem Rückgange der Preiſe entgegenwirken⸗ 
den Kräfte und Maßregeln die Lage der Grundbeſitzer eine 
ſchwierige iſt, kann nicht geleugnet werden. 

Alles in allem genommen charakteriſiert ſich die gegenwärtige 
Kriſis ſomit als ein Zuſtand geſunkener und ſinkender Grund— 
rente, gegen welches Sinken die Geſetzgebung, die landwirtſchaft— 
lichen Vereine und die einzelnen Landwirte ſich kräftig zu wehren 
ſuchen. Das Reſultat dieſer Gegenwehr und daher auch der 
Grad, bis zu welchem die Grundrente geſunken, iſt aber für die 
verſchiedenen Teile Deutſchlands und die verſchiedenen Beſitzer 


ſehr ungleich. 


122 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 


Unter der Kriſis leiden daher in erſter Linie dauernd die 
Grundeigentümer, ſodann in zweiter Linie die Pächter, dieſe 


jedoch nur ſolange, als der von ihnen kontraktlich zu zahlende 


Pachtzins nicht entſprechend der ſeit dem Kontraktabſchluß ge⸗ 
ſunkenen Grundrente reduziert worden iſt. In dritter Linie 
werden von der Kriſis aber auch alle diejenigen betroffen, welche 
beim Abſatz ihrer Produkte oder Leiſtungen auf die Landwirte 
angewieſen ſind, wozu namentlich die Fabrikanten für den land⸗ 
wirtſchaftlichen Betrieb erforderlicher Produktionsmittel (künſt⸗ 
licher Dünger, Kraftfutter, Maſchinen, Geräte ꝛc.), aber auch 
die Verfertiger ſolcher zum perſönlichen Bedarf dienender Artikel 


gehören, welche ihren lokalen Abſatz vorzugsweiſe in landwirt⸗ 
ſchaftlichen Kreiſen haben. Dagegen wußten die ländlichen Arbeiter 


ihre Löhne im ganzen auf der früheren Höhe zu behaupten, und 


auch der allgemeine Zuſtand der Landbautechnik iſt, dank den wiſſen⸗ 


ſchaftlichen Anregungen ſowie der Umſicht und Energie, welche die 


Landwirte auch in ſchweren Zeiten beweiſen, ein vorzüglicher. Trotz 


der Kriſis hat die Intenſivierung des landwirtſchaftlichen Betriebes 
auch in dem letzten Jahrzehnt zugenommen, was ſich namentlich 
in der konſtanten Vermehrung der Getreideerntemenge zeigt. 
Eine Ausnahme von dieſer Regel bilden meiſt nur die zur 


Subhaſtation gelangten Güter, welche häufig bereits lange vor 


der eingetretenen Kataſtrophe vernachläſſigt und während der 


Subhaſtationsperiode dann zum Teil vollſtändig devaſtiert werden. 


VII. 


Um einen Maßſtab für die Beurteilung der gegenwärtigen Kriſis 


zu gewinnen, wird es nicht überflüſſig ſein, dieſelbe mit der Kriſis, 
welche die deutſche Landwirtſchaft namentlich im Nordoſten in den 
zwanziger und dreißiger Jahren durchgemacht hat, zu vergleichen. 
Auch die letztere war veranlaßt durch ein ſtarkes Sinken der Ge⸗ 
treidepreiſe, welches nach Abſchluß der Kriegsjahre eintrat und bis 


zur zweiten Hälfte der dreißiger Jahre dauerte. War doch auf 


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Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 123 


dem Breslauer Markte der Preis für den Scheffel Roggen, 
welcher noch 1823 mit 28 Sgr. 5 Pfg. notiert war, in den 
Jahren 1824 und 1825 auf 17 Sgr. geſunken und im 
Jahre 1835 nur auf 22 Sgr. 3 Pfg. geſtiegen. Erſt 1837 
iſt derſelbe mit 37 Sgr. 4 Pfg. notiert. Ja, in den entlegenſten 
Teilen Oſtpreußens ſoll der Scheffel Roggen ſogar für 5 Sgr. 
angeboten worden ſein. Dank der mit dem Frieden wieder— 
erwachten Unternehmungsluſt, der freien Agrargeſetzgebung und 
der Anwendung der Lehren Thaers und Schwerz' auf die 
Praxis hatte die landwirtſchaftliche Produktion jener Jahre 
rapid zugenommen. Der vermehrten Produktion fehlte aber 
zunächſt der entſprechende Abſatz, namentlich weil der Zuſtand 
der Wege in Preußen am Anfange dieſer Periode ein elender und 
die Fracht daher ſehr hoch zu ſtehen kam; dann, weil der Export 
des Getreides auf dem Seewege nach England durch die engliſche 
Zollgeſetzgebung von 1815 außerordentlich erſchwert war, und 
endlich, weil die dünne inländiſche, noch weſentlich agrikole Be— 
völkerung mit ihrer Nachfrage nach Getreide dem Angebot des— 
ſelben nicht nur nicht folgen konnte, ſondern weil dieſe Nach— 
frage infolge der Zunahme des Kartoffelbaues zeitweilig ſogar 
zurückging. Dieſe niedrigen Preiſe drückten die Landwirte da— 
mals noch viel ſchwerer als gegenwärtig, weil namentlich die 
Gutsbeſitzer des Oſtens viel ausſchließlicher als jetzt auf den 
Cerealienbau angewieſen waren und neben dieſem in größerem 
Maßſtabe nur Schafzucht betrieben. 

Und auch damals wie jetzt trat die Landwirtſchaft wenig 
vorbereitet und zugleich viel weniger widerſtandsfähig als jetzt 
in die Kriſis ein. Denn die Kriegszeit von 1806-1815 hatte 
die Grundbeſitzer in ihren Vermögensverhältniſſen ſtark herunter⸗ 
gebracht. War doch während dieſer Zeit mehr als die Hälfte des Vieh- 
ſtandes in der Provinz Preußen draufgegangen, und blieben doch 
in Schleſien viele Rittergüter des rechten Oderufers, deren In— 
ventar im Kriege zerſtört worden war, noch jahrelang herrenlos, 
weil ſich kein Käufer für dieſelben finden wollte. Unter ſolchen 
Umſtänden iſt es begreiflich, daß die Folgen der Kriſis geradezu 


124 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 


in erſchreckenden Symptomen zu Tage treten mußten und zum 
Teil tiefer gingen als die Wunden, die der Krieg geſchlagen hatte. 
Handel und Schiffahrt lagen darnieder, und viele Kornhändler 
machten Bankerott. Die Grundbeſitzer zahlten ihre Steuern nu 
unregelmäßig und in manchen Gegenden gar nicht. An einen 1 


freihändigen Verkauf der Güter war nicht zu denken; dagegen 
war die Zahl der ſequeſtrierten und ſubhaſtierten Güter eine ſehr 
große. In Schleſien z. B., wo dieſelbe während der Kriegsjahre 
im Maximum 100 (Weihnachtstermin 1811) betrug, war ſie 
im Weihnachtstermin 1831 auf 114 geſtiegen, und zwar trotz⸗ 
dem die ſchleſiſche Landſchaft auch jetzt gegen ihre Schuldner 
die größte Nachſicht übte. Wie in Schleſien, ſo traten auch 
in der Provinz Preußen zahlreiche Subhaſtationen ein; hier 
wurden auf einmal 218 Güter öffentlich verſteigert, und in 


manchen Teilen der Provinz wechſelte die volle Hälfte der Güter 


ihre Beſitzer. Bei dieſen Verſteigerungen wurden im allgemeinen 
nur niedrige Angebote erzielt, ſo daß die Landſchaft Verluſte er⸗ 
litt und die ehemaligen Beſitzer in Vermögensverfall gerieten. 
Obgleich manche altangeſeſſene Adelsgeſchlechter durch eigene 
Thätigkeit oder wohlwollende Unterſtützung der Regierung! ſich 
in ihrem Beſitz erhielten, waren doch andere nicht zu retten. Zu 
den Salzburger Exulanten, von denen die Unternehmendſten ſich 
bereits früher zu Grundherren emporgearbeitet hatten, trat jetzt 
mit einem Male eine ganze Schar bürgerlicher Gutsbeſitzer aus 
Bremen, Braunſchweig und Sachſen hinzu, die dann um ſo 
beſſer gediehen, je tüchtiger ſie waren, je niedrigere Preiſe ſie zu 
zahlen, je weniger ſociale Bedürfniſſe ſie zu befriedigen und je 
ſpäter, d. h. je näher dem Ausgang der Kriſis, ſie ihre Güter 


1 Hierher gehören namentlich die in den beiden erſten Jahrzehnten 
unſeres Jahrhunderts in Preußen erlaſſenen Generalindulte und Moratorien 
ſowie die außerordentliche ſtaatliche Unterſtützung im Betrage von 3 Mil⸗ 
lionen Thalern = dem 16. Teile der damaligen Staatseinnahmen, welche 
den Landwirten Oſtpreußens im Jahre 1822 teils direkt gewährt wurde, 
teils indirekt zu gute kam. 


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Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 125 


gekauft hatten. Eine ähnliche Entwicklung der landwirtſchaft— 
lichen Verhältniſſe zeigt ſich in jenen Jahren der Kriſis auch in 
einigen anderen deutſchen Ländern, wie z. B. in Bayern, Schles— 
wig⸗Holſtein c. In Dithmarſchen z. B. war der Wert des 
Bodens ſo tief geſunken, daß der Staat diejenigen Hufen, die 
er wegen rückſtändiger Steuern den Beſitzern abgenommen hatte, 
fleißigen Knechten unentgeltlich zum Eigentum übergab, um die 
Steuern nicht auch in Zukunft zu verlieren. 


Verglichen mit den oben angeführten Thatſachen, laſſen die 
Symptome der gegenwärtigen Kriſis, ſoweit ſie in der Statiſtik 
der landwirtſchaftlichen Produktion, der Subhaſtationen, der 
Domänenverpachtung, der hypothekariſchen Verſchuldung und 
ihrer Bewegung für den Unbeteiligten deutlich erkennbar vor— 
liegen, dieſelbe noch lange nicht ſo akut erſcheinen, wie es die 
Kriſis der zwanziger und dreißiger Jahre war. Dabei iſt aller— 
dings zu erwägen, daß die Leiſtungen der Statiſtik auf dieſem 
Gebiete außerordentlich ungenügend ſind und daß die in den 
drei ſüddeutſchen Staaten Baden, Württemberg und Heſſen ver— 
anſtalteten Enqueten ſich weſentlich auf die erſte Periode der 
Kriſis beſchränken. Es iſt daher wohl möglich, daß — wie aus 
den betreffenden Kreiſen verſichert wird — gegenwärtig eine 
größere Anzahl von landwirtſchaftlichen Exiſtenzen ſich nur not— 
dürftig über Waſſer hält, in Zukunft aber ſicher zu Grunde gehen 
und erſt dann die ganze Schwere der gegenwärtigen Kriſis für 
jedermann erkennbar zu Tage treten wird. 


VIII. 


Die erſte Kriſis unſeres Jahrhunderts erreichte ihren Abſchluß 
dadurch, daß die am wenigſten widerſtandsfähigen Landwirte aus 
der Reihe der Grundbeſitzer ausſchieden, daß die übrigen ſich 
unter großen Opfern und Entbehrungen auf die niedrigen Ge— 
treidepreiſe einrichteten und endlich daß die ſinkende Tendenz 


126 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 


der Preiſe ſeit dem Schluß der dreißiger Jahre dem Steigen 
derſelben Platz machte. 


Wird nun auch die gegenwärtige Kriſis, die ähnliche Ent⸗ 
ſtehungsgründe und einen ähnlichen Verlauf aufweiſt, ähnlich 
ausgehen wie die der zwanziger und dreißiger Jahre? Dieſe 
Frage würde ſich nur dann mit Sicherheit beantworten laſſen, 
wenn man wüßte, wie lange der Preisdruck, der gegenwärtig 
auf den landwirtſchaftlichen Produkten laſtet, dauern und wie 
groß die Widerſtandsfähigkeit der Mehrzahl unſerer Gutsbeſitzer 
gegenüber der Kriſis ſein wird. 

Über dieſe beiden Punkte laſſen ſich aber nicht einmal be⸗ 
ſtimmte Vermutungen ausſprechen. Denn wenn auch von der 
Vermehrung der Bevölkerung und ihres Bedarfes, von der voll⸗ 
ſtändigen Urbarmachung der kulturfähigen Ländereien Rußlands, 
Nordamerikas und Indiens ſowie aus anderen Gründen eine 
Hebung der Preiſe der landwirtſchaftlichen Produkte erwartet 
werden darf, jo kann dieſer Zeitpunkt doch noch ſehr weit hin⸗ 
aus liegen, zumal ſich nicht überſehen läßt, ob und wieweit 
bisher unbekannte Länder, z. B. Teile von Sibirien, in Kultur 
genommen und weitere Erleichterungen und Verbilligungen des 
Transportes ins Werk geſetzt werden können (Panamakanal). 
Auch wäre es ein Fehlſchluß, wenn man von dem zähen Wider⸗ 
ſtande, den die deutſchen Grundbeſitzer bisher der Kriſis gegen- 
über gezeigt haben, ohne weiteres ſchließen wollte, daß ſich der⸗ 
ſelbe auch in der Zukunft gleich kräftig zeigen werde. 


Tritt nun in abſehbarer Zeit eine Steigerung der Preiſe 
der landwirtſchaftlichen Weltprodukte, alſo namentlich der Cere⸗ 
alien ein, ſo werden ſich die meiſten Grundbeſitzer Deutſchlands 


aller Wahrſcheinlichkeit nach bis dahin wenn auch nicht un⸗ 


gebeugt, ſo doch ungebrochen in ihrem Beſitz zu behaupten 
vermögen. 


Tritt dagegen die eben erwähnte Wendung in der Preis⸗ 
bewegung in abſehbarer Zeit nicht ein, ſo iſt mit ziemlicher 
Sicherheit anzunehmen, daß der Kriſis alle diejenigen gegen- 


Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 127 


= wärtigen Grundbeſitzer zum Opfer fallen werden, die ſich, 


namentlich weil ſie ſtark verſchuldet ſind, den im Vergleich zu 
den letzten Jahrzehnten für den Landwirt in ungünſtigem Sinne 
veränderten Konjunkturen nicht anzupaſſen vermögen. 


Da ſich nun über den Zeitpunkt, bis zu welchem die Ur— 
ſachen der gegenwärtigen Kriſis fortdauern werden, nichts Be— 
ſtimmtes ſagen läßt, ſo beſteht die Aufgabe der Gegenwart 
darin, den Hauptnachdruck auf diejenigen Maßregeln zu legen, 
welche die möglichſte Anpaſſung der Landwirtſchaft an die ge— 
gebenen Konjunkturen zum Ziele haben, und zugleich darin, die 
oben erwähnten Mängel und Unvollkommenheiten des landwirt- 
ſchaftlichen Betriebes und des Verkehrs mit Landgütern und 
landwirtſchaftlichen Produkten zu beſeitigen. 


Demnach wäre in erſter Linie anzuſtreben, daß die Land— 
wirte durch Betriebsveränderungen ſich vorzugsweiſe der Er— 
zeugung ſolcher Produkte zuwenden, für welche jeweilen die re— 
lativ höchſten Preiſe zu erzielen ſind; daß ſie die Qualität ihrer 
Produkte der Nachfrage entſprechend geſtalten und das Quantum 
derſelben auf der gegebenen Fläche vermehren; daß ſie, ſoweit 
es mit den obigen Zielpunkten vereinbar iſt, an Produktions- 
koſten möglichſt ſparen und wenigſtens den lokalen und natio= 
nalen Markt nach Thunlichkeit ſelbſt direkt verſorgen; endlich, 
daß ſie ihre Lebenshaltung einſchränken, nicht mehr im ſelben 
Umfange wie früher mit Hülfe des Kredits Grundbeſitz erwerben 
und, ſofern ſie den Beſitz ihrer Güter auch ihren Nachkommen 
erhalten wollen, die Übernahmetaren nach Maßgabe der gejun- 
kenen Grundrente herabſetzen. Jeder Grundbeſitzer, der dieſe 
Ziele zu erreichen vermag, iſt als ein ſolcher anzuſehen, der die 
Kriſis überwunden hat. 

Wenn die eben bezeichnete Thätigkeit auch in erſter Linie 
dem einzelnen Landwirt ſelbſt obliegt, ſo kann ſie doch ſehr 
weſentlich unterſtützt werden durch den Zuſammenſchluß und das 
Zuſammenwirken der Landwirte in Vereinen, Genoſſenſchaften 
und korporativen Verbänden ſowie durch Maßregeln der inneren 


128 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 


Volkswirtſchaftspolitik im allgemeinen und der Agrarpolitik im 
ſpeciellen. 

Dieſe Maßregeln würden ſich hauptſächlich zu richten haben 
auf das Gebiet der ſtaatlichen und kommunalen Beſteuerung 
(Übertragung einzelner ſtaatlicher Steuern auf die Kommunen 
und Übernahme einzelner kommunaler Laſten auf den Staat), 
des Kanal- und Eiſenbahnbaues, der teilweiſen Herabſetzung der 
Eiſenbahnfrachten, der Reform mancher Handelsuſancen und 


Handelseinrichtungen (Warenbörſen), der möglichſten Förderung 


des Genoſſenſchaftsweſens, der vermehrten Zugänglichkeit des 
niedrigen Zinsfußes für den Real- und Perſonalkredit auch der 
mittleren und kleinen Grundbeſitzer durch entſprechende Kredit⸗ 
organiſationen, der Beförderung von Ent- und Bewäſſerungen 
in großem Maßſtabe, der Konſolidierung und Kodifizierung der 
abſterbenden Reſte einer den Bedürfniſſen des Grundbeſitzes an⸗ 
gepaßten Vererbungsſitte in einem eigenen Inteſtaterbrecht 
u. a. m. 

Ob in der Folge dann noch weitere außerordentliche ſtaat⸗ 
liche Maßregeln nötig werden mögen, ähnlich wie ſie im Anfange 
des Jahrhunderts den notleidenden Landwirten Preußens zu teil 
geworden ſind, entzieht ſich zunächſt der Beurteilung und hängt 
davon ab, ob und wieweit die gegenwärtige Kriſis ſich in der 
Zukunft noch verſchärfen wird. 

Vergleichen wir zum Schluß das Ergebnis, zu dem wir in 
dieſer Arbeit gelangt ſind, mit den am Anfange derſelben kurz 
ſkizzierten agrarpolitiſchen Programmen, jo ſtimmen wir weder 
den quietiſtiſchen Optimiſten zu, welche die Hände in den Schoß 
legen und, wie ein ruſſiſches Sprichwort ſagt, „am Meere ſitzend 
auf beſſeres Wetter warten“ wollen, noch auch den Peſſimiſten, 
welche die beſtehenden wirtſchaftlichen und ſocialen Verhältniſſe 
für ſo verzweifelt halten, daß ihrer Anſicht nach nur durch eine 
vollſtändige Anderung unſerer geſamten Rechtsordnung, ins⸗ 
beſondere durch Umwandlung des Individualeigentums an Grund 
und Boden in Kollektiveigentum, geholfen werden könne. Aus 
demſelben Grunde vermögen wir uns auch der Forderung der 


. zu DT 


Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 129 


5 Übernahme ſämtlicher hypothekariſchen Schulden des ländlichen 


Grundbeſitzes durch den Staat nicht anzuſchließen, da eine ſolche 
naturnotwendig über kurz oder lang zur Verſtaatlichung des 
ländlichen Grundbeſitzes führen würde. Auch verſprechen wir 
uns für ein Staatsweſen wie das Deutſche Reich, das hinſichtlich 
der Einfuhr ſeiner landwirtſchaftlichen und der Ausfuhr ſeiner 
induſtriellen Produkte auf das Ausland angewieſen iſt, von dem 
Verſuche einer mechaniſchen Hebung der Preiſe für die landwirt— 
ſchaftlichen Produkte durch Schutzzölle auf die Dauer nur einen 
geringen Erfolg, da bei niedrigen Sätzen der Schutzzölle infolge 
der engen Zuſammenhänge und Beziehungen, welche heute unter 
den einzelnen Volkswirtſchaften beſtehen, unberechenbare Rück— 
ſchläge von außen und bei hohen, gleichſam prohibitiv wirken— 
den Sätzen infolge der widerſtreitenden Intereſſen der verſchiedenen 
Klaſſen ebenſo unberechenbare Rückſchläge von innen zu befürchten 
ſind. Endlich vermögen wir auch an das Zuſtandekommen eines 
auf die Regelung der Währungsverhältniſſe beſchränkten, alle 
Kulturſtaaten Europas und die nordamerikaniſche Union um— 
faſſenden Bundes ebenſowenig zu glauben wie an die dauernde 
Aufrechterhaltung eines ſolchen nur aus einigen wenigen Staaten 
beſtehenden Verbandes. 

Dagegen ſcheint uns ein Zollbund, beſtehend aus einer Reihe 
in gleicher oder ähnlicher wirtſchaftlicher Lage befindlicher mittel— 
und weſteuropäiſcher Staaten, zu den in abſehbarer Zeit realifier- 
baren Dingen zu gehören. Ja wir ſind der Anſicht, daß es 
neben dem Intereſſe der ländlichen Grundbeſitzer und induſtriellen 
Unternehmer das Intereſſe der arbeitenden Klaſſen und nament— 
lich die in Deutſchland inaugurierte Socialgeſetzgebung ſein wird, 
die zu ſolchen internationalen Vereinigungen und Organiſationen 
hindrängen werden, weil der weiteren Fortführung dieſer Geſetz— 
gebung auf lediglich nationaler Baſis ſich mit der Zeit 
unüberwindliche Hinderniſſe entgegenſtellen dürften. 

Ein ſolcher Zollbund könnte ſich, ſoweit er den Bedarf 
ſeiner Bevölkerung an landwirtſchaftlichen und induſtriellen Er- 


zeugniſſen vollſtändig zu decken vermöchte und in einem mit 
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit- u. Streitfragen. 9 


130 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 


dieſem Bunde in Beziehung zu ſetzenden umfaſſenden Kolonial⸗ 
gebiete auch die Bezugsquellen für ſeine Kolonialprodukte beſäße, 
ohne erheblichen Schaden nach außen hin ſchärfer und zugleich 
wirkungsvoller abſchließen, als es den einzelnen mittel⸗ und 
weſteuropäiſchen Staaten für ſich möglich iſt. In einem ſolchen 
Zollbunde würde auch eine Ausgleichung der Socialgeſetzgebung 
im weiteſten Sinn möglich ſein. | 


IV. 


Die Grundeigentumsverteilung und Erb- 
rechtsreform in Deutſchland. 


Referat für den Verein für Socialpolitik. Oktober 1882. 


Verehrte Anweſende! Wenn der Ausſchuß unſeres Vereins 
mir zur Wiedereröffnung der allgemeinen Verſammlungen nach 
faſt zweijähriger Pauſe das Wort erteilt hat, ſo empfinde ich 
das als eine beſondere Ehre. Darf ich doch hoffen, damit unſere 
fortan wieder regelmäßig ſtattfindenden Zuſammenkünfte ein⸗ 
zuleiten. 

Und daß wir uns regelmäßig verſammeln, dafür fehlt es 
uns wahrlich weder an Beratungsgegenſtänden noch an ſonſtigem 
Anlaß. | | 

Denn wir befinden uns in einer Übergangszeit, ſowohl hin- 
ſichtlich des wirtſchaftlichen Lebens ſelbſt als auch hinſichtlich 
der Wiſſenſchaft von demſelben. In einer ſolchen Zeit aber thut es 
not, die alten Formen des wirtſchaftlichen Lebens wie die alten 
Lehrſätze der Wiſſenſchaft auf ihre Widerſtandsfähigkeit und 
Richtigkeit und die neuen auf ihre Durchführbarkeit und innere 
Begründung zu prüfen. 

Wo vermöchte ſolches aber beſſer zu geſchehen als in 


einem Kreiſe von Perſonen, die lediglich durch das Intereſſe an 


demſelben Gegenſtande zuſammengeführt werden? 
9 * 


132 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 


Und während uns dasſelbe objektive Intereſſe zuſammen⸗ 
führt, hält uns trotz aller Differenzen im einzelnen im gro⸗ 
ßen Ganzen dieſelbe Geſinnung zuſammen. 

Wenn ich dieſe Geſinnung, ſoweit ſie das ſocialpolitiſche 
Gebiet betrifft, in eine kurze Formel zuſammenzufaſſen verſuche, 
ſo möchte dieſe ſo lauten, daß wir alle an den Errungenſchaften 
unſerer Kultur ſowie an dem wirtſchaftlichen Eckſtein derſelben, 
dem Privateigentum und der perſönlichen Freiheit, feſthalten, 
dieſe Errungenſchaften aber einem immer größeren Kreiſe von 
Perſonen zugänglich machen und damit die Kluft zwiſchen den 
beſitzenden und nichtbeſitzenden Klaſſen ſchließen oder doch wenig⸗ 
ſtens verengen möchten. 

Innerhalb dieſes weiten Programms, auf deſſen Durch⸗ 
führung unſere ganze Zeit hindrängt, iſt aber im einzelnen für 
die größten individuellen Meinungsverſchiedenheiten Raum. 

Zu uns gehören diejenigen, die ernſt und ehrlich von dem 
freien Zuſammenwirken, ſei es der unteren Klaſſen allein, ſei es 
der höheren mit ihnen und für ſie, eine Hebung des vierten 
Standes erwarten. Zu uns gehören gleichermaßen auch 
diejenigen, die von dem voluntarism allein den gewünſchten 
Erfolg nicht erhoffen und deshalb die Geſetzgebung mit ihrem 
Zwang herbeirufen. Zu uns endlich gehören auch diejenigen, 
denen eine arbeiterfreundliche Geſetzgebung nicht genügt, ſondern 
die allein von einer Ausdehnung des Gebiets der öffentlichen 
Wirtſchaft die Ausfüllung der mannigfachen Lücken und die 
Auflöſung der mancherlei Disharmonieen des privatwirtſchaft⸗ 
lichen Syſtems erwarten. 

Vielleicht, daß die Meinungsdifferenzen, die in dieſem 
Augenblick die ganze Nation durchziehen und in unſerem Verein 
wie in einem Mikrokosmus ebenfalls zum Ausdruck gelangen, 
ſich bis zu einem gewiſſen Grade vereinigen laſſen, wenn man 
jeder dieſer Anſichten ihre relative Berechtigung für ein beſtimm⸗ 
tes Land und eine beſtimmte Kulturſtufe zuerkennt. Und wahr⸗ 
ſcheinlich werden auch ihre Vertreter, indem ſie ſich ihre Anſichten 
bildeten, von den Eindrücken, die ſie in verſchiedenen Ländern 


Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 133 


empfingen, und von den Erfahrungen, die ſie an verſchiedenen 


Orten machten, weſentlich beſtimmt. Um uns die Verſchieden— 
heit der Kulturſtufen und der ſich aus denſelben ergeben— 
den Forderungen klar zu machen, brauchen wir aber nicht einmal 
in fremde Länder zu wandern. Bereits das Deutſche Reich zeigt 
uns innerhalb ſeiner Grenzen ſehr ſtarke Kontraſte. Hier an 
den geſegneten Ufern des Mains und Rheins hat eine jahr— 
tauſend alte Kultur, hat eine weſentlich homogene Nationalität 
eine gewiſſe Ausgleichung unter den verſchiedenen Klaſſen, ihren 
Anſchauungen, Sitten, ihrer Lebenshaltung geſchaffen. Hier 
wird man daher vielleicht hoffen dürfen, daß der regelmäßige 
Verlauf der Kultur von ſelbſt den im Intereſſe des Ganzen er- 
forderlichen Ausgleichungsprozeß auch ohne tief eingreifende In— 
tervention des Staates weiterführen werde. Ja ſelbſt wo es 
momentan größere Schwierigkeiten und Hemmniſſe zu überwinden 
gilt, da wird die freie Selbſthülfe der Arbeiter und der humane 
Sinn der Arbeitgeber aus eigener Initiative auch dieſe größten— 
teils — wenn auch nicht allein — zu überwinden wiſſen. An⸗ 
ders im Nordoſten, wo den Maſſen die erſt unlängſt beſeitigten 
Verhältniſſe der Grundherrſchaft noch immer im Blut und in 
den Sitten ſtecken. Dort iſt zu den aus alter Zeit ſtammenden 
Klaſſenunterſchieden der ländlichen Bevölkerung der erſt aus 
den letzten Jahrzehnten herrührende ſociale Gegenſatz in der 
Großinduſtrie hinzugetreten und die urſprüngliche Kluft da— 
durch nur noch erweitert worden. Und hierzu kommt noch in 
einigen Teilen des Oſtens der Unterſchied der Konfeſſionen und 
Nationalitäten und endlich eine Arbeiterbevölkerung, die weder 
die Fähigkeit noch die Übung beſitzt, ſich ſelbſt ſchrittweiſe das 
im gegebenen Augenblick Mögliche und Erreichbare zu erkämpfen. 

Und doch gehören dieſe verſchiedenen Kulturzuſtände ein und 
demſelben Reiche an, und doch drängt der erleichterte Austauſch 
der Gedanken und der Verkehr der Menſchen wie in den oberen 
und mittleren, ſo auch in den unteren Klaſſen nach einem Aus⸗ 
gleich der Lebensanſprüche und Lebenshaltung. 

Was Wunder, daß das Vorhandenſein dieſer Gegenſätze 


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134 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 


und das Gefühl des Unvermögens, dieſelben aus eigener Kraft 


auszugleichen, bald zu dumpfer Reſignation, bald zur größten 


Empfänglichkeit für die ausſchweifendſten Zukunftsphantaſieen 
führt. Dort im Nordoſten, wo einerſeits die unteren Klaſſen 
ſich nicht zu helfen wiſſen und die oberen zu dünn geſäet ſind, 
um ſie wirkſam unterſtützen zu können, und wo andererſeits ein 
Ausgleichungsprozeß, an dem im Süden und Südweſten Jahr- 
hunderte gearbeitet haben, in Jahrzehnten erfolgen muß, 
ſollen nicht die Errungenſchaften unſerer ganzen Kultur in Frage 
geſtellt werden, kann und muß der Staat viel tiefer eingreifen 
als im Süden und Weſten. Dabei hat er aber zugleich das 
propter vitam vitae perdere causas zu vermeiden oder, zu 
deutſch, die Eckſteine der Kultur, Eigentum nnd Freiheit, mög⸗ 
lichſt zu ſchonen, indem er die Kultur verteidigt und ausbreitet. 

Für dieſe verſchiedene ſocialpolitiſche Aufgabe, die dem 
Staat im Südweſten und Nordoſten unſeres Vaterlandes er⸗ 
wächſt, giebt es ein nicht unintereſſantes Präcedenz in der neuen 
Agrargeſetzgebung. Im Weſten und Süden Deutſchlands hatte 
ſich die Agrarverfaſſung des Mittelalters im Laufe der Jahr⸗ 
hunderte gleichſam von ſelbſt zu größerer Freiheit entwickelt. 
Es bedurfte daher, um ſie vollſtändig zu beſeitigen, in unſerem 
Jahrhundert nicht ſo radikaler Eingriffe wie im Nordoſten. Hier 
dagegen mußte unvermittelt mit einem Schlage ein ganz neuer 
Zuſtand geſchaffen werden, für den es Vorbereitungen nur auf 
den königlichen Domänen gab. Es mußte der Staat ſomit hier 
erſt ſelbſt eine Saat ausſtreuen, deren Früchte er dereinſt 
pflücken wollte, während im Weſten und Süden demſelben die 
leichtere Aufgabe zufiel, den Baum mehr oder minder ſtark 
zu ſchütteln, von dem die Frucht der modernen Agrarverfaſſung, 
langſam gereift im Lauf der Jahrhunderte, gleichſam von ſelbſt 
herabfallen ſollte. 

Das eben gebrauchte Bild führt mich unwillkürlich zu 
meinem eigentlichen Thema: den Beziehungen des Erbrechts zu 
der Verteilung des Grundeigentums im Deutſchen Reiche. 

Ehe ich in die Behandlung desſelben eintrete, bedarf es 


EB Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutfchland. 135 


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aber wohl einer kurzen Erklärung, wie der Verein für 


1 
es 
* 


Socialpolitik zur Wahl dieſes dem Gebiet der Agrar- und 
Juſtiz politik angehörenden Themas gekommen iſt. Dieſe Er- 
klärung dürfte in der eminent ſocialpolitiſchen Bedeutung dieſes 
Gegenſtandes liegen. Denn das Wohl und Wehe des ländlichen 
Arbeiterſtandes wird kaum durch ein anderes Moment ſo ſehr 
beſtimmt wie durch die Grundeigentumsverteilung, und dieſe 
hängt weſentlich von der Geſtaltung des Erbrechts ab. 

Ich beginne mit einer Skizzierung der Art, wie der deutſche 
Boden nach Eigentumseinheiten verteilt iſt. An den nötigen 
Zahlen hierfür, welche, wenn ſie ihren Zweck vollſtändig erfüllen 
ſollen, aus ein und derſelben Zeit ſtammen und nach denſelben 
Geſichtspunkten aufgenommen und bearbeitet ſein müßten, fehlt 
es freilich ſogut wie vollſtändig. Doch genügt das vorhandene 
Material immerhin, um die Entwerfung eines im allgemeinen 
zutreffenden Bildes zu ermöglichen. 

Dieſes nun zeigt im Nordweſten und Südoſten unſeres 
Vaterlandes gewiſſe gemeinſame Züge, während der Süd— 
weſten und der Nordoſten in einem Gegenſatz zueinander 
ſtehen. 

Im Nordweſten und Südoſten wiegt der bäuerliche Grund— 
beſitz vor und findet ſich neben demſelben einerſeits eine verhältnis⸗ 
mäßig kleine Zahl großer Güter, deren Geſamtareal jedoch im 
allgemeinen nicht über 25 Prozent des Bodens einnimmt, und eine 
große Anzahl kleiner Güter, deren Geſamtareal dem der großen 
Güter nicht einmal gleichkommt. Wenigſtens die Hälfte, in einigen 
Gegenden aber auch ein viel größerer Prozentſatz allen Bodens wird 
vom bäuerlichen Beſitz eingenommen. Es gehören zur nord— 
weſtlichen Ländergruppe einmal die deutſchen Küſtenſtriche an 
der Nordſee und ihre Fortſetzungen im Binnenlande, alſo nament⸗ 
lich der weſtliche und mittlere Teil von Schleswig-Holſtein, das 
bremiſche Landgebiet, Oldenburg, Hannover, Weſtfalen, Braun⸗ 
ſchweig, die heſſiſche Grafſchaft Schaumburg, die beiden Lippe, 
Waldeck, und zur ſüdöſtlichen Gruppe der größte Teil von 
Ober⸗ und Niederbayern, Teile der bayeriſchen Kreiſe Oberpfalz 


136 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 


und Schwaben ſowie jenſeits des Deutſchen Reichs die deutſchen 
Kronländer Oſterreichs. Die Verbindung zwiſchen beiden kom⸗ 
pakten Ländermaſſen bilden Teile der thüringiſchen Staaten 
und hier wieder namentlich der Oſtkreis des Herzogtums Alten⸗ 
burg und Teile des Königreichs Sachſen. Es ſind das vorzugs⸗ 
weiſe vom ſächſiſchen und frieſiſchen ſowie vom bayeriſchen 
Volksſtamm bewohnte Länder, in denen die hofweiſe Anſiedelung 
namentlich am Meer und im Gebirge häufig vorkommt und die 
Wirtſchaften größtenteils — wenn man von der ſich neuerdings 
in Braunſchweig, Hannover und anderwärts ausbreitenden Rüben⸗ 
kultur abſieht — auf Getreidebau und Viehzucht baſiert ſind. 
Die Eigentümer der Bauerngüter bewirtſchaften dieſelben mit 
ihren Familien und einem fremden Dienſtperſonal ſelbſt. Sie 
ſind Eigentümer, Dirigenten, Aufſeher und Arbeiter in einer 
Perſon. Und hierin ſowie in der ſich an die natürliche Glie⸗ 
derung der Familie anſchmiegenden Arbeitsteilung beſtehen die 
Hauptvorzüge dieſer bäuerlichen Wirtſchaften. 

Ein geſunder Bauernſtand findet ſich zerſtreut auch noch in 
vielen Teilen des deutſchen Nordoſtens und in einigen des 
Südweſtens. Doch wird er dort im allgemeinen durch den 
großen und hier durch den kleinen Grundbeſitz in den Hinter⸗ 
grund gedrängt. 

Die Küſtenſtriche um die Oſtſee und ihre Fortſetzungen bis 
tief in das Binnenland hinein: der Oſten Schleswig-Holſteins, 
die beiden Mecklenburg und die öſtlichen Provinzen Preußens 
ſind vorzugsweiſe die Sitze des großen Grundbeſitzes, welcher 
hier zum mindeſten 50, hie und da wohl aber 60 und 70, ja 
in Neu⸗Vorpommern über 80 Prozent des geſamten Bodens ein⸗ 
nimmt. Dieſe öſtlich von der Elbe gelegenen, urſprünglich von 
Slaven bewohnten Länder ſind für die deutſche Kultur verhältnis⸗ 
mäßig ſpät gewonnen worden und dürfen den Germaniſierungs⸗ 
prozeß auch heute noch nicht als völlig abgeſchloſſen anſehen. 
Auf den großen Rittergütern und den umfangreichen Domänen 
haben der Getreide-, Kartoffel- und Rübenbau, die Viehzucht, 
die Waldwirtſchaft und die landwirtſchaftlichen Nebengewerbe: 


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Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 137 


Branntweinbrennerei, Bierbrauerei, Zuckerfabrikation, ihre natur- 
gemäße Stätte. 


Den größten Gegenſatz zum Nordoſten bildet in jeder 


Beziehung das mittlere und ſüdweſtliche Deutſchland. 


Zunächſt hinſichtlich der Verteilung des Grundeigentums. Wie 
im Nordoſten die großen, ſo herrſchen hier die kleinen 
Güter vor, welche gewöhnlich nur gerade hinreichen, um die den 
Landbau ſelbſt betreibende Familie zu ernähren und zu beſchäftigen. 
Nimmt in den Großgüterbezirken der ſpannfähige Bauernhof die un- 
terſte oder doch eine mittlere Sproſſe auf der Leiter der ver- 
ſchiedenen Güter ein und ſind demſelben nur hier und da aus— 
nahmsweiſe kleinere Landſtellen beigemiſcht, jo iſt in Mittel- 
ſowie in Süddeutſchland das größere Bauerngut auf der Skala 
der Grundeigentumsverteilung zur höchſten Stufe avanciert und 
teilt dieſe Stellung hier nur noch mit dem ſtandesherrlichen Beſitz 
und dem Beſitz der toten Hand. Die Rolle, die neben dem Brivat- 
beſitz im Nordoſten ausſchließlich das Domänengut ſpielt, muß das— 
ſelbe im Süden mit dem noch umfangreichen Gemeindebeſitz teilen. 
Wie im Nordoſten der Staat die mittelalterliche Agrarverfaſſung 
bis in ihre letzten Konſequenzen auflöſte, ſo hat er auch die Ge— 
meindegründe allgemein der Teilung unterworfen, während man im 
Südweſten auch in dieſer Beziehung weniger ſchroff vorgegangen 
iſt, ſo daß ſich hier bis auf den heutigen Tag noch ſehr umfangreiche 
Allmenden erhalten haben. Nach unten läuft die breite Schicht der 
kleinen Güter im Südweſten und in Mitteldeutſchland in zahl— 
reiche Zwerg⸗, Gewerbe- und Tagelöhnergüter aus, jo daß 
hier der größte Teil des Bodens (zwiſchen 60 und 80 Prozent) von 
dem Klein⸗ und Zwergbeſitz eingenommen wird. Hierher gehört 
der größte Teil der thüringiſchen Staaten, der beiden Heſſen, der 
fränkiſchen Teile Bayerns, Naſſaus, der Rheinprovinz und 
ein Teil von Württemberg, Baden und Eljaß - Lothringen, 
Dieſe Länder finden ſich faſt ausſchließlich von Franken, Alle: 
mannen, Heſſen und Thüringern beſiedelt: lauter Stämmen, die 
ſich bereits ſeit den Anfängen deutſcher Geſchichte auf dem von 
ihnen jetzt eingenommenen Boden dorfweiſe niedergelaſſen haben 


138 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutfchland. 


und bereits damals mit der römiſchen Kultur in mehr oder 
minder nahe Berührung gekommen ſind. Der kleine Umfang 
der Güter, das Zerfallen dieſer in viele kleine Parzellen, die 
Gemengelage und der teilweiſe noch gegenwärtig beſtehende 


Flurzwang ſind zugleich ebenſo viele Hinderniſſe für einen ratio⸗ 
nellen Ackerbau im großen Stil der norddeutſchen Wirtſchaften. 
Dieſelbe Rolle, die auf dem Ritter- und Domänengut das 
Kapital und die intelligente Leitung ſpielen, übernimmt hier das 


hochgradige Intereſſe und die unermüdliche Sorgfalt des ſeine 


Scholle mit den Seinigen ſelbſt bebauenden Kleingütlers. Der 
kleine Umfang des Grundbeſitzes, verbunden mit einer ſehr 


dichten Bevölkerung, führt daher zu großer Arbeitsintenſivität des 


Betriebs, zur Erſetzung des Pferdes durch die Kuh, des Pfluges 
durch den Spaten, des Wagens durch den Tragkorb. Nament⸗ 
lich in den fruchtbaren Flußthälern und Ebenen mit mildem 
Klima treten der Ackerbau und die Viehzucht hinter den Gemüſe⸗, 
Wein⸗ und Handelsgewächsbau ſowie die Obſtzucht zurück. 
Größere ſpannfähige Bauerngüter finden ſich hier im allgemeinen 
nur ſelten, verſprengt unter den kleinen Gütern, vor und nur 
ausnahmsweiſe drücken ſie der Bodenverteilung einer Gegend 
ihren Stempel auf, ſo z. B. im badiſchen Schwarzwalde, im 
württembergiſchen Oberſchwaben, im Hohenloheſchen u. ſ. w. 
Sollen wir mit den meiſten Agrarpolitikern der Gegenwart 
diejenige Verteilung des ländlichen Grundeigentums als die 
günſtigſte bezeichnen, in der ſich der große, mittlere und kleine 
Beſitz entſprechend der natürlichen Ausſtattung und der wirt⸗ 
ſchaftlichen Kulturſtufe eines Landes in zweckmäßiger Weiſe ge⸗ 


miſcht findet und der bäuerliche Grundbeſitz überwiegt, ſo wird 


dieſer Typus der Grundeigentumsverteilung dem heutzutage an 
jedes wirtſchaftliche Gebilde anzulegenden ſocialpolitiſchen Maß⸗ 
ſtabe beſſer entſprechen müſſen als jeder andere Typus. 

Und in der That befindet ſich die breite Maſſe der Be⸗ 
völkerung bei einem ſolchen Gemiſch der verſchiedenen Güter⸗ 
größen am beſten, vorausgeſetzt nur, daß die großen Güter keinen 
zu weiten Raum einnehmen, daß es an kleinem und kleinſtem 


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. iR Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 139 


Beſitz für den ſtrebſamen und tüchtigen Arbeiterſtand nicht fehlt 


und daß die ſpannfähigen Bauerngüter vorwiegen. 


Ich will verſuchen, dieſes Urteil näher zu begründen. 

In den Bezirken des einſeitig vorwiegenden großen Grund— 
beſitzes kann das Einkommen der ländlichen Arbeiter unter Um— 
ſtänden ein hohes ſein. Dieſe Eventualität trifft in den Ländern 
mit fruchtbarem Boden und günſtiger Abſatzgelegenheit, wie z. B. 
an der Oſtküſte Holſteins, in Neu-Vorpommern, in einem Teil 
Mecklenburgs ꝛc., zu. Schreitet die Bevölkerung nicht zu früh 
zur Ehe, ſo pflegt die Lebenshaltung derſelben — ausſchließlich 
gemeſſen an dem, was ſie ißt und trinkt und wie ſie ſich kleidet, 
— hier eine befriedigende zu ſein. Aber die ſtarke überſeeiſche 
Auswanderung aus dieſen Gegenden ſowie die große Empfänglich— 
keit, welche die ſocialdemokratiſche Agitation unter den länd— 
lichen Arbeitern dieſer Gegenden findet, zeigen denn doch, daß es 
denſelben an dem rechten Behagen ſowie namentlich an derjenigen 
Anhänglichkeit an die heimatliche Scholle fehlt, welche wir unter 
der Bevölkerung anderer Gegenden unſeres Vaterlandes ſelbſt 
bei niedrigerer Lebenshaltung finden. Den Grund hiervon er— 
blicke ich in der großen Schwierigkeit für die Arbeiter, ſich einen 
kleinen Beſitz zu erwerben und jo allmählich durch Fleiß, Spar- 
ſamkeit und Glück innerhalb des von ihnen erwählten Berufs 
und auf der heimiſchen Scholle vorwärts zu kommen. Denn 
auch die Anſäſſigmachung als Inſtleute auf den großen Gütern 
iſt kein Surrogat für die Erwerbung eines eigenen Beſitzes. In— 
dem die Anſäſſigmachung auf der Inſtſtelle zu frühem Heiraten 
führt, ſchließt ſie mit dem meiſt darauf folgenden reichen Kinder— 
ſegen zugleich jede Ausſicht auf eine beſſere Zukunft aus. Der 
Inſtmann wird faktiſch zu einem glebae adscriptus, der das 
Gefühl des freien Grundbeſitzers nicht kennt und nicht kennen 
kann. Dazu kommt dann noch die weite Kluft, die in den 
Großgüterbezirken die ländlichen Arbeiter, mögen ſie nun zum 
Geſinde, zu den freien Tagelöhnern oder den Inſtleuten gehören, 
von der Gutsherrſchaft und den gutsherrlichen Beamten trennt 
und hier ähnliche ſociale Verhältniſſe ſchafft wie in den Bezirken 


140 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 


der Großinduſtrie, wo zwiſchen dem Unternehmer und dem Ar⸗ Er 


beiter eine nur ſelten überbrückbare Kluft beiteht. a 
Das entgegengeſetzte Bild zeigen die ſocialen Verhält⸗ | 


niſſe der Kleingüterbezirke. Hier ift fait jedermann auf Er 
dem Lande Grundeigentümer oder kann es doch mit einigem 


Aufwande von Arbeit und Sparſamkeit werden. Aber bei der 
dichten Bevölkerung liegt die Gefahr nahe, daß die kleinen Güter 
durch wiederholte Teilung zu Zwerggütern werden, Zwerggütern, 
die zu klein zur vollſtändigen Ernährung einer Familie und zur 
Ausnutzung ihrer Arbeitskräfte find. Die Klein- und Zwerg⸗ 
gütler pflegen bereits in gewöhnlichen Zeiten, bei Durchſchnitts⸗ 
ernten, aus den Gütern nur das für ihren Unterhalt Allernotwendigſte 
herauszuwirtſchaften. Mißrät dann die Ernte während einer Reihe 
von Jahren, bricht eine Viehſeuche aus, zerſtören Krieg oder Revo⸗ 
lution die Frucht des Feldes, ſo gelangt der Kleingütler in die 
äußerſte Bedrängnis. Denn an Erſparniſſen aus guten Jahren fehlt 
es entweder ganz, oder wo ſie vorhanden ſind, ſind ſie doch ſehr 
bald verzehrt, und eine weitere Reduktion der Lebenshaltung iſt 
kaum möglich. In ſolchen Zeiten kommen dem kleinen Beſitz 
auch ſeine ſocialpolitiſchen Vorzüge abhanden. Beſtehen dieſe in 
normalen Zeiten hauptſächlich darin, daß der Kleingütler trotz 
angeſtrengter Arbeit und vielfachen Entbehrungen dennoch mit 
ſeinem Schickſal zufrieden iſt, mit Zähigkeit und Liebe an der 
heimiſchen Scholle hängt und den Verlockungen ſocialer und po⸗ 
litiſcher Utopiſten den Widerſtand des konſervativen Beſitzers 
entgegenſtellt, ſo ändert ſich jetzt, wo der Beſitzer zum Proletarier 
herabſinkt, auf einmal das Bild. Not und Verzweiflung 
drängen die Bewohner ganzer Dörfer zur Auswanderung, und 
es bemächtigt ſich ihrer eine bis dahin völlig unbekannte Em⸗ 
pfänglichkeit für ſociale und politiſche Umſturzpläne. Mithin 
ſtellt ſich unter den Kleingütlern in ſolcher Zeit der Not aus⸗ 
nahmsweiſe ein Gemütszuſtand ein, wie er bei der beſitzloſen 
Bevölkerung der Großgüterbezirke die Regel bildet und gerade 
dort am ſtärkſten hervortritt, wo die Lebenshaltung am höchſten 
iſt. Als Beleg hierfür erinnere ich nur an das Verhalten der 


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Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 141 


ländlichen Arbeiterbevölkerung eines Teils des deutſchen Nordens 


während des letzten Jahrzehnts und namentlich während der 
erſten Hälfte der 70 er Jahre und an das Verhalten der ſüd— 
deutſchen Bevölkerung am Ende der 40 er und am Anfang der 
50 er Jahre. 

Die Mängel der eben erwähnten Extreme der Bodenver- 
teilung auf ſocialem Gebiet finden ſich am beſten vermieden dort, 
wo bei einer zweckmäßigen Miſchung von Gütern verſchiedener 
Größe der ſpannfähige bäuerliche Beſitz den Grundſtock bildet. 
Was den Bauer vor allem auszeichnet, iſt, daß er eine Reihe 
von ſchlechten Jahren leichter zu überwinden vermag als der 
Kleingütler und unter Umſtänden auch als der Großgrundbeſitzer. 
Denn in der Fähigkeit, ſich krumm zu legen, macht keiner es 
ihm gleich. Der Bauer iſt ferner ein notwendiges Mittelglied 
zwiſchen dem Großgrundbeſitzer und dem ländlichen Arbeiter. 
Wo im Nordoſten der Bauernſtand fehlt, da will auch die Be— 
gründung kleiner Landſtellen nicht gelingen: bedürfen doch die Be— 
ſitzer derſelben zu ihrem Gedeihen eines mannigfach abgeſtuften 
Bauernſtandes, an den ſie ſich anlehnen, und freier Gemeinde— 
verhältniſſe, in denen ſie ſich wohl fühlen können. Wo aber beides 
fehlt, fehlen auch die Vorausſetzungen für eine anſäſſige und zu⸗ 
friedene Arbeiterbevölkerung. Wer dieſe ſchaffen will, ſchaffe daher 
zuerſt einen kräftigen Bauernſtand und geſunde Gemeindeverhältniſſe. 

Aber worin beſteht denn die beſſere Lage der ländlichen 
Arbeiter bei vorherrſchend bäuerlichem Grundbeſitz? Etwa in 
einem hohen Einkommen? Das Einkommen der Tagelöhner, 
des Geſindes und der Inſtleute des Großgrundbeſitzes iſt nicht 
ſelten höher. Oder in der großen Leichtigkeit, mit der ſie zu 
eigenem Grundbeſitz gelangen können? In dieſem Punkt ſind 
ihnen wieder die Arbeiter der Kleingüterbezirke überlegen. Alſo 
wohl darin, daß weil die Gelegenheit zur Erwerbung des Grund— 
beſitzes nicht ſo allgemein verbreitet iſt wie in den Klein- und 
Zwerggüterbezirken, die ländliche Bevölkerung im Durchſchnitt 
ſich nicht ſo früh niederläßt und heiratet, auch nicht ſo ſehr an 
der Scholle klebt, ſondern leichter in andere Berufe abſtrömt. 


142 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 


Und ſodann darin, daß denjenigen, die ſich der Landwirtſchaft 8 ; 


dauernd widmen, die Bahn zum Fortſchreiten innerhalb ihres 


Berufs und zur Erwerbung eines Beſitzes doch wieder ungleich = 


mehr geebnet ift als in den Großgüterbezirken. 

Wir wiſſen namentlich aus Weſtfalen, daß hier die länd⸗ 
lichen Arbeiter als Knechte oder Heuerlinge auf den Bauern⸗ 
oder Rittergütern beginnen und aus dieſer Stellung ſich nicht 
ſelten in die Klaſſe der kleinen Kötner und Brinkſitzer empor⸗ 
arbeiten, und daß es dann ihnen ſelbſt oder ihren Kindern 
wieder gelingt, ſich zuerſt in den Beſitz eines kleinen und dann 
vielleicht auch in den eines größeren Bauernguts zu ſetzen. 
Wenn der Übergang in die Klaſſe der Grundbeſitzer hier im all⸗ 
gemeinen langſamer vor ſich geht, und ſchwieriger iſt als in 
den Kleingüterbezirken, ſo iſt das erreichbare Ziel dafür auch 
wieder höher geſteckt. Auch beeinflußt die höhere Lebenshaltung 
des Bauernſtandes die Lebenshaltung der unter ihm ſtehenden 
Klaſſen. Dieſe höhere Lebenshaltung macht die Bevölkerung der 
Bauerngutsbezirke ländlichen Notſtänden gegenüber viel wider⸗ 
ſtandsfähiger als die Bevölkerung der Kleingüterbezirke. So iſt 
denn bei vorherrſchendem Bauerngutsbeſitz die auf die Erhaltung 
der beſtehenden Zuſtände gerichtete Geſinnung eine viel all⸗ 
gemeinere als in den Großgüterbezirken und zugleich eine viel 
konſtantere als in den Kleingüterbezirken. 

Prüfe ich die Verteilung des deutſchen Grundbeſitzes nach 
dieſem eben gewonnenen Maßſtabe, ſo gelange ich zu dem Schluß, 
daß ſie den obigen Anforderungen im ganzen Nordweſten und 
Südoſten, aber auch noch immer auf großen Strecken des Nord⸗ 
oſtens und Südweſtens entſpricht. 

Eine Ausnahme bildet nur ein Teil des Nordoſtens und 
Südweſtens. Wenn in Mecklenburg der Bauernſtand im ritter⸗ 
ſchaftlichen Gebiet auf ein Minimum reduziert iſt oder wenn in 
Neu⸗Vorpommern mehr als 80 Prozent des nutzbaren Bodens 
von ſelbſtändigen Gutsbezirken eingenommen werden oder wenn 
in Oberſchleſien von 1193 ſelbſtändigen Gutsbezirken ſich 528 in 
der Hand von nur 49 Perſonen befinden, ſo wird man nicht 


Kr * 5 


Br Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 143 


* leugnen können, daß hier Anſätze zu Latifundienbildungen vor- 


liegen, die, weiter entwickelt, uns zu engliſchen Zuſtänden führen 
müſſen. Und andrerſeits iſt die Zerſplitterung der Güter in 
einzelnen Gegenden von Mittel- und Süddeutſchland wieder 
ſoweit gediehen, daß eine rationelle Bodenkultur hier aus— 
geſchloſſen iſt und die kleinen Beſitzer leicht zu Proletariern 
herabſinken. 

Damit gelange ich zu dem Reſultat, daß dort, wo ein ge— 
ſunder Bauernſtand prävaliert, die Verteilung des Grundbeſitzes 
ihren Schwerpunkt gleichſam in dieſem hat und damit die Ga- 
rantie längerer Dauer darbietet, während Länder mit einſeitig 
vorwiegendem Großgrundbeſitz zur Latifundienbildung und 
Länder mit einſeitig vorwiegendem Kleinbeſitz zur Zwerggüterei 
hinneigen, alſo über ſich ſelbſt hinaus auf krankhafte Zuſtände 
hinweiſen. 

Wenn nicht alle Anzeichen trügen, ſo tritt innerhalb unſerer 
im ganzen geſunden Grundeigentumsverteilung dieſe letztere Er— 


ſcheinung, nämlich die Zunahme einerſeits der ſehr großen und 


andererſeits der ganz kleinen Güter, beides auf Koſten des 
mittleren Beſitzes, in den letzten Jahrzehnten immer ſtärker 
zu Tage. 

Daß wir hier nur von Vermutungen ſprechen können, wo 
wir abſolute Sicherheit haben ſollten, gereicht unſerer Statiſtik 
nicht zur Ehre. Denn außer den beiden bekannten Denkſchriften 
des preußiſchen Miniſteriums für landwirtſchaftliche Angelegen— 
heiten beſitzen wir keinerlei zuverläſſiges Material über dieſen 
Gegenſtand. Die preußiſchen Zahlen reichen aber nur bis zum 
Jahre 1865, auch leiden ſie an mehr als einem Mangel. So 
iſt die ganze Aufnahme auf den Begriff der Spannfähigkeit 
baſiert, ohne daß dieſer ſelbſt genau und gleich verbindlich für 
alle Gegenden feſtgeſtellt worden wäre. Und in dem Grau der 
allgemeinen Durchſchnittszahlen vermögen wir das Schwarz und 
Weiß, aus deren Gemiſch dasſelbe entſtanden iſt, nicht mehr zu 
unterſcheiden. Sollen dergleichen Durchſchnittszahlen daher von 
Wert ſein — und ſie können es ſein — ſo müſſen ſie durch 


144 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutfchland. 


einzelne Unterſuchungen, welche die typiſchen Vorgänge innerhalb 
engerer Grenzen feſtſtellen, ergänzt werden. 

Ehe ich durch bündige beweiskräftige Zahlen widerlegt 
werde, halte ich daran feſt, daß unſere im ganzen geſunde 
Bodenverteilung ſich auf dem Wege befindet, auszuarten und 
krankhaft zu werden. | 

Dieſe Anſicht ſtütze ich auf eine Reihe von Notizen, die ich 
ſowohl offiziellen wie privaten Quellen entnehme. 

Auf die eben behauptete Thatſache läßt ſich, abgeſehen von 
den einzelnen Daten, welche ſie zu verbürgen ſcheinen, auch ſchon 
aus allgemeinen Gründen ſchließen. Dieſe Gründe ſind in dem 
Anwachſen der ländlichen Bevölkerung und in der außerordent⸗ 
lichen Zunahme des beweglichen Kapitals zu finden. 

So iſt der Prozeß des Kleinerwerdens der Güter eine Folge 
geſteigerter Arbeitsintenſität und das Größerwerden eine Folge 
beſſer durchgeführter Arbeitsteilung, vermehrter Benutzung von 
Maſchinen und überhaupt größerer Kapitalsintenſivität der Wirt⸗ 
ſchaft. In den beiden eben erwähnten Fällen gehen die Ver⸗ 
änderungen zuerſt in dem Umfang der Wirtſchaften vor ſich, und 
an dieſe ſchließen ſich bei uns mehr oder minder ſchnell die Ver⸗ 
änderungen in den Gütergrößen an. Es iſt alſo die Veränderung 
in den Wirtſchaftseinheiten, welche zugleich zur Veränderung der 
Beſitzeinheiten führt. Und wir können es nur mit Freuden be⸗ 
grüßen, daß in Deutſchland beide Prozeſſe im allgemeinen — 
wenn wir von einigen Ausnahmen abſehen — miteinander Hand 
in Hand gehen oder doch der eine dem andern unmittelbar zu 
folgen pflegt, während z. B. in England und Irland und neuer: 
dings auch in einigen Teilen Frankreichs die wirtſchaftliche Kor⸗ 
rektur der vorhandenen Eigentumseinheiten durch Zerlegung der 
großen Güter in einzelne Teile und deren Verpachtung erfolgt, was 
meiſt zum Abſenteeismus der Grundeigentümer führt. 

Was wir an den neueſten Veränderungen in der Verteilung 
des deutſchen Grundbeſitzes tadeln, iſt aber nicht dieſes, daß ſich 
die Güter vergrößern und verkleinern, entſprechend den vorhan⸗ 
denen Bedürfniſſen der Volkswirtſchaft ſowie des landwirtſchaft⸗ 


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Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 145 


lichen Betriebs, ſondern daß es häufig geſchieht unabhängig von 
dieſem innerlich begründeten und deshalb unaufhaltbaren Prozeß 
lediglich infolge von Tendenzen, welche dem beweglichen Kapital 
als ſolchem innewohnen. 

Dieſe Tendenzen treten hauptſächlich in folgenden beiden 
Vorgängen deutlich und prägnant zu Tage. 

Wie im Spekulationshandel mit Effekten auf der Börſe, 
ſucht ein Teil des Geldkapitals im Grundbeſitz ſeine Anlage, 
lediglich um durch wohlfeilen Einkauf und teueren Verkauf 
einen möglichſt großen Handelsgewinn zu erzielen. Am billigſten 
laſſen ſich ſolche Güter ankaufen bei Leuten, die ſich in finanzieller 
Klemme befinden, und wo dieſe nicht von ſelbſt eintritt, da ver⸗ 
ſucht man ſie künſtlich zu erzeugen, um ſie dann beliebig aus— 
nutzen zu können. Und am beſten laſſen ſich ſolche Güter dann 
wieder verwerten, wenn man ſie in Teile zerlegt und dieſe 
Teile entweder an einen benachbarten Beſitzer oder an beſitzloſe 
Arbeiter verkauft. Je unſicherer die rechtzeitige Bezahlung des 
Kaufſchillings erſcheint, um ſo höher wird dieſer ſelbſt normiert. 
Man begnügt ſich wohl auch mit der Anzahlung, treibt den 
Käufer gelegentlich zum Zwangsverkauf und kauft das Grund— 
ſtück dann für einen Spottpreis zurück, um es alsbald wieder 
einem dritten an den Hals zu hängen. So bringt denn der 
Gütermetzger das, was innerlich zueinander gehört, bisweilen 
zuſammen; noch häufiger aber reißt er es künſtlich auseinander. 
In jedem Fall aber fördert er den Agglomerations- wie den 
Zerſtückelungsprozeß des Grundeigentums. 

Dieſe Operationen vollzieht das Kapital zunächſt in dem⸗ 
jenigen Stadium, in dem es in der Hand des Gütermetzgers 
aus kleinen Kanälen zu einem etwas größeren Strom zuſammen⸗ 
fließt. 

Ein zweites Mal ergießt ſich dann das Geldkapital auf das 
Land, nachdem es im Handel und in der Induſtrie, im Bank⸗ 
und Börſenverkehr ſich in großen Maſſen in einzelnen Händen 
angeſammelt hat, um ſeinen Beſitzern größere Sicherheit der An⸗ 
lage und eine angeſehenere perſönliche Stellung zu N 


v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 


146 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 


Auf einen entſprechenden Gewinn, beſtehe dieſer auch nur in der 
Verzinſung nach landesüblichem Zinsfuße, wird nicht immer, 
wohl aber häufig verzichtet. Dafür bietet dieſe Kapitalanlage 
die Annehmlichkeit des Sommeraufenthalts, die Möglichkeit noblen 
Paſſionen — der Jagd, Fiſcherei u. ſ. w. — nachzugehen und 
den Söhnen eine geſunde Beſchäftigung ſowie zugleich das An- 
ſehen eines Mitgliedes der land-gentry zu verſchaffen. Motive 
dieſer und ähnlicher Art ſind es, die das große Kapital aus den 
Städten auf das Land hinausdrängen, wo es Inveſtierung im 
Grundbeſitz ſucht und findet. 

Derſelben Tendenz dienen auch die großen, in feſtem Beſitz 
befindlichen Herrſchaften der depoſſedierten Fürſten, Standes herren 
u. ſ. w., deren große Revenuen, nicht ganz aufgezehrt, immer 
wieder von neuem in Grundbeſitz angelegt werden. 

Gegen dieſe Transſubſtantiation des Geldkapitals in Grund⸗ 
beſitz wäre nun an ſich nichts einzuwenden, wenn ſie nur nicht 
unſere an ſich geſunde Grundbeſitzverteilung verſchlechterte und 
wenn ſie nicht zugleich durch das Elend ſo vieler grundbeſitzenden 
Familien erkauft werden würde. Und zwar häufig ohne deren 
Verſchulden, nur weil dem Grundbeſitz bei dem Zuſammenſtoß mit 
dem beweglichen Kapital die Rolle des irdenen Topfes zugewieſen 
iſt, der durch den eiſernen in Scherben zerſchlagen wird. 

Denn das bewegliche Kapital, wo es in Berührung mit 
dem Grundbeſitz tritt, befruchtet zwar dieſes und ſteigert ſeine 
Produktivität in außerordentlicher Weiſe, ſucht aber zugleich den 
Grundbeſitz von ſich abhängig zu machen und ſeinen Geſetzen zu 
unterwerfen. 

Indem der Grundbeſitz ſich dann wieder dieſem Einfluß zu 
entziehen ſucht, kommt es zu Reibungen und Kämpfen, ähnlich 
wie zwiſchen dem Kapital und der Arbeit. Dieſer Antagonis⸗ 
mus zwiſchen dem monied- und land-interest beginnt, wenn wir 
von der antiken Welt abſehen, mit der modernen Städtegründung, 
mit der erſten Anſammlung von beweglichem Kapital im Handel 
und in der Induſtrie, ſetzt ſich dann mit der Anhäufung der 
Geldmaſſen ſeit der Entdeckung Amerikas fort und kulminiert 


Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 147 


in unſerer Zeit der unermeßlichen Vermehrung des beweglichen 
Kapitals. 

Die mittelalterliche Agrarverfaſſung mit ihrer Gebundenheit 
des Grundbeſitzes und der Grundbeſitzer erſchwerte zwar die Be— 
fruchtung des Grund und Bodens durch das bewegliche Kapital, 
ſetzte damit aber auch zugleich dem Eindringen und der Herr— 
ſchaft desſelben auf dem Lande Schranken. 

Die freie Agrarverfaſſung, welche ſeit der franzöſiſchen Re— 
volution von 1789 überall an die Stelle der Feudalordnung ge— 
treten iſt, räumt dieſe Schranken hinweg und ermöglicht dadurch im 
Bunde mit der Anwendung der Naturwiſſenſchaften auf die Land⸗ 
wirtſchaft eine bis dahin nicht geahnte Steigerung der landwirt— 
ſchaftlichen Produktion. Sie hat aber, wo ſie rein negativer Natur 
geblieben iſt, den Grundbeſitz zugleich dem beweglichen Kapital 
auf Gnade und Ungnade übergeben. Glücklicherweiſe iſt die Irr— 
lehre des dem Aufklärungszeitalter entſtammenden laissez-faire 
auf dem Gebiete der Agrarverfaſſung niemals ſo entſchieden zur 
Anwendung gelangt wie auf anderen Gebieten. Selbſt in den 
Zeiten des größten Freiheitstaumels hat man denn doch nicht 
ganz vergeſſen, daß der Grund und Boden, wie er für den Staat 
von anderer Bedeutung iſt wie das bewegliche Kapital, ſo auch 
deſſen poſitiver Förderung viel weniger entbehren kann. Es ent— 
hält daher die moderne freiheitliche Agrargeſetzgebung neben ihren 
rein negativen Beſtandteilen, welche mit der Vergangenheit 
tabula rasa machten, auch nicht unweſentliche poſitive Schöpfungen 
für die Zukunft: ſei es daß ſie die aus früheren Zeiten ſtam— 
menden umbildet, ſei es daß ſie ganz neue ins Leben ruft. Wir 
rechnen zu denſelben in Deutſchland namentlich das Inſtitut der 
preußiſchen Landſchaften, die Arrondierungs-, Deich-, Waſſer⸗, 
Meliorations⸗, Vereins⸗ und Unterrichtsgeſetzgebung und die 
dieſen Gebieten angehörigen ſtaatlichen Anſtalten. Aber immerhin 
ſind das erſt nur Anfänge zu neuen poſitiven Schöpfungen, An— 
fänge, deren Fortbildung die Sorge der Gegenwart und die 
Aufgabe der Zukunft iſt. 


Mit der negativen Richtung der neueren Agrargeſetzgebung 
10 * 


148 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 


hängt auch die Unterſtellung des geſamten Grundbeſitzes unter 
ein weſentlich der Natur des beweglichen Kapitals angepaßtes 
Erbrecht zuſammen. Ja, in der Ausdehnung des römischen 
Erbrechts auf den Grundbeſitz iſt, nächſt einer ungenügenden 
Organiſation des landwirtſchaftlichen Kreditweſens, das Haupt⸗ 
mittel gegeben, durch welches das bewegliche Kapital ſeine Herr⸗ 
ſchaft über den Grund und Boden ausübt. 

Um die ganze Tragweite dieſes Schrittes klar zu legen, ge⸗ 
ſtatten Sie mir wohl, mit einigen Worten auf die Geſchichte 
des deutſchen Erbrechts einzugehen. 

Dieſes war in den erſten Jahrhunderten der deutſchen Ge⸗ 
ſchichte ein wahres Familienerbrecht. Feſte, unabänderliche Re⸗ 
geln leiteten den Grundbeſitz von einer Generation auf die andere 
über, ohne daß eine Abweichung von denſelben ſtatthaft geweſen 
wäre. Damit der Grundbeſitz in der Familie blieb, waren 
Frauen von der Succeſſion in denſelben ausgeſchloſſen oder doch 
den Männern nachgeſtellt. Auch durfte über denſelben ohne Ein⸗ 
willigung der Blutsverwandten weder unter den Lebenden noch 
auf den Todesfall verfügt werden. Die von den Männern ab⸗ 
ſtammenden männlichen Nachkommen des Erblaſſers gleichen 
Grades beſaßen gleiche Erbrechte; doch wird die Naturalteilung 
des Immobiliarnachlaſſes anfangs faktiſch nicht häufig vor- 
gekommen ſein und, wo ſie ausnahmsweiſe vorkam, den vor⸗ 
handenen Bedürfniſſen der Volkswirtſchaft entſprochen haben. 
Dieſes dem Zuſtand der reinen Naturalwirtichaft entſprechende 
Erbrecht erlitt aber bereits früh einige Modifikationen. 

Mit dem Eindringen der erſten Anfänge des Geldverkehrs 
ſowie ſonſtiger römiſcher Einflüſſe auf denjenigen Boden, auf 
dem Römer und Germanen zuſammentrafen, mit dem Beweg⸗ 
licherwerden des Lebens und der Verbreitung chriſtlicher Elemente 
in Anſchauung und Sitte ſowie mit dem Erſtarken des Staates 
mußte ſich auch das Erbrecht ändern. 

Neben den Männern erhielten jetzt auch Frauen ein Erbrecht; 
das ſogenannte Beiſpruchsrecht verlor ſich zum Teil ganz, zum 
Teil wurde es nur abgeſchwächt; letztwillige Verfügungen fanden 


Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 149 


in immer weiteren Kreiſen Eingang und der Immobiliarnachlaß 


wurde nun häufiger der Naturalteilung unterworfen. Infolge 
dieſer Entwickelung wäre das aus germaniſcher Wurzel erwachſene 
Erbrecht, namentlich in den Städten, der im 15. und 16. Jahr⸗ 
hundert erfolgten Reception des römiſchen Erbrechts immer mehr 
entgegengereift, wenn nicht die ſtändiſche Periode für die Ver— 
erbung des Grundbeſitzes einen Rückſchlag gebracht hätte. In 
dem engen Kreiſe des Lehn- und Hofrechtes ſowie ſonſtiger 
ſtändiſcher Sonderrechte lebten die altgermaniſchen Ideen des 
Erbrechtes, modifiziert durch die ſpecifiſchen Bedürfniſſe des mittel- 
alterlichen Lebens, wieder auf. Dieſe Modifikationen find nament- 
lich darauf zurückzuführen, daß alles Eigentum ſich mittlerweile 
in ein Ober⸗ und Untereigentum geſpalten hatte und daß jetzt 
nicht mehr die Bedürfniſſe des ganzen Volks, ſondern einzelner 
Stände maßgebend waren. In den Kreiſen des Adels gelangte 
die Rückſicht „auf die Erhaltung des Anſehens und Glanzes der 
Familie“ zur Geltung, und innerhalb des hofhörigen Verbandes 
richtete ſich das Bemühen auf „die Erhaltung der Präſtations— 
fähigkeit der bäuerlichen Höfe“. 

In der Erbfolge des Lehn- und Hofrechts, der Stammgüter, 
der Güter der hochadligen Häuſer und der Familienfideikommiſſe 
treten die Frauen wieder hinter die Männer zurück oder werden 
von dieſen auch ganz ausgeſchloſſen; die Veräußerung der Familien- 
güter wird teils wieder mehr erſchwert, teils vollſtändig verboten; 
die Teſtierfreiheit wird zurückgedrängt; die urſprünglich faktiſch 
nur ſelten vorgekommene Verſchuldung und Teilung des Grund— 
beſitzes wird jetzt auch rechtlich ausgeſchloſſen. Eine Konſequenz 
der Unteilbarkeit des Grundbeſitzes iſt die Individualſucceſſion 
in denſelben, derart daß immer nur einer unter mehreren nach 
gemeinem Recht gleichberechtigten Erben das väterliche Gut erhält 
und daß den übrigen Geſchwiſtern nur mäßige Abfindungen u. ſ. w. 
zu teil werden oder daß ſie auch allein auf den mobilen Nach— 
laß angewieſen ſind. 

Durch dieſe ſtändiſch-ſingulären Erbrechte hat ſich der größte 
Teil des deutſchen Grundbeſitzes vor der Zerſtückelung, vor dem 


150 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 


Eindringen des beweglichen Kapitals, vor der Verſchuldung und 
vor der Expropriation zu ſchützen geſucht und zu ſchützen gewußt. 
Die auf eine Erhaltung des Gleichgewichts der produktiven Kräfte 
gerichtete Agrarverfaſſung bewahrte den Grundbeſitz dann weiter 
vor der Anſammlung in einigen wenigen Händen. Auch gegen die 
Anwendung des mittlerweile zur Reception gelangten römiſchen 
Rechts war das oben ſkizzierte ſtändiſche Erbrecht gerichtet. Und ſo 
ſtehen wir den vor der merkwürdigen Erſcheinung, daß während 
das römiſche Recht prinzipiell für das ganze Gebiet des Privatrechts 
recipiert iſt, ſeine Anwendung auf die Vererbung von länd⸗ 
lichen Immobilien gleichwohl von dem größten Teil des deutſchen 
Bodens jahrhundertelang ausgeſchloſſen bleibt. 

Erſt ſeitdem die mittelalterliche Agrarverfaſſung beſeitigt 
und die ſtändiſche Geſellſchaft vor dem allgemeinen Staatsbürger⸗ 
tum zurückgewichen iſt, dringt auch das gemeine Erbrecht — 
und ich verſtehe unter demſelben auch das dem römiſchen Recht 
nachgebildete Recht der modernen Kodificationen — in ſeiner 
Anwendung auf den ländlichen Grundbeſitz vor. 

In dieſer Beziehung zeigt ſich ein hochintereſſanter Unter- 
ſchied unter den Hauptkulturvölkern des weſtlichen Europa. 

Wie England ſeine Feudalverfaſſung, ohne die Kontinuität zu 
unterbrechen, in eine modern-rxepräſentative umgewandelt hat, jo 
hat es auch aus lehnrechtlicher Wurzel ſein der Natur des Grund— 
beſitzes angepaßtes Inteſtaterbrecht, nach welchem das Grundeigen⸗ 
tum nach dem Tode ſeines Beſitzers immer nur an eines ſeiner 
Kinder übergeht, weiter entwickelt. Nicht dieſes aber trägt, wie viel- 
fach behauptet wird, die Hauptſchuld an der excentriſchen Grund⸗ 
eigentumsverteilung in England, ſondern der Mangel an Für⸗ 
ſorge für die Erhaltung des mittleren Beſitzes ſeitens des eng- 
liſchen Staats. Zur Zeit, als der Bauernſtand in England am 
meiſten bedroht war, zeigte ſich der engliſche Staat, der denſelben 
gegenüber dem Andrängen des beweglichen Kapitals und des 
großen Grundbeſitzes energiſch hätte ſchützen ſollen, ebenſo unfähig 
dieſe Aufgabe zu erfüllen wie in Deutſchland nur die landes⸗ 
herrliche Gewalt in Mecklenburg und Neu-Vorpommern. 


Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 151 


Ein von dieſem ſehr verſchiedenes Bild zeigt uns Frankreich. 
Wie Frankreich die Zeit zu einer organiſchen Reform ſeiner ſtän— 
diſchen Körperſchaften und ſeiner Socialgeſetzgebung verpaßt hatte, 
ſo auch die Zeit zur Reform ſeines Erbrechts. Mit dem ancien 
régime beſeitigte die franzöſiſche Revolution auch dieſes mit einem 
Schlage. Von dem feudalen Erbrecht, das den Grundbeſitz un— 
löslich an beſtimmte privilegierte Familien gekettet hatte, ging 
man hier unvermittelt zum Erbrecht des Jahres 1793 und des 
Code über. Von der Rückſicht auf die Natur des Grundbeſitzes 
und auf die Möglichkeit ſeiner Erhaltung in der Familie findet 
ſich namentlich in dem erſteren Geſetz keine Spur vor: die freie 
Teſtierbefugnis wird der Gleichheitsidee und dem Teilungszwang 
geopfert. Mit einem Wort, die franzöſiſche Revolution janktio- 
niert den bekannten Gedanken Mirabeaus „que l'égalité des 
successions ne peut @tre derangee par les dispositions de 
homme et qu'on ne puisse favoriser aucun de ses h£ritiers 
au préjudice de l'autre“. Auf dieſe ſprungweiſe Entwickelung 
in Frankreich paßt daher in vorzüglicher Weiſe der Ausſpruch 
Sir Henry Maines: „The history of property — and succes- 
sion dürfen wir hinzufügen: — on the European continent 
is the history of the subversion of feudalized law of land 
by the Romanized law of movables.“ 

Eine mittlere Stellung zwiſchen Frankreich und England nimmt 
Deutſchland ein. Zwar das römische und das demſelben nach— 
gebildete Erbrecht gilt im Prinzip auch für einen großen Teil des 
Deutſchen Reichs. Dasſelbe behandelt die zum Nachlaß gehörigen 
Immobilien vollſtändig wie die Mobilien, indem es den in dem— 
ſelben Grad mit dem Erblaſſer verwandten Perſonen völlig gleiche 
Rechte einräumt und die Naturalteilung ſowie die Taxation des 
Nachlaſſes nach dem Verkehrswert begünſtigt. Im Preußiſchen 
Landrecht wird der Taxation nach dem Verkehrswert noch beſonders 
Vorſchub geleiſtet durch die Beſtimmung, daß jeder Erbe das Recht 
habe, den meiſtbietlichen Verkauf des Nachlaßgrundſtücks zu ver— 
langen, während das auf dem linken Rheinufer geltende fran— 
zöſiſche Erbrecht wieder mehr auf die Naturalteilung desſelben 


152 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 


hindrängt. In der Einſchränkung der Teſtierbefugnis endlich 
gehen das franzöſiſche wie das preußiſche Recht — an altdeutſche 
Rechtsideen anknüpfend — noch über das römiſche Recht hinaus. 

Auf die Dauer müſſen dieſe erbrechtlichen Beſtimmungen zu 
folgenden Reſultaten führen: ſofern nämlich einer der Erben 
das Gut ungeteilt übernimmt, zur Überlaſtung desſelben mit 
Nachlaß⸗Schulden, zum Zwangsverkauf und auf dieſem Umwege 
oder direkt zum Übergang in fremde Hände; ſofern das Nach⸗ 
laßgrundſtück aber in natura geteilt wird, zu einer unwirt⸗ 
ſchaftlichen Zerſtückelung des Grundbeſitzes und ſchließlich zu 
krankhaften Zuſtänden. 

Dieſe Wirkungen werden um ſo ſicherer und ſchneller ein⸗ 
treten, je ſtärker der Grundbeſitz überhaupt verſchuldet iſt, je 
mehr Erben, unter die das Nachlaßgrundſtück geteilt werden 
muß, im einzelnen Fall vorhanden ſind, in je ungünſtigerer Lage 
ſich die Landwirtſchaft befindet, je weniger Kapital der das elter⸗ 
liche Gut antretende Erbe oder ſeine Frau mitbringt und je weniger 
zweckmäßig die Verfaſſung des Hypothekenweſens und die Organi⸗ 
ſation des ländlichen Kredits eingerichtet ſind. 

Wenn dieſe Wirkungen bisher noch nicht überall in voller 
Schroffheit hervorgetreten find, jo iſt das in Frankreich zurüd- 
zuführen auf das Zwei-Kinder-Syſtem, durch welches die länd⸗ 
liche Bevölkerung dem morcellement des Bodens vorzubeugen 
weiß, in Deutſchland dagegen durch das Gewohnheitsrecht und 
die zahlreichen Singularrechte, welche das gemeine Erbrecht 
bisher von der Anwendung auf einen großen Teil des Bodens 
ausgeſchloſſen haben. Und dort, wo das lebhafte Familiengefühl 
einen adäquaten rechtlichen Ausdruck nicht findet, pflegen die 
Erblaſſer zu mannigfachen Hülfsmitteln zu greifen und die Erben 
nicht geringe Opfer zu bringen, um den Grundbeſitz in der 
Familie zu erhalten. Mit dem Erblaſſer und den Erben im 
Bunde ſtanden bis vor kurzem in Deutſchland die Richter, indem 
ſie nicht ſelten contra legem Gutsübertragungsverträge, niedrige 
Erbſchaftstaxen, Erbſchaftsauseinanderſetzungen, an denen unter 
Vormundſchaft oder Kuratel ſtehende Perſonen beteiligt waren, 


1 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 153 


N ſelbſt wenn ſie dem Intereſſe dieſer nicht ganz entſprachen, be— 
ſtätigten oder doch anerkannten. 

Indes täuſche man ſich nicht, eine ſolche allgemeine Ver— 
ſchwörung gegen das geſchriebene Recht iſt auf die Dauer nicht 
möglich. Sie dauert nur ſolange, als der frühere Rechtszuſtand in 
der Sitte noch einen mehr oder minder ſtarken Nachklang findet; auf 
dieſe wird das geſchriebene Recht der Gegenwart aber notwendig 
zerſetzend und auflöſend wirken. Denn jeder mit einer ſolchen 
contra legem getroffenen Dispoſition Unzufriedene kann dieſelbe 
umſtoßen, und an ſolchen wird es in unſerer Zeit, in der die 
einzelnen Familienglieder durch Beruf und Neigung von dem 
Familienſitz häufig weit weg verſprengt werden und der Beſitz 
eines möglichſt großen Kapitals die Vorausſetzung für jede ſelb— 
ſtändige Unternehmung bildet, nicht fehlen. 

Und auch die einzelnen Singularrechte in der Form, in der 
wir ſie aus der Vergangenheit überkommen haben, befinden ſich in 
prekärer Lage. Seit der Beſeitigung der Stände, denen ſie auf 
den Leib geſchnitten waren, ſchweben ſie gleichſam in der Luft. 
Denn was bedeutet ein bäuerliches Anerbenrecht, nachdem der recht- 
liche Begriff des Bauernſtandes und Bauerngutes verſchwunden iſt? 
Was das adlige Familienfideikommiß zu einer Zeit, in der der 
alte Landadel durch die moderne Geldariſtokratie erſetzt wird? Auch 
ſtehen weſentliche Beſtimmungen dieſer ſingularrechtlichen Inſtitute 
mit den Grundprinzipien unſerer heutigen Wirtſchaftsordnung, 
mit unſern Rechtsideen und ſittlichen Idealen in Widerſpruch. 
Denn es widerſtrebt unſerm Rechtsbewußtſein, wenn ein Kind 
den Grundbeſitz allein erbt und die andern vollſtändig leer aus— 
gehen, wie das ältere Anerben- und Fideikommißrecht beſtimmen. 
Es liegt ferner weder im Intereſſe der Familie noch in dem 
der Volkswirtſchaft, wenn die Perſon des Anerben oder Fidei- 
kommißbeſitzers, gleichgültig ob ſie tüchtig iſt oder nicht, von dem 
Geſetz unabänderlich beſtimmt wird und ebenſo wenn das Geſetz 
die Aufnahme hypothekariſcher Schulden und den Verkauf einzelner 
Stücke des Fideikommißgutes verbietet. Es widerſpricht endlich 
unſern Gerechtigkeitsidealen, wenn wir das tiefſinnige Wort des 


154 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 


Dichters: „Was du ererbt von deinen Vätern haſt, erwirb es, 
um es zu beſitzen“ von der Anwendung auf ein beſtimmtes Rechts⸗ 
gebiet völlig ausgeſchloſſen ſehen, indem der durch Familien⸗ 
fideikommiſſe vinkulierte Beſitz gegen die Untüchtigkeit, den 
Leichtſinn und die Verſchwendungsſucht der einzelnen Familien⸗ 
mitglieder gefeit erſcheint, während ſich ringsum jede wirtſchaft⸗ 
liche Schuld rächt. 

Aber bleibt denn, will man für das Grundeigentum die 
Scylla des altſtändiſchen Anerbenrechts und des Familienfidei⸗ 
kommiſſes in ſeiner ſtarren gemeinrechtlichen Form vermeiden, 
wirklich nichts andres übrig, als dasſelbe an der Charybdis des 
allgemeinen Erbrechts zerſchellen zu laſſen? 

Wie befremdend es nach dem Vorhergeſagten auch klingen 
mag, ich glaube dieſe Frage für Deutſchland entſchieden verneinen 
zu ſollen. 

Wie auf dem Gebiet der Agrarverfaſſung die Aufgabe der 
Gegenwart nicht darin beſteht, bei der Negation der mittelalter⸗ 
lichen Ordnung der Dinge ſtehen zu bleiben, ſondern die geſunden 
Gedanken früherer Zeiten mit den Ideen der Gegenwart zu 
lebenskräftigen Inſtitutionen zu verbinden — ich erinnere hier 
nur an den fruchtbaren Keim, der in den altpreußiſchen Land⸗ 
ſchaften für die Ausgeſtaltung des bäuerlichen Kredits und in den 
Erbpachtverhältniſſen früherer Zeiten für die Schaffung eines 
Bauernſtandes enthalten iſt —, ſo auch auf dem Gebiete des 
Erbrechtes. 

Wir brauchen auch hier nur die bisherige Rechtsentwickelung 
zu befragen — freilich nicht die in unſern Geſetzbüchern para⸗ 
graphierte allein, ſondern auch diejenige, die in dem Gewohn— 
heitsrecht unſerer Dörfer, Bauernhöfe und Rittergüter zu Tage 
tritt, und nicht nur diejenige unſeres Rechtes, ſondern auch die ver- 
wandter Völker —, um auf den richtigen Weg gewieſen zu werden. 

Zunächſt brauchen wir eine Erweiterung der Teſtierfreiheit, 
ſoweit es ſich wenigſtens um Verlaſſenſchaften handelt, die aus 
ländlichen Grundſtücken beſtehen. Wie die Reception des römiſchen 
Rechtes mit ſeiner nur durch Pflichtteilsrechte eingeſchränkten 


J 


Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 155 


Teſtierfreiheit ſeiner Zeit einen weſentlichen Fortſchritt bedeutete 


gegenüber dem ſtarren Zwang des altdeutſchen Inteſtaterbrechtes, 
welches letztwillige Verfügungen und Veräußerungen von Immo— 
bilien ausſchloß oder doch ſehr bedeutend einſchränkte, ſo muß 
jetzt über das römiſche Recht hinausgegangen werden. Die große 
Beweglichkeit des modernen Lebens und die ſocialwirtſchaftliche 
Notwendigkeit, die einmal gebildeten Unternehmungen und Ver— 
mögen in der Flucht der Generationen zuſammenzuhalten, ver— 
langen dieſes gebieteriſch. Die hochentwickelte Volkswirtſchaft 
der Engländer und Amerikaner ſcheint auch unſerer Rechts— 
entwickelung hier den richtigen Weg vorzuzeigen. Und wollte man 
hiergegen einwenden, daß das aus urſprünglich ſpecifiſch römiſcher 
Wurzel erwachſene Pflichtteilsrecht derart in unſer Rechtsbewußtſein 
hineingewachſen iſt, daß es ohne ſchmerzliche Operation nicht 
entfernt werden kann, ſo laſſe man es im Prinzip noch eine 
Weile beſtehen, ſchränke es aber derart ein, daß es dem Erblaſſer 
ſelbſt unter ungünſtigen Verhältniſſen — ſtarke Verſchuldung des 
Gutes, viele Kinder, ungünſtige landwirtſchaftliche Konjunk— 
turen u. ſ. w. — noch möglich wird, Dispoſitionen zu treffen, 
durch welche der Familie das Gut erhalten wird. Im übrigen 
baue man aber auf die elterliche Liebe, welche es in freien An- 
ordnungen unter Lebenden und auf den Todesfall beſſer als das 
ſtarre Geſetz verſtehen wird, die nötige Ausgleichung des Ver— 
mögens unter den Kindern wenn auch nicht nach dem Prinzip 
der formalen Gleichheit, ſo doch nach dem der materiellen Gerechtig— 
keit zu treffen. 

Aber die Erweiterung der Teſtierfreiheit allein genügt nicht, 
ſie genügt namentlich nicht für ein Volk wie das unſrige, daß 
im großen Ganzen nicht gewöhnt iſt, ſeine Nachlaßverhältniſſe 
durch letztwillige Verfügungen zu ordnen. Wenigſtens trifft dies 
für den größten Teil der ländlichen Bevölkerung und hier ſpeciell 
für den Bauernſtand zu. 

Hier gilt es nun, ein neues, den Bedürfniſſen des Grund— 
beſitzes angepaßtes Inteſtaterbrecht zu ſchaffen oder vielmehr 
nur die vorhandenen Keime zu einem ſolchen weiterzuentwickeln. 


156 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 


Denn es braucht nur diejenige Übung und Sitte zum geſchriebenen 
Recht erhoben zu werden, welche teils innerhalb des Rahmens 
des geltenden Rechts teils auf Umwegen gegen dasſelbe ſich 
Geltung zu verſchaffen ſucht. 

Wenn wir große Gebiete Südweſt- und Mitteldeutſch⸗ 
lands und ferner kleinere auch ſonſt verſprengte Gebiete aus⸗ 
nehmen, jo findet ſich das Beſtreben, den ländlichen Grundbeſitz 
durch Übertragung desſelben zu einem mäßigen Anſchlag an einen 
der Erben in der Familie zu erhalten, allgemein verbreitet. 
Indem man zu einem der vielen Mittel greift, welche die Er⸗ 
reichung dieſes Zieles verſprechen, glaubt man durchaus nichts 
Unrechtes zu thun, ſelbſt wenn man weiß, daß es dem Sinn und 
Wortlaut des Geſetzes widerſpricht. Hier liegt ein Stück wichtigen 
Rechtsbewußtſeins vor, deſſen Berückſichtigung der Socialökonom 
dem Geſetzgeber der Zukunft dringend ans Herz legen muß. 

Und glücklicherweiſe dürfen wir konſtatieren, daß die Geſetz⸗ 
gebung, wenn auch fürs erſte nur ſchüchtern und zaghaft, dieſen 
Weg bereits betreten hat, den Weg zur Formulierung eines den 
Bedürfniſſen der gegenwärtigen Volks- und Landwirtſchaft an⸗ 
gepaßten Anerbenrechtes. 

In dieſer Beziehung unterſcheidet ſich die deutſche Erb⸗ 
rechtsgeſetzgebung ſehr weſentlich von der franzöſiſchen. Mit 
einem Radikalismus, der dem goüt excessif de logique et 
d'équité entſpricht, welchen ein neuerer franzöſiſcher Schriftſteller 
für die apanage de tout eitoyen frangais erklärt, hat die fran⸗ 
zöſiſche Revolution aus Furcht vor der alten Geſellſchaft und in 
dem Beſtreben, das Vermögen derſelben zu zerſtückeln, die Bildung 
eines Gewohnheitsrechts auf dieſem Gebiet im Keim erſtickt. 
So blieb denn ſelbſt für die geſunden Gedanken der früheren 
ſingulären Rechtsbildungen kein Raum mehr übrig. 

In Deutſchland wurde nun freilich das römiſche Recht auch 
recipiert und in einigen deutſchen Staaten ein demſelben durch die 
neuere Geſetzgebung nachgebildetes Erbrecht geſchaffen, aber neben⸗ 
bei ließ man — wie ſchon erwähnt wurde — noch die mannigfachen 
ſingulären Erbrechtsinſtitute und das Gewohnheitsrecht beſtehen. 


Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 157 


Nur in Preußen ging man in allen dieſen Beziehungen ra- 
dikaler zu Werk. Das allgemeine Landrecht behielt das Fidei— 
kommiß zwar bei, bildete dasſelbe aber doch den Anforderungen 
des modernen Lebens entſprechend um, und die ſpätere preußiſche 
Geſetzgebung hat die ſtarre Unveräußerlichkeit, Unteilbarkeit, Un⸗ 
verſchuldbarkeit der Fideikommißgüter noch weiter gemildert. Der 
preußiſchen Geſetzgebung iſt dann auch die Geſetzgebung einiger 
anderer deutſchen Länder in dieſer Beziehung gefolgt. 

Das allgemeine Landrecht behielt freilich auch noch das 
ſpecifiſch bäuerliche Erbrecht mit ſeiner ermäßigten Erbſchaftstaxe 
bei, aber die Hardenbergiſche Agrargeſetzgebung beſeitigte auch 
dieſes vollſtändig. 

Hier, wo man den Bogen der Freihandelsdoktrin auf dem 
Gebiet der Agrargeſetzgebung am ſtärkſten geſpannt hatte, ſollte 
die Reaktion gegen ihre Ausſchreitungen aber auch am früheſten 
eintreten. 

Bereits ſeit den 20er Jahren und dann wieder in den 
Jahren 1841 und 1847 hat die preußiſche Regierung — wie 
es ſcheint, auf die perſönliche Initiative Friedrich Wilhelms III 
und IV hin — zuerſt bei den Provinzialſtänden, dann auch 
beim Vereinigten Landtage Schritte zur Wiedereinführung eines 
bäuerlichen Anerbenrechtes oder wenigſtens einer ermäßigten Erb- 
ſchaftstaxe gethan. 

Aber ſie begegneten damals entweder leidenſchaftlichem Wider— 
ſtreben oder doch kühler Ablehnung. | 

Wie die Mehrheit der Franzoſen auch gegenwärtig die Ge— 
ſetzgebung der Revolution von 1789 in jeder Beziehung für ein 
unübertreffliches Ideal hält, an dem auch im einzelnen nicht 
gemäkelt werden darf, ſo trieb man bis in unſere Tage eine 
Art politiſchen Kultus mit der Hardenbergiſchen Agrargeſetz— 
gebung. 

Dieſe war nun freilich im großen Ganzen eine hiſtoriſche 
Notwendigkeit und darin dürfte zugleich ihr höchſtes Lob enthalten 
ſein. Auch wird man es wohl erklärlich finden, daß wegen 
der zahlreichen Widerſtände, die ſie zu überwinden hatte, ihre 


158 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 


Durchführung ſich von einer gewiſſen doktrinären Einſeitigkeit 
nicht immer fern gehalten hat. 

Aber uns, die wir über den Parteikämpfen jener Tage ſtehen 
und die Fundamentalprinzipien jener Geſetzgebung als geſichert 
anſehen dürfen, gebührt denn doch ein freieres Urteil über dieſe 
Geſetzgebung als denjenigen, die in der Verteidigung derſelben 
gegen die maßloſen Angriffe einer kurzſichtigen Reaktion ſelbſt zur 
Partei wurden. 

Und da wird denn doch nicht geleugnet werden können, daß 
ſie es in mehr als in einem Punkte verſehen hat: zunächſt indem 
ſie die Gemeinheitsteilungen mit einem übel angebrachten Fana⸗ 
tismus durchführte, namentlich indem ſie den Waldbeſitz einer un⸗ 
wirtſchaftlichen Zerſtückelung preisgab, ferner indem ſie die Ver⸗ 
kehrsfreiheit für den Grundbeſitz begründete, ohne doch den Güter⸗ 
ſchacher auszuſchließen oder wenigſtens zu erſchweren, und endlich — 
um von weiteren Punkten zu ſchweigen — indem ſie den bäuer⸗ 
lichen Grundbeſitz dem allgemeinen Erbrecht unterwarf. 

In all dieſen Punkten ſteht die Geſetzgebung manches an⸗ 
dern deutſchen Staates höher als die preußiſche. 

Doch es bedurfte erſt der Erfahrungen mehrerer Jahrzehnte, 
es bedurfte namentlich der für die Landwirtſchaft ſchwierigen 
Zeiten, wie wir ſie ſeit dem Schluß der 60 er Jahre durchleben, 
um dieſe Mängel zum allgemeinen Bewußtſein zu bringen 

Aber wenn auch um teueren Preis, ſo haben wir endlich 
doch erkannt, daß nicht alles, wofür die früheren Generationen 
ſich bedingungslos begeiſterten, die Probe der Erfahrung zu be⸗ 
ſtehen vermag. Dieſer Einſicht iſt es dann zugleich — wenn 
auch nicht ihr allein — zu verdanken, daß die Reform des 
bäuerlichen Erbrechts in der Gegenwart ungleich weniger Wider- 
ſtand findet als in den 20 er und 40 er Jahren. 

Die Bewegung für dieſe Reform ging zunächſt am Schluſſe 
der 60 er Jahre von jener neuen preußiſchen Provinz aus, der 
der preußiſche Staat manchen trefflichen Mann und manche be— 
währte Einrichtung verdankt. Den vereinten Bemühungen ſich 
ſonſt im politiſchen Leben nicht ſelten befehdender Männer ge- 


Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 159 


lang es endlich 1874 das ſogenannte hannoverſche Höfegeſetz zu— 
ſtande zu bringen, freilich nicht, ohne daß dasſelbe vorher von 
der Schere eines dem Leben abgewendeten Doktrinarismus im 
preußiſchen Abgeordnetenhauſe und im Miniſterialbureau gründ— 
lich beſchnitten worden wäre. Dem hannoverſchen Höferecht 
hatte in mehrfacher Beziehung ein aus dem Jahre 1870 ſtam— 
mendes lippe ⸗ſchaumburgiſches Geſetz zum Vorbild gedient. 
Um dieſelbe Zeit wie in Hannover wurden auch in Bremen, 
Oldenburg und Braunſchweig ähnliche, ja zum Teil weitergehende 
Geſetze erlaſſen. Aber es bedurfte doch noch einiger Zeit, nm 
das Vorurteil gegen dieſe Geſetzgebung ſoweit zu überwinden, 
daß an eine Ausdehnung derſelben auf die altpreußiſchen Pro— 
vinzen gedacht werden konnte. 

Mittlerweile war das öffentliche Urteil auch ſoweit gereift, daß 
durch eine Novelle zum hannoverſchen Höfegeſetz vom Jahr 1880 
die weſentlichſten Verſtümmelungen, welche der urſprüngliche 
Entwurf des hannoverſchen Provinziallandtags vom Jahre 1874 
erfahren hatte, wieder beſeitigt werden konnten. 

Bei Gelegenheit der Einbringung eines für die Provinz 
Weſtfalen beſtimmten Geſetzentwurfes faßte das preußiſche Ab— 
geordnetenhaus im Jahre 1879 dann den Beſchluß, die Staats- 
regierung zu erſuchen, daß ſie die in dieſem Geſetzentwurfe ent— 
haltenen Grundſätze auch auf die übrigen Provinzen zur An— 
wendung bringe. Von der Staatsregierung um ihre Anſicht 
befragt, haben nun freilich eine Reihe von Provinziallandtagen 
— die Provinziallandtage von Dft- und Weſtpreußen, Pommern 
und Poſen — ſowie der Kommunallandtag des Regierungs— 
bezirks Wiesbaden die Frage nach dem Bedürfnis „einer ander— 
weiten Regelung des Erbrechts“, wie der techniſche Ausdruck 
lautet, negiert, während die Provinziallandtage von Lauen- 
burg, Schleswig⸗Holſtein, Schleſien, Weſtfalen, Brandenburg 
und Sachſen und zum Teil auch der Kommunallandtag des Re— 
gierungsbezirks Kaſſel ſich für die provinzielle Regelung des 
Grunderbrechts erklärt haben. In Lauenburg und Weſtfalen 
haben die Verhandlungen bereits zum Erlaß von Geſetzen ge— 


160 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 


führt, welche ſich an das hannoverſche Höfegeſetz in ſeiner ver⸗ 
beſſerten Faſſung anſchließen, ja die weſtfäliſche Landgüterord⸗ 
nung von 1882 kommt den Bedürfniſſen des Grundbeſitzes noch 
weiter entgegen. In den übrigen vier Provinzen ſowie im 
Regierungsbezirk Kaſſel befinden ſich die Geſetze noch im Stadium 
der Beratung. 

All dieſen Erbrechtsgeſetzen iſt gemeinſam, daß ſie den Kern 
des altſtändiſchen Anerbenrechts mit der modernen Wirtſchafts⸗ 
und Rechtsordnung verſöhnen wollen. 

Zu dieſem Zweck wird von der freieſten Dispoſitionsbefugnis 
des Grundeigentümers ausgegangen und dieſelbe für letztwillige 
Verfügungen noch über die Schranken des gemeinen Pflicht⸗ 
teilrechts hinaus erweitert. 

Für den Fall, daß keine letztwillige Verfügung getroffen 
worden iſt, wird für den landwirtſchaftlichen Grundbeſitz die 
Individualſucceſſion eines der Kinder eingeführt; dieſe ſchließt 
jedoch die Vererbung des Nachlaſſes nach gemeinem Recht 
nicht aus. Der Anerbe erhält neben dem Eigentum am Grund⸗ 
beſitz ein ſogenanntes Voraus, eine Vorteilsberechtigung an dem 
Wert desſelben (/ des Ertragswerts nach dem hannoverſchen 
Recht, Ya nach dem bremiſchen Recht), während an dem übrigen 
Wert ſämtliche Erben zu gleichen Teilen participieren, ſo in 
Hannover, Bremen, Lauenburg, Schleswig-Holſtein. Bisweilen 
liegt die Begünſtigung des Anerben auch nur in der niedrigen 
Erbſchaftstaxe, für die er das Gut antritt, jo z. B. in Weſt⸗ 
falen und nach dem Geſetzentwurf von Brandenburg und Schleſien. 
Wieviel Güter der Erblaſſer hinterläßt, ſoviel Anerben werden 
berufen. Die Höhe des Voraus und der Erbſchaftstaxe wird 
lediglich durch die Rückſicht auf die Erhaltung des Gutes in der 
Familie beſtimmt. Nur in Braunſchweig und Schaumburg⸗Lippe 
erhalten die Miterben des Anerben lediglich Abfindungen und 
keine Erbanteile. Der Wertermittelung wird der Ertragswert 
zu Grunde gelegt. Dieſelbe erfolgt entweder für jedes einzelne 
Grundſtück durch eine Taxationskommiſſion oder für alle Grund⸗ 
ſtücke nach Maßſtab des Grundſteuerkataſters. Den erſteren 


Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 161 


Weg ſchlagen das hannoverſche Höferecht und die demſelben 
folgenden Höfegeſetze ein, den letzteren die weſtfäliſche Land— 
güterordnung. Die Geſetzentwürfe für Brandenburg und Schleſien 
kombinieren beide Modalitäten, ſo daß nur für den Fall, daß 
ein Erbe es verlangt, eine individuelle Ermittelung des Ertrags— 
werts eintritt, während ſonſt der kapitaliſierte Kataſtralrein⸗ 
ertrag entſcheidend iſt. 

Weitere Punkte, in denen dieſe Geſetze untereinander 
differieren, find folgende. Während das ſchaumburg⸗lippeſche, 
braunſchweigiſche, bremiſche, lauenburgiſche und hannoverſche 
Geſetz das Anerbenrecht auf den bäuerlichen Grundbeſitz be— 
ſchränken, geben das oldenburgiſche und weſtfäliſche Geſetz ſowie 
die neueren Geſetzentwürfe für Schleswig-Holſtein, Brandenburg 
Schleſien und Sachſen demſelben eine weitere Ausdehnung auf 
das geſamte land- und forſtwirtſchaftlich benutzte behauſte oder 
nichtbehauſte Grundeigentum. Es war für dieſe weitere Aus- 
dehnung des Anerbenrechts die Erwägung maßgebend, daß das— 
ſelbe in ſeiner neueſten Geſtalt vollſtändig losgelöſt erſcheint 
von ſeinem bäuerlichen Urſprung und daß alle Gründe, 
welche für die Erſetzung des gemeinen Rechts durch das 
Anerbenrecht ſprechen, gleichmäßig für alles land- und forſt⸗ 
wirtſchaftlich benutzte Grundeigentum zutreffen. Speciell für 
den mittleren Grundbeſitz iſt das Anerbenrecht eine Not- 
wendigkeit, weil derſelbe durch das Erbrecht weniger ge— 
ſchützt iſt als der große Grundbeſitz, welchen Lehnrecht, 
Stammgutsſyſtem und Familienfideikommiſſe in den Familien 
erhalten helfen. Aber auch für den großen Grundbeſitz kann 
das Anerbenrecht dereinſt die Bedeutung eines Schutzdachs ge— 
winnen, unter das derſelbe treten wird, wenn das Familien— 
fideikommiß beſeitigt werden ſollte. Und ferner: je beſſer das 
allgemeine Inteſtaterbrecht den Bedürfniſſen des ländlichen Grund— 
beſitzes und der grundbeſitzenden Familien entſpricht, deſto ge— 
ringerem Widerſtande wird die Aufhebung des Familienfidei⸗ 
kommiſſes oder doch eine weitere Annäherung desſelben an das 


allgemeine Erbrecht ſeiner Zeit begegnen. Dazu kommt dann 
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 11 


162 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 


die weitere Erwägung, daß es das allgemeine Urteil weniger 
verletzt, wenn eine beſtimmte Kategorie von Gütern oder eine 
beſtimmte Art von Rechtsgeſchäften einem eigenen ſingulären 
Recht unterſtellt wird, als wenn dies mit Rückſicht auf eine be⸗ 
ſtimmte Klaſſe von Perſonen geſchieht. Zudem fehlt es nicht 
an Präcedenzfällen für einen ſolchen Vorgang. Hat ſich doch 
für die ſich auf den Handel beziehenden Rechtsgeſchäfte und In⸗ 
ſtitute ein eigenes Handelsrecht und ſpeciell für den Handels⸗ 
verkehr zur See ein eigenes Seerecht, trotz der im allgemeinen 
nivellierenden Tendenz des modernen Rechts, erhalten. Und auch 
für den der Land- und Forſtwirtſchaft ſowie dem Bergbau 
dienenden Grundbeſitz hat ſich ein eigenes Agrar-, Forſt⸗ und 
Bergbaurecht ausgebildet. Warum ſollte nicht auch das Erb- 
recht, ſofern ſich dasſelbe auf den land- und forſtwirtſchaftlich 
benutzten Boden bezieht, eigenartig geſtaltet werden können? 
Endlich ein letzter, aber der wichtigſte Punkt, in dem die 
neueren Geſetzgebungen untereinander differieren, iſt folgender. 
Die bremiſche und oldenburgiſche ſowie die neuere preußiſche 
Geſetzgebung für Hannover, Lauenburg und Weſtfalen laſſen das 
gemeine und preußiſche allgemeine Erbrecht für den geſamten 
Grundbeſitz in Kraft. Durch einen ausdrücklichen Willensakt 
des Eigentümers, der ſich in der Eintragung eines Gutes in die 
Höfe⸗ oder Landgüterrolle manifeſtiert, ſoll dasſelbe jedoch für 
den Fall der Vererbung dem Anerbenrecht unterworfen werden 
können. Indem dieſe Eintragung im Vergleich zur Errichtung 
einer letztwilligen Verfügung außerordentlich erleichtert wird und 
indem ferner für den Fall der Eintragung die Regeln, nach 
denen die Vererbung erfolgt, nicht erſt ausdrücklich von dem 
einzelnen beſtimmt zu werden brauchen, ſondern im Geſetz fixiert 
ſind, leiſtet die Geſetzgebung der Anwendung des Anerbenrechts 
Vorſchub. Die Präſumtion ſpricht alſo hier für die Geltung 
des allgemeinen Rechtes; das Anerbenrecht, um für das einzelne 
Gut zur Anwendung zu gelangen, muß von dem Eigentümer 
desſelben ausdrücklich gewollt ſein. Dasſelbe bleibt aber dann, 
wenn dieſer Wille durch Eintragung in die Höferolle zu Tage 


ä Die Grundeigentumssverteil. u. Exbrechtsreform in Deutſchland. 163 


J been iſt, ſolange in Geltung, als die Löſchung des betreffenden 


Grundſtücks aus der Höferolle nicht erfolgt iſt. 

Ein anderes Syſtem als das der Höferolle hat die ſchaum— 
burg⸗lippeſche und die braunſchweigiſche Geſetzgebung und hat 
der Entwurf des brandenburgiſchen Provinziallandtags acceptiert. 
Dasſelbe lag auch dem Schorlemerſchen Entwurf für Weſt— 
falen und dem urſprünglichen Entwurf des Provinzialaus— 
ſchuſſes der Provinz Schleſien zu Grunde: in den beiden letzten 
Provinzen iſt es aber angeſichts des Wunſches der Staatsregie— 
rung, die Anerbenrechtsgeſetzgebung in allen preußiſchen Pro— 
vinzen über den Leiſten der hannoverſchen Höferolle zu ſchlagen, 
wie ich glaube, ſehr contre cœur aufgegeben worden. Es unter— 
ſcheidet ſich vom Syſtem der Höferolle dadurch, daß die Verer— 
bung nach Anerbenrecht zum Inteſtaterbrecht für den geſamten 
bäuerlichen Grundbeſitz gemacht iſt. Dadurch iſt die Vererbung 
nach gemeinem Recht für das einzelne Grundſtück übrigens keines— 
wegs ausgeſchloſſen, nur muß fie in jedem ſpeciellen Fall aus- 
drücklich gewollt und dieſer Wille in einer letztwilligen Dispoſition 
ausgeſprochen ſein. Die ſchaumburg⸗lippeſche und braunſchweigiſche 
Geſetzgebung ſteht ſomit in dieſer Beziehung in direktem Gegenſatz 
zur preußiſch-hannoverſchen. In Hannover ſpricht die Präſumtion 
für das gemeine Erbrecht, und das Anerbenrecht kann auf das 
einzelne Grundſtück nur dann Anwendung finden, wenn dieſes in 
die Höferolle eingetragen iſt; in Schaumburg-Lippe und Braun- 
ſchweig dagegen bildet das Anerbenrecht die Regel, die, um 
für das einzelne Grundſtück durch das gemeine Erbrecht erſetzt 
zu werden, ausdrücklich ausgeſchloſſen werden muß. 

In denjenigen Ländern, in denen das Anerbenrecht virtuell 
oder potentiell für den geſamten land- und forſtwirtſchaftlich be⸗ 
nutzten Grundbeſitz eingeführt iſt, iſt von demſelben doch meiſt 
der ganz kleine Beſitz, der zur Erhaltung einer Familie nicht 
ausreicht, ausgeſchloſſen: ſo nach den Geſetzen von Bremen und 
Weſtfalen und nach den Geſetzentwürfen für die Provinzen 
Schleſien, Brandenburg und Sachſen, während die übrigen 


Geſetze eine ſolche Minimalgrenze nicht kennen. 
11* 


164 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 


Zieht man in Betracht, daß die Sitte, letztwillige Ver⸗ 
fügungen zu treffen, bei uns auf dem Lande, namentlich unter 
dem mittleren Stande, wenig verbreitet iſt, jo wird man dar⸗ 
aus den Schluß ziehen müſſen, daß das geltende Inteſtaterbrecht 
auf die Dauer für die Art der Vererbung entſcheidend werden 
muß. Wenigſtens dürfte dies die Regel ſein. Denn wenn in 
Hannover und Oldenburg die Benutzung der Höferolle im 
weiteſten Umfange erfolgt iſt, ſo iſt das eine Ausnahme, die auf 
durchaus ſinguläre Zuſtände zurückzuführen iſt. In Hannover 
war der Einführung des Höfegeſetzes eine hochgradige Erregung 
der geſamten Bevölkerung vorausgegangen. Hier, wo eine im 
beſten Sinne ariſtokratiſche Geſinnung die weiteſte Verbreitung 
findet, wurde die Erhaltung des Anerbenrechts als eine ſpeeifiſch 
hannoverſche Angelegenheit aufgefaßt, für die ſich in gleicher 
Weiſe Herr von Bennigſen wie Herr Windthorſt und 
mit ihnen die ganze Bevölkerung intereſſierte. So gelang es 
denn gleich in den erſten Jahren, die Eigentümer von über 60 
Prozent aller damals eintragungsfähigen Höfe zur Unterſtellung 
derſelben unter das Höferecht zu veranlaſſen. Und in Oldenburg 
wiederum hatte das alte Grunderbrecht bis zur neuen Geſetz— 
gebung ununterbrochen fortbeſtanden und entwickelten die Ver⸗ 
waltungsbehörden eine ſo energiſche Thätigkeit, um dasſelbe der 
Bevölkerung auch in der neuen Form zu erhalten, daß gleich in 
den erſten Jahren ebenfalls ein großer Teil aller Grundbeſitzungen 
dem neuformulierten Grunderbrecht unterſtellt wurde. 

Ich bezweifle auch nicht, daß es dem Einfluß des weſt— 
fäliſchen Bauernvereins und ſeinen einflußreichen Leitern gelingen 
werde, in dieſer Provinz ein ähnlich günſtiges Reſultat zu er— 
zielen. 

Dagegen bin ich der Überzeugung, daß in den übrigen 
preußiſchen Provinzen ſowie in anderen deutſchen Ländern das 
Anerbenrecht erſt dann von wirklich maßgebender Bedeutung 
werden wird, wenn es gelingt, dasſelbe nach dem Vorbilde 
Lippe⸗Schaumburgs und Braunſchweigs und zugleich ohne die 
in dieſen Ländern beliebte Beſchränkung desſelben auf den bäuer⸗ 


Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 165 


lichen Grundbeſitz zum Inteſtaterbrecht für den geſamten länd- 
lichen Grundbeſitz zu machen. 

Nun wird aber gegen eine ſolche Ausdehnung des Anerben— 
rechts auf das ganze Gebiet des Deutſchen Reichs mit Recht 
geltend gemacht, daß in manchen Gegenden das Rechtsbewußtſein 
und die Sitte der ländlichen Bevölkerung einer ſolchen Maßregel 
entſchieden widerſtreben würde. Es iſt das namentlich der Fall 
in Gegenden mit ſehr zerſtückeltem und zugleich parzelliertem 
Grundbeſitz, in denen derſelbe etwas von der Beweglichkeit des 
Kapitals angenommen hat und in denen das Rechtsbewußtſein 
zugleich zäh an der Sitte der gleichen Erbteilung feſthält. 

Darf nun die Geſetzgebung auf dem Gebiet des Erbrechts 
den vorhandenen Rechtsüberzeugungen überhaupt keinen Zwang 
anthun, ſo würde ſich ein ſolcher dort, wo die Güterzer⸗ 
ſtückelung und ⸗parzellierung eine krankhafte geworden iſt, auch 
nicht einmal aus Rückſichten auf die Erhaltung der vorhandenen 
Grundbeſitzverteilung empfehlen. Erſt in dem Maße, wie hier 
geſundere Verhältniſſe eintreten, — und dieſe zu ſchaffen oder 
zu begünſtigen, iſt eine der wichtigſten Aufgaben der Agrarpolitik — 
ſollte den Beſitzern der beſſer arrondierten Güter von mittlerem 
und größerem Umfange Gelegenheit gegeben werden, dieſelben 
dem Anerbenrecht zu unterftellen. 

Eine ſolche Möglichkeit iſt aber bei dem bisher eingeſchlagenen 
Wege einer einheitlichen Regelung dieſer Frage für ein ganzes 
Land oder eine ganze Provinz nicht vorhanden. Denn dieſe 
erfolgt nur, wenn ſich der überwiegende Teil der Bevölkerung 
für das Anerbenrecht entſcheidet. Dabei kommen aber weder die 
kleinen Unterabteilungen eines Landes und einer Provinz noch 
die einzelnen Güter zu ihrem Rechte. Dies hat ſich ſchon früher 
in Oldenburg und noch neuerdings in Weſtfalen und Heſſen 
gezeigt, indem ſich weder für das ganze Großherzogtum Oldenburg 
noch auch für die ganze Provinz Weſtfalen noch endlich für den 
ganzen Regierungsbezirk Kaſſel ein einheitliches Anerbenrecht ein— 
führen ließ und daher hier ſchon in den einzelnen Landesteilen 
unterſchieden werden mußte. Auch wurden durch die provinzielle 


166 Die Grundeigentumsperteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 


Regelung des Anerbenrechts Anomalieen wie z. B. die folgende 
veranlaßt: daß nämlich zur Provinz Weſtfalen vier Kreiſe der 
Rheinprovinz hinzugeſchlagen werden mußten, um ihnen ein 
Anerbenrecht zu gewähren, das der übrige Teil der Rheinprovinz 
perhorreszierte. 

Ich gelange daher zu folgendem Vorſchlag. Die Kommiſſion 
für die Ausarbeitung eines deutſchen Civilgeſetzbuches möge 
neben dem allgemeinen Erbrecht, welches für das ſämtliche 
Mobiliarvermögen und ebenſo für das ſtädtiſche Immobiliar⸗ 
vermögen in Anwendung zu kommen hätte, für das land- und 
forſtwirtſchaftlich benutzte Grundeigentum das Anerbenrecht in 
doppelter Geſtalt einführen: nämlich einmal in der Geſtalt eines 
von Geſetzes wegen geltenden Inteſtaterbrechts und ſodann eines 
erſt durch Eintragung in die Höferolle zur Anwendung gelangen⸗ 
den Höferechtes. Den einzelnen Ländern und Landesteilen 
(Provinzen, Kreiſen, Bezirken) wäre dann anheimzugeben, ſich 
für das eine oder andere der beiden Erbrechtsſyſteme zu ent⸗ 
ſcheiden. 

In den Landesteilen mit arrondiertem Beſitz und ſtarkem 
Familienbewußtſein würde wahrſcheinlich das Anerbenrecht als 
Inteſtaterbrecht recipiert werden, ſo daß dasſelbe für das einzelne 
Grundſtück im gegebenen Vererbungsfall nur durch ausdrückliche 
Willenserklärung ausgeſchloſſen werden könnte; in den Ländern 
mit zerſtückeltem und parzelliertem Grundbeſitz, ſtark hervor⸗ 
tretendem Individualismus und Gleichheitsgefühl dagegen würde 
das allgemeine Mobiliarerbrecht Anwendung auf den ländlichen 
wie auf den ſtädtiſchen Grundbeſitz finden, jedoch ſo, daß ſeine 
Wirkſamkeit für einzelne Güter durch ausdrückliche Eintragung 
derſelben in die Höferolle ausgeſchloſſen werden könnte. Von 
der Belehrung und dem Beiſpiel erwarte ich, daß man ſich 
mit der Zeit in ganz Norddeutſchland, in einem großen Teil 
Bayerns, im württembergiſchen Ober-Schwaben, im Hohenlohe⸗ 
ſchen, im badiſchen Schwarzwalde für das Anerbenrecht als 
Inteſtaterbrecht erklären werde, während in Mittel- und Süd⸗ 
weſtdeutſchland mit Ausnahme nur der eben bezeichneten Bezirke 


Be 


Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 167 


> 2 das jetzige Syſtem der Höferolle neben dem allgemeinen Erbrecht 


Anwendung finden werde. 


Daß ſich gegen dieſen Plan mancherlei Bedenken vorbringen 
laſſen, weiß ich wohl. Ich habe dieſelben bei der detail— 
lierten Ausführung meines Vorſchlags in der zweiten Abteilung 
meines für unſern Verein ausgearbeiteten Gutachtens eingehend 
berückſichtigt. An dieſer Stelle verbietet mir die leider bereits 
zu weit vorgeſchrittene Zeit, näher auf dieſe Bedenken einzugehen. 


Ich eile daher zum Schluß, indem ich, nochmals zu dem 
Anfange meines Vortrages zurückkehrend, nur noch die Frage zu 
beantworten ſuche, was denn eigentlich durch eine ſolche Reform 
des Erbrechts erzielt werden ſoll. Dieſe Antwort lautet in 
Kürze: es ſoll die im großen Ganzen geſunde Verteilung des 
ländlichen Grundeigentums in der Zukunft beſſer konſerviert 
werden, als das gemeine Erbrecht dies zu thun geſtattet, und es 
ſollen die grundbeſitzenden Familien gegenüber dem Andrängen 
des beweglichen Kapitals in ihrem Beſitz beſſer geſchützt werden, 


als dies gegenwärtig möglich iſt. 


An der Erhaltung der vorhandenen Grundbeſitzverteilung 
und der altangeſeſſenen grundbeſitzenden Familien hat der Staat 
ein eminentes Intereſſe. Denn eine geſunde Grundbeſitzverteilung 
bildet die erſte Vorausſetzung für ein geſunde Vermögens- und Ein⸗ 
kommensverteilung überhaupt. Sie allein ſchützt auch davor, wie 
ſelbſt von ſocialdemokratiſcher Seite wiederholt zugeſtanden worden 
iſt, daß die ſociale Frage auf dem Lande nicht eine ebenſo 
brennende werde, wie ſie es bereits in den Städten iſt. Sodann 
ſind die Familien, in deren Beſitz ſich ein großer Teil der größeren 
und mittleren Güter befindet, namentlich in unſerm Nordoſten, 
aufs engſte mit den Schickſalen unſeres Staates und unſerer 
Dynaſtie verwachſen, für die ſie im Kriege ihr Blut vergoſſen 
und im Frieden ihre beſten Kräfte hingegeben haben. In unſerm 
Bauernſtande endlich beſitzen wir ein ſociales Element, um das 
uns mancher andere Staat beneiden dürfte, mancher Staat, der 


trotz größeren Reichtums und höherer materieller Kultur dennoch 


168 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 


auf thönernen Füßen ruht, weil ihm ein geſunder Bauernſtand 
fehlt. Wie dieſer Mittelſtand eins der koſtbarſten Vermächtniſſe 
unſerer Geſchichte iſt, ſo ruht in ihm auch eine der kräftigſten 
Bürgſchaften für unſere Zukunft. Denn noch immer gilt das 
Wort des Dichters: 


Es ſprießt der Stamm des Rieſen 
Aus Bauernmark hervor! 


V. 


Das Anerbenrecht und das künftige bürger- 
liche Gefeßbud für das Deutſche Reich‘. 


Eingabe des deutſchen Landwirtſchaftsrats an den Kanzler des 
Deutſchen Reichs vom 27. April 1886. 


Die Kriſis, unter der die deutſche Landwirtſchaft ſeit einigen 
Jahren leidet, hat unter anderem zur Folge gehabt, daß einige 
Staatsregierungen, Vereine und Private eine Reihe von Unter- 
ſuchungen über den Umfang und die Urſachen derſelben ange— 
ſtellt haben. Wenn die Reſultate dieſer Arbeiten auch in man⸗ 


I Baernreither, Das Stammgüter-Syſtem und Anerbenrecht in 
Deutſchland. Wien 1882. 

A. Peez, Über die Frage eines ſingulären Erbrechts für den kleinen 
Grundbeſitz. Wien 1883. 

v. Inama⸗Sternegg, Zur Reform des Agrarrechts, beſonders des 
Anerbenrechts, in Grünhuts Zeitſchrift für das Privat- und öffentliche 
Recht der Gegenwart. Bd. 10. 

v. Miaskowski, Das Erbrecht und die Grundeigentumsverteilung 
im Deutſchen Reiche. 2 Abteilungen. Leipzig 1882 —84. 

Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik über die Anerben- 
rechtsfrage im Jahre 1882, im Bericht über die am 9. und 10. Oktober 
1882 abgehaltene Generalverſammlung. Leipzig 1882. 

Verhandlungen des deutſchen Landwirtſchaftsrats über die An⸗ 
erbenrechtsfrage in den Jahren 1884—86, im Archiv des deutſchen Land— 
wirtſchaftsrates VIII. — X. Jahrgang. 


170 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 


chen Beziehungen voneinander abweichen, ſo hat ſich doch in 
einem Punkte eine nahezu vollſtändige Übereinſtimmung unter 
denſelben ergeben. . 

Von allen Seiten nämlich wird beſtätigt, daß die Lage der⸗ 
jenigen Beſitzer, auf deren Gütern verhältnismäßig viele Schul⸗ 
den ruhen, am ſchlechteſten ſei und daß die hohe Verſchuldung 
wieder ihre weſentlichſten Urſachen in dem häufigen Beſitzwechſel 
der Güter, in dem Ankauf derſelben zu hohen Preiſen bezw. in 
den hohen Erbſchaftstaxen und endlich in den unzureichenden 
Mitteln, mit denen die Landgüter in vielen Fällen erworben 
werden, habe. 

Es beſagt dieſes Reſultat übrigens nichts Neues, es enthält 
nur eine allgemeine Beſtätigung deſſen, was von einzelnen 
agrarpolitiſchen Schriftſtellern und ſonſtigen mit unſeren Agrar⸗ 
verhältniſſen vertrauten Perſonen bereits ſeit Jahrzehnten mit 
mehr oder minder großer Entſchiedenheit behauptet worden iſt. 

Dieſes Reſultat dürfte aber deshalb von beſonderem Werte ſein, 
weil es die allgemeine Aufmerkſamkeit auf einen Mangel unſerer 
Agrargeſetzgebung im weiteſten Sinne des Worts hinlenkt, 
wozu wir auch die Erbrechtsgeſetzgebung, ſoweit ſie auf die 
Vererbung des ländlichen Grundbeſitzes Anwendung findet, rechnen. 

Wird dieſer und mancher andere Mangel, der unſerer Agrar⸗ 
geſetzgebung eigen iſt, infolge der grellen Beleuchtung, in die ſie 
die gegenwärtige Kriſis ſtellt, erkannt und abgeſtellt, ſo dürfte 
die Not, unter der die gegenwärtige Generation zu leiden hat, 
zum Segen für die künftigen Geſchlechter werden. 

Das geltende gemeine und landrechtliche Erbrecht trägt 
an dem namentlich unter den Rittergütern des Oſtens in 
den letzten Jahrzehnten häufig vorgekommenen Beſitzwechſel in⸗ 
ſofern ſchuld, als es auch ſeinerſeits auf den ohnehin in der 
Abnahme begriffenen Sinn für den Familienbeſitz auflöſend ge⸗ 
wirkt hat. Dieſe Wirkung iſt aber wiederum ſpeciell darauf 
zurückzuführen, daß die Erbſchaftstaxe je länger, um jo mehr auf 
die Höhe des beim Verkaufe eines Gutes erzielbaren höchſten 
Preiſes geſchraubt wird. Und dieſe Praxis wieder findet 


Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 171 


3 


ihren Stützpunkt in dem jedem von mehreren Erben eingeräumten 
"= Rechte, behufs Feſtſtellung der Taxe die Meiſtbotſtellung des be- 
5 treffenden Gutes verlangen zu dürfen, ſowie in der den Vor— 
mündern und Kuratoren minderjähriger und unter Kuratel 
ſtehender Perſonen obliegenden Pflicht, auf eine möglichſt 
hohe Taxe zu dringen. Denn eine ſolche Beſtimmung, welche 
den einzelnen Erben die nötige Handhabe zur Realiſierung rein 
individualiſtiſcher Beſtrebungen giebt, iſt dazu angethan, um den 
auf die Erhaltung eines ererbten Gutes in der Familie ge— 
richteten Sinn zu zerſtören oder doch abzuſchwächen. Iſt derſelbe 
geſchwunden, ſo wird das Landgut als eine Ware wie jede 
andere behandelt, deren Beſitz man nicht erſtrebt, um eine dauernde 
Stätte für die produktive Thätigkeit ſowie einen feſten Boden 
für die Entwicklung der Familie zu gewinnen, ſondern lediglich, 
um ſie billig zu kaufen und möglichſt teuer wieder zu verkaufen. 
Stellt der Beſitzer ſich aber einmal auf dieſen ſpekulativen Stand— 
punkt, ſo findet er ſeine Befriedigung nicht mehr in der ununter— 
brochenen Dauer, ſondern nur noch in dem möglichſt raſchen 
Wechſel ſeines Beſitzes. Durch einen ſolchen häufigen Beſitz— 
wechſel geht dann nicht nur der Vorteil der „Werkfortſetzung“ 
(Fr. Liſt) verloren, es knüpfen ſich an einen ſolchen namentlich 
bei uns, wo Käufer und Erben die Güter häufig mit unzu— 
reichenden Mitteln übernehmen, auch noch eine Reihe poſitiver 
Schäden wirtſchaftlicher, ſocialer und politiſcher Art. Ein locker 
2 auf der Scholle ſitzender Beſitzer wirtſchaftet mehr für den Schein, 
als daß er feinem Gute wirklich diejenigen Zuwendungen an 
Arbeit und Kapital zukommen läßt, die nicht gleich ſichtbar 
werden, ſondern oft erſt nach Jahrzehnten rentieren. Einem 
ſolchen Beſitzer wird auch nur ſelten daran gelegen ſein, ſeinen 
Arbeitern und Nachbarn eine gerechte Schonung ihrer Intereſſen 
angedeihen zu laſſen. Ferner pflegen Güterſpekulanten, und in 
ſolche verwandeln ſich naturgemäß die loſe auf der Scholle 
ſitzenden Beſitzer, der ländlichen Selbſtverwaltung und der poli— 
tiſchen Vertretung nicht dieſelben Dienſte zu leiſten wie die ſeß— 
haften und deshalb mit den dauerenden Intereſſen ihrer Gegend 


„ 
FR 9 fü ö 5 ? 


172 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 


feſt verwachſenen Grundbeſitzer. In politiſcher Beziehung nament⸗ 
lich eignen ſie ſich alle Schattenſeiten der Städter an, ohne 
daß mit dieſen Schattenſeiten doch die Vorzüge derſelben ver⸗ 
bunden wären. 

Wenn wir bisher ausſchließlich von den Nachteilen ſprachen, 
die daraus entſtehen, daß der Rittergutsbeſitz ſeinen Cha⸗ 
rakter als Familienbeſitz verliert, ſo muß auch hinſichtlich des 
bäuerlichen Grundbeſitzes noch beſonders darauf hinge⸗ 
wieſen werden, daß der nicht mehr regelmäßig vom Vater auf den 
Sohn ſich vererbende Grundbeſitz nicht nur der betreffenden Fa⸗ 
milie, ſondern zugleich auch dem Bauernſtande und damit der 
geſamten Volkswirtſchaft verloren geht. Denn ein Bauerngut 
als Ganzes wird nur ausnahmsweiſe wieder von einem Bauern 
gekauft; häufig gelangt es in die Hände eines früheren Beamten 
großer Gutswirtſchaften, der, weil er auf ſo ſchmaler Baſis zu 
wirtſchaften nicht gewohnt iſt, meiſt zu Grunde geht, worauf das 
Gut dann entweder als Ganzes von einem benachbarten Groß— 
grundbeſitzer ſeinem Beſitze einkorporiert oder parzelliert wird, 
in beiden Fällen aber als ſelbſtändiges Bauerngut zu exiſtieren 
aufhört. 

Je häufiger ſich nun ſolche Vorgänge wiederholen, um ſo 
raſcher ſchrumpft die Baſis, auf der die Exiſtenz dieſes durch 
Verbindung von Kapital und Arbeit in einer eigenen Unter⸗ 
nehmung charakteriſierten ländlichen Mittelſtandes ruht, zuſammen 
und verſchlechtert ſich die im ganzen normale Verteilung unſeres 
Grundbeſitzes, indem ihr geſundeſter Beſtandteil an Umfang und 
Bedeutſamkeit verliert. 

Wie lebhaft aber dieſe Gefahr bereits gegenwärtig allgemein 
empfunden wird, das zeigt die Einmütigkeit faſt ſämtlicher na- 
tionalökonomiſcher Theoretiker ſowie aller ſonſt weit auseinander 
gehenden Parteien — mit Ausnahme nur der ſocialdemokrati⸗ 
ſchen —, wenn es gilt, dieſen die heutige Geſellſchaft und ihre 
Ordnung gegen die wilden Waſſer der Umſturzbeſtrebungen 
ſchützenden Damm, als welcher der Bauernitand allgemein an- 
erkannt wird, zu ſchützen und zu befeſtigen. 


ET Dias Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 173 


Unſere eben verſuchte Beweisführung wird unterſtützt durch 
die von den neueſten agrariſchen Ermittelungen ebenfalls be— 
ſtätigte Thatſache, daß die gegenwärtige Kriſis am wenigſten 
auf diejenigen Grundbeſitzer drückt, die ihre Güter zu einer 
mäßigen, den durchſchnittlichen Ertragswert derſelben nicht über— 
ſteigenden Taxe ererbt haben; und zwar deshalb, weil dieſe Güter 
gewöhnlich weniger ſtark verſchuldet ſind als diejenigen Güter, 
die zu hohen Preiſen gekauft oder bei der Erbſchaftsregulierung 
übernommen worden ſind. 

Da im Durchſchnitt die bäuerlichen Güter entweder infolge 
des in einem großen Teil des nordweſtlichen und nördlichen, aber 
auch in einzelnen Teilen des mittleren und ſüdlichen Deutſch— 
land geſetzlich oder gewohnheitsrechtlich geltenden Anerbenrechtes 
oder infolge der im Nord- und Südoſten, aber auch ſonſt in 
manchen Teilen Süd- und Mitteldeutſchlands verbreiteten Sitte, 
den Bauernhof bei Lebzeiten der Eltern an einen Sohn zu einer 
mäßigen Taxe zu übergeben (Gutsübergabeverträge), viel häufiger 
vom Vater auf den Sohn zu Bedingungen, welche dieſem in der 
Regel die Erhaltung des Gutes ermöglichen, vererben als die 
Rittergüter, auf die das gemeine und landrechtliche Erbrecht in 
viel größerem Umfange Anwendung findet, ſo erklärt ſich hieraus 
zugleich zur Genüge die in jüngſter Zeit (1883) für 52 Diſtrikte 
der preußiſchen Monarchie konſtatierte Thatſache, daß die größeren 
Güter zum Achtundzwanzigfachen, die Bauernhöfe dagegen nur 
zum Achtzehnfachen und die Bauernſtellen vollends nur zum 
Zwölffachen des Grundſteuereintrages verſchuldet ſind !. 

Unter den großen Gütern bilden eine Ausnahme von der 
Regel, d. h. ſind verhältnismäßig niedrig verſchuldet, hauptſäch— 
lich nur die fideikommiſſariſch gebundenen Güter. Alſo auch 
hier iſt es wieder neben der Erſchwerung der hypothekariſchen 


I „Ermittelungen über die durchſchnittliche Höhe der Grundbuchſchulden 
der bäuerlichen Beſitzungen in 52 Amtsgerichtsbezirken des preußiſchen 
Staates nach dem Stande des Jahres 1883. Im Auftrage des Herrn 
Miniſters der Landwirtſchaft, Domänen und Forſten bearbeitet von Auguſt 
Meitzen.“ Seite 80. 


174 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 


Verſchuldung die eigenartige Erbfolge (Individualſucceſſion eines 
der Kinder unter vollſtändigem Ausſchluſſe der übrigen Allodial⸗ 
erben von der Erbfolge in das Fideikommißgut bez. mäßiger 
Abfindung derſelben), welche die geringe Verſchuldung der Güter 
bewirkt. 

Indes darf bei Hervorhebung dieſer Lichtſeiten an dem 
gegenwärtigen Zuſtande der Vererbung des Grund und Bodens 
doch nicht unerwähnt bleiben, daß ſie nicht die Gewähr längerer 
Dauer beſitzen. 

Denn was zunächſt die Familienfideikommiſſe betrifft, ſo 
harmonieren ſie ſowenig mit der ganzen Architektonik unſerer 
auf dem Grundſatze der Freiheit und der Gleichheit ruhenden 
Rechtsordnung, daß die Wellen einer hochgehenden demokratiſchen 
Strömung, die leicht an die bereits beſtehende und immer ſtärker 
werdende, auf die Beſeitigung der engliſchen entails gerichtete 
Bewegung anknüpfen kann, auch bei uns das Fideikommißinſtitut 
zu Falle bringen würde. 

Ferner iſt das ältere, ſtrenge Anerbenrecht in jüngſter Zeit 
in einer Reihe von Staaten beſeitigt und teilweiſe durch das 
neuere Anerbenrecht nach dem Prinzip der Höferolle erſetzt 
worden. Durch das neue Inſtitut iſt aber ein durchaus unzu⸗ 
reichender Erſatz für das ältere gegeben. Denn wenn die An⸗ 
wendung dieſes neueren Anerbenrechtes von der ausdrücklichen 
Willensäußerung des Erblaſſers abhängig gemacht wird, ſo 
darf — bei der in Deutſchland im allgemeinen und ganz ſpeciell 
im Bauernſtande nur wenig verbreiteten Sitte, letztwillige Ver⸗ 
fügungen oder ähnliche Dispoſitionen zu treffen — nur unter 
beſonders günſtigen Verhältniſſen auf eine umfaſſende Anwendung 
dieſes wohl richtig als indirektes Inteſtaterbrecht bezeichneten 
neuen Anerbenrechts gerechnet werden. Solche beſonders günſtige 
Verhältniſſe haben nun freilich in der Provinz Hannover und 
im Großherzogtum Oldenburg vorgelegen, und hier iſt denn auch 
der Gebrauch, der von der Höferolle gemacht worden iſt, kein 
geringer geweſen. Überall aber, wo die Verhältniſſe weniger 
günſtig lagen als in dieſen beiden Ländern — in denen das 


. Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 175 


* Anerbenrecht als eine gemeinſame Landesangelegenheit aller 


Klaſſen der Bevölkerung angeſehen wurde, die man namentlich 
in Hannover gegenüber dem Alt-Preußentum beſonders betonen 
zu müſſen glaubte, und in denen Verwaltungs- und Juſtizbeamte, 
größere Grundbeſitzer und landwirtſchaftliche Vereine ebenſoviel 
Eifer wie Einſicht bei Durchführung der Höfegeſetze zeigten —, 
da iſt nach übereinſtimmenden Nachrichten von der Höferolle 
bisher faſt gar kein Gebrauch gemacht worden. Es wäre aber 
gewiß voreilig und falſch, hieraus zu ſchließen, daß die ländliche 
Bevölkerung dem, was durch die Höferolle von der Geſetzgebung 
erſtrebt wird, abgeneigt ſei. Von einer Abneigung gegen den 
Zweck des neuen Anerbenrechts kann um ſo weniger die Rede 
ſein, als namentlich der Bauernſtand nach althergebrachter Sitte 
denſelben Zweck, den das Anerbenrecht verfolgt, durch andere 
Mittel zu erreichen beſtrebt iſt und als das neue Anerbenrecht 
den wenigſten Grundbeſitzern in ſeiner Bedeutung vollſtändig be— 
kannt iſt, indem es der gegen die Höfegeſetze gerichteten Agitation 
gelungen iſt, die Tragweite der einzelnen Beſtimmungen zu über— 
treiben und dadurch namentlich unter der bäuerlichen Bevölkerung 
ein Mißtrauen zu erzeugen, das in dem Geſetze ſelbſt keinerlei 
Begründung findet. Dieſes Mißtrauen nun könnte durch die Ini— 
tiative der Rittergutsbeſitzer leicht beſeitigt werden, wenn dieſe ſich 
entſchließen wollten, durch die Eintragung ihrer Güter in die Höfe— 
rolle den Bauern ein gutes Beiſpiel zu geben. Denn die neueren 
für eine Anzahl preußiſcher Provinzen erlaſſenen Höfegeſetze und 
Landgüterordnungen geſtatten ſämtlichen Beſitzern landwirtſchaft— 
licher Güter die Eintragung in die Höferolle und ſchließen nur die 
ganz kleinen Beſitzer aus. Doch haben auch die Rittergutsbeſitzer 
teils infolge der auch in dieſer Klaſſe verbreiteten Abneigung 
gegen letztwillige Dispoſitionen, teils infolge der Unbekanntſchaft 
mit dem Inſtitut der Höferolle, teils endlich infolge der Un— 
ſicherheit und Schwierigkeit ihrer Lage von der Höferolle bisher 
ſogut wie gar keinen Gebrauch gemacht. So iſt denn vorläufig, 
das Reſultat dieſer neueren Geſetzgebung — immer abgeſehen 
von Hannover und Oldenburg — kein anderes als dieſes, daß 


176 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 


man ſich ſcheut die Initiative zu einer rechtlichen Regelung des 


Immobiliarnachlaſſes zu ergreifen, die man ſich von Geſetzes 


wegen in der Form des direkten Inteſtaterbrechts gewiß gern 
gefallen laſſen würde. 

Was ferner die Sitte der Gutsübergabe betrifft, jo iſt fie 
freilich nur auf die Kreife des Bauernſtandes beſchränkt, hier 
aber ſehr weit verbreitet. Während dem Bauern die Teſtaments⸗ 
errichtung im ganzen unſympathiſch iſt und er ſich, wie wir eben 
gezeigt haben, auch zu der Eintragung ſeines Gutes in die Höfe⸗ 
rolle bisher im allgemeinen nur ſelten verſtanden hat, iſt ihm 
die Übergabe des Gutes an einen der Erben bei Lebzeiten ge⸗ 
läufig. Dieſe verſchiedene Stellung des Bauern zur Höferolle 
einer- und zu den Gutsübergabeverträgen andererſeits iſt nun 
aber keineswegs, wie man auf den erſten Blick annehmen könnte, 
durch den Inhalt und Zweck dieſer beiden Inſtitute bedingt, denn 
der Zweck iſt bei beiden derſelbe, nämlich die Erhaltung des Grund⸗ 
beſitzes in der Familie, ſondern weſentlich nur durch die Form, 
indem der ſeinem Weſen nach konſervative Bauer ſich an die eine 
Form ſeit Generationen gewöhnt hat, während ihm die andere 
neu und deshalb unbequem iſt. 

Nun könnte man ſich ja, da von beiden Inſtituten derſelbe 
Zweck erreicht wird, an der bezüglich der Gutsübergabe beſtehenden 
Sitte genügen laſſen, wenn nicht dagegen zwei ebenſo triftige 
wie allgemein anerkannte Gründe ſprächen. Denn 

1. iſt die Sitte der Gutsübergabe ausſchließlich auf die 
bäuerlichen Grundbeſitzer beſchränkt, während die Beſeitigung der 
in dem gemeinen und landrechtlichen Erbrechte enthaltenen, dem 
Grundbeſitze ſchädlichen Beſtimmungen den größeren Gutsbeſitzern 
doch zum mindeſten ebenſo not thut; 

2. ſind die Gutsübergabeverträge, wenn ſie auch das oben 
anerkannte günſtige Reſultat zur Folge haben, doch andererſeits 
mit einer Anzahl ſo bedeutender Mängel für den Frieden der 
Familie, die Sittlichkeit ſowie zum Teil auch für die Volks⸗ 
wirtſchaft verbunden, daß das Bedürfnis, das durch dieſes Rechts⸗ 
inſtitut erreichte Ziel auf einem anderen Wege, durch eine andere 


rr ee 


Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 177 


Rechtsform zu erreichen, um ſo lebhafter anerkannt werden wird, 
je allgemeiner die Überzeugung durchdringt, daß eine Reform des 
Inſtitutes der Übergabeverträge ſelbſt nicht wohl thunlich iſt. 

Endlich iſt noch zu erwähnen, daß auch die freiwilligen Ver⸗ 
einbarungen unter den Miterben, welche dahin zielen, einem unter 
ihnen das ererbte Gut zu einer mäßigen Taxe zu überlaſſen, 
unter dem Einfluſſe des oben ſkizzierten, den Individualismus 
begünſtigenden, gemeinen und landrechtlichen Erbrechtes immer 
ſeltener werden. 

So ſind denn die geſetzlichen und gewohnheitsrechtlichen 
Stützpunkte, welche der Familienbeſitz in dem gegenwärtigen 
Erbrechte beſitzt, nur ſehr ſchwach und nehmen außerdem an 
Kraft der Wirkſamkeit von Tag zu Tag ab. Der Grund hier— 
für dürfte weniger in der Abnahme des Familienſinnes über⸗ 
haupt zu ſuchen ſein als in der eigentümlichen Stellung dieſer 
Rechtsinſtitute zu dem allgemeinen Erbrechte. Denn es erſtreckt 
ſich dieſes gewöhnlich auch auf das ganze Territorium eines be— 
ſtimmten Staates ſowie auf alle Klaſſen ſeiner Bewohner und 
gelangt daher immer zur Anwendung, wenn es nicht ausdrücklich 
durch einen Vertrag unter Lebenden (Gutsübergabe, Erbſchafts— 
auseinanderſetzung), ex pacto et providentia majorum (Familien- 
fideikommiſſe), durch letztwillige Verfügung oder endlich durch Ein— 
tragung eines Gutes in die Höferolle ausgeſchloſſen wird. Nun 
iſt es aber, zumal bei einem Volke, in dem der Geiſt der Initia⸗ 
tive überhaupt und ſpeciell der Sinn für letztwillige Verfügungen 
nicht ſehr ſtark entwickelt iſt, leicht erklärlich, daß die lediglich 
durch perſönliche Initiative in Wirkſamkeit zu ſetzende Ver⸗ 
erbungsnorm, mag ſie der wirtſchaftlichen Natur der Sache und 
der perſönlichen Rechtsüberzeugung auch noch ſehr entſprechen, 
gegenüber der anders gearteten geſetzlichen Beſtimmung, zumal 
wenn dieſe in dem Egoismus einzelner Familienglieder eine ſtarke 
Stütze findet, einen ſchweren Stand haben und deshalb nur aus— 
nahmsweiſe zur Geltung gelangen wird. 

Dieſe und ähnliche Erwägungen drängen ſich beſonders leb— 


haft in einem Augenblicke auf, in dem das für das geſamte 
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 12 


178 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 


Deutſche Reich beſtimmte bürgerliche Geſetzbuch ſich in der Ausar⸗ 
beitung befindet. Es entſteht unwillkürlich die Frage, ob die ge⸗ 
ſetzliche Regel, welche bisher ihre formelle Rechtskraft nur auf die 
einzelnen deutſchen Staaten erſtreckt hat, nun auch zur Regel für 
das geſamte deutſche Reichsgebiet gemacht werden ſoll. 

Dieſe Frage bejahen hieße dieſer Regel für die Zukunft 
eine noch größere Kraft beilegen, als ſie bereits in der Ver⸗ 
gangenheit gehabt hat. In dem kleineren Kreiſe eines ein⸗ 
zelnen Staates oder einer Provinz konnte es noch eher gelingen, 
für das allgemeine Geſetzesrecht ein Gegengewicht in dem ſingu⸗ 
lären oder partikulären Geſetzes- oder Gewohnheitsrecht und in 
der Sitte zu ſchaffen, als ſolches für das weitere Gebiet des 
Reiches möglich ſein wird. Denn mit dem Umfange des An⸗ 
wendungsgebietes wächſt auch die innere Kraft des auf dasſelbe 
berechneten Geſetzesrechtes: gegenüber dem Zuge nach Rechts⸗ 
einheit in einem ſo großen Körper wird es weder dem lokalen 
noch dem ſingulären Geſetzes- und Gewohnheitsrecht, geſchweige 
denn der Sitte in Zukunft möglich ſein, ſich gehörig zur Geltung 
zu bringen. Wenn daher das Reichsgeſetzbuch den einzelnen 
Landesgeſetzgebungen etwa geſtatten ſollte, ältere Rechtsinſtitute, 
wie das Fideikommiß, das Stammgut u. a. m., beizubehalten 
oder ſelbſt neuere Rechtsinſtitute, wie z. B. das modifizierte 
Anerbenrecht, neben das geltende Reichsrecht oder an die Stelle 
desſelben zu ſetzen, ſo würden ſolche nur geduldete Einrichtungen 
doch bereits den Todeskeim in ſich tragen. Denn einmal werden 
die einzelnen Landesgeſetzgebungen ſich nur unter einem beſonders 
ſtarken Drucke der Bevölkerung dazu verſtehen, von der ihnen 
eingeräumten geſetzgeberiſchen Kompetenz Gebrauch zu machen; 
dann aber wird in denjenigen Staaten, in denen dieſes gleich- 
wohl geſchähe, der Zug nach Rechtseinheit wahrſcheinlich ſo ſtark 
ſein, daß dieſe Gebilde der Landesgeſetzgebung doch zu keinem 
rechten Gedeihen gelangen würden. 

Entſpricht daher ein beſtimmtes, dem Privatrecht angehöriges 
Rechtsinſtitut den gegebenen Verhältniſſen, d. h. wird ſeine wirt⸗ 
ſchaftliche, ſociale und politiſche Notwendigkeit oder doch Zweck— 


‚a = Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 179 


mäßigkeit erwieſen, ſo wird man, um demſelben die Gewähr 


effektiver Anwendung zu ſichern, danach ſtreben müſſen, daß das- 
ſelbe Aufnahme in dem bürgerlichen Geſetzbuch finde. Ein ſolches 
Verfahren dürfte auch allein der Bedeutung des künftigen bürger— 
lichen Geſetzbuches entſprechen, welches doch unmöglich das für ein 
beſtimmtes Gebiet als ungeſund und abnorm Erwieſene zur Regel 
erheben und das den gegebenen Verhältniſſen Entſprechende, 
Normale nur als Ausnahme dulden darf. 

Wenn wir dieſen Satz auf unſeren Gegenſtand anwenden, 
ſo würde dafür zu ſorgen ſein, daß die land- und forſtwirt— 
ſchaftlich benutzten Güter von dem Inteſtaterbrecht als Einheiten 
behandelt und einer ſolchen Taxe unterworfen werden, daß ihre 
Erhaltung in der Familie unter normalen Verhältniſſen möglich 
iſt. Das heißt aber nichts anderes, als daß für dieſe Güter 
die Anerbenrechtsfolge zur geſetzlichen Regel erhoben werde; zur 
geſetzlichen Regel in dem Sinn, daß beim Nichtvorhandenſein 
einer entgegenſtehenden letztwilligen Dispoſition oder vertrags— 
mäßigen Vereinbarung ein ſolches Landgut nur einem Kinde zu 
einer mäßigen, auf Grund der durchſchnittlichen Erträge zu er— 
mittelnden Taxe deferiert wird, und zwar bereits von Geſetzes 
wegen und nicht erſt infolge der perſönlichen Initiative des Be— 
ſitzers. | 

Ein ſolches für den land- und forſtwirtſchaftlich benutzten 
Grundbeſitz beſtimmtes Inteſtaterbrecht dürfte aber nicht ohne 
weiteres auf das ganze Deutſche Reich anwendbar ſein, weil nicht 
überall die Vorausſetzungen einer gedeihlichen Wirkſamkeit desſelben 
vorhanden ſind. Dieſe Vorausſetzungen ſind zum Teil objektiver 
Natur und beſtehen darin, daß die Güter wirklich auf die Dauer 
berechnete Wirtſchaftseinheiten bilden, jo daß der Umfang der- 
ſelben, die Art der Kultivierung, die Größe und Art der Wohn— 
und Wirtſchaftsgebäude ſowie des Inventars durch eine lange 
Praxis dergeſtalt aneinander gepaßt ſind, daß eine Störung dieſes 
Gleichgewichtes durch Zerlegung des Gutes in einzelne Teile oder 
Inkorporierung in ein anderes Gut in der Regel von mehr oder 


minder großen privat- und volkswirtſchaftlichen Verluſten be— 
12* 


180 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 


gleitet ſein würde. Neben dieſer objektiven Vorausſetzung bedarf 
es für das Anerbenrecht aber noch einer ſubjektiven, indem ſeine 
gedeihliche Wirkſamkeit nur dort gewährleiſtet iſt, wo die be⸗ 
treffenden Familien, in deren Beſitz ſich die Landgüter befinden, 
Wert auf die Erhaltung derſelben legen und die einzelnen 
Familienglieder, von dieſem Gefühl mehr oder minder durch⸗ 
drungen, nicht ausſchließlich danach ſtreben, einen möglichſt großen 
Geldanteil aus der Nachlaßmaſſe zu erhalten. 

Was zunächſt die objektive Vorausſetzung für die Neu⸗ 
geſtaltung des Anerbenrechtes betrifft, ſo iſt ſie überall vor⸗ 
handen, wo der Grundbeſitz nicht aus mehreren kleinen Parzellen 
beſteht, welche ſich aus dem vom Manne Ererbten, von der Frau 
Eingebrachten und von beiden Teilen Zugekauften zu Beſitz⸗ und 
Wirtſchaftskombinationen verbinden, die nach einem Menſchen⸗ 
alter immer wieder auseinanderfallen. In Gegenden der letzteren 
Art hat der Grundbeſitz etwas von der Natur des beweglichen 
Kapitals angenommen, und iſt hier zugleich die Vorliebe für den 
eigenen Beſitz unter der Bevölkerung ebenſo ſtark verbreitet, wie 
das Feſthalten der durch ein einzelnes Glied repräſentierten 
Familie an dem ererbten Gute, als einer von Generation zu 
Generation unverteilt übergehenden Einheit, faſt gänzlich ver⸗ 
ſchwunden iſt. Demnach fehlt auch die zweite, ſubjektive Voraus⸗ 
ſetzung in der Regel in denſelben Gegenden, in denen die erſte, ob⸗ 
jektive Vorausſetzung nicht vorhanden iſt. Während nämlich in 
dem bei weitem größten Teile des Deutſchen Reiches die Landgüter 
auf die Dauer berechnete Einheiten im obigen Sinne ſind und 
die beſitzenden Familien ſich ſolange wie möglich im Beſitze der- 
ſelben zu erhalten ſuchen, zu welchem Zwecke die einzelnen Glieder 
bereit ſind, mehr oder minder große Opfer zu bringen, Opfer, 
für die ſie ſich weniger in materieller als in immaterieller Be⸗ 
ziehung — durch die Erhaltung der Heimſtätte in der Familie — 
entſchädigt ſehen, legt in dem kleineren Teile von Deutſchland 
nicht die Familie, ſondern der einzelne einen großen Wert darauf, 
ein Stück Landes ſein zu nennen, unbekümmert darum, ob das⸗ 
ſelbe ererbt iſt oder nicht. 


Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 181 


Dieſer Dualismus, auf den wir in der Agrarverfaſſung und 
in der Rechtsüberzeugung ſtoßen, prägt ſich auch in der bei an— 
nähernd gleichem geſetzlichen Erbrecht ſich vorfindenden Vererbungs— 
ſitte aus. Denn während in der erſten größeren Gruppe von 
Ländern das wirtſchaftliche Bedürfnis und die Rechtsüberzeugung 
ebenſoſehr gegen die gleiche Natural- wie Civilteilung des aus 
einem Landgute beſtehenden Nachlaſſes unter ſämtlichen Erben 
reagiert, werden in der zweiten kleineren Gruppe nicht nur die 
ererbten Komplexe von Parzellen, ſondern auch dieſe Parzellen 
ſelbſt unter ſämtlichen Erben zu gleichen reellen Teilen verteilt, 
und nur ausnahmsweiſe findet die gleiche Civilteilung, wobei 
zugleich der höchſtmögliche Verkaufswert der Taxe zu Grunde 
gelegt wird, ſtatt. 

Zur erſteren Gruppe von Ländern gehört faſt der ganze 
Norden Deutſchlands, ein großer Teil des Südoſtens und einige 
Enklaven in der zweiten Ländergruppe; zu dieſer wiederum ein 
Teil von Mitteldeutſchland und der größte Teil von Südweſt— 
deutſchland. Die erſte Ländergruppe charakteriſiert ſich im all- 
gemeinen durch geringere Fruchtbarkeit des Bodens, durch ein 
rauheres Klima und eine kürzere Vegetationsperiode, durch eine 
wenig dichte Bevölkerung und geringe Städtezahl, durch das 
Vorwiegen des Cerealien⸗, Kartoffel⸗ und Rübenbaues, der 
Viehzucht und der landwirtſchaftlichen Nebengewerbe, durch die 
Konzentration des geſamten Lebens in der Familie und im 
Hauſe, durch das ſtärkere Hervortreten von Klaſſenunterſchieden 
und durch eine verhältnismäßig junge Kultur. In der zweiten 
Gruppe dagegen iſt der Boden im allgemeinen fruchtbarer, das 
Klima milder, der Anbau von Gemüſe, Handelsgewächſen und 
Wein mehr verbreitet, die Bevölkerung dichter, die Zahl der 
Städte größer und das Leben auf dem Lande durch Elemente 
ſtädtiſchen Weſens vielfach durchſetzt, die Geldwirtſchaft bis in 
das feinſte Geäder des Verkehrs eingedrungen, das häusliche 
Leben mehr durch das öffentliche zurückgedrängt, die Klaſſen⸗ 
unterſchiede mehr verwiſcht, die wirtſchaftliche Kultur älter und 
mehr befeſtigt. 


182 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 


Ausnahmsweiſe finden ſich in der erſten Gruppe von Ländern 
Gegenden, in denen die Elemente der zweiten Gruppe vorherrſchen. 
Es gehören dahin namentlich die Umgebungen größerer Städte. 
Und umgekehrt wieder ſind in der zweiten Gruppe von Ländern 
der erſten mehr oder minder verwandt einzelne von den Städten 
weit abgelegene Gegenden, wozu namentlich die Gebirge gehören. 

Aus dem eben kurz ſkizzierten Dualismus, der ſich in der 
Agrarverfaſſung und Rechtsüberzeugung innerhalb des Deutſchen 
Reiches vorfindet, könnte man vielleicht ſchließen, daß ſich die 
Zuſtände der zweiten Ländergruppe zu den Zuſtänden der erſten 
ſchlechthin wie das höhere zu dem niederen Entwickelungs⸗ 
ſtadium verhalten. Wäre dieſe Annahme richtig, ſo wären die 
im Süden herrſchenden Ordnungen die normalen und auf eine 
längere Dauer berechneten, dagegen die im Norden herrſchenden 
nur von temporärer Bedeutung, indem ſie den Ordnungen der 
höheren Kulturſtufe im Laufe der Zeit Platz machen müßten. 
Doch iſt dieſe Annahme in doppelter Beziehung unrichtig, indem 
der Dualismus begründet iſt einmal durch Verſchiedenheiten der 
natürlichen Ausſtattung, die ſich ganz und gar nicht nivellieren 
laſſen, und ſodann durch eine hiſtoriſche Entwickelung, deren 
verſchiedene Reſultate ſich ebenfalls in abſehbarer Zeit nicht aus⸗ 
gleichen werden. Somit wäre eine Übertragung der im deut⸗ 
ſchen Südweſten vorhandenen ſpecifiſchen Einrichtungen und unter 
ihnen namentlich der oben ſkizzierten Vererbungsſitte ſowie der 
durch dieſelbe weſentlich bedingten Verteilung des Grundbeſitzes 
auf das geſamte Reich, ſelbſt wenn ſie wünſchenswert erſcheinen 
würde, ſchlechterdings undurchführbar. Eine ſolche Übertragung 
iſt aber auch nicht einmal wünſchenswert, weil die Zuſtände des 
Südweſtens keineswegs als durchweg befriedigend bezeichnet wer— 
den können und zwar deshalb nicht, weil die hier regelmäßig 
erfolgende Naturalteilung nicht nur des geſamten Immobiliar⸗ 
nachlaſſes, ſondern ſogar der zu demſelben gehörigen einzelnen 
Parzellen unter die ſämtlichen Erben oder doch wenigſtens unter 
eine Mehrheit derſelben nicht nur die Wirkung, ſondern auch 
die Urſache der ſich hier zum Teil vorfindenden relativen Über⸗ 


Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 183 


völkerung iſt. In Verbindung mit den im Südweſten noch 
vorherrſchenden Bürgerguts- oder Almendnutzungen erzeugt die 
Naturalteilung des Grundbeſitzes im Erbwege ferner jenes ver— 
derbliche Kleben an der Scholle, das eine Regulierung der Be— 
völkerung entſprechend den vorhandenen Erwerbsquellen verhindert. 
Die ſtarke Verkleinerung der Grundbeſitzeinheiten, ihre Parzel— 
lierung und Gemengelage verhindern ſodann den kräftigen 
Aufſchwung der landwirtſchaftlichen Technik, ein Übelſtand, der 
namentlich gegenüber den unter weſentlich günſtigeren Bedingungen 
produzierenden anderen Ländern und der gefährlichen Konkurrenz, 
welche ſie der deutſchen landwirtſchaftlichen Produktion bereiten, 
in der Gegenwart beſonders deutlich hervortritt. 

Wenn nun im allgemeinen die Vorausſetzungen der eigen— 
artigen Vererbungsſitte, wie ſie Mittel- und Südweſtdeutſchland 
eigentümlich ſind, ſich nicht auf das übrige Reich übertragen 
laſſen, ſo gilt dasſelbe auch umgekehrt von den Agrar- und 
Vererbungsverhältniſſen in dem weitaus größten Teile des Deut- 
ſchen Reiches in ihrer Beziehung zu Mittel- und Südweſt— 
deutſchland. 

Soll daher das Erbrecht in Zukunft den wirtſchaftlichen 
Verhältniſſen dieſer beiden Ländergruppen und der Rechtsüber— 
zeugung ihrer Bevölkerung möglichſt eng angeſchloſſen werden — 
und es wird das doch wohl als wünſchenswert bezeichnet werden 
müſſen —, ſo gelangt man notwendig zu einem Dualismus auch 
in der Normierung des für den ländlichen Immobiliarbeſitz be— 
ſtimmten Erbrechtes, indem auf der einen Seite für den über— 
wiegenden Teil des Deutſchen Reiches das Inteſtaterbrecht 
nach der Anerbenfolge zu geſtalten, für einen kleineren Teil 
hingegen an dem bisherigen Inteſtaterbrecht, das ja außerdem 
ſeine Anwendung auf den Mobiliar- und den ſtädtiſchen Im— 
mobiliarbeſitz beibehielte, feſtzuhalten ſein wird. In denjenigen 
Gegenden der erſten Ländergruppe, in denen die Rechtsüber⸗ 
zeugung der einzelnen Grundbeſitzer ausnahmsweiſe dem Anerben- 
rechte widerſtrebt, würden die letzteren in der nur durch das 
Pflichtteilsrecht beſchränkten Teſtierfreiheit ein Mittel finden, um 


184 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 


ſich für den gegebenen Fall von der Anwendung des Anerben⸗ 
rechtes frei zu machen. Da aber auch in der zweiten Länder⸗ 
gruppe mehr oder minder umfangreiche Enklaven vorkommen, in 
denen es in den wirtſchaftlichen Verhältniſſen begründet iſt und 
der Rechtsüberzeugung entſpricht, daß die Güter als Einheiten 
behandelt werden, ſo wird man auch dieſen Ausnahmeverhält⸗ 
niſſen Rechnung tragen müſſen. Dieſes wird aber wohl am 
zweckmäßigſten in der Weiſe geſchehen, daß man denjenigen 
Grundbeſitzern, welche arrondierte Güter beſitzen und dieſelben 
als ſolche in der Familie zu erhalten wünſchen, ſolches nicht 
nur zu thun geſtattet, ſondern auch durch Einführung des In— 
ſtituts der Höferolle noch erleichtert. 

Es erübrigt jetzt nur noch die Frage zu beantworten, von 
wem und in welcher Weiſe die Grenze zwiſchen den Anwendungs⸗ 
gebieten dieſer beiden Erbrechtsſyſteme (Anerbenfolge mit freier 
Teſtierbefugnis, eingeſchränkt nur durch das Pflichtteilsrecht, 
und gleiches Erbrecht mit dem Inſtitut der Höferolle) zu ziehen 
ſein wird. 

Wenn die Regelung dieſer beiden Erbrechtsſyſteme durch 
das Reichsgeſetzbuch in jedem Falle als wünſchenswert er- 
ſcheint, ſo könnte man gleichwohl den einzelnen Landesgeſetz⸗ 
gebungen die Entſcheidung darüber vorbehalten, ob ſie das eine 
oder das andere der beiden Syſteme für ihr geſamtes Staats⸗ 
gebiet oder beide nebeneinander für verſchiedene Teile des Staats⸗ 
gebietes in Kraft ſetzen wollen, wobei denſelben auch noch das 
Recht eingeräumt werden könnte, die von dem Reichsgeſetzbuch 
aufgeſtellten allgemeinen Normen in einzelnen Punkten zu ſpe⸗ 
cialiſiren. 

Uns will indes ein anderer Weg als der ſachgemäßere er- 
ſcheinen. Iſt nämlich die Vererbung des ländlichen Grundbeſitzes 


nach der Anerbenfolge die der wahren Natur des Grund 


beſitzes allein entſprechende und daher volkswirtſchaftlich und 
ſocialpolitiſch wünſchenswerte und ſind die ſachlichen wie perjön- 
lichen Vorausſetzungen einer ſolchen Ausgeſtaltung des Erbrechts 
in dem weitaus größten Teile des Deutſchen Reiches vorhanden, 


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Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 185 


ſo ſollte das bürgerliche Geſetzbuch das Anerbenrecht auch 
für das geſamte Deutſche Reich in Kraft ſetzen, zugleich aber 
denjenigen Staaten, in denen dieſe Vorausſetzungen ausnahms⸗ 
weiſe nicht vorhanden ſind, geſtatten, das für den ſtädtiſchen 
Mobiliar⸗ und Immobiliarbeſitz beſtimmte Erbrecht auch für den 
ländlichen Immobiliarbeſitz beizubehalten, wobei aber zugleich die 
Eintragung desſelben in die Höferolle mit all ihren Folgen zu 
ermöglichen wäre. 

Gegen dieſen Vorſchlag könnte nun vom Standpunkte der 
auch von uns als ein Poſtulat der modernen Entwicklung aner- 
kannten Rechtseinheit und -gleichheit eingewendet werden, daß 
derſelbe einen Dualismus innerhalb des Erbrechtes ſtatuiert, in— 
dem der aus land- und forſtwirtſchaftlich benutztem Grundbeſitz 
beſtehende Nachlaß anders als der geſamte übrige Nachlaß be— 
handelt werden würde. 

Dieſem Einwande gegenüber iſt zunächſt zu erwähnen, daß durch 
den obigen Vorſchlag im Vergleich mit dem gegenwärtig beſtehen— 
den Zuſtande der Vererbung des Grundbeſitzes, welcher die größten 
Verſchiedenheiten von Land zu Land, ja von Dorf zu Dorf auf: 
weiſt, immerhin eine viel größere Gleichmäßigkeit des Erbrechts 
begründet werden würde. Sodann würde auch das Prinzip der 
Rechtsgleichheit, ſofern man unter demſelben die gleiche Behand- 
lung aller einem beſtimmten Staate angehörigen Perſonen 
ohne Unterſchied der Konfeſſion, der Stammesangehörigkeit, des 
Standes u. ſ. w. verſteht, keineswegs verletzt werden, indem die ver— 
ſchiedene Normierung des Erbrechtes lediglich von der Eigenart 
der Nachlaß-Gegenſtände abhängig gemacht werden ſoll. Auch 
fehlt es an Präzedenzfällen für die Durchbrechung des Prinzipes 
der Rechtsgleichheit in letzterem Sinne nicht: haben doch die 
eigenartigen wirtſchaftlichen Verhältniſſe des Land- und Gee- 
handels zur Aufſtellung eines eigenen Handels-, Wechſel- und 
Seerechtes geführt und hat man doch ſogar die Handhabung 
dieſes Rechtes von den allgemeinen Civilgerichten auf eigene 
Handelsgerichte zu übertragen für nötig gefunden. Auch in dem 
bereits gegenwärtig geltenden Bergbau-, Forſt⸗ und Agrarrecht 


186 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 


ſind mancherlei Modifikationen des allgemeinen Sachen⸗ und 
Vertragsrechts enthalten. Wenn man nun in Zukunft auch für 
die Geſtaltung des Erbrechtes in höherem Grade als bisher 
wirtſchaftliche Geſichtspunkte entſcheidend ſein laſſen will, jo 
wird damit nichts Neues geſchaffen, ſondern nur dem bereits auf 
einem ziemlich umfangreichen Gebiete realiſierten Gedanken, daß 
das Recht den wirtſchaftlichen Vorausſetzungen zu entſprechen 
habe, noch weitere Ausdehnung gegeben. Und zwar auf einem 
Gebiete, auf dem das Geſetzesrecht gegenwärtig der wirtſchaft⸗ 
lichen Natur des Grundbeſitzes wenig Rechnung trägt, was dann 
wieder zur Folge hat, daß ein großer Teil der Gutsbeſitzer ſich 
in die Zwangslage verſetzt ſieht, entweder das geltende Inteſtat⸗ 
erbrecht im gegebenen Falle zur Anwendung gelangen zu laſſen, 
dann aber auf die Erhaltung des Grundbeſitzes in der Familie 
zu verzichten, oder aber die Anwendung des Inteſtaterbrechtes 
durch eine Reihe von secundum, praeter et contra legem ge- 
troffenen Dispoſitionen von ſich abzuhalten. 

So ſteht denn die künftige Geſetzgebung vor der Alternative, 
ob fie das aus römiſcher Wurzel entſprungene Inteſtaterbrecht 
mit ſeinen verhängnisvollen Wirkungen für den Familienſinn 
und den Familienbeſitz ſowie für die Verteilung des Grund⸗ 
beſitzes auch für die Zukunft beibehalten oder ein neues den 
wirtſchaftlichen, ſocialen und politiſchen Anforderungen ent⸗ 
ſprechendes Recht im oben bezeichneten Sinne ſchaffen will. 
Wollte man das beſtehende Inteſtaterbrecht im Reichsgeſetzbuch fort- 
beſtehen laſſen und nebenbei der Landesgeſetzgebung nur geſtatten, 
daß ſie die Intereſſen des Grundbeſitzes ihrerſeits für beſtimmte 
engbegrenzte Gebiete durch Einführung beſonderer erbrechtlicher 
Inſtitute ſchütze, ſo wäre das nur ein halbes und ſchwächliches 
Auskunftsmittel, das ſeinen Zweck nicht erreichen und deshalb 
der hohen Aufgabe, welche den Redacteuren des bürgerlichen Ge- 
ſetzbuches geſtellt iſt, nicht entſprechen würde. 

Eine Neuſchöpfung durch das bürgerliche Geſetzbuch in dem 
oben angedeuteten Sinne brauchte übrigens nur auf den in der 
deutſchen Rechtsentwicklung enthaltenen Stoff zurückzugreifen und 


Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 187 


denſelben den Anforderungen des wirtſchaftlichen und ſittlichen 
Lebens der Gegenwart anzupaſſen. 

Zu dieſem Zwecke hätte man ſich zu erinneren, daß das 
altgermaniſche Erbrecht das Landgut als Familienbeſitz auffaßte 
und ſein Heraustreten aus der Familie erſchwerte, in der Familie 
dann freilich einen Unterſchied zwiſchen Männern und Frauen 
ſtatuierte, die Erben desſelben Geſchlechtes aber völlig gleichſtellte 
und die Teſtierfreiheit ausſchloß. 

Unter dem Einfluſſe des bereits früh durch die Kirche ver— 
mittelten römiſchen Rechtes ſowie der ebenfalls durch die Kirche 
vertretenen Auffaſſung, daß alle Menſchen gleich ſind, wurden 
dann die Frauen den Männern im Erbrecht gleichgeſtellt, wurde 
die Teſtierfreiheit zunächſt in beſcheidenen Grenzen zugelaſſen und 
der Begriff des Familienbeſitzes auf einen engeren Kreis von 
Gütern beſchränkt. 

Eine ſolche Geſtaltung des Erbrechtes wies zunächſt keine 
bedeutenden wirtſchaftlichen Nachteile auf, ſolange Land im Über— 
fluß vorhanden war und der auf der einen Seite durch Erb— 
teilung verkleinerte Grundbeſitz auf der andern Seite durch Neu— 
rodung wieder leicht vergrößert werden konnte und ſolange die 
Naturalteilung ſowie die Verſchuldung des Grundbeſitzes durch 
Ausſcheidung von Erbteilen für die Geſchwiſter ſich überdies in— 
folge des Mangels an Geldkapital in den meiſten Fällen von 
ſelbſt verbot. 

Als die grundbeſitzenden Familien aber ſeit dem weiteren 
Vordringen des römiſchen Rechtes, ſeit Vermehrung des Geld— 
kapitals u. ſ. w. für die Erhaltung ihres Beſitzes und damit 
für die Baſis ihrer wirtſchaftlichen und politiſchen Stellung zu 
fürchten anfingen, da wurde eine Reihe von erbrechtlichen In— 
ſtituten geſchaffen, die ſowohl den wirtſchaftlichen Bedürfniſſen 
wie der Machtſtellung der höheren Stände Rechnung trugen. 
Teils aus einer Kombination von altgermaniſchen und römiſchen 
Rechtsideen hervorgegangen, teils ſich als ſelbſtändige Schöpfungen 
darſtellend, waren alle dieſe erbrechtlichen Inſtitute — das Bei⸗ 
ſpruchsrecht und die Ganerbſchaft, die Erbfolge der Lehn- und 


188 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 


Stammgüter, der Güter des hohen Adels und der Familien⸗ 
fideikommiſſe, ſowie das bäuerliche Anerbenrecht — dem Charakter 
der Zeit entſprechend für einzelne beſtimmte Stände berechnet. 
Sie ſchufen ferner abſolutes Recht, ſo daß ſie durch entgegen⸗ 
ſtehende Vereinbarungen oder letztwillige Verfügungen nur ſelten 
beſeitigt werden konnten. Ihnen allen gemeinſam war ferner 
die Bevorzugung eines der mehreren gleich nahen Erben, der als 
Organ der Familie, als Fortpflanzer ihrer Traditionen und ihres 
Beſitzes angeſehen wurde, wogegen die Geſchwiſter desſelben ent⸗ 
weder von der Erbfolge im Grundbeſitze vollſtändig ausgeſchloſſen 
oder beſten Falls kümmerlich abgefunden wurden. In einigen 
dieſer Inſtitute ſteigerte ſich dann der Rechtsſchutz, mit dem der 
Familienbeſitz umgeben wurde, zur vollen oder doch partiellen Un⸗ 
teilbarkeit, Unveräußerlichkeit und Unverſchuldbarkeit desſelben. 
Immer aber hingen dieſe ſingulären und zugleich partikulären 
Rechtsinſtitute durch tauſend Fäden mit der Agrarverfaſſung des 
Mittelalters und des ancien régime zuſammen. 


Dieſe zu jener Zeit von vielen einzelnen Punkten aus faſt 
den geſamten Grundbeſitz umſpannende Ordnung wurde dann 
durch das Vordringen des gemeinen Rechtes, das auch in der 
Gegenwart nicht als abgeſchloſſen angeſehen werden kann, auf 
immer kleinere Gebiete zurückgedrängt und in ihren Wirkungen 
abgeſchwächt. 

Schwächliche und deshalb verfehlte Neuſchöpfungen, wie der 
den fünfziger Jahren angehörende Verſuch, in dem Inſtitut der 
ſogenannten landwirtſchaftlichen Erbgüter das Familienfideikommiß 
auf den bäuerlichen Grundbeſitz zu übertragen, ſowie die neueren 
auf das Prinzip der Höferolle baſierten provinziellen Höferechte 
und Landgüterordnungen, werden dieſen Prozeß nicht aufhalten. 

Demnach befindet ſich der Stand der Grundbeſitzer gegen- 
wärtig in einer ähnlichen Lage wie am Ausgange des Mittel- 
alters, zu welcher Zeit die Geldwirtſchaft und das römiſche 
Erbrecht auf ihn einzudringen begannen und ihn mit der 
Expropriation bedrohten. Nur daß die Situation jetzt eine 


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Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb f. d. Deutſche Reich. 189 


ungleich bedenklichere geworden iſt. Denn die Geldwirtſchaft, 
welche ſich damals erſt in ihren Anfängen befand und zunächſt 
nur in wenigen großen Städten und längſt den großen Handels- 
ſtraßen Eingang fand, iſt gegenwärtig auch in die entlegenſten 
Winkel des flachen Landes und der Gebirgswelt eingedrungen. 
Das Geldkapital, das damals zuerſt feinen Einfluß in der ger— 
maniſchen Welt geltend zu machen begann, iſt jetzt zu einer groß— 
artigen alles beherrſchenden Macht herangewachſen. Das römiſche 
Recht, das damals erſt in die Köpfe der auf italieniſchen und 
deutſchen Univerſitäten gebildeten Juriſten einzudringen anfing, 
hat ſeit jener Zeit eine viel größere Verbreitung und Zuſtimmung 
unter dem Volke gewonnen. Und endlich hat der deutſche Grund— 
beſitzer der Gegenwart nicht nur den Kampf mit dem über- 
mächtig gewordenen Geldkapital, ſondern auch mit der ſich für 
ihn immer verderblicher geſtaltenden Konkurrenz der überſeeiſchen 
Produktion zu beſtehen. 

Es iſt daher kein Zufall, wenn in der Gegenwart der Ruf 
nach Schutz des Grundbeſitzes durch das Erbrecht immer lauter 
von allen Seiten erſchallt. Aus einem kleinen Rinnſal iſt die 
Bewegung für die Geſtaltung eines eigenen Grunderbrechtes im 
Laufe eines Jahrzehntes zu einem anſehnlichen Strome ange— 
wachſen, der auch die Widerſtrebenden mit ſich fortzureißen droht. 
War dieſe Bewegung anfangs auf die hauptſächlich aus Ver— 
tretern des Grundbeſitzes beſtehende konſervative Partei beſchränkt, 
ſo findet ſie neuerdings auch unter den Liberalen Anhänger, und 
es iſt die Zeit wahrſcheinlich nicht mehr allzu fern, daß auch 
die Vertreter des Geldkapitals ſich derſelben nicht mehr wie bis— 
her entgegenſtellen werden. Es bedarf zu dieſem Zwecke nur 
der Erwägung, daß die Kapitalbeſitzer von heute die Grundbe— 
ſitzer von morgen ſind und daß, wenn ſie als Erwerber von 
Grundbeſitz auch wünſchen müſſen, daß alles, was ihnen dieſen 
Erwerb erſchwert, vermieden werde, ſie als Grundbeſitzer doch 
das Intereſſe haben, ſich in dem Beſitze des einmal Erworbenen 
zu behaupten. Daß dieſes durch Errichtung von Fideikommiſſen 
auch ſeitens derjenigen geſchieht, welche noch vor kurzem für die 


190 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 


freieſte wirtſchaftliche Bewegung eintraten, iſt ein Beweis dafür, 
daß die Berührung mit dem Grund und Boden auch die Kapital⸗ 
beſitzer ſehr bald ihren einſeitigen, lediglich den Intereſſen des 
Kapitals entſprechenden Anſchauungen abwendig gemacht. Dieſes 
Auskunftsmittel genügt aber keineswegs, weil die meiſten Grund⸗ 
beſitzer wegen der Verſchuldung ihrer Güter von demſelben keinen 
Gebrauch machen können und weil die Fortdauer des Familien⸗ 
fideikommiſſes wegen des Widerſpruchs, in dem ſich dieſes In⸗ 
ſtitut mit den Rechtsanſchauungen der Gegenwart befindet, durch— 
aus keine geſicherte iſt. 

Dieſe Erwägungen führen uns gleichſam von ſelbſt auf die 
Forderung hin, daß die von uns für notwendig gehaltene Ge- 
ſtaltung eines Grunderbrechtes alles zu vermeiden haben wird, 
was an demſelben als Überbleibſel einer überlebten Ordnung 
erſcheinen würde. Wir rechnen dazu namentlich den ſtändiſchen 
und lokalen Charakter desſelben, die Beſchränkung der Dispoſition 
über den Grundbeſitz durch Veräußerungs-, Teilungs- und Ver⸗ 
ſchuldungsverbote ſowie den Ausſchluß oder die Erſchwerung leßt- 
williger Verfügungen und endlich den gänzlichen Ausſchluß der 
Miterben von der Succeſſion in den Wert des Grundbeſitzes. 

Was wir von einer Neugeſtaltung des Erbrechts fordern, 
iſt lediglich dieſes: 

1. daß von der Fiktion, das zum Nachlaß gehörige einzelne 

Landgut ſei eine beliebig teilbare Sache, abgeſehen werde, 


2. daß der Auseinanderſetzung unter mehreren Miterben 
bezw. der Feſtſtellung ihres Anteils an dem Nachlaſſe 
eine Taxe zu Grunde gelegt werde, nach welcher einer 
der mehreren gemeinſchaftlichen Erben das Gut antreten 
und auf die Dauer ſeinen Nachkommen erhalten könne, und 

3. endlich, daß eine Regulierung der Erbfolge auf Grund 
dieſer beiden Prinzipien (Anerbenrecht) in dem bürger- 
lichen Geſetzbuch für das Deutſche Reich erfolge und 
zwar in folgender Weiſe: 


daß der Regel nach die Anerbenfolge von Geſetzes 


herben. u. d. fünft. bürgerl. Seſeßb. f. d. Deutſche Reid 191 


EN wegen zur Anwendung | gelange und daß nur aus- 
nahmsweiſe in denjenigen Staaten, in denen dieſes 


FR aus beſtimmten oben dargelegten Gründen nicht 
thunlich erſcheint, durch die Landesgeſetzgebung von 
dieſer Regel abgewichen werden könne, indem von 


derſelben neben dem für den geſamten Mobiliar- 
a und Immobiliarbeſitz gemeinſamen Inteſtaterbrechte 
das Inſtitut der Höferolle eingeführt werde. 


VI 


Die Gufsübergabe- (Altenteils-) Verträge. 
Referat für den deutſchen Landwirtſchaftsrat. März 1887. 


M. H.! Es iſt bereits der Beſchlüſſe Erwähnung geſchehen, 
die wir im vorigen Jahre in der Anerbenrechtsfrage gefaßt haben. 
Ich erlaube mir, diejenigen Herren, die damals nicht Mitglieder 
des Landwirtſchaftsrats waren, auf den Geſchäftsbericht pro 1888 
zu verweiſen. In demſelben finden Sie den im vorigen Jahre 
von dem deutſchen Landwirtſchaftsrat gefaßten Beſchluß wörtlich 
mitgeteilt und die Eingabe des Landwirtſchaftsrats an den Herrn 
Reichskanzler abgedruckt !. 

Wenn uns heute eine Gegenſtand beſchäftigt, der mit der 
im vorigen Jahre behandelten Materie in engſtem Zuſammenhang 
ſteht, ſo iſt das zurückzuführen auf eine Anregung, die im vorigen 
Jahre dem preußiſchen Landesökonomiekollegium gegeben worden iſt. 
Ein Mitglied jener Körperſchaft hat angeſichts der Mängel, 
die bei der Ausführung der Gutsübergabeverträge hervorgetreten 
ſind, geglaubt einen Antrag ſtellen zu müſſen, der zwar von dem 
Landesökonomiekollegium nicht angenommen worden iſt, aber doch 
die Anregung zu einer weiteren Behandlung dieſer Frage ge— 
geben hat. 

M. H.! Sie wiſſen ja, daß unter Gutsübergabeverträgen, 


1 Vgl. oben V. 


Die Gutsübergabe- (Altenteils⸗ Verträge. 193 


Altenteilsverträgen u. ſ. w. ſolche Verträge verſtanden werden, 
welche gewöhnlich zwiſchen einem Vater und ſeinem Sohne ab— 
geſchloſſen werden, Verträge, durch welche der Vater bei Leb— 
zeiten ſein Gut dem Sohne zum Eigentum übergiebt und ſich 
eine Summe ausbedingt, die ihm oder ſeinen Erben zu zahlen 
iſt, gleich oder in einem ſpäteren Zeitpunkt, zu der dann noch eine 
Leibrente hinzutritt, die dem Vater bezw. der Mutter entweder 
in natura oder in Geld zu entrichten iſt, ſolange ſie leben. 

Mit dieſen Gutsübergabeverträgen ſuchen die betreffenden 
Perſonen, welche ſie abſchließen, drei Zwecke zu verbinden. Es 
wollen die Väter einmal in der Zeit, in der ſie nicht mehr 
arbeitsfähig ſind oder es nicht mehr zu ſein glauben, ſich von 
der Wirtſchaft frei machen, indem ſie ihr Gut einem ihrer prä— 
ſumtiven Erben übertragen; ſodann wünſchen ſie zweitens das 
Gut, an dem der Schweiß und die Arbeit von Jahrzehnten kleben, 
in der Familie zu erhalten, um über das Schickſal desſelben be- 
ruhigt zu ſein; und endlich wünſchen ſie eine Regulierung ihres 
Nachlaſſes unter den Erben ſchon bei Lebzeiten vorzunehmen. 

Dieſe drei Zwecke werden überall dort ins Auge gefaßt, wo 
das gemeinrechtliche Erbrecht gilt, wo alſo alle Kinder ein gleiches 
Anrecht auf den Nachlaß des Vaters oder der Eltern haben, wo 
die Gutstaxen hoch hinaufgeſchraubt zu werden pflegen u. ſ. w. 
Der eine Punkt, das Streben, die Güter der Familie zu erhalten, 
kommt dagegen nicht in Betracht in Ländern, in denen das auf 
dem Prinzip des Anerbenrechtes ruhende Inteſtaterbrecht bereits 
genügend für dieſen Zweck ſorgt. 

Die Gutsübergabeverträge ſind über ganz Deutſchland ver— 
breitet; ſie kommen überall vor, und was ihre Wirkung betrifft, ſo 
wird zu unterſcheiden ſein zwiſchen früheren Zeiten und der Gegen- 
wart. Dieſe Verträge ſtammen aus der gutsherrlichen Periode und 
haben damals entſchieden eine günſtige Wirkung ausgeübt, damals, 
wo der Gutsherr den Bauern zwingen konnte, das Gut, wenn 
ſeine Kraft nicht mehr ausreichte, einem Jüngeren zu übergeben, 


wo er das aber nur that, wenn wirklich der Bauer nicht mehr 
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 13 


194 Die Gutsübergabe- (Altenteils-)Derträge. 


im ſtande war, jein Gut zu bewirtſchaften, wo ferner der Guts⸗ 
herr dafür ſorgte, daß die Verpflichtungen des Gutsübernehmers 
nicht zu hoch waren u. ſ. w. 

Am Schluß dieſer gutsherrlichen Periode wurde das, was 
bis dahin der Wille des Gutsherrn feſtſetzte, in geſetzliche 
Normen gebracht. Die meiſten deutſchen Staaten haben ſeit 
dem vorigen Jahrhundert Geſetze erlaſſen des Inhalts, daß ſolche 
Gutsübergabeverträge zur Beſtätigung den Juſtizbehörden zu 
unterbreiten wären und daß die Juſtizbehörden bei dieſer Beſtäti⸗ 
gung beſtimmte Normativbeſtimmungen zu befolgen hätten. Es 
durfte alſo z. B. der Gutsübergeber ſich nicht auf den Altenteil 
zurückziehen, bevor er ein beſtimmtes Alter erreicht hatte, und es 
durften die dem Gutsübernehmer auferlegten Verpflichtungen ein 
gewiſſes Maß nicht überſchreiten. Das iſt auch der Standpunkt, den 
noch das Preußiſche Allgemeine Landrecht einnimmt, der Standpunkt, 
der von den meiſten übrigen deutſchen Geſetzgebungen geteilt wird. 
Das Erfordernis der Prüfung und Beſtätigung der Gutsübergabe⸗ 
verträge durch die Juſtizbehörden iſt dann in dieſem Jahrhundert 
allgemein (in Preußen im Jahre 1845) aufgehoben worden. Es 
können alſo abgeſehen von den Vorſchriften über das Formale der 
Verträge die Kontrahenten ihren Verträgen jetzt jeden beliebigen 
Inhalt geben; ſie können die Verpflichtungen außerordentlich hoch 
ſtellen; es kann der Gutsübergeber den Vertrag abſchließen zu 
einer Zeit, wo er noch bei voller Kraft iſt, u. ſ. w. 

In den vierziger Jahren entbrannte in Preußen ein Kampf 
zwiſchen dem Erbrecht des Allgemeinen Landrechts und dem 
Anerbenrecht, und in dieſem Kampfe ſtellten ſich eine Reihe her⸗ 
vorragender Autoritäten (die Juſtizminiſter von Savigny und 
von Mühler, der Abgeordnete Waldeck u. a.) auf die Seite 
des Gutsübergabevertrages und des gemeinen Rechtes, indem 
ſie die Anſicht vertraten, daß das Anerbenrecht nicht erforderlich 
ſei, weil die Zwecke desſelben vollſtändig erreicht würden durch 
die Gutsübergabeverträge. Dieſe Anſicht hat ihre Spuren auch 
in der jetzigen juriſtiſchen Litteratur hinterlaſſen, indem z. B. 
Dern burg und andere noch derſelben Meinung ſind, daß das 


Die Gutsübergabe- (Altenteils-)Derträge. 195 


Anerbenrecht zu entbehren ſei, wenn man von den Gutsüber— 
gabeverträgen nur den rechten Gebrauch mache. Dieſelbe An— 
ſicht iſt neuerdings, am Ende der ſiebziger und Anfang der 
achtziger Jahre, auch hervorgetreten in einer Reihe von öſt— 
lichen preußiſchen Provinziallandtagen. Um dieſe Zeit wurde 
den ſämtlichen Provinziallandtagen der preußiſchen Monarchie 
von der Staatsregierung die Frage unterbreitet, ob ſie nicht das 
hannöverſche Höferecht auch für ihre Provinzen eingeführt zu 
ſehen wünſchten. Wenn nun die größere Zahl der Provinzial— 
landtage ſich auch für die Annahme erklärte, ſo hat doch eine 
Minorität derſelben, Poſen, Oſt- und Weſtpreußen, ſich gegen das 
Anerbenrecht ausgeſprochen, indem ſie ſich auf den älteren Stand— 
punkt ſtellten, daß die Übergabeverträge dieſelben Zwecke vollſtändig 
erfüllen, die man mit dem Höferechte zu erreichen beſtrebt iſt. 
Wie verhält es ſich nun mit den Folgen dieſer Übergabe— 
verträge? Ich habe ſchon angedeutet, daß dieſe Folgen in 
früheren Zeiten günſtige waren; ſie waren es auch noch im Anfang 
der Zeit, da die Verträge freigegeben wurden, und ſie ſind es 
zum Teil auch noch heute. Da, wo ſich eine ſtarke Familien— 
ſitte, wo ſich ein Pietätsverhältnis zwiſchen Eltern und Kindern 
erhalten hat, wohnen die Eltern bei den Kindern, ſie leiſten, auch 
wenn ihre Arbeitskraft ſich gemindert hat, kleine Beihülfen, die 
eine gewiſſe Entſchädigung bieten für das Wenige, was ſie von 
den Kindern erhalten. Aber es ſcheint doch dieſer günſtige Zu— 
ſtand gegenwärtig die Ausnahme zu bilden. Denn es werden 
aus den verſchiedenſten Teilen Deutſchlands, aus dem äußerſten 
Nordoſten ſowohl wie aus dem Südweſten, Klagen darüber laut, 
daß die Freiheit der Gutsübergabeverträge dahin geführt habe, 
dem Gutsbeſitzer Verpflichtungen von ſolcher Höhe aufzuerlegen, 
daß ſie von ihm auf die Dauer nicht getragen werden können. 
Es verhält ſich damit folgendermaßen. Wenn der Vater ſein 
Gut abgeben will, ſo iſt der Sohn gewöhnlich in dem Alter, in 
dem er heiraten will oder bereits geheiratet hat; es liegt ihm 
daher möglichſt viel daran, in den Beſitz des väterlichen Gutes 


zu kommen, und er widerſtrebt nicht den ihm für den Fall der 
13 * 


196 Die Gutsübergabe- (Altenteils-)Derträge. 


Übernahme angeſonnenen Bedingungen, auch wenn dieſe Bedin⸗ 
gungen für ihn auf die Dauer unerfüllbar ſind. Er rechnet 
nämlich darauf, daß der Vater nicht lange leben werde und daß er 
dann der Verpflichtung ledig ſei, den hohen Auszug (Altenteil) zu 
zahlen. Bleibt nun der Vater länger am Leben, als der Sohn 
erwartet, ſo entſpringen daraus Familienzwiſtigkeiten, die nament⸗ 
lich im Oſten, in Schleſien, Poſen u. ſ. w., ſehr leicht und häufig 
mit einer Verhandlung vor dem Schwurgericht wegen Streitig⸗ 
keiten, Mißhandlung, ja wegen Mordes enden. Im Südweſten 
(Baden u. ſ. w.) wird wenigſtens darüber geklagt, daß die Ver⸗ 
pflichtungen außerordentlich hohe ſind und daß ſie über kurz oder 
lang den Ruin der Gutsübernehmer zur Folge haben. 

Dieſe Klagen verſchärfen ſich in Preußen unter der Herr⸗ 
ſchaft des Allgemeinen Landrechts namentlich dadurch, daß dieſe 
Altenteile bei uns die Natur einer Reallaſt haben, daß demnach 
auch die Verpflichtung des Sohnes, des Gutsübernehmers, wenn 
er ſein Gut an eine dritte Perſon veräußert, auf dieſen Dritten 
übergeht und daß die Verhältniſſe zwiſchen der dritten Perſon 
und dem Gutsübergeber, der auf dem Gute ſitzen bleibt, beſonders 
unerquicklich werden. Es finden ſich nicht ſelten Fälle vor, daß 
auf einem Gute 2 oder 3 ſolcher Altenteile ruhen. 

Dieſe Mißſtände haben nun in letzter Zeit zu verſchiedenen 
Vorſchlägen geführt. 

Ich will dieſelben der Reihe nach durchgehen. 

Einmal iſt in radikaler Weiſe in Anregung gebracht worden, 
den Abſchluß von Gutsübergabeverträgen überhaupt zu verbieten. 
Dieſer Vorſchlag läßt ſich meines Erachtens bald abthun. Da 
die Gutsübergabeverträge an ſich nicht contra bonos mores find, 
ſondern nur ein Mißbrauch mit denſelben getrieben wird, wie 
er mit jedem Vertrag getrieben werden kann, ſo liegt keinerlei 
berechtigter Grund vor, den Abſchluß dieſer Verträge auszuſchließen. 

Ein weiterer Vorſchlag geht dahin, auf die ältere Gejeß- 
gebung zurückzugreifen und vorzuſchreiben, daß die Verpflichtungen, 
die der Gutsübernehmer übernimmt, in die Grundbücher, in die 
Hypothekenbücher nur dann eingetragen werden dürfen, wenn ſie 


Die Gutsübergabe⸗ (Altenteils⸗ Verträge. | 197 


eine gewiſſe Höhe nicht überſteigen. In dieſer Richtung bewegt 
ſich der bereits oben erwähnte Antrag, den Herr Kollege Kenne— 
mann dem Landesöfonomiefollegium in der vorigen Seſſion vor— 
gelegt hat. Dieſer Antrag lautete folgendermaßen: 

Das Kollegium wolle beſchließen: 

Die Auflaſſung eines bäuerlichen Grundſtückes mit Auf- 
erlegung eines Ausgedinges darf nur dann erfolgen, 
wenn durch das Gutachten eines Sachverſtändigen nach— 
gewieſen iſt, daß dasſelbe mit Zurechnung der in Ab— 
teilung II und III des Grundbuchs bereits eingetragenen 
Leiſtungen den dreifachen Grundſteuerreinertrag nicht 
überſteigt. 

Das Landesökonomiekollegium hat dieſem Antrag nicht bei- 
ſtimmen können und zwar aus folgenden Gründen. Zunächſt 
wurde bemerkt, daß in dieſem Antrag ein Eingriff in die Ver— 
tragsfreiheit enthalten ſei, der ſehr weit gehe und bedenkliche 
Konſequenzen nach ſich ziehen könne. Sodann wurde geſagt, daß 
die Annahme dieſes Antrages nicht viel nützen würde, weil er 
ſich ſehr leicht umgehen laſſe, indem der Übernehmer ja nur 
neben dieſer hypothekariſchen Verpflichtung perſönliche Verpflich— 
tungen einzugehen brauche, die dann ſpäterhin in das Grundbuch 
eingetragen werden könnten. 

Wenn der vorgeſchlagene Weg auch meiner Anſicht nach 
nicht beſchreitbar iſt, ſo bleibt nur ein dritter übrig, nämlich 
durch die Anerbenfolge in der Form des Inteſtaterbrechts das— 
ſelbe zu erzielen, was durch die Gutsübergabeverträge erzielt 
werden ſoll. Wenn der Vater vollſtändig ſicher iſt, daß nach 
ſeinem Tode das Gut in einer Weiſe auf ſeinen Erben übertragen 
werde, daß er dabei beſtehen kann, ſo wird für ihn eine der Veran⸗ 
anlaſſungen, einen Gutsübergabevertrag abzuſchließen, wegfallen. 
Freilich eins der Ziele, das durch die Gutsübergabeverträge zu er— 
reichen geſucht wird, wird durch das Anerbenrecht allein nicht er— 
reicht; es iſt nämlich durch dasſelbe nicht dafür geſorgt, daß der 
Erblaſſer ſich zurückziehen könne, wenn er alt und invalide ge— 
worden iſt. Ich meine aber, daß ſich auch dieſes Ziel im Wege 


198 Die Gutsübergabe- (Altenteils-)Derträge. 


einer Reform der ländlichen Sitte ſehr wohl erreichen laſſe. Wenn 
nämlich die Anerbenfolge als Inteſtatrecht eingeführt iſt, ſo kann 
der Vater, wenn er nicht mehr ſelbſt wirtſchaften will, dem 
präſumtiven Anerben ſein Gut verpachten. Es würden dadurch 
vollſtändig klare Verhältniſſe geſchaffen werden; jeder Teil würde 
wiſſen, was er zu empfangen und zu leiſten hat; und es würde 
der Vater bis zum Ende ſeines Lebens in dem Eigentum ſeines 
Gutes bleiben und dadurch ſeine Autorität gewahrt ſehen. 

Auch iſt von dem Anerbenrecht mit ſeiner ſich nach dem Er⸗ 
tragswert richtenden Taxe ein indirekter Einfluß auf Gutsüber⸗ 
gabeverträge zu erwarten, — indem dieſe Verträge, die ja im 
übrigen fürs erſte fortbeſtehen würden, deren Zahl aber doch im 
Laufe der Zeit abnehmen müßte, ſich in Beziehung auf die 
Höhe der Verpflichtungen nach der vom Geſetz normierten Erb⸗ 
ſchaftstaxe richten würden. 

So gelange ich denn zu dem Schluß, daß die uns beſchäf— 
tigende Frage ſich am beſten erledigen wird, wenn es wirklich 
gelingt, die Anerbenfolge in denjenigen Teilen Deutſchlands, in 
denen die Vorausſetzungen dafür gegeben find, als Inteſtaterbrecht 
einzuführen. Ich glaube, daß die berechtigten Klagen, welche gegen 
die Gutsübergabeverträge in letzter Zeit geltend gemacht worden 
ſind, dem Herrn Reichskanzler mitgeteilt werden ſollten als weitere 
Begründung unſeres letztjährigen Antrages; ſie enthalten nämlich 
eine Reihe weiterer Motive, welche ſehr wohl unſeren Antrag 
zu unterſtützen im ſtande wären. Ich ſchlage daher unter 
Punkt 1 vor, daß eine Denkſchrift auszuarbeiten ſei in dem Sinne, 
daß die oben erwähnten Klagen auf ihre Berechtigung zu prüfen 
und als weitere Begründung unſeres Antrages dem Herrn 
Reichskanzler bezw. der Kommiſſion für die Ausarbeitung des 
bürgerlichen Geſetzbuches mitzuteilen ſeien. 

Sodann gehe ich aber noch einen Schritt weiter. Wir können 
nicht wiſſen, welche Beſchlüſſe die Kommiſſion für die Ausarbeitung 
des bürgerlichen Geſetzbuches faſſen, und ebenſowenig, wann das 
letztere ins Leben treten wird. Das kann ja möglicherweiſe erſt 
nach 10, 15, 20 Jahren geſchehen. Unterdeſſen geht aber viel 
koſtbare Zeit verloren, und deswegen habe ich geglaubt Ihnen 


Die Gutsübergabe- (Altenteils-)Derträge. 199 


vorschlagen zu ſollen, daß, ohne den Entſchließungen der Kommiſſion 
für das bürgerliche Geſetzbuch zu präjudizieren, ſchon gegen— 
wärtig die Regierungen der Einzelſtaaten aufgefordert werden 
mögen, ihrerſeits mit der Reform des Erbrechts nach dem Prinzip 
der Anerbenfolge vorzugehen. Wenn dieſe in größerer Zahl 
unſerem Antrage Folge leiſten, ſo wird damit ein Schritt ge— 
than ſein, der den weiteren, von uns befürworteten Schritt der 
Kommiſſion für das bürgerliche Geſetzbuch nicht nur nicht er— 
ſchwert, ſondern vielmehr erleichtert: dieſelbe könnte ſich dann 
auf die Partikulargeſetzgebung ſtützen und brauchte in dem bürger— 
lichen Geſetzbuch nur das zu konſolidieren, was in der Geſetz— 
gebung der Einzelſtaaten bereits enthalten iſt. 

Wenn ich dieſen Antrag ſtelle, ſo thue ich es infolge der 
oben mitgeteilten Erwägungen und angeſichts einiger Vorgänge, 
die ſich in den letzten Jahren abgeſpielt haben. Da iſt zunächſt 
ein Vorgang in Bayern zu erwähnen, wo die Verſammlung des 
landwirtſchaftlichen Centralvereins mit großer Majorität, ich glaube 
ſogar mit Einſtimmigkeit, den Beſchluß gefaßt hat, für Bayern 
ein ſolches Geſetz zu veranlaſſen. Ich erwähne ferner einen 
Vorgang, der ſich in Baden abgeſpielt hat. Der durch ſeine 
vorzügliche Enquete über die Lage der ländlichen Bevölkerung 
Badens bekannte Miniſterialrat Buchenberger, der früher 
ein Gegner des Anerbenrechts war, hat infolge ſeiner Special— 
ſtudien ſich immer mehr für dasſelbe zu erwärmen vermocht und 
hat jetzt in einer Arbeit, die in dem jüngſten Hefte von 
Schmollers Jahrbuch erſchienen iſt, ausdrücklich erklärt, daß 
für einige Teile Badens die Anerbenfolge not thue und zwar 
nicht in der Form der Höferolle, ſondern in der Form des Inteſtat⸗ 
rechtes. Sie ſehen alſo, daß Perſonen, auf deren Stimme 
Gewicht zu legen iſt, wenn ſie auch anfangs unſeren Vorſchlägen 
entgegenſtanden, ſich denſelben jetzt günſtiger zeigen. 

So meine ich denn, daß ich auch den zweiten Punkt meines 
Antrages Ihnen zur Annahme vorſchlagen darf. Es fällt kein 
Baum auf den erſten Schlag; wir haben im vorigen Jahre den 


200 Die Gutsübergabe- (Altenteils-)Derträge. 


erſten Schlag mit einer Axt geführt, welche vielleicht nicht ſcharf 
genug war, wir wollen jetzt eine zweite ſchärfere Axt in die Hand 
nehmen und glauben von Ihnen erwarten zu können, daß Sie 
uns hierin unterſtützen. 


Dieſes Referat führte zur Annahme folgender Anträge ſeitens 

des deutſchen Landwirtſchaftsrats. 

Der deutſche Landwirtſchaftsrat beſchließt: 

1. In Ergänzung und zur weiteren Begründung ſeines 
Beſchluſſes vom Januar 1886, betreffend die Aufnahme 
des Anerbenrechts in das bürgerliche Geſetzbuch für das 
Deutſche Reich, die bei den Gutsübergabeverträgen in 
letzter Zeit zu Tage getretenen Übelſtände zur Kenntnis 
des Herrn Reichskanzlers bezw. der Kommiſſion für die 
Ausarbeitung des bürgerlichen Geſetzbuchs zu bringen. 

2. Den oben erwähnten Beſchluß vom Januar 1886 nebſt 
Motivierung auch den einzelnen Bundesregierungen mit 
dem Erſuchen mitzuteilen, in Erwägung ziehen zu wollen, 
ob derſelbe ohne Präjudiz für die künftige deutſche 
Civilgeſetzgebung nicht ſchon jetzt durch die Geſetzgebung 
der einzelnen deutſchen Staaten für ihr ganzes Gebiet 
oder doch wenigſtens fur einen Teil desſelben zur Aus⸗ 
führung gebracht werden könnte. | 


VII. 


Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Brannf- 
weinſteuerreform. 


Referat für den deutſchen Verein gegen Mißbrauch geiſtiger 
Getränke. Mai 1885. 


H. A.! Die letzte Generalverſammlung unſeres Vereins! hat 
eine Kommiſſion niedergeſetzt und dieſe mit dem Auftrage betraut, 
ſie möge folgende zwei Fragen unterſuchen. Erſtens: übt die ge— 
ringere oder größere Zugänglichkeit des Branntweins einen Ein- 
fluß auf den Branntweinkonſum und auf das gewohnheitsmäßige 
Trinken aus? und zweitens: wenn ein ſolcher Einfluß vorhanden, 
wie läßt ſich die Zugänglichkeit des Branntweins vermindern? 

Die Kommiſſion iſt hierauf in folgender Weiſe vorgegangen: 
ſie hat zunächſt einen Fragebogen entworfen und denſelben ihren 
Mitgliedern mitgeteilt, indem ſie ſich ſchriftliche Gutachten von 
denſelben erbat; ſie hat dann auf der Baſis dieſer Gutachten 
eine Diskuſſion eintreten laſſen und ihre Mitglieder einer Art 
Kreuzverhör unterworfen, in welchem die verſchiedenen Anſichten 
zu einer gewiſſen Ausgleichung gelangten. In Bezug auf die 
weſentlichſten Punkte kann ich konſtatieren, daß eine Überein⸗ 
ſtimmung erzielt worden iſt; diejenigen Punkte, in Beziehung 


1 Des deutſchen Vereins gegen den Mißbrauch geiſtiger Getränke. 


202 Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform. 


auf welche eine itio in partes ſtattfand, ſind nur nebenſäch⸗ 
licher Natur. 

Ich werde nun darüber zu referieren haben, wie das Votum 
der Kommiſſion ausgefallen iſt. 

Die Kommiſſion ging zunächſt von folgenden Erwägungen 
aus. Man ſagte ſich, daß das Branntweintrinken eine Reihe 
von Anläſſen und Urſachen hat, die zum Teil als legitim 
angeſehen werden können, inſofern ſie das Trinken entſchuldbar 
oder doch wenigſtens erklärlich machen. Es ſind dieſe Urſachen 
zu ſuchen im Klima (kaltes, rauhes Klima im Norden), ferner 
in gewiſſen Arten der Beſchäftigung (Arbeiten bei naßkaltem 
Wetter oder in ſehr erhitzten Räumen), ferner in mangel⸗ 
hafter Ernährung, in unbefriedigenden Familien- und Wohn⸗ 
verhältniſſen, in gewiſſem Grade auch in perſönlichem Unglück, 
ferner in dem Bedürfnis, namentlich in politiſch erregten Zeiten, 
mit Geſinnungsgenoſſen zuſammenzukommen, u. ſ. f. 

Der Branntweingenuß führt nun dahin, daß, ſoweit unge⸗ 
nügende Ernährung in Frage kommt, ein Gefühl der Sättigung 
erzeugt wird; daß die bei rauher, kalter Witterung beſchäftigten 
Arbeiter erwärmt werden; er führt zur geſelligen Verbindung 
der einzelnen und wird zu einem Vehikel der politiſchen Agi⸗ 
tation; er hebt endlich über Sorge und Elend momentan hin⸗ 
weg. Das ſporadiſche Trinken wird dann aber leicht zum ge⸗ 
wohnheitsmäßigen, der mäßige Trinker zum unmäßigen; auch 
breitet ſich das Trinken über Kreiſe aus, für die die eben an⸗ 
geführten Urſachen nicht zutreffen. Man könnte im allgemeinen 
ſagen, daß der Branntweinkonſum bei uns in Deutſchland am 
meiſten Berechtigung hat im Nordoſten und zwar hier in den 
unteren Schichten der arbeitenden Bevölkerung; von hier iſt er 
aber auch in andere Gegenden und in andere Schichten der Be⸗ 
völkerung eingedrungen. So hat man konſtatiert, daß auch in 
den mittleren und oberen Klaſſen unſeres Volkes das Schnaps⸗ 
trinken nach ruſſiſchem und franzöſiſchem Beiſpiel zunimmt. 
Auch breitet ſich das urſprünglich auf den Nordoſten beſchränkte 
Branntweintrinken in rapider Weiſe über andere Teile Deutſch⸗ 


Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform. 203 


lands aus: neuerdings ſind namentlich laute Klagen über das 


Umſichgreifen der Branntweinpeſt aus Elſaß- Lothringen, aus 
dem gebirgigen Teile Württembergs, aus Baden und aus der 
Schweiz laut geworden. Eine Stärkung und Befeſtigung erhält 
dieſe in den unteren Klaſſen herrſchende Unſitte durch die Ge— 
wohnheiten unſerer oberen Klaſſen, nämlich durch eine gewiſſe 
Unmäßigkeit und durch den weit verbreiteten Sinn für das Kneipen— 
leben. Wenn unſere jeunesse dorée ſich im Champagner be— 
rauſcht, wenn unſere Studenten und Philiſter vor dem Bier— 
ſchoppen manche Stunde dahindämmern, ſo hält ſich der Arbeiter 
für berechtigt Schnaps zu trinken. Und in der That ſehen wir 
hier wie überall, daß die Sitte der oberen Klaſſen beſtimmend 
auch für die unteren Klaſſen wird; das, was ſich die oberen 
Klaſſen nicht verſagen, davon wollen auch die unteren nicht 
laſſen; und ſo erſcheint die Sitte der oberen Zehntauſend ver— 
zerrt wie in einem Hohlſpiegel in der Arbeiterwelt wieder. 

Was iſt dagegen zu thun? Man könnte ſagen: es ſollen zu— 
nächſt die Urſachen beſeitigt werden, die zum gewohnheitsmäßigen 
Trinken führen. Soweit dies geſchehen kann, befinden wir uns 
bereits auf dem Wege dazu, indem die Agitation unſeres Vereins 
unter anderem auch dieſes Ziel ins Auge gefaßt hat. Es wird 
indes des einmütigen Zuſammengehens von Staat und Kirche, von 
geſellſchaftlicher Organiſation und individueller Initiative be— 
dürfen, um auf dieſem Gebiet etwas zu erreichen, und erreichen 
werden wir im beſten Fall das zu erſtrebende Ziel erſt nach 
einigen Jahrzehnten. Demgegenüber fragt es ſich nun, ob man 
nicht auf andern Wegen raſchere Reſultate haben könnte. Wir 
glauben dieſe Frage bejahen zu ſollen. Es dürfte möglich ſein, 
gewiſſe Erfolge dadurch zu erreichen, daß man zunächſt auf 
mechaniſchem Wege vorgeht, indem man den Branntwein weniger 
leicht zugänglich macht und umgekehrt die Zugänglichkeit des 
Bieres, Kaffees und Thees erhöht. 

Was heißt das aber: den Branntwein weniger leicht zugänglich 
machen? Es heißt das zweierlei: einmal die Zahl derjenigen An- 
ſtalten, in denen gewerbsmäßig Branntwein verſchenkt wird, 


204 Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform. 


vermindern und andererſeits den Branntwein im Preiſe erhöhen. 
Was den erſteren Punkt anbelangt, ſo hat unſer Herr Geſchäfts⸗ 
führer Ihnen bereits darüber referiert, daß das, was von ſeiten 
unſeres Vereins in dieſer Angelegenheit geſchehen kann, bereits 
geſchehen iſt. Es liegt eine Petition desſelben an den Reichstag 
vor, über die günſtig berichtet wurde, und wir dürfen hoffen, 
daß der Reichstag in der nächſten Seſſion, gemäß den Anträgen 
des Berichterſtatters der Kommiſſion, das Erforderliche beſchließen 
werde. Anders ſteht es aber mit der zweiten Frage, nämlich 
mit der Frage der Erhöhung des Branntweinpreiſes. 

Hier ſtoßen wir zunächſt auf ein gleichſam theoretiſches 
Hindernis. Es wird nämlich der Zuſammenhang zwiſchen der 
Höhe der Branntweinpreiſe und dem Umfang des Trinkens ge- 
leugnet, und zwar ſtützt man ſich auf die Statiſtik Rußlands 
und Englands, indem in England der Hektoliter Spiritus zu 
100 Prozent Tralles mit 394 Mark, in Rußland mit 182 Mark 
beſteuert wird und dennoch, trotz dieſer hohen Steuer und trotz 
des infolge der hohen Beſteuerung eintretenden höheren Preiſes, 
der Branntweinkonſum in beiden Ländern ein ſehr ſtarker iſt. 
In England fallen auf den Kopf der Bevölkerung 3,87 Liter 
Alkohol und in Rußland 6,48 Liter. In Deutſchland dagegen ent⸗ 
fallen auf den Hektoliter 100 prozentigen Spiritus nur etwa 16 Mark 
Steuer, und trotzdem iſt das Reſultat dasſelbe wie in Rußland, 
indem nämlich auf den Kopf der Bevölkerung etwas über 6 Liter 
Spiritus entfallen. Man beruft ſich nun darauf, daß in dieſen 
Ländern der Konſum gleich groß ſei, trotzdem die Branntwein⸗ 
ſteuer eine verſchiedene Höhe habe und trotzdem der Preis infolge⸗ 
deſſen ebenfalls ein ungleicher ſei. Ich laſſe dieſe Argumentation 
indes nicht gelten, denn wer ſagt uns denn, ob, wenn in Rußland 
und England die Steuer und infolgedeſſen auch der Preis des 
Branntweins nicht ſo hoch wäre, der Konſum nicht noch viel 
ſtärker wäre als gegenwärtig? 

Ein wirklich exakter Beweis gegen den von uns behaupteten 
Zuſammenhang zwiſchen Branntweinkonſum und Branntwein⸗ 
preiſen ließe ſich nur erbringen, wenn man nachwieſe, daß in 


er 


Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform. 205 


einem beſtimmten Lande die Herabſetzung der Branntweinſteuer und 
das Sinken der Branntweinpreiſe den Branntweinkonſum nicht 
erweitert und daß eine Erhöhung der Steuer und ein Steigen 
der Preiſe den Branntweinkonſum nicht vermindert habe. Dieſer 
Beweis iſt nicht zu erbringen, wohl aber der gegenteilige. Wir 
dürfen ſchon aus der Analogie des Tabaks — der Tabaksverbrauch 
pflegt parallel mit der Erhöhung der Preiſe abzunehmen — 
auch auf den Branntwein ſchließen und dürfen ferner auf das 
Beiſpiel Elſaß⸗Lothringens hinweiſen. Elſaß-Lothringen hat bis 
zum Jahre 1873 die franzöſiſche Konſumtionsſteuer gehabt; die 
Preiſe des Branntweins waren damals hohe und der Konſum 
ein geringer. Seit 1873 ſind mit der Ausdehnung der ſehr 
mäßigen norddeutſchen Branntweinſteuer auf Elſaß-Lothringen 
die Branntweinpreiſe ſehr erheblich geſunken und zugleich hat 
ſich in rapider Weiſe die Sitte des Branntweintrinkens einge— 
bürgert, jo daß, während ſich früher der Wein- zum Branntwein⸗ 
konſum wie 7:1 verhielt, jetzt nach 15jähriger Wirkſamkeit des 
norddeutſchen Geſetzes ein Verhältnis von 1:1 beſteht. Zu⸗ 
gleich iſt die Zahl der Schenken um 15 Prozent geſtiegen. Ahn— 
liches wird aus Württemberg berichtet. In Württemberg be— 
ſteht ſeit dem Jahre 1865 ein Geſetz, das den Branntwein 
außerordentlich wenig belaſtet, und zugleich hat der Konſum, 
namentlich in dem Hauſe des kleinen Brenners, in einigen 
Gegenden ſehr große Dimenſionen angenommen. Das Umgekehrte 
läßt ſich für die ruſſiſche Oſtſeeprovinz Livland nachweiſen. 
Hier war der Branntweinkonſum in früheren Zeiten ſehr ſtark; 
ſeit die ruſſiſche Regierung eine hohe Steuer erhebt, hat das 
Branntweintrinken in demſelben Grade abgenommen, wie der 
Bierkonſum geſtiegen iſt. Aus allen dieſen Thatſachen müſſen 
wir ſchließen, daß der von uns behauptete Zuſammenhang 
exiſtiert, und dürfen uns nicht von denen irre machen laſſen, 
die ihn negieren. 

Bevor ich über die Vorſchläge, welche in unſerer Kom— 
miſſion gemacht worden ſind, referiere, geſtatten Sie mir einige 
Worte über den status quo unſerer Branntweinſteuergeſetzgebung 


206 Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform. 


vorauszuſchicken. Im Deutſchen Reiche beſitzen wir formell keine 


einheitliche Branntweinſteuer, indem neben der norddeutſchen 
Branntweinſteuergemeinſchaft, die ſich aber auch auf Elſaß⸗ 
Lothringen, Heſſen u. ſ. f. erſtreckt, die drei ſüddeutſchen Staaten 
ſich ihre Autonomie in Sachen der Branntweinſteuer erhalten 
haben. In der norddeutſchen Branntweinſteuergemeinſchaft gilt 
nun aber die Materialſteuer für nicht mehlige und die Maiſch⸗ 
raumſteuer für mehlige Stoffe. Die letztere Steuer richtet 
ſich hier nach dem Umfang derjenigen Gefäße, in denen der Roh⸗ 
ſtoff eingemaiſcht wird. Die Folge iſt, daß die verſchiedenen 
Brennereien die Steuer ſehr ungleich tragen, indem die verſchie⸗ 
denen Rohſtoffe einen ſehr ungleichen Alkoholprozentſatz geben. 
Die Steuer trifft ferner ſehr ungleich die Brennereien von ver⸗ 
ſchiedener Größe, indem die Technik in den größeren Brennereien 
höher entwickelt iſt als in den kleinen. Es läßt ſich daher nicht 
beſtreiten, daß dieſer Steuermodus dem Prinzip der Gerechtigkeit 
nicht entſpricht. Im Süden beſtanden früher andere Steuerarten; 
gegenwärtig dagegen hat ſich nur noch in Baden die ſogenannte 


Blaſenſteuer erhalten. In Bayern und Württemberg dagegen 


hat man die Steuergeſetzgebung in letzter Zeit derjenigen Nord⸗ 
deutſchlands angenähert. In Bayern (1880) hat man die Maiſch⸗ 
raumſteuer mit den Sätzen der norddeutſchen Steuergemeinſchaft 
eingeführt, jedoch mit einigen Modifikationen, ſo z. B. ſind die 
kleinen Brennereien günſtiger geſtellt, indem für ſie die Steuer 
pauſchaliert wird; auch iſt die Fabrikatſteuer fakultativ eingeführt. 
Von dieſer Fakultät machen indes nur ſehr wenige Brennereien 
Gebrauch. Auch in Württemberg iſt man neuerdings (1885) 
dahin gelangt, die Maiſchraumſteuer einzuführen; dieſes Land 
hat im weſentlichen das bayeriſche Geſetz übernommen, jedoch 
mit der Modiſikation, daß die Fabrikatſteuer in Württemberg 
nicht zugelaſſen iſt und daß man in der Begünſtigung der kleinen 
Brennereien noch weiter gegangen iſt wie in Bayern. 

Was ſind nun die Reſultate dieſer unſerer Geſetzgebung? 
Laſſen Sie mich Ihnen dieſelben in einigen Zahlen vor- 
führen. In der Branntweinſteuergemeinſchaft betragen die Ein⸗ 


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Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform. 207 


= nahmen, die aus der Branntweinſteuer gewonnen werden, etwa 


361% Millionen Mark, und der einzelne Kopf der Bevölkerung 
wird von der Steuer mit noch nicht ganz einer Mark, nämlich 
mit 0,98 Mark belaſtet. Dagegen weiſen andere Staaten viel 
günſtigere Reſultate auf. Rußland mit ſeiner Fabrikatſteuer be- 
zieht 250 Millionen Rubel aus der Branntweinſteuer, und es 
ſollen nach der Angabe eines ruſſiſchen Acciſebeamten außerdem 
etwa hundert Millionen Rubel an Steuer hinterzogen werden, 
jo daß die Steuer eigentlich 350 000 000 Rubel einbringen 
müßte. Der Kopf der Bevölkerung wird in Rußland belaſtet 
mit über 8 Mark. In Frankreich werden 237¼ Millionen 
Frances eingenommen; der Kopf der Bevölkerung iſt belaſtet mit 
etwas unter 6 Mark. In England trägt die Branntweinſteuer 
mit der Licenz 16 Mill. &; auf dem Kopfe laſten dort 
über 12 Mark; ja ſelbſt von dem kleinen Holland wird aus der 
Branntweinſteuer ein Ertrag von 22¼ Millionen Gulden ge— 
zogen. Endlich muß noch hervorgehoben werden, daß gegen— 
wärtig unſer norddeutſches Geſetz in ſeiner Ausführung nicht 
mehr den urſprünglichen Intentionen des Geſetzgebers entſpricht. 
Während nämlich nach dem urſprünglichen Geſetz, das aus den 
zwanziger Jahren ſtammt, auf den Liter Alkohol entfallen ſoll 
ein Steuerertrag von 26 Mark, entfällt auf denſelben gegen— 
wärtig infolge der Verbeſſerung der Technik nur noch die Summe 
von etwa 16 Mark; während ferner nach dem von der Regie— 
rung angenommen Steuerſatze die Steuer in der Gegenwart 63 
Millionen Mark bringen müßte, bringt fie faktiſch nur 36¼ Mil- 
lionen. 

Es ſind nun ſeit den 60er Jahren wiederholt Verſuche ge— 
macht worden, die deutſche Branntweinſteuergeſetzgebung zu 
ändern. 

Im Jahre 1869 haben die verbündeten Regierungen 
dem Reichstag eine Vorlage gemacht, nach welcher die Maiſch— 
raumſteuer beibehalten, aber die Sätze derſelben etwas erhöht 
werden ſollten. Auch die fakultative Fabrikatſteuer war in Aus— 
ſicht genommen. Der Reichstag lehnte die Erhöhung der Maiſch— 


208 Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform. 


raumſteuer jedoch ab. Seitdem hat ſich das Blatt gewendet: 
ſeit dem Jahre 1869 hat der Reichstag zu einer Reform 
der Branntweinſteuer wiederholt den Anſtoß gegeben. Eine 
letzte Anregung iſt dann im Jahre 1877 im Bundesrat durch 
die mecklenburgiſche Regierung erfolgt. Aber alle dieſe Anregungen 
haben zu keinem Reſultat geführt, indem die verbündeten Regie⸗ 
rungen ſich gegen eine Reform der Branntweinſteuer erklärten. 

In der Gegenwart dürfte nun in dieſer Lage der Dinge eine 
kleine Anderung eingetreten ſein. Diejenigen Kreiſe, welche die Re⸗ 
gierung in ihrem Widerſtreben gegen die Erhöhung der Brannt⸗ 
weinſteuer ſeit dem Schluſſe der ſechziger Jahre unterſtützt haben, 
ſcheinen ſich nicht mehr vollſtändig ſicher zu fühlen und wollen 
daher nicht mehr in der unbedingten Negation verharren. Denn 
ſie ſind es, die jetzt mit Anträgen hervortreten, Anträgen, die aller⸗ 
dings möglichſt wenig an dem Beſtehenden ändern wollen. In 
der letzten Reichstagsſeſſion haben die Abgeordneten v. Ühden, 
Fürſt Hatzfeldt, v. Kardorff und Dr. Buhl verſchiedene dies⸗ 
bezügliche Anträge geſtellt; ſie alle aber haben vorläufig zu keinem 
Reſultat geführt wegen der Haſt, mit der die Reichstagsver⸗ 
handlungen in der letzten Zeit geführt worden ſind. Immerhin 
ſcheint mir die Situation im Augenblick der Art zu ſein, daß 
man den Hebel der Reform mit Erfolg anſetzen kann. Während 
noch vor einigen Jahren die Rufe nach einer Erhöhung der 
Branntweinſteuer einfach überhört wurden, hat man jetzt ein 
aufmerkſameres Ohr für dieſe Dinge. 

Und in der That erſcheint eine Reform der Branntwein⸗ 
ſteuergeſetzgebung im Augenblick aus verſchiedenen Gründen als 
geboten. Das aus den Jahren 1875 und 1878 ſtammende Fi⸗ 
nanzreformprogramm des Reichskanzlers hat bisher nicht in 
ſeinem ganzen Umfang durchgeführt werden können; und zwar 
iſt ſeine Durchführung geſcheitert an dem Widerſtreben der 
Reichsregierung, die Branntweinſteuer zu erhöhen. Es hat die 
Regierung unter anderem dreimal, in den Jahren 1875, 1880 
und 1881, dem Reichstage umfangreiche Entwürfe zur Erhöhung 
der Bierſteuer vorgelegt, der Reichstag hat ſich aber geweigert 


Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinftenerreform. 209 


eine Erhöhung der Bierſteuer vorzunehmen, ſolange nicht die 
Branntweinſteuer erhöht iſt. Anders handeln würde heißen den 
Konſum des Bieres einſchränken und den des Branntweins noch 
weiter künſtlich fördern. Für die Reform ſpricht ferner der Wunſch, 
die norddeutſche Branntweinſteuergemeinſchaft auf den Süden 
auszudehnen, ſowie Gründe der Volksmoral und Socialpolitik, 
Momente, die wir in unſerem Verein hauptſächlich zu vertreten 
haben. Freilich iſt neuerdings von einer Seite, deren Gewicht 
ich nicht gering ſchätze, gegen eine Erhöhung der Branntwein— 
ſteuer folgendes angeführt worden. Es iſt nämlich geſagt worden, 
daß infolge der Zollreform die notwendigen Nahrungsmittel, alſo 
ſehr wichtige Artikel des täglichen Bedarfs des Arbeiters, ver— 
teuert worden ſeien, und es iſt ferner darauf hingewieſen wor— 
den, daß durch die ſocialpolitiſche Geſetzgebung dem Arbeiter 
regelmäßige Ausgaben für Verſicherungszwecke zugemutet mwer- 
den, die er früher nicht gekannt hat. Man ſchließt daraus 
weiter, daß ein ſolcher Zeitpunkt nicht geeignet ſei, um die Brannt⸗ 
weinſteuer zu erhöhen, indem durch Erhöhung der Ausgaben des 
Arbeiters für notwendige Lebensmittel eine Situation geſchaffen 
ſei, in der die Gründe, welche den Branntweinkonſum in größerem 
Umfang berechtigt erſcheinen laſſen, beſonders ſtark hervortreten. 
Dieſe Argumentation geht von den Arbeiterkreiſen aus, und 
ihr hat ſich auch, wenn ich nicht irre, die ſocialdemokratiſche 
Fraktion angeſchloſſen. Dieſelbe will ſich lediglich der an die 
Regierung zu ſtellenden Forderung anſchließen, daß nur ent⸗ 
fuſelter Branntwein ausgeſchenkt werden dürfe. 


Ich erkenne an, daß die neueſte Zollgeſetzgebung die Preiſe 
für gewiſſe Lebensmittel erhöhen kann. Ich nehme ferner an, 
daß, wenn die Konjunkturen günſtige find, eine entſprechende Er- 
höhung der Löhne eintreten werde, aber es wird eine ſolche Er- 
höhung jedenfalls nur allmählich erfolgen. Mittlerweile aber 
kann der Arbeiter in Bedrängnis kommen und ſeine Lage kann 
gegen früher momentan verſchlimmert werden. Daraus folgt 
aber nicht, daß die Branntweinpreiſe nicht erhöht werden dürfen, 


v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 14 


210 Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform. 


ſondern nur, daß die höheren Steuerbeträge, die den Arbeiter 
jetzt belaſten, beſeitigt werden müſſen. Dazu eben wollen 
wir aber gerade die Mittel durch eine Erhöhung der Brannt⸗ 
weinſteuer gewinnen. 

Ich komme jetzt auf die Vorſchläge zu ſprechen, die in der 
Kommiſſion gemacht worden ſind. 

Zwei Stimmen erklärten ſich für Beibehaltung der Maiſch⸗ 
raumſteuer mit den bisherigen Sätzen, indem ſie den Reform⸗ 
hebel an anderer Stelle anſetzen wollen. Als Gründe für ein 
Nichteintreten in die Steuerreform wenigſtens in dieſem Augen⸗ 
blick wurden angeführt zunächſt das Widerſtreben der Regierung 
und ſodann die Notlage der Landwirtſchaft. Meine Herren, 
was das erſtere anbetrifft, ſo meine ich, daß gerade diejenigen, 
die nicht prinzipielle Gegner der gegenwärtigen Regierung ſind, 
die ernſte Pflicht haben, die letztere dahin zu drängen, daß ſie 
endlich einmal in dieſer Frage vorgehe. Was die Notlage der 
Landwirtſchaft anbetrifft, ſo ſind ja augenblicklich eine Anzahl 
von Maßregeln ergriffen worden, die geeignet ſind dieſelbe 
zu beſeitigen oder wenigſtens zu mildern. Ich möchte ferner 
zur Erwägung geben, daß dieſer Notlage der Landwirtſchaft ein 
Notſtand des ganzen Volkes gegenüberſteht, denn der unmäßige 
Genuß des Branntweins bezeichnet einen ſolchen auf ſanitärem und 
ſittlichem Gebiete. Ein Notſtand liegt ferner auch vor auf dem 
Gebiet der Reichsfinanzen und der Finanzen der einzelnen Staaten. 
Denn ich nenne es einen Notſtand, wenn das Reich und die Einzel⸗ 
ſtaaten im Augenblick ein Deficit in ihrem Etat aufweiſen und 
nicht in der Lage ſind, eine Anzahl wichtiger Aufgaben zu löſen, 
weil es an Mitteln zur Deckung der Ausgaben gebricht. Es 
ſteht ſomit jener Notlage ein doppelter Notſtand gegenüber, und 
wenn die Notlage ſich auf einen wenngleich wichtigen Bruch⸗ 
teil der Bevölkerung bezieht, ſo ergreift der Notſtand mehr oder 
weniger alle. 

Dies ſind die Gründe, die mich dazu bewegen, dem 
erſten Vorſchlage nicht zuzuſtimmen. Auch ſcheint mir das von 


Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform. 211 


derſelben Seite in Ausſicht genommene Surrogat für die 
Erhöhung der Branntweinſteuer nicht ausreichend zu ſein. Es 
wird nämlich vorgeſchlagen: die Einführung einer hohen Schank— 
ſteuer und einer entſprechenden Steuer vom Kleinverkauf; die 
Trennung der Gaſtwirtſchaft von der Schankwirtſchaft; die 
Unterordnung des Detailverkaufs der Brennereien unter die 
Beſtimmungen über den Kleinhandel, ſo daß ſie im Detail keinen 
Branntwein abgeben dürfen, wenn ſie nicht alle Bedingungen er— 
füllen, die dem Kleinhändler für den Betrieb ſeines Gewerbes 
vorgeſchrieben ſind; die Sonderung des Verkaufs von Branntwein 
und von anderen Gegenſtänden und endlich die ſtrenge Durch— 
führung des gegen den „Handel im Umherziehen“ mit Branntwein 
und das Aufſuchen von Beſtellungen auf Branntwein gerichteten 
Verbots. 

Mit dieſen Vorſchlägen bin ich freilich vollſtändig einver— 
ſtanden; ich glaube nur nicht, daß ſie allein dem Übel ſteuern 
werden, ſondern ich meine im Gegenteil, daß, wenn eine hohe 
Schankſteuer eingeführt wird, dieſes Mittel zur Bekämpfung des 
Übels leicht gefährlicher werden kann, als das bekämpfte Übel 
ſelbſt es iſt. Denn führt man nur für den Detailverkauf und -ver- 
trieb des Branntweins hohe Steuern ein, ſo werden die Preiſe im 
Detail weſentlich differieren von den Preiſen im Großhandel, 
und eine Folge dieſer Differenz kann leicht ſein, daß die 
Konſumenten ſich zuſammenthun, um den Branntwein faßweiſe 
zu beziehen, daß der Konſum aus den Schenken dann in das Haus 
verpflanzt wird und daß an die Stelle des offenen Trinkens 
in der Schenke das häusliche Trinken tritt, bekanntlich das 
größte Übel, das einem Volke widerfahren kann. Dasſelbe iſt 
bekanntlich in einigen Teilen der Schweiz ſehr weit verbreitet, 
jo daß nur "/s alles konſumierten Branntweins in den Schenken 
und 7/8 in den Häuſern getrunken wird. Indem hier neben 
den Männern auch die Weiber, Kinder und Dienſtboten dem 
Trunke ergeben ſind, wird dadurch ein Zuſtand geſchaffen, den 
man in der Schweiz mit Recht als Branntweinpeſt bezeichnet. 

14* 


212 Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinftenerreform. 


Gegen die alleinige Einführung der Schankſteuer ſprechen 
übrigens noch andere Gründe. So werden z. B. die Gaſtwirte 
bemüht ſein, die Preiſe der Nahrungsmittel zu erhöhen, um die 
Steuer abzuwälzen; auch wird der Ertrag einer ſolchen Steuer ein 
minimaler ſein und kann dieſelbe nur als Gemeindeſteuer erhoben 
werden. Indem ich mich alſo dieſem letzten Vorſchlage der Ein⸗ 
führung einer Schankſteuer mit ihren ſupplementären Maßregeln 
anſchließe, beſtreite ich, daß es ausreicht, ihn allein zu acceptieren ; 
es muß vielmehr eine weſentliche Erhöhung der Branntwein⸗ 
ſteuer hinzukommen. 

Ein zweiter Vorſchlag, ebenfalls vertreten durch zwei Mit⸗ 
glieder der Kommiſſion, geht dahin, das bisherige Steuerſyſtem, 
die Maiſchraumſteuer, beizubehalten, aber die Steuerſätze zu er⸗ 
höhen. Das eine Mitglied wollte nur eine ganz minimale Erhöhung 
und zwar im Sinne einer Übergangsmaßregel, die zur Einfüh- 
rung eines neuen Steuerſyſtems mit weſentlich höheren Sätzen 
führen ſollte; das andere Mitglied dagegen denkt ſich die Steuerer⸗ 
höhung mit einer dauernden Beibehaltung der Maiſchraumſteuer 
verbunden. Dieſer letztere Herr erkennt die Schattenſeiten der 
Maiſchraumſteuer vollſtändig an, ſucht dieſelben aber zu vermin⸗ 
dern, indem er vorſchlägt, daß nach den verſchiedenen Rohſtoffen, 
welche zur Einmaiſchung gelangen, und nach dem verſchiedenen 
Stande der Technik für die Brennereien ungleiche Sätze einge⸗ 
führt werden, daß der Kreis der landwirtſchaftlichen Brennereien 
ausgedehnt und eventuell auch die fakultative Fabrikatſteuer ein⸗ 
geführt werde. Ich möchte mich auch gegen dieſen Vorſchlag 
erklären, weil eine ſolche Erhöhung der Steuer, wenn ſie gering⸗ 
fügig iſt, nichts an dem gegenwärtigen Zuſtand ändert; ſie giebt 
weder größere Einnahmen, noch wird ſie höhere Preiſe bringen. 
Erhöht man die Steuer aber um ein beträchtliches, ſo werden 
die eben angeführten Kautelen nicht verhindern, daß die Unge⸗ 
rechtigkeit, die ſchon jetzt beſteht, in der kraſſeſten Weiſe geſteigert 
werde. 

Wenn ich mich auch gegen dieſen Vorſchlag erkläre, ſo ziehe 


Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform. 213 


ich aus dem demſelben zu Grunde liegenden Gedankengange doch 
folgenden Schluß. Ich gebe zu, daß die Maiſchraumſteuer 
von günſtigem Einfluß auf die Brennereitechnik in Preußen und 
in Norddeutſchland geweſen iſt; denn die Maiſchraumſteuer führt 
dahin, daß der Brenner ſuchen wird die Steuer abzuwälzen, in— 
dem er möglichſt viel Spiritus aus dem gegebenen Maiſchraum 
zieht. Dieſer dauernde Antrieb, der durch das Selbſtintereſſe 
gegeben iſt, hat zu derjenigen hohen Entwickelung der Technik 
geführt, welche dieſelbe heute einnimmt. Ich gebe ferner zu, daß 
die Maiſchraumſteuer den leichten ſandigen Boden, der im Oſten 
große Verbreitung hat, ſeiner naturgemäßen Verwendung, der 
Kartoffelkultur, zugeführt hat; ferner daß die Kartoffelbrennereien 
die Ernährung eines zahlreichen Viehſtandes ermöglichen und die 
Kultur auf den Brennereigütern erhöhen. Es iſt aber nicht nur 
die Kultur der Güter eine beſſere geworden, auch die Rente und 
der Grundwert derſelben ſind beträchtlich geſtiegen und der nationale 
Reichtum gewachſen. Meine Herren, aus allen dieſen Gründen 
folgt für mich, daß an Stelle dieſer Maiſchraumſteuer nicht 
plötzlich die Fabrikatſteuer treten darf, wie von zwei Mitgliedern 
unſerer Kommiſſion vorgeſchlagen wird. Denn behalten Sie wohl 
im Auge, daß ſich im Oſten 3600 Brennereien befinden, die über 
12000 Mark jährlich Steuer zahlen und weſentlich nur Kartoffeln 
zum Brennen verwenden, und daß unter den Beſitzern viele ſind, 
die beträchtliche Schulden zu tragen haben. Für dieſe Brennereien 
die Maiſchraumſteuer plötzlich durch die Fabrikatſteuer erſetzen, 
würde heißen: Perſonen, die durch die Geſetzgebung in eine be— 
ſtimmte Situation hineingeſtellt find, für einen Zuſtand verant- 
wortlich machen, den ſie nicht verſchuldet haben. Man hat ange- 
geführt, daß die Fabrikatſteuer allein dem Prinzip der Gerech— 
tigkeit entſpricht, indem ſie die Produzenten, große und kleine, 
Kartoffel-, Melaſſe⸗ und Rübenbrenner, unter gleiche Bedingungen 
ſtellt. Ich habe dies zugegeben, kann mich aber meinerſeits nicht 
entſchließen, um der Durchführung eines abſtrakten Prinzips 
willen Tauſende von Exiſtenzen zu gefährden. Auch würde 


214 Die Mäßigfeitsbeftrebungen und die Branntweinſteuerreform. 


die Fabrikatſteuer eine große Anzahl von kleinen und kleinſten 
Brennereien entſtehen laſſen. Der Nutzen aber, den die Land⸗ 
wirtſchaft aus dieſen zu ziehen vermöchte, könnte leicht geringer 
ſein als der ſittliche und ſocialpolitiſche Schaden, der ſich an 
dieſe kleinen Brennereien knüpft, wie das Beiſpiel der Schweiz 
und Württembergs zeigt. Außerdem würde die Fabrikatſteuer 
wahrſcheinlich dahin führen, daß die Rübe, die in der Zuckerin⸗ 
duſtrie keine genügende Verwendung mehr findet, maſſenhaft in 
der Brennerei Verwendung fände und daß damit ſtatt einer 
Verminderung der gegenwärtigen Produktion eine künſtliche 
Vermehrung derſelben ſtattfinden würde. Endlich iſt ein letzter 
Grund, der gegen die Einführung der Fabrikatſteuer in der 
Branntweinſteuergemeinſchaft ſpricht, dieſer, daß wir die mate⸗ 
rielle Übereinftimmung, die wir in Beziehung auf die Branntwein⸗ 
ſteuer innerhalb des Deutſchen Reiches allmählich errungen haben 
— indem gegenwärtig derſelbe Beſteuerungsmodus und dieſelben 
Steuerſätze im ganzen Norden, in Bayern und Württemberg 
beſtehen —, mutwillig preisgeben würden. Denn ich kann mir 
nicht denken, daß, wenn wir heute in Norddeutſchland die Maiſch⸗ 
raumſteuer aufgeben, die beiden ſüddeutſchen Staaten, welche erſt 
vor kurzem dem norddeutſchen Beiſpiel gefolgt ſind, uns dann 
ebenfalls folgen werden. 

Wenn ich alſo vor dieſem Vorſchlag aus Rückſicht auf die 
Intereſſen, die durch einen plötzlichen Übergang von der Maiſch⸗ 
raum- zur Fabrikatſteuer empfindlich geſchädigt werden würden, 
meinerſeits warne, ſo bin ich mir doch bewußt, daß die Inter⸗ 
eſſen, die an die Maiſchraumſteuer geknüpft ſind, immerhin nur 
durch ein Areal repräſentiert werden, das ungefähr 10 des Acker⸗ 
landes in Norddeutſchland und ¼0 des Ackerlandes im Deutſchen 
Reiche gleichkommt. Wenn dieſe Intereſſen daher auch Scho⸗ 
nung verdienen, jo darf ihnen doch nicht die ausſchließliche Herr— 
ſchaft eingeräumt werden, wo ihnen andere wichtigere Intereſſen 
gegenüberſtehen. 

So gelange ich denn zu dem Reſultat, daß ich mich dem⸗ 
jenigen Votum anſchließe, das in der Kommiſſion vertreten war 


„ 5 
5 Vi 


Die Mäßigfeitsbeftrebungen und die Branntweinſteuerreform. 215 


durch drei Mitglieder Drei Stimmen ſind freilich keine im— 
poſante Zahl; um ſo mehr ſcheint es angezeigt, darauf hinzu— 
weiſen, daß die drei Votanten Männer ſind, die verſchiedenen volks— 
wirtſchaftlichen und politiſchen Parteien angehören und vollſtändig 
unabhängig voneinander, jeder auf einem beſonderen Wege, zu 
demſelben Reſultat gelangt ſind. Ich ſchlage nun in erſter Linie 
vor, an der Maiſchraumſteuer fürs erſte feſtzuhalten und zwar, 
indem ich einige Modifikationen an derſelben vornehmen würde, 
ſo daß die kleinen Brennereien etwas erleichtert, die Steuerſätze 
für die übrigen etwas erhöht werden, um eine ſolche Erhöhung 
des Steuerbetrages herauszubringen, die hinreichen würde, 
ein etwaiges Deficit zu decken, das entſtehen könnte durch 
eine mäßige Erhöhung der Export-Bonifikation. Denn die 
letztere ſcheint mir notwendig angeſichts der zum Teil be— 
trächtlichen Exportprämien, welche eine Reihe Staaten ihren 
Branntweinproduzenten zahlt. Unſer ausländiſcher Markt iſt 
in den letzten Jahren ſehr bedeutend zuſammengeſchrumpft, in— 
dem heute nur noch die Schweiz, Spanien und einige über— 
ſeeiſche Länder unſere Abſatzgebiete bilden. Ich erkläre mich auch 
einverſtanden damit, daß im Hinblick auf die Kornbranntwein- 
brenner eine fakultative Fabrikatſteuer eingeführt werde. 

Ich denke aber bei dieſem Vorſchlage nicht ſtehen zu 
bleiben, ſondern wünſche, daß zu dieſer Maiſchraumſteuer eine 
andere Steuer hinzutrete, die auf das ganze Reich auszu— 
dehnen ſein würde, eine Steuer, die zu erheben wäre von all 
demjenigen Branntwein, der in den Trinkkonſum gelangt, 
zu erheben wäre nach Maßgabe des Fabrikats, aber nicht bei 
dem Brenner, ſondern bei denjenigen Perſonen, welche die Vermitte— 
lung zwiſchen dem Brenner und den Konſumenten übernehmen. In 
dieſer Beziehung gehen die Vorſchläge unter uns etwas aus— 
einander: die einen wollen die Steuer erheben bei dem letzten 
Verkäufer, die anderen bei dem erſten Käufer, bei demjenigen alſo, 
der den Branntwein von dem Brenner bezieht. In beiden Fällen 
werden zwar ziemlich umfangreiche Kontrollen nötig werden, aber 
dieſe Kontrollen ſind kein Hindernis geweſen, daß die Konſumſteuer 


216 Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform. 


eingeführt wurde und noch gegenwärtig beſteht in Nordamerika, in 
Frankreich ſowie in Baden, Heſſen, Elſaß-Lothringen, in letzteren 
Ländern allerdings nur für den Wein. Wir glauben, daß die⸗ 
ſelbe Steuer im Deutſchen Reich noch leichter durchzuführen ſein 
wird als in den eben genannten Staaten und Ländern, und zwar 
deshalb, weil wir uns eines intelligenten und zuverläſſigen 
Beamtenperſonals erfreuen, weil für die Bemeſſung der Steuer 
Anhaltspunkte vorliegen in der beizubehaltenden Maiſchraumſteuer 
und weil der größte Teil des vorhandenen Branntweins über die 
Eiſenbahn geht und hier leicht der erforderlichen Kontrolle 
unterworfen werden kann. Dieſe Steuer kann zu hohen Sätzen 
angelegt werden, ohne daß ſie deshalb für den Produzenten und 
für den Konſumenten läſtig zu werden brauchte. Man hat einer⸗ 
ſeits vorgeſchlagen, den Steuerſatz zu normieren auf eine Mark 
und andererſeits auf 50 Pfennige pro Liter. Im erſten Falle 
würde der Geſamtertrag der Steuer — wenn man den mutmaßlichen 
Minderkonſum an Alkohol abrechnet — ſich im ganzen Deutſchen 
Reiche auf etwa 220 Millionen Mark, im zweiten Falle auf 110 
Millionen Mark ſtellen. Wenn man nun einen Teil dieſes Steuer⸗ 
ertrages dazu verwenden wollte, um Steuern aufzuheben, die den 
Arbeiter empfindlich treffen, wie z. B. die Salzſteuer, den Kaffee⸗ 
und Petroleumzoll, die noch gegenwärtig beſtehenden unterſten 
Stufen der Klaſſenſteuer, ſo würden immer noch Summen übrig⸗ 
bleiben, die dem Reiche und den Einzelſtaaten die Möglichkeit geben 
würden, einige derjenigen Aufgaben zu löſen, die ſie zu löſen be⸗ 
rufen ſind. Zu dieſen letzteren rechne ich die Flußkorrektionen, 
den Bau von Kanälen, die beſſere Dotierung der Schullehrer, 
die Erhöhung der Beamtengehälter u. ſ. f. Die Einnahmen 
würden eine Ergänzung finden in der Schankſteuer, die zu dieſen 
beiden Steuern hinzuzufügen wäre und deren Betrag in die 
Gemeindekaſſe fließen müßte. 

Ich könnte jetzt ſchließen. Bevor ich es thue, geſtatten Sie 
mir aber noch einige wenige Worte. Man hat den Branntwein 
im Mittelalter als aqua vitae bezeichnet und die Franzoſen 
nennen ihn auch noch heute eau de vie. Dieſe Bezeichnung entſpricht 


. ER en 
N * Pe 
a 


und A er a4 zu einer Lebensquelle für die 
des Deutſchen Reiches werde! 


VIII. 


Über Rentengüter. 


Votum, abgegeben im Preuß. Landesökonomie⸗Kollegium auf 
Veranlaſſung einer demſelben zugegangenen Denkſchrift des 
landwirtſchaftlichen Miniſteriums über die geſetzliche Zulaſſung 
von Rentengütern. November 1885. 


Meine Herren! Ich bin mir der Verantwortlichkeit voll⸗ 
kommen bewußt, wenn ich zu ſo ſpäter Zeit das Wort ergreife, 
nachdem über den uns vorliegenden Gegenſtand bereits ſo er⸗ 
ſchöpfend geſprochen worden iſt. Wenn ich es dennoch thue, ſo 
geſchieht es angeſichts der außerordentlichen Wichtigkeit dieſer 
Frage, d. h. nicht wegen der Wichtigkeit dieſes Geſetzentwurfs 
an ſich, der meiner Anſicht nach nur eine geringe Bedeutung hat, 
ſondern wegen der Wichtigkeit derjenigen Maßregeln, die der 
Geſetzentwurf, falls er Geſetzeskraft erlangen ſollte, nach ſich 
ziehen kann. 

Meiner Anſicht nach können nämlich dieſe Maßregeln ent⸗ 
weder zu einem neuen Damm führen, der das Eindringen der 
ſocialdemokratiſchen Flut vom flachen Lande voll abwehren 
wird, oder zum Niederreißen der bereits vorhandenen Dämme, 
wodurch ſie der Ergießung des verheerenden Elements über 
das flache Land weiter Vorſchub leiſten würden. 

Geſtatten Sie mir, ein paar Worte über dieſe meine An⸗ 


Über Rentengüter. 219 


ſicht zu jagen auf die Gefahr hin, Ihnen bereits Bekanntes zu 
wiederholen. 

Die Frage, wie ſie hier geſtellt iſt: Welchen Erfolg wird 
dieſer Entwurf haben?, iſt meiner Anſicht nach gar nicht 
ſchlechthin zu beantworten. Solange nämlich Se. Excellenz der 
Herr Miniſter uns nicht ſagt, was der Staat ſeinerſeits mit 
dieſem Entwurf anzufangen denkt, ſolange der Herr Miniſter 
vielmehr erklärt, er wolle ſich durchaus nicht binden, bin ich 
genötigt, mir hypothetiſche Thatſachen zu konſtruieren, unter 
denen dieſes Geſetz zu wirken beſtimmt iſt. 

Ich nehme erſtens an, daß dieſer Geſetzentwurf den Kam— 
mern vorgelegt werden wird und zur geſetzgeberiſchen Erledigung 
gelangt, ohne daß ſich die Staatsregierung darüber ſchlüſſig macht, 
ob ſie das Geſetz auf die Domänen anwenden will. Die 
Folgen, die dann eintreten, werden meiner Anſicht nach wahr— 
ſcheinlich ſein — von einer Sicherheit kann man ja auf 
einem ſolchen Gebiet nicht ſprechen, von einer Möglichkeit 
allein zu ſprechen lohnt ſich nicht, man muß alſo die wahrjchein- 
lichen Folgen zu ermitteln ſuchen —, daß die Beſitzer der 
großen Allodialgüter von dieſem Entwurf keinen Gebrauch 
in dem Sinn machen werden, daß ſie in namhafter Zahl 
Bauernſtellen begründen, und zwar, weil bei ihnen viel- 
mehr die Tendenz beſteht, ſich abzurunden, als die Tendenz, 
Teile ihrer Güter zu Bauernſtellen abzugeben. Mir wenigſtens 
ſind keine Fälle bekannt geworden, in denen in nennenswertem 
Umfange eine ſolche Abzweigung von Teilſtücken der großen Güter 
zu Bauerngütern ſtattgefunden hat. ä 

Ein zweiter, vielleicht noch wichtigerer Grund, weshalb 
von dieſem Geſetz durch die Allodialbeſitzer kein Gebrauch 
gemacht werden wird, iſt die Furcht vor der Zwangsablöſung. 
Die preußiſche Staatsregierung hat meiner Anſicht nach im 
Jahre 1873 in Schleswig-Holſtein einen großen Fehler be- 
gangen, als ſie die Zwangsablöſung des Erbpachtkanons zu 
einem niedrigen Satz in Vorſchlag brachte. Es iſt bekannt, 
daß bis dahin dort zahlreiche Erbpachtgüter beſtanden. Der 


220 über Rentengüter. 


Erbpachtkanon wurde durch freiwillige Vereinbarung in der 
Regel zum 25 fachen Betrage abgelöſt; nach dem Geſetz von 1873 
mußten die Kanonempfänger ſich dagegen gefallen laſſen, daß 
derſelbe mit dem 20 fachen Betrage abgelöſt wurde. Daß 
der Geſetzentwurf der Regierung die Zuſtimmung des Pro⸗ 
vinziallandtages erhielt, iſt durch die vielen Intereſſenten, die 
in demſelben ſaßen, leicht erklärlich: es waren das Bauern, 
welche ihre Erbpachtſtellen möglichſt wohlfeil zum Eigentum er⸗ 
halten wollten. Der preußiſche Landtag hat dann dem Votum des 
Provinziallandtags einfach zugeſtimmt. Jenes Vorgehen hat den 
Glauben an die Dauer ſolcher Erbpachtverhältniſſe im Grund⸗ 
beſitzerſtande ſtark erſchüttert. Man wird ſich daher ſagen: wenn 
der uns vorliegende Entwurf Geſetz werden ſollte, ſo kann ſich das, 
was dort in Schleswig-Holſtein einmal geſchehen iſt, jederzeit 
wiederholen, zumal die Kammern von den Intereſſenten leicht zu 
bewegen ſind, ähnliche Beſchlüſſe wie der vorerwähnte wieder zu faſſen. 

Es kommt drittens dann noch das Jagdrecht in Betracht, 
deſſen ſich die Großgrundbeſitzer nicht gern werden begeben wollen 
und das doch durch die Begründung von kleineren oder mittleren 
Rentengütern leicht eine Beſchränkung erfahren könnte. 

Kurz, ich glaube nicht, daß ſeitens der Beſitzer großer allo⸗ 
dialer Güter von einem ſolchen Geſetz zum Zweck der Begrün⸗ 
dung von wirklichen Bauerngütern oder Bauernſtellen Gebrauch 
gemacht werden wird. 

Auch von den Beſitzern der Fideikommißgüter glaube ich das 
nicht und ebenſowenig von der toten Hand, den Kommunen u. ſ. w., 
ſolange ihnen nicht an einem Beiſpiel der Nutzen dieſes In⸗ 
ſtituts vor Augen geführt wird; dieſes Beiſpiel kann aber nur 
vom Staat gegeben werden. 

Dagegen halte ich es nicht für ausgeſchloſſen, daß hier und 
da auf Privatgütern in dieſer Weiſe Arbeiterſtellen begründet 
werden werden. 

Bei dieſem Anlaß geſtatte ich mir, ein paar Worte ein⸗ 
zuſchalten über den bisherigen Gang, den die Angelegenheit, 
welche wir jetzt diskutieren, genommen hat. Ihr Urſprung fällt 


Über Rentengüter. 221 


in die Jahre 1872 und 1873, wo die Löhne ſehr hoch ſtanden 
und die Tendenz der ländlichen Bevölkerung dahin ging, 
in die Städte auszuwandern. Damals erſchien im ſchleſiſchen 
„Landwirt“ ein Artikel, der darauf hinwies, man möge das 
Erbpacht⸗ oder Erbzinsverhältnis wieder beleben und es zur 
Begründung von Arbeiterſtellen benutzen, um ein Arbeiterperſonal 
heranzuziehen, welches ſtändig auf der Scholle ſitzt und zu gleich— 
mäßigen Löhnen arbeitet. 

Parallel damit gingen Beſtrebungen, die einen ganz andern 
Ausgangspunkt hatten und den Namen des Oberbürgermeiſters 
Miquel an ihrer Spitze trugen. Herr Miquel hatte durch die 
Eindrücke, die er in ſeiner niederſächſiſchen Heimat empfangen, 
den ſocialen Wert des Bauernſtandes kennen gelernt und 
wünſchte dieſe wichtige ſociale Gruppe auch in denjenigen Teilen 
des Oſtens einzubürgern, in denen ſie entweder ganz verſchwunden 
oder doch nur ſehr ſchwach vertreten iſt. Dieſe Beſtrebungen 
führten dahin, daß im Jahre 1874 im preußiſchen Abgeord— 
netenhauſe ein Antrag auf Zerlegung der Domänen in Bauern— 
güter geſtellt und angenommen wurde und daß auf dieſen Antrag 
hin von ſeiten des Miniſteriums auf einigen pommerſchen 
Domänen Verſuche zur Begründung von Bauern- und Arbeiter⸗ 
ſtellen gemacht wurden. 

In eine weitere Entwickelungsphaſe trat die Angelegenheit 
in den Jahren 1878 und 1879 im Landesökonomie-Kollegium. 
Es wurde hier ein auf die Wiederbelebung des Erbzinsverhält- 
niſſes gerichteter Beſchluß gefaßt, doch iſt ſeitdem nichts ge— 
ſchehen, um dieſem Beſchluß Folge zu geben. 

Neuerdings endlich hat ſich die in unſerm Volk vorhandene 
demokratiſche Strömung der Frage der inneren Koloniſation be— 
mächtigt. Aus Widerwillen gegen die großen Grundbeſitzer und 
ihren politiſchen Einfluß im Oſten will man mittlere und kleine 
Güter ſchaffen. | 

Sie ſehen alſo, daß ſehr verſchiedene Ausgangspunkte zu 
demſelben Reſultate, dem Verlangen nach Begründung neuer 
Bauerngüter und Arbeiterſtellen geführt haben. 


222 Über Rentengüter. 


In dieſen Tagen nun iſt uns ein diesbezüglicher Geſetzent⸗ 8 


wurf, welcher zu dieſem Zweck eine neue Rechtsform einführen — 
will, zur Begutachtung vorgelegt. Wenn derſelbe jo, wie er 


uns vorliegt, zum Geſetze erhoben wird, ſo ſteht meines Erachtens 
nur zu erwarten, daß auf den Privatgütern Arbeiterſtellen nach 
Erbzinsrecht geſchaffen werden, die für den Beſitzer von Vorteil 
ſein können, weil ſie ihm die Dispoſition über eine beſtimmte 
Arbeitskraft mit gleichmäßigem Lohne verſchaffen. 


Aber, meine Herren, dieſe Einrichtung kann doch auch ihre 
Kehrſeite, die namentlich den Arbeiter trifft, haben. Freilich 
braucht dieſelbe für den Arbeiter nicht in jedem Fall von 
Nachteil zu ſein. Sie wird auch für ihn günſtig ſein, wenn 
er, der jedenfalls nicht von dem Ertrag ſeiner Erbzinsſtelle allein 
wird leben können, ſich an eine Gemeinde anlehnen kann; wenn 
er außer der Arbeit beim Erbzinsherrn auch noch andere 
Arbeitsgelegenheit findet auf benachbarten Gütern, in der In⸗ 
duſtrie u. ſ. w. Dann wird ſich der Lohn einigermaßen nach 
den Fluktuationen des Marktes regulieren und der Arbeiter eine 
gewiſſe Selbſtändigkeit bewahren können. Aber wenn ſolche Ar⸗ 
beiter auf iſoliert liegenden Latifundien angeſiedelt werden, 
wenn dieſe fern von der Gemeinde liegen, wenn es für den Ar⸗ 
beiter an anderer Arbeitsgelegenheit fehlt, dann werden dieſe 
Erbzinsſtellen meiner Anſicht nach zu einer Art glebae adscriptio 
führen. Die zu Erbzins angeſetzten Arbeiter werden freilich 
das Recht haben, ihre Erbzinsſtellen zu verkaufen, aber ſie 
werden hier nur ſchwer Käufer finden und daher genötigt ſein, 
namentlich in einer Zeit ſinkender Bodenrente, billiger zu arbeiten, 
als fie es ſonſt thun würden, wenn fie freie Herren ihres Schick⸗ 
ſals wären. Ich möchte daher entſchieden davor warnen, daß 
wir die Hand zur Begründung von ländlichen Arbeiterverhältniſſen 
bieten, die mich an ähnliche Verhältniſſe in der Induſtrie Schleſiens 
erinnern. Die hausinduſtriell beſchäftigten Weber in Schleſien 
ſind oder waren doch in einer ähnlichen Lage; ſie beſitzen kleine 
Häuſer und Gärten, aber dieſer Beſitz iſt für fie zum Fluch ge- 


Über Rentengüter. 223 


worden; denn fie trennen ſich nicht von der Scholle, fie laſſen 
ſich an Hungerlöhnen genügen, und Sie wiſſen ja, meine Herren, 
zu welchen Übelſtänden das geführt hat. 

Würde der Geſetzentwurf die obige Folge haben, dann 
fürchte ich, daß die Agitation der Wiſſerſchen Bauernvereine, 
die jetzt nur ſchwer auf das Land eindringt, viel leichter 
Eingang finden werde, und dieſe Agitation der politiſchen 
Demokratie wieder wird, wie auf ſo vielen anderen Gebieten, 
nur die Vorfrucht für die Social demokratie ſein. Ich kann 
mich möglicherweiſe irren, wollte meine Befürchtungen hier an 
dieſer Stelle aber doch nicht unausgeſprochen laſſen. 

In einem zweiten Falle, den ich mir konſtruiere, kann ich 
mir die Folgen dieſes Geſetzentwurfs allerdings als ſehr günſtige 
denken. Dieſer Fall würde dann eintreten, wenn die Staats⸗ 
regierung, bevor ſie dieſem Geſetzentwurf weiteren Fortgang giebt, 
ſich darüber ſchlüſſig macht, was ſie thun will, um demſelben 
die möglichſt günſtigen Folgen zu ſichern. Der Herr Miniſter 
hat geſtern gewiß ſehr richtig geſagt, er allein könne über dieſen 
Punkt keine bindende Erklärung abgeben. Und in der That! 
Es handelt ſich um eine ſo wichtige und in ihrer Durchführung 
ſo ſchwierige Maßregel, daß das Staatsminiſterium, vielleicht 
nach Anhörung des Staatsrats, ſich zunächſt wird darüber 
ſchlüſſig machen müſſen, ob mit einer Neubelebung und Stärkung 
des Bauernſtandes vorgegangen werden ſoll, wobei dieſer Geſetz⸗ 
entwurf dann nur die Bedeutung einer Ausführungsmaßregel 
haben würde. Es handelt ſich demnach in erſter Linie um die 
Beantwortung der Frage, ob die Staatsregierung an die Politik 
der preußiſchen Kurfürſten und Könige vom großen Kurfürſten bis 
auf Friedrich Wilhelm IV anknüpfen will, um die innere Koloni- 
ſation zu fördern. Ich will hier mit hiſtoriſchen Analogieen 
nicht leichtfertig ſpielen, denn ich weiß, daß Dinge, die früher 
möglich waren, es jetzt nicht mehr ſind, und möchte daher 
mit einigen Worten den Unterſchied feſtſtellen, der zwiſchen der 
alten Koloniſation und dem, was jetzt möglich aber auch not— 


224 Über Rentengüter. 


wendig iſt, beſteht. Die Koloniſationen bis zum Schluß des vorigen 


und zum Teil auch bis zur Mitte unſeres Jahrhunderts erfolg⸗ 


ten auf wüſtem Boden zum Zweck der Förderung der Kultur; 


ſie erfolgten, namentlich im vorigen Jahrhundert, um die Popu⸗ 
lation zu vermehren in Anwendung merkantiliſtiſcher Grundſätze: 
man wollte einen Überfluß an Leuten haben, den man in die 
Induſtrie überleiten konnte, u. ſ. w. Heute ſtehen wir anders. 
Das Land iſt, wenn wir von den Mooren abſehen, größtenteils 
kultiviert; die Bevölkerung iſt vollzählig, ja mehr als vollzählig 
vorhanden, und wir müſſen eher daran denken, für den vorhan⸗ 
denen Überſchuß unſerer Bevölkerung neue Erwerbsquellen zu 
ſchaffen, als ihre Vermehrung zu fördern. Alſo aus den früher 
maßgebend geweſenen Gründen darf man heute nicht mehr 
Bauernſtellen ſchaffen. Es ſind vielmehr ganz neue Momente, 
die heute für die innere Koloniſation in Betracht kommen. Sie 
erlauben mir wohl von dem Vielen, was ſich über dieſen Gegen⸗ 
ſtand ſagen läßt, nur zweierlei anzuführen. Wenn die Staats⸗ 
regierung ſich für dieſe wichtige Maßregel entſchließen ſoll, ſo 
muß ſie durchdrungen ſein von der Überzeugung, daß der 
Bauernſtand ein notwendiger Beſtandteil unſerer wirtſchaftlichen, 
ſocialen und politiſchen Ordnung iſt, und ſie muß ferner durch⸗ 
drungen ſein von der Überzeugung, daß dieſer Bauernſtand — 
wenn auch nicht in der allernächſten Zeit — auszugehen droht. 
Der Herr Miniſter hat geſtern geſagt, im großen und ganzen 
ſei unſere Grundbeſitzverteilung keine ungünſtige und nur in ein⸗ 
zelnen Teilen ſei ſie krankhaft. Das iſt im allgemeinen richtig. 
Aber es muß doch noch hinzugefügt werden, daß, abgeſehen von 
den krankhaften Stellen der Grundbeſitzverteilung in Neuvor⸗ 
pommern, Poſen, Oberſchleſien u. ſ. w., der Grundbeſitzverteilung 
auch im ganzen eine Gefahr droht, indem ganz allgemein 
Tendenzen zur Latifundien- und Zwerggüterbildung zu Tage 
treten. Es darf nicht überſehen werden, daß die territoriale 
Baſis des Bauernſtandes abnimmt, — wenn man unter Bauern 
ſolche Leute verſteht, die als Eigentümer auf der Scholle ſitzen 
und entweder genug Land haben, um auf demſelben nur ihre 


u, 


WW 


Über Rentengüter. 225 


eigene Arbeitskraft zu verwerten, oder auch ſoviel, um zugleich 
Geſinde halten zu können, — indem auf der einen Seite die großen 
Güter einen Teil des von den Bauern eingenommenen Landes 
abſorbieren und andererſeits die bäuerlichen Beſitzungen ſelbſt ſo 
klein werden, daß eine Familie ſich nicht mehr darauf ernähren 
kann, und doch wieder nicht ſo klein, daß daraus Arbeiterſtellen 
werden. Alſo die territoriale Baſis des Bauernſtandes nimmt 
ab. Zahlenmäßig genau werden wir das erſt nach 30 — 40 Jahren 
beweiſen können; wir können und müſſen dieſe Theſe nach 
den vielen in ihren Reſultaten übereinſtimmenden Einzel— 
beobachtungen aber ſchon heute als richtig anſehen. Iſt das der 
Fall, ſo hat die Staatsregierung, wenn ſie nicht zu ſpät kommen 
will, jetzt die dringende Aufgabe, einmal an den ſchadhaften 
Stellen zu beſſern und dann gegenüber der vorhandenen Tendenz 
zur Bildung von Groß- und Zwerggütern einen — wenn ich 
mich ſo ausdrücken darf — ſocialpolitiſchen Apparat zu ſchaffen, 
der der obigen Tendenz entgegenzuwirken die Beſtimmung hätte. 
Ich gehöre nicht zu denjenigen, die bei Schaffung eines ſolchen 
Apparates in die gegenwärtige Ordnung der Dinge tief ein— 
greifen wollen; ja ich bin von der Notwendigkeit überzeugt, daß 
wir an den beiden großen Prinzipien der Stein-Hardenbergſchen 
Geſetzgebung, an der perſönlichen Freiheit und dem freien Eigentum 
im weſentlichen feſtzuhalten haben; denn wenn wir das nicht thun, 
ſo geben wir ja diejenige Baſis preis, von der aus wir gegen die 
Socialdemokratie ankämpfen. Ich glaube aber, daß auch ohne 
Verletzung der beiden Grundpfeiler unſerer heutigen Ordnung 
im Wege der Geſetzgebung und Verwaltung ſich außerordentlich 
viel thun läßt, um die obigen für den Beſtand unſerer 
heutigen Ordnung gefährlichen Tendenzen wirkſam zu be- 
kämpfen. 

Eine dieſer Maßregeln iſt die Benutzung der Domänen, um 
die Lücken, welche der Bauernſtand aufweiſt, auszufüllen, um die 
krankhaften Stellen unſerer Grundbeſitzverteilung zu heilen. 
Wie ich die Benutzung der Domänen zu dem erwähnten Zweck 


verſtanden wiſſen will, darüber möchte ich mir erlauben, ein paar 
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 15 


296 Über Rentengüter. 


Worte zu jagen. Ich verjtehe fie nicht in dem Sinne, wie das N 
thörichterweiſe häufig geſagt worden iſt und neuerdings von der 


Agitation betont wird, als ob nun alle Domänen in Bauern 
güter zerlegt werden ſollen; aber auch nicht in dem Sinne, wie | 
der Herr Korreferent gejagt hat, daß nur Odländereien oder 
ſolche Waldſtücke, die nicht genügend rentieren, zur Anſetzung 
von Bauern zu benutzen ſeien. Meiner Anſicht nach ſollte viel⸗ 
mehr ſo verfahren werden, daß die Grundbeſitzverteilung zunächſt 
nur an denjenigen Stellen, wo ſie ſchadhaft geworden iſt, durch 
Zerlegung der bereits vorhandenen oder neu zu erwerbenden 
Domänen in Bauerngüter repariert werde. 

Bei Durchführung dieſes Gedankens würden wir uns in 
einer ſehr glücklichen Lage befinden. Denn gerade in Neuvor⸗ 
pommern, Poſen und Oberſchleſien, wo es mit dem Bauern⸗ 
ſtande beſonders ſchlimm ſteht, beſitzt der Staat umfangreiche 
Domänen, er brauchte alſo nichts zuzukaufen. Indes wenn dies 
an anderen Stellen, wo keine Domänen vorhanden ſind, nötig wäre, 
ſo würde ich auch der Anſicht ſein, daß er es thun müßte. 

Wenn ich alſo ſage, daß dieſer Geſetzentwurf für mich nur 
dann acceptabel erſcheint, wenn ich der ernſten Abſicht der Staats⸗ 
regierung ſicher bin, daß ſie denſelben als Vorausſetzung zu 
einer ſocialpolitiſchen Maßregel in großem Stil benutzen will, 
ſo will ich doch zugleich hinzufügen, daß das Erbzinsverhältnis 
mir nur als eine von mehreren möglichen Durchführungs⸗ 
modalitäten erſcheint. Denn ich kann mir die Durchführung der 
oben ſkizzierten Maßregel auch wohl ohne Begründung von Erb- 
zinsgütern denken und verweiſe in dieſer Beziehung auf das 
Beiſpiel von Oldenburg. Dort hatte man in den letzten Jahr⸗ 
zehnten vielfach neue Kolonieen geſchaffen, indem man ſie ſofort 
in das volle Eigentum der Koloniſten hat übergehen laſſen, und 
zwar gegen Anzahlung einer Kapitalſumme und Auferlegung 
eines Kanons. Die Parzellierung war nur während der erſten 
30 Jahre verboten. Wenn der Bauer ſich erſt feſtgeſetzt, d. h. 
30 Jahre auf der Scholle geſeſſen hat, dann ſcheint mir 
die Gefahr nicht mehr groß, daß das Grundſtück ausgekauft 


Über Rentengüter. 227 


| werde oder der Parzellierung verfalle. Wäre die Gefahr aber wirk— 


lich ſo groß, wie ſie geſtern hier geſchildert worden iſt, ſo müßte 
man aus den vorgeſchlagenen Maßregeln notwendig die weitere 
Konſequenz ziehen, daß auch für alle im Eigentum befindlichen 
Bauerngüter dieſelben Beſchränkungen der Veräußerung, Verpfän⸗ 
dung, Parzellierung, Konſolidation u. ſ. w. einzuführen wären, wie 
ſie hier für die Erbzinsgüter in Vorſchlag gebracht worden ſind. 

Bevor ich ſchließe, möchte ich noch betonen, daß, wenn ich 
dieſen Entwurf nicht in die weiteren Stadien geleitet ſehen 
möchte ohne eine vorherige Entſchließung der königlichen Staats— 
regierung darüber, daß gerade ſie von demſelben Gebrauch 
machen will, ich dieſe Entſchließung der Staatsregierung nicht 
auf die Maßregel der inneren Koloniſation beſchränkt, ſondern 
im Zuſammenhang mit anderen Maßregeln ergriffen zu ſehen 
wünſche. Denn es gilt nicht bloß die Lücken, die der Bauern⸗ 
ſtand gegenwärtig aufweiſt, auszufüllen, ſondern auch für die Er— 
haltung desſelben in der Zukunft zu ſorgen. Bei dieſer Ge- 
legenheit möchte ich übrigens nicht noch einmal auf Dinge zu 
ſprechen kommen, die bereits — auch an dieſer Stelle — wieder- 
holt beſprochen worden ſind. Daß es nämlich dringend not thut, 
von dem Syſtem der Höferolle abzugehen und das Inſtitut der 
Anerbenfolge als Inteſtaterbrecht für den geſamten land- und 
forſtwirtſchaftlich benutzten Grundbeſitz einzuführen, für eine ge- 
nügende Organiſation des bäuerlichen Kredits zu ſorgen u. ſ. w. 
Kurzum, die uns zur Beratung vorliegende Maßregel hat meiner 
Anſicht nach nur dann eine Berechtigung, wenn ſie ein Ausfluß 
der Überzeugung iſt, daß im Augenblick eine von großen Gefichts- 
punkten geleitete Agrarpolitik dringend not thut. 

Sie werden jetzt abzuwägen haben, ob und wieweit das von 
mir Vorgebrachte ſtichhaltig iſt. Ich habe es für meine Pflicht 
gehalten, mich nicht bloß auf die Erregung von Hoffnungen, 
die ſich an dieſen Geſetzentwurf knüpfen, zu beſchränken, ſondern 
auch die Befürchtungen, die ich hege, auszuſprechen. 


15 * 


IX. 
Zur Währungskrage. 


Korreferat für den deutſchen Landwirtſchaftsrat. Januar 1886. 


M. H.! Nicht ohne Bedenken ergreife ich in dieſer Seſſion 
zum zweitenmal das Wort als Referent, — ich, ein Theoretiker 


mitten in einer Welt von Praktikern. Wenn ich es dennoch 


thue, ſo geſchieht es, weil ich glaube, daß in dieſer ſpeciellen 
Frage, über die Sie heute zu beraten haben, Sie ganz ebenſo 


Theoretiker ſind, wie ich es bin. Denn in der Praxis können 


Sie wohl Erfahrungen darüber machen, daß die Preiſe land⸗ 
wirtſchaftlicher Produkte niedrig ſind, daß es Ihnen ſchlecht 
geht u. ſ. w., — aber den Zuſammenhang zwiſchen Ihren prak⸗ 
tiſchen Erfahrungen und der beſtehenden Währung können Sie 
nur auf theoretiſche d. h. wiſſenſchaftliche Weiſe finden. Sie 
müſſen alſo, wenn Sie zu einer Anſicht über die Währungsfrage 
gelangen wollen, ganz denſelben Denkprozeß durchmachen wie 
jeder Theoretiker. 

Sodann bin ich zur Übernahme dieſes Referats auch noch 
durch eine andere Erwägung beſtimmt worden, nämlich durch die 
Erwägung, daß der häufig behauptete Gegenſatz zwiſchen Theorie 
und Praxis faktiſch nicht exiſtiert, wenn beide ihre Schuldigkeit 
thun. Denn verſchieden iſt bei Theoretikern und Praktikern nur der 
Ausgangspunkt für die Behandlung der Dinge, nicht aber wird 
es das Reſultat ſein, wenn beide methodiſch richtig operieren. 


F ee - \ 1 


Zur Währungsfrage. 229 


Der Theoretiker pflegt gewöhnlich mehr von einem abſtrakten 


Standpunkt auszugehen, der Praktiker ſchöpft aus der Fülle ſeiner 
einzelnen Beobachtungen und Erfahrungen. Der Theoretiker iſt 
vorzugsweiſe berufen, das allgemeine Intereſſe, das Intereſſe aller 
Stände, aller Klaſſen wahrzunehmen; der Praktiker unterliegt 
leicht der Gefahr, vorzugsweiſe das Intereſſe ſeines Standes, 
ſeiner Klaſſe hervorzuheben, auch wenn dieſes im Widerſpruch 
ſteht mit den Intereſſen anderer Klaſſen. 

Ich erlaube mir, bei dieſer Gelegenheit noch ein Wort zu 
ſagen über die Beziehungen, welche zwiſchen dem allgemeinen Wohl 
und dem Klaſſenintereſſe beſtehen, weil ſie von wichtiger, grund— 
legender Bedeutung für unſern Gegenſtand ſind. Es wird häufig 
geſagt, das allgemeine Intereſſe ſtehe über dem Intereſſe der 
einzelnen Klaſſen und Berufe, alſo außerhalb desſelben. Das 
iſt meiner Anſicht nach falſch. Das allgemeine Wohl ſchließt 
das richtig verſtandene Klaſſenwohl und Klaſſenintereſſe 
vielmehr in ſich. Denn das Gemeinwohl iſt nichts anderes als ein 
allgemeiner Gleichgewichtszuſtand, den der Staat, ſoweit er es 
vermag, zwiſchen den einzelnen Klaſſenintereſſen herzuſtellen be— 
ſtrebt ſein ſoll; das richtig prozedierende Klaſſenintereſſe wird 
daher die Schranken, die das Gemeinwohl ihm zieht, immer im 
Auge behalten müſſen. Von dieſem Standpunkte werde ich mein 
Referat erſtatten, indem ich mich zugleich an die, wie mir ſcheint, 
ſehr glückliche Praxis meines Herrn Vorredners anſchließe und es 
ebenfalls vermeide, auf Details einzugehen, namentlich vermeide, 
Ihnen ſtatiſtiſches Detailmaterial in größerem Umfange vorzu⸗ 
führen. Denn dieſe Verſammlung iſt viel zu zahlreich, um auch 
nur mit Aufmerkſamkeit ſtatiſtiſches Material und ſtatiſtiſche Be⸗ 
weisführungen entgegennehmen, geſchweige denn überhaupt ſolche 
beigebrachten Zahlen kontrollieren zu können. Auch werde ich mich 
auf einzelne ſtreitige Detailfragen nicht einlaſſen, namentlich ſo— 
weit ſie reine Doktorfragen ſind; denn auch für die Entſcheidung 
derſelben ſcheint mir dieſe Verſammlung nicht das richtige Forum 
zu ſein. Ich werde mich vielmehr darauf beſchränken, Ihnen die 
Kette von Schlüſſen vorzuführen, die mich zu meinen Reſolutionen 


230 Fur Währungsfrage. 


führt, und möchte dabei wünſchen, daß Sie in ihr einen ſo engen 
Zuſammenhang der Glieder untereinander zu erkennen vermögen, 
daß nicht ein Glied beliebig herausgeriſſen werden kann, ohne daß 
die ganze Kette zerreißt und die Reſolutionen damit ihre Vor⸗ 
ausſetzung verlieren. 


Ich gehe aus von der Bedeutung des Geldweſens für die 
Volks- und Weltwirtſchaft und darf hier wohl in Übereinſtimmung 
mit Ihnen allen hervorheben, daß das Geldweſen eine Inſtitution 
iſt, an deren möglichſt zweckmäßiger und vollkommener Geſtaltung 
alle Klaſſen das gleiche Intereſſe haben, und daß der Staat, indem 
er das Geldweſen reguliert, in erſter Linie beſtrebt ſein muß, 
einen möglichſt ſtabilen Wertmeſſer zu ſchaffen. 


Ich darf auch wohl hinzufügen, daß das Geld ſich natur⸗ 
notwendig bei jedem Volke auf einer beſtimmten Stufe der 
Entwickelung einzuſtellen pflegt und daß der Staat dann nur 
das, was ſich von ſelbſt eingeſtellt hat, anerkennt und ſpäter 
reguliert, neu ordnet u. ſ. w. Es beſteht auf dieſem Gebiet ein 
ähnliches Verhältnis, wie auf dem Gebiete der Rechtsentwicke⸗ 
lung zwiſchen dem Gewohnheitsrecht und dem Geſetzesrecht. 
Und was vom Gelde im allgemeinen gilt, gilt auch ſpeciell 
von der Währung. Die Währungseigenſchaft pflegt im Laufe 
der Entwickelung gleichſam naturnotwendig immer demjenigen 
Gegenſtande zuzufallen, der im gegebenen Augenblick für ein be⸗ 
ſtimmtes Volk der geeignetſte iſt, und wenn der Staat ſpäter 
die Funktion übernimmt, ſeinerſeits über die Währung Entſchei⸗ 
dung zu treffen, ſo iſt das weſentlich nur eine formale Funk⸗ 
tion, indem der Staat demjenigen Gegenſtand die Währungs⸗ 
eigenſchaft beilegt oder doch wenigſtens beilegen ſollte, der im 
gegebenen Augenblicke gleichſam durch die allgemeine Entwicke⸗ 
lung als ſolcher bezeichnet wird. 


Wenn die Staaten nun im Laufe der Geſchichte die 
Währungseigenſchaft beigelegt haben zunächſt einer Anzahl von 
Gebrauchsgütern und dann allgemein den Metallen und unter 
dieſen wieder zunächſt dem Kupfer, der Bronze u. ſ. w. und 


Fur Währungsfrage. 231 


7 erſt ſpäter den Edelmetallen und unter den Edelmetallen wieder 


zunächſt dem Silber und dann dem Golde, ſo hätte der ein— 
zelne Staat ja gewiß anders handeln können und hat es aus— 
nahmsweiſe auch gethan. Aber wenn er doch im großen und 
ganzen dieſer Entwickelung gefolgt iſt und damit nur ſanktioniert 
hat, was die Entwickelung der Dinge ihm vorzeichnet, ſo wieder— 
holt ſich hier derſelbe ſcheinbare Gegenſatz zwiſchen Willensfrei— 
heit und Geſetzmäßigkeit, den wir auf allen Gebieten des per— 
ſönlichen, ſocialen und politiſchen Lebens antreffen und der hier 
nur ſeine ſpecielle Anwendung findet. 

Dieſer Entwickelung folgend, iſt dasjenige Land, das das 
reichſte genannt werden kann und das die ausgebreitetſten Handels⸗ 
beziehungen namentlich im internationalen Verkehr beſitzt, zuerſt 
zur Goldwährung übergegangen, alſo England im Jahre 1816 
mit ſeinen ſämtlichen Kolonieen und Dependenzen, mit Aus— 
nahme nur Indiens und Ceylons. Und ebenſo beruht es auf 
dieſer Entwickelung, wenn dann diejenigen Staaten, die England 
in Bezug auf ihren Reichtum und die Intenſität ihrer inter- 
nationalen Handelsbeziehungen nahe kommen, wenn dieſe Staaten 
in neuerer Zeit das Beſtreben zeigen, dieſelbe Währung anzu— 
nehmen. Dieſes Beſtreben iſt in den letzten Jahrzehnten unter- 
ſtützt worden durch eine Reihe mehr zufälliger Momente: erſtens 
durch die reiche Goldgewinnung und das maſſenhafte Einſtrömen 
von Gold nach Europa ſeit dem Jahre 1848; ſodann durch das 
Abſtoßen des Goldes aus Amerika nach Europa nach dem Bürger— 
kriege, infolge der Papiergeldwirtſchaft, und endlich ſpeciell für 
uns in Deutſchland durch den glücklichen Ausgang des letzten 
Krieges und durch den Milliardenſegen, deſſen wir uns zu er— 
freuen hatten. 

Parallel mit dieſer allgemeinen Entwickelung, die eine den 
Dingen immanente iſt, iſt die Theorie gegangen, indem ſie in 
den 60 er und zum Teil auch in den 70 er Jahren, wie ſie es 
immer thut und immer thun ſoll, dieſe Entwickelung zu begreifen, 
ihr zum Ausdruck zu verhelfen und damit dieſelbe wiederum weiter 
zu fördern geſucht hat. 


232 Sur Währungsfrage. 


Ich will nicht behaupten, daß die monometalliſtiſche Theorie, 
wie ſie bis zu Anfang der 70 er Jahre faſt ausſchließlich herr⸗ 
ſchend war, es immer verſtanden hat, alle Einſeitigkeiten zu ver⸗ 
meiden. Auch hat dieſe Theorie damals ſich nicht vollſtändig 
klar gemacht, welches die Folgen des allſeitigen Übergangs zur 
Goldwährung ſein würden. Im ganzen muß aber doch geſagt 
werden, daß dieſelbe damals ihre Schuldigkeit ganz und voll 
gethan hat; wir dürfen daher ihre Mängel nicht allzu hoch 
anſchlagen. 

Dieſer Strömung folgend iſt alſo, wie geſagt, eine Reihe 
von Staaten in den letzten Jahrzehnten zur Goldwährung 
übergegangen oder hat wenigſtens den Verſuch dazu gemacht. 
Ich darf Sie erinnern an die nordamerikaniſche Union im Jahre 
1873, an die ſkandinaviſche Union (1872 — 1875), endlich an 
Deutſchland, das ſeit 1873 den Beſchluß gefaßt hat, die Gold⸗ 
währung einzuführen und, man darf wohl ſagen, dieſen Beſchluß 
auch zum großen Teile glücklich durchgeführt hat. 

Wie der außerordentliche Goldzufluß ſeiner Zeit den Über⸗ 
gang zur Goldwährung in einer Reihe von Staaten mit ver⸗ 
anlaßt hat, ſo iſt die Wandlung in der Konjunktur der Edel⸗ 
metallproduktion — die darin beſteht, daß die Goldproduk⸗ 
tion in den 70er Jahren ab- und die Silberproduktion dagegen 
zugenommen hat — zum Hemmnis für die vollſtändige Durch⸗ 
führung der Goldwährung geworden. Denn mag man über die 
Intenſivität, mit der die verſchiedenen Urſachen auf die in 
der letzten Zeit eingetretene Silberentwertung eingewirkt haben, 
auch noch immer ſtreiten, ſo ſteht doch, wie ich glaube, ſoviel 
feſt — und das wird in letzter Zeit ſelbſt von hervorragenden 
Bimetalliſten zugegeben —, daß der entſcheidende Grund der 
Silberentwertung in der außerordentlichen Zunahme der Silber⸗ 
produktion und in der ausnahmsweiſe in dem Jahrzehnte 
1865-1875 eingetretenen Abnahme des Silberabfluſſes nach 
Indien liegt. Zugleich muß man aber wohl zugeben, daß 
dieſe tiefere Urſache ſich erſt geltend gemacht hat infolge eines 


f 6 — n . Pr 


Fur Währungsfrage. 233 


äußeren Anſtoßes und daß dieſer äußere Anſtoß durch den 
Verkauf der demonetiſierten Silbermünzen ſeitens des Deutſchen 
Reiches gegeben war. Aber auch dieſer Anſtoß hat wiederum 
ſo, wie er gewirkt hat, nur wirken können, weil infolge 
desſelben die Staaten der lateiniſchen Münzunion zuerſt im 
Jahre 1874 die Prägung ihrer Silbercourantmünzen kontin— 
gentiert und dann 1876 bezw. 1878 vollſtändig eingeſtellt 
haben. Erſt nachdem dieſer Währungs- und Prägemechanis— 
mus, wonach immer 15 ¼ Gewichtsteile Silber in Münz— 
form umgewandelt werden konnten in einen Gewichtsteil 
Gold, zu funktionieren aufgehört hatte, iſt jenes koloſſale 
Sinken des Silberpreiſes permanent geworden. Ich darf, um 
dieſes Sinken kurz zu charakteriſieren, erwähnen, daß gegen— 
über dem früher normalen Stande des Silberpreiſes von 
60—61 Pence pro Unze Standardſilber (Wertverhältnis des 
Silbers zum Golde = 1: 15 ½ ) der im Juli 1876 erreichte 
Preis von 463¾ Pence bereits einige Zeit anhält und in 
der letzten Zeit noch unter das Preisminimum von 1876 herab— 
gegangen iſt. 

Durch dieſes Sinken der Silberpreiſe ſind nun eine Reihe 
von Mißſtänden entſprungen, und dieſe Mißſtände haben dazu ge— 
führt, daß neben der Einſtellung der Silberprägung in den Staaten 
der lateiniſchen Münzunion das Deutſche Reich im Jahre 1879 
ſeine Silberverkäufe, die Verkäufe ſeiner noch reſtierenden Silber— 
thaler und der in ſeinem Beſitz befindlichen Silberbarren, ein— 
geſtellt hat und daß 1878 infolge der Bland-Aliſon-Bill in Nord⸗ 
amerika die Aufnahme von Silberprägungen zu einem beſchränkten 
Betrage (zwiſchen 2—4 Millionen Dollars monatlich) beſchloſſen 
und durchgeführt worden iſt. Dadurch iſt in einer Reihe von 
Staaten ein Währungszuſtand begründet worden, den man bisher 
in der Münzgeſchichte nur ausnahmsweiſe gekannt hat, ein Zu— 
ſtand, den man als den der hinkenden Währung bezeichnet. Der— 
ſelbe beſteht darin, daß das Gold die eigentliche Valuta bildet, 
alſo in unbeſchränktem Maße frei ausgeprägt werden kann, daß 


234 Fur Währungsfrage. 


nebenbei aber auch Silbercourantmünzen, aljo Münzen mit 
unbeſchränkter und abſoluter Zahlungskraft, wenngleich nur in 
beſchränkter Quantität kurſieren. Von dieſen ſilbernen Courant 
münzen beſitzen nun die verſchiedenen Staaten einen jehr un 
gleichen Betrag und leiden ſomit unter dieſem Ausnahmezuſtande 
in einem verſchiedenen Grade. Nach der neueſten Annahme be⸗ 
ſitzen die Staaten der lateiniſchen Münzunion ſilberne Fünf⸗ 
frankſtücke im Betrage von etwa 3000 — 4000 Millionen 
Franken. In Amerika ſind ſeit 1878 Silber-Dollars für einen 
Betrag von über 925 Millionen Mark dem Verkehr übergeben 
worden. 

Am günſtigſten, und zwar ſehr weſentlich günſtiger als die 
Staaten der lateiniſchen Münzunion, befindet ſich das Deutſche 
Reich, indem es nur etwa 450 Millionen Mark in Thalern in 
Cirkulation hat. 

Ich gehe noch ſpecieller auf die Lage der Währung in 
Deutſchland ein und werde mich dabei auf den nationalen 
Standpunkt ſtellen. Ich glaube mich dabei in Übereinſtimmung 
mit Ihnen zu befinden, die Sie ja dieſen Standpunkt immer 
zum Ausgangspunkt Ihrer Erörterungen und Beſchlüſſe machen 
und noch im vorigen Jahre in der Schutzzollfrage ſo ſcharf 
und entſchieden betont haben. Ich frage mich: was haben 
wir ſeit 1873 gewonnen und was haben wir verloren? und 
wie ſtellt ſich die Bilanz zwiſchen Gewinn und Verluſt? 
Wir haben gewonnen eine Valuta, nach der alle reich ge- 
wordenen oder wenigſtens reich werdenden, im internationalen 
Handelsverkehr eine gewiſſe Rolle ſpielenden Nationen ſtreben; 
wir haben gewonnen eine Valuta, die auf der gleichen Baſis 
ſteht wie die Valuta Englands, und ich möchte bei dieſer Ge⸗ 
legenheit beſonders betonen, daß es uns gelungen iſt, mittelſt 
dieſer Valuta diejenigen großen Fortſchritte im internationalen 
Verkehr zu machen, die wir in den letzten 15 Jahren gemacht 
haben, und zwar iſt das ſo zu erklären. England umſpannt die 
internationalen Handelsbeziehungen gleichſam mit einem feſten 


Fur Währungsfrage. 235 


Bande, und dieſes Band wird durch ſeine Valuta nicht unweſentlich 
befeſtigt. Wenn wir nun ebenfalls in dieſen Zauberkreis eingetreten 
ſind, ſo konnte das nur geſchehen an der Seite von England. Bei 
dieſem Vorgange hat uns die mit England gemeinſame Valuta 
unſchätzbare Dienſte geleiſtet, und wir würden, wenn wir dieſelbe 
preisgeben wollten, ſofort einen Teil unſerer Stellung opfern. 
Wir haben ferner eine Valuta gewonnen, die viel ſtabiler iſt als 
die Doppelwährung, Silberwährung oder Papierwährung; eine 
Valuta endlich, die es den Kapitaliſten des In- und Auslandes 
außerordentlich wünſchenswert macht, ihr Kapital in unſeren Fonds 
anzulegen. 

Dieſen Vorteilen ſtehen nun allerdings manche Opfer gegen⸗ 
über, mit denen wir dieſen Fortſchritt erkauft haben. Wir 
haben einmal eine nicht geringe Summe ausgegeben — ich ſpreche 
nicht von derjenigen Summe, die notwendig geweſen iſt, um das 
nötige Gold anzuſchaffen und Goldmünzen auszuprägen —, um 
unſer Silber zu veräußern, ſie macht nach meiner Schätzung etwa 
64—65 Millionen Mark aus; auch haben wir trotz dieſes Opfers 
es noch nicht zu jener Solidität der Valuta gebracht, die für 
uns wünſchenswert wäre. Denn wir haben neben etwa 16—17 
Hundert Millionen in Goldmünzen noch immer an 450 Millionen 
Mark in Thalern, die im Augenblicke ca. 23 Prozent unter⸗ 
wertig ſind, in Cirkulation; es kurſieren im Betrage von ca. 
330 Millionen ſilberne Scheidemünzen, die ca. 33 Prozent 
unterwertig find; wir haben endlich Reichskaſſenſcheine im Be- 
trage vom ca. 130 —140 Millionen Mark. 

Das iſt ein Stand des Geldweſens, der nicht als der 
wünſchenswerteſte bezeichnet werden kann, obgleich er auch 
nicht ſo ſchlecht iſt, wie er häufig gemacht wird. Unſer Geld⸗ 
weſen iſt im großen und ganzen gut; es iſt nur die Gefahr 
vorhanden, daß im Falle eines Krieges oder ſonſtiger Unglücks— 
fälle Ungelegenheiten entſtehen können. Alſo indem ich zuge— 
ſtehe, daß Mängel vorliegen, möchte ich doch wünſchen, daß 
man dieſelben nicht übertreibe. Ferner gebe ich zu, daß 


236 Sur Währungsfrage. 


in außerordentlichen Zeiten, namentlich im Falle von Kriegen oder 
inneren Unruhen, das bekannte ſignifikante Wort des Herrn 
Reichskanzlers von dem Zerren der Banken an der Golddecke 
Platz greifen kann. a 

Auch unſer Ausfuhrhandel nach Oſtaſien leidet empfindlich 
unter der Silberentwertung, weil die Warenpreiſe in Silber 
dort nicht ſofort entſprechend der Wertverminderung des Silbers 
ſteigen; und umgekehrt wird die Einfuhr indiſcher Produkte nach 
Europa während der Periode der fortſchreitenden Entwertung 
des Silbers künſtlich geſteigert, was den Druck, unter dem die 
europäiſche Landwirtſchaft ſteht, erheblich verſtärkt. Und endlich 
hat Deutſchland als Silberproduktionsland an der Entwertung 
des Silbers ein unmittelbares Intereſſe, da es durch dieſelbe 
ebenfalls geſchädigt wird. 

Solche Thatſachen waren es, die dahin führten, daß an 
Stelle des von einem Teil der Monometalliſten ins Auge ge⸗ 
faßten Ideals, wonach alle Kulturſtaaten zur Goldwährung 
überzugehen hätten, ein bimetalliſtiſches Weltprogramm aufgeſtellt 
wurde, das Programm einer bimetalliſtiſchen Weltunion, zu 
der gleichfalls alle Kulturſtaaten gehören ſollen. Dieſes Pro⸗ 
gramm war zunächſt ein theoretiſches, indem eine Anzahl her⸗ 
vorragender Theoretiker ſich davon überzeugte, daß die frühere 
monometalliſtiſche Theorie manche Lücken und Einſeitigkeiten ent⸗ 
halte. Aber auch die Bimetalliſten haben, indem ſie auf die 
eine Einſeitigkeit aufmerkſam machten, es nicht immer ver⸗ 
mieden, in andere Einſeitigkeiten zu verfallen. 

Während man z. B. früher auf die naturgeſetzlichen Vorgänge 
im Geldweſen zu viel Gewicht legte und meinte, daß der Staat 
gegenüber denſelben nichts ausrichten könne, iſt man ſeitdem viel⸗ 
fach in das entgegengeſetzte Extrem verfallen, indem man ſich nun 
den Staat im Münz- und Währungsweſen als omnipotent denkt. 
Das iſt ebenfalls unrichtig, indem es gewiſſe Schranken giebt, 
die der Staat anerkennen muß, wenn er mit ſeiner Münzpolitik 
nicht Fiasko machen will. 


e 


Zur Währungsfrage. 237 


An dieſen Umſchwung in der Theorie hat ſodann die 
bimetalliſtiſche Agitation angeknüpft. In Frankreich vertrat in 
den ſechziger Jahren — alſo bereits vor dieſem Umſchwunge — 
der bekannte Senator Wolowski, allein inmitten der Mono- 
metalliſten, die nationale Doppelwährung. Ihm hat ſich 
ſpäter der in Frankreich nationaliſierte Italiener Cernuschi 
angeſchloſſen, indem er die Doppelwährung in dem Sinne 
vertrat, daß ſie ausgedehnt werden müſſe auf eine Reihe von 
Staaten. Dieſem beredten aber überſchwänglichen Manne iſt 
es gelungen, für ſeine Anſichten in anderen Ländern, in Frank— 
reich, Belgien, vorzugsweiſe aber in Nordamerika und Deutſch— 
land, eine Reihe von ſehr talentvollen, außerordentlich rührigen 
und ſcharfſinnigen Adepten zu gewinnen. Dieſe Herren haben es 
nun darauf abgeſehen, Stimmung zu machen für ihre Anſichten in 
den Miniſterien, Banken, Parlamenten, ja ſchließlich bei uns 
in Deutſchland auch in weiteren Volkskreiſen u. ſ. w. 

Die Art und Weiſe, wie ſie argumentieren, iſt folgende. Sie 
ſagen: wenn es Frankreich während faſt eines Jahrhunderts, von 
1785 bis 1874, und der lateiniſchen Münzunion während eines 
Jahrzehnts, von 1865 bis 1874, gelungen iſt, das geſetzlich feſt— 
geſtellte Wertverhältnis zwiſchen Silber und Gold von 1:15 / 
maßgebend zu machen auch für das faktiſche Wertverhältnis dieſer 
beiden Metalle auf dem Markt, indem die Abweichungen des letz— 
teren von dem erſteren nie ſehr bedeutend waren, ſo würde dieſes 
Reſultat ſich in Zukunft noch ſicherer erreichen laſſen von einem 
großen Weltbunde, dem die wichtigſten Kulturſtaaten beitreten. 

Es wird ferner geſagt: Durch einen ſolchen bimetalliſtiſchen 
Münzbund werde der befürchteten Goldknappheit geſteuert werden; 
durch denſelben werde das Silber, das ja ſeinen früheren Preis 
angeblich lediglich infolge ſeiner Demonetiſierung verloren hat, 
dieſen Preis wieder erhalten; dadurch aber werden alle Silber 
produzierenden Länder geſchützt werden vor weiteren Verluſten oder 
wenigſtens vor einem lucrum cessans, und es werde endlich dem 
Deutſchen Reiche dadurch die Möglichkeit gegeben, ſeine Währungs— 


238 Fur Währungsfrage. 


verhältniſſe definitiv zu regeln, ohne weitere große Verluſte zu 
erleiden. 

Dieſe Agitation muß ja nun, wie das in der Natur jeder 
Agitation liegt, mit ihren Beſtrebungen zum Siege zu gelangen 
und zu dieſem Zweck die öffentliche Meinung für ſich zu gewinnen 
ſuchen. Da ſie aber die Wahrnehmung gemacht hat, daß ſehr 
große Kreiſe unſeres Volkes — es gehören dazu die kapital⸗ 
beſitzenden Klaſſen, die Handeltreibenden, die Beamten und 
Penſionäre und die Arbeiter — für ihre Beſtrebungen unem⸗ 
pfänglich ſind, daß es ihnen gleichſam, wenn ich mich ſo aus⸗ 
drücken darf, an dem ſechſten, bimetalliſtiſchen Sinne fehlt, 
ſo hat ſie ſich an die Induſtriellen und Landwirte als ihren 
letzten Rettungsanker gewendet. Hier, namentlich innerhalb der 
landwirtſchaftlichen Kreiſe, hat die Agitation auch wirklich einigen. 
Anklang gefunden. Es erklärt ſich das ſehr leicht. Wenn man 
in Not iſt — und die Landwirtſchaft befindet ſich in einer ge⸗ 
drückten Lage —, ſo iſt man empfänglich für alles, was einem 
auch nur die entfernteſte Ausſicht auf Beſſerung dieſer Lage ver⸗ 
ſpricht. Man befindet ſich in einer eigentümlichen pſychologiſchen 
Verfaſſung, indem man jeden Strohhalm ergreift, ſelbſt wenn 
man ſich von vornherein ſagen muß, daß dabei nicht viel heraus⸗ 
kommen kann. Mir war die Bemerkung eines verehrten Kollegen 
aus unſerer Mitte, die er mir geſtern gemacht hat, intereſſant, 
er ſagte: Wir ſind eigentlich Freihändler, aber angeſichts der Not 
ſind wir für den Schutzzoll geweſen, und nachdem wir den 
Schutzzoll nun in zwei Etappen durchgeſetzt haben, unterſchreiben 
wir alles, was uns zum Zweck der Linderung unſeres Notſtandes 
geboten wird. 

Dieſen Kreiſen gegenüber hat die bimetalliſtiſche Agitation 
ſich neuer Argumente bedient, die früher entweder gar nicht oder 
wenigſtens nicht ſo ſtark betont worden ſind. Es wird geſagt: 
durch den Übergang zur Goldwährung ſeitens einer Reihe von 
Staaten und infolge der Abnahme der Goldproduktion habe ſich 
Goldknappheit eingeſtellt; dieſe habe wieder Geldknappheit erzeugt 
und den Geldwert geſteigert; der hohe Geldwert bedeute aber 


Sur Währungsfrage. 239 


niedrige Preiſe und dieſe wieder, wenn längere Zeit andauernd, 


führen zu Kriſen: deswegen ſei die Einführung der Goldwährung 
die Haupturſache der gegenwärtigen landwirtſchaftlichen Kriſis. 
Zugleich hat die Agitation, die ja außerordentlich erfinderiſch 
iſt in der Beibringung von Argumenten, die ſie unterſtützen können, 
— was natürlich nur ein Lob für ſie iſt — in letzter Zeit noch auf 


folgenden Punkt aufmerkſam gemacht. Sie hat darauf aufmerkſam 


gemacht, daß eine Reihe von Staaten infolge der ſchlechten Valuta 
einen ungünſtigen Wechſelkurs beſitzen. Der ungünſtige Wechſel— 
kurs aber enthalte für dieſe Staaten gleichſam verſchleiert einen 
Schutzzoll und eine Exportprämie. Dieſe Staaten — Indien, Ruß— 
land, Oſterreich⸗-Ungarn — ſeien infolgedeſſen in der Lage, ihr 


Getreide unter für ſie günſtigeren Verhältniſſen auf den europäiſchen 


Markt zu werfen, als ſie ſonſt zu thun im ſtande wären. Sie 
vermehren alſo das Angebot auf dem Weltmarkt und ſchaden uns. 

An dieſe Wendung in der Argumentation hat ſich neuer— 
dings auch eine Wendung in der ganzen Richtung, die die 
Agitation genommen hat, angeſchloſſen. Früher war immer 
nur die Rede von einem Weltbunde mit England. Noch auf 
dem mit großem Pomp aber ſehr geringem Erfolge in Scene 
geſetzten bimetalliſtiſchen Kongreſſe von 1882 wurde ausdrücklich 
betont: in einen ſolchen Bund ſoll Deutſchland nur eintreten mit 
England. Ja, der Leiter der deutſchen Agitation hat noch in 
einem Briefe vom Auguſt vorigen Jahres an den Engländer Gibbs 
dieſen Standpunkt ebenſo warm wie beredt vertreten. In dieſem 
vom 1. Auguſt 1884 datierten Briefe heißt es unter anderem: 
— — „wir in Deutſchland find bemüht, nationale Wirtſchafts— 
politik zu treiben, und es iſt nicht vom bimetalliſtiſchen, ſondern 
lediglich vom nationalen Standpunkt aus, daß die deutſchen 
Bimetalliſten in ihrer Mehrzahl von einer Doppelwährung ohne 
England nichts wiſſen wollen. — — Wir können auch eine nur 
momentane Inferiorität unſerer Valuta unter der engliſchen nicht 
dulden und wollen nicht, daß England das Monopol der Gold— 
valuta erwirbt und damit ein wenn auch nur vorübergehendes 
Anſehen auf dem Weltmarkt gewinnt.“ 


240 Fur Währungsfrage. 


Am Schluß des vorvorigen Jahres iſt nun in dieſer Stel⸗ 
lung der bimetalliſtiſchen Agitation in Deutſchland eine Wen⸗ 
dung eingetreten. Derſelbe Herr, der dieſen von nationaler Ge⸗ 
ſinnung getragenen Brief geſchrieben und der Preſſe übergeben 
hat, hat jetzt die Loſung ausgegeben: Bimetalliſtiſche Union auch 
ohne England. 

Noch bis vor einem Jahre hatte die bimetalliſtiſche Agitation 
mit beſonderer Vorliebe geltend gemacht, die Wiſſenſchaft ſtehe in 
Deutſchland auf ihrer Seite. Seitdem die Agitation ſich im Herbſt 
des vorigen Jahres von der bimetalliſtiſchen Theorie losgelöſt hat 
— denn die Theoretiker ſtehen noch auf dem Standpunkt, daß eine 
Union für Deutſchland nur wünſchenswert ſei mit England —, 
hat ſie das Recht verwirkt, ſich auf die Wiſſenſchaft zu berufen. 
In unbedingter Weiſe hat ſie dieſes Recht freilich auch früher 
nicht gehabt; denn wenn fie ſich auf einige hervorragende Theo⸗ 
retiker des Geldweſens, wie Wagner, Schäffle und Lexis, 
berufen konnte, ſo haben auf der anderen Seite eine Anzahl 
zum mindeſten eben ſo tüchtiger Kenner des Münzweſens — ich 
nenne nur die Namen Roſchers, Naſſes, Knies' und 
Soetbeers — mit Entſchiedenheit den entgegengeſetzten Stand⸗ 
punkt vertreten und bis heute an demſelben feſtgehalten. Das 
ſei übrigens nur in Parentheſe geſagt. Es iſt das für unſere 
Frage gerade nicht ausſchlaggebend, ich hielt es aber doch für 
notwendig, den Mißbrauch, der ſeitens der Agitation mit der 
Wiſſenſchaft getrieben wird, einmal zur Sprache zu bringen. 

Ich wende mich nunmehr zu einer Beurteilung des Pro⸗ 
gramms der Bimetalliſten und ſpeciell der bimetalliſtiſchen Agi⸗ 
tation in ihrem gegenwärtigen Stadium, in dem ſie das Ein⸗ 
treten Deutſchlands für die Begründung eines bimetalliſtiſchen 
Bundes auch ohne England verlangen. Ich muß dieſen Stand⸗ 
punkt um ſo mehr ins Auge faſſen, als er ja auch in dem An⸗ 
trage des Referenten ſeinen Ausdruck findet, nämlich in dem 
zweiten Punkt des Antrages, wonach ein ſolcher Bund ſeitens 
Deutſchlands eventuell auch ohne England anzuſtreben ſei. 

Was wird nun von einem ſolchen Bunde erwartet? Zu⸗ 


1 
8 9 


Sur Währungsfrage. 241 


nächſt, daß das von ihm geſetzlich feſtgeſtellte Wertverhältnis auf 
die Dauer auch faktiſch aufrechterhalten werde. Ein hervor— 
ragender Bimetalliſt hat gerade in letzter Zeit mit beſonderem 
Nachdruck darauf aufmerkſam gemacht, daß dieſe erhoffte Wir— 
kung wohl eintreten könne, aber durchaus nicht mit Sicherheit 
einzutreten brauche, ja daß eine große Wahrſcheinlichkeit dafür 
beſtehe, daß Gold und Silber ſich in dieſem geſetzlichen Wert— 
verhältnis nicht im Verkehr werde erhalten laſſen, und zwar 
deshalb, weil England nach wie vor eine große Nachfrage nach 
Gold repräſentieren wird und weil nach wie vor das Sinnen 
und Trachten des Verkehrs, des Luxusbedarfs und der Induſtrie 
auf das Gold gerichtet ſein wird. 


So kann es denn außerordentlich leicht kommen, daß das 
Gold auch in einer ſolchen ohne England zu begründenden Union 
ein Agio erhält. 

Bei dieſer Gelegenheit geſtatten Sie mir wohl, mit einigen 
Worten der Erfahrungen zu erwähnen, die ich bisher uur flüchtig 
berührt habe. Es iſt richtig, daß in Frankreich während einer 
längeren Periode das geſetzliche Wertverhältnis im großen und 
ganzen mit dem faktiſchen Wertverhältnis der beiden Metalle 
übereingeſtimmt hat. Das hat aber nicht verhindert, daß innerhalb 
dieſer Periode bald das eine, bald das andere Metall zum größten 
Teil ausgewandert iſt, ſo daß von 1830 bis 1848 Frankreich 
hauptſächlich Silbermünzen im Verkehr hatte, indem das Gold 
ausgewandert war, und ſeit jener Zeit bis zum Anfang der 
ſiebenziger Jahre wieder faſt nur Goldmünzen, indem das Silber 
ausgewandert war. Es beſtand daher, wie man ſagt, dort die 
alternative Währung. 


Auch darf daran erinnert werden, daß in den zwanziger 
und dreißiger Jahren in Frankreich für Goldmünzen ein Agio 
im Betrage von 1¼ bis 2 Prozent gezahlt wurde; nur gegen 
ein ſolches Agio war damals Gold zu haben. 

Wenn ferner angeführt wird, dieſe Mängel würden in einer 


v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 16 


242 Sur Währungsfrage. 


Währungsunion vermieden werden, ſo will ich mir jetzt erlauben, 
auf dieſen Gegenſtand mit einigen Worten näher einzugehen. 

Die Erfahrungen, die mit Münz- und Währungsbünden 
bisher gemacht worden ſind, geben uns keinerlei Hoffnung, 
daß dieſelben in Zukunft längere Zeit aufrechtzuerhalten ſein 
werden. In dieſer Beziehung iſt gerade die Erfahrung, die man 
mit der lateiniſchen Münzunion gemacht hat, außerordentlich 
lehrreich. Wir haben uns zu vergegenwärtigen, daß dieſer Münz⸗ 
bund in Wirkſamkeit trat unter den denkbar günſtigſten Verhält⸗ 
niſſen, wie ſie ſich vielleicht niemals wiederholen werden. Dieſer 
Münzbund wurde protegiert von dem damals mächtigſten Manne 
Europas und der Welt, von dem Kaiſer Napoleon III. Es traten 
zu dem Bunde Staaten zuſammen, die nicht von gleicher oder 
ähnlicher Machtſtellung waren, deren Intereſſen nicht weſentlich 
kollidierten, zwiſchen denen keine Kriege bevorſtanden oder auch 
nur möglich waren, Staaten, die ihren Schwerpunkt in Frank⸗ 
reich hatten, die gleichſam wie die Satelliten um den Planeten 
ſich um Frankreich gruppierten. Und was iſt die Folge geweſen? 
Daß dieſer Bund ſein 25 jähriges Beſtehen kaum erleben und 
feiern wird. Was iſt geſchehen? was bedeutet dieſe letzte Ver⸗ 
ſammlung vom Herbſt und Winter vorigen Jahres? Nicht etwa 
eine Erneuerung dieſes Bundes auf ſolider Baſis, ſondern im 
weſentlichen eine Vereinbarung über die Art und Weiſe, wie 
die einzelnen Staaten bei Auflöſung der Münzunion miteinander 
liquidieren ſollen, wobei jeder ſich eine ſolche Situation zu 
ſchaffen geſucht hat, daß er mit möglichſt wenig Schaden aus 
der Union herauskommt. Und was iſt ferner auf dieſer letzten 
Konferenz noch beſonders anerkannt worden? Es iſt anerkannt 
worden, daß die ſilbernen Fünffrankſtücke im Verkehr von Staat 
zu Staat keine größere Bedeutung haben ſollen, als die Scheide⸗ 
münzen ſie im Innern haben, ſo daß im Verkehr von Staat 
zu Staat trotz des Beſtehens der Union eigentlich bereits gegen⸗ 
wärtig die Goldwährung beſteht. 

Ich frage nun weiter: welche Folgen werden ſonſt noch ein⸗ 


no an 


Sur Währungsfrage. 243 


treten, wenn es gelingen jollte, die geplante Währungsunion 
eine Zeit lang in Kraft zu erhalten? Es wird geſagt, die Gold— 
knappheit werde aufhören. Ich habe bereits oben angedeutet, 
daß die Verwirklichung dieſer Annahme durchaus nicht ſicher 
geſtellt iſt. Es ſcheint mir aber auch fraglich, ob die Silber— 
preiſe in der Union wirklich in dem Grade ſteigen werden, 
wie es angenommen wird. Die bimetalliſtiſche Agitation be— 
hauptet ja zum Teil noch heute, daß es möglich ſein werde, das 
frühere Wertverhältnis von 1: 15½ wieder herzuſtellen; die 
bimetalliſtiſche Theorie beſtreitet es aber. Sie giebt nur zu, daß 
es möglich ſein werde, das gegenwärtig faktiſch beſtehende Ver— 
hältnis von 1: 20 auf die Dauer zu erhalten, und auch das 
nur unter der Vorausſetzung, daß die Produktionsverhältniſſe 
des Goldes und Silbers in Zukunft ſich weſentlich in derſelben 
Richtung bewegen wie in der Vergangenheit, und ferner unter 
der Vorausſetzung, daß der Induſtrie- und Luxusbedarf an 
Gold nicht zunimmt. Immerhin wird zugegeben werden können, 
daß eine ſolche Union in der Lage ſein würde, das weitere 
Sinken des Silberpreiſes zu verhindern. 

Wenn das der Fall iſt, ſo frage ich weiter: welcher Folgen 
wird der Währungsbund im übrigen für die Volkswirtſchaft haben? 
Es darf nicht bezweifelt werden, daß das Geld ſich infolge der 
einzuführenden Doppelwährung vermehren wird. Schon zweifel— 
hafter iſt es jedoch, ob es auch gelingen wird, dieſes Plus an Geld 
auf die Dauer in Cirkulation zu erhalten, oder ob es nicht viel— 


| mehr in die Banken fließen und dort feitliegen wird. Die letzten 


Erfahrungen, die Amerika gemacht hat, ſind in dieſer Beziehung 
außerordentlich lehrreich und berechtigen uns zu ſolchen Zweifeln. 
In Amerika iſt ja, wie Sie wiſſen, der frühere Goldbeſtand er— 
halten und noch vermehrt worden durch neue Prägungen; außer— 
dem beſteht noch ein Teil des früheren Staatspapiergeldes, und 
hinzugekommen iſt ſeit 1878 die Ausprägung von Silberdollars 
in dem nicht geringen Betrage von über 925 Millionen Mark. 


Und was iſt die Folge? Die Silberdollars ſelbſt werden vom Ver— 
16 * 


244 Sur Währungsfrage. 


kehr zurückgewieſen, und die Silbercertifikate, die anfangs willige 
Abnehmer fanden, werden neuerdings ebenfalls von den Banken 
zurückgewieſen. 

Aber nehme ich für einen Augenblick an, daß es gelingen werde, 
dieſes Mehr an Geld, das die bimetalliſtiſche Union zur Folge 
haben wird, auch wirklich in Cirkulation zu erhalten, ſo fragt es 
ſich weiter: wird dieſe vermehrte Geldcirkulation bei uns wirk⸗ 
lich höhere Warenpreiſe zur Folge haben? Die Herren Bimetalliſten 
ſind meiſt nicht Anhänger der Quantitätstheorie sans phrase, 
ſie nehmen alſo nicht an, daß in demſelben Grade, wie ſich das 
Geld vermehrt, dasſelbe nun auch im Werte ſinken wird und 
die Preiſe ſteigen müſſen, ſondern ſie argumentieren folgender⸗ 
maßen. Sie ſagen: dieſe vermehrte Geldmenge wird anregend 
auf die Produktion wirken, ſie wird der ganzen Volkswirtſchaft 
einen neuen Aufſchwung geben und wird dadurch indirekt die 
Preiſe zum Steigen bringen. Indem man dies annimmt, ſtützt 
man ſich auf Vorgänge in der Vergangenheit. Man ſagt, die 
vermehrte Produktion der Edelmetalle, namentlich die vermehrte 
Silberproduktion ſeit dem 16. Jahrhundert, habe einen koloſſalen 
Aufſchwung der europäiſchen Volkswirtſchaft bewirkt und dasſelbe 
Reſultat habe die Vermehrung des Goldes und des Geldes ſeit 
dem Jahre 1848 und 1850 gehabt, indem ſeit jener Zeit ein 
gar nicht zu leugnender mächtiger Aufſchwung der meiſten Volks⸗ 
wirtſchaften Europas ſtattgefunden habe. Daraus wird nun der 
Schluß gezogen, daß, da dieſelben Urſachen immer dieſelben 
Wirkungen haben, auch die bimetalliſtiſche Union mit ihrer Ver⸗ 
mehrung des Geldes an die Stelle der jetzigen Stagnation des 
wirtſchaftlichen Lebens einen neuen Aufſchwung bringen werde. 
Dieſem Schluß kann ich nicht ohne weiteres beitreten. Die⸗ 
ſelben Urſachen auf volkswirtſchaftlichem Gebiete haben nur dann 
dieſelben Wirkungen, wenn ſie begleitet werden von denſelben 
Nebenumſtänden. Dieſe Nebenumſtände waren aber in den 50 er 
und 60 er Jahren vollſtändig andere als gegenwärtig. 

Auf die Gefahr hin, etwas breit zu, werden, glaube ich 


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Fur Währungsfrage. 245 


doch auf dieſen Punkt näher eingehen zu ſollen, weil er bisher 
nicht genügend berückſichtigt worden iſt. Wie ſtanden die Dinge im 
Jahre 1850? Es waren eben politiſchen Stürme niedergeſchlagen 
worden, alles war müde und ſehnte ſich nach Ruhe; Frankreich 
hatte ein gouvernement fort erhalten; in Deutſchland war die 
Loſung: „Ruhe iſt die erſte Bürgerpflicht“. Man wandte ſich 
allgemein dem wirtſchaftlichen Leben zu und ſuchte in dem Er— 
werb von Reichtum gleichſam einen Erſatz für die politiſchen 
Enttäuſchungen. Ferner kamen damals die großen techniſchen Fort— 
ſchritte auf dem Gebiete des Verkehrsweſens erſt ganz und voll 
zur Geltung. Die Segelſchiffe wurden durch Dampfſchiffe erſetzt; 
das dichte Eiſenbahnnetz, deſſen wir uns jetzt erfreuen, wurde 
nach und nach ausgebaut; das Telegraphennetz verdichtete ſich 
in ähnlicher Weiſe wie das Eiſenbahnnetz u. ſ. w. Auch die 
großen Fortſchritte in der gewerblichen und wirtſchaftlichen Technik, 
die bis dahin ausſchließlich oder wenigſtens vorzugsweiſe in 
England Anwendung gefunden hatten, wurden jetzt auf die ganze 
Kulturwelt ausgedehnt. Endlich — und darauf kann nicht genug 
Gewicht gelegt werden — befand ſich Europa damals in einem 
anderen Verhältnis zu den Edelmetalle produzierenden Ländern wie 
jetzt. Dieſe Produktionsländer hatten noch keine Induſtrie, ſie 
ſandten die gewonnenen Edelmetalle meiſt nach Europa, um ihre 
feineren Bedürfniſſe zu befriedigen. Das wirkte außerordentlich 
belebend auf die europäiſche Volkswirtſchaft und ſpeciell auf die 
Induſtrie. Die Blüte der Induſtrie bedingte aber wieder die 
Blüte der Landwirtſchaft, und jo entſtand jener allgemeine Auf— 
ſchwung der ſechziger Jahre, der am Anfange der ſiebziger Jahre 
noch eine ungeſunde Steigerung erhielt. 

Und wie ſtehen wir heute? Das Bild iſt ein vollſtändig 
anderes geworden. An Stelle einer Lethargie der Produktion, 
wie fie am Schluß der 40er Jahre beſtand, ift eine Überſpannung, 
eine Überreizung derſelben getreten. Es iſt daher gegenwärtig 
wünſchenswert, daß nicht mehr, ſondern daß weniger produziert 
werde. Denn es ſteht zu befürchten, daß der neue Anreiz, den 


246 Sur Währungsfrage. 


die Produktion von einer vermehrten Geldmenge empfangen würde, 
leicht eine Steigerung der gegenwärtigen Kriſis hervorbringen 
wird, gegen welche die Kriſis von 1873 gar nichts iſt. Auch 
iſt zu berückſichtigen, daß die wirtſchaftlichen Konſequenzen aus 
den Fortſchritten der Verkehrstechnik gezogen ſind und daß auf 
dieſem Gebiete nur noch wenig zu thun übrigbleibt. Es können 
wohl noch einige Vicinalbahnen gebaut werden u. ſ. w., aber 
das Hauptnetz iſt fertiggeſtellt. Die Fortſchritte in der Gewerbe⸗ 
technik haben ebenfalls die größte Verbreitung gefunden. Ich 
will nicht ſagen, daß nicht noch Fortſchritte auch in dieſer Be⸗ 
ziehung möglich ſind, immerhin wird die Entwickelung der Technik 
in Zukunft wahrſcheinlich ein langſameres Tempo einſchlagen. Und 
endlich iſt das Verhältnis Europas zu den Edelmetall-Produktions⸗ 
ländern zum Teil ein anderes geworden, als es früher war. Die 
Edelmetall⸗Produktionsländer haben bei ſich zu Haufe mittlerweile 
eigene Induſtriezweige etabliert und haben ſich mit Schutzzoll⸗ 
ſchranken umgeben; ſie üben alſo in der Gegenwart keine der⸗ 
artige Anregung auf die europäiſche Produktion mehr aus wie 
in der Vergangenheit. Soweit ſie heute ihr Edelmetall nach 
Europa ſchicken, thun ſie es zum Teil allerdings noch zum Zweck 
der Bezahlung bezogener Waren, aber doch nicht mehr in dem 
Maße wie früher, ſie thun es jetzt hauptſächlich, um ihre Schulden 
zu verzinſen und zu bezahlen, ihre Eiſenbahnſchulden, ihre 
Staatsſchulden u. ſ. w. Ein Herüberſtrömen von Silber nach 
Europa zu dieſem letzteren Zweck vermag aber auf die Produktion 
durchaus nicht ſo einzuwirken wie ein Herüberſtrömen zum aus⸗ 
ſchließlichen Zweck des Einkaufs von Waren. 

Damit gelange ich zu dem Reſultat, daß unter den ver⸗ 
änderten Verhältniſſen die Vermehrung der Geldmenge wahr⸗ 
ſcheinlicher- oder doch möglicherweiſe einen ganz anderen Effekt 
haben wird als früher. 

Nun frage ich weiter, indem ich für einen Augenblick annehme, 
daß eine Preisſteigerung der Waren eintreten werde, — ich ſtelle 
mich alſo auf dieſen hypothetiſchen Standpunkt —: Wem wird 


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Sur Währungsfrage. 247 


3 fie nützen? Sie wird entſchieden denjenigen Klaſſen nützen, die 


materielle Güter produzieren, alſo der Induſtrie, der Landwirt— 
ſchaft. Sie wird ihnen aber nur eine Zeit lang nützen, nämlich 
ſolange, als die Preiſe der zu ihrer Produktion erforderlichen 
Faktoren ſich nicht auf dasſelbe Niveau geſtellt haben werden, wie 
die Preiſe der Produkte ſelbſt. Dieſer Zeitpunkt muß ja jeden⸗ 
falls eintreten, und fraglich iſt nur, ob er früher oder ſpäter 
eintreten wird. Dann aber wird es jedenfalls mit der Anregung 
und Förderung der Landwirtſchaft und der Induſtrie durch die 
veränderte Währung ein Ende haben. 

Doch muß zugleich auch in Betracht gezogen werden — 
und ich glaube, daß das nicht gering angeſchlagen werden darf 
—, daß dieſen Vorteilen der einen Klaſſe oder der zwei Klaſſen 
große Nachteile einer ganzen Reihe von anderen Klaſſen gegen- 
überſtehen. In demſelben Grade wie Induſtrie und Landwirt— 
ſchaft gewinnen, würden die Kapital beſitzenden und die Handel 
treibenden Klaſſen u. ſ. w. verlieren. Zu dieſer Klaſſe der 
Kapitaliſten gehören nun keineswegs ausſchließlich oder auch 
nur vorwiegend, wie häufig gejagt wird, die couponabjchneiden- 
den Schmarotzer und Praſſer, ſondern es gehören dazu auch jene 
Millionen von emſigen und ſparſamen mittleren und kleinen 
Exiſtenzen, die „heute“ eine kleine Summe erſpart haben, um 
„morgen“ eine etwas behaglichere Exiſtenz zu führen. Es gehören 
dazu jene Hunderttauſende von Witwen und Waiſen, die in dem 
kleinen Erbe, das ſie beſitzen, die einzige Baſis für ihre Exiſtenz 
haben. Es gehören dahin Penſionäre, Gemeinde-, Privat, 
Staatsbeamte; und endlich — worauf ich den allergrößten Wert 
lege — die Arbeiter. 

Nun können Sie ſagen und werden Sie mit Recht ſagen, 
daß dieſe Dinge für die Beamten und die Arbeiter ſich im Laufe 
der Zeit ausgleichen müßten, indem in demſelben Grade, wie 
der Sachwert des Geldes ſinke, die Gehälter und die Löhne 
ſteigen müßten. Das iſt ganz richtig, aber bedenken Sie nur, 
um welchen Preis, mit welchen Opfern dieſe Steigerung erkauft 


248 Fur Währungsfrage. 


ift. Denn wenn es auch der Landwirtſchaft und Induſtrie beſſer 
geht, ſie wird nicht ohne weiteres höhere Löhne zahlen, ſie ge⸗ 
winnt damit nur die Möglichkeit, es zu thun. Die effektiv 
höheren Löhne müſſen ihr vielmehr erſt abgerungen werden, und 
dieſes Ringen wird mit großen Arbeiterbewegungen verbunden 
ſein, mit Arbeiterbewegungen, die nur ins Leben treten infolge 
von Leiden und Not. Dieſe Leiden und die Folgen, die ſich an 
die Leiden des arbeitenden Volkes knüpfen, ſind nicht etwa von 
mir aus abſtrakten Vorderſätzen deduziert, ſondern ſie werden 
bereits gegenwärtig von den arbeitenden Klaſſen vorausgefühlt. 
Denn nicht etwa, weil dieſe Klaſſe à la baisse ſpekuliert, wie 
der Herr Referent geſagt hat, ſondern weil ſie das Vorgefühl 
dieſer kommenden Dinge hat, deshalb nimmt ſie eine negative 
Stellung zu den Experimenten, die Goldwährung zu bejeitigen 
oder an unſerer gegenwärtigen Valuta zu rütteln, ein. 

Ich habe bisher lediglich gegen die bimetalliſtiſche Union 
ohne England geſprochen und will nunmehr mit einigen Worten 
auf die Eventualität einer ſolchen Union mit England ein⸗ 
gehen. Ich darf in dieſer Beziehung kurz ſein, weil dieſer Fall 
meiner Überzeugung nach in abſehbarer Zeit nicht eintreten 
wird und zwar nicht eintreten wird auf Grund von Erfahrungen, 
die die bimetalliſtiſche Agitation bisher in England gemacht hat. 
Wenn einer der verehrten Herren nach England hinübergereiſt 
iſt und mit einem Bimetalliſten dort geſprochen hat und dann 
ſagt: ja, in der nächſten Zeit wird ſich auch in England die 
allgemeine Meinung dem Bimetallismus zuwenden, ſo hat ein 
ſolcher Ausſpruch doch, ſo ſehr ich auch die Anſichten dieſes 
Herrn ſonſt ſchätze, außerordentlich wenig Bedeutung; er ſteht auf 
der gleichen Höhe wie ſ. Z. das Urteil des früheren amerikani⸗ 
ſchen Geſandten in Berlin, der durch ſeinen Verkehr mit einigen 
Herren der Fortſchrittspartei die Überzeugung gewonnen hatte, 
daß ganz Deutſchland freihändleriſch geſinnt ſei und daß es nur 
der böſe Reichskanzler ſei, der dieſe wahre Geſinnung des deut⸗ 
ſchen Volkes nicht zum Ausdruck kommen laſſe. 

Man kann mir nun aber entgegnen: Deine Anſicht iſt auch 


* 


Fur Währungsfrage. 249 


Ag nicht mehr wert wie die jenes eben angeführten Herrn. Das 


iſt ja an ſich richtig, aber für meine Anſicht erlaube ich mir, 
mich auf einen hervorragenden Bimetalliſten in England, Herrn 
Gibbs, zu beziehen. Herr Gibbs ſpricht ſich in einem an 
Herrn Dr. Arendt gerichteten Briefe vom 5. Juni 1884 fol- 
gendermaßen aus: 

„Ich habe überreichlich Gelegenheit gehabt zu er— 
fahren, ſowohl was unſere Staatsmänner über den 
Gegenſtand der Doppelwährung denken, als was das 
vorherrſchende Gefühl in England iſt, und ich bin ſicher, 
daß, zumeiſt aus Unkenntnis, aber in einigen Fällen 
aus ehrlicher und mißleiteter Überzeugung, meine Lands— 
leute im allgemeinen, in vollem Ernſte, der Einführung 
der Doppelwährung abgeneigt ſind.“ 

Nun wird geſagt, dem deutſchen Reichskanzler, der es in 
ſehr geſchickter Weiſe verſtanden hat, die engliſche Regierung zum 
Nachgeben in der Kolonialfrage zu bewegen, werde es auch ge— 
lingen, England zum Eintritt in einen ſolchen Bund zu beſtimmen. 
Ich halte dieſen Schluß für unrichtig und möchte mir erlauben, 
auf die ganz verſchiedene Natur dieſer beiden Dinge hinzuweiſen. 
Als Deutſchland das Gebiet der Kolonialpolitik betrat, zog es 
einfach aus ſeiner Machtſtellung in Europa die Konſequenz für 
ſeine Weltbeziehungen. England hatte damals nur zu dulden, 
daß dieſes geſchah, hatte ſich nur des Handelns zu enthalten. 
Ein Beitritt Englands zum Währungsbunde würde aber von 
England ein Thun verlangen auf dem Gebiete der inneren 
Politik, auf dem jeder Staat aufs eiferſüchtigſte ſeine Auto— 
nomie wahrt. 8 

Ich glaube deshalb, daß auf einen Erfolg gar nicht zu rechnen 
iſt, und bin feſt überzeugt, daß der Herr Reichskanzler einen 
Schritt in dieſer Richtung nicht thun wird, weil er es nicht gewohnt 
iſt, Anregungen zu geben, die keinen Erfolg haben. Und weil ich 
dieſen Glauben habe, ſo finde ich es nicht entſprechend dem Anſehen 
und der Würde dieſer Verſammlung, die doch nicht irgend ein 
Bauernverein, ſondern die höchſte Repräſentation der deutſchen 


Ba 


250 Sur Währungsfrage. 


Landwirtſchaft iſt, etwas zu verlangen, was nur ein Schlag 
ins Waſſer wäre. 

Ich komme jetzt ſchließlich auf den Punkt 1 des Antrags des 
Herrn Referenten zu ſprechen. Dieſer Antrag iſt mir ſeinem mate⸗ 
riellen Inhalt nach ſympathiſch, und ich habe im weſentlichen ein 
ähnliches Poſtulat in meinen Antrag aufgenommen. Nur wider⸗ 
ſtrebt es mir, zu verlangen, daß die verbündeten deutſchen Re⸗ 
gierungen die Anregung dazu geben ſollen, daß andere Staaten 
einen Bund ſchließen. Ich halte es nämlich nicht für thunlich, 
daß eine Regierung, die ſelbſt nicht gewillt iſt einem ſolchen 
Bund beizutreten — und das jagt ja der erſte Antrag —, eine 
andere Regierung veranlaſſe, etwas zu thun, was auch ihr Vor⸗ 
teil bringt, was ſie aber ſelbſt nicht thun will, indem ſie ſich nur 
darauf beſchränkt, gewiſſe Garantieen zu bieten. Dieſe Garantieen 
möchte auch ich geboten ſehen, nur wünſchte ich zugleich abzuwarten, 
bis diejenigen Staaten, die unter dem gegenwärtigen niedrigen 
Preisſtande des Silbers in viel höherem Grade leiden als wir, bereit 
ſind, einen ſolchen Bund zu gründen. Dadurch würde vermieden, 
daß, wenn die Deutſche Regierung eine ſolche Anregung giebt, 
man ihr den Vorwurf macht: warum machſt du die Sache nicht 
ſelbſt? du hältſt ſie für ſo prekär, daß du es nicht thuſt, und 
muteſt es uns zu! — In Bezug hierauf muß auf die gegenwärtige 
Situation mit einigen Worten eingegangen werden. 

Die Staaten der lateiniſchen Münzunion ſehen auf Deutſch⸗ 
land und warten ab, welche Maßregeln Deutſchland ergreifen 
wird. Setzen wird dieſe Staaten matt, indem wir ihnen gegenüber 
das gleiche Verfahren einſchlagen! Sie ſind die am meiſten 
Leidenden und müſſen deshalb den erſten Schritt thun. Warten 
wir dies alſo ab! Das Abwarten halte ich auch deshalb für 
zweckmäßig, weil derjenige, der eine beſtimmte Angelegenheit an⸗ 
regt, jedenfalls größere Konzeſſionen machen muß als derjenige, 
der die Anregung von außen abwartet. Wenn ich nicht irre, 
iſt dieſer Geſichtspunkt auch von dem Herrn Reichskanzler in einer 
Sitzung des Reichstags zur Geltung gebracht worden. 

Hieran anknüpfend bemerke ich nur noch, daß ich den größten 


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Fur Währungsfrage. 251 


IE Wert darauf lege, daß die von uns ſeit 1873 errungene 


günſtige Währungspoſition nicht leichtfertig preisgegeben, ſondern 
daß an derſelben feſtgehalten werde, weil ich die Befürchtung 
hege, daß das Hinzutreten zu einem ſolchen Bunde uns im 
Falle eines Krieges in unſerer monetären Potenz bedeutend 
ſchlechter ſtellen würde, als wir gegenwärtig ſtehen. 

Und nun gelange ich zum Schluß. Ich thue dies mit dem 
Ausdruck des Bedauerns darüber, daß ich mich in dieſer hoch— 
wichtigen Frage von einer Anzahl verehrter Kollegen trennen 
muß, mit denen ich in den letzten Jahren im Landesökonomie⸗ 
kollegium Hand in Hand gegangen bin, um gegenüber den viel- 
fach falſchen Anſichten die gegenwärtige kritiſche Lage der Land— 
wirtſchaft klar zu ſtellen. Auch heute, und heute mehr als je, 
erkenne ich dieſe ſchwierige Lage voll und ganz an. 

Fordern Sie daher vom Staate, was er Ihnen nur immer 
gewähren kann, fordern Sie aber nur, was Ihnen wirklich hilft 
ohne zugleich andere große Klaſſen zu ſchädigen; fordern Sie 
namentlich aber nicht, was dem Staat unüberſehbare Verlegenheiten 
bereiten kann! 

Infolge dieſes Korreferats wurde die von dem Korreferenten 
beantragte Reſolution, nach erfolgter Streichung eines Teils der 
von demſelben vorgeſchlagenen Motive, zum Beſchluß erhoben. 
Dieſelbe lautete folgendermaßen: 

In Erwägung, daß die Richtung, welche die Währungs⸗ 
politik der infolge der Silberentwertung am meiſten bedrängten 
Staaten nehmen wird, ſich zur Zeit noch nicht überſehen läßt, 
erklärt der Deutſche Landwirtſchaftsrat: 

1. daß es für das Deutſche Reich zur Zeit angemeſſen er- 
ſcheint, an der bisher eingenommenen abwartenden 
Stellung einſtweilen feſtzuhalten, 

2. daß das Deutſche Reich erſt, wenn eine größere Klärung 
der Sachlage eingetreten, darüber entſcheiden möge, ob 
es die Veräußerung ſeiner ſilbernen Courantmünzen 
wieder aufnehmen oder ob es dieſen Münzen eine andere 
Verwendung im innern Verkehr geben will, und 


252 


Zur Währungsfrage. 


3. daß, falls die durch die Silberentwertung am meiſten 
bedrängten Staaten ihrerſeits außer ordentliche 
Maßregeln zum Zweck der Hebung des Silberpreiſes 
zu ergreifen die Abſicht hätten, das Deutſche Reich das 
Zuſtandekommen derſelben, womöglich nach vorher mit 
England getroffener Verſtändigung, in der von den 
Vertretern des Deutſchen Reiches auf der Pariſer Münz⸗ 
konferenz von 1881 vorbezeichneten Richtung fördern 
möge. 


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X. 


Das ländliche Genollenſchaftswelen 
in Preußen. 


Korreferat für das Preuß. Landesökonomie-Kollegium. 
November 1887. 


Meine Herren! Der Herr Vorſitzende hat bereits ſeinem 
Bedauern darüber Ausdruck gegeben, daß der Herr Referent 
verhindert iſt, heute unter uns zu erſcheinen. Dieſes Bedauern 
wird auch von mir in hohem Grade geteilt, weil ich in die 
unangenehme Lage verſetzt bin, eine Lücke auszufüllen, zu deren 
Ausfüllung ich nicht genügend vorbereitet bin. Ich werde mich 
daher darauf beſchränken müſſen, Ihnen auf Grund des vor— 
liegenden Referats des abweſenden Herrn Referenten und auf 
Grund von mir eingezogener Nachrichten einiges mitzuteilen. Ich 
bitte, mein Referat aber nur aufzufaſſen als einen allgemeinen 
Überblick, der eine Vervollſtändigung und Vertiefung erſt durch 
die Mitteilungen aus der Praxis, die Sie, meine Herren, geben 
werden, zu erhalten haben wird. 

Das landwirtſchaftliche Genoſſenſchaftsweſen iſt ein Gegen— 
ſtand, der zu denjenigen gehört, welche im Zuſammenhang mit 
einer ganzen Reihe von anderen Einrichtungen wohl im ſtande 
ſind, weſentliches für die Landwirtſchaft in ihrem gegenwärtigen 
kritiſchen Zuſtande zu leiſten. Die Effekte, die im einzelnen von 
dieſen Einrichtungen ausgehen, ſind ja nicht ſehr groß, aber durch 


254 Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen. 


ihre Summierung wird man vielleicht mehr erzielen können als 
durch einzelne andere Maßregeln — wie z. B. die Erhöhung der 
Schutzzölle u. ſ. w. —, die vielleicht ſehr effektvoll ſcheinen, aber 
es ſchließlich doch nicht ſind. 


Wenn die gegenwärtige Kriſis ſich dahin charakteriſieren läßt, 


daß die Grundrente mehr oder weniger ſtark im Fallen begriffen 
iſt, und zwar infolge der Depreſſion der Preiſe für die landwirt⸗ 
ſchaftlichen Produkte, ſo iſt durch die Genoſſenſchaften das Mittel 
gegeben, dieſe Grundrente nach der einen oder anderen Seite 
wiederum etwas zu heben, ſei es nun dadurch, daß die Produk⸗ 
tionskoſten vermindert werden, oder dadurch — was namentlich 
für die An und Verkaufsgenoſſenſchaften gilt —, daß ein Teil des 
Gewinns, der ſonſt in die Taſche der Zwiſchenhändler fließt, von 
den Landwirten zurückbehalten wird. 

Der Herr Vorſitzende, der ſich das große Verdienſt er⸗ 
worben, als Mitglied des Landesökonomie-Kollegiums dieſe 
Frage in Anregung gebracht zu haben, hat es durch ſeinen Frage⸗ 
bogen in ſehr zweckmäßiger Weiſe vermieden, daß nicht de rebus 
omnibus et quibusdam aliis diskutiert werde, indem er in 
demſelben von vornherein aus dem großen Komplex der Genoſſen⸗ 
ſchaften einzelne Gruppen ausgeſchieden hat, nämlich diejenigen, 
die einer Specialgeſetzgebung unterſtehen und eine beſondere ſtaat⸗ 
liche Unterſtützung genießen; ferner die Kreditgenoſſenſchaften, 
die ja beſſer im Zuſammenhange mit der Kreditorganiſation be⸗ 
behandelt werden, und die Konſumvereine, inſofern ſie ſich darauf 
beſchränken, Organiſationen von Konſumenten zu ſein, welche 
möglichſt wohlfeil und in guter Qualität ſich diejenigen Artikel 
verſchaffen wollen, die zur Befriedigung ihrer perſönlichen 
Bedürfniſſe erforderlich ſind. 

Wenn man dieſe Genoſſenſchaftskategorieen ausſcheidet, ſo 
bleiben für die heutige Beſprechung hauptſächlich zwei Gruppen 
übrig: die Produktivgenoſſenſchaften und die An- und Verkaufs⸗ 
genoſſenſchaften. Dieſe letzteren Genoſſenſchaften haben nun, wie 
ich ſchon anzudeuten mir erlaubte, den Vorzug, daß ſie die 
Möglichkeit gewähren, die Grundrente, wenn auch nur um ein 


Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen. 255 


geringes, zu erhöhen. Sie haben aber außerdem für den mitt— 
leren und kleinen Grundbeſitzerſtand eine große pädagogiſche Be— 
deutung, indem ſie den Bauernſtand zu einer beſſeren Geſchäfts— 
führung erziehen: ſie zwingen ihn, diejenigen Waren, die er kauft, 
ſich auf ihre Preiswürdigkeit näher anzuſehen und zu prüfen; 
ſie zwingen ihn, bei denjenigen Waren, die er für den Markt 
herſtellt, ſich möglichſt den Bedingungen des Marktes anzupaſſen, 
ſeiner Produktion alſo eine möglichſt rationelle Richtung zu geben; 
ſie entwöhnen ihn ferner einer Iſolierung, die ja dem Bauern 
auf dem Gebiete des Kreditweſens ſo ſehr ſchadet und die Vor— 
bedingung ſeiner Ausbeutung durch den Wucher iſt. Ja dieſer 
pädagogiſche Einfluß der Genoſſenſchaften iſt vielleicht noch größer 
und wertvoller als der auf die Erhöhung der Grundrente gerichtete. 

Meine Herren, ich ſagte, es ſtehen heute zwei Gruppen von 
Genoſſenſchaften zur Diskuſſion. Was die erſte Gruppe betrifft, ſo 
wird ſie durch die Produktivgenoſſenſchaften gebildet. Innerhalb 
derſelben muß man wieder die General- von den Special-Produktiv⸗ 
genoſſenſchaften unterſcheiden. Erſtere ſind ſolche, welche den ganzen 
Einzelbetrieb aufſaugen. Nach geſchehener Umfrage kann kon— 
ſtatiert werden, daß, wenn die Antworten vollſtändig ſein ſollten 
— was ſie allerdings wahrſcheinlich nicht find —, ſolche General- 
Produktivgenoſſenſchaften auf dem Gebiete der Landwirtſchaft 
innerhalb der preußiſchen Monarchie nicht vorkommen. Wenn 
ausnahmsweiſe für die Provinz Sachſen angeführt wird, daß dort 
eine Rübenbau⸗ und Zucker⸗Produktivgenoſſenſchaft beſteht, jo iſt 
das keine General-Produktivgenoſſenſchaft; fie muß daher an 
einen andern Ort verwieſen werden. 

Dagegen iſt die Zahl der ſogenannten Special-Produktiv⸗ 
genoſſenſchaften keine geringe. Das Weſen derſelben beſteht 
darin, daß der mittlere und kleine Grundbeſitz und ſein Betrieb 
in dem ſchweren Kampf, den er mit denjenigen Faktoren, die 
ihm überlegen find, mit dem Großbetrieb und Großkapital 
zu führen hat, ſich in denjenigen ſpeciellen Punkten, in denen 
er ſchwach iſt, durch die Verbindung mit ſeinesgleichen zu 
ſtärken ſucht. Es geht alſo hier nicht der ganze Einzelbetrieb 


256 Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen. 


in dem genoſſenſchaftlichen Betrieb auf, ſondern der Einzel⸗ 
betrieb bleibt im großen und ganzen beſtehen und verbindet ſich 
nur in denjenigen Punkten und Richtungen, wo er ſich dem Groß- 
kapital und Großbetrieb gegenüber ſchwach erweiſt, mit verwandten 
Betrieben und ſucht hier etwas Ahnliches auf künſtlichem Wege 
zu erzielen, was gleichſam naturgemäß durch den Großbetrieb 
gegeben iſt. Dieſe ſpeciellen Produktivgenoſſenſchaften oder Er⸗ 
gänzungsgenoſſenſchaften, wie man ſie wohl nicht unrichtig auch 
genannt hat, ſind nun entweder beſchränkt auf einzelne Punkte 
der Produktion oder es verbindet ſich mit dem Produktionszwecke 
auch die Sorge für den Abſatz, ſo daß die in der Genoſſenſchaft 
produzierten Gegenſtände zugleich von der Genoſſenſchaft abgeſetzt 
werden. 

Was nun zunächſt die ausſchließlichen Special-Produktiv⸗ 
genoſſenſchaften betrifft, ſo ſind hier zu nennen die Dampf⸗ 
dreſchgenoſſenſchaften, die einige Verbreitung haben, über die 
aber nicht ſehr viele Urteile vorliegen, und ſodann eine Reihe 
von Genoſſenſchaften, die ſich auf die Viehzucht, namentlich auf 
die Veredelung der Viehraſſen u. ſ. w. beziehen. In dieſer Be⸗ 
ziehung möchte ich die Herren auf einen ſehr wertvollen Beitrag 
hinweiſen, den Herr Geh. Rat Settegaſt dem Kollegium in einer 
Denkſchrift geliefert hat, welche ſich über den außerordentlichen 
Wert, den die Erhaltung reiner, konſtanter Viehraſſen für den Land⸗ 
wirt hat, verbreitet. Ich bedauere, daß dieſe Denkſchrift nicht 
gedruckt worden iſt; denn ſie enthält des Lehrreichen viel. Herr 
Geh. Rat Settegaſt führt unter andern auch eine Reihe von 
Genoſſenſchaften an, die in der von ihm angegebenen Richtung 
ſehr zweckmäßig wirken könnten. Aus den uns vorliegenden 
Berichten läßt ſich mit Genugthuung konſtatieren, daß eine 
große Anzahl ſolcher Genoſſenſchaften bereits exiſtiert. So ſind 
über alle Provinzen der Monarchie die Zuchtſtiergenoſſenſchaften 
in großer Zahl verbreitet; ſie erhalten entweder eine Sub⸗ 
vention des Staates oder der Provinz, oder beſtehen auch ohne 
Subvention. Mit dieſen Zuchtſtiergenoſſenſchaften — die, wie 
ich ſehe, nur in Hohenzollern nicht vorkommen, aber dort erſetzt 


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Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen. 257 


werden durch die Gemeinden, ſo daß das Reſultat weſent— 
lich dasſelbe ſein dürfte — verbinden ſich nun in einigen Pro— 
vinzen Verſicherungsverbände, welche zum Zweck haben, die 
Verſicherung gegen Viehſterben ꝛc. zu übernehmen. Solche Ber: 
bände liegen ebenfalls vor in einer Reihe von Provinzen. Es 
ſind ſodann noch zu erwähnen einige Vereine, welche zwar keine 
eigentlichen Genoſſenſchaften ſind, aber doch die Verbeſſerung der 
Zucht von Rindvieh, Pferden und Schafen zum Zweck haben. 
Für Pferde exiſtieren ſolche Verbände namentlich in Oſt- und 
Weſtpreußen, Pommern, Schleſien und Weſtfalen, für Rindvieh 
in Oſtpreußen, Schleswig-Holſtein, Weſtfalen ꝛc., für Schafe 
namentlich in Schleſien. 

Von dieſen ausſchließlichen Special-Produktivgenoſſenſchaften 
gelange ich nun zu den gemiſchten Produktivgenoſſenſchaften 
d. h. zu denjenigen, welche zugleich Abſatzgenoſſenſchaften ſind; 
hier ſind zu erwähnen die Brennereigenoſſenſchaften, von denen 
vier in der Provinz Brandenburg beſtehen. Es iſt ferner 
zu erwähnen, daß auch in Schleſien der Verſuch mit einer 
Brennereigenoſſenſchaft gemacht worden, hier aber geſcheitert 
iſt. Es iſt ſodann zu erinnern an die bereits erwähnte Rübenbau⸗ 
und Zucker⸗Produktivgenoſſenſchaft in der Provinz Sachſen. 
Endlich zeichnet ſich neuerdings namentlich die Rheinprovinz 
durch ein ganzes Netz ſolcher Produktivgenoſſenſchaften aus, die 
der Produktion ſowie dem Abſatz dienend dort eine bedeutende 
Rolle zu ſpielen ſcheinen, es find das namentlich kleinere Mühlen-, 
Winzer⸗ und Tabaksbaugenoſſenſchaften. 

Die wichtigſte Art dieſer gemiſchten Produktivgenoſſen⸗ 
ſchaften ſind aber die Molkereigenoſſenſchaften. Sie unterſcheiden 
ſich untereinander danach, ob ſie zugleich die Magermilch ver— 
arbeiten und zum Verkauf bringen oder nach Gewinnung der 
Butter, des Käſes ꝛc. die Magermilch den betreffenden einzelnen 
Genoſſenſchaftsmitgliedern wieder zurückgeben. Auch dieſe Ge- 
noſſenſchaften ſind über die ganze Monarchie verbreitet; ja ſie 
kommen in einzelnen Provinzen in ſehr großer Zahl vor. Soviel 


ich ſehe, exiſtieren nur zwei Provinzen, in denen ſie nicht vorhanden 
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 17 


258 Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen. 


ſind. In den übrigen Provinzen wird nicht über eine zu geringe 
Zahl, ſondern zum Teil, wie in Hannover und Schleswig⸗Hol⸗ 
ſtein, über eine zu große Zahl derſelben geklagt. Im übrigen 
iſt das Urteil über dieſe Molkereigenoſſenſchaften ſehr günſtig. 

Ich komme jetzt auf die zweite große Gruppe von Genoſſen⸗ 
ſchaften, die An- und Verkaufsgenoſſenſchaften, alſo diejenigen Ein⸗ 
richtungen zu ſprechen, welche den Handel, der ſich zwiſchen Produ⸗ 
zenten und Konſumenten einſchiebt, einzuengen ſuchen. Sie geſtatten 
mir vielleicht bei dieſer Gelegenheit einen kleinen Exkurs, um zu 
zeigen, daß die Bewegung für die Begründung von landwirtſchaft⸗ 
lichen An- und Verkaufsgenoſſenſchaften, wie ſie namentlich im 
Süden und Weſten ſehr ſtark iſt, nicht eine iſolierte, ſondern eine 
allgemeine über ganz Europa hinaus verbreitete Erſcheinung iſt. 

Infolge der außerordentlichen Verbeſſerung der Verkehrswege 
und -mittel, die ſich gleichmäßig auf den Güter⸗, Perſonen⸗ und 
Nachrichtenverkehr bezieht, zeigt ſich überall das Beſtreben, die 


zahlreichen Zwiſchenglieder, die ſich zwiſchen Konſumenten und 


Produzenten eingeſchoben haben, ich will nicht ſagen: ganz zu 
eliminieren, denn das iſt unmöglich, wohl aber ſie ihrer Zahl 
nach zu beſchränken. Dadurch gerät auch diejenige Bevölkerung, 
die das Handelsgewerbe treibt, in eine ſchwierige Lage. Es gilt 
das ſowohl vom überſeeiſchen Handel, der die Weltteile verbindet, 
wie von dem großen Binnenhandel und namentlich von dem 
Detailhandel. | 

Was den überſeeiſchen Handel betrifft, jo kaufte — um 
Ihnen an einem Beiſpiel zu zeigen, um was es ſich handelt — 
früher der ſchleſiſche Lederhändler ſeine Ware aus Oſtindien, 
aber doch nicht vom oſtindiſchen Händler direkt, ſondern 
von dem Hamburger Händler; dieſer ſtand mit einem Londoner 
Hauſe und das Londoner Haus mit dem indiſchen Händler 
in der Seeſtadt und der letztere wieder mit dem Händler im 
Binnenlande in Verbindung, der ſeinerſeits endlich die Hand 
dem Produzenten reichte. Alle dieſe verſchiedenen Händler wollten 
natürlich einen entſprechenden Gewinn machen. Infolge des er- 
leichterten Sachgüter-, Nachrichten- und Perſonenverkehrs nun, 


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Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen. 259 


infolge der Möglichkeit, ſich ſchnell zu ſehen, zu ſprechen oder 
durch den Telegraphen zu verſtändigen, ſind jetzt eine Anzahl 
von Zwiſchengliedern ausgefallen, ſo daß der ſchleſiſche Händler 
jetzt direkt mit dem indiſchen Produzenten oder dem indiſchen 
Kaufmann und zwar per Telegraph verkehrt, indem er ſich zum 
Zweck der Effektuierung des abgeſchloſſenen Handels nur einer 
Mittelsperſon oder eines Mittelsinſtituts, eventuell des Spedi— 
teurs, Bankiers u. ſ. w. bedient. 

Eine ähnliche Tendenz beſteht auch im Binnenhandel und zwar 
ſowohl im Engros⸗ wie im Detailhandel, indem auch hier der 
Konſument ſich möglichſt direkt mit dem Produzenten in Beziehung 
zu ſetzen ſucht. Namentlich gegen den Detailhandel iſt in der 
Gegenwart eine mächtige Strömung gerichtet. Dieſelbe gelangt 
zum Ausdruck in einer Reihe von Inſtituten: in den Konſumver⸗ 
einen, die nichts anderes ſind als organiſierte Konſumenten, welche 
den Gewinn, den der Zwiſchenhändler genießt, ſich ſelbſt zuführen 
und zugleich dafür ſorgen, daß ſie gute Waren erhalten; in den 
großen bazarähnlichen Magazinen, wie ſie namentlich einen ſehr 
günſtigen Boden in Frankreich finden, indem der Detailhandel in 
denſelben verbunden iſt mit einem großen Beſitz und großem Betrieb, 
wodurch die Möglichkeit gegeben iſt, die beſten Bezugsquellen zu 
benutzen, billig einzukaufen und an Generalkoſten zu ſparen und 
dadurch wieder den Konſumenten eine gute Ware zu wohlfeilem 
Preiſe zu liefern; endlich gehören auf landwirtſchaftlichem Gebiet 
die ſogenannten An⸗ und Verkaufsgenoſſenſchaften, die ebenfalls 
den Detailhandel einzuſchränken ſuchen, hierher. Es liegt in den⸗ 
ſelben alſo nichts Singuläres, ſondern nur die Anwendung einer 
allgemeinen Erſcheinung auf ein ſpecielles Gebiet vor. 

Was zunächſt die Abſatzgenoſſenſchaften betrifft, ſo habe 
ich dieſelben, ſoweit fie mit den Produktivgenoſſenſchaften kom- 
biniert erſcheinen, bereits erwähnt. Namentlich die weitver- 
breiteten Molkereigenoſſenſchaften ſind ja zugleich auch Abſatz— 
genoſſenſchaften. Außerdem giebt es aber noch Genoſſenſchaften, 
die ſich nur mit dem Handel beſchäftigen, die ſich alſo darauf 


beſchränken, die im Einzelbetrieb fertiggeſtellte Ware zu verkaufen. 
17° 


260 Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen. 


Es bezieht ſich dies namentlich auf das Vieh; und hier muß 
konſtatiert werden, daß in Preußen in dieſer Beziehung noch 
außerordentlich wenig geſchehen iſt und daß unſer Vaterland in 
dieſer wichtigen Frage hinter einer Reihe anderer Staaten zurück⸗ 
ſteht. Während nämlich die Viehabſatzgenoſſenſchaften im Süden, 
ſpeciell in Heſſen, dem klaſſiſchen Lande des Genoſſenſchaftsweſens, 
aber auch in Oldenburg große Verbreitung haben, iſt man bei 
uns in dieſer Beziehung noch ſehr im Rückſtande. Es iſt das 
Verdienſt unſeres Vizepräſidenten, des Herrn v. Hammerſtein, 
daß er nach dem Muſter eines Oldenburger Vorgangs in Berſen⸗ 
brück eine Viehabſatzgenoſſenſchaft gegründet hat, die, ſoviel man 
aus den Rechnungsabſchlüſſen erſehen kann, gute Reſultate er⸗ 
giebt; ferner gehört hierher die Oſtfrieſiſche Viehausfuhrgenoſſen⸗ 


ſchaft. Damit iſt aber auch, wenn die Berichte vollſtändig ſind, Be 


alles erſchöpft, was ſich über dieſen Gegenſtand jagen läßt. 
Beſſer ſteht es mit den Ankaufsgenoſſenſchaften, die ſich nicht 
nur dem Namen, ſondern auch dem Weſen nach von den ſoge⸗ 
nannten Konſumvereinen dadurch unterſcheiden, daß ſie nicht für 
den Ankauf von Gegenſtänden des perſönlichen Bedarfs, ſondern 
von Gegenſtänden, die für die landwirtſchaftliche Pro⸗ 
duktion erforderlich ſind, wie z. B. Saat, künſtliche 
Düngemittel, Kraftfutter u. ſ. w., ſorgen. Solche Genoſſenſchaften 
exiſtieren nun in allen Provinzen. Am wenigſten ſtark vertreten 
ſcheinen ſie zu ſein in Poſen, Pommern, Sachſen, Hohenzollern, 
Weſtfalen; ſtärker vertreten ſind ſie in Oſtpreußen, Schleſien, 
Heſſen und am ſtärkſten in Hannover, Schleswig⸗Holſtein, Naſſau 
und in der Rheinprovinz. Die erſte Aufgabe dieſer Genoſſen⸗ 
ſchaften beſteht darin, die betreffenden Waren in einem guten, 
dem Bedürfnis wirklich entſprechenden Zuſtande den Konſumenten 
zu liefern, alſo namentlich eine keimfähige Saat u. ſ. w. Zu 
dieſem Zwecke werden die Waren vor ihrem Ankauf unterſucht. 
Es leitet dieſe Genoſſenſchaften ferner das Beſtreben, die Waren 
möglichſt wohlfeil zu liefern; und wenn man das kleine Büch⸗ 
lein anſieht, welches aus der Feder des Herrn v. Mendel, des 
jetzigen Generalſekretärs des landwirtſchaftlichen Vereins der 


Be er 
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Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen ki Preußen. 261 


Provinz Sachſen, ſtammt, ſo wird man finden, daß von den 
Vereinen in einzelnen Fällen außerordentliche Vorteile für ihre 
Mitglieder erzielt worden ſind. Neben dieſen beiden Funktionen, 
eine unverfälſchte, den Bedürfniſſen entſprechende Ware billig zu 
beſchaffen, haben die Einkaufsgenoſſenſchaften der Rheinprovinz 
noch das Verdienſt, eine dritte Funktion übernommen zu haben: 
ſie lehren ihren einzelnen Mitgliedern nämlich zugleich die Be— 
nutzung dieſer Waren im landwirtſchaftlichen Betriebe, alſo 
namentlich des Saatkorns und der künſtlichen Düngemittel u. ſ. w., 
und kontrollieren zugleich die einzelnen Abnehmer in der Ber- 
wendung der gekauften Ware. 

Wenn ich ſagte, daß dieſe Genoſſenſchaften nicht in allen 
Provinzen gleichmäßig verbreitet ſind, ſo verlangt die Gerechtig— 
keit doch hervorzuheben, daß dort, wo ſie weniger entwickelt 
ſind, für ſie ein Surrogat beſteht, welches entweder darin gegeben 
iſt, daß einzelne Landwirte ſich ad hoc für den Ankauf be⸗ 
ſtimmter Waren zuſammenthun und dann die Verbindung wieder 
löſen, nachdem die Waren angekauft und verteilt ſind, oder 
darin, daß die landwirtſchaftlichen Vereine die Funktion ſolcher 
Genoſſenſchaften übernehmen, oder endlich darin, daß andere 
Vereine, wie z. B. in Weſtfalen der Bauernverein, dasſelbe 
thun. Wenn ich alſo bemerkte, in Weſtfalen ſeien die Ankaufs⸗ 
genoſſenſchaften wenig verbreitet, ſo ſoll das nicht heißen, daß 
die Vorteile derſelben den weſtfäliſchen Bauern nicht zu gute 
kommen, ſondern nur, daß dort die Funktion der Anfaufs- 
genoſſenſchaft von dem Bauernverein übernommen worden iſt. 

Daß man bei Gründung ſolcher Genoſſenſchaften übrigens 
außerordentlich große Schwierigkeiten zu überwinden hat, haben 
wir in Schleſien ſehr deutlich geſehen. Wir haben in Schleſien 
und zwar in der Oberlauſitz vielleicht die blühendſte Anfaufs- 
genoſſenſchaft, die es in Preußen giebt. Die oberlauſitzer Ge⸗ 
noſſenſchaft hat die Landwirte jener Gegend hinſichtlich des Be— 
zugs der betreffenden Waren faſt gänzlich von dem Einzel- 
handel emancipiert, und zwar verdanken wir dieſe Inſtitution 
einem Herrn v. Zaſtrow, der nicht nur ſein außerordentliches 


262 Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen. 


praktiſches Geſchick, ſondern auch ſeine Arbeit jahrelang dieſer 
Genoſſenſchaft gewidmet und ſie auf eine bedeutende Höhe ge⸗ 
hoben hat. 


Herr v. Zaſtrow iſt vor einiger Zeit erſucht worden, in dem 
landwirtſchaftlichen Centralvereine Schleſiens einen Vortrag zu 
halten über die Art, wie er ſeinen Ankaufsverein zu Wege 
gebracht hat. Dieſer Vortrag führte zur Niederſetzung einer 
Kommiſſion, die ein Muſterſtatut mit einer Anleitung für die 
Gründung ſolcher Genoſſenſchaften entwerfen ſollte. Auf Grund 
der oberlauſitzer Erfahrungen wurde nun ein ſolches Statut 
ausgearbeitet und den Ortsvereinen mitgeteilt. Aber trotzdem 
ſeit jener Zeit einige Jahre verfloſſen ſind, hat ſich bis jetzt nur 
in Strehlen ein kleiner Verein gebildet; ein weiterer Erfolg 
iſt nicht zu verzeichnen. Es iſt das ein Beweis, daß es bei 
ſolchen Organiſationen hauptſächlich auf die geeigneten Perſön⸗ 
lichkeiten ankommt. Wenn man dieſelben nicht hat, ſo iſt es 
ſchwer, ein ſolches Beiſpiel anderwärts nachzuahmen. 


Ich glaube, Ihnen damit einen ziemlich vollſtändigen Über⸗ 
blick über das in dem eingegangenen Material Enthaltene ge⸗ 
gegeben zu haben, und es fragt ſich nun, welches Facit ſich aus 
dem Mitgeteilten ziehen läßt. Ich meine mich dahin reſümieren 
zu dürfen, daß wir innerhalb der preußiſchen Monarchie eine 
Reihe verheißungsvoller Anfänge auf dem Gebiete des landwirt⸗ 
ſchaftlichen Genoſſenſchaftsweſens beſitzen. Es ſind das Keime 
zur weiteren Entwickelung, aber im großen und ganzen, abge⸗ 
ſehen von einzelnen Ausnahmen, auch nicht mehr als das. Es 
ſind Keime, die bei günſtigem Wind und Wetter gedeihen und 
reiche Frucht tragen werden. 

Nun fragt es ſich: warum iſt das Wachstum dieſer Keime 
bisher nicht mehr vorgerückt, warum bietet Preußen im Ver⸗ 
gleich mit anderen Staaten des Südens und Weſtens einen 
weniger erfreulichen Anblick? 

Zum Teil liegt das in Faktoren, die ſich nicht beliebig von 
heute auf morgen ändern laſſen, alſo einmal in dem Vorwiegen der 


Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen. 263 


großen Güter im Oſten und in den großen Entfernungen, in 
der wenig dichten Bevölkerung, in dem ſtagnierenden Gemeinde— 
leben u. ſ. w. Das ſind lauter Dinge, die ſich in abſehbarer 
Zeit nicht ändern werden. 

Dagegen giebt es eine Reihe anderer Hinderniſſe, die viel— 
leicht beſeitigt werden können. Zu dieſen Hinderniſſen gehören 
folgende. Es wird faſt in allen Berichten erwähnt, daß die 
unbeſchränkte Solidarhaft der Genoſſen, die ja gegenwärtig für 
alle Genoſſenſchaften, ſoweit ſie ſich dem Geſetz von 1868 unter— 
ſtellen, obligatoriſch iſt, ein Hindernis für das Aufblühen der 
landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften bildet. Namentlich bei uns 
im Oſten, wo, um ein günſtiges Reſultat zu erzielen, auf die 
Kooperation von Mitgliedern verſchiedener Klaſſen, von wohl- 
habenden Leuten und weniger wohlhabenden, gerechnet werden muß, 
ſcheuen ſich die mittleren oder wohlhabenden Klaſſen — wie ich 
glaube: vollſtändig mit Recht —, eine ſolche ſolidariſche Haft 
zu übernehmen, die bei einem eventuellen Deficit vorzugsweiſe ſie 
in Mitleidenſchaft ziehen würde. 

Aber gegen dieſes Hindernis giebt es ein Remedium. Wir 
wiſſen ja alle, daß eine Novelle zum Genoſſenſchaftsgeſetz von 
1868 vorbereitet wird und daß in dieſer Novelle zugleich die 
Möglichkeit vorgeſehen ſein ſoll, neben den Genoſſenſchaften mit 
unbeſchränkter ſolidariſcher Haft auch ſolche mit nur beſchränkter 
Haft zu begründen. Ich glaube alſo, wir können in dieſer Be— 
ziehung das, was kommt, ruhig abwarten und wollen noch den 
Wunſch ausſprechen, daß der Herr Landwirtſchaftsminiſter bei 
der Beratung dieſes Geſetzes ſeinen Einfluß dahin geltend machen 
möge, daß neben der Möglichkeit, ſolche Genoſſenſchaften mit 
beſchränkter Haft zu begründen, für die Genoſſenſchaften mit 
unbeſchränkter ſolidariſcher Haft ihrer Mitglieder das Umlage— 
verfahren obligatoriſch gemacht werde. Es iſt hier früher 


. manches Bedenken ausgeſprochen worden gegen die Genoſſen— 


ſchaften mit beſchränkter Haftbarkeit ihrer Mitglieder. Ich habe 
dieſe Bedenken ſelbſt geteilt und zum Ausdruck gebracht; aber 
fie beziehen ſich meiner Anſicht nach weſentlich oder ausſchließ— 


964 Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen. 


lich auf die Kreditgenoſſenſchaften. Auf die An- und Verkaufs⸗ 
genoſſenſchaften finden ſie keine Anwendung. 

Ein weiteres Hindernis bildet das Feſthalten der Genoſſen⸗ 
ſchaften an der Barzahlung. Es wird geſagt, daß die meiſten An⸗ 
und Verkaufsgenoſſenſchaften von ihren Mitgliedern eine ordent⸗ 
liche Geſchäftsführung und zugleich Barzahlung verlangen; 
die Landwirte ſeien nun aber namentlich in ihrer gegenwärtigen 
Lage nicht im ſtande, dieſer Bedingung zu genügen, weshalb 
ſie ſich von den Genoſſenſchaften zurückhalten. Demgegenüber 
kann auf die Erfahrungen, die in der Oberlauſitz gemacht worden 
ſind, hingewieſen werden. Dort hat man ſich geſagt, daß die 
Forderung der Barzahlung ein ſehr ſchönes Ideal ſei, welches 
aber in der gegenwärtigen Zeit nicht erreicht werden könne. Um 
nun wenigſtens das Mögliche zu erreichen, hat man von dieſem 
ſchroffen Prinzip eine Ausnahme gemacht, indem man den Genoſſen 
Kredit gewährt, aber nur nach ſorgfältiger Prüfung ihres Ver⸗ 
mögenszuſtandes, die dann von Zeit zu Zeit wiederholt wird. 
Die Genoſſenſchaft hat zu dieſem Zweck eine beſondere Kredit⸗ 
kommiſſion eingeſetzt, und es ſind, wie Herr v. Zaſtrow vor einigen 
Jahren in Breslau mitteilte, bisher aus dem Kreditieren keinerlei 
Übelſtände und Verluſte erwachſen. Die Genoſſenſchafter dieſes 
kleinen Landesteils kennen ſich genau genug, um mit großer 
Sicherheit ihre Kreditwürdigkeit gegenſeitig feſtſtellen zu können. 

Sodann wird geklagt über Mangel an Kapital, namentlich 
in der erſten Zeit nach der Begründung einer Genoſſenſchaft, 
und auch über die Schwierigkeit, genügend tüchtige Beamte zu 
finden, welche eine gute Kenntnis der Waren, genug Handels⸗ 
routine beſitzen, u. ſ. w. Über alle dieſe Dinge wird auch im Süden 
geklagt, trotzdem haben die Genoſſenſchaften dort doch eine ſehr 
große Ausdehnung. Man hat dieſes Hindernis im Süden und 
Weſten dadurch zu beſeitigen gewußt, daß man die einzelnen 


lokalen Genoſſenſchaften zu größeren Verbänden zuſammenfaßte. 


Dabei hat ſich denn herausgeſtellt, daß dieſe größeren Ver⸗ 
bände eine breitere Kreditbaſis liefern für ihre Geſchäfte, daß 


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Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen. 265 


es bei größeren Verbänden leichter wird, geeignete Perſonen für 
die Verwaltung zu finden, u. ſ. w. Auf dieſem Wege iſt man 
über mancherlei Schwierigkeiten hinweggekommen, und ich darf 
konſtatieren, daß auch im Norden, wenigſtens auf dem Gebiete 
der Molkerei⸗ und Viehhaltungsgenoſſenſchaften und teilweiſe 
auch auf dem der Ankaufsgenoſſenſchaften, ſolche Verbände be— 
reits beſtehen; jo in Oſt- und Weſtpreußen, in Schleſien ꝛc. 
Bei dieſer Gelegenheit erlaube ich mir, aus einem Briefe, 
welcher mir vor kurzem zugegangen iſt, anzuführen, daß für 
das Deutſche Reich ſeit 1883 ein Geſamtverband der landwirt— 
ſchaftlichen Genoſſenſchaften, der bereits manche günſtige Reſultate 
aufzuweiſen hat, beſteht; dieſer Geſamtverband gliedert ſich 
wieder in Bezirksverbände, zu dieſen Bezirksverbänden ſchließen 
ſich die einzelnen Ortsgenoſſenſchaften zuſammen. Dieſer Ge— 
ſamtverband der landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften zählt in 
Baden 200 und in Heſſen 150 landwirtſchaftliche Ankaufsge— 
noſſenſchaften, in der Rheinpfalz 40, in Osnabrück 36, in 
Schleswig⸗Holſtein 30, in Weſtpreußen 8, in Göttingen 6 u. ſ. w. 
Es wird wohl nicht geleugnet werden können, daß durch einen 
ſolchen Zuſammenſchluß die einzelnen Genoſſenſchaften manche 
Förderung und Unterſtützung erlangen können, was namentlich 
in ſchwierigen Zeiten deutlich hervortreten wird. 

Endlich wird über den Mangel an Initiative unter den 
Landwirten geklagt. Dieſer Mangel an eigner Initiative dürfte 
weniger begründet ſein in dem Mangel an Thatkraft als darin, 
daß die Aufmerkſamkeit der Landwirte heutzutage vorzugsweiſe 
in Anſpruch genommen wird durch Maßregeln, welche man vor 
allem durchgeführt zu ſehen wünſcht, weil man ſich von ihnen 
ein durchgreifenderes Reſultat verſpricht als von der Gründung 
von Genoſſenſchaften. Wenn dieſe Periode des Wartens auf 
Erhöhung der Schutzzölle vorüber ſein und man ſich überzeugt 
haben wird, daß die Schutzzölle wenig geholfen haben, dann 
wird der Landwirt ſeine Aufmerkſamkeit wieder mehr für andere 
Dinge frei haben. Nachdem mittlerweile auch die Novelle zum 


266 Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen. 


Genoſſenſchaftsgeſetz in Kraft getreten ſein wird, dürfte die Ge⸗ 
noſſenſchaftsbewegung dann wieder mehr in Fluß geraten. 

Ich ſchließe, indem ich vorſchlage, daß Sie, wenn Sie mit 
meinen Ausführungen einverſtanden ſein ſollten, eine allgemeine 
Reſolution folgenden Inhalts faſſen mögen: 

„Das Landes Okonomie-Kollegium erklärt: 

Daß es in der Ausbreitung der landwirtſchaftlichen 

Genoſſenſchaften ein weſentliches Förderungsmittel der 

landwirtſchaftlichen Kultur und des landwirtſchaftlichen 

Wohlſtandes erblickt und erſucht 

1. den Herrn Miniſter für Landwirtſchaft, Domänen 
und Forſten die landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften 
in Preußen nach Möglichkeit zu fördern und zu 
dieſem Zwecke dahin wirken zu wollen, daß durch 
die Reviſion des Genoſſenſchaftsgeſetzes vom 4. Juli 
1868 die Begründung von Genoſſenſchaften mit be⸗ 
ſchränkter Haftbarkeit ermöglicht und für die Ge- 
noſſenſchaften mit unbeſchränkter Haftbarkeit eine der 
Beſtimmung des $ 24 des Preußiſchen Geſetzes, be⸗ 
treffend die Bildung der Waſſergenoſſenſchaften, ähn⸗ 
liche Beſtimmung getroffen werde, und 

2. den Herrn Vorſitzenden, die Frage des landwirtſchaft⸗ 
lichen Genoſſenſchaftsweſens nach gehöriger Vorbe— 
reitung derſelben auf die Tagesordnung einer der 
nächſten Sitzungen ſetzen zu wollen.“ 

Zu dieſen Förderungsmitteln iſt noch zu rechnen eine Maß⸗ 
regel, die ich nicht ausdrücklich in meinen Antrag aufgenommen 
habe. Es werden nämlich von einzelnen Staatsregierungen zum 
Teil nicht ganz unbedeutende Summen zum Zweck der Beleh⸗ 
rung über und der Agitation für die Genoſſenſchaften ausge⸗ 
worfen. In Heſſen werden z. B. den Genoſſenſchaften jährlich 
2500 Mark ſeitens der Staatskaſſe zur Dispoſition geſtellt, in 
Baden 1000 Mark, in Württemberg, wenn ich recht unterrichtet 
bin, 3000 Mark u. ſ. w. Es wäre alſo, ohne daß ich hier aus⸗ 
drücklich ein gleiches Petitum ausſpreche, der Herr Miniſter zu 


r 


ndwi riſchaftlichen Genoſſenſchaftsweſen ſeine Aufmerksamkeit 
und alle Mittel, welche bie Ausbreitung desſelben . 


XI. 


Die Erhöhung der landwirkſchaftlichen 
Sıhukzöle, 


Votum im deutſchen Landwirtſchaftsrat. November 1887. 


Meine Herren! Es iſt mir zweifelhaft geweſen, ob in einer 
ſo eminenten Intereſſenfrage, wie diejenige es iſt, die Sie ſoeben 
beſchäftigt, ein materiell durchaus Unintereſſierter das Wort er⸗ 
greifen dürfe. Indeſſen iſt mir geſagt worden, daß es für Sie 
von Wert ſein könnte, zu hören, wie ſich die Dinge in dem 
Kopfe eines Unbeteiligten abſpiegeln, eines Unbeteiligten, der 
gleichwohl Ihren Beſtrebungen eine lebhafte Sympathie ent⸗ 
gegenbringt. 

Was die gegenwärtige kritiſche Situation der Landwirt⸗ 
ſchaft anbetrifft, ſo kann man ſie und ebenſo die Mittel zu 
ihrer Abhülfe in verſchiedener Weiſe auffaſſen. Man kann ſich 
entweder auf den ſchroffen Intereſſenſtandpunkt eines Standes 
ſtellen und dabei ausſchließlich die Gegenwart im Auge haben; 
man kann ferner ausſchließlich die materiellen Intereſſen betonen 
und dabei von dem Schaden abſehen, den die rückſichtsloſe Ver⸗ 
folgung dieſer Intereſſen dem Anſehen der Landwirte zufügen 
wird. Oder man kann dieſe Intereſſen im Zuſammenhange mit 
den Intereſſen der übrigen Stände würdigen, dabei zugleich auch 
das Intereſſe der Zukunft im Auge behalten und neben den 
materiellen Intereſſen der Landwirte auch Rückſicht nehmen auf 


Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 269 


die Stimmung der übrigen Bevölkerung, die der Landwirt 
auf die Dauer nicht ohne Schaden für ſich ſelbſt außer acht 
laſſen darf. 

Die gegenwärtige landwirtſchaftliche Kriſis kann man als 
eine Übergangs- und Anpaſſungskriſis charakteriſieren, indem die 
Landwirtſchaft ſich in Bezug auf die Produktion einer Reihe wich— 
tiger Artikel an die Bedingungen der Weltwirtſchaft anzupaſſen 
hat. Was man bisher als Weltwirtſchaft bezeichnet hat, das 
hatte eine nicht gerade große Tragweite. Im Altertum und Mittel- 
alter beſchränkte ſich die Weltwirtſchaft, d. h. der Verkehr zwiſchen 
den damals bekannten Weltteilen, auf einige hochwertige Gegen— 
ſtände: Edelmetalle, feine Seidenzeuge, Stickereien, Gewürze u. ſ. w., 
alſo lauter Güter von hohem ſpecifiſchem Werte. Durch die Ent— 
deckung Amerikas ſteigerte ſich die nach Europa ſich ergießende Flut 
von Silber und Gold; ſeit Ende des vorigen Jahrhunderts trat 
in den Weltverkehr die europäiſche Induſtrie mir ihren zum Teil 
geringwertigen Produkten ein, doch beſchränkte ſich die Weltwirt— 
ſchaft auch damals noch weſentlich auf den Verkehr Europas 
mit Aſien und Nordamerika. Erſt ſeit unſerem Jahrhundert 
umfaßt der Weltverkehr alle Länder des Erdballs. Die gegen— 
wärtige, ſeit den ſechziger Jahren beginnende Phaſe aber wird 
beſonders dadurch charakteriſiert, daß Gegenſtände von geringem 
ſpecifiſchem Wert, alſo namentlich die Produkte der Landwirt⸗ 
ſchaft und Viehzucht ſowie des Bergbaus, zum erſtenmal in 
den Verkehr der verſchiedenen Weltteile eingetreten ſind und 
daß, ſoweit fie aus Ländern mit beſonders günſtigen Produktions- 
koſten ſtammen, ſie notwendig auf diejenigen Länder, die nicht ſo 
billig produzieren können, drücken und eine Kriſis, ja einen Not⸗ 
ſtand erzeugen. Meine Herren, ich erkenne vollſtändig an — und 
nicht nur heute, ſondern ſolange ich dieſer Körperſchaft anzugehören 
die Ehre habe, habe ich es anerkannt —, daß für die Landwirte 
des weſtlichen und mittleren Europa und zwar ohne Unterſchied 
des Beſitzumfanges der einzelnen Eigentümer und Pächter eine 
tiefgehende Kriſis vorhanden iſt. 

Aber man wird doch auch zugeſtehen müſſen, daß dieſe Kriſis 


270 Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 


mit ihrer ganzen Wucht hauptſächlich diejenigen trifft, welche 
vorzugsweiſe Getreide für den Abſatz produzieren und welche 
außerdem ſtark verſchuldet ſind; für die übrigen iſt die Lage 
zwar ebenfalls eine gedrückte, aber daß ſie für ſie eine verzweifelte 
iſt, daß ſie zum Ruin aller Landwirte führen muß, kann ich nicht 
anerkennen. 

Nach dieſem Zugeſtändnis möchte ich ferner folgendes zu 
erwägen bitten. Es giebt eine Reihe von Artikeln, die nicht 
durch die europäiſche Landwirtſchaft erzeugt werden, deren Preiſe 
im Vergleich zu den Preiſen der ſechziger Jahre ebenſo ſtark ge⸗ 
fallen ſind wie die der Landwirtſchaft, und ferner einzelne Ar⸗ 
tikel, deren Preiſe ſogar in höherem Grade gefallen ſind, ſo 
z. B. Seide, Baumwolle, Metalle und namentlich Steinkohlen. 
Sie werden alſo zugeben müſſen, daß die Produzenten dieſer 
Artikel, die allerdings nur, ſoweit ſie Induſtrieartikel, Metalle 
und Steinkohlen hervorbringen, für Europa in Betracht kommen, 
ſich ebenfalls in einer Notlage befinden. Sie werden ferner be⸗ 
rückſichtigen müſſen, daß infolge der mannigfachen Wandlungen, 
die der Handel in der jüngſten Vergangenheit erfahren hat, indem 
vielfach die Tendenz beſteht, die Kette der zwiſchen dem Produ⸗ 
zenten und Konſumenten vermittelnden ſelbſtändigen Kaufleute um 
ein oder mehrere Glieder zu reduzieren, auch ein Teil des Handels⸗ 
ſtandes in eine bedenkliche Lage geraten iſt. Sie werden endlich 
nicht überſehen dürfen, daß infolge des Sinkens des Zinsfußes, 
welches u. a. ſeinen Ausdruck gefunden hat in der Konverſion der 
Staatsrente, in der Reduktion des Zinsfußes der Pfandbriefe 
und anderer ſicherer Anlagepapiere, ſowie infolge der be- 
trächtlichen Entwertung der ruſſiſchen Staatspapiere eine ſehr 
ſtarke Verminderung des Einkommens der mittleren Klaſſen, zu 
denen auch Penſionäre und Waiſen gehören, die dieſes Deficit 
nur ſchwer auf anderem Wege erſetzen können, ſtattgefunden hat. 

Alle dieſe Klaſſen befinden ſich ebenfalls in einer gewiſſen 
Notlage, ohne daß ſie deshalb eine Erhöhung ihres Einkommens 
durch den Staat verlangten. 

Durch eine Koalition mit den Großinduſtriellen iſt es Ihnen 


Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 271 


im Jahre 1879 gelungen, mäßige Zölle durchzuſetzen, die damals 
von der Regierung ausdrücklich als Finanzzölle bezeichnet worden 
ſind; es iſt Ihnen ferner im Jahre 1885 durch dieſelben Mittel 
gelungen, eine zweite Etappe auf dem Wege der Zollpolitik, die 
jetzt allerſeits als eine Schutzzollpolitik bezeichnet wurde, zu be— 
ſchreiten. Ich befinde mich nun vollſtändig in Übereinſtimmung 
mit denjenigen Herren, die ſich geſtern dahin äußerten, daß man 
die Wirkung dieſer erhöhten Zölle doch nicht niedrig veranſchlagen 
möge. Denn die Zölle von 1885, ſoweit ſich ihre Wirkung ſchon 
jetzt überſehen läßt, haben bewirkt, daß die Operationen der Ge— 
treideſpekulanten, wie z. B. die am Anfang dieſes Jahres von 
Nordamerika ausgegangenen, über die deutſchen Zollſchranken 
nicht zu dringen vermochten. Es darf ferner hervorgehoben 
werden, daß die deutſchen Inlandspreiſe des Weizens, namentlich 
aber des Roggens, ſoweit wir ſie konſtatieren können, in der 
letzten Zeit doch nicht ganz unerheblich von den Preiſen des 
freien Weltmarkts abweichen, indem ſie relativ höher waren 
als dieſe. 

Ich glaube daher, daß man berechtigt iſt zu ſagen, die 
Zölle von 1879 und 1885 haben auf die Landwirtſchaft im 
ganzen günſtig gewirkt, wenngleich ſie ein abſolutes Sinken der 
Inlandspreiſe nicht zu verhüten vermocht haben. Doch wird es 
niemals gelingen, auch wenn Sie die bisherigen Zollſätze noch 
weiter erhöhen, die Bildung der Inlandspreiſe vollſtändig von 
der Entwickelung der Weltmarktspreiſe loszureißen. Statt nun 
aber an dem Erreichten feſtzuhalten, wollen Sie jetzt weitere auf 
die Erhöhung der Zölle gerichtete Schritte thun. Damit ſetzen 
Sie aber meiner Anſicht nach das ganze ſeit 1879 mühſam er— 
richtete Syſtem der Wirtſchaftspolitik unberechenbaren Gefahren 
aus. Denn wir wiſſen wohl, wann die Agitation für die Zölle 
begonnen hat; wir wiſſen aber nicht, wann ſie enden wird. 

Und was erwarten Sie von der weiteren Erhöhung der 
landwirtſchaftlichen Zölle? 

Ich meine, daß dieſelbe Ihnen wahrſcheinlich nicht diejenige 
Hülfe bringen wird, die Sie erwarten, daß ſie aber anderen 


272 Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 


großen Kreiſen der Bevölkerung ſchaden kann und daß der Rück⸗ 
ſchlag dann auch Sie treffen wird, und ich bedaure endlich, daß 


dieſe ewige Schutzzollagitation Ihre Energie ablenkt von Bahnen, 
auf denen Ihnen ſicherere Früchte blühen würden als auf denen 
der Schutzzollerhöhungen. 

Wenn ich ſage, es iſt möglich, daß die Zölle Ihnen nicht 
helfen, die erwartete Hülfe nicht bringen werden, ſo argumentiere 
ich folgendermaßen. Sie verſchließen ſich immer mehr gegen die 
Einfuhr der ausländiſchen Produkte; eine Reihe anderer Staaten 
wird Ihnen weſentlich in dieſem Beſtreben folgen. Dadurch 
wird auf dem freien Weltmarkt die Nachfrage eine immer ge⸗ 
ringere: die Folge kann dann leicht ein weiteres Sinken der 
Preiſe auf demſelben ſein. Denn man kann nicht annehmen, 
daß der Anbau der reichen Ackerbauflächen in Ungarn, Rußland, 
Nordamerika, Indien u. ſ. w. ſogleich entſprechend vermindert 
werden wird. 

Zugleich bezweifle ich aber nicht, daß ein hoher Schutzzoll 
den Inlandspreis gegenüber dieſen geſunkenen Weltmarktspreiſen 
und zwar zeitweiſe bedeutend heben wird. Aber dieſes Plus zu 
dem ferner ſinkenden Weltmarktspreiſe braucht nicht notwendig 
einen höheren Preis im Inlande zu ergeben, als wir ihn gegen⸗ 
wärtig haben. Von einer Gewißheit in dieſen Dingen kann man 
natürlich nicht ſprechen, ſondern nur von Möglichkeiten und 
Wahrſcheinlichkeiten. 

Für den Fall jedoch, daß Ihre Erwartungen wirklich reali⸗ 
ſiert werden und die Inlandspreiſe in Zukunft infolge der neuen 
Zollerhöhungen ſich nicht nur höher ſtellen als die Preiſe auf 
dem freien Weltmarkt, ſondern auch erheblich höher als die 
Inlandspreiſe der Gegenwart, ſo wird auf die Dauer nicht zu 
vermeiden ſein, daß auch die Mehl- und endlich auch die Brot⸗ 
preiſe dieſer Steigerung der Getreidepreiſe folgen. 

Es iſt das vielfach beſtritten worden, aber meiner Anſicht 
nach mit Unrecht. Diejenigen, die ſo argumentieren, daß, weil 
die Brotpreiſe bei einem Zollſatz von 1 bezw. 3 Mark nicht ge⸗ 
ſtiegen ſind, ſie auch bei einem Zollſatz von 6 Mark nicht ſteigen 


2 
1 
A 
3 
z 
2 
1 
1 
1 


Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 273 


werden, verfallen in den Fehler der Socialdemokraten, welche 
ſagen: weil die Einführung des 11 ſtündigen Normalarbeitstages 
der Produktion nicht ſchaden wird, jo werde auch der 8 ſtündige 
Normalarbeitstag nicht ſchaden. Wenn man bei ſtrammer Hand— 
habung der Fabrikordnung den Normalarbeitstag auf 11 Stunden 
reduziert, ſo iſt es in der That möglich, daß das Quantum an 
Arbeit, das gegenüber einer längeren Arbeitszeit, wie ſie jetzt 
noch vielfach vorkommt, verloren geht, durch das Quale erſetzt 
wird. Aber dieſe Ausgleichung iſt bei einer Reduktion der 
Arbeitszeit auf 8 Stunden doch unmöglich, das werden Sie mir 
zugeben, und ebenſo verhält es ſich mit der Relation der Ge- 
treidepreiſe und der Brotpreiſe. Eine kleine Steigerung der 
erſteren braucht auf die Brotpreiſe nicht einzuwirken, eine ſtarke 
Steigerung dagegen wird über kurz oder lang auch in den Brot— 
preiſen zum Ausdruck gelangen müſſen. Denn wenn die Bäcker 
die Macht hatten, bei ſinkenden Getreidepreiſen die Brotpreiſe 
auf der früheren Höhe zu erhalten oder ſie doch nicht entſprechend 
herabzuſetzen, ſo werden ihnen wohl auch nicht die Mittel fehlen, 
um bei geſtiegenen Getreidepreiſen das Brot zu verteuern. 
Steigen aber die Brotpreiſe, ſo werden dadurch zunächſt und 
hauptſächlich die Arbeiter betroffen werden. Nun kann ja zu⸗ 
gegeben werden, daß von der Erhöhung der Arbeitslöhne, die 
die Arbeiter in den ſiebziger Jahren gewonnen haben, abgeſehen 
von den exorbitant hohen Löhnen in einigen Induſtriezweigen 
während der Gründerjahre, im großen Ganzen nicht viel ver— 
loren gegangen iſt, indem es den Arbeitern gelungen iſt, die er— 
langten Preiſe im großen Ganzen zu behaupten. Aber wir 
dürfen doch nicht vergeſſen, daß auf dieſe Löhne auch neue 
Zwangsausgaben fundiert worden ſind. 

Ich darf Sie daran erinnern, daß in der Mitte der ſiebziger 
Jahre das Deutſche Reich genötigt war, ſich nach erhöhten Ein— 
nahmen umzuſehen. Sie wiſſen, daß die indirekten Steuern 
Preußens auf das Reich übertragen worden ſind; Sie wiſſen, 
daß Preußen im Anfang dieſes Jahrhunderts dieſe Steuern nur 


zu niedrigen Sätzen erhoben und bis zur Begründung des Reiches 
8 v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 18 


274 Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 


nicht weſentlich erhöht hat. Da die direkten Steuern, namentlich 
in Preußen, jo wenig rationell eingerichtet find, daß eine weſent⸗ 
liche Erhöhung ihrer Sätze gegen den Grundſatz der Gerechtigkeit 
verſtoßen würde, ſo blieb nichts anderes übrig als die wenig 
entwickelten indirekten Steuern weiter auszubilden und namentlich 
auch die Zölle ergiebiger zu geſtalten. Nun laſten dieſe indirekten 
Steuern aber doch in ſehr erheblichem Maße auf den arbeitenden 
Klaſſen und wird die Mehrbelaſtung in Preußen ſicher nicht 
durch die Beſeitigung der Klaſſenſteuer für die unterſten Klaſſen 
kompenſiert. Kann doch der Satz nicht beſtritten werden, daß 
indirekte Steuern und Zölle, ſoweit ſie auf notwendige Unterhalts⸗ 
mittel gerichtet ſind, umgekehrt progreſſiv wirken, d. h. einen 
größeren Teil des Einkommens der kleinen Leute als der mittleren 
und höheren Klaſſen wegnehmen. Vergeſſen Sie auch nicht, daß 
das Reich in dieſe Notwendigkeit gedrängt worden iſt in dem 
Augenblick der Inauguration der ſocialpolitiſchen Ara. Den 
Wert der ſocialpolitiſchen Geſetzgebung kann gewiß niemand 
höher ſchätzen als ich. Aber wenn dieſe Geſetze dem Arbeiter in 
Zukunft auch einen nicht hoch genug zu veranſchlagenden Nutzen 
bringen werden, belaſten ſie denſelben doch ſofort mit Verſicherungs⸗ 
beiträgen u. dgl. 

Beſteht doch die volkswirtſchaftliche Bedeutung der Arbeiter⸗ 
verſicherungsgeſetzgebung darin, daß diejenigen Zuſchüſſe, die dem 
Arbeiter bisher aus der Armenkaſſe gezahlt wurden, jetzt unter 
die Produktionskoſten aufgenommen werden. Und nun wollen 
Sie zugleich die Getreidezölle erhöhen und damit ſchließlich 
möglicherweiſe auch die Brotpreiſe verteuern! Das wäre alſo 
eine fernere Belaſtung des Arbeiters, die zur Folge haben würde, 
entweder daß der Arbeiter ſich in Kleidung und Nahrung Be⸗ 
ſchränkungen auferlegen muß oder daß er verſuchen wird, die 
ihm neu erwachſenen Laſten auf die beſitzenden Klaſſen abzuwälzen. 
Bei dieſen wird er aber auf ein um ſo entſchiedeneres Wider⸗ 
ſtreben ſtoßen, je mehr den Arbeitgebern durch Übernahme neuer 
Verpflichtungen infolge der Arbeiterverſicherungsgeſetzgebung die 
Konkurrenz auf dem ausländiſchen Markte erſchwert wird. Be⸗ 


Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 275 


rückſichtigen Sie ferner den in Zukunft notwendig werdenden 
Ausbau unſerer Arbeiterſchutzgeſetzgebung! Denn es iſt nur eine 
Frage der Zeit, daß die Fabrikgeſetzgebung weſentlich verſchärft 
werden wird, und dieſe Verſchärfung der Fabrikgeſetzgebung wird 
dem induſtriellen Unternehmer neue Opfer auferlegen. Und hier 
erlauben Sie mir zugleich, Sie auf die Lage der Induſtrie 
hinzuweiſen, wie ſie ſich wahrſcheinlich nach der Erhöhung 
der Zölle geſtalten wird. Auf die deutſchen Zollerhöhungen 
werden, wie zu befürchten ſteht, eine Reihe von Staaten mit 
Repreſſivmaßregeln antworten, wodurch das Abſatzgebiet der 
deutſchen Fabrikanten weiter eingeengt werden wird. Dazu 
kommt, daß der deutſche Fabrikant durch die Zollerhöhungen 
auf landwirtſchaftliche Produkte ſchlechter geſtellt ſein wird 
als der engliſche. Denn die billigen Preiſe des Weltmarktes 
werden dem engliſchen Fabrikanten zu gute kommen, indem er 
in der Lage ſein wird, ſeine Löhne weiter zu reduzieren, was 
er bereits bisher in mehreren Induſtriezweigen gethan hat. Zu 
dieſem Behufe leiſten ihm die Gewerkvereine und Einigungs— 
ämter ſehr gute Dienſte, indem fie mit Hülfe der Arbeiter- 
ausſchüſſe die Löhne, auf deren Erhöhung ſie in Zeiten der 
Proſperität hingewirkt haben, jetzt reduzieren helfen. 

Kurzum ich glaube, daß der Export unſerer Fabrikinduſtrie 
durch Schutzzollmaßregeln, welche den Unterhalt der Arbeiter 
verteuern, weſentlich geſchädigt wird; und was dieſer Export 
für unſere Volkswirtſchaft bedeutet, das mögen Ihnen folgende 
Zahlen ſagen. | 

Man nimmt an, daß in Belgien von den dort hergeſtellten 
Fabrikaten ebenſoviel exportiert wie im Inlande konſumiert 
werden, daß dieſes Verhältnis in England = 1:2 und in 
Deutſchland ſowie in Frankreich = 1:2 — 3 iſt; alſo min⸗ 
deſtens ein Viertel unſerer geſamten induſtriellen Produktion 
wird gegenwärtig exportiert. Dieſes Viertel beträgt ſeinem 
Werte nach von allen Waren, die überhaupt in den Welthandel 
und den Weltverkehr kommen, ca. 18 —19 Prozent. Mit dieſem 


Prozentſatz nehmen wir unter den exportierenden Völkern neben 
18 * 


276 Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 


Frankreich die zweite Stelle ein, indem wir nur von England 
übertroffen werden. Solche Erwägungen werden dahin führen, 
daß die Induſtriellen ſich mit Entſchiedenheit gegen eine weitere 
Erhöhung der Zölle auf landwirtſchaftliche Produkte erklären 
werden. Ich glaube, Sie wiſſen das auch und haben ſich daher 
bei Zeiten nach anderen Bundesgenoſſen umgeſehen. Mir ſcheint 
eine ausdrückliche oder latente Koalition mit einem Teil der 
Getreidehändler zu beſtehen. Die Getreidehändler hoffen, daß 
der Identitätsnachweis bei der Wiederausfuhr des eingeführten 
Getreides aufgegeben werde; es würde eine ſolche Maßregel ohne 
Zweifel neues Leben in den Getreidehandel bringen, dieſelbe 
dürfte auch vom allgemeinen Standpunkt nicht zu verwerfen ſein, 
da wir einzelne Getreideſorten erzeugen, für die im Auslande 
ein höherer Preis zu erzielen iſt als im Inlande, und da wir 
andererſeits wieder beſtimmter ausländiſcher Getreideſorten, die 
wir nicht ſelbſt erzeugen, bedürfen. Da die Aufhebung des 
Identitätsnachweiſes aber wahrſcheinlich nivellierend auf die 
Preiſe in den verſchiedenen Teilen Deutſchlands einwirken 
wird, indem ſie die Preiſe im Nordoſten heben und im Süd⸗ 
weſten ſenken wird, ſo haben die landwirtſchaftlichen Vertreter 
des Südweſtens ſich nicht ohne Schärfe gegen dieſe Maßregel 
erklärt. Die Getreidehändler ſchmeicheln ſich ferner, einen großen 
Gewinn zu erzielen infolge der billigen Getreideankäufe, die ſie 
ſeit dieſem Frühjahr gemacht haben und die ja außerordentliche 
Dimenſionen haben ſollen. Und nun ſoll ihnen geholfen werden, 
indem ihnen bei der Ausfuhr dieſes Getreides eine Exportprämie 
gezahlt wird im Betrage der erhöhten Zollſätze. Einer der Herren 
Redner klagte geſtern darüber, daß eine Exportprämie für aus⸗ 
geführtes Getreide, welchem nicht ein entſprechendes Quantum 
eingeführten Getreides gegenüberſtehe, etwas ſei, was von der 
öffentlichen Meinung mit der größten Entrüſtung aufgenommen 
werden würde. Ich ſchließe mich dieſer Anſicht vollſtändig an. 

Ich glaube daher nicht, daß die beiden Bedingungen, unter 
denen dieſe Koalition zu ſtande gekommen iſt, in Erfüllung gehen 
werden, und ich glaube auch nicht, daß der Handelsſtand in dem 


Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 277 


Umfange für dieſe Maßregel eintreten wird, wie man es er— 
wartet hat. 

Somit ſtehen denn den Intereſſen der land- und forjtwirt- 
ſchaftlichen Bevölkerung, welche zwar 42,5 Prozent der Geſamt— 
bevölkerung ausmacht, aber nicht durchweg ein Intereſſe an der 
Erhöhung der Zölle hat, gegenüber das Intereſſe der im Berg— 
bau und in der Induſtrie beſchäftigten Klaſſen mit 35,5 Prozent 
der Geſamtbevölkerung, das Intereſſe des Handels- und Verkehrs— 
gewerbes, welches durch 10 Prozent der Bevölkerung repräſentiert 
wird, der Vertreter des öffentlichen Dienſtes und der liberalen 
Berufe mit ca. 5 Prozent, nicht zu gedenken derjenigen, deren 
Beruf entweder unbekannt geblieben iſt oder die keinen beſtimmten 
Beruf beſitzen. So möchte ich denn glauben, daß erhebliche Be— 
denken gegen eine Verdoppelung oder gar noch eine weitere Er— 
höhung der gegenwärtigen Getreidezölle ſprechen. Ich gebe mich 
freilich durchaus nicht der Täuſchung hin, als ob durch mein 
Votum an dem bereits feſtſtehenden Reſultate der Abſtimmung 
in dieſer Körperſchaft noch etwas geändert werden könne; trotz— 
dem habe ich es für meine Pflicht gehalten, meine Bedenken hier 
vorzutragen, und zwar namentlich deshalb, weil ich von dieſer 
Maßregel eine weitere Verſchärfung der Klaſſengegenſätze be— 
fürchte. Und wenn infolge der Reibungen zwiſchen den Arbeit- 
gebern und Arbeitnehmern der Induſtrie der Funke in die Höhe 
geht, ſind Sie dann ſicher, daß er nicht auch in die Häuſer der 
landwirtſchaftlichen Arbeiter fällt?! 

Indes gebe ich zu, daß meine Argumentation eine Lücke 
enthält. Eine nicht unweſentliche Verſchärfung der gegenwärtigen 
Situation, alſo dieſer ſogenannten Anpaſſungskriſe, iſt für uns 
infolge gewiſſer Vorgänge auf dem Währungsgebiete eingetreten. 
Ich geſtehe zu, daß die Entwertung des Silbers in Indien nicht 
ganz ohne Einfluß auf die gegenwärtige landwirtſchaftliche Kriſis 
in Europa iſt. Auch ſtehe ich vollſtändig auf dem Standpunkt 
desjenigen Herrn, der geſtern äußerte, daß das fortwährende 
Schwanken und Sinken der ruſſiſchen Valuta für uns außerordent- 
lich nachteilig iſt. Rußland ſetzt außerdem ſeine Eiſenbahntarife 


278 Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 


herab, um unſere Zölle zu paralyſieren. Da könnte nun leicht die 
Frage entſtehen, ob ſich nicht Differentialzölle als Retorſions⸗ 
maßregel, als Kampfmittel gegenüber Rußland rechtfertigen laſſen. 
Prinzipiell würde ſich gegen eine ſolche Maßregel unter den gegen⸗ 
wärtigen Verhältniſſen wohl wenig einwenden laſſen. Wohl aber 
ſtößt ihre Ausführung auf mancherlei Schwierigkeiten, die nur 
ſchwer zu überwinden ſein dürften. Über dieſen Punkt hat ſich der 
Verfaſſer der kleinen Arbeit „Über die Getreidezölle“ (J. B. Staub), 
die Ihnen zugegangen ſein wird, folgendermaßen geäußert: 
„Wir fürchten, dieſem Staate (d. h. Rußland) gegen⸗ 
über ſind auch ſo gerechte Zwangsmittel, wie Differential⸗ 
zölle, ohne Erfolg, während wir durch dieſelben unſere 
Ditjeehäfen, unſere nordiſchen Mühlen und Bahnen 
ſchädigen würden und eine Verſchiebung der ſeither be- 
ſtehenden Erwerbsverhältniſſe eintreten müßte. Sicher 
würde ſein, daß ruſſiſche Provenienzen auf einem kleinen 
Umweg durch die Meiſtbegünſtigungsländer zu uns ge⸗ 
langen würden oder in der Weiſe, daß die Einfuhr von 
öſterreichiſchem Getreide z. B. bei uns zunehmen und 
ruſſiſches Getreide die Lücken in Ofterreich ausfüllen 
würde. Wir brächten ſomit dem ausländiſchen Handel 
und den ausländiſchen Transportanſtalten Stützen auf 
Koſten der eigenen.“ 

Dieſe gegen Differentialzölle angeführten Bedenken ſcheinen 
mir ſehr ſchwerwiegend zu ſein. Nun könnte man ferner ſagen: 
iſt es denn nicht möglich, Rußland auf demſelben Gebiete der 
Valuta, auf dem es uns Schaden zufügt, zu begegnen? Aber 
ſelbſt wenn man ſich auf den Standpunkt des internationalen 
Bimetallismus ſtellen wollte, ſo würde man damit der Ent⸗ 
wertung der Papiervaluta doch nicht beikommen. 

Mir ſcheint daher aus dem ganzen Wirrwar und Wider⸗ 
ſtreit der gegenwärtigen Ara, in welcher der auf die Dauer un⸗ 
haltbar werdende Widerſpruch immer deutlicher hervortritt, daß 
jeder Staat ſeine Grenzen gegenüber der Einfuhr fremder Pro⸗ 
dukte verſchließt und doch mit einem Teil ſeiner eigenen Pro⸗ 


N 1 N . } nr 
I — 


Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 279 


dukte das Ausland zu erreichen ſucht, nur ein Ausweg gegeben 
zu ſein, und dieſer Ausweg liegt für mich darin, daß Deutſch— 
land ſich mit einigen anderen mittel- und weſteuropäiſchen Staaten 
zuſammenthue, um ſich in eine ähnliche Lage zu bringen, in der 
größere Staaten wie Rußland und Nordamerika ſich in Bezug 
auf ihre Produktion und Konſumtion befinden. Es gilt mit 
einem Worte ein ſo großes Wirtſchaftsgebiet zu bilden, daß in 
demſelben eine wirtſchaftliche Autarkie möglich ſei. Ich komme 
dabei auf den Plan einer deutſch⸗öſterreichiſch-ungariſchen Zollunion 
zu ſprechen. Wer beobachtet hat, wie dieſer Gedanke anfangs von 
wenigen geäußert und mißtrauiſch aufgenommen wurde und troß- 
dem mit reißender Geſchwindigkeit Verbreitung gefunden hat, 
der wird ſich jagen müſſen, daß in demſelben ein den vorhan- 
denen Bedürfniſſen entſprechender und über kurz oder lang in 
der einen oder anderen Form zu realiſierender Kern enthalten 
ſein muß. 

Es laſſen ſich ja mancherlei Bedenken gegen dieſen Plan gel— 
tend machen. Die Ausführung desſelben wird jedenfalls nicht leicht 
ſein. Denn einmal ſtehen uns ſcheinbar eine Reihe von Handels— 
verträgen mit ihrer Meiſtbegünſtigungsklauſel entgegen. Aber 
ich teile in dieſer Beziehung die Anſicht Schrauts, Lexis' 
und anderer und meine, daß die Beſtimmungen der Meiſt⸗ 
begünſtigungsklauſel auf eine Zollunion keine Anwendung finden 
können. Sodann wird die verſchiedene Höhe und Form der in— 
direkten Steuern in Deutſchland und Oſterreich-Ungarn Schwierig- 
keiten bereiten; aber ich glaube, daß man auch hierüber hinweg— 
kommen kann, weil wir ja ähnliche Verſchiedenheiten in der 
Steuergeſetzgebung des Deutſchen Reiches zwiſchen dem Norden 
und Süden gehabt haben und zum Teil noch gegenwärtig haben. 
Es iſt ferner auf die von den deutſchen abweichenden und 
gerade nicht normalen Valutaverhältniſſe Oſterreich-Ungarns hin⸗ 
gewieſen worden. Gewiß iſt das ein ſchwieriger Punkt; aber 
ich glaube, auch er iſt zu überwinden. Vielleicht würden hier 
diejenigen Herren, die Neigung für internationale Valutaverein⸗ 
barungen haben, einen gewiſſen Spielraum erhalten. Es könnte 


280 Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 


z. B. dem Silber in unſerem Münzſyſtem eine größere Anwendung 
gegeben werden, ohne daß wir deshalb die Goldwährung aufzu⸗ 
geben brauchten. Auch könnte man fürs erſte das öſterreichiſch-unga⸗ 
riſche Papiergeld beibehalten, wenn demſelben eine genügende 
Goldfundierung gegeben würde. Es ſind das neuerdings gemachte 
Vorſchläge, die nicht ohne weiteres zurückzuweiſen ſind. Noch 
ſchwieriger als die Durchführung iſt aber freilich die Begründung 
eines ſolchen Zollbundes. Schwierig iſt es namentlich, die deut⸗ 
ſchen Landwirte davon zu überzeugen, daß für ſie kein Schaden 
aus einer ſolchen Maßregel hervorzugehen braucht. Es ſind ja 
in dieſer Beziehung aus der Mitte des Landwirtſchaftsrats Vor⸗ 
ſchläge gemacht worden: man brauchte nicht die Zolllinie zwiſchen 
Deutſchland und Oſterreich-Ungarn zu beſeitigen, ſondern könnte 
einſtweilen mäßige Zollſätze beſtehen laſſen, ja man könnte vielleicht 
die Einführung derjenigen öſterreichiſch-ungariſchen Produkte, von 
denen man eine übergroße Konkurrenz fürchtet, zeitweilig kontingen⸗ 
tieren. Zu beſiegen wäre ferner der Widerſpruch der öſterreichiſchen 
Induſtrie. Ich habe mich noch neulich auf einer Reiſe durch 
Oſterreich davon überzeugt, daß ſich unter dem Schutz des Schutz⸗ 
zollſyſtems in Oſterreich neben den alten Induſtriezweigen eine 
Reihe neuer Induſtrieen zu entwickeln beginnt. Dieſe würden 
ſich natürlich mit allen Mitteln gegen eine ſolche Union ſtemmen. 
Aber hier wird ſich ebenfalls ein Ausgleich der Intereſſen finden 
laſſen, indem man die Ausfuhr beſtimmter Induſtrieartikel aus 
Deutſchland nach Oſterreich-Ungarn ebenfalls zeitweilig beſchränkt. 
Endlich käme noch die Antipathie der ſflaviſchen Völkerſchaften 
gegen jede Annäherung an Deutſchland in Betracht. Doch würde 
es einem entſchiedenen Vorgehen der öſterreich-ungariſchen Regie⸗ 
rung und Deutſchlands wohl gelingen, auch dieſen Widerſtand 
zu beſiegen. 

Kurzum, ich glaube, daß, weil ſich eine bedeutende Erhöhung 
der bisherigen Zollſätze wegen der kollidierenden Intereſſen der 
Induſtrie, des Handels und der Arbeiter als undurchführbar, 
eine geringfügige Erhöhung derſelben aber als wenig heilkräftig 
erweiſen wird, ſich als einziger Kern aus dieſer Diskuſſion die 


Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 281 


Notwendigkeit der mitteleuropäiſchen Zollunion ergeben wird. 
Eine ſolche Union, in der der innere Bedarf an landwirtſchaft— 
lichen Produkten durch die innere Produktion vollſtändig gedeckt 
ſein wird und die auch für den Abſatz ihrer Induſtrieerzeugniſſe 
im Innern genügenden Spielraum gewähren wird, mag ſich 
dann nach außen gegenüber denjenigen Staaten, die auf gleicher 
Kultur und Produktionsſtufe ſtehen, aber gleichwohl der Zoll— 
union nicht beitreten, verſchließen. Wenn ich auch nicht erwarten 
kann, daß ſchon heute eine Reſolution in dieſem Sinne an— 
genommen werde, ſo möchte ich Sie doch mit beſonderem Nach— 
druck bitten, daß Sie dieſen Gedanken weiter verfolgen und all— 
mählich zu dem Ihrigen machen. In dieſem Gedanken werden 
Sie dereinſt Ruhe und Sicherheit finden vor dem Wirbelwinde 
der ewigen Schutzzollagitation: in dieſem Gedanken und in dieſem 
Zeichen werden Sie dereinſt ſiegen! 


XI. 


Der Wucher auf dem Tande und die Pr- 
ganiſation des ländlichen Kredits. 


Referat für den Verein für Socialpolitik. September 1888. 


Meine Herren! Wenn mir heute die Aufgabe zufällt, über 
zwei Themata zu referieren, über die Wucherfrage und die 
Frage der ländlichen Kreditorganiſation, ſo erklärt ſich dieſe Ver⸗ 
bindung der beiden Gegenſtände dadurch, daß das erſte Thema 
gleichſam die Grundlage für die Behandlung des zweiten ab⸗ 
giebt und daß beide Gegenſtände ſozuſagen zu den brennendſten 
agrarpolitiſchen Tagesfragen gehören, die, lange durch theoretiſche 
Beſprechungen und Diskuſſionen vorbereitet, jetzt dringend der 
Erledigung harren. 

Die einſchlägige Litteratur darf ich bei den meiſten von 
Ihnen als bekannt vorausſetzen; ich will deshalb nur noch kurz 
diejenigen Maßregeln erwähnen, welche die heutige Diskuſſion 
vorbereitet haben. 

Im Jahre 1885 entwarf unſer Verein einen Fragebogen 
für eine Wucherenquete. Im Jahre 1886 wurde die Frage des 
ländlichen Wuchers im preußiſchen Landesökonomiekollegium 
diskutiert; aber weil die damals an verſchiedene Perſonen 
gerichteten Fragen nur in geringer Vollſtändigkeit beantwortet 


Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 283 


waren, ſo beſchloß man weitere Erkundigungen einzuziehen 
und das geſamte Material dann dem Deutſchen Landwirt- 
ſchaftsrat zu übergeben, damit dieſe Frage dort auf breiteſter 
Baſis für das geſamte Reich diskutiert und wo möglich zu be— 
ſtimmten Vorſchlägen formuliert werde. Im Jahre 1887 ſind 
dann die gewünſchten Berichte eingegangen; ſie ſind zuſammen— 
gefaßt zu einem Bande, der ſich in Ihrer aller Händen befindet. 
Im Anfang des Jahres 1888 fand ſodann eine ziemlich ein— 
gehende Diskuſſion der Wucherfrage im Deutſchen Reichstage 
ſtatt in Veranlaſſung einer großen Reihe von Petitionen, die an 
den Reichstag gerichtet worden waren. Die Petitionen waren 
der Petitionskommiſſion übergeben worden; dieſe hatte ſie be— 
raten, hatte einen ausführlichen Bericht abgefaßt, und auf Grund 
dieſes Berichts hat der Reichstag ſelbſt ſich mit der Frage be— 
ſchäftigt und eine Reſolution des Inhalts gefaßt, daß dem Herrn 
Reichskanzler die Petitionen zur Erwägung übergeben werden 
ſollen, zur Erwägung darüber, welche geſetzlichen Maßregeln 
gegen den Wucher zu ergreifen ſeien. 

Was ſodann die Frage des ländlichen Kredits anbetrifft, ſo 
iſt ſie in den Jahren 1884 und 1887 im Deutſchen Landwirt— 
ſchaftsrat ſehr eingehend behandelt worden. In dem erſteren 
Jahre hat man ſich über die für eine ſolche Reform leitenden 
Geſichtspunkte geeinigt; im Jahre 1887 hat man ein ſehr weit- 
ſchichtiges Material von faſt allen beſtehenden Kreditanſtalten 
geſammelt, hat dieſes Material dann einer für dieſen Zweck ſpe— 
ciell erwählten Kommiſſion übergeben und dieſe beauftragt, das 


Material zu ſichten, es zuſammenfaſſend darzuſtellen und wo 


möglich zu ganz beſtimmten Vorſchlägen zu gelangen. 

So hat denn unſer Verein in einem Zeitpunkt, in dem der 
Löſung der beiden heute zu behandelnden Fragen von ver— 
ſchiedenen Seiten vorgearbeitet iſt, die Aufgabe, die eingeleiteten 
Verhandlungen weiterzuführen. Er wird, wie ich glaube, einen 
nicht unweſentlichen Einfluß auf die ſchließliche Erledigung dieſer 
Gegenſtände gewinnen können, wenn es ihm gelingt, zu ganz be— 
ſtimmt formulierten Vorſchlägen zu gelangen und für dieſe Vor— 


284 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 


ſchläge die Zuſtimmung der Verſammlung zu gewinnen. Dies 
gilt namentlich von der Kreditfrage, bezüglich welcher meines Er⸗ 
achtens genug über Prinzipien und Syſteme diskutiert worden 
iſt und für die jetzt der Zeitpunkt gekommen zu ſein ſcheint, um 
poſitive Vorſchläge für eine Reorganiſation des Kredits, ſoweit 
ſolche erforderlich ſein ſollte, zu machen. 

Ich werde daher mein Referat, für das ich im voraus um 
Ihre Nachſicht und um Ihre Geduld bitte, da es länger aus⸗ 
fallen wird, als ſonſt üblich iſt, möglichſt wenig mit theoretiſchem 
Ballaſt beſchweren und ihm hauptſächlich eine volkswirtſchafts⸗ 
politiſche Pointe zu geben ſuchen. 

Einleitungsweiſe darf ich wohl daran erinnern, daß es kein 
Zufall iſt, wenn in der Zeit einer tiefgehenden agrariſchen Kriſis 
dieſe beiden Gegenſtände das allgemeine Intereſſe erregen. Hängen 
dieſelben doch aufs engſte mit beſtimmten Lücken unſerer Agrar⸗ 
verfaſſung, mit Mängeln unſerer landwirtſchaftlichen Sitten und 
Gebräuche zuſammen, und ſind dieſe es doch, die die Kriſis bei 
uns in Deutſchland im Vergleich mit andern Ländern beſonders 
verſchärft haben. Dieſe Mängel und Lücken konnten in einer 
Zeit wirtſchaftlicher Proſperität, bei ſteigender Grundrente, über⸗ 
ſehen werden; die gegenwärtige agrarpolitiſche Kriſis dagegen 
ließ ſie in grellſter Beleuchtung erſcheinen. Sollte es in der 
Zukunft gelingen, die Lücken auszufüllen und die Mängel zu be⸗ 
ſeitigen, ſo wird durch die Leiden der gegenwärtigen Generation 
unſerer Landwirte die Befeſtigung der Grundlagen in Sitte und 
Recht, auf denen das dauernde Wohl unſerer ländlichen Be— 
völkerung beruht, nicht zu teuer erkauft ſein. 

Von gleichen Ausgangspunkten hat vor ſechs Jahren in 
unſerem Verein eine Verhandlung ſtattgefunden, die Verhandlung 
über das ländliche Erbrecht, und es iſt damals in dem über- 
einſtimmenden Votum dieſer Verſammlung, wie ich glaube, eine 
Löſung dieſer Frage wenigſtens für die Gegenden des vorwiegen— 
den großen und mittleren Grundbeſitzes, alſo für die Länder mit 
niederſächſiſcher, frieſiſcher und bayeriſcher Beſiedelung und für 
die Länder der Koloniſation auf ſlawiſchem Boden, jomit für 


Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 285 


einen großen Teil von Nord- und Südoſtdeutſchland gefunden 
worden. 

Der erſte Gegenſtand unſerer heutigen Tagesordnung führt 
uns in ganz andere Gegenden, in die Gegenden des kleinen par— 
zellierten Grundbeſitzes, vorzugsweiſe alſo in Länder fränkiſcher, 
alemanniſcher und thüringiſcher Beſiedelung, ſomit nach Südweſt— 
und Mitteldeutſchland. Wenn der Wucher auch nicht allein auf 
dieſe Gegenden beſchränkt iſt, ſo iſt er doch hier vorzugsweiſe 
verbreitet und findet ſich nur ſporadiſch in anderen Teilen 
Deutſchlands. | 

Wie der Anlaß, jo ſoll auch die Art der Behandlung heute 
dieſelbe oder doch eine ähnliche ſein wie im Jahre 1884, ſoweit 
dieſe Behandlung von mir abhängt. Ich werde mich auch heute 
nicht darauf beſchränken, die äußeren ſymptomatiſchen Krank— 
heitserſcheinungen zu erforſchen und deren Beſeitigung zu erſtreben, 
ſondern werde bemüht ſein, zu dem inneren Sitz und zu den 
letzten Urſachen des Übels vorzudringen, und die Heilung desſelben 
an der Wurzel verſuchen. 

Hat das Übel des Wuchers ſeinen Sitz in beſtimmten Schichten 
der Bevölkerung, in deren Anſchauungen und Gewohnheiten, ſo 
wird die Heilung auch hier zu beginnen haben. Aber da das 
Übel zum Teil wenigſtens das Produkt geſellſchaftlicher und 
ſtaatlicher Einrichtungen iſt, jo werden auch Staat und Gejell- 
ſchaft an der Heilung mitwirken müſſen. Freilich wird auch 
dieſe ſtaatliche Thätigkeit ihre Richtung auf die Hebung des 
einzelnen und ganzer Bevölkerungsklaſſen, auf ihre Erziehung zu 
vollkommeneren Anſchauungen und Sitten zu nehmen haben. 
Dazu werden ſich aber vorzugsweiſe ſolche Einrichtungen und 
Maßregeln, Organiſationen und Rechtsnormen eignen, die die 
Bevölkerung auf ihrer gegenwärtigen Entwicklungsſtufe ins Auge 
faſſen, an dieſe Entwicklungsſtufe anknüpfen und welche zugleich 
bereits die Feuerprobe beſtanden haben, indem ſie ſich hier und 
da auf beſchränktem Gebiet bewährt haben. 5 

Ich wende mich nun zu der erſten Frage, die ich heute zu 
behandeln habe: zum Wucher auf dem Lande. 


286 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 


re 


Ich verſtehe unter Wucher im wirtſchaftlichen Sinne — wohl 
nicht im Widerſpruch mit dem allgemeinen Sprachgebrauch — die 
Benutzung eines faktiſchen Monopols im Verkehrsgewerbe, in deſſen 
Beſitz ſich beſtimmte Perſonen befinden, lediglich zu ihrem Vor⸗ 
teil und zum Schaden, ja zum Ruin dritter Perſonen. Während 
der legitime Handel beiden Teilen nützt, verliert beim Wucher 
der eine Teil ebenſoviel, ja bisweilen noch mehr, als der andere 
Teil gewinnt. Auf dem Lande ſpeciell trifft der Wucher haupt⸗ 
ſächlich den kleinen Bauernſtand, während die Bewucherung des 
mittleren und größeren Grundbeſitzes ſowie der beſitzloſen Arbeiter 
verhältnismäßig ſelten vorkommt. 


Das Monopol der Wucherer iſt begründet 1. in beſtimmten 
ſeltenen Eigenſchaften derſelben, die ſich zuſammenfaſſen und be⸗ 
zeichnen laſſen — um ein bekanntes Wort Karl Ernſt von Bärs 
auf dieſes Gebiet anzuwenden — als hochentwickelte wirtſchaft⸗ 
liche „Zielſtrebigkeit“; eine Zielſtrebigkeit, die für die Bewucherten 
verderblich wird, weil ſie mit ſittlich geringen Qualitäten der 
Wucherer, mit niedriger Schlauheit, Geriebenheit, Rückſichtsloſig⸗ 
keit, Mißachtung des Rechts und der Sitte verbunden zu ſein pflegt. 


Dieſe ſich ſittlich unzuläſſiger Mittel bedienende wirtſchaft⸗ 
liche Zielſtrebigkeit erzielt aber nur dann Erfolge, wenn ihr 
2. eine Bevölkerung gegenüberſteht, die in ſittlicher Hinſicht eben⸗ 
ſoſehr über wie in wirtſchaftlicher Beziehung unter dem 
Wucherer ſteht. Dieſe Bevölkerung findet ſich auf dem Lande 
vorzugsweiſe in den Klein- und Zwerggütlern, die in guten und 
mittleren Jahren aus ihrem Beſitz knapp ſoviel herauswirtſchaften, 
um leben zu können, und bei jeder Mißernte, bei jedem Vieh⸗ 
ſterben, bei jedem Unglücksfall in der Familie u. ſ. w. in Not 
geraten. Es iſt das zugleich eine Bevölkerung, die zum Teil 
noch in der Naturalwirtſchaft ſteckt und der die ſie umgebende 
Welt zumutet, zu gleicher Zeit zur Geld- und Kreditwirtſchaft 
überzugehen; eine Bevölkerung, die unfähig iſt, ihre Vermögens⸗ 


Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 287 


lage und die Konſequenzen ihrer Transaktionen zu überblicken, 
und die deshalb vor den gewagteſten Geſchäften nicht zurückſchreckt; 
eine Bevölkerung, der die Kenntnis und Initiative fehlt, um die 
für ſie günſtigen Verkaufs- und Kreditgelegenheiten aufzuſuchen, 
und die in ihrer bäuerlichen Hartköpfigkeit doch wieder der Be— 
lehrung ſehr ſchwer zugänglich iſt; eine Bevölkerung, die voll 
Argwohns gegen ihresgleichen und gegen Höherſtehende iſt und 
doch den gröberen und feineren Verſuchungen des Wucherers nicht 
zu widerſtehen weiß. 

Dieſe wirtſchaftliche Inferiorität der Kleinbauern findet ihre 
Unterſtützung in einer Anzahl allgemein verbreiteter Gebrechen: 
namentlich in gewiſſen beim Vieherwerb und bei der Viehleihe 
beſtehenden naturalwirtſchaftlichen Gepflogenheiten, in dem allge— 
meinen Beſtreben der Bevölkerung, ohne Rückſicht auf ihre Mittel 
Grundbeſitz zu erwerben und den vorhandenen Grundbeſitz zu ver— 
mehren, endlich in der künſtlichen Steigerung der Gutspreiſe 
namentlich durch Verſteigerungen in Wirtshäuſern verbunden mit 
Libationen u. ſ. w. 


Dazu kommt bisweilen noch das Fehlen von Einrichtungen 
und Gelegenheiten, um beſtimmte legitime Bedürfniſſe des Be⸗ 
wucherten zu befriedigen, namentlich das Fehlen von genügenden, 
den Bedürfniſſen, Anſchauungen und Gewohnheiten des Klein- 
gütlers angepaßten Einrichtungen für den Kredit überhaupt und 
für den Perſonalkredit im ſpeciellen, ſowie hier und da auch das 
Fehlen von Gelegenheiten zum legitimen Erwerb von Grundbeſitz. 


In dieſe Lücke tritt dann der Wucherer ein, der zum 
Geſchäftsfreund und wirtſchaftlichen Lehrmeiſter des Bauern wird, 
zum Geſchäftsfreund freilich, der ſein eigenes Intereſſe aufs rück— 
ſichtsloſeſte verfolgt, und zum Lehrmeiſter, dem der Bauer nicht 
ſelten ſein ganzes Vermögen, ja ſeine Exiſtenz als Lehrgeld be— 
zahlen muß. 

Endlich 3. wird dieſes Abhängigkeitsverhältnis zwiſchen Be— 
wucherten und Wucherern noch verſtärkt durch die Abgrenzung 
der der Exploitation unterworfenen Gebiete unter die verſchiedenen 


288 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organifation d. ländl. Kredits. 


Wucherer, damit ſie ſich nicht ins Gehege kommen, ſich keine 
Konkurrenz machen, ſowie durch ein ganzes Syſtem von Schleppern 
und Zuträgern, welche dem Wucherer die genaueſte Kunde von 
der Vermögenslage ſowie von jedem einzelnen Vorfall in der 
Wirtſchaft und in der Familie des Bauern vermitteln. Dadurch 
ſind die Wucherer in die Lage geſetzt, ſich in ihrer Geſchäfts⸗ 
verbindung mit den Bewucherten genau den Gewohnheiten der⸗ 
ſelben anzupaſſen, indem ſie von ihnen vor der Gewährung des 
Darlehns nicht, wie die ſoliden Kreditinſtitute, den Nachweis der 
genügenden Vermögenslage oder die Bürgſchaft mehrerer Nach⸗ 
barn oder die Erfüllung ſonſtiger läſtiger Formalitäten verlangen 
und auch nicht fordern, daß ſie koſtſpielige Reiſen in die Städte 
machen. Vielmehr tragen ſie den Bauern das Geld ins Haus, 
verlangen nur eine Unterſchrift und verſichern ſie ewiger Ver⸗ 
ſchwiegenheit, die ſie auch bis zu der unvermeidlich werdenden 
Kataſtrophe ſtrikt einhalten. Denn nur allmählich wird das 
Netz des Wucherers dem Bauer über den Kopf geworfen und 
nur allmählich wird es enger zuſammengezogen: das Opfer wird 
zuerſt betäubt, um dann ausgebeutet zu werden. 

Zunächſt iſt der Wucher eine Privatangelegenheit, die nur 
den Wucherer und ſein Objekt angeht; zu einer öffentlichen Kala⸗ 
mität, die die Aufmerkſamkeit der Geſellſchaft und des Staates 
auf ſich zieht, zu einer Kalamität, die nach Abhülfe drängt, wird 
der Wucher erſt, wenn die Zahl der Opfer eine anſehnliche wird, 
wenn der Wucher ſich in einer Gegend feſtſetzt und wenn derſelbe 
ſchließlich zur ſtarken Verſchuldung eines größeren Teiles der 
bäuerlichen Beſitzer und endlich zu einer Verſchlimmerung der 
Grundbeſitzverteilung führt. 

Sie wiſſen ja alle, daß das Vermögen des kleinen Bauern 
faſt ausſchließlich aus ſeinem Grundſtück und aus ſeinem Vieh 
beſteht, dem Vieh, das zugleich die Milch für die Familie und. 
die Zugkraft ſowie den Dünger für den Acker giebt und deſſen 
Erlös dem Bauern vielfach das einzige bare Geld einbringt. Auf 
dieſe Objekte richtet ſich daher das Sinnen und Trachten des. 
Wucherers. Daher ſein Beſtreben, das gute Vieh des Bauern 


Der Wucher a. d. Lande u. d. Organifation d. ländl. Kredits. 289 


gegen ſchlechtes einzutauſchen und ſich den jungen Nachwuchs 
dieſes Viehs zu ſichern; daher ſein Beſtreben, das Gut, deſſen 
Wert er vampyrartig in Form von Perſonalſchulden des Beſitzers, 
die dann erſt in letzter Stunde mittelſt des Inſtituts der Voll- 
ſtreckungshypothek in eine Realſchuld umgewandelt werden, an 
ſich gebracht hat, ſchließlich zu möglichſt hohem Preiſe zu ver— 
kaufen, um den durch ſeine Forderung erworbenen Wert des 
Grundſtücks zu realiſieren. Dieſem Zweck dienen dann die im 
Weſten und Süden Deutſchlands üblichen Güterverſteigerungen, 
die Zerlegung von größeren Gütern in kleine Parzellen, für die 
ſich immer höhere Preiſe erzielen laſſen als für das unzerteilte 
Grundſtück, der Verkauf auf Kredit, „auf Zieler“, ſowie der 
Handel mit Verſteigerungsprotokollen. Alle dieſe Wucheroperationen 
ſchließen gewöhnlich damit, daß das Grundſtück des Bewucherten 
meiſt zu hohem Preiſe in andere Hände übergeht, nachdem der 
Bauer — wie man zu ſagen pflegt — mit dem weißen Stabe 
in der Hand ſein früheres Heim verlaſſen hat. 

An dieſen erſten Akt der Tragödie ſchließt ſich aber nicht 
ſelten ein zweiter, und zwar geſchieht dies immer dann, wenn 
der neue Käufer mit unzulänglichen Mitteln und zu hohem Preiſe 
gekauft hat. Gegenüber demſelben wiederholen ſich dann die 
Praktiken, die gegenüber dem erſten Bewucherten ausgeführt 
worden ſind. 

Liegt nun ein ſolcher Zuſtand gegenwärtig in Deutſchland vor? 

Wenn man die deutſche Reichsſtatiſtik der wegen Wuchers 
Angeklagten und Verurteilten allein befragt, ſo muß man ſagen: 
nein oder doch nur in ſehr geringem Maße; denn die Zahl der 
Anklagen iſt eine ſehr geringe, die Zahl der Verurteilungen eine 
noch geringere — ja, dieſe letztere ſinkt bei keinem Verbrechen 
auf einen ſo niedrigen Prozentſatz der Anklagen herab wie beim 
Wucher; und außerdem hat die abſolute und relative Zahl der 
Anklagen und Verurteilungen wegen Wuchers ſeit dem Jahre 1882 
von Jahr zu Jahr abgenommen. 

Ein anderes Bild freilich liefert uns die von dem Verein veran- 
ſtaltete Enquete. Man hat dieſer Enquete neuerdings ihre Einſeitig— 


v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 19 


290 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 


keit, Parteilichkeit, ihre vorſchnellen Generaliſationen, überhaupt ihre 
methodologiſchen Mängel vorgeworfen; der Herr Korreferent will 
die Güte haben, ſich über dieſen Gegenſtand näher zu verbreiten. 
Ich will hier nur bemerken, daß ſich methodologiſch gegen das 
eingeſchlagene Verfahren mit Recht manches einwenden läßt; ich 
will auch zugeben, daß die einzelnen Antworten, die auf unſere 
Fragen eingegangen find, von ungleichem Werte find: aber im 
allgemeinen wird doch geſagt werden können, daß das, was durch 
eine Enquete auf Grund ſchriftlicher Fragebogen — alſo eines 
ſehr unvollkommenen Erforſchungsmittels ſocialer Zuſtände — 
geleiſtet werden kann, hier geleiſtet iſt. Auch machen durchaus 
alle Berichterſtatter den Eindruck unintereſſierter Sachverſtändigkeit. 

Freilich beſchränken ſich die meiſten Berichte auf eine Be⸗ 
ſchreibung der vorkommenden Wucherformen und des üblichen 
Wucherverfahrens; aber daß die vollſtändig unabhängig voneinander 
vorgehenden Berichterſtatter in dieſen Beſchreibungen untereinander 
übereinſtimmen, bietet, wie ich glaube, eine Gewähr dafür, daß 
die von ihnen beſchriebenen Formen und Prozeſſe wirklich typiſche 
Bedeutung haben. 

Über die Verbreitung des Wuchers haben dieſe Berichte 
wenig zahlenmäßig Beſtimmtes geſagt und ſagen können. Aber 
wie ſollte ihnen möglich ſein, was ſelbſt der Statiſtik auf dieſem 
Gebiete nicht gelingen würde! Wohl aber ſagen ſämtliche Be⸗ 
richterſtatter, daß in denjenigen Bezirken, die ich oben als eigent⸗ 
liche Wucherbezirke charakteriſiert habe, der Wucher eine große 
Verbreitung findet und bedeutende Nachteile im Gefolge hat; 
und auch in anderen Gegenden ſcheint er wenigſtens nicht ganz 
zu fehlen. 

Dieſe Unterlagen find es denn auch geweſen, die den Reichs⸗ 
tag veranlaßt haben, einen Notſtand anzuerkennen, der das Ein⸗ 
ſchreiten der Geſetzgebung verlangt, und ähnliche Erwägungen 
ſind es geweſen, die den Vorſtand unſeres Vereins veranlaßt 
haben, dieſe Frage auf die heutige Tagesordnung zu ſetzen. Wenn 
er ſo vorgegangen iſt, hat er nicht bloß von einem ihm zu⸗ 
ſtehenden Rechte Gebrauch gemacht, ſondern er hat auch 


Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 291 


eine Pflicht zu erfüllen geglaubt, indem er einen Gegenſtand, der 
die öffentliche Aufmerkſamkeit in hohem Grade auf ſich gezogen 
hat, einer möglichſt objektiven Beſprechung hat unterziehen wollen. 

Iſt die obige Auffaſſung richtig, daß der Wucher aus einem 
thatſächlichen Monopol der Wucherer entſpringt, ſo wird auch 
die Bekämpfung desſelben auf die Vernichtung oder wenigſtens 
die Einſchränkung des Monopols gerichtet ſein müſſen. Dieſe 
Bekämpfung hat ſich demnach gegen dieſelben Elemente zu richten, 
die das Monopol konſtituieren. 

Alſo A. gegen die Perſon des Wucherers. Perſonen, die die 
Befähigung und die Neigung zum Wuchern haben, hat es immer 
und überall gegeben und wird es immer geben; es kann alſo 
nur darauf ankommen, ihre Zahl möglichſt zu verringern und 
ihre Thätigkeit zu paralyſieren. Als ein hierzu dienliches Mittel 
erſcheint die Abſchreckung des Wucherers durch Androhung und 
Verhängung von Strafen. Dieſen Weg haben das Deutſche 
Reichsgeſetz vom 24. Mai 1880 und ebenſo das Oſterreichiſche 
Geſetz vom 19. Juli 1887 beſchritten. 

Den Inhalt dieſer beiden Geſetze darf ich als bekannt voraus 
ſetzen. In denſelben hat der Wucherbegriff gegenüber früheren 
Auffaſſungen eine ganz neue Bedeutung erhalten. 

Aus der Bezeichnung der „Früchte eines Vermögensſtocks“ 
überhaupt iſt unter dem Einfluß des kanoniſchen Rechts, wie Sie 
wiſſen werden, der Wucher zur Bezeichnung „unerlaubter Früchte“, 
zur Bezeichnung des Zinsnehmens überhaupt geworden. Verboten 
wird aber ſpeciell das Zinsnehmen durch das kanoniſche Recht, 
weil es angeblich gegen das göttliche Gebot des „mutuum date 
nihil sperantes“ verſtößt. 

Am Schluß des Mittelalters, namentlich aber zur Zeit des 
ancien régime, findet der Wucherbegriff dann eine neue Stütze 
in der geltenden Verwaltungsrechtsordnung. In einer Zeit, in 
der die Preiſe beſtimmter Güter ſowie das Entgelt für eine Reihe 
von Produktionsfaktoren geſetzlich geregelt werden, iſt es konſe— 
quent, auch für die ausbedungene Kapitalrente, den Kapitalzins, 


ein geſetzliches Maximum aufzuſtellen. Die Überſchreitung dieſes 
19° 


292 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 


Maximums wird jetzt als Wucher bezeichnet und meiſt nur mit 
civilrechtlichen, ausnahmsweiſe aber auch ſchon mit ſtrafrechtlichen 
Folgen bedroht. 

Als dieſe Verwaltungsrechtsordnung des ancien régime 
dann zuſammenbricht und die individuelle Freiheit der Pro⸗ 
duktion, des Erwerbs, des Verkehrs und des Konſums zur Grund⸗ 
lage einer neuen Geſamtordnung gemacht wird, verſchwindet in 
faſt allen Staaten auch die Zinstaxe mit ihren Folgen: in Preußen 
im Jahre 1866, im Norddeutſchen Bund im Jahre 1867. 

Aber gegen die abſolute Verkehrsfreiheit der Kapitalnutzung 
reagiert dann wieder ſehr bald die Rückſicht auf das öffentliche 
Wohl, namentlich auf die kleinen geſchäftsunkundigen Leute, und 
dieſe Reaktion findet ihre Stütze in dem Rechtsbewußtſein des 
Volkes, indem die Schädigung des Darlehnsnehmers durch den 
Darlehnsgeber, wenn der erſtere ſich bei Kontrahierung des Dar⸗ 
lehns in einer Zwangslage befindet, der Darlehnsgeber aber aus 
ſolcher Zwangslage einen übermäßigen Gewinn zieht, unter Strafe 
geſtellt wird. 5 
g Damit iſt der Wucher aus der Übertretung einer religiöſen 
und dann einer verwaltungsrechtlichen Vorſchrift zu einem krimi⸗ 
nellen Delikt geworden, das, wie der Raub, Diebſtahl, Betrug, 
Unterſchlagung, betrügeriſche Bankerott ꝛc., zu den in gewinn⸗ 
ſüchtiger Abſicht begangenen gerechnet werden kann. Aber wie 
die früheren Auffaſſungen des Wuchers, ſo iſt auch die heutige 
noch immer auf das Gebiet des Darlehns beſchränkt. Der Wucher 
im juriſtiſchen Sinne fällt demnach nach dem allgemeinen Stande 
unſerer heutigen Geſetzgebung — wenn man von der Geſetzgebung 
einzelner ſchweizer Kantone, wie Aargau und Zürich, abſieht — 
nicht mit dem Wucher im wirtſchaftlichen Sinne zuſammen, indem 
als ſtrafbar heutzutage allgemein nur der Darlehnswucher und 
ſeine Verſchleierung gilt. 

Welche Wirkungen hat nun das uns zunächſt angehende 
Deutſche Reichsgeſetz vom Jahre 1880 gehabt? Die Statiſtik 
zeigt, wie ſchon geſagt, daß es nur ſelten in Anwendung ge⸗ 
kommen iſt; die Berichterſtatter der Wucherenquete dagegen rühmen 


Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 293 


faſt ſämtlich die günſtigen Folgen des Geſetzes. Dieſer ſchein— 
bare Widerſpruch läßt ſich aber, wie ich glaube, leicht beſeitigen. 

Denn zunächſt iſt erreicht, daß der Darlehnswucher abge— 
nommen hat. Nachdem das Zinsmaximum und damit der ver— 
waltungsrechtliche Begriff des Wuchers aufgehoben worden war, 
ſagte ſich mancher: quod licet, honestum est, und ſo füllten 
ſich die Cadres der profeſſionsmäßigen Wucherer in den 70er 
Jahren, in jenen Zeiten des „Tanzes um das goldene Kalb“, 
mit freiwilligen Hülfstruppen: mit Bauern, die ſich auf den 
Altenteil in die Stadt zurückgezogen hatten, und ſonſtigen Rentiers, 
mit kleinen Kaufleuten und Handwerkern, die ſich nichts Schlimmes 
dabei dachten, wenn ſie einen tüchtigen Gewinn aus einem Not⸗ 
darlehen einſtrichen und wenn ſie ſich bei dieſer Gelegenheit all— 
mählich auch der Praktiken des profeſſionsmäßigen Wucherers zu 
bedienen lernten. Die Ernüchterung, die nach der Kriſis eintrat, 
und das Halt, das ihnen das Wuchergeſetz zurief, hat ſie dann 
aber zur Beſinnung gebracht. 

Freilich, der Kern der Wucherer iſt geblieben. Aber er ſucht 
ſeine Geſchäfte jetzt mehr in andere Rechtsformen als in die des 
Darlehens einzukleiden, oder er ſucht den Darlehenswucher mit 
anderen Wucherformen zu einem unentwirrbaren Knäuel zu ver- 
wickeln. So verbreitet ſich an Stelle des ſeltener gewordenen 
Darlehenswuchers der Waren-, Ceſſions-, Vieh- und Grundſtücks⸗ 
wucher immer mehr. Durch alle dieſe Geſchäfte werden ſehr 
hohe, zum Teil — wie die Berichte zeigen — exorbitant hohe 
Gewinne erzielt. Der Herr Korreferent hat es übernommen, 
Ihnen über dieſe einzelnen Formen und deren Folgen Bericht zu 
erſtatten; ich beſchränke mich daher darauf, zu bemerken, daß in 
dieſen Geſchäften ſeitens des kleinen Bauern bisweilen eine 
geradezu unglaubliche Geſchäftsunkenntnis, namentlich aber eine 
große Unfähigkeit, ſich in den Formen des Kreditverkehrs zu be— 
wegen, zu Tage tritt und daß der Bauer, obgleich er ſeit mehr 
als einem halben Jahrhundert und in manchen Gegenden ſeit 
Jahrhunderten im Beſitz der perſönlichen Freiheit und ſeit einigen 
Jahrzehnten auch im Beſitz der politiſchen Vollberechtigung iſt, 


294 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 


in wirtſchaftlicher Beziehung doch noch in hohem Grade erziehungs⸗ 
bedürftig erſcheint. Die Aufgabe des Staats und der Geſellſchaft 
wird es nun ſein, dieſe Erziehung an Stelle des Wucherers zu 
übernehmen. | i 

Ehe ich auf die in Anwendung zu bringenden Erziehungs⸗ 
mittel zu ſprechen komme, habe ich zunächſt der Vorſchläge zu 
gedenken, die einen weiteren Ausbau der geltenden Wuchergeſetz⸗ 
gebung erſtreben und daher ebenfalls gegen die Perſon des 
Wucherers gerichtet ſind. In dieſer Beziehung kommt namentlich 
folgendes in Betracht. 

1. Es iſt vorgeſchlagen worden, es möge im Deutſchen Reiche 
der bisher auf das Darlehnsgeſchäft beſchränkte heutige Begriff 
des Wuchers hinfort auf alle oneroſen Verträge ausgedehnt 
werden. Das kann nun geſchehen durch einfache Erweiterung 
des bisherigen Geſetzes nach dem Vorbilde der Geſetzgebung der 
Kantone Zürich und Aargau, wie u. a. die dem Reichstag zu⸗ 
gegangene Petition des Antiwuchervereins für das Saargebiet 
verlangt, oder im Wege der Ergänzung des bisherigen Geſetzes 
durch eine Reihe von Specialgeſetzen für die verſchiedenen Formen 
des Wuchers. Eine ſolche Ergänzung wenigſtens hinſichtlich des 
mit dem Viehleihgeſchäft verbundenen Wuchers iſt auch vorgeſchlagen 
worden von dem Profeſſor v. Lilienthal, der ſich in letzter Zeit 
in ſehr eingehender Weiſe vom juriſtiſchen Standpunkt, aber nicht 
allein von dieſem, mit der Wucherfrage beſchäftigt hat. 

Für die allgemeine Ausdehnung des Wucherbegriffs darf nun, 
wie ich glaube, das Beiſpiel der beiden Schweizer Kantone nicht 
herangezogen werden. Denn dieſes für größere wirtſchaftliche 
Verhältniſſe heranziehen, hieße ebenſoviel, wie wenn man die 
Landsgemeinde einiger Urkantone als Muſterverfaſſung für das 
Deutſche Reich empfehlen wollte. 

Wohl aber ſcheint für eine ſolche allgemeine Ausdehnung des 
Wucherbegriffs die ratio des geltenden Geſetzes zu ſprechen; denn 
allen Wucherformen liegt derſelbe oder doch ein ähnlicher ſubjektiver 
und objektiver Thatbeſtand zu Grunde. Mit einem ſolchen Schritt 
würden wir aber den bisherigen hiſtoriſchen Boden des Wucher⸗ 


Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 295 


begriffs vollſtändig verlaſſen, indem wir den Grundſatz der An— 
gemeſſenheit von Leiſtung und Gegenleiſtung für den geſamten 
privatwirtſchaftlichen Verkehr proklamieren, die Formulierung 
und Anwendung des Grundſatzes aber in jedem einzelnen Falle 
dem Richter überlaſſen würden. Das hieße aber den Richter zu 
einer Art Cenſor für den geſamten wirtſchaftlichen Verkehr machen; 
denn unter den in ſolcher Geſtalt erweiterten Wucherbegriff würde 
nicht nur der eigennützige Geſchäftsfreund des kleinen Bauern, 
ſondern z. B. auch der große Bankier fallen, der einem in Finanz⸗ 
not befindlichen Staate eine Anleihe gegen hohe Proviſion ver⸗ 
mittelt, und ebenſo der Fabrikant, der inmitten einer an Hunger⸗ 
löhne gewöhnten Bevölkerung ein Etabliſſement errichtet, aus dem 
er einen hohen Unternehmergewinn zieht, ꝛc. ꝛc. 

Es würde, wie ich glaube, ein ſolches Geſetz den Richter 
vor eine innerhalb der heutigen Wirtſchaftsordnung unlös— 
bare Aufgabe ſtellen. Ich halte ſie für unlösbar, da bei der 
Beurteilung der Angemeſſenheit von Leiſtung und Gegenleiſtung 
für die Mehrzahl der oneroſen Verträge der für Darlehnsverträge 
gegebene Maßſtab des landesüblichen Zinsfußes fehlen würde. 
Und dennoch würde es dem Richter an Zumutungen, dieſe von 
der Geſetzgebung ſchwer lösbare Aufgabe nun ſeinerſeits zu löſen, 
nicht fehlen. Die Folge eines ſolchen Zuſtandes würde eine tief— 
greifende Erſchütterung der geſamten Produktion und des geſamten 
Verkehrs ſein. 

Ich kann daher zu einem ſolchen Sprung ins Dunkle eben- 
ſowenig raten, wie ich mich auch mit zwei anderen weniger weit⸗ 
gehenden Vorſchlägen nicht einverſtanden zu erklären vermag. 

2. Der eine dieſer von verſchiedenen Seiten angeregten Vor⸗ 
ſchläge will die gewerbsmäßigen Geldverleiher dem Zwang der 
Buchführung und dieſe Buchführung wiederum der Kontrolle der 
Verwaltungsbehörden unterwerfen. Bei der heutigen Verquickung 
des Darlehnsgeſchäfts mit einer Reihe anderer Geſchäfte müßte 
dieſer Buchführungszwang konſequenterweiſe auf alle Perſonen, 
die mit den kleinen Leuten in Geſchäftsverbindung ſtehen, 
ausgedehnt werden. Ein ſolcher Zwang, wenn ordnungs— 


296 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 


mäßig gehandhabt, würde nun zwar unzweifelhaft viel zur Ent⸗ 
ſchleierung mancher dunklen Wuchervorgänge beitragen. Aber iſt 
an eine ordnungsmäßige Buchführung bei Perſonen, die ſich im 
ſteten Kampfe mit dem Geſetz befinden und deren ganzes Sinnen 
und Trachten darauf gerichtet iſt, dasſelbe zu umgehen, überhaupt 
zu denken? und wäre die Aufſicht der Verwaltungsbehörden in 
quantitativer und namentlich in qualitativer Beziehung überhaupt 
realiſierbar? Ich ſtehe nicht an, beide Fragen mit einem Nein 
zu beantworten. 

3. Nicht minder unzuläſſig erſcheint mir, wie ebenfalls vor⸗ 
geſchlagen worden iſt, ein den Anwälten gegenüber auszuſprechen⸗ 
des Verbot, die Vertretung von Wucherprozeſſen zu übernehmen. 
Denn müßte ihnen nicht aus demſelben Grunde die Vertretung 
des Mörders, des Betrügers, des Diebes unterſagt werden? Ein 
Wucherer iſt doch nur derjenige, der vom Gericht als ſolcher ver⸗ 
urteilt wird; behauptet nun aber nicht jeder Anwalt, der die 
Vertretung eines Wucherers übernimmt, bis zu dieſer Verurteilung 
die Überzeugung zu haben, daß ſein Klient unſchuldig ſei? und 
wie will man ihm die mala fides nachweiſen? Ein ſolches Ver⸗ 
bot würde überhaupt der Idee, die dem Anwaltsſtande zu Grunde 
liegt, widerſprechen. Dagegen wäre wohl zu wünſchen, daß die 
Anwaltskammern gegen diejenigen ihrer Mitglieder auf dem Dis⸗ 
ciplinarwege ſchärfer vorgehen, die ſich der wiederholten Ver⸗ 
tretung von Wucherern ſchuldig machen. 

4. Die Beſeitigung oder Einſchränkung der Wechſelfreiheit 
glaube ich hier nicht näher berühren zu ſollen. Dieſe Frage 
wurde früher häufig ventiliert, iſt aber gegenwärtig von den 
meiſten Berichterſtattern kaum geſtreift und nur von einigen 
wenigen die Beſchränkung der Wechſelfreiheit empfohlen worden. 

Dagegen ſcheinen mir folgende Vorſchläge für die Erreichung des 
zu erſtrebenden Zieles der Einengung und Beſchränkung des Wuchers 
zweckdienlich und zugleich durchführbar zu ſein. Ich rechne dazu 

1. eine ſchärfere Handhabung des Wuchergeſetzes. Dieſe 
ſchärfere Handhabung wird hauptſächlich bedingt ſein durch eine 
weniger formaliſtiſche Ausbildung unſerer Juriſten, durch ein 


Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 297 


tieferes Eindringen derſelben in die engen Beziehungen, die 
zwiſchen Wirtſchaft und Recht beſtehen, und durch ein größeres 
Sich⸗Vertraut⸗Machen derſelben mit dem Leben. Dieſe Forde— 
rung hängt aufs engſte zuſammen mit dem heutzutage allgemein 
verbreiteten Ruf nach einer beſſeren Vor- und Ausbildung unſerer 
Juriſten. 

Die ſchärfere Handhabung des Wuchergeſetzes wird ſodann 
weiter bedingt durch eine lebendigere Teilnahme der Geſellſchaft 
an der Klarlegung der Wucherfälle. Welchen Weg man in dieſer 
Beziehung einzuſchlagen hat, das zeigen die Antiwucher- bez. 
Rechtsſchutzbereine an der Saar, am Rhein, in Heſſen ꝛc., die 
das erforderliche Material für die Durchführung von Wucher— 
prozeſſen ſammeln, die Bewucherten durch Belehrung und Über— 
nahme der Prozeßkoſten unterſtützen und für das Bekanntwerden 
der entlarvten Wucherer und der von ihnen benutzten Formen 
und Praktiken ſorgen. Dieſe Beiſpiele verdienen Nachahmung. 
Aber nicht überall werden ſich Männer finden mit der Sach— 


kenntnis, dem Mut, der Opferwilligkeit, der Ausdauer, die 


erforderlich ſind, um ſolche Specialvereine zu begründen und zu 
leiten. Es ſollten daher, um die Erfolge dieſer Vereine auf 
weitere Gebiete zu übertragen, die allgemein verbreiteten land— 
wirtſchaftlichen Vereine und die ſich immer mehr verbreitenden 
Bauernvereine die Funktionen ſolcher Rechtsſchutzvereine über— 
nehmen. Wenn die landwirtſchaftlichen Vereine überhaupt die 
Zeichen der Zeit verſtehen, ſo werden ſie ihre Thätigkeit in Zu⸗ 
kunft nicht, wie bisher meiſtenteils, auf die Belehrung der 
größeren Grundbeſitzer in landwirtſchaftlich-techniſchen Fragen be- 
ſchränken, ſondern dieſelbe immer mehr auf die volkswirtſchaft— 
liche Belehrung, auf die Förderung und Unterſtützung ihrer 
Mitglieder ausdehnen und zugleich beſtrebt ſein, auch die kleinen 
Bauern in den Kreis ihrer Thätigkeit zu ziehen. Welchen Weg 
ſie in der Zukunft zu wandeln haben, das zeigen ihnen die gut— 
geleiteten Bauernvereine. Zu den letzteren rechne ich nur die— 
jenigen, die das wirtſchaftliche und ſittliche Wohl ihrer Mit- 
glieder — und dieſes allein — im Auge haben, nicht aber 


298 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organifation d. ländl. Kredits. 


diejenigen Bauernvereine, die nichts anderes ſind als maskierte 
politiſche Agitationsvereine. 

Auch der von Profeſſor von Lilienthal gemachte Vorſchlag, 
die Notare, die Hypothekenämter, die Grundbuchverwalter, die 
Richter zu verpflichten, daß ſie von wucheriſchen Thatſachen, von 
denen ſie amtliche Kenntnis erhalten, Anzeige machen, würde die 
Handhabung des Wuchergeſetzes weſentlich erleichtern. 

2. Neben der ſchärferen Handhabung des Wuchergeſetzes 
kann auch der Erhöhung der für den Wucher angedrohten Straf⸗ 
minima und -maxima das Wort geredet werden, da für beſonders 
qualifizierte Wucherfälle die geſetzlich firierten Strafminima und 
maxima zu niedrig erſcheinen. 

3. Um den Einfluß der Wucherer zu durchkreuzen, empfiehlt 
es ſich ſodann, für alle Teile des Reichs die Vorſchrift zu er⸗ 
laſſen, daß Verträge über Immobilien nur ſchriftlich und wo 
möglich nur unter Mitwirkung öffentlicher Notare und Gerichte 
abgeſchloſſen werden dürfen. Denn ſolange in einigen Ländern, 
wie z. B. Baden noch heute, zum Vertragsſchluß über die Im⸗ 
mobilien ſchon der mutuus consensus genügt, ſtehen der Über⸗ 
redung und Überliſtung der Bauern durch den Wucherer Thür 
und Thor offen. 

4. Die bei den privaten Verſteigerungen üblichen Praktiken 
zur Erzielung ungerechtfertigt hoher Güterpreiſe, deren Schau⸗ 
platz, wie ſchon geſagt, gewöhnlich das Wirtshaus iſt, wird man 
gründlich nur durch ein gegen die Grundſtücksverſteigerung unter 
Leitung von Privatperſonen und in Wirtshäuſern zu erlaſſendes 
Verbot beſeitigen. — Ein ſolches Verbot beſteht u. a. bereits 
in Württemberg und zwar auf Grund eines Geſetzes von 1853, 
auf das ich ſpäter noch näher einzugehen haben werde. — Über 
die Nützlichkeit eines ſolchen Verbots dürfte kein Zweifel beſtehen; 
aber auch ſeine rechtliche Begründung dürfte nicht ſchwer fallen. 
Denn wendet ſich der Verſteigerer mit ſeinem Angebot an die 
Offentlichkeit, ſo vollzieht er damit einen öffentlichen Akt, deſſen 
Delegation an Privatperſonen durch nichts begründet iſt. Es 
möge daher in Zukunft das, was öffentlicher Natur iſt, auch von 


Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 299 


Beamten des Staates oder der Gemeinden und in Formen, welche 
der Würde und Bedeutung der Offentlichkeit entſprechen, voll- 
zogen werden. 

5. Thut eine Erſchwerung des ſpekulativen Güteraus— 
ſchlachtens, des ſogenannten Gütermetzgens, not. Man braucht 
den Wert der aufſteigenden Klaſſenbewegung, die auf dem Lande 
mit dem Ankauf eines Hauſes und eines kleinen Landſtücks be— 
ginnt und ſich in allmählicher Erweiterung des Beſitztums fort— 
ſetzt, durchaus nicht zu verkennen und wird doch die Vermittelung 
der Gütermetzger zu dieſem Zweck für entbehrlich, ja für über— 
wiegend ſchädlich halten. Denn wer die zum Ankauf eines kleinen 
Grundſtücks erforderlichen Erſparniſſe gemacht hat und wer zu 
Preiſen kaufen will, bei denen er beſtehen kann, wird bei der 
heutigen Verkehrsfreiheit dieſes Bedürfnis in der Regel auch ohne 
jene Vermittler befriedigen können; und wo dies nicht der Fall 
ſein ſollte, muß durch andere Mittel für ſolche Befriedigung ge— 
ſorgt werden. Der gewerbsmäßige Gütermetzger ſchafft nun aber 
infolge der übermäßigen Höhe, auf die er durch künſtliche Mani- 
pulationen die Preiſe der Grundſtücke hinaufzubringen pflegt, in 
der Regel nicht etwa Exiſtenzen, die proſperieren und ſich auf— 
wärts bewegen, ſondern umgekehrt Exiſtenzen, welche ſich der 
neugeſchaffenen Lage nicht gewachſen zeigen und nach Verluſt 
ihrer geringen Erſparniſſe auf eine niedrigere ſociale Stufe 
hinabgleiten. Dieſen Mißbrauch der Verkehrsfreiheit ſucht das 
Württembergiſche Geſetz vom 23. Juni 1853 zu beſeitigen. Der 
hier in Betracht kommende Inhalt dieſes Geſetzes beſteht darin, 
daß Erwerber von Grundſtücken dieſelben in Parzellen an andere 
während der erſten drei Jahre nach dem Kauf nicht veräußern 
dürfen, es ſei denn, daß ſie die Genehmigung der betreffenden 
Verwaltungsbehörde, der Kreisregierung, dafür erlangen; die 
Genehmigung ſoll aber nur dann erteilt werden, wenn wirklich 
ein mit dem allgemeinen Intereſſe im Einklang ſtehendes Be- 


dürfnis zu einer ſolchen Zerſtückelung vorliegt. Dieſes württem⸗ 


bergiſche Geſetz wird nun, wie mir von württembergiſchen Be— 
amten mitgeteilt worden iſt, ſeitens der Kreisregierungen im 


300 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organifation d. ländl. Kredits. 


allgemeinen ſehr liberal gehandhabt, und es werden die Zügel 
nur dann ſtrammer angezogen, wenn ſich in einer Gegend 
gewerbsmäßige Wucherer in größerer Anzahl einzuſtellen pflegen. 
Daß die gewerbsmäßigen Wucherer eine ſolche Erſchwerung 
ihrer Praxis zu umgehen ſuchen werden, indem ſie namens 
und im Auftrage ihrer Opfer zu handeln vorgeben, ſteht zu 
erwarten: aber es laſſen ſich gegen ſolche Umgehungen Kautelen 
ſchaffen, wie denn auch das württembergiſche Geſetz mit Erfolg 
ſolche Kautelen geſchaffen hat. Jedenfalls würde ein ſolches 
Geſetz in Verbindung mit der Übertragung ſämtlicher Grund⸗ 
ſtücksverſteigerungen an öffentliche Beamte einen viel genaueren 
Einblick in das Treiben der Wucherer ermöglichen, das ja ge⸗ 
wöhnlich in ſolchen Grundſtücksverſteigerungen kulminiert, als der 
befürwortete Buchführungszwang das zu thun vermöchte. 

Nun wird man mir vielleicht entgegnen, daß das Güter⸗ 
metzgen ſeit der agrariſchen Kriſis, in der wir uns befinden, 
geringere Dimenſionen angenommen hat, indem die Wucherer es 
heutzutage vielfach vorteilhafter finden, ihre Schuldner auf der 
Scholle ſitzen zu laſſen, damit dieſelben im Schweiße ihres An⸗ 
geſichts die Zinſen für ihre modernen Feudalherren herausarbeiten. 
Das iſt richtig; aber Geſetze werden ja nicht für einen Tag, 
ſondern für die Dauer gemacht, und das Gütermetzgen hat auch 
heute noch nicht vollſtändig aufgehört, wie man ſich aus dem 
Inſeratenteil unſerer Zeitungen überzeugen kann, in denen gar 
nicht ſelten Annoncen der Art vorkommen, daß Kapitaliſten ge⸗ 
ſucht werden zum Zwecke ſehr lukrativer Güterzerſtückelungen. 
Auch wird das Geſchäft bei beſſeren Konjunkturen ſicher wieder 
in Blüte kommen. 

6. Wenn das Angebot von Ba namentlich in der Form 
von kleinen Parzellen, ſoweit ſeine Folgen überwiegend ſchädliche 
ſind, eingeſchränkt werden muß, ſo darf die Geſetzgebung doch 
nicht zulaſſen, daß das Land auch dort dem Verkehr entzogen 
werde, wo dieſer Verkehr der ungünſtigen Folgen entbehren würde. 
Nun befindet ſich heutzutage ein nicht unerheblicher Teil des 
deutſchen Bodens in fideikommiſſariſcher Gebundenheit und iſt 


Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 301 


dadurch dem Verkehr entzogen. Als notwendiges Korrelat zu der 
obigen Maßregel einer Erſchwerung der gewerbsmäßigen Güter- 
zerſtückelung erſcheint daher die den gegenwärtigen Fideikommiß— 
beſitzern einzuräumende Erleichterung zur Abtrennung mittlerer 
und kleiner Güter von ihren Grundbeſitzkomplexen und das Ver— 
bot oder wenigſtens die Erſchwerung der Errichtung neuer ſowie 
der Vergrößerung beſtehender Fideikommiſſe. 

Die bisher gegen den Wucher empfohlenen Maßregeln waren 
faſt ausſchließlich repreſſiver Natur, ſie ſollten den Wucherer ein— 
ſchüchtern und ſein gemeingefährliches Thun verhindern oder doch 
erſchweren und durchkreuzen. Aber da es niemals gelingen wird, 
die waghalſigſten, verſchmitzteſten, gefährlichſten Elemente unter 
denſelben und ihr wucheriſches Treiben vollſtändig zu beſeitigen, 
ſo wird eine radikale Beſſerung der Zuſtände B. an diejenigen 
Perſonen anknüpfen müſſen, aus denen der Wucherer ſich ſeine 
Objekte holt. Dieſe gegenüber dem Wucherer widerſtandsfähiger 
zu machen, muß daher das letzte Ziel aller Antiwucherbeſtrebungen 
ſein. Mit der Aufklärung über die verderblichen Folgen des 
Wuchers, mag man ſie noch ſo hoch veranſchlagen, wird aller— 
dings nicht alles gethan ſein; wo wirkliche Notſtände oder tief— 
eingewurzelte unwirtſchaftliche Lebensgewohnheiten ganzer Be— 
völkerungsklaſſen vorliegen oder wo zur Befriedigung ihrer legi— 
timen Bedürfniſſe die nötigen Einrichtungen fehlen, da bedarf es 
umfangreicherer und zugleich tiefergehender Anſtrengungen. 

Dieſe Anſtrengungen werden ſich in erſter Linie zu richten 
haben gegen diejenigen Beſitzverhältniſſe und Lebensbedingungen, 
die im natürlichen Verlauf der Dinge immer wieder nach beſtimmten 
Intervallen zu Notſtänden führen. Die Notſtände entſpringen 
nun aber aus dem Kleingütlertum dort, wo für dieſes Klein- 
gütlertum die zum Gedeihen desſelben erforderlichen Voraus— 
ſetzungen fehlen, alſo wo der Boden wenig ergiebig oder ſchwer 
zu bearbeiten und das Klima rauh iſt, wo es an zahlreichen 
konſumtionsfähigen Städten und an einer verbreiteten Induſtrie 
fehlt, wo Handelsgewächs⸗, Hopfen⸗ und Rebbau entweder durch 
die natürliche Ausſtattung einer Gegend ausgeſchloſſen oder aus 


302 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 


anderen Gründen nicht lohnend iſt, endlich wo es am Abſatz für 
den Gemüſebau und an lohnbringender Nebenbeſchäftigung fehlt. 

Es wäre ſchon viel gewonnen, wenn die vielleicht etwas zu 
ausſchließlich von ſocialpolitiſchen Geſichtspunkten beherrſchte 
Theorie dieſe Grenzen für die gedeihliche Ausbreitung des kleinen 
Bauernſtandes allgemein anerkennen und derſelben nicht auch dort 
das Wort reden wollte, wo die Bedingungen dieſer gedeihlichen 
Exiſtenz fehlen, und wenn dieſe Theorie gleichzeitig anerkennen wollte, 
daß ein befriedigender Zuſtand der kleinen bäuerlichen Bevölkerung 
nur möglich iſt in Verbindung mit einem kräftigen, ſpannfähigen 
Bauernſtande und vor allen Dingen mit geſunden Gemeindeverhält⸗ 
niſſen. Auch wäre es eine dringende, wenngleich bisher nur zu ſehr 
vernachläſſigte Aufgabe der Volkswirtſchaftspolitik, krankhafte 
Zuſtände der Grundbeſitzverteilung zu heilen und ihre Wiederkehr 
ſowie namentlich ihre Verbreitung nach Möglichkeit zu verhindern. 
Ich ſage: nach Möglichkeit; denn der Kampf gegen die Über⸗ 
völkerung, die Schollenkleberei, die unnatürliche Preisbildung 
ſowie die extreme Verſchuldung, Zerſtückelung und Parzellierung 
des Grundbeſitzes iſt um ſo ſchwerer, je enger hier manche 
Schattenſeiten des Volkslebens mit geſunden und ehrenhaften 
Eigenſchaften des Volkes verknüpft ſind und je feſter beide in 
der Volksſeele wurzeln. Auch iſt eine Anderung und Beſſerung 
von Zuſtänden, die mit der urſprünglichen Beſiedelung des 
Bodens und mit der tauſendjährigen Geſchichte einzelner Volks⸗ 
ſtämme zuſammenhängen, nicht von heute auf morgen zu be⸗ 
wirken. Um ſo gründlichere und konſequentere Sorgfalt ſollte 
aber auf dieſe Beſſerung ſeitens des Staates verwandt werden. 
Die Erſchwerung der Naturalteilung des Bodens und der Bildung 
künſtlich hoher Güterpreiſe, die Zuſammenlegung unwirtſchaftlich 
gelegener Parzellen, die Zufuhr von Kapital von außen und 
der Abfluß der überſchüſſigen Bevölkerung nach außen ſollte 
nach Möglichkeit angeſtrebt und vor allem die Ausbreitung des 
krankhaften Klein- und Zwerggütlertums in Gegenden, wo das⸗ 
ſelbe noch nicht beſteht, verhütet werden. Uns im Nordoſten 
Deutſchlands würde ja eine Ausbreitung des mittleren und 


Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 303 


kleinen Beſitzes vielfach not thun; aber wir haben uns auch 
immer zu erinnern, daß die Grenzen für die Proſperität des 
letzteren hier viel enger gezogen ſind als in dem mit im ganzen 
fruchtbarerem Boden und milderem Klima ausgeſtatteten, jtädte-, 
induſtrie⸗ und kapitalreicheren Süden und Südweſten. 

Ahnlich weitausſchauend wie die Hebung der wirtſchaftlichen 
Lage dürfte die Hebung des geiſtigen und ſittlichen Niveaus der 
Bevölkerung in den Wucherbezirken ſein. Wir ſtehen hier vor einer 
für unſere geſamte zukünftige Entwickelung hochbedeutſamen Kultur— 
frage, vor der Frage nämlich, wie der ländlichen Bevölkerung auf— 
geklärtere Anſchauungen und beſſere wirtſchaftliche Gewohnheiten 
und Sitten vermittelt werden können oder, mit einem Worte, 
wie dem deutſchen Bauern etwas von dem Selbſtbewußtſein, der 
Anſtelligkeit und Findigkeit des amerikaniſchen Farmers beizu— 
bringen iſt. Es iſt das eine Aufgabe, die nur durch größere 
ſociale Ausgleichung der verſchiedenen Klaſſen im Laufe der Zeit 
gelöſt werden wird, eine Aufgabe, deren Löſung aber immerhin 
beſchleunigt werden kann durch einen mehr auf das praktiſche 
Leben hinzielenden Unterricht in der Volksſchule und in den 
landwirtſchaftlichen Unterrichtsanſtalten, durch eine ſelbſtloſe 
Hingabe der oberen und mittleren Klaſſen an die Intereſſen der 
ländlichen Bevölkerung, durch ein ſtärkeres Heranziehen der letzteren 
in das Genoſſenſchafts- und Vereinsleben zu gemeinſamem Raten 
und Thun mit den gebildeten Klaſſen, endlich für unſeren Oſten 
auch durch eine reichere Ausbildung der Selbſtverwaltung in der 
Gemeinde. 

Es möge mir geſtattet ſein, an dieſer Stelle mit einigen 
Worten auf einen der eben berührten Punkte näher einzugehen, 
nämlich auf die Genoſſenſchaften und ſpeciell auf die Ankaufs— 
genoſſenſchaften oder landwirtſchaftlichen Konſumvereine und die 
Verkaufs⸗ oder landwirtſchaftlichen Abſatzgenoſſenſchaften. Die— 
ſelben haben, abgeſehen von ihrer großen erziehlichen Bedeutung, 
indem ſie dem Bauern Vertrauen zu ſich ſelbſt und Vertrauen 
zu ſeinesgleichen geben, auch die Aufgabe, ihn beim Ankauf der— 
jenigen Gegenſtände, deren er zu ſeinem Betriebe bedarf, und 


304 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 


beim Verkauf ſeiner Produkte möglichſt günſtig zu ſtellen. Wenn 
es auch überraſchend und zugleich erfreulich iſt, daß ſich dieſe 
Genoſſenſchaften nach dem Syſtem Schulze-Delitzſch in den letzten 
Jahrzehnten namentlich unter dem Druck der Kriſis ſehr bedeutend 
verbreitet haben, ſo bleibt hier doch noch viel zu thun übrig. Es 
muß namentlich den Abſatzgenoſſenſchaften noch ein weites Gebiet 
erobert werden — das Gebiet des Abſatzes von Vieh, Getreide, 
Flachs, Hopfen, Wein u. ſ. w., und es bedarf noch einer Reihe 
von Veranſtaltungen, die an die Genoſſenſchaften zu knüpfen ſind 
und von denen dieſelben bisher noch wenig Notiz genommen haben. 
Ich erinnere hier vor allem an die Errichtung von Lagerhäuſern 
in Verkehrsmittelpunkten, an die Lombardierung der über die ge- 
lagerten Warenvorräte ausgeſtellten Warrants u. ſ. w. 

Durch die eben angeführten Einrichtungen wird es all⸗ 
mählich gelingen, den Bauer von dem Warenwucher frei zu 
machen. 

Um ihn aber auch der Wirkſamkeit des Kreditwuchers zu 
entziehen, bedarf es ſchließlich ſolcher Einrichtungen, die dem 
Bauern einen Kredit gewähren, welcher der Natur des Grund⸗ 
beſitzes und des landwirtſchaftlichen Betriebes entſpricht und auf 
die Anſchauungen und Gewohnheiten des Bauern mehr Rückſicht 
nimmt, als es gegenwärtig gewöhnlich geſchieht. Und damit 
komme ich zum zweiten Gegenſtande meines Referats, zur Frage 
der ländlichen Kreditorganiſation. 


II. 


Um dieſen Anforderungen zu entſprechen, muß 

1. der Kredit dem Bauern ſo billig gewährt werden, als 
es die Konjunkturen des Kapitalmarktes nur irgend geſtatten. 

Es muß 2. der Bauer zur Benutzung des für ihn ſo wichtigen 
Perſonalkredits erſt noch herangebildet werden; denn derſelbe 
kennt den Wert des Betriebskapitals vielfach noch gar nicht ge⸗ 
nügend und verſteht es nicht, ſich dasſelbe im Wege des Perſonal⸗ 
kredits zu verſchaffen und dieſen richtig zu benutzen; 


Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 305 


3. müſſen, je nach den Verwendungszwecken des durch den 
Kredit beſchafften Geldes, die Kreditfriſten verſchieden abgeſtuft 
und muß in dieſer Beziehung zwiſchen dem Real- und Perſonal⸗ 
kredit genauer unterſchieden werden. 

4. Da die Ausgaben, denen der ſogenannte Beſitz- und 
Meliorationskredit dient, ſich in ziemlich regelmäßigen Intervallen, 
alſo etwa nach einem Menſchenalter, wiederholen, ſo muß, wenn 
nicht der Grundbeſitz überſchuldet werden ſoll, für die Abſtoßung 
ſolcher Schulden während dieſer Intervalle geſorgt werden. 

Eine ſolche Tilgung des Kredits geſchieht nun aber er— 
fahrungsmäßig nicht in dem gewünſchten Umfange, wenn ſie 
lediglich in das freie Belieben des Schuldners geſtellt wird; es 
iſt daher zu fordern, daß mit dem Immobiliarkredit regelmäßig 
der Amortiſationszwang verbunden ſei, dergeſtalt jedoch, daß bei 
außergewöhnlichen Einnahmen der Schuldner auch ſtärker tilgen 
könne und daß die Zahlung der regelmäßigen Tilgungsbeträge 
in Zeiten der Not geſtundet werde. 

5. Endlich iſt die Gewährung von Perſonal- und Realkredit 
wenn irgend möglich in einer und derſelben Anſtalt zu verbinden, 
wie auch ſchon Rodbertus, wie ich glaube: mit Recht, verlangt hat. 

All dieſe Aufgaben können und werden aber heute in der 
Regel nicht von einzelnen Kreditgebern (Individualkredit), ſondern 
nur von Kreditanſtalten (Anſtaltskredit), die auf die Bedürfniſſe 
des Bauern zugeſchnitten ſind, gelöſt werden. Wenn ich ſage: 
in der Regel, ſo will ich von derſelben ausdrücklich ausnehmen 
die Stiftungen mannigfacher Art, deren große namentlich in 
katholiſchen Ländern vorhandene Kapitalien dem Hypothekarkredit 
zur Verfügung ſtehen, ſowie diejenigen Banken und Bankiers, 
welche — wie namentlich aus Mecklenburg, Schleswig-Holſtein, 
Oldenburg u. ſ. w. berichtet wird — bei Gewährung von Per⸗ 
ſonalkredit an Landwirte in ihren Bedingungen ebenſo coulant 
wie mäßig ſind. Aber für die Geſamtheit der kleinbäuerlichen 
Bevölkerung kommen ſolche Kreditgeber doch nur wenig in Be— 
tracht. Es thun daher gut organiſierte Kreditanſtalten um ſo mehr 


not, je mehr der legitime Individualkredit ſich auf ein immer 
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 20 


306 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 


kleineres Gebiet zurückzieht. Verwandte, Nachbarn, Berufsgenoſſen, 
reelle Geſchäftsfreunde, welche früher ihr Kapital den Grund⸗ 
beſitzern in großem Betrage zur Dispoſition ſtellten, haben heute 
ſehr wenig Neigung dazu und zwar aus Gründen, die ja in 
unſerer allgemeinen ſocialen und wirtſchaftlichen Entwickelung 
ihre Erklärung und zum Teil auch ihre Rechtfertigung finden. 

So bleiben denn — je länger, um ſo mehr — als Privat⸗ 
gläubiger nur ſolche Perſonen übrig, die aus dem dem Landmann 
gewährten Kredit einen außergewöhnlichen Gewinn ziehen wollen. 
Soll das Gebiet ihrer Thätigkeit eingeſchränkt werden, ſo iſt 
dafür zu ſorgen, daß dem Bauern überall Kreditanſtalten zur 
Verfügung ſtehen, welche ſeinem gegenwärtigen Kulturzuſtande 
entſprechen. 

Wie iſt es nun in dieſer Beziehung mit unſeren Kredit⸗ 
organiſationen beſtellt? entſprechen ſie den an ſie geſtellten An⸗ 
forderungen in quantitativer und qualitativer Beziehung vollſtändig 
oder nicht? Eine kurze Inventariſierung des Beſtandes dieſer 
Anſtalten wird die Antwort auf dieſe Frage geben. Bei dieſer 
Gelegenheit werde ich mich ausſchließlich der dem Jahre 1885 
angehörigen Zahlen bedienen, da mir nur dieſe in einiger Voll⸗ 
ſtändigkeit vorliegen. 

Ich unterſcheide zunächſt zwei Kategorieen derartiger Kredit⸗ 
anſtalten: ſolche, denen dieſe Kreditgewährung Zweck und die 
Herbeiſchaffung des erforderlichen Kapitals nur Mittel iſt, und 
ſolche, die die Gewährung des ländlichen Kredits lediglich als 
Mittel anſehen, um ihr Kapital zins- und dividendenbringend 
anzulegen. Während die erſteren Anſtalten daher lediglich für 
die ländliche Bevölkerung da ſind und ihre Intereſſen verfaſſungs⸗ 
mäßig und prinzipiell berückſichtigen, thun die letzteren dies nur 
inſoweit, als dadurch zugleich die Intereſſen des Kapitals, deſſen 
Vertretung ihnen in erſter Linie obliegt, gefördert werden. In 
den erſteren Anſtalten ſteht ſomit das organiſierte Intereſſe des 
Grundbeſitzes dem einzelnen Kapitaliſten oder einer Summe von 
ſolchen, in den letzteren das organiſierte Intereſſe des Kapitals 
dem einzelnen Grundbeſitzer gegenüber. 


uA 


Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 307 


Wer an das Dogma der Intereſſenharmonie gller Klaſſen 
und der durch ſie repräſentierten Produktionsfaktoren nicht blind 
glaubt, wird zugeſtehen müſſen, daß die Intereſſen des beweg— 
lichen Kapitals und des Grundbeſitzes auseinandergehen können 
und daß die Wahrung der Intereſſen des letzteren nur dort in 
der richtigen Hand iſt, wo fie prinzipiell und ohne Nebenrück— 
ſichten angeſtrebt wird. 

A. Zu der einen und zwar zur zweiten Klaſſe von Anſtalten 
zähle ich 1. die Bodenfredit- oder Hypothekenbanken. Die ledig⸗ 
lich dem hypothekariſchen Kredit dienenden Bodenkreditbanken, 
welche meiſtenteils Aktiengeſellſchaften ſind, ſtammen aus einer 
Zeit, in welcher der Individualkredit ſich vom ländlichen Grund— 
beſitz in erheblichem Maße zurückzuziehen begann, die genoſſen— 
ſchaftlichen Kreditinſtitute aber dem Bedürfnis der Landwirte — 
wegen der niedrigen Beleihungsgrenze und aus anderen Gründen 
— nicht genügten. In dieſer Zeit haben die Hypothekenbanken 
allerdings hauptſächlich dem ſtädtiſchen, aber auch dem ländlichen 
Grundbeſitz nicht unweſentliche Dienſte geleiſtet, ſich dieſe Dienſte 
aber auch teuer bezahlen laſſen und durch eine Reihe von Be— 
dingungen, welche wohl dem Intereſſe des durch dieſe Anſtalten 
repräſentierten Kapitals, nicht aber auch zugleich dem des länd— 
lichen Grundbeſitzes dienen, ſich die Gunſt des letzteren nicht 
zu erhalten gewußt, namentlich dann nicht, als der Geldmarkt 
flüſſiger geworden war, und namentlich dort nicht, wo die älte— 
ren genoſſenſchaftlichen Inſtitute ſich in ihrer Praxis den neu 
entſtandenen Bedürfniſſen mehr anzupaſſen und die Schuldner 
die Läſtigkeit der von ihnen eingegangenen Bedingungen, an die 
ſie für längere Zeit gebunden waren, einzuſehen anfingen. Das 
durch die Rückſicht auf die Erzielung hoher Dividenden geleitete 
Streben dieſer Inſtitute, ihren Geſchäftskreis möglichſt zu er— 
weitern, hat ſie ferner nicht immer die wünſchenswerte Vorſicht 
bei Beleihung der Immobilien beobachten laſſen, und auch ſonſt 
hat ihre Geſchäftsführung nicht überall die nötige Garantie der 
Solidität, wie ja neuere Vorgänge (Gothaer Grundkreditbank!) 


zeigen, geboten. 
20 * 


308 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organifation d. ländl. Kredits. 


Aus dieſen Gründen beſteht, wenigſtens im Norden Deutſch⸗ 
lands und ſperiel in Preußen, für dieſe Anſtalten in der länd⸗ 
lichen Bevölkerung keine große Zuneigung. 

Im Süden Deutſchlands iſt ihre Lage inſofern eine excep⸗ 
tionelle, als ſie hier, bei dem Fehlen von ſtaatlichen und ge⸗ 
noſſenſchaftlichen Kreditanſtalten für den Hypothekarkredit, ſich 
im Beſitz eines Quaſimonopols für die hypothekariſche Beleihung 
des ländlichen Grundbeſitzes befinden. Auch haben ſie dieſes 
Monopol hier nicht in der einſeitigen Weiſe ausgenutzt, wie 
ihnen das bei der großen Freiheit, die ihnen im Süden gegeben 
iſt — keine Normativbeſtimmungen! — wohl möglich geweſen 
wäre. Ja, manche dieſer Anſtalten haben durch ihre ſolide Ge⸗ 
ſchäftsführung ſowie durch die möglichſte Rückſichtnahme auf 
die Bedürfniſſe des ländlichen Grundbeſitzes — ich erinnere nur 
an das Entgegenkommen, das die rheiniſche Hypothenbank gegen⸗ 
über den badiſchen Landwirten noch neuerdings gezeigt hat — 
ihre Stellung auch unter der ländlichen Bevölkerung befeſtigt. 
Immerhin wird nicht geleugnet werden können, daß es für den 
ländlichen Grundbeſitz hypothekariſche Einrichtungen geben kann, 
— und in den Ländern mit Landſchaften, ſtaatlichen und kom⸗ 
munalſtändiſchen Hypothekenanſtalten auch wirklich giebt —, 
welche dem Kreditbedürfnis des ländlichen Grundbeſitzes mehr 
und beſſer Rechnung tragen als die Bodenkreditanſtalten. Selbſt 
warme Vertreter dieſer letzteren wollen daher ihre Wirkſamkeit 
hauptſächlich auf die Beleihung ſtädtiſcher Grundſtücke und in⸗ 
duſtrieller Etabliſſements beſchränkt wiſſen, wie ſie denn faktiſch 
im Norden Deutſchlands an der Beleihung des ländlichen Grund⸗ 
beſitzes in der Regel nur einen geringen Anteil haben. Von 
den bereits faſt 2 Milliarden Mark, welche die reinen und ge⸗ 
miſchten Hypothekenbanken im Jahre 1885 in Pfandbriefen und 
Kommunalobligationen emittiert hatten, entfällt auf den länd⸗ 
lichen Grundbeſitz Norddeutſchlands nur ein kleiner, auf den⸗ 
jenigen Süddeutſchlands allerdings ein größerer Teil. Der 
Hauptſache nach iſt ihre Thätigkeit auf die Beleihung ſtädtiſcher 


Te Var 


4 
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3 
1 
4 
2 
4 
* 
8 
* 
5 
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* 


Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 309 


Grundſtücke und induſtrieller Etabliſſements ſowie auf die Ge— 
währung von Darlehen an Kommunen beſchränkt. 

2. Dasſelbe gilt auch von den deutſchen Lebensverſicherungs— 
geſellſchaften, welche allein in Preußen im Jahre 1885 674 
Millionen Mark, alſo 69 Prozent ihrer Aktiva, in Hypotheken 
angelegt hatten. Für das geſamte Deutſche Reich dürfte die 
auf Hypotheken ausgeliehene Summe dieſer Lebensverſicherungs⸗ 
geſellſchaften vielleicht eine Milliarde erreichen, aber ebenfalls 
zum bei weitem größten Teile den ſtädtiſchen Grundſtücken und 
induſtriellen Etabliſſements zu gute kommen. 

3. Was die noch hierher zu rechnenden Sparkaſſen betrifft, 


ſo bezifferten ſich die Einlagen derſelben im Jahre 1885 in den 


5 größten Deutſchen Staaten allein auf mehr als 2%, Milliar- 
den Mark; im ganzen Deutſchen Reich würden die Sparkaſſen⸗ 
einlagen desſelben Jahres nach einer, wie mir ſcheint, richtigen 
Schätzung auf 3¼ Milliarden Mark anzunehmen ſein. Von 
dieſen Einlagen wurden nach derſelben Schätzung durchſchnittlich 
mehr als 50 Prozent in Hypotheken und davon wieder etwa 
33 Prozent, alſo über 1 Milliarde, auf ländliche Hypotheken aus⸗ 
geliehen. Beſonders ausgebildet iſt dieſer Geſchäftszweig der 
Sparkaſſen im Königreich Sachſen, in Bayern, Heſſen, Württem⸗ 
berg und in einigen preußiſchen Provinzen, wogegen die Befrie— 


digung des Perſonalkredits der Landwirte durch die Sparkaſſen 


ſich überall in ſehr engen Grenzen bewegt. 

Die großen in den Sparkaſſen zuſammenfließenden Summen 
haben nun eine Anzahl von einſichtsvollen, energiſchen und 
warmen Vertretern des ländlichen Kreditweſens auf den Ge— 
danken gebracht, daß die Sparkaſſen durch weiteren Ausbau der— 
ſelben in noch viel höherem Grade als bisher dem ländlichen 
Kredit überhaupt und namentlich dem ländlichen Perſonalkredit 
dienſtbar gemacht werden könnten. Soweit hierbei an die 
direkte Gewährung von Darlehen durch die Sparkaſſen an die 
Landwirte gedacht wird, teile ich dieſe Anſicht nicht. Denn 
ſchon gegenwärtig entſpricht die Kreditgewährung der Sparkaſſen 
dem wirklichen Bedürfnis der Landwirtſchaft nur unvollkommen, 


310 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 


weil die von ihnen gewährten hypothekariſchen Darlehen im 
allgemeinen kündbar und dem Amortiſationszwange nicht unter⸗ 
worfen ſind. Auch haben nur die wenigſten Sparkaſſen eine 
freiwillige Amortiſation der von ihnen entnommenen Darlehen 
eingeführt. Endlich iſt der von vielen Sparkaſſen erhobene 
Zins für die Landwirte ein zu hoher, indem dieſelben ſich 
für verpflichtet halten, den Einlegern möglichſt hohe Zinſen zu 
verſchaffen, und viele derſelben außerdem das Beſtreben zeigen, 
einen größeren Reingewinn zu erzielen, der dann zum Teil eine 
exoteriſche Verwendung für kommunale und ſonſtige gemeinnützige 
Zwecke findet. Ich nenne dieſe Verwendung eine exoteriſche, weil 
ſie dem ländlichen Grundbeſitz, der einen Teil der hohen Zinſen 
aufbringt, nicht zu gute kommt. 

Vollends der weiteren Ausdehnung des direkt durch die 
Sparkaſſen zu gewährenden Kredits ſtellen ſich in der Natur 
dieſer Inſtitutionen liegende Schranken entgegen. Denn iſt es 
ihre erſte Pflicht, auf die möglichſte Sicherheit und die ſtete 
Rückzahlbarkeit der Sparkaſſeneinlagen zu ſehen, ſo werden ſie 
über den gegenwärtig auf Hypothek ausgeliehenen Prozentſatz der 
Einlagen kaum hinausgehen dürfen. Einer Nutzbarmachung der 
Sparkaſſen für den Perſonalkredit der Landwirte ſtellt ſich aber 
außerdem in den meiſten Fällen die Unbekanntſchaft der Sparkaſſen⸗ 
verwaltungen mit den Verhältniſſen der Landwirte entgegen, und 
dieſe Unbekanntſchaft iſt wieder bedingt durch den Sitz der meiſten 
Sparkaſſen, der ſich gewöhnlich in größeren Städten befindet, 
durch das Perſonal ihrer Verwaltung, welches nur ausnahms⸗ 
weiſe ländlichen Kreiſen angehört, und durch die Art ihrer Ge- 
ſchäftsführung, welche auf die Ausleihung ganz kleiner Summen 
meiſtenteils nicht eingerichtet iſt. Wenn es dennoch hier und 
da, z. B. bei den Kreisſparkaſſen zu Merzig und Neu-Ruppin 
und bei der Landgemeindeſparkaſſe zu Hildesheim, gelungen iſt, 
die Sparkaſſeneinlagen in größerem Maße für den Perſonalkredit 
der Landwirte dienſtbar zu machen, ſo ſind dieſe wenigen Aus⸗ 
nahmen durch den hervorragenden Einfluß und die energiſche 
Thätigkeit einzelner für das Wohl der ländlichen Bevölkerung 


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Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 311 


ſich beſonders intereſſierender Männer zu erklären; einer Aus— 
breitung dieſer Thätigkeit aber wird die Natur der Sparkaſſen 
und ihrer Einrichtungen, wie ich glaube, einen zähen Widerſtand 
entgegenſetzen. 

Dieſen Widerſtand allgemein zu beſeitigen, würde daher 
nur einer vollſtändigen Reorganiſation der Sparkaſſen gelingen. 
Es fragt ſich aber, ob ſich eine ſolche tiefgehende Reorganiſation 
empfehlen läßt in einer Zeit, in der das Damoklesſchwert der 
Poſtſparkaſſen noch über dem Haupte unſerer beſtehenden Kreis-, 
Kommunal⸗, Vereins: und Privatſparkaſſen ſchwebt. Denn die 
Poſtſparkaſſen würden notwendig eine ſolche Centraliſation des 
geſamten Sparkaſſenweſens zur Folge haben, daß an die di— 
rekte Pflege des ländlichen Perſonalkredits durch dieſelben, 
welche ſchon bei der gegenwärtig weitgehenden Decentraliſation 
des Sparkaſſenweſens auf große Schwierigkeiten ſtößt, vollends 
nicht gedacht werden könnte; wie denn auch in denjenigen Län- 
dern, in welchen das Poſtſparkaſſenweſen ſich eingebürgert hat, 
von einer Nutzbarmachung desſelben für den ländlichen Kredit 
kaum die Rede iſt. 


Wohl aber ließen ſich größere Summen der bei den Spar- 
kaſſen zuſammenfließenden Einlagen, wie ich noch auszuführen 
haben werde, bereits jetzt und ebenſo nach Einführung der Poſt— 
ſparkaſſen auf indirekte Weiſe für den ländlichen Kredit nutzbar 
machen. 


4. Endlich wird an dieſer Stelle noch der Bedeutung der 
Reichsbank für die Lombardierung landwirtſchaftlicher Produkte 
gedacht werden müſſen. Zuverläſſige Angaben über den Umfang 
dieſes Geſchäfts laſſen ſich nicht machen, doch ſei erwähnt, daß 
die Reichsbank noch neuerdings — im Jahre 1887 — für die 
Lombardierung des Spiritus weſentliche Erleichterungen hat ein— 
treten laſſen. 


B. Ich gehe jetzt zur Beſprechung der anderen großen 
Kategorie von Anſtalten über, derjenigen nämlich, die lediglich 
zum Zweck der Befriedigung des ländlichen Kreditbedürfniſſes 


312 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 


eingerichtet ſind. Es ſind das entweder genoſſenſchaftliche oder 
ſtaatliche bezw. kommunalſtändiſche Einrichtungen. 

1. Zu den älteſten genoſſenſchaftlichen Krediteinrichtungen 
gehören die Landſchaften oder die ſogenannten Kreditſyſteme. 
Aus der Kreditnot des ritterſchaftlichen Grundbeſitzes unter 
Friedrich dem Großen hervorgegangen und zuerſt in Schleſien 
begründet, haben ſie ſich von hier aus über ſämtliche alte und 
neue Provinzen des Preußiſchen Staates mit Ausnahme der 
Rheinprovinz ausgebreitet. Und noch weiter: ſie haben Wurzel 
gefaßt in Hannover bereits in vorpreußiſcher Zeit, im Königreich 
Sachſen, in Mecklenburg und in Braunſchweig. Die Geſamtheit 
der zu einer Korporation verbundenen Schuldner vermittelt hier 
den Kreditverkehr zwiſchen dem einzelnen Schuldner und dem Geld⸗ 
markt, indem ſie dem letzteren durch die Emiſſion von Pfandbriefen 
das erforderliche Kapital entnimmt, um es dem einzelnen Schuldner 
zuzuführen. Dieſe Geſamtheit iſt auch in den meiſten dieſer 
Anſtalten für die emittierten Pfandbriefe ſolidariſch verhaftet. 
Die Verwaltung der Landſchaften ruht in den Händen von Ver⸗ 
trauensmännern der Schuldner und gewinnt wenigſtens für einige 
ältere preußiſche Provinzen noch eine beſondere Feſtigkeit durch 
die Anlehnung an ältere ſtändiſche Einrichtungen. Urſprünglich 
nur für den Hypothekarkredit des ritterſchaftlichen, ſogenannten 
inkorporierten Grundbeſitzes beſtimmt, haben die alten preußi⸗ 
ſchen Landſchaften ihre Thätigkeit im Laufe der Zeit auch auf 
den nicht inkorporierten, alſo vorwiegend bäuerlichen Grundbeſitz 
ausgedehnt und ſind allmählich in der hypothekariſchen Beleihung 
auch zu den kleineren Gütern hinabgeſtiegen. Dieſe Ausdehnung 
ihrer Thätigkeit erfolgte nun entweder durch die urſprünglich 
ritterſchaftlichen Landſchaften ſelbſt, wie z. B. in Schleſien, Oſt⸗ 
preußen, Hannover, oder durch ſogenannte neuere Landſchaften 
für den nicht inkorporierten Beſitz, welche jedoch hinſichtlich ihrer 
Verwaltung in einer Art von Perſonalunion mit den alten 
Landſchaften ſtehen; ſo in Weſtpreußen, in der Mark, in Pom⸗ 
mern u. ſ. w. Die erſt in neuerer Zeit ins Leben gerufenen 
Landſchaften in Poſen, Provinz Sachſen, Weſtfalen und Schleswig⸗ 


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Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 313 


Holſtein kennen weder die Beſchränkung ihres Kredits auf den 
inkorporierten Grundbeſitz noch den Dualismus der Verwaltung, 
wie er in Brandenburg, Pommern und Weſtpreußen vorkommt. 
Abgeſehen von der Herabſetzung der Minimalgröße für diejenigen 
mittleren und kleinen Grundſtücke, welche die Landſchaften be— 
leihen, haben dieſelben den Beſitzern nicht inkorporierter Güter 
bei Aufnahme von hypothekariſchen Darlehen neuerdings noch 
manche Erleichterungen gewährt und ſämtlichen Grundbeſitzern 
dadurch eine ſtärkere Benutzung des Kredits ermöglicht, daß die 
Kreditgrenze um ca. 10 Prozent des Wertes der Güter erhöht 
worden iſt. 

Auch iſt bereits im Jahre 1873 eine Centrallandſchaft ge— 
gründet worden, um den von derſelben zu emittierenden Pfand— 
briefen einen größeren Markt namentlich im Auslande zu ver— 
ſchaffen. 

Begünſtigt durch alle dieſe Erleichterungen, iſt die Pfand— 
briefſchuld allein in den älteren preußiſchen Landſchaften in den 
letzten Jahren jährlich um ca. 45 Millionen Mark gewachſen, 
und es beträgt die geſamte Pfandbriefſchuld aller Landſchaften 
im Jahre 1885 über 11¼ Milliarden Mark. 

Die großen Verdienſte der Landſchaften um die Befriedigung 
des Kreditbedürfniſſes der ländlichen Grundbeſitzer ſind unbe— 
ſtreitbar und werden auch allerſeits anerkannt. Sie beſtehen in 
der Gewährung eines möglichſt billigen Kredits, in der Zuführung 
der Vorteile des ſinkenden Zinsfußes auf dem Geldmarkte an 
ihre Schuldner, in der Gewährung unkündbarer Darlehen ver— 
bunden mit allgemeinem Amortiſationszwang und in einer muſter⸗ 


gültig ſoliden Verwaltung. Immerhin wäre wohl noch eine 
weitere Anpaſſung der Landſchaften an die Bedürfniſſe des kleinen 


Mannes wünſchenswert. Dieſelbe könnte beſtehen in einer Er— 


mäßigung der Koften und Verringerung der Formalitäten bei 


Aufnahme von Darlehen, in einer größeren Decentraliſation der 
Verwaltung, endlich, in den altpreußiſchen Provinzen, in einer 
Heranziehung der mittleren Grundbeſitzer zur Selbſtverwaltung 
dieſer Landſchaften. 


314 Der Wucher a. d. Lande u. d. Grganiſation d. ländl. Kredits. 


Endlich ſei noch erwähnt, daß einige Landſchaften bemüht 
geweſen ſind, auch das Bedürfnis ihrer Mitglieder nach Mobiliar⸗ 
und Perſonalkredit zu befriedigen, indem ſie ſogenannte land⸗ 
ſchaftliche Darlehnskaſſen begründet und dieſelben mit den er⸗ 
forderlichen Betriebsfonds ausgeſtattet haben. Den durch Ent⸗ 
gegennahme von Depoſiten vergrößerten Betriebsfonds verwenden 
dieſe landſchaftlichen Darlehnskaſſen hauptſächlich zur Gewährung 
von Lombarddarlehen auf Effekten und Produkte, von Krediten 
in laufender Rechnung, von Zuſchußdarlehen zu dem Pfandbrief⸗ 
kredit, zu Inkaſſogeſchäften u. ſ. w. Wenngleich der Jahres⸗ 
umſatz einzelner dieſer Kaſſen kein geringer iſt — ich erinnere 
daran, daß die weſtpreußiſche Darlehnskaſſe im Jahre 1885 einen 
Jahresumſatz von ca. 12 Millionen, die oſtpreußiſche ſogar einen 
ſolchen von ca. 138 Millionen gehabt hat —, ſo kommen dieſelben 
doch faſt ausſchließlich dem großen Grundbeſitz zu gute, da die 
mittleren und kleinen Beſitzer in der Regel nicht in der Lage ſind, 
deshalb eine Reiſe in die Provinzialhauptſtadt zu machen, und 
die ſchriftliche Kommunikation ihnen ebenfalls ſchwer fällt. Alſo 
auch hier thäte zum Zweck der Fruchtbarmachung dieſer Ein⸗ 
richtung für die kleineren Leute eine weitere Decentraliſation 
derſelben not. 

2. An die Landſchaften ſchließen ſich die Vorſchußvereine 
oder Vorſchußkaſſen unmittelbar an, indem wie bekannt Schulze⸗ 
Delitzſch das Prinzip der Solidarhaft aus den Landſchaften in 
dieſe Vorſchußkaſſen übertragen hat. Aber während die erſteren 
für den Hypothekarkredit der ländlichen Grundbeſitzer beſtimmt 
ſind, dienen die letzteren hauptſächlich dem Perſonalkredit der 
Handwerker, Beamten u. ſ. w. in den Städten. Zwar gewähren 
fie auch Kredit an Landwirte, aber derſelbe hat einen viel ge⸗ 
ringeren Umfang als der Kredit, den die ſtädtiſchen Klaſſen be- 
ziehen. Die 545 Vorſchußvereine, welche dem Genoſſenſchafts⸗ 
anwalte im Jahre 1885 nähere Angaben gemacht haben, zählten 
im ganzen rund 276000 Mitglieder, von denen nur 73 000, 
alſo weniger als 25 Prozent, Berufslandwirte waren. Noch un⸗ 
günſtiger war das Verhältnis des den Landwirten eingeräumten 


Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 315 


Kredits zum Geſamtkredit, wenn wir die betreffenden Summen 
vergleichen: es betrug dieſe Quote nur 18 Prozent des im Jahre 
1885 von den Vorſchußkaſſen überhaupt gewährten Kredits. 

Dieſe Zurückhaltung der Landwirte gegenüber den Vorſchuß— 
vereinen erklärt ſich vollauf durch den Standort, der den meiſten 
dieſer Kaſſen eigen iſt — ſie befinden ſich in Städten —, durch 
die hohen Zinſen, Prolongations- und ſonſtigen Gebühren, welche 
dieſe Genoſſenſchaften in der Regel erheben — die durchſchnitt— 
liche Verzinſung des Betriebskapitals im Jahre 1885 betrug 
faſt 6 Prozent — und endlich durch die Kataſtrophen, welche in 
den letzten Jahren über eine Anzahl von Vorſchußkaſſen herein— 
gebrochen ſind. Die hohe Verzinſung und die Kataſtrophen ſind 
aber wohl dadurch begründet, daß manche Genoſſenſchaften dem 
urſprünglich im Genoſſenſchaftsweſen herrſchend geweſenen Geiſte 
entfremdet ſind, indem ihre Entwicklung ſich in kapitaliſtiſcher 
Richtung bewegt hat. Dieſe Richtung tritt namentlich in der 
Beſoldung der Mitglieder des Verwaltungsrats und in der Ge— 
währung von Tantiemen an dieſelben ſowie in dem Streben 
nach möglichſt großen Differenzen zwiſchen dem Zins der Aftiv- 
und Paſſivgeſchäfte u. ſ. w. hervor. Und zu befürchten iſt, daß 
durch die Zulaſſung von Genoſſenſchaften mit begrenzter Haftbar— 
keit ihrer Mitglieder, die ſich ja für andere Arten von Genoſſen— 
ſchaften ſehr empfiehlt, die Vorſchußkaſſen in Zukunft dem genoſſen⸗ 
ſchaftlichen Geiſte noch mehr entfremdet werden. 

3. Ungleich beſſer erſcheint dieſer genoſſenſchaftliche Geiſt 
gewahrt in den Raiffeiſenſchen Darlehnskaſſenvereinen, welche 
von den oben erwähnten landſchaftlichen Darlehnskaſſen wohl 
zu unterſcheiden ſind. Auf dem Prinzip der Solidarhaft ihrer 
Mitglieder beruhend, haben die Raiffeiſenſchen Darlehnskaſſen⸗ 
vereine im Gegenſatz zu der Entwicklung, welche die Vorſchuß— 
kaſſen genommen haben, an der Unentgeltlichkeit der Verwaltung 
— es werden bekanntlich nur die Rechnungsführer beſoldet — 
und an dem Ausſchluß der Verteilung von Dividenden unter 
ihre Mitglieder feſtgehalten. Dadurch iſt dem Streben nach 
möglichſt hohem Reingewinn das Hauptmotiv genommen und 


316 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 


der genoſſenſchaftliche Sinn gewahrt worden. Durch die Be⸗ 
ſchränkung der Thätigkeit der einzelnen Darlehnskaſſen auf eine 
einzige ländliche Gemeinde, in deren Mitte ſie ihren Sitz haben, 
iſt der Verwaltung dieſer Kaſſen die genaue Kenntnis der Ver⸗ 
mögenslage ihrer Mitglieder und deren Beeinfluſſung in wirt⸗ 
ſchaftlicher und ſittlicher Beziehung ermöglicht, und durch die 
Anſchmiegung der Geſchäftsführung an das Kreditbedürfnis der 
Mitglieder — ſie gewähren bekanntlich einen längeren Per⸗ 
ſonalkredit bis zu fünf Jahren — iſt zugleich ihre gedeihliche 
Wirkſamkeit gewährleiſtet. 

Die zur Kreditgewährung erforderlichen Summen verſchaffen 
ſich dieſe Darlehnskaſſen durch die Beiträge ihrer Mitglieder, 
durch Darlehne von einzelnen Privaten und von Anſtalten, 
namentlich aber durch Entgegennahme von Spareinlagen. Auch 
haben eine Reihe von Darlehnskaſſen ihre Thätigkeit neuerdings 
auf die Vermittlung des Lebensverſicherungsgeſchäfts und auf 
den Ankauf von landwirtſchaftlichen Betriebsmitteln für ihre Mit⸗ 
glieder ausgedehnt; wo dies der Fall iſt, ſind die Darlehnskaſſen 
zugleich zu Sparkaſſen, zu landwirtſchaftlichen Konſumvereinen 
und zu Lebensverſicherungsagenturen geworden. 

Das Bedürfnis nach einer regelmäßigen Kontrolle der Kaſſen 
und nach einer Geſamtvertretung ihrer Intereſſen hat wie bei 
den Schulze-Delitzſchen Genoſſenſchaften, jo auch bei den Raiff⸗ 
eiſenſchen Darlehnskaſſen zum Zuſammenſchluß der Darlehns⸗ 
kaſſen beſtimmter größerer Gebiete zu Geſamtverbänden mit 
einem Anwalt an der Spitze geführt, und der wechſelnde Geld⸗ 
beſtand der Kaſſen entweder die Errichtung eigener Centraldar⸗ 
lehnskaſſen als Ausgleichungsſtellen oder doch die Benutzung 
bereits beſtehender Anſtalten als ſolcher veranlaßt. So beſtehen 
gegenwärtig folgende Verbände: zunächſt der bis zu dem jüngſt 
erfolgten Tode von Raiffeifen unter deſſen direkter Leitung 
befindlich geweſene Centralverband, der ſich wieder in eine 
Reihe von Unterverbänden — für die Rheinprovinz, Schwaben 
und Neuburg, Mittel-, Ober- und Unterfranken, Heſſen⸗ 
Kaſſel, Ober- und Unter⸗Elſaß und Oberſchleſien — gliedert; 


Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 317 


neben dieſem von Raiffeiſen früher geleiteten Verbande ſtehen 
dann eine Reihe von anderen Verbänden, die allerdings nicht 
direkt der Perſon Raiffeiſens unterſtellt waren, aber doch an 
den Prinzipien ſeiner Geſchäftsführung feſtgehalten haben. Es 
gehört hierher der weſtfäliſche Verband, der zugleich Hannover, 
Oldenburg und Lippe umfaßt; ſodann der heſſen-darmſtädtiſche, 
der ſich zugleich über Naſſau erſtreckt; endlich der badiſche und 
der württembergiſche. 

Aber wenn die Leiſtungen der Darlehnskaſſen auch wenig 
zu wünſchen übriglaſſen, indem ſie ſich als Erziehungsmittel der 
bäuerlichen Bevölkerung zu einem geregelten Kreditverkehr und 
als die beſten Hülfsmittel gegen den Wucher bewährt haben, ſo 
iſt doch ihre Verbreitung bisher, namentlich wenn man die raſt— 
loſe Thätigkeit ihres Hauptförderers in Betracht zieht, eine nur 
verhältnismäßig geringe geweſen. Denn im Jahre 1885 zählte 
der unter ſpecieller Leitung von Raiffeiſen ſtehende Verband nur 
291 Kaſſen, der württembergiſche Verband ca. 100, der heſſiſche 
79, der weſtfäliſche 75, der badiſche endlich 55 Kaſſen. Seitdem 
haben ſich dieſe Kaſſen nun freilich viel weiter verbreitet; aber 
die Schwierigkeiten, auf die ihre Verbreitung ſtößt, laſſen ſich 
aus den obigen Zahlen doch immerhin deutlich herausleſen. 

Und in der That iſt das Gedeihen dieſer Kaſſen an ganz 
beſtimmte Vorausſetzungen gebunden, die durchaus nicht überall 
anzutreffen ſind. Die Darlehnskaſſenvereine haben zu kämpfen nicht 
nur mit dem Mangel an genoſſenſchaftlichem Sinne, mit dem 
Mangel an Männern, die die Verwaltung unentgeltlich zu über— 


* nehmen geeignet und bereit ſind, mit dem offenen und geheimen 


Widerſtand der einzelnen Geldverleiher und Geldinſtitute, ſondern 


| E auch mit der Armut der Bevölkerung vieler Gegenden und mit der 
Schwierigkeit, für die Schuldner die von der Kaſſenverwaltung 


E verlangten Bürgen zu finden. Überhaupt ſcheinen dieſe Kaſſen⸗ 
vereine nur dort ſich einbürgern zu wollen, wo eine dichte Be— 


4 völkerung in geſchloſſenen Dörfern beiſammenſitzt, wo die jocialen 
Verhältniſſe derſelben bis zu einem gewiſſen Grade ausgeglichen 


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318 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 


ſind und wo es an Männern nicht fehlt, die die Zwecke derſelben 
in uneigennütziger Weiſe fördern wollen und fördern können. 
Von den genoſſenſchaftlichen Kreditinſtituten wende ich N 
nun zu den ſtaatlichen und kommunalſtändiſchen. 
4. Die ſtaatlichen Kreditinſtitute haben ihren Sitz in ee 
thüringiſchen Staaten. Das älteſte dieſer Inſtitute ift die aus 
dem Jahre 1819 ſtammende altenburgiſche Landesbank; an dieſe 
haben ſich dann in den 40er, 50er und 60er Jahren in allen 
thüringiſchen Staaten ſogenannte Landeskreditkaſſen — welche 
Staatsanſtalten ſind — angeſchloſſen. Ihnen allen iſt gemeinſam, 
daß ſie die Aufgabe haben, die Landwirtſchaft und das Ge⸗ 
werbe durch Gewährung von Darlehen zu unterſtützen. Neben 
dieſer Aufgabe verfolgen einige derſelben jpeciell noch die Auf- 
gabe, die Zuſammenlegung der Grundſtücke zu erleichtern und 
die Rentenablöſung, wo fie noch nicht erfolgt iſt, zu ver- 
mitteln; bisweilen iſt jedoch dieſe Ablöſung ſpeciellen Renten⸗ 
ablöſungskaſſen vorbehalten. Die den Landwirten gewährten 
Darlehne ſind Hypothekardarlehne, ſie ſind ſeitens der Anſtalten 
meiſtens unkündbar und auch dem Amortiſationszwange unter⸗ 
worfen. Die erforderlichen Mittel für dieſes Aktivgeſchäft ver⸗ 
ſchaffen ſich die Anſtalten durch Ausgabe von Inhaberobligationen. 
Die Beteiligung des Staates beſteht in der Haftung desſelben 
für die Verbindlichkeiten der Anſtalten, in der Dotierung ihres 
Betriebsfonds und in der Leitung oder doch Beaufſichtigung ihrer 
Verwaltung. Die Verwaltungsberichte dieſer Kreditkaſſen haben 
mir leider nicht vorgelegen, weil ſie mit Ausnahme der alten⸗ 
burgiſchen Landesbank ihre Rechenſchaftsberichte nicht zu ver⸗ 
öffentlichen ſcheinen; doch entnehme ich einer Notiz in Hildebrands 
„Statiſtik Thüringens“ (1871), daß dem Bedürfnis der ländlichen 
Grundbeſitzer nach Hypothekarkredit durch dieſe Staatsanſtalten 
vollauf genügt wird, indem im Jahre 1867 in Thüringen, ver⸗ 
glichen mit Preußen, an hypothekariſchen Schulden ungefähr der 
doppelte Betrag auf den Kopf und auf die Quadratmeile entfiel. 
5. Den Übergang von den ſtaatlichen zu den kommunal⸗ 
ſtändiſchen Anſtalten bilden die Kaſſeler Landeskreditbank, die 


Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 319 


naſſauiſche Landesbank und die hannoverſche Landeskreditanſtalt, 
welche urſprünglich ſtaatliche Rentenablöſungsinſtitute waren, 
aber bereits vor dem Jahre 1866 in allgemeine Kreditanſtalten 
für den ländlichen Hypothekarkredit ſämtlicher Grundbeſitzer ohne 
Unterſchied der Größe ihres Beſitzes und dann unter preußiſcher 
Herrſchaft aus ſtaatlichen Inſtituten in kommunalſtändiſche um— 
gewandelt worden ſind. Der Betrag des gegen Ausgabe von 
Obligationen im Jahre 1885 von dieſen drei Anſtalten gewährten 
Hypothekarkredits beziffert ſich auf ca. 200 Millionen Mark. Die 
Prinzipien, auf welchen ihre Einrichtungen beruhen, ſind ähnlich 
denen der thüringiſchen Staatsbanken; ihre Verwaltung erfolgt 
durch kommunalſtändiſche Beamte und iſt eine ſorgfältige. Einen 
Verluſt haben die die Verpflichtungen dieſer Anſtalten garan— 
tierenden Stände bisher nicht zu erleiden gehabt. 

6. Zu den von Anfang an kommunalſtändiſchen Inſtituten 
gehören die landſtändiſche Bank der Oberlauſitz, welche im Jahre 
1885 29 Millionen Mark in hypothekariſchen Forderungen beſaß, 
ſowie die in den altpreußiſchen Provinzen unter der Verwaltung 
der Provinzialſtände ſtehenden Provinzialhülfskaſſen. Die meiſten 
von dieſen letzteren entſtammen dem Jahre 1847; ſie wurden 
damals ſeitens des Staates mit Fonds dotiert, die für die ein— 
zelne Kaſſe durchſchnittlich 1 Million Thaler betrugen und im 
Jahre 1875 ſeitens des Staates den Provinzialverbänden über— 
wieſen worden ſind. Seitdem haben ſich dieſe Fonds durch 
Zinſenzuſchlag, Erhöhung der Dotationen oder Gewährung zinſen— 
freier Darlehne ſeitens des Staates nicht unbedeutend vermehrt. 
Außerdem iſt ihnen das Recht zur Ausgabe von Provinzial— 
anteilsſcheinen in limitiertem Betrage und zur Entgegennahme 
von Depoſiten gewährt. Urſprünglich zur Unterſtützung der Pro— 
vinz, der Kreiſe, Gemeinden und Genoſſenſchaften, ſowie zur 
Begründung neuer gewerblicher und landwirtſchaftlicher Unter— 
nehmungen begründet, haben eine Reihe von Provinzialhülfskaſſen 
in der neueren Zeit ihre Thätigkeit auch der Gewährung von 
Kredit an einzelne Grundbeſitzer zugewendet, ſo daß ſie 
jetzt ſtatutariſch, bezw. nach den neueren Ergänzungen ihrer 


320 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 


urſprünglichen Statuten, die Befriedigung des Kreditbedürfniſſes 
der einzelnen Grundbeſitzer zu ihrer Aufgabe zählen. Während 
die Darlehne an die Verbände verſchiedener Art ohne ſpecielle 
Sicherſtellung erteilt zu werden pflegen, wird von den Privat⸗ 
ſchuldnern eine Realſicherheit (Hypothek oder Fauſtpfand) verlangt. 
Die Darlehne ſind terminiert und zum Teil auch dem Amorti⸗ 
e unterworfen. 

Nur ganz flüchtig ſei hier noch der für Meliorations⸗ 
1 be Landeskulturrentenbanken im Königreich Sachſen 
und in den preußiſchen Provinzen Schleſien, Poſen und Schles⸗ 
wig⸗Holſtein gedacht. Während die ſächſiſche Anſtalt eine große 
Thätigkeit entfaltet hat, kann dasſelbe von der ſchleſiſchen, poſen⸗ 
ſchen und ſchleswig-holſteiniſchen nicht geſagt werden. Es erklärt 
ſich dieſe geringe Wirkſamkeit der letzteren Banken übrigens zur 
Genüge dadurch, daß in den preußiſchen Provinzen außer den 
Landſchaften, die zu ſolchen Meliorationszwecken Kredit gewähren, 
auch noch beſondere provinzialſtändiſche Meliorationsfonds beſtehen. 

Meine Herren, wenn der bisher gegebene Überblick über die 
den ländlichen Grundbeſitzern zur Verfügung ſtehenden Kredit⸗ 
anſtalten auch nicht vollſtändig erſchöpfend iſt, ſo enthält er doch 
immerhin alle weſentlich in Betracht kommenden Kreditanſtalten. 
Dieſem Überblick läßt ſich entnehmen, daß die Zahl und die 
Mannigfaltigkeit dieſer Anſtalten ſowie der Umfang des von 
ihnen gewährten Kredits ſehr groß ſind. 

Namentlich für den Immobiliarkredit der Landwirte dürfte 
in ausreichendem Maße geſorgt ſein. Damit ſoll aber nicht 
zugleich geſagt ſein, daß die Einrichtung der Kreditanſtalten 
überall dem Bedürfnis der Landwirte vollſtändig entſpricht. Denn 
nicht alle gewähren den Kredit jo billig wie nach Lage des Geld- 
marktes geſchehen könnte; nicht alle haben den Amortiſations⸗ 
zwang eingeführt; nicht alle erleichtern dem Landwirt die Be⸗ 
nutzung ihrer im ganzen rationellen Einrichtungen durch genügende 
Ermäßigung der Aufnahmekoſten und Vereinfachung der Auf⸗ 
nahmeformalien; nicht alle endlich reichen mit ihren Organen an 
den Bauer ſelbſt heran. 


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Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 321 


Geradezu ungenügend iſt dagegen der Stand der für den 
ländlichen Perſonal- und Mobiliarkredit zur Verfügung ſtehenden 
Einrichtungen. Wenn man von den ländlichen Darlehnskaſſen— 
vereinen abſieht, ſo giebt es nur wenig größere Anſtalten, welche 
den oben aufgeſtellten Bedingungen vollſtändig entſprechen; denn 
die meiſten unſerer heutigen Bankeinrichtungen gewähren, ent— 
ſprechend den kurzfriſtigen Paſſivgeſchäften, welche ſie betreiben, 
dem Landwirt einen zu kurzen Kredit, und die häufig vorkommen— 
den Prolongationen ſind kein normales Auskunftsmittel. Der 
Kredit iſt außerdem meiſt zu teuer, und die Gewährung desſelben 
entbehrt jenes erziehlichen Moments, das wir für den bäuer— 
lichen Stand zur Zeit wenigſtens nicht entbehren können. Endlich 
gilt auch von den Inſtituten des Perſonal- und Mobiliarkredits, 
abgeſehen von den oben angeführten Ausnahmen, daß ihr Sitz 
ſich meiſt in zu großer Entfernung von dem Wohnort des ſeß— 
haften und ſchwer beweglichen Bauern befindet und deshalb 
häufig für ihn unerreichbar iſt. Die Konſequenz dieſer Mängel 
in Verbindung mit dem Knapperwerden des Individualkredits 
iſt, daß der Bauer ſich vielfach auf den Wucherer angewieſen ſieht. 

Ich möchte den Zuſtand unſeres gegenwärtigen ländlichen 
Kreditweſens, abgeſehen von einzelnen nicht umfangreichen Landes— 
teilen, mit einem ſolchen im Armenweſen vergleichen, in dem die 
Armenpflege vorzugsweiſe durch Genoſſenſchaften, Vereine und 
einzelne Privatperſonen ausgeübt wird. Bei einem ſolchen Zuſtand 
braucht es keineswegs an reichen, ja an überreichen Gaben zu fehlen; 


aber dieſelben pflegen ungleich über das Land verteilt zu ſein, 
ſo daß an dem einen Orte Überfluß, an dem anderen bitterer 


Mangel herrſcht. Und wie es in einem ſolchen Zuſtande des 
Armenweſens an einer rationellen Verteilung fehlt, ſo mangelt 
es noch mehr an einer zweckentſprechenden Verwendung der zu— 
ſammenfließenden Gaben. Wie daher im Armenweſen Geſamt⸗ 
organiſationen not thun, die dafür Sorge tragen, daß kein Armer 
verhungre, aber auch keiner zu viel erhalte und alle ihre Unter- 
ſtützung in rationellſter Weiſe empfangen, und wie ſolche Drgani- 


ſationen von dem Staat und ſeinen Organen gewährleiſtet werden 
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 21 


322 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 


müſſen, ſo auch im landwirtſchaftlichen Kreditweſen. Unſere 
Krediteinrichtungen beruhen in ihrer größten Mehrzahl auf ge⸗ 
ſunden Grundlagen: aber ſie entbehren der notwendigen allgemeinen 
Verbreitung und der genügenden Gliederung nach unten. Sie 
bedürfen deshalb des Ausbaues in dieſer Beziehung. Derſelbe 
wird durch die Anregung, Leitung und erforderlichen Falls durch 
das direkte Eingreifen des Staates erfolgen müſſen. 

Unter dem Staat verſtehe ich in dieſem Falle nicht das 
Reich, welches weder verfaſſungsrechtlich die Befugnis noch auch 
verwaltungsrechtlich die nötigen Organe dafür beſitzt, ſondern 
die Einzelſtaaten, zu deren Aufgaben ja die Volkswirtſchafts⸗ 
politik und ſpeciell die Agrarpolitik gehören. Dieſer Auf⸗ 
gabe werden ſich die Einzelſtaaten aber um ſo weniger entziehen 
können, als bei der großen Bedeutung, die das Kreditweſen für 
das Wohlergehen des Landwirts hat, in demſelben ein wirkſames 
Mittel gegeben iſt, um unſere Agrarverhältniſſe auf geſunde 
Grundlagen zu ſtellen und den Landwirten namentlich in der 
gegenwärtigen Kriſis Beiſtand zu leiſten, und als das, was die 
meiſten Staaten ſeit der Ablöſungsgeſetzgebung und der Begrün⸗ 
dung von Rentenbanken auf dieſem Gebiete gethan haben, außer⸗ 
ordentlich dürftig iſt. 

Für die künftige Thätigkeit der Einzelſtaaten auf dem Ge⸗ 
biete des Kreditweſens möchte ich nun folgenden Plan entwerfen, 
der natürlich nicht mehr als eine ganz flüchtig ſpecifizierte Skizze 
bieten kann. 

Der Staat hätte zunächſt anzuerkennen 1., daß ſich für eine 
ſolche Befriedigung des Bedürfniſſes nach ländlichem Hypothekar⸗ 
kredit, die zugleich den Anforderungen einer geſunden Agrarpolitik 
entſpricht, vorzugsweiſe genoſſenſchaftliche, kommunalſtändiſche und 
ſtaatliche Organe eignen. 

Als ſolche Einrichtungen haben ſich nach den bisherigen Er- 
fahrungen bewährt für den Hypothekarkredit die Landſchaften, 
die Provinzialhülfskaſſen, die kommunalſtändiſchen Kreditinſtitute 
der Oberlauſitz, Hannovers, Heſſens und Naſſaus und endlich 
die ſtaatlichen Kreditanſtalten der thüringiſchen Staaten, für 


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Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 323 


den Perſonalkredit der bäuerlichen Bevölkerung hauptſächlich die 


Darlehnskaſſen nach Raiffeiſenſchem Syſtem. 

Ohne indeſſen dieſen Kreditanſtalten ein Monopol zu geben, 
weil die Konkurrenz auch anderer Inſtitute, wie der Bodenkredit— 
banken und der Sparkaſſen, auf ihre Geſchäftsführung anregend 
wirkt und ſie vor Stagnation ſchützt, ſollte 2. dafür geſorgt 
werden, daß ſolche als muſtergültig anerkannte Anſtalten in 
jedem Staate und bei größeren Staaten in jeder Provinz vor- 
handen ſeien. 

Da nun für alle nord- und mitteldeutſchen Staaten in der einen 
oder anderen Form für den Hypothekarkredit berechnete Kredit— 


anſtalten beſtehen, jo beſchränkt ſich der Mangel nur auf die 


ſüddeutſchen Staaten. 

Wenn man von Bayern abſieht, ſo iſt ſowohl das Terri— 
torium dieſer ſüddeutſchen Staaten wie auch die Verbreitung des 
großen Grundbeſitzes in denſelben zu wenig umfangreich, als 
daß hier an eine Gründung von Landſchaften oder provinzial- 
ſtändiſchen Kreditinſtituten gedacht werden könnte. Es bliebe 
daher nur die Gründung von ſtaatlichen Kreditanſtalten nach 
dem Vorbilde der thüringiſchen Landesbanken übrig. Es iſt 
deshalb wohl nicht zufällig, wenn man in ſämtlichen ſüddeutſchen 
Staaten und außerdem im Königreich Sachſen gleichſam von 
ſelbſt und unabhängig voneinander auf den Gedanken gekommen 
iſt, ſolche Anſtalten zu begründen. Es iſt das ein Gedanke, der 


von Sachverſtändigen der Praxis und der Theorie gleichzeitig 


vertreten wird, aber bisher an dem Widerſtande der großen 
kapitaliſtiſchen Inſtitute und der Sparkaſſen geſcheitert iſt. 
Was ſodann 3. die Befriedigung des Bedürfniſſes der Bauern 
nach Perſonalkredit betrifft, ſo iſt für dieſe Befriedigung bisher 
nur in einem verſchwindend kleinen Teile Deutſchlands durch die 
Dahrlehnskaſſenvereine in genügender Weiſe geſorgt worden. 
Mag ihre Verbreitung in Zukunft auch größere Dimenſionen an— 
nehmen und mag ſie namentlich in raſcherem Tempo erfolgen als 
bisher, ſo wird ihre Wirkſamkeit wegen der ſchweren Erfüllbarkeit 


der Bedingungen ihres Beſtehens doch immer auf einen verhältnis— 
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mäßig kleinen Teil Deutſchlands beſchränkt bleiben. Es thut 
daher meines Dafürhaltens auf dieſem Gebiet ein Ausbau der 
beſtehenden Kreditinſtitute not. ö 

Die Sorge für den Ausbau der beſtehenden Einrichtungen 

halte ich daher für eine weitere dem Staate obliegende Ver⸗ 
pflichtung. Hier gilt es an Anſätze anzuknüpfen, die im einzelnen 
bereits hier und da vorhanden ſind. 
Dieſer Ausbau würde zunächſt darin zu beſtehen haben, daß 
a. bei den Anſtalten, die bisher lediglich für den Hypothekar⸗ 
kredit beſtimmt ſind, allgemein auch Einrichtungen für den Mo⸗ 
biliar⸗ und Perſonalkredit zu treffen wären. Die von den 
preußiſchen Landſchaften ins Leben gerufenen landſchaftlichen 
Darlehnskaſſen bilden gleichſam den Anfang hierzu; ihrem Bei⸗ 
ſpiele hätten dann auch die ſtaatlichen und provinzialſtändiſchen 
Kreditanſtalten zu folgen. 

Sodann wären b. die meiſten für einen ganzen Staat oder 
doch für eine ganze Provinz errichteten und centraliſierten An⸗ 
ſtalten zu decentraliſieren, d. h. mit Filialen für die einzelnen 
Kreiſe und mit Agenturen für die großen Landgemeinden oder 
für einen Komplex kleinerer Landgemeinden zu verſehen. Das 
unterſte Glied dieſer Reorganiſationen würde jedoch dort in 
Wegfall zu kommen haben, wo eigene Darlehnskaſſenvereine be⸗ 
ſtehen, indem dieſe Darlehnskaſſen die Funktion ſolcher Agenturen 
übernehmen könnten. 

Auch für dieſe weitere Ausgliederung der beſtehenden Kredit⸗ 
inſtitute fehlt es nicht an einzelnen Vorbildern. So finden ſich 
in den Direktoren und Landesälteſten der einzelnen ſchleſiſchen 
Fürſtentumslandſchaften, in der kreisweiſen Verteilung des der 
ſchleſiſchen Provinzialhülfskaſſe ſeitens des Staates in Ober- 
ſchleſien zur Verfügung geſtellten ſogenannten Notſtandskredits, 
in der Beſtellung von unbeſoldeten, nur für ihre Mühewaltung 
und nach Maßgabe dieſer entſchädigten Agenten aus den Kreiſen 
der örtlichen Landwirte ſeitens der hannoverſchen Landeskredit⸗ 
anſtalt vielverſprechende Anfänge für eine Decentraliſation der 
beſtehenden Kreditanſtalten vor. 


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Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 325 


Auch iſt in der Rheinprovinz die Raiffeiſenſche Central— 
darlehnskaſſe bereits mit der Provinzialhülfskaſſe in der Weiſe 
in Verbindung gebracht worden, daß die Provinzialhülfskaſſe bis 
zu einem beſtimmten Betrage der Centraldarlehnskaſſe Kredit ge— 
währt und ebenſo die Überſchüſſe der Darlehnskaſſe gegen Ver— 


zinſung entgegennimmt; dafür iſt der Provinzialhülfskaſſe das 


Recht der Reviſion und der Kontrolle über dieſe Centraldarlehns— 
kaſſe eingeräumt worden. | 

Um dem gegenwärtig wirtſchaftlich niedrigen Kulturniveau 
der bäuerlichen Bevölkerung Rechnung zu tragen, müßten 4. die 
Verhandlungen, welche zwiſchen dem Grundbeſitz und den einzelnen 
Kreditinſtituten zum Zwecke der Eröffnung des Kredits geführt 
werden, möglichſt erleichtert und vereinfacht werden. Dieſem 
Zweck würde namentlich dienen a. die periodiſche Reviſion der 
Grundſteuerkataſter in allen deutſchen Staaten nach dem Vor— 
bilde einiger deutſcher und fremder Staaten. Es würde eine 
ſolche periodiſche Reviſion auch anderen Zwecken, namentlich 
Steuerzwecken, zu gute kommen. Ein ſolches — um mich eines 
in Oſterreich geläufigen Ausdrucks zu bedienen — Evidenthalten 
des Kataſters würde eine ſichere Grundlage für die hypothekariſche 
Beleihung des ländlichen Grundbeſitzes abgeben und würde die 
Aufnahme zeitraubender und koſtſpieliger Specialtaxen unnötig 
machen. Ä 

Hierher gehört ferner b. die Führung von Regiſtern über 
die perſönliche Kreditwürdigkeit der einzelnen ländlichen Grund— 
beſitzer als Baſis für den ihnen zu gewährenden Perſonalkredit, 
eine Einrichtung, welche mit gutem Erfolge von der Sparkaſſe 
der Landgemeinde Hildesheim und an anderen Orten eingeführt 
iſt, und endlich e. die Übernahme der Löſchung bereits gezahlter, 
aber noch nicht gelöſchter Hypotheken, die Beſchaffung der Ein— 
räumung von Prioritätsrechten ſeitens der privaten Hypotheken— 
gläubiger u. ſ. w., kurzum die möglichſte Erleichterung der Be— 
nutzung dieſer Muſterkreditanſtalten ſeitens der bäuerlichen Be- 
völkerung durch ihre Filialen und durch ihre Agenten. 

Ferner müßte 5. der Staat dafür Sorge tragen, daß den 


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Kreditanſtalten, ſoweit es erforderlich wird, noch weitere Summen 
zugeführt werden, ohne ſelbſt dieſe Summen herzugeben. Es 


könnte das geſchehen in folgender Weiſe: a. indem das Recht 


der Kreditanſtalten, Obligationen zu emittieren, weiter ausgedehnt 
wird; ſodann b. indem den Sparkaſſen die Verpflichtung auf⸗ 
erlegt wird, dieſen Kreditanſtalten auf ihr Verlangen größere 
Summen zu einem Zinsfuß, der den Zinsfuß der Spareinlagen 
nur mäßig überſteigt, zu gewähren und zwar für Friſten, die 
mit der Geſchäftsführung der Sparkaſſen verträglich ſind. Und 
endlich könnte e. auch die Reichsbank verpflichtet werden, Geld 
bis zu einem beſtimmten, nach der Bevölkerungszahl der einzelnen 
Staaten und Provinzen zu bemeſſenden Maximalbetrage den 
Kreditanſtalten gegen Zins zur Verfügung zu ſtellen. 


Mit den nötigen Mitteln verſehen, würde es dieſen nament⸗ 
lich für den Perſonalkredit weiter auszubildenden Anſtalten 
im Laufe der Zeit dann wohl gelingen, die Praxis der ſchottiſchen 
Banken mit ihren cash accounts auch unter unſerer bäuerlichen 
Bevölkerung einzubürgern. - 


Sollte eine Kreditorganiſation nach dem eben kurz ſkizzierten 
Plane durchgeführt werden, ſo würde dieſelbe in Verbindung 
mit dem bereits früher angeführten genoſſenſchaftlichen Zuſammen⸗ 
ſchluß der bäuerlichen Bevölkerung die beſte wirtſchaftliche Schule 
für dieſe abgeben. Sie könnte viel zur Erlangung jener Selb⸗ 
ſtändigkeit, Umſicht, Pünktlichkeit und Ordnung beitragen, deren 
ſich unſere kleinbäuerliche Bevölkerung noch nicht überall erfreut. 
Damit wäre dem Wucher aber in erfolgreicherer Weiſe der 
Boden entzogen, als ausſchließlich repreſſive Maßregeln dies zu 
thun vermöchten. 

Meine Herren, ich weiß nicht, ob meinem Programm, das 
ſich aufs engſte an Beſtehendes und Erprobtes anſchließt, indem 
es dieſes nur zu verallgemeinern und weiter auszugeſtalten ſucht, 
der Vorwurf gemacht werden wird, daß es in der Beſchränkung 
des einzelnen und in der Hineinziehung des Staats in das 
wirtſchaftliche Gebiet zu weit gehe. Ich meinerſeits war be⸗ 


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fſtrebt, die Prinzipien, auf denen unſere heutige Wirtſchaftsord— 


nung beruht, möglichſt zu ſchonen und dem Staat weitere wirt— 
ſchaftliche Aufgaben nur ſoweit zuzuweiſen, als es unumgänglich 
notwendig erſcheint, um der Organiſation des ländlichen Kredits 
die Allgegenwart ſowie die Anpaſſung an die Natur des länd— 
lichen Grundbeſitzes und das Kulturniveau der bäuerlichen Be— 
völkerung zu ſichern, deren ſie ebenſowenig entbehren kann wie 


das Armenweſen. 


Gewiß aber iſt, daß mir von anderer Seite der Vorwurf 
gemacht werden wird, meine Vorſchläge gingen zu wenig 
weit. Es wird das von einer Seite geſchehen, welche von der 
Annahme ausgeht, daß die Verſchuldung des ländlichen Grund— 
beſitzes bereits zu weit gediehen ſei und daß die Grundbeſitzver— 
teilung ſich bereits ſo allgemein in krankhafter Weiſe verſchoben 
habe, daß nur durch eine Radikalkur geholfen werden kann, eine 
Radikalkur, welche tief in die beſtehende Agrarverfaſſung ein— 
ſchneidet und namentlich mit den beſtehenden Kreditorganiſationen 
tabula rasa macht. 

Dieſe Radikalkur erblicken nun die einen in einer Zwangs— 
ablöſung oder auch nur Zwangsreduktion der auf dem länd— 
lichen Grundbeſitz laſtenden Hypothekarſchuld, einer Maßregel, 
die entweder auf ſtaatlichem oder genoſſenſchaftlichem Wege 
durchzuführen wäre. Andere wieder befürworten das prinzipielle 
Verlaſſen der Grundſätze, auf denen der gegenwärtige Kredit— 
verkehr beruht, alſo namentlich die Umwandlung der Kapital— 
ſchuld in eine Rentenſchuld. Ein dritter Vorſchlag läuft auf 
die Begründung von monopoliſtiſchen Zwangsorganiſationen 
für den Verkehr des geſamten ländlichen Grundbeſitzes oder doch 
wenigſtens für den des bäuerlichen Grundbeſitzes hinaus, Orga— 
niſationen, deren Zwang ſich erſtrecken ſoll auf den Beitritt zu 
denſelben, auf die Einhaltung einer beſtimmten Verſchuldungs— 
grenze, auf die Gewährung des Hypothekarkredits lediglich für 
beſtimmte im Geſetz vorgeſehene Zwecke ſowie auf die ausſchließ— 
liche Beleihung und Veräußerung der dieſen Anſtalten angehö— 


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rigen Grundſtücke durch den Zwangsverband. Ein weniger weit⸗ 
gehender Vorſchlag will wenigſtens den Ausſchluß der Voll⸗ 
ſtreckbarkeit von Perſonalſchulden in den ländlichen Grundbeſitz 
und die Beſeitigung des Inſtituts der Vollſtreckungshypothek. 
Dieſe letzteren Vorſchläge dürften ſich ihrem Effekte nach, wie 
wir neuerdings belehrt worden ſind, mit dem Vorſchlag der 
Übertragung der amerikaniſchen homestead laws auf Deutſchland 
decken. Endlich iſt auch die Reaktivierung des abſoluten oder 
relativen Güterſchluſſes oder wenigſtens der Gutsmaxima oder 
-minima für den bäuerlichen Grundbeſitz, nach dem Muſter des 
Königreichs Sachſen, Altenburgs: und anderer thüringiſcher 
Staaten ſowie des badiſchen Schwarzwaldes, in Vorſchlag ge⸗ 
bracht worden. 

Ich kann mich indes nach wiederholter ſorgfältiger Prüfung 
nicht für dieſe Vorſchläge erklären, einmal, weil die einen der⸗ 
ſelben mir innerhalb der gegenwärtigen wirtſchaftlichen Ord⸗ 
nung undurchführbar erſcheinen und ich die anderen nicht als 
ſolche anerkennen kann, durch welche dasjenige Ziel, welches 
durch dieſelben erſtrebt war, erreicht werden wird; ſodann aber 
und hauptſächlich, weil ich, ſolange der genaue Nachweis dafür, 
daß die Grundverſchuldung und krankhafte Verſchiebung unſerer 
Grundbeſitzverhältniſſe bereits wirklich bedrohliche Dimenſionen 
angenommen hat, nicht erbracht iſt, weitergehende Maßregeln 
als die von mir befürworteten nicht für genügend begründet er⸗ 
achte; endlich, weil ich mich auch nicht davon überzeugen kann, 
daß der bedrohliche Zuſtand der Verſchuldung und Grundbeſitz⸗ 
verſchiebung, wenn er auch noch nicht eingetreten iſt, aus inneren 
Gründen unſerer wirtſchaftlichen Ordnung, gleichſam naturnot⸗ 
wendig eintreten müſſe, wie das ja auch von mancher Seite be- 
hauptet worden iſt. Wäre das letztere der Fall, dann würden 
auch die oben ſkizzierten radikalen Maßregeln ſich als unzu⸗ 
reichend erweiſen und in der That nichts übrigbleiben als die 
Verſtaatlichung des Grundbeſitzes. 

Damit wäre ich an den Schluß meines langen, ja allzu⸗ 
langen Vortrages gelangt. Prüfen Sie die gemachten Vorſchläge, 


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