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Vorträge, Referate und Gukachken
von
Auguſt von Miaskowski.
Leipzig,
Verlag von Duncker & Hum bl
1889.
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Hoavarpolitilche
Zeil- und Streitfragen.
Porkräge, Referate und Gukachten
von
Auguſt von Miaskowski. |
Leipzig,
Verlag von Duncker & Humblot.
1889.
r. Georg Banlfen,
8
hrofeſor der Staatswiſſenſchaften,
Geheimer Regierungs-Rat er F
5 5 zum N
achkzigſten Geburtstage. 5
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Pi . 5 2
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Bochgeehrter Bert!
Es ſind vor kurzem zehn Jahre verfloſſen, ſeitdem Sie
meinen erſten größeren agrargeſchichtlichen, die Schweiz behan—
delnden Arbeiten Ihre Aufmerkſamkeit und Anerkennung haben
zu teil werden laſſen.
Ihr wohlwollendes Urteil iſt mir damals zum Antriebe
geworden, auf dem einmal betretenen Gebiete weiter zu arbeiten.
Mit den rein hiſtoriſchen Studien verknüpfte ſich bei mir
bald das Intereſſe an Fragen der Agrarpolitik, und als Frucht
dieſer doppelten Anregung erwuchs meine in den Jahren 1882/84
erſchienene Arbeit über das Erbrecht und die Grundeigentums—
verteilung in Deutſchland.
Auch habe ich ſeitdem, Ihrem Beiſpiele folgend, mit praf-
tiſchen Landwirten Fühlung zu gewinnen geſucht und wiederholt
vor denſelben Gegenſtände meines ſpeciellen Arbeitsgebiets be—
handelt. f
Auf dieſe Weiſe ſuchte ich das, was ich der Praxis an
Anregung und Belehrung verdanke, derſelben durch Verarbeitung
des empfangenen Materials und Klärung der nicht ſelten wirr
durcheinander ſchwirrenden Anſichten und Entwürfe wiederzugeben.
Dieſe in Vorträgen, Referaten und Gutachten abgelagerte
Thätigkeit hat ihre einzelnen Spuren in einer Reihe von Zeit—
ſchriften hinterlaſſen. Als Ganzes dürfte ſie aber weder
meinen wiſſenſchaftlichen Fachgenoſſen noch denjenigen meiner ehe—
maligen Kollegen aus der Praxis, mit denen ich im Preußiſchen
VIII
Landesökonomie-Kollegium und im Deutſchen Landwirtſchaftsrate
während einer Reihe von Jahren zuſammen gearbeitet habe,
bekannt geworden ſein.
Es iſt mir daher ein Bedürfnis, dieſe Zeugniſſe meiner
theoretiſch-praktiſchen Thätigkeit in dem Augenblick, in dem die⸗
ſelbe ihren Abſchluß gefunden hat, zu ſammeln und ſie in ihrer
Geſamtheit meinen Fachgenoſſen und Mitarbeitern zur Beurteilung
vorzulegen.
An dem Inhalt der einzelnen in dieſen Sammelband auf⸗
genommenen Vorträge u. ſ. w. habe ich nichts geändert und nur
einzelne kleinere formelle Veränderungen vorgenommen.
Wiederholungen derſelben Gedanken ließen ſich nicht ganz
vermeiden und mögen aus dem verſchiedenen Anlaß der einzelnen
Vorträge und aus den verſchiedenen Kreiſen, in denen ſie gehalten
worden, erklärt werden.
Wollen Sie, hochgeehrter Herr, der Sie als Siebenziger die
Erſtlinge meiner agrargeſchichtlichen Studien mit Wohl⸗
wollen aufgenommen haben, mir geſtatten, daß ich Ihnen dieſen
agrarpolitiſchen Sammelband zum 80. Geburtstage zueigne?
Mögen Sie in demſelben das Beſtreben erkennen, das mich
ſtets geleitet hat: die Theorie im Zuſammenhange mit dem Leben,
ſeinen wechſelnden Erſcheinungen und Forderungen zu erhalten
und dieſelbe doch zugleich nach Möglichkeit davor zu bewahren,
daß ſie zum Tummelplatz der Parteileidenſchaften werde, und
mögen Sie mir auch das Zeugnis nicht verſagen, daß ich
meine durch theoretiſche Studien gewonnenen Überzeugungen der
Praxis gegenüber mit Feſtigkeit und zugleich mit Mäßigung ver⸗
treten habe.
Breslau, im Mai 1889.
Auguſt von Miaskomski.
ie Lage des Bauernftandes in Preußen. 1883. . . 5
gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 188383. 95
5 6 8 und eg in Deutfchland.
4 Er eu
Anerbenrecht Aud 8 künftige bürgen org 5
das Ben Reich. 1886. r 169
| . 192
5 11 . 218
Währungsfrage. 18866. 3
ländliche Genoſſenſchaftsweſen in 8 1887. a
Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 1887. 288
Wucher auf dem Lande und die es des auchn
Kredits 1888. 5 . 282
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Horialpolitiſches aus den Schweizer Alpen.
Vortrag, gehalten im Bernoullianum zu Baſel im Jahre 1880.
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H. A.! In der Geſchichte der hiſtoriſchen Wiſſenſchaften der letzten
hundert Jahre giebt es kaum eine bemerkenswertere Thatſache als
das plötzliche Eintreten des Begriffs der Geſellſchaft in den Ge-
ſichtskreis der Forſchung und die große Bedeutung, welche die
ſociale Auffaſſung der Dinge für die verſchiedenen hiſtoriſchen
Disciplinen gewonnen hat.
Wie eine aus dem Meer auftauchende Inſel iſt der Wiſſen⸗
ſchaft dieſes Gebiet plötzlich zugewachſen. An einzelnen Ver⸗
ſuchen, das Land zu entdecken, hat es freilich auch früher
nicht gefehlt, ohne daß man übrigens mehr als eine Ahnung
von der Exiſtenz desſelben gewonnen hätte. Auch blieben dieſe
Verſuche vereinzelt, ohne Zuſammenhang unter ſich und ohne
Einfluß auf die geſamten wiſſenſchaftlichen Beſtrebungen der Zeit.
1 v. Miaskowski, Die Verfaſſung der Land-, Alpen- und Forſt⸗
wirtſchaft der deutſchen Schweiz in ihrer geſchichtlichen Entwicklung vom
13. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Baſel 1878.
v. Miaskowski, Die ſchweizeriſche Allmend in ihrer geſchichtlichen
Entwicklung vom 13. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Leipzig 1879.
Blumer, Staats⸗ und Rechtsgeſchichte der ſchweizeriſchen Demo-
kratieen. St. Gallen. Bd. I 1847. Bd. II 1850.
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 1
2 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen.
Den Begründern der politiſchen Doktrin der Neuzeit (16.
und 17. Jahrhundert) und den in der Mitte des 18. Jahrhun⸗
derts auftretenden Okonomiſten ſowie ihren Nachfolgern fehlte
freilich größtenteils ſelbſt dieſe Ahnung.
Weder bei Hugo Grotius, Hobbes, Milton und Locke noch
bei Rouſſeau und Bentham noch auch bei Quesnay, Turgot und
den unmittelbaren Nachfolgern von Adam Smith findet ſich die
Spur eines Verſtändniſſes für die geſellſchaftlichen Gebilde, ihre
Bewegungen, Kräfte und Geſetze ſowie für den beſtimmenden
Einfluß, der von dieſer Sphäre auf das Leben des einzelnen
Menſchen ſowie des Staats als der politiſch organiſierten Ge⸗
ſamtheit ausgeht.
Über dem ausſchließlichen Gegenſatz von Individuum und
Staat, in dem das Weſen der politiſchen Doktrin bis in unſer
Jahrhundert hinein allgemein befangen war, überſah man das
große Mittelgebiet, das zwiſchen beiden liegt. Der Staat wurde
ausſchließlich als auf einer Summe von Individuen ruhend gedacht.
Ja dieſe einzelnen ſollten nach der Anſicht der Naturrechtslehrer
den Staat gleichſam durch eine Art Vertragsſchluß ins Leben ge-
rufen haben. i
Dieſelbe Auffaſſung beherrſchte auch die ältere National⸗
ökonomie. Wohl ſuchte dieſe die Beziehungen, welche zwiſchen
dem einzelnen und dem Güterleben beſtehen, klarzulegen; aber
über die atomiſtiſche Auffaſſung des Volks als eines Aggregats
von Individuen vermochte doch auch ſie ſich nicht zu erheben.
Und dieſes Individuum, das als Ausgangspunkt aller wirtſchaft⸗
lichen Bewegungen und Geſetze dienen ſollte, war nicht etwa ein
beſtimmter Typus ſeiner Zeit, ſeines Volkes, ſeiner Klaſſe, wie
ihn nach Künſtlerart neuerdings Riehl und andere zu ſchildern
verſucht haben; es war auch kein nach dem Geſetz der großen
Zahl ermittelter Durchſchnittsmenſch, mit dem die Statiſtik heute
operiert, ſondern eine an dem plumpen Seil des Egoismus
automatenhaft in Bewegung geſetzte Marionette ohne Fleiſch
und Blut.
Vollends davon, daß dieſe einzelnen Individuen je nach Art des
Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. a 3
Beſitzes und Erwerbs, nach Beruf und Beſchäftigung, nach Glaube
und Geiſtesrichtung, nach Bildung und Sitte wieder zu mannig—
fach über⸗ und durcheinander geſchichteten Gruppen zufammen-
treten, daß die Angehörigen dieſer Gruppen ſich ebenſo ſtark
untereinander anziehen wie nach außen abſtoßen, kurz von alledem,
was wir heute als Weſen und Leben der Geſellſchaft bezeichnen,
findet ſich bei den meiſten politiſchen und ökonomiſchen Schrift—
ſtellern bis in den Ausgang unſeres Jahrhunderts keine Ahnung.
Freilich Pufendorf, Montesquieu und Adam Smith, die größer als
ihre Vorgänger, aber auch als die meiſten ihrer unmittelbaren
Nachfolger waren, iſt dieſes Gebiet nicht völlig unbekannt ge—
blieben. Wiederholt haben namentlich die letzteren beiden das—
ſelbe geſtreift. Da die Exkurſe A. Smith' aber für ſein ganzes
Syſtem von nebenſächlicher Bedeutung geblieben ſind, ſo gelang—
ten auch bei ihm die fruchtbaren Gedankenkeime zu keiner wei-
teren Verwertung.
Erſt die Revolution, die am Schluß des vorigen Jahrhun⸗
| derts über Frankreich hereinbrach und ſich dann im übrigen
Europa fortſetzte, hat mit ihren unheimlichen Blitzesſtrahlen
auch das bis dahin im Dunkel verborgen gebliebene Gebiet der
Geſellſchaft beleuchtet und damit den Blicken aller bloßgelegt.
Als gleich in den erſten Jahren der Revolution die vorher ge—
ſtellten politiſchen und ſocialen Forderungen gleichſam mit einem
Schlage erfüllt wurden und ſich dennoch keine Zufriedenheit und
Ruhe einſtellte, fing man an zu begreifen, daß unmittelbar nach
Erfüllung der Forderungen des tiers état, die man irrtümlicher—
weiſe bis dahin für die Forderungen des ganzen Volks gehalten
hatte, neue Begehren aufgetaucht ſeien, die den Inſtinkten und
Intereſſen des vierten Standes entſprachen und ſich mit denen
des tiers état keineswegs deckten. So wurde man erſt durch
den Widerſpruch der verſchiedenen Klaſſenintereſſen auf die Klaſſen
ſelbſt und durch dieſe wieder auf die Geſellſchaft aufmerkſam.
Aber erſt in unſerem Jahrhundert iſt es gelungen, das Ge—
biet der Geſellſchaft ſelbſtändig abzugrenzen und ſeiner Erforſchung
eine Stelle im Kreiſe der Staatswiſſenſchaften zuzuweiſen. Um
*
4 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen.
dieſe grundlegende Arbeit haben ſich u. a. beſonders verdient
gemacht Hegel, Krauſe und Ahrens, L. v. Stein, Al. de Tocque⸗
ville, R. v. Mohl, R. v. Gneiſt.
Aber es genügte nicht, den Rahmen für dieſes weite Gebiet
feſtgeſtellt zu haben. Es bedurfte der Rahmen auch eines ent⸗
ſprechenden Inhalts. Und ſo wurde denn bald von verſchiedenen
Seiten ein umfangreiches thatſächliches Material, namentlich
über die Zuſtände der handarbeitenden und von ihrem Tagelohn
lebenden Klaſſen herbeigeſchafft. Wenn dasſelbe anfangs an
Zuverläſſigkeit und Objektivität der Darſtellung auch vieles zu
wünſchen übrigließ, ſo war es immerhin ein Verdienſt, die Auf⸗
merkſamkeit auf dieſes weite Gebiet bisher unbekannt gebliebener
Thatſachen hingelenkt zu haben. An dieſe erſten Anfänge ſchloſſen
ſich dann weniger leidenſchaftliche und daher zuverläſſigere Ar⸗
beiten hervorragender Arzte, welche teils im wiſſenſchaftlichen
teils im philanthropiſchen Intereſſe unternommen worden waren,
ferner die Arbeiten der offiziellen und privaten Statiſtik, der
parlamentariſchen Enquetekommiſſionen und einzelner Gelehrter an.
Und während wir uns noch mitten in der Herbeiſchaffung,
Darſtellung und Verarbeitung des thatſächlichen Materials be⸗
finden, von dem wir erſt eine möglichſt umfaſſende Kenntnis der
geſellſchaftlichen Zuſtände verſchiedener Völker und verſchiedener
Zeiten erwarten, tauchen bereits tauſend Fragen auf, die
ihre Beantwortung aus theoretiſchen und praktiſchen Gründen
heiſchen.
tit dem plötzlich in den weiteſten Kreiſen der wiſſenſchaft⸗
lichen Welt erwachten Intereſſe für die Zuſtände und Vorgänge
des ſocialen Lebens geht nun aber keineswegs Hand in Hand
der Umfang und die Zuverläſſigkeit der auf dieſem neuen For⸗
ſchungsgebiete gewonnenen Reſultate.
Wer wollte ſich aber angeſichts der großen Jugend der
Socialwiſſenſchaft, namentlich wenn er das hohe Alter anderer
Disciplinen damit vergleicht, darüber wundern? Ja wer dürfte
dies, wenn er zugleich die großen Schwierigkeiten erwägt, welche
bereits bei der Feſtſtellung ſocialer Thatſachen, noch mehr aber
Socialpolitifches aus den Schweizer Alpen. 5
bei der Ermittelung von Kauſalzuſammenhängen und vollends
bei der Auffindung von ſocialen Geſetzen zu überwinden ſind?
Handelt es ſich doch um ein Gebiet, dem wir perſönlich
durchaus nicht ſo unintereſſiert gegenüberſtehen, wie etwa der
Naturforſcher dem Gegenſtande ſeiner Unterſuchung. Vielmehr
gehören wir alle durch Geburt, Vermögen, Beruf oder Neigung
einer beſtimmten ſocialen Bevölkerungsklaſſe an. Durch Er—
ziehung, Umgebung und Gewohnheit haben unſere Anſchauungen
über ſociale Verhältniſſe ferner von vornherein eine beſtimmte
Richtung erhalten, von der wir uns auch bei unſeren wiſſen—
ſchaftlichen Arbeiten nicht immer freizuhalten vermögen. Den
Gegenſtand unſerer Unterſuchungen haben wir ſodann häufig
erſt mühſam aus dem Rechts- und politiſchen Leben, mit dem
er faſt untrennbar verflochten iſt, loszulöſen. Endlich treten die
ſocialen Geſetze nicht, wie die meiſten Geſetze der unorganiſchen
Natur, immer und üllerall, wo ſie in ihrer Wirkſamkeit nicht
durch entgegenwirkende Geſetze gehemmt ſind, zu Tage. Handelt
es ſich doch in der ſocialen Welt nur, ſoweit der Naturfaktor als
Grund und Boden, Fruchtbarkeit und Höhenlage desſelben,
Klima u. ſ. w. einerſeits und als phyſiſche Beſchaffenheit des
Menſchen andererſeits in Betracht kommt, um einen überall
gleichen und wenigſtens in hiſtoriſcher Zeit unwandelbaren Fak—
tor, dem daher auch immer gleiche Reſultate entſprechen. So⸗
weit dagegen der Menſch und ſeine Geſchichte in der ſocialen
Welt mit ins Spiel kommt, hört die Allgemeingültigkeit der ab—
geleiteten Regeln auf, ſo daß wir demnach das ſociale ebenſo
wie das wirtſchaftliche Gebiet nur zum geringſten Teil von
Natur⸗, zum größten Teil dagegen von hiſtoriſchen Entwicke—
lungsgeſetzen beherrſcht finden.
II.
Im nachfolgenden möge uns geſtattet ſein, einige dem
ſocialen Gebiet angehörige und noch nicht vollſtändig erledigte
Punkte zur Beſprechung zu bringen. Dieſelben fügen ſich uns
A —
6 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen.
am beſten in folgende Fragen, für die wir nach einer Antwort
ſuchen wollen.
Dieſe Fragen ſind:
1. In welchem Verhältnis ſtehen die geſellſchaftlichen Zu⸗
ſtände eines Volkes zu ſeiner politiſchen Verfaſſung wie über⸗
haupt zu ſeinem politiſchen Leben?
2. Wie verhalten ſich die verſchiedenen ſocialen Aaffen, in
die ſich ein Volk gliedert, zueinander? Stehen fie im Verhält⸗
nis dauernder Harmonie oder dauernden Widerſtreits oder
folgen vielleicht auf längere Perioden des Gleichgewichts kürzere
Zeitabſchnitte, in denen dieſes Gleichgewicht geſtört iſt und die
ſocialen Klaſſen in einen mehr oder minder heftigen Kampf unter⸗
einander geraten?
3. Angenommen daß ſich ſociale Klaſſenkämpfe, ſei es
nun dauernd oder nur vorübergehend, bei jedem Volke einſtellen,
welche Bedeutung in denſelben hat das Privateigentum am
Grund und Boden, wie es ja gegenwärtig mit Ausnahme nur
einiger weniger Länder Europas — und zwar eines Teils der
Schweiz und Süddeutſchlands ſowie Rußlands — überall zu
ausſchließlicher Herrſchaft gelangt iſt, und welche Folgen würde
in dieſer Beziehung die von den Anhängern des extremen und
gemäßigten Socialismus befürwortete gänzliche oder teilweiſe
Erſetzung des Privateigentums durch das Kollektiveigentum haben?
Würden dadurch insbeſondere etwa vorhandene Klaſſengegenſätze
und Klaſſenkämpfe beſeitigt oder wenigſtens gemildert werden?
4. Welches wären überhaupt die wahrſcheinlichen Folgen
des Geſamteigentums am Grund und Boden für das Kultur⸗
leben der Völker?
Zur Beantwortung dieſer Fragen ſoll uns ein Material
dienen, das zu dem beſten und beweiskräftigſten gehört, welches ſich
überhaupt der ſocialen Betrachtung und Durchforſchung darbietet.
Wir entnehmen dasſelbe der Geſchichte und Statiſtik der wirtſchaft⸗
lichen und ſocialen Verhältniſſe in den Urkantonen der Schweiz.
Dieſe liegen uns zunächſt fern genug, als daß uns durch
perſönliche Beziehungen oder ſonſtige Voreingenommenheit der
Soctalpolitifches aus den Schweizer Alpen. 7
Blick getrübt ſein könnte, und doch wieder nicht genug fern, als
daß uns nach Einſichtnahme in die Quellen der Geſchichte dieſer
Gegenden und nach wiederholtem Beſuch derſelben eine für die
wirtſchaftliche und ſociale Entwickelung jener Gebirgsländer
wichtige Seite unbekannt geblieben ſein wird. Es darf dies um
ſo ſicherer angenommen werden, als die Geſchichts- und unter
ihnen namentlich die Rechtsquellen der Schweiz, wenigſtens vom
Augenblick der Konſtituierung der Waldſtätte als ſelbſtändiger
Gemeinweſen an, ununterbrochen, freilich bald reichhaltiger bald
dürftiger fließen, indem die Entwickelung der Schweiz ſeit jener
Zeit nicht durch ähnliche tiefgreifende und langandauernde Er—
eigniſſe, wie der dreißigjährige Krieg es für einen Teil Deutſch—
lands war, unterbrochen worden iſt.
Bei der Freiheit und Offentlichkeit des ſocialen und poli-
tiſchen Lebens in den Urkantonen erſcheinen die einzelnen Vor⸗
gänge dort an ſich und in ihren Motiven viel durchſichtiger als
in Ländern, wo das Volk lange Zeit nur Objekt einer Politik
war, deren tiefere Beweggründe die Schwelle der Kabinette, der
Ratsſtuben und der Kanzleien nicht zu überſchreiten pflegten.
Ferner iſt das wirtſchaftliche und ſociale Leben der Ur⸗
ſchweiz nicht durch politiſche Vorgänge völlig heterogener Natur
durchkreuzt worden. Auch waren die Intereſſen der verſchiedenen
Volksklaſſen dort einfacherer Art als in Ländern mit dichterer
Bevölkerung und reicherer Kultur.
| Der größte Vorzug, den die Geſchichte der Urſchweiz für
unſeren Zweck bietet, beſteht aber ſicher darin, daß ſich die ein-
zelnen Phaſen der Klaſſenbewegung Schritt für Schritt vom
13. Jahrhundert bis in die Gegenwart genau verfolgen laſſen.
In Ländern, in denen die geſamte Wirtſchaftsordnung auf dem
ausſchließlichen Privateigentum ruht, verteilen ſich die Reibungen,
Kämpfe, Waffenſtillſtands⸗ und Friedensſchlüſſe unter den ver-
ſchiedenen Klaſſen über den ganzen ſocialen Körper, ohne daß es
immer zu einer Verzeichnung ihrer Spuren gekommen wäre. Sie
müſſen daher von dem Hiſtoriker aus indirekt für ſie zeugenden
Thatſachen und Außerungen mühſam im Geiſte rekonſtruiert
8 Socialpolitifches aus den Schweizer Alpen.
werden, was wegen der Dürftigkeit, Unvollſtändigkeit und zum
Teil auch Unzuverläſſigkeit ſolcher indirekter Zeugniſſe außer⸗
ordentlich ſchwer fällt. Anders in Ländern, in denen ſich bis in
die Gegenwart hinein das Kollektiveigentum am Grund und
Boden in großer Ausdehnung erhalten hat, wie in der Urſchweiz.
Hier laſſen ſich aus den ununterbrochen fortlaufenden Beſchlüſſen
der Landsgemeinden und Genoßſamen ſowie aus den Beſtim⸗
mungen der Landbücher und anderer Rechtsquellen, ſoweit ſie
ſich auf die Benutzung des Kollektiveigentums beziehen, ziemlich
deutlich die Stellung der einzelnen ſocialen Gruppen zu dieſem
Gegenſtande und zueinander, ihre Bedürfniſſe und Machtver⸗
hältniſſe herausleſen. In dieſen Urkunden finden ſich gleichſam
wie in weichem Wachs die Spuren der Kämpfe und Kompro⸗
miſſe, der Siege und Niederlagen der einzelnen Klaſſen abgedrückt
und für die Nachwelt aufbewahrt. Es bedarf daher nur einiger
Übung, um die dem unkundigen Auge auf den erſten Blick un⸗
verſtändlich erſcheinenden Runen zu entziffern und zu deuten.
Zu den obigen Vorzügen unſeres Materials geſellt ſich dann
noch ein weiterer. So gleichartig die Schweizer Alpenwelt in
wirtſchaftlicher und ſocialer Beziehung auf den erſten Blick auch
erſcheint, ſo weiſt ſie bei näherer Betrachtung doch eine außer⸗
ordentlich große Fülle mannigfaltiger Zuſtände und Formen auf.
Namentlich repräſentieren die einzelnen Kantone, ja zum Teil
bereits die einzelnen Teile eines Kantons ſehr verſchiedene Ent⸗
wickelungsſtufen des wirtſchaftlichen Lebens. Während z. B.
viele Gegenden des Kantons Graubünden und des Kantons Uri
uns noch in der Gegenwart Zuſtände zeigen, die zur Zeit der
Befreiung der Waldſtätte in der Schweiz allgemein geweſen ſind,
haben ſich andere Kantone, wie z. B. der Kanton Schwyz, namentlich
aber der Kanton Glarus, von dieſem primitiven Zuſtande in der
Gegenwart weit entfernt. In einem entwickelten Kommunikations⸗
weſen, in der bis in die entfernteſten Dörfer und Sennhütten
eindringenden Geldwirtſchaft, und in Glarus auch in einer
ſtark entwickelten Induſtrie haben dieſe letzteren Kantone zahl⸗
reiche Elemente des modernſten Wirtſchaftslebens in ſich aufge⸗
Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 9
nommen und dementſprechend auch die Nutzung ihres Gemein—
landes umgebildet. Indem wir uns von dieſen letzteren Kantonen
in jene auf primitiver Wirtſchaftsſtufe ſtehenden begeben, verſetzen
wir uns damit gleichſam aus der Gegenwart in Zuſtände einer
entlegenen Zeit zurück. Beim Anblick dieſer erhalten dann die ver—
gilbten Geſchichtsblätter friſche Farbe und Leben, ſo daß die
ſtellenweiſe erhaltenen Überreſte der Vergangenheit uns die allge⸗
meinen Zuſtände früherer Jahrhunderte anſchaulich machen.
Aber nicht nur dieſen Vorteil bieten uns die Zuſtände der
ſchweizeriſchen Alpenwelt, daß wir die hiſtoriſchen Vorgänge
eines Landes hier an den gegenwärtigen Zuſtänden eines anderen
wie in einem Laboratorium ſtudieren können, ſondern auch noch
den anderen, daß die Schweiz und namentlich ihre Alpenwelt
gleichſam das jahrhundertealte Experimentierfeld für das Kol—
lektiveigentum an Grund und Boden iſt, von deſſen Einführung
in anderen Ländern die Heilung der „kranken Zeit“ erwartet
wird.
| Indem im nachfolgenden ein Bild der ſocialen Verhältniſſe,
wie ſich dieſelben in den Alpengegenden der Schweiz auf Grund
des Kollektiveigentums ausgebildet haben, gegeben werden ſoll,
wird dasſelbe der Hauptſache nach auf die Zuſtände der bereits
früh zu politiſcher Selbſtändigkeit gelangten Kantone um den
Vierwaldſtätter See und zwar namentlich auf die Kantone
Schwyz, Uri, Ob- und Nidwalden mit ihrer faſt ausnahmslos
katholiſchen Bevölkerung zu beſchränken ſein. Nur hier und da
ſollen, ſofern die größere Mannigfaltigkeit und Deutlichkeit des
Bildes es verlangen, auch der Kanton Glarus, jener Milch—
bruder der Urkantone, ſowie das Berner Oberland und einige
Teile Graubündens, deren Bevölkerung im Gegenſatz zu den
Urkantonen weſentlich proteſtantiſch iſt, kurz berührt werden.
III.
Wenn wir uns in die Urkantone zur Zeit, als die Be—
freiung derſelben vollzogen war, verſetzen, ſo finden wir eine
10 Socialpolitifches aus den Schweizer Alpen.
weſentlich bäuerliche Bevölkerung, welche größtenteils auf Ein⸗
zelhöfen und in kleineren Weilern und nur ausnahmsweiſe in
geſchloſſenen Dörfern ſaß, vor. In den jetzigen Kantonen
Schwyz und Uri, im Haslethal, im Entlebuch, in dem
jetzigen Graubündener Kreiſe Kloſters und an manchen anderen
Orten ſind dieſe Bauern dann unter ſich vereinigt zu großen
Markgenoſſenſchaften, welche wahrſcheinlich dereinſt dieſes Land
beſiedelt haben. Umgeben und zum Teil auch durchbrochen und
zerſetzt waren dieſe Markgenoſſenſchaften durch das Gebiet klei⸗
nerer oder größerer Grundherrſchaften. In Unterwalden be⸗
deckten dieſe faſt ausnahmslos den Boden. Während die auf
freier Erde ſitzenden Bauern Freie waren, ſaßen auf dem grund⸗
herrſchaftlichen Erbe teils Hörige teils ebenfalls Freie, aber
verſchiedenen Laſten und Dienſten unterworfene. Nur ein Teil
des grundherrſchaftlichen Bodens, und wahrſcheinlich der kleinere,
wurde von den Beamten der Grundherrſchaften für Gefahr und
Rechnung dieſer bewirtſchaftet. Die ökonomiſchen Verhältniſſe
der freien Bauern mögen denen der grundherrlichen Hinterſaſſen,
wenn wir von den Laſten, welche dieſe zu tragen hatten, ab⸗
ſehen, ſehr ähnlich geweſen ſein. Auch die von den Bauern be⸗
ſeſſenen und bewirtſchafteten „Huben und Schuppoſen“ waren an⸗
fangs von großer Gleichartigkeit der Fläche oder doch des Er-
trags, und zu jeder derſelben gehörte die in jener Zeit notwendige
Nutzung des Gemeinwaldes und der Gemeinweide, gleichgültig
ob dieſe ſich im Eigentum der Grundherrſchaft oder der bäuer-
lichen Genoſſenſchaft befanden. Aber während ſich die wirt—
ſchaftlichen und ſocialen Verhältniſſe der Bauern, und zwar der
freien ſowohl wie der grundherrlichen, im Lauf der Zeit immer
mehr differenzierten, wurde ihre perſönliche Stellung je länger
je mehr gleich, und zwar ward das Recht der freien Landleute
zum Typus auch für das Recht ſämtlicher anderen Landbewohner.
Zwar blieben die Grundherrſchaften auch nach Schwächung der
habsburgiſch-öſterreichiſchen Macht, welche erfolgte, als dieſe eben
im Begriff ſtand, ſich zwiſchen das Reich und die Waldſtätte
einzuſchieben und zur eigentlichen Landesherrſchaft zu entwickeln,
Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 11
noch eine Zeitlang im Beſitz ihrer Gerechtſame wirtſchaftlichen
Inhalts. Denn aus mehr als einem Quellenzeugnis geht aufs
unzweideutigſte hervor, daß den Grundherren nach wie vor
Zehnten, Zinſen und Frohnen geleiſtet wurden. Aber die Beſei—
tigung der habsburgiſch⸗öſterreichiſchen Macht hatte fie doch der
weſentlichen politiſchen Stütze beraubt, an die ſie ſich in Zeiten
der Not und im Widerſtreit der Intereſſen mit der Bauerſame
hätten anlehnen können. Und ſo erblicken wir denn in den
nächſten Jahrhunderten auf der einen Seite die Bauerſame, auf
der anderen die grundherrliche Gewalt in einem Kampf um die
wirtſchaftliche, ſociale und politiſche Suprematie, deſſen Ausgang
übrigens nach der Schlacht am Morgarten, namentlich aber nach
der Schlacht bei Sempach mit Sicherheit feſtſtand, wenn nicht
unerwartete Ereigniſſe den Grundherren von außen her zu Hülfe
kamen. Dieſe blieben indes aus. So vollzog ſich denn hier in
den Alpengegenden, deren rauhe Luft ebenſo wie der trotzige
Sinn ihrer Bevölkerung den Grundherrſchaften nicht günſtig war,
jener Zerbröckelungsprozeß der grundherrlichen Gewalt, einige
Zeit vordem ſich derſelbe in den Kantonen der Ebene fortſetzte.
Aber während in der Ebene zum Teil die größeren Städte ſowie
einige Länder die Gerechtſame der Grundherrſchaften an ſich
brachten, während dann in ihrer Hand ſich die Grundherrſchaft
zur Landesherrſchaft und dieſe wieder zur Staatshoheit ent—
wickelte, verſchwanden in den Alpengegenden die meiſten, nament⸗
lich weltlichen Grundherrſchaften, ohne eine andere Spur zu
hinterlaſſen als die Ruinen von Bauwerken, die uns noch heute
an eine anders geartete Vergangenheit dieſer Länder erinnern.
Einige Grundherren, und zwar namentlich die größeren geiſt—
lichen, haben in den erſten Jahrhunderten nach Befreiung der
Waldſtätte ihren Hinterſaſſen ausdrücklich geſtattet, ſich von ihren
Pflichten gegen Bezahlung größerer oder geringerer Summen
Geldes loszukaufen, was denn auch vielfach geſchah. Die meiſten
grundherrlichen Rechte ſcheinen aber im Lauf der Zeit ohne ſolche
Ablöſung erloſchen zu ſein, indem das den Grundherren zu—
ſtehende Obereigentum mit ſeinem Recht auf Abgaben und
12 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen.
Dienſte, ſeinen Fiſcherei-, Jagd- und anderen Gerechtſamen ſich
im Lauf der Zeit immer mehr verflüchtigte und immer inhalts⸗
loſer wurde. Die Geſchlechter des hohen Adels wanderten aus
und die des niederen folgten ihnen entweder oder ſtarben aus
oder gingen in der Bauerſame auf. Und ähnlich wie dem wirt⸗
ſchaftlichen Inhalt des grundherrlichen Rechts ging es auch den
in demſelben enthaltenen politiſchen Befugniſſen, welche teils
auf größere, teils auf kleinere genoſſenſchaftliche Verbände und
ihre frei gewählten Organe übergingen. So blieb denn der
Helvetik, als ſie nach dem Vorbilde der franzöſiſchen National⸗
verſammlung die Aufhebung aller Feudalrechte dekretierte, in den
Urkantonen nicht viel zu thun übrig. Was ſie jetzt als eine
Konſequenz des Naturrechts für die ganze Eidgenoſſenſchaft durch⸗
führen wollte, das hatte ſich in den Urkantonen im Lauf einer
jahrhundertealten Geſchichte infolge der allmählichen Verlegung
des Schwerpunktes der wirtſchaftlichen, ſocialen und politiſchen
Macht in die Bauerſame gleichſam von ſelbſt vollzogen. Und
auch die neueſte demokratiſche Bewegung in der Schweiz mit
ihrem unerſchöpflichen Füllhorn politiſcher Rechte brachte nichts,
was die Kantone der Urſchweiz nicht bereits ſeit Jahrhunderten
wenn auch in etwas anderer, aber jedenfalls weniger künſtlicher
Form beſeſſen hätten.
Dieſer kurz skizzierte wirtſchaftliche und politiſche Rahmen
umſchließt den oben bereits angedeuteten ſocialen Inhalt, den
wir jetzt näher zu erörtern haben werden.
Die Gliederung der Bevölkerung in den ſchweizeriſchen
Alpengegenden war zur Zeit der Gründung der Waldſtätte faſt
ebenſo einfach, wie ſie es jetzt iſt. Nur an der Peripherie, nach
oben und nach unten hat ſich die ſociale Schichtung der Bevöl⸗
kerung im Lauf der Zeit verändert und zwar derart, daß ſie in
ihrer oberen Schicht einfacher und in ihrer unteren komplizierter
geworden iſt. In ihrem Kern dagegen iſt ſie dieſelbe geblieben.
Dieſen bildete und bildet eine „habliche“ Bauerſame, die ſich
in ihren einzelnen Gliedern anfangs ähnlicher war als jetzt, wo
die größere Freiheit und Beweglichkeit des Verkehrs ſowie die
Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 13
505 mittlerweile eingedrungene Geldwirtſchaft eine größere Verſchie—
denheit in den Vermögensverhältniſſen der Bauern bewirkt hat.
Eine Veränderung nach unten von größter Tragweite ging
namentlich dadurch vor ſich, daß ſich allmählich eine eigene nichts
oder nur wenig (vielfach nur ein Haus, einen Gemüſegarten und
etwas Kleinvieh) beſitzende Klaſſe ſelbſtändiger Landbewohner her—
ausbildete. Noch im 13. Jahrhundert und wohl auch ſpäter hatte
der Bauer ſeine ganze Arbeitskraft im Hauſe: ſie beſtand aus
ſeinen erwachſenen Söhnen und Töchtern, zu denen dann noch
weitere Verwandte ſowie fremde Perſonen hinzukamen. Aber
auch dieſe letzteren werden als weitere Glieder der Familie an—
geſehen und gingen in ihr auf. Parallel mit der allmählichen
Differenzierung des Grundbeſitzes und mit der Verengerung und
zugleich Lockerung des Familienbandes ging die Entſtehung jener
oben erwähnten ſelbſtändigen kleinen Exiſtenzen. Da ihr Beſitz
zu gering war, um ſie allein zu ernähren, ſo mußten ſie durch
Arbeit für andere das zu ihrem Lebensunterhalt Erforderliche hin—
zuzuerwerben ſuchen. Es iſt das die Klaſſe der in früheren Jahr—
hunderten ſogenannten armen Leute, der „Tagwner“, „Tauner“, oder
nach heutigem Sprachgebrauch der kleinen Leute, der Lohnarbeiter,
Tagelöhner. Dieſe Klaſſe rekrutierte ſich gewöhnlich aus den
jüngeren Söhnen der „hablichen“ Bauern, wenn ſie, vordem ſie ſich
etwas Rechtes erworben und ohne daß ihnen das Glück in der
Geſtalt einer reichen Erbtochter oder ſonſt gelächelt hätte, einen
eigenen Hausſtand gründeten. Auch größere, habliche“ Bauern, welche
durch eigene Schuld oder durch Unglück herabgekommen waren, ſanken
bisweilen zu den ſogenannten armen Leuten herab. Ein weiteres
Kontingent lieferten bisweilen die „Reisläufer“ nach ihrer Heim⸗
kehr: denn wenn die einen aus fremden Dienſten Ruhm und
Beute heimbrachten, ſo verloren die anderen in jenen wilden
Kriegszeiten des 14. und 15. Jahrhunderts mit der heimiſchen
Sitte und Zucht nicht ſelten das einzige Kapital, das ſie aus
der Heimat mitgenommen hatten. Dazu kam die Not, welche
die häufigen Kriege dieſer beiden Jahrhunderte ſowie Peſtilenz
und Mißwachs über jene von der Natur ohnehin nicht reich aus⸗
Fe EN
14 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen.
geſtatteten Länder zu bringen pflegten. Solche Kalamitäten
hatten jedesmal zur Folge, daß ein Teil der „Hablichen“ wenig⸗
ſtens zeitweilig in die Klaſſe der Armen und ein Teil dieſer
wieder in die der Almoſengenöſſigen herabſank. |
Für den ſocialen Charakter des Landes von geringerer Be⸗
deutung als dieſer nach unten auslaufende Zerbröckelungsprozeß
der „hablichen“ Bauerſame iſt der Einfluß jener höheren aber
dünnen Schicht, die ſich über die Bauerſame lagerte. Dieſe be⸗
ſtand zur Zeit der Befreiung der Waldſtätte aus größeren und
kleineren Grundherren, die entweder ausnahmsweiſe dem höheren,
der Regel nach aber dem niederen Adel angehörten, ſowie den po⸗
litiſchen und wirtſchaftlichen Beamten der damaligen Zeit: den
Vögten, Amtleuten, Meiern, Kellern und Forſtern, von denen die
erſteren nicht ſelten ebenfalls adeligen Standes waren. Je mehr
wir uns der Gegenwart nähern, deſto mehr verſchwindet dieſes der
mittelalterlichen Bevölkerung der Alpenwelt eine gewiſſe Man⸗
nigfaltigkeit und zugleich einigen Glanz verleihende Element.
Es bleiben und zwar bis auf unſere Tage nur die Klöſter mit
ihren herrſchenden und dienenden Inſaſſen übrig, und an dieſe
ſchließen ſich die Vertreter und Diener der katholiſchen Kirche an,
welche in den Schweizer Alpen ſtets eine freundliche Heimſtätte
fanden. Das verſchwindende grundherrliche Element findet dann
namentlich ſeit dem 17. Jahrhundert einen teilweiſen Erſatz in
denjenigen Familien, die ſich regelmäßig im Beſitz der Magiſtra⸗
turen des Landes befanden. Wurden dieſe auch durch freie
Wahlen und zwar gewöhnlich nur auf kurze Zeit eingeſetzt, ſo
mußten dieſe Wahlen doch naturgemäß in einem Lande, in dem
die Keime höherer und feinerer Kultur nur dünn geſäet waren,
immer wieder auf denſelben Kreis von Perſonen fallen. So
bildete ſich denn eine Ariſtokratie derjenigen Familien aus, in
denen die oberſten Amter gleichſam erblich waren.
Und wie hervorragendes Talent und höhere Bildung neben
anderen Eigenſchaften und Verdienſten zum Eintritt in dieſen
Kreis und zum dauernden Verharren in demſelben geführt hatten,
jo hat die ſtete Beſchäftigung mit den Staatsgeſchäften — wo—
Socialpolitifches aus den Schweizer Alpen. 15
zu namentlich auch die Vertretung der Länder auf der Tagſatzung
ſowie die Verhandlungen mit fremden weltlichen und geiſtlichen
Mächten gehörten und neuerdings wenigſtens die Vertretung in
den eidgenöſſiſchen Räten gehört — in dieſen Familien wieder
einen Schatz von Traditionen, Erfahrungen und Kenntniſſen an—
geſammelt. Den letzteren ſuchten die einzelnen Glieder dieſer
Ariſtokratieen fort und fort durch den Beſuch auswärtiger Uni—
verſitäten und Kollegien zu vermehren oder doch zu erhalten.
Endlich iſt für die Bildung einer höheren Geſellſchaftsſchicht
in den Urkantonen von der größten Bedeutung geweſen die
Stellung, die zu allen Zeiten die abgehärteten und tapferen
Söhne der Alpenwelt in fremden Militärdienſten eingenommen
haben. Durch dieſe Söldnerdienſte war ein wirkſames Mittel
gegen eine etwaige Übervölkerung jener nur eine dünne Bevöl⸗
kerung ernährenden Länder gegeben. Dann aber brachten die auf
ihre alten Tage häufig in ihre Heimat zurückkehrenden Landesſöhne,
wenn ihnen das Glück günſtig geweſen war, neben reichlichen
Penſionen nicht ſelten beträchtliches Vermögen ſowie die Er—
rungenſchaften einer feineren geiſtigen und geſellſchaftlichen Bil—
dung mit. Noch heute zeugt manches ſtattliche und geſchmack—
volle Gebäude, mancher wertvolle und kunſtreiche Hausrat ſowie
die importierte Kultur ſeltener Pflanzen oder Baumſorten für
den günſtigen Einfluß, den der fremde Dienſt auf die Urkantone
gehabt hat. Mag man das Aufhören dieſer vom politiſchen
Standpunkt nicht unbedenklichen Beziehungen der Schweizer zu
fremden Mächten auch mit Freuden begrüßen: für das Kultur-
leben jener Gegenden bedeutet dasſelbe immerhin einen Verluſt,
der neuerdings durch die Begünſtigung der Auswanderung der
überſchüſſigen Bevölkerung nach Amerika, durch den Bau von
Eiſenbahnen, durch die Einführung von übrigens nur mühſam
Fuß faſſenden Induſtrieen, ja ſelbſt durch die Entwickelung der
Fremdeninduſtrie nicht vollſtändig ausgeglichen iſt.
Eine mittlere Stellung zwiſchen dieſen verſchiedenen Klaſſen,
bald mehr zu der einen bald mehr zu der anderen ſich neigend,
nehmen, nachdem ſich das Handwerk von der Landwirtſchaft ge—
16 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen.
trennt hat, die kleinen ſelbſtändigen Handwerker und ſonſtigen
Gewerbtreibenden wie: Schmiede, Müller, Ziegler, Wagner,
Bäcker, Metzger, Wirte u. ſ. w. ein. Zu dieſen ſind dann in
den letzten Jahrzehnten in überreicher Zahl entweder ſelbſtändig
oder in Verbindung mit anderen Gewerben auch die Hotel- und
Penſionsbeſitzer mit ihrem dirigierenden Perſonal hinzugetreten.
Der unterſten Klaſſe der kleinen Leute gehörten ferner früher
die Säumer, Botführer, Sennen u. ſ. w. und gehören gegen⸗
wärtig die Droſchkenkutſcher, Fremdenführer, das zahlreiche
Dienſtperſonal der Hotels u. ſ. w. an.
So hat ſich denn im Lauf der Zeit an die breite und den
Charakter der Geſellſchaft in den Alpengegenden beſtimmende
Schicht der „hablichen“ Bauern nach oben eine ſpärliche Bevölke⸗
rungsklaſſe mit höherer Bildung und größerem Kapitalbeſitz,
welche den Ackerbau und die Viehzucht nur etwa nebenbei zum
Zweck der Befriedigung ihrer häuslichen Bedürfniſſe treibt, an⸗
geſchloſſen. Nach unten geht die Bauerſame dann durch Ver⸗
mittelung der kleinen und kleinſten Haus- und Gartenbeſitzer
über in die Klaſſe der völlig Beſitzloſen und läuft endlich in
die Almoſengenöſſigen aus.
Das eben in allgemeinen Zügen Dargeſtellte mag durch ein
konkretes Bild veranſchaulicht werden, zu welchem Zweck die
Gliederung der Bevölkerung der im Berner Oberlande liegenden
Gemeinde G. vorgeführt werden ſoll. Dieſe Berggemeinde zählt
ca. 700 Haushaltungen. Davon entfallen ca. 20—30 auf die
„hablichen“ Bauern. Dieſe beſitzen je ca. 3—5 Jucharten Land
(1 Juchart = 36 Ar), mit welchem reichlich bemeſſene
Nutzungen der Gemeinalpen und des Gemeinwaldes verbunden
ſind. Ihren Boden bebauen die Beſitzer mit Hülfe ihrer Ange⸗
hörigen ſowie gemieteter Knechte und Mägde. Der Viehſtand
wechſelt in den einzelnen Haushaltungen zwiſchen 6—10 Kühen.
Über dieſer Klaſſe ſtehend bewohnen das weitläufig gebaute
Dorf der Pfarrer, Schulmeiſter und einige Hotel- und Penſions⸗
beſitzer, welche letzteren nur während des Sommers ihre Reſidenz
hier aufſchlagen. Somit kommen dieſe Perſonen für das ſociale
Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 17
Bild der Bevölkerung wenig in Betracht: in wirtſchaftlicher
Hinſicht erſcheinen ſie in den Sommermonaten als Abnehmer
eines kleinen Teils der in der Gemeinde erzeugten Produkte,
namentlich der Milch, ſofern ſie nicht ſelbſt Kühe halten, ſowie
als Dienſtherren einiger Knechte und Mägde. Das meiſte, was
ſie von Produkten verbrauchen, beziehen ſie jedoch aus der Ferne
und auch ein Teil des Dienſtperſonals wird von außen mitge-
bracht. An die habliche Bauerſame ſchließen ſich unmittelbar
an 350 Haushaltungen, die wahrſcheinlich größtenteils im Lauf
der Zeit durch fortgeſetzte Teilungen des Grundbeſitzes aus der
erſteren Klaſſe entſtanden ſind. Dieſe Haushaltungen beſitzen je
ca. eine Juchart Land mit den zu demſelben gehörigen Perti—
nenzen am Gemeindeboden und 1—3 Kühe. Auf dieſer Baſis
leben die einzelnen Familien, ihre kleinen Acker ſelbſt bebauend
und ihr Vieh ſelbſt beſorgend, entweder ohne Nebenverdienſt und
zwar alsdann kümmerlich genug, oder ſie ſuchen und finden
nebenbei im Sommer einen Verdienſt als Fremdenführer,
Packträger, Droſchkenkutſcher u. ſ. w., im Winter wohl auch als
Holzarbeiter, Eisbrecher u. ſ. w., und kommen dann bei nicht zu
großer Kinderzahl gut aus. Die unterſte aus 320—330 Haus⸗
haltungen beſtehende Klaſſe endlich beſitzt gar kein Land und wohnt
bei anderen zur Miete oder beſitzt höchſtens ein kleines, wenn
auch häufig ſtark verſchuldetes Häuschen und etwas Kleinvieh.
Die einzelnen Mitglieder dieſer Klaſſe ſuchen ſich ihren Lebens—
unterhalt als Landarbeiter, Kuhhirten, Sennen, Fremdenführer,
Träger u. ſ. w. zu verdienen und bringen ſich in normalen
Zeiten bei nicht zu vielen Kindern kümmerlich durch: bei außer⸗
ordentlichen Krankheiten und größerer Kinderzahl, die nicht ſelten
auf zehn und mehr anzuſteigen pflegt, muß dann die Gemeinde
helfen.
Bei dieſer Gelegenheit mag zugleich darauf aufmerkſam gemacht
werden, daß die Grenzlinie zwiſchen der Klaſſe der kleinen Leute,
d. h. den Armen im mittelalterlichen Sinn des Wortes, und den
Almoſengenöſſigen oder Armen im heutigen Sinn in den Schweizer
Landgemeinden mit ihrer lokalen Autonomie durchaus nicht ſo
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 2
18 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen.
ſcharf gezogen iſt wie in anderen Ländern, in denen das Regle⸗
ment und die bureaukratiſche Ausführung desſelben mehr zur
Geltung gelangen. So wird z. B. den ſelbſtändigen kleinen
Leuten nicht ſelten eine vorübergehende, ja bisweilen ſogar eine
dauernde Beihülfe aus dem Gemeindeſäckel zu teil, ohne daß ſie
deshalb als almoſengenöſſig angeſehen und demnach behandelt
würden. Es geſchieht das nicht nur zeitweilig beim Eintreten
beſonderer Unglücksfälle (Mißwachs der Kartoffeln, lang anhal⸗
tende Krankheit oder Tod des Familienvaters u. ſ. w.), ſondern auch
dauernd für den Fall der Belaſtung des Familienvaters mit einer
für ſeine Einkünfte zu großen Familie. So erweiſt ſich z. B.
die dem Berner Oberlande angehörige Gemeinde G. vermögens⸗
loſen Eltern gegenüber durchaus nicht ſchwierig. Die Praxis in
dieſer Gemeinde geht dahin, daß während vier Kinder auch von
vermögensloſen Eltern ſelbſt erhalten werden müſſen, für die dieſe
Zahl überſteigenden Kinder die Gemeinde ſorgt. Ein direktes
Zuwiderhandeln gegen das Malthusſche Geſetz, wird mancher da⸗
bei ausrufen! Aber Kinder ſind eben keine Pflanzen oder Tiere,
die man mit dem billigen Troſt zu Grunde gehen laſſen darf,
daß für ſie an der Tafel der Natur kein Platz gedeckt iſt.
Übrigens verdient bemerkt zu werden, daß die Vermögens⸗
verteilung in vielen Gemeinden der ſchweizeriſchen Urkantone
gegenwärtig eine beſſere iſt als die eben dargeſtellte, indem die
habliche Bauerſame meiſt noch einen größeren Platz einnimmt
und der Zerbröckelungsprozeß innerhalb derſelben nicht ſoweit
vorgeſchritten iſt wie in dem obigen Fall.
Doch nehmen wir den abgeriſſenen Faden unſerer Darſtellung
wieder auf. Die wirtſchaftlichen Verhältniſſe, aus denen die oben
geſchilderte einfache ſociale Gliederung erwuchs, waren von jeher
weſentlich agrikole, wie ſie es auch heute noch ſind. Von ſeinem
eigenen Erbe aus betrieb der Bauer die Viehzucht und den Ader-
bau. Der letztere nahm noch im 13. und den folgenden Jahr⸗
hunderten einen viel größeren Umfang ein als gegenwärtig.
Denn bei dem geringen regelmäßigen Verkehr der Alpengegenden
mit anderen Ländern mußten ihre Bewohner das, was ſie für
Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 19
ihren Lebensunterhalt brauchten, auch ſelbſt hervorzubringen
ſuchen. Den Ackerbau ſcheinen ſie urſprünglich hauptſächlich an
der Sonnenſeite der Vorberge auf Höhen betrieben zu haben, die
gegenwärtig nur noch als Wieſen und Weiden benutzt werden.
In die Thäler iſt derſelbe dann erſt herabgeſtiegen, als dieſe
vollſtändig trocken und damit anbaufähig geworden waren.
Während ſich an dem dem Ackerbau unterworfenen Teil des
Landes bereits früh das Privateigentum ausgebildet hatte, blieben
die reichen Weiden, auf denen ſich das Vieh tummelte, und auch
noch ein Teil der Wieſen, welche das nötige Winterfutter für
das Vieh hergeben mußten, in vielen Gegenden bis auf unſere
Tage im Beſitz der größeren Markgenoſſenſchaften, ſo z. B. in
Uri, Schwyz, Graubünden, oder im Beſitz kleinerer lokaler Ver-
bände, die ihren Urſprung nicht ſelten auf die Hofverfaſſung
zurückführen, ſo z. B. in Ob⸗ und Nidwalden, Zug, Glarus u. ſ. w.
Ebenſo war auch der noch mit urwaldähnlichen Stämmen be—
ſtandene und von dem Weidegebiet noch nicht geſonderte Wald—
boden damals allen gemeinſam. Derſelbe lieferte in reichlichem
Maße das nötige Bau⸗ und Brennholz und diente außerdem
noch als Viehweide. Wie das Getreide, ſo ſcheint auch das
Vieh weſentlich dem eigenen Bedarf der Bevölkerung gedient zu
haben. Der Export des Getreides und Viehes war gegenüber
dem eigenen Konſum nicht groß. Die Bereitung des „Rauch—
ziegers“ (einer Art Ziegenkäſe) und überhaupt die Käſebereitung
im kleinen war ſchon früh bekannt; die Käſebereitung im großen
dagegen hat erſt ſpäter, beſtimmt ſeit dem 13. Jahrhundert, auf
den größeren Kloſterhöfen von Diſſentis, Pfeffers, Einſiedeln,
Engelberg u. ſ. w. ſowie auf den Alpen größerer Adliger ihren
Anfang genommen. Die nicht ſelbſt verbrauchten Produkte der
Alpengegenden wurden in die Ebene geſchafft und gegen dieſelben
die Erzeugniſſe dieſer Länder ſowie ferner Zonen eingetauſcht.
Als dann der Verkehr zwiſchen Deutſchland und Italien den Weg
über den Gotthard einzuſchlagen begann, wurde namentlich Luzern
ein wichtiger Durchgangspunkt für Waren und Reiſende. Die
Bergleute in den Waldſtätten waren gewohnt, die Märkte in
2 *
20 Socialpolitifches aus den Schweizer Alpen.
Luzern zu beſuchen, um der Stadt einen Teil ihrer Lebensmittel
zu liefern und Salz ſowie andere Waren (Gewürze, feine Ge⸗
webe, Zierat, Schmuck u. dgl.) einzutauſchen. Im 14. und
noch häufiger im 15. Jahrhundert begegnen wir dann den Urnern,
Schwyzern und Unterwaldnern, indem ſie ihr junges Vieh über
den Gotthard auf italieniſche Märkte bringen, und etwas ſpäter
finden wir auch die Glarner über den Panixer Paß nach Graubünden
und über den Lukmanier nach Lugano und Mailand vordringen,
um ihre jungen Tiere dort abzuſetzen. a
Wahrſcheinlich würde dieſer Verkehr bald größere Dimen⸗
ſionen angenommen haben, wenn nicht die alte Straße für den
indiſch⸗europäiſchen Verkehr, die über das mittelländiſche Meer,
Italien und die Tiroler Alpen nach dem Oſten und über die
Schweizer Alpen nach dem Weſten Europas führte, einerſeits
infolge der türkiſchen Eroberungen in Aſien und Europa, dann
aber auch infolge der Entdeckung des neuen Seewegs nach Indien
ſowie der Entdeckung Amerikas zu vollſtändiger Bedeutungsloſig⸗
keit verurteilt worden wäre. Durch Verlegung dieſer Handels⸗
ſtraße aus dem Centrum Europas an ſeine weſtlichen Küſten
ſanken Italien, Deutſchland und zum Teil auch die Schweiz, wo
ſich auf Grund dieſes Verkehrs und der in ſeinem Gefolge auf⸗
tretenden Geldwirtſchaft ein höheres wirtſchaftliches Leben zu
regen begonnen hatte, in den Zuſtand der Naturalwirtſchaft
zurück. Aus dieſem Zuſtande haben ſich die Länder der Schweiz
dann wieder erſt ſeit dem vorigen Jahrhundert und zwar nur
teilweiſe und dazu ſehr langſam erhoben.
Die geringen Veränderungen, welche ſich im Lauf der letzten
Jahrhunderte im wirtſchaftlichen Leben der Alpengegenden vollzogen
haben, waren einmal durch die zunehmende Leichtigkeit und Gewohn⸗
heit des Verkehrs derſelben mit den ebenen Teilen der Schweiz, dann
aber auch durch das Anwachſen der eigenen Bevölkerung bedingt.
Die beſſeren Kommunikationsmittel und die größere Rechts⸗
ſicherheit ermöglichte dann auch die regelmäßige Zufuhr fremden
Getreides, ſo daß der in früherer Zeit dem Ackerbau nur wider⸗
willig dienende Boden dem Pflug und dem Spaten immer mehr
Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 21
entzogen werden konnte, um ſeiner natürlichen Beſtimmung ge—
mäß als Wieſe zu dienen.
Als Beleg für die Abnahme des Getreidebaues in den Ur—
kantonen möge uns geſtattet ſein, zwei Thatſachen hier anzu—
führen, nämlich daß noch im 12. und 13. Jahrhundert von
Obwalden aus mit Getreide beladene Nachen über den See nach
Luzern gingen, ſo daß ihre Ankunft für den Getreidepreis in
Luzern maßgebend war, während ſeit den fünfziger Jahren unſeres
Jahrhunderts der Getreidebau in Obwalden faſt ganz aufgehört
hat, ſo daß alles in dieſem Kanton konſumierte Getreide von
außen herbeigeſchafft werden muß.
Die allem wirtſchaftlichen Fortſchritt zu Grunde liegende
Arbeitsteilung, wonach jeder einzelne Menſch ſowie ganze Klaſſen
und endlich ganze Völker um ſo ausſchließlicher nur dasjenige
hervorbringen und treiben, wozu ſie die beſten Anlagen und Vor—
ausſetzungen mitbringen, veranlaßte auch die Alpenbewohner, daß
ſie ſich im Lauf der letzten Jahrhunderte immer mehr von dem
Ackerbau ab⸗ und der Viehzucht ausſchließlich zubwandten. Der
durchſchnittlich kleine Beſitz jener Gegenden führte dann in Ver⸗
bindung mit den weiten Gemeinweiden und Wäldern zu jener
ſpecifiſch bäuerlichen Art der Alpenwirtſchaft, wonach das Vieh
ſich nur im Winter im Stall befindet, vom Frühjahr an bis ſpät
in den Herbſt hinein dagegen in größeren und kleineren Partieen
teils auf dem Privateigentum im Thal, teils auf den im Gemein-
eigentum befindlichen Vor⸗, Mittel⸗ und Hochalpen „geätzt“ wird.
Während ſomit auf der einen Seite das auf der Sonnenſeite
der ſanften Gebirgsabhänge liegende Gelände in den letzten Jahr—
hunderten dem Ackerbau entzogen wurde, mußte andererſeits wieder
ein Teil der Thalſohle infolge vermehrter Bevölkerung zu Ge-
müſe⸗ und Krautgärten und ſeit Einführung des Kartoffelbaues
im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts auch zu Kartoffel-
äckern eingerichtet werden. |
Eine weitere der Neuzeit angehörende Kulturveränderung
betraf dann das Vorrücken der Weide auf Koſten des Waldes,
ſo daß dieſer immer mehr und mehr zurückwich. Infolge der
22 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen.
Transporterleichterungen, des in der Ebene teilweiſe eingetretenen
Holzmangels, verbunden mit hohen Holzpreiſen, drang der Holz⸗
handel bereits am Schluß des vorigen, namentlich aber in der
erſten Hälfte des gegenwärtigen Jahrhunderts tief in die Alpen⸗
wälder vor und veranlaßte hier jene kurzſichtigen Kahlſchläge, die
das Klima rauher machten, den Ackerboden ſtellenweiſe zu voll⸗
ſtändiger Unfruchtbarkeit verdammten und endlich die bekannten
periodiſch wiederkehrenden Waſſerverheerungen in der Ebene ver⸗
anlaßten. Erſt in unſeren Tagen iſt durch kräftiges Einſchreiten
des Bundes eine pfleglichere Benutzung der Alpenwälder bewirkt
und damit der Wiederholung der obigen Vorgänge in der Zu⸗
kunft vorgebeugt worden.
So hat ſich denn innerhalb des weiten politiſchen Rahmens
eine höchſt einfache ſociale Gliederung der Alpenbewohner auf
Grund ebenſo einfacher wirtſchaftlicher Verhältniſſe herausgebildet.
Dieſe ſind auch heute noch weſentlich agrikoler Natur, ſo daß
Handel und Gewerbe im ganzen nicht mehr leiſten, als was der
geringe Bedarf der Landbewohner über diejenigen Produkte hin⸗
aus, die das Land ſelbſt erzeugt, verlangt. Das Städteweſen
endlich iſt wenig entwickelt.
IV.
Für die Land- und Alpenwirtſchaft der Schweiz iſt noch heute,
wie vor ſechshundert Jahren, das Kollektiveigentum von weſent⸗
licher Bedeutung. Der im Kollektiveigentum befindliche Boden
wird nach dem Sprachgebrauch des Kantons Schwyz als Allmend
bezeichnet, d. h. als das, was allgemein iſt, im Gegenſatz zum
Eigen. Der größte Teil der Wälder, Streurieder und Weiden,
aber auch noch ein Teil der Wieſen, Gärten und Getreide- ſowie
Kartoffelfelder in der Urſchweiz und in den angrenzenden Ge⸗
birgskantonen befindet ſich auch heute noch im Kollektiveigentum
größerer oder kleinerer Genoſſenſchaften, deren Beziehungen zum
Staat und zur Gemeinde bald loſe bald enge ſind.
So übertrifft z. B. in dem gegenwärtigen Bezirk (dem ehe⸗
maligen altfreyen Lande) Schwyz der Umfang des Allmendbodens das
Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 23
geſamte in Privateigentum befindliche Land um ein beträchtliches.
Leider liegen uns keine ganz genauen Angaben über den Umfang
dieſer beiden Kategorieen des Grundbeſitzes vor. Zu der Allmend
des Bezirks Schwyz gehört das ganze Hochgebirge ſowie alle größeren
Waldungen und ſehr ausgedehnte Gärten, Wieſen, Streu- und
Torfländereien. Das ſteuerbare Grundvermögen der beiden dieſem
Bezirke angehörigen Hauptkorporationen, der Ob- und Unter⸗
Allmendkorporation, betrug nach der Taxation einer Experten⸗
kommiſſion allein über 6 500 000 Fres. Und ebenſo ſchätzt eine
aus dem Jahre 1851 —52 ſtammende notoriſch ſehr niedrige
Taxe die der Bezirksgemeinde Uri gehörigen Allmenden auf ca.
6000000 Fres.
Innerhalb der Allmend im weiteren Sinn unterſcheidet man
dann wieder die Thal- oder Bodenallmend, die Allmendalpen
(nach urneriſchem Sprachgebrauch) und die Gemeinwälder. Da
der bei weitem größte Teil der Allmend ſich in der perſönlichen
Nutzung der Bewohner jener Länder befindet, ſo haben dieſe an
dem Schickſal derſelben ein faſt ebenſo intenſives Intereſſe wie
an dem Schickſal ihres Privateigentums. Dieſes ſtarke Intereſſe
ſpricht ſich nicht nur in dem regelmäßigen Beſuch der Allmend—
verſammlungen aus. Es giebt keinen anderen Gegenſtand — außer
etwa die Angelegenheiten der Kirche —, welcher überhaupt die
Gemüter der Landleute ſo ſehr zu erregen, ſie zu feſten Parteien zu
gruppieren und gelegentlich erbitterte Kämpfe zu veranlaſſen vermag,
wie die Fragen, die ſich an die Art der Allmendnutzung knüpfen.
Dieſes intenſive und teilweiſe gegenſätzliche Intereſſe der ver-
ſchiedenen Genoſſen an der Allmend hat ſich erſt mit der größeren
Differenzierung der Klaſſen unter den Gebirgsbewohnern eingeſtellt.
Aber nicht nur die Klaſſenbildung, auch die allmähliche Verſchie—
bung der Kulturen ſowie überhaupt die ganze Wirtſchafts⸗
geſchichte jener Länder finden ihren Ausdruck in der Geſchichte
der Allmenden und ihrer Nutzung.
Dieſe Allmenden wurden zur Zeit der Befreiung der Wald—
ſtätte von den Bauern ohne Unterſchied, ob ſie auf eigenem oder
fremden Boden ſaßen, ſowie von den Grundherren für ihr Salland,
24 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen.
deſſen Bedeutung aber je länger um ſo mehr verſchwindet, genützt.
Unter den Bauern haben wir die Vorſtände der bäuerlichen
Haushaltungen zu verſtehen, in denen ſo ziemlich alle Einwohner
des Landes, ſoweit ſie nicht den höheren Ständen angehörten,
damals untergebracht waren.
Da dieſe Nutzung anfangs nur in natura erfolgte und die
Familienangehörigen alles, was ſie bedurften, von dem Familien⸗
vorſtande erhielten, ſo hatten die zur Haushaltung eines Bauern
gehörigen Söhne und Töchter ſowie ſonſtigen Angehörigen ebenſo⸗
wenig das Intereſſe wie die Fähigkeit, die Allmende ſelbſtändig
zu nutzen. So waren denn, wenn man von den Grundherr⸗
ſchaften abſieht, die hablichen Bauern damals faktiſch die einzigen
Nutznießer. Auch der Umfang und die Art ihrer Nutzung richtete
ſich ausſchließlich nach ihrem wirtſchaftlichen Bedürfnis, und
dieſes wurde wieder thatſächlich durch die Größe ihres Privat⸗
beſitzes an Land, Gebäuden und Vieh beſtimmt. Dabei war die
Allmendnutzung durch keinerlei beengende Vorſchrift der Geſamt⸗
heit beſchränkt.
Der Bauer holte ſich alſo ſelbſt ſoviel Holz aus dem Walde,
als er zum Bau und zur Reparatur ſeiner Gebäude, zur An⸗
fertigung ſeiner Gerätſchaften und zur Feuerung bedurfte.
Er trieb ferner ſoviel Vieh auf die Gemeinweide, als er
beſaß und überwintern konnte, und nahm ſoviel von dem All⸗
mendboden unter den Pflug und die Hacke, als er über ſein
Privateigentum hinaus noch nutzen mochte. In der Regel lag
für dieſe letztere Art der Nutzung übrigens kein Bedürfnis vor.
Ein Widerſtreit der Intereſſen unter den Nutzungsberechtigten
trat erſt ein, als der „habliche“ Bauerſtand aufhörte die einzige
wirtſchaftlich maßgebende Klaſſe zu ſein und der Getreidebau
immer mehr zu Gunſten des Wieſenbaues und der Weidewirt⸗
ſchaft eingeengt wurde. Was zunächſt die höhere über der bäuer-
lichen ſtehende Klaſſe betrifft, ſo kommt ſie für die Allmend⸗
nutzung nicht beſonders in Betracht. Sie nutzte die Allmend
ebenfalls nach Maßgabe ihres in eigener Bewirtſchaftung be⸗
findlichen Sondereigen, und dieſes überragte — ſeit die Grund⸗
Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 25
herrſchaft und die Hofverfaſſung ihre Bedeutung verloren — den
größeren bäuerlichen Grundbeſitz nur noch ausnahmsweiſe.
Um ſo bedeutſamer wurde die Ausbildung einer eigenen
Klaſſe von Leuten, welche gar kein oder nur wenig Land und
Vieh beſaßen. Je zahlreicher dieſelbe wurde, deſto deutlicher trat
ihr von dem Intereſſe der Bauern verſchiedenes, ja demſelben
entgegengeſetztes Intereſſe an der Allmend zu Tage.
Die bisherige Art der Nutzung war ihnen entweder gar
nicht oder nur wenig zu ſtatten gekommen.
Am meiſten Vorteil brachte ihnen noch der Gemeinwald.
Aber den wichtigſten Beſtandteil desſelben, das Bauholz, konnten
ſie entweder gar nicht benutzen, wenn ſie keine eigenen Häuſer
beſaßen, oder konnten es doch wenigſtens nicht in dem Maße
benutzen wie die Bauern, wenn ihre Häuschen klein und dürftig
waren. Dagegen kam das Brennholz auch ihnen zu ſtatten.
Den geringſten Nutzen hatten ſie von den Wieſen und weiten
Weidetriften zu Berg und Thal: denn zur Benutzung dieſer fehlte
ihnen das Vieh entweder ganz oder ſie beſaßen doch nur eine
Kuh oder ein paar Ziegen und Schafe, während der reiche Bauer
die Bodenallmend und Gemeinalp durch ſeine Sente, beſtehend
aus 20 bis 40 Stück Großvieh, beweiden ließ.
Und auch durch Abtretung und Verlehnung (Verpachtung)
ſeines Nutzungsanteils an dritte Perſonen durfte ſich in der
Regel niemand einen Vorteil aus der Allmend verſchaffen. Denn
bereits früh hatte der Grundſatz, daß die Thal- und Alpenweiden
ebenſo wie die Gemeinwälder nur von den in der betreffenden
Gemeinde oder doch im Lande angeſeſſenen Genoſſen und nur
nach Maßgabe ihres privaten Grundbeſitzes benutzt werden
durften, Rechtskraft erhalten. Der rechtliche Ausdruck für dieſen
Grundſatz freilich konnte ein ſehr verſchiedener ſein: entweder
war die Geſamtnutzung der Allmend in ideelle Teile zerlegt
und mit dem Privatgrundbeſitz als deſſen Pertinenz verknüpft.
Es war damit jedem Privateigentümer eines Stückes Land zu⸗
gleich ein der Größe dieſes letzteren entſprechender ideeller Anteil
an der Allmendnutzung eingeräumt, ſo daß bei Veräußerungen die
26 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen.
Allmendnutzung regelmäßig mit dem Privateigentum an den
neuen Erwerber überging. Zur Ausbildung ſolcher Rechte iſt es
jedoch in den Schweizer Alpen nur ausnahmsweiſe gekommen:
ſo z. B. in einzelnen Gemeinden des Berner Oberlandes und
Graubündens. Dagegen war es Regel, daß die Nutzungsbe⸗
rechtigung einen rein perſönlichen Charakter hatte und an die
perſönliche Zugehörigkeit zu größeren oder kleineren Verbänden
geknüpft war. In Schwyz und Uri hatte jeder Landesangehörige,
in Nid⸗ und Obwalden jeder Angehörige eines kleineren gemeinde⸗
ähnlichen Lokalverbands, einer ſogenannten Urte oder Teilſame,
das Recht, die Allmend zu benutzen. Dieſe rein perſönliche Berech⸗
tigung wurde dann durch Vererbung oder durch Einkauf in den
betreffenden Verband erworben. Für die perſönlichen Nutznießer
erhielt der oben angeführte Rechtsſatz bisweilen folgende Faſ⸗
ſung: daß nur das dem berechtigten Genoſſen dauernd gehörige
Vieh oder doch nur das mit deſſen eigenem Heu durchwinterte Vieh
auf die Gemeinweiden getrieben werden dürfe und daß das
von dem Genoſſen aus dem Gemeinwalde bezogene Holz von
ihm ſelbſt benutzt, aber nicht verkauft werden ſolle.
Unter ſolchen Umſtänden zog der nichthabliche Genoſſe bei
perſönlich gleichem Nutzungsrecht mit dem Hablichen dennoch
faktiſch einen viel geringeren Vorteil aus ſeinem Recht als dieſer.
Faktiſche Ungleichheiten bei gleichem Recht waren aber auf die
Dauer in einem Gemeinweſen unhaltbar, in dem die hinſichtlich
der Benutzung der Allmend gleichberechtigten Genoſſen auch poli⸗
tiſch gleichberechtigt waren und über die Schickſale der Allmend
und ihrer Benutzung allein zu beſtimmen hatten.
Ihre politiſche Macht haben die Nichthablichen denn auch benutzt,
um ſich Schritt für Schritt einen ihrem gleichen Recht entſprechen⸗
den faktiſchen Anteil an der Allmendnutzung zu erkämpfen. Freilich
iſt dieſer ſchleichende und chroniſche Gegenſatz der Intereſſen für
gewöhnlich durch das beiden Klaſſen auf anderen Gebieten Ge⸗
meinſame verdeckt worden und nur ſelten in ein akutes Stadium
getreten. Letzteres geſchah nur in Zeiten großer Geiſtesbewegungen,
die auch in materieller Beziehung nach Veränderungen hindrängten:
ST u Er BE 8
= oh WI >
Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 27
ſo namentlich zur Zeit der Reformation und Gegenreformation
ſowie zur Zeit der mit der franzöſiſchen Revolution in Zuſam—⸗
menhang ſtehenden Helvetik und ſodann wieder in unſeren Tagen,
da die ſociale Frage die Gemüter beſonders lebhaft in Anſpruch
nimmt. Es geſchah ferner nach großen Veränderungen in der
wirtſchaftlichen Kultur und Technik, wie namentlich infolge
der obenerwähnten Kulturverſchiebungen in der Alpenwelt. Wurde
der Intereſſengegenſatz dann akut, ſo fehlte es gelegentlich nicht
an heftigen Feindſchaften, erbitterten Fehden und tumultuariſchen
Auftritten, wie namentlich gelegentlich des ſogenannten Hörner—
und Klauenſtreits, der in den dreißiger Jahren dieſes Jahr-
hunderts im Kanton Schwyz tobte.
In dieſem Klaſſenſtreit der Hablichen mit den Armen hatte
die Bauerſame zum zweitenmal einen harten Strauß zu be—
ſtehen. Zum erſtenmal focht ſie ihn mit den Vertretern der
grundherrlichen Gewalt aus. In demſelben handelte es ſich
damals um die politiſche Alternative: ob die Grundherrſchaft
oder die Bauerſame das Schickſal dieſer Länder fortan be—
beſtimmen ſollte, ſodann aber auch um die Beantwortung der
ſocialpolitiſchen Frage: ob es den Grundherren gelingen werde,
ihr Obereigentum zum vollen Privateigentum zu ſteigern und
die auf demſelben ſitzenden Bauern zu einer Art von Pächtern
herabzudrücken oder ob umgekehrt ihr Obereigentum zu einem
unweſentlichen Schein herabſinken und dagegen das bäuerliche
Nutzungsrecht ſich zum vollen Privateigentum verdichten würde.
Der Ausgang jenes politiſchen und ſocialen Kampfes iſt bekannt:
die Bauern blieben Sieger.
Einen anderen Erfolg hatte der Kampf um die Allmend—
nutzung. In früheren Jahrhunderten ſind freilich die hablichen
Bauern auch auf dieſem Gebiet mit ihren Intereſſen durchge—
drungen; aber dieſer ihr temporärer Sieg hatte doch nur die
Bedeutung einer Verzögerung des ſchließlichen Reſultats.
Die Folge ſolcher Siege der Bauerſame war, daß der ihnen
günſtige faktiſche Zuſtand der Allmendnutzung für eine Weile
auch geſetzlich ſanktioniert wurde.
28 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen.
Erlangten dagegen die ſogenannten Armen d. h. die Nicht⸗
hablichen einen Vorteil über die Hablichen — ſei es nun, daß ſie
zufällig die Majorität in der Genoſſenverſammlung hatten oder
daß ſie durch ihre drohende Haltung die Hablichen zu Konzeſſionen
veranlaßten oder daß Rückſichten der Gerechtigkeit und Billigkeit
bei dieſen entſchieden — jo kam es regelmäßig zu Kompromiſſen,
in denen die Forderungen der Armen zu partieller Anerkennung
gelangten.
In letzterer Beziehung dürfte die Bedeutung der Kirche und
ihrer Diener, die in den Urkantonen überhaupt einen beſtim⸗
menden Einfluß ausüben, nicht zu unterſchätzen ſein. Aber auch
andere Faktoren drängten dahin, daß die beiden Bevölkerungs⸗
klaſſen, die nun einmal auf derſelben Scholle ſitzen und in jeder
Beziehung aufeinander angewieſen ſind, ſich ſchließlich gewöhnlich
miteinander verſtändigten, ohne daß eine ſolche Verſtändigung
doch den Charakter einer völligen Niederlage des einen Teils
hatte.
Auf dieſem Wege kam allmählich ein Ausgleich der verſchie⸗
denen Intereſſen auf dem Gebiet der Allmendnutzung in folgender
Richtung zu ſtande.
Während die Hablichen, je mehr in der Wirtſchaft der
Alpengegenden die Viehzucht zu prävalieren anfing, um ſo mehr
dahin drängten, daß die Allmend, abgeſehen vom Walde, möglichſt
ausſchließlich als Weide von den Genoſſen gemeinſam benutzt
wurde, weil ſie, die von ihren im Privatbeſitz befindlichen Gärten,
Ackern und Wieſen den nötigen Bedarf an Gemüſe, Knollengewächſen
und Getreide für ſich und das Winterfutter für ihr Vieh erhielten,
von der Benutzung der Gemeinweide im Sommer durch ihren
ſtarken Viehſtand den größten Vorteil genoſſen, wußten die Armen
ſeit dem 16. Jahrhundert durchzuſetzen, daß immer größere Teile
der Allmend zum Anbau von Gemüſe, Getreide, Flachs und ſeit
dem vorigen Jahrhundert auch von Kartoffeln in Sondernutzung
übergingen. Dies geſchah dann entweder ſo, daß alle Genoſſen
gleiche Stücke erhielten oder daß nur die Armen, gleichſam als
Entſchädigung für die umfangreiche Weidenutzung der Hablichen,
Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 29
bei der Verteilung ſolcher kleinen Parzellen zur Sondernutzung
berückſichtigt wurden.
Ein anderer Modus der Ausgleichung der Allmendbenutzung
zwiſchen reich und arm beſtand dann darin, daß während die
Sentenbauern die Thalallmend und Vorberge nur im Frühjahr
und Spätherbit durch ihr Vieh benutzten, für den Sommer da-
gegen ihre Herden auf die Höhen trieben, den Armen auch für
dieſe Jahreszeit in der Nähe ihrer Behauſung im Thal oder auf
den Vorbergen ſogenannte Heimkuhweiden eingeräumt wurden. Auf
dieſe treibt der nichthabliche Genoſſe dann ſeine Kuh oder ſeine
Ziegen, die ihm und ſeinen Kindern die nötige Milch zur täglichen
Nahrung geben und die er daher nicht für den ganzen Sommer
entbehren kann.
Auch wurden von der Regel, daß jeder Genoſſe nur ſein
im Thal durchwintertes Vieh auf die Gemeinweide treiben darf,
zu Gunſten der Armen manche Ausnahmen zugelaſſen. So in-
dem man denſelben geſtattete, eine geringe Anzahl von fremdem
Vieh, gewöhnlich bis zu 2 Kühen, auf die Allmend zu treiben.
Ihr Vorteil beſtand dann darin, daß ſie die Milch der fremden
Kühe während der Weidezeit benutzen durften oder daß ſie von
dem Beſitzer der Kühe eine Geldentſchädigung für die Weide
erhielten.
Die gebräuchlichſte Art der Ausgleichung beſtand aber darin,
daß an die Stelle der unbegrenzten Zahl von Vieh, die der
Genoſſe anfangs auf die Gemeinweide treiben durfte, eine limitierte
Zahl trat. Dieſe Begrenzung wurde namentlich notwendig, ſeit
die Vermögensungleichheiten größer geworden waren und dadurch
die Gefahr entſtand, daß einzelne reichere Genoſſen mit ihrem
Vieh, daß ſie ja beliebig vermehren konnten, die Allmenden allein
nutzen würden. Dieſer Gefahr war nun allerdings zum Teil
bereits dadurch geſteuert, daß das auf die Gemeinweide zu trei—
bende Vieh im Lande oder in der Gemeinde durchwintert ſein
mußte. Doch hatte man im Verlauf der Zeit in einigen Kan-
tonen dieſe Regel dahin abgeſchwächt, daß es bereits genügte,
wenn das Vieh ſich zu dieſem Zweck nur an einem beſtimmten
30 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen.
Tage im Winter (gewöhnlich dem 30. November oder 6. Dezember)
des vorhergehenden Jahres oder auch ſchon im Märzmonat desſelben
Jahres im Lande oder in der Gemeinde befand. Namentlich im
letzeren Fall war die Möglichkeit gegeben, daß kurz vor dieſem
Tage ein reicher Spekulant maſſenhaft Vieh aufkaufte, dasſelbe
während des Sommers auf den Gemeinalpen unentgeltlich weiden
ließ, um es dann im Herbſt zu verkaufen. Um dieſe Ausbeutung
des Gemeinbeſitzes durch das große Kapital unmöglich zu machen,
wurde beſtimmt, daß kein Genoſſe mehr als 10, 15 oder 30
Stück Vieh auf die Allmend treiben dürfe.
Aber durch dieſe Beſtimmung war doch nur die Ausbeutung
des Gemeineigentums durch einige reiche Genoſſen verhindert.
Nun mußte auch noch für diejenigen geſorgt werden, die,
weil ſie kein Vieh beſaßen, an der Benutzung der Gemeinalpen
faktiſch auch keinen Anteil hatten.
Zu dieſem Zweck fing die Allmendgenoſſenſchaft an, von
den die Allmend befahrenden Genoſſen eine Abgabe, den ſogenannten
Auflag, zu erheben. Dieſe Abgabe hatte zu verſchiedenen Zeiten
und in verſchiedenen Gegenden nicht immer denſelben Zweck.
Entweder nämlich wurde ſie nur von demjenigen Vieh erhoben,
das den Genoſſen ausnahmsweiſe über das zuläſſige Maximum
hinaus auf die Gemeinalpen zu treiben geſtattet war. In dieſem
Fall war die Abgabe recht hoch und entſprach ungefähr dem
Pachtſchilling für die Benutzung von Privatalpen. Oder es wurde
die Abgabe von allem Vieh erhoben, das die Genoſſen auf die
Allmend trieben, und zwar entweder nach proportionalem oder
progreſſivem Fuß. Im letzteren Falle hatte der Beſitzer von 20
Kühen an Abgabe mehr zu zahlen als den zwanzigfachen Betrag
deſſen, was der Beſitzer einer Kuh zahlte; im erſteren Fall da⸗
gegen nicht.
Es hat jedoch jahrhundertewährende Kämpfe gekoſtet, ehe
die Genoſſen ſich dazu bequemten, für das, was ſie bisher un⸗
entgeltlich genutzt hatten, eine Entſchädigung zu zahlen.
Dieſe Abgabe war anfangs ſehr gering, wurde aber im
Lauf der Zeit immer mehr erhöht, dann aus einer proportio⸗
Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 31
nalen zu einer progreſſiven gemacht und endlich ſoweit geſtei—
gert, daß ſie auf den höheren Steuerſtufen faktiſch der Höhe
eines mäßigen Pachtſchillings gleichkommt.
Übrigens iſt in dieſer Richtung ſelbſt in den am weiteſten
gehenden Alpengegenden noch nicht der letzte Schritt gethan
worden. Dieſer würde in der Verpachtung der Allmenden an den
Meiſtbietenden — ſei es nun unter Beſchränkung der Meiſtbot—
ſtellung auf die Genoſſen oder ohne ſolche Schranke — beſtehen.
Dieſen Weg haben jedoch fürs erſte nur einige Gemeinden der
Ebene beſchritten.
Eine ähnliche Entwickelung hat auch die Benutzung der Ge—
meindewälder erfahren; ſie beginnt mit dem ſogenannten Frei-
holzhieb, wobei jeder Genoſſe ſich ſeinen Bedarf aus dem Walde
ſelbſt ausſuchen, herunterſchlagen und abholen kann. Darauf
folgt die Einengung der unbegrenzten Freiheit durch die Forſt—
ordnung, die Bildung von begrenzten Holzanteilen für jeden
Genoſſen durch die Forſtverwaltung, ferner die Erhebung einer
Abgabe von jedem Holzloſe, die ſogenannte Stumpenlöſung, und
endlich die öffentliche Verſteigerung der einzelnen Holzloſe an
die Genoſſen. f
Übrigens finden ſich, wie ſchon angedeutet, alle dieſe verſchie⸗
denen Stadien der Alpen- und Forſtnutzung auch heute noch neben⸗
einander in den einzelnen Ländern und Gemeinden der Schweiz vor.
Der Erlös der Abgabe für die Benutzung der Gemeinweide
wurde urſprünglich zur Melioration der Alpen verwendet. Gegen⸗
wärtig dient er faſt ausſchließlich zur Verteilung von Geldan-
teilen unter die Genoſſen. Dabei iſt aber wieder ein verſchiedenes
Verfahren zu unterſcheiden. In einigen Gemeinden werden, dem
ſtarken Zuge nach Gleichheit in den demokratiſchen Urkantonen
entſprechend, aus dem Gelderlös gleiche Geldanteile gebildet und
dieſe an ſämtliche Genoſſen ohne Unterſchied, ob ſie reich oder
arm ſind, gezahlt. Der Habliche zahlt ſomit ſeine Abgabe von
der Allmendnutzung und empfängt andererſeits einen Geldanteil.
Der Arme zahlt nichts, benutzt die Gemeinweide aber auch nicht und
empfängt nur einen Geldanteil. In anderen Gemeinden werden
32 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen.
dagegen die Geldanteile nur an diejenigen verteilt, welche die
Gemeinweiden nicht ſelbſt benutzen. In dieſem Fall nutzen die
Hablichen die Allmenden in natura und zahlen eine mäßige Ab⸗
gabe für dieſe Nutzung; die Armen nutzen ſie nicht, empfangen
dagegen aber einen Geldanteil.
Der letztere Weg wird neuerdings vielfach auch bei der
Waldnutzung eingeſchlagen, indem es den einzelnen Genoſſen
freigeſtellt iſt, ob ſie ihre Holzanteile in natura oder ſtatt der⸗
ſelben ein beſtimmtes Geldäquivalent empfangen wollen.
Bei der Sondernutzung einzelner Stücke der Thalallmend
als Garten oder Wieſe bedarf es weiterer ausgleichender Maß⸗
regeln nicht, da dieſe Nutzung entweder den Armen ausſchließlich
oder doch wenigſtens in demſelben Maße zu gute kommt wie
den Reichen. Die Erhebung einer Nutzungsabgabe iſt daher hier
in der Regel nicht üblich.
Außer der Sondernutzung von Gemüſegärten, Kartoffellän⸗
dereien, einzelnen Wieſen u. ſ. w. ſind den Armen aber noch
andere Nutzungen eigentümlich. Ihre Ziegen erklimmen die
höchſten, ſonſt unwegſamen und nur dürftiges Futter bietenden
Alpen und durchſtreifen die Gemeinwälder. Die Rückſichten auf
den rationellen Forſtbetrieb ſind in der Regel nicht ſtark genug,
um die Ziege, dieſe Kuh des kleinen Mannes, definitiv aus den
Wäldern zu vertreiben. Aus den Wäldern holt ſich der kleine
Mann ferner auch die nötige Streu für ſein Vieh und der ſteile
Berggrat mit ſeinen Weide- und Wieſenplätzen muß ihm auf
gefährlicher Fahrt das nötige Futter bieten, damit er ſeinen
kleinen Viehſtand den Winter hindurch ernähren könne.
Der Gelderlös der Abgabe von der Allmendnutzung wird
wohl gelegentlich auch zur Unterſtützung ſolcher Induſtrieen ver⸗
wendet, welche den Armen Arbeit und Brot geben ſollen, oder
er dient zur Beförderung der Auswanderung der Genoſſen, wenn
ihre Zahl den Nahrungsſpielraum zu überſteigen droht.
Im Verlauf der jahrhundertealten Geſchichte der Allmend⸗
nutzung tritt ferner allmählich, aber deshalb nicht minder deutlich
folgender bedeutſame Umſchwung zu Tage.
Socialpolitifches aus den Schweizer Alpen. 33
Die Allmend diente anfangs weſentlich den Produktions-
zwecken der Bauern als den einzigen landwirtſchaftlichen Pro—
duzenten der Alpengegenden. Für fie war bei dem geringen Um⸗
fang des privaten Grundbeſitzes die Allmend in jener Zeit ein
notwendiger Beſtandteil ihrer Wirtſchaft. Was uns in einer
ſpäteren Zeit als eigene Klaſſe der Nichthablichen oder Armen ent-
gegentritt, war anfangs, wie wir bereits oben zeigten, in der
Familie des Bauern inbegriffen. Mit der Ausdehnung des Privat-
eigentums der Bauern, mit dem Fortſchreiten der land- und alpen-
wirtſchaftlichen Technik und mit der Ausbildung einer hauptſächlich
auf ihre Arbeit angewieſenen Klaſſe ändert ſich dann allmählich
der Charakter der Allmendnutzung. Die hablichen Bauern wiſſen
ſich jetzt zum Teil von der Allmendnutzung unabhängig zu machen,
indem ſie auch im Sommer zur Stallfütterung übergehen oder für
ihr Vieh eigene Weiden erwerben oder fremde Privatweiden
pachten. Und ſoweit ſie dies nicht thun, beginnen ſie jetzt
wenigſtens ihre Allmendnutzung — wenn auch zunächſt noch nicht
voll — zu bezahlen. In demſelben Grade, wie der Habliche
von der Allmendnutzung unabhängig wird, gewinnt ſie dann
aber für die ärmere Klaſſe an Bedeutung. Sie wird jetzt die
Stütze, welche dieſe meiſt davor behütet, der Almoſengenöſſigkeit
anheimzufallen. Sie bildet durch ihren die ſocialen Ungleich—
heiten abſtumpfenden Charakter endlich auch die wirtſchaftliche
Baſis, auf der die demokratiſche Verfaſſung jener Gegenden ſicher
fundiert erſcheint.
Die Allmendnutzung ſchützt dieſe Verfaſſung jetzt ſowohl davor,
daß ſie zum Schein und zur Lüge herabſinkt, als auch davor,
daß ſie durch ſociale Revolutionen erſchüttert wird.
Aber freilich zu abſoluter Ruhe iſt dieſe jahrhundertealte
durch den Dualismus von reich und arm erzeugte Bewegung
in den Alpengegenden auch jetzt noch nicht gekommen. Nur iſt
dafür geſorgt, daß dieſe ſich in Zukunft ebenſo gleichmäßig und
allmählich, im Wege maßvoller, das Nebeneinanderbeſtehen beider
Klaſſen ermöglichender Kompromiſſe vollziehen wird, wie ſolches
bisher geſchehen iſt.
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 3
34 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen.
Denn wieder birgt die Gegenwart eine Anzahl von Streitfragen
in ihrem Schoß, die ihrer Erledigung in der Zukunft harren. Nur
einige derſelben mögen hier kurz angedeutet werden.
Während die Ausübung des perſönlichen Nutzungsrechts
früher abhängig gemacht war von dem Führen „von eigen Feuer
und Licht“, d. h. von dem Innehaben einer eigenen Haushaltung,
und von der Anſäſſigkeit in dem Bezirk derjenigen Gemeinde
oder größeren Genoſſenſchaft, die im Beſitz der Nutzungsgüter
war, wird jetzt an dem Fortbeſtehen dieſer beiden Requiſite ge⸗
rüttelt. Das erſtere iſt bereits vielfach beſeitigt, ſo daß gegen⸗
wärtig meiſt jeder männliche Genoſſe und bisweilen auch jede
Genoſſin von einem beſtimmten Lebensjahr an (dem 25., 20.,
15. Jahre und ausnahmsweiſe auch noch früher) eo ipso nutzungs⸗
berechtigt iſt. Und auch an der Beſeitigung des zweiten Re⸗
quiſits wird ſeitens derjenigen, welche den privatrechtlichen Cha⸗
rakter der Allmendgenoſſenſchaft betonen, energiſch gearbeitet. Sie
möchten nämlich den Allmendnutzen — in Geld umgewandelt —
auch den in der Ferne weilenden Genoſſen zukommen laſſen, und
es hängt hiermit der zu einer gewiſſen Berühmtheit gelangte
Rekurs der berniſchen Gemeinde Lammlingen zuſammen. Doch ſtößt
dieſes Beſtreben einſtweilen noch auf mannigfachen Widerſpruch.
Ja die Vertreter des Widerſpruches beſchränken ſich nicht auf
die reine Negation, ſondern möchten die vielfach abgebrochenen
Beziehungen zwiſchen der Allmendgenoſſenſchaft und der Orts⸗
gemeinde wieder erneuern, indem fie den Allmendnutzen den orts⸗
anweſenden Genoſſen und außerdem auch noch den am Ort an⸗
geſeſſenen Nichtgenoſſen zuzuführen wünſchen. :
Wenn die letzteren beiden künftiger Erledigung harrenden
Punkte des Allmendweſens den beſtehenden Klaſſengegenſatz auch
wenig berühren, ſo iſt das in ungleich höherem Grade der Fall
bei einer anderen Strömung, die ſich in den letzten Jahrzehnten
gegen das ganze Allmendweſen als ſolches richtet. Dieſe knüpft an
den mannigfach vorkommenden ſchlechten wirtſchaftlichen Zuſtand der
Gemeinalpen und Gemeinwälder an und weiſt auf den Wider⸗
ſpruch hin, der darin liegt, daß die Gemeinden einerſeits zur Beſtrei⸗
Socialpolitifches aus den Schweizer Alpen. 35
tung ihrer Ausgaben Steuern erheben und andererſeits Nutzungen
verteilen oder doch geſtatten, daß mit ihnen in Verbindung ſtehende
halb öffentliche Genoſſenſchaften eine ſolche Verteilung vornehmen.
Um dieſen Dualismus zu beſeitigen und zugleich eine beſſere Kultur
des Allmendbodens zu erzielen, iſt die Verteilung der Allmend zu
Privateigentum oder doch die ausſchließliche Verwertung desſelben
für den Gemeindeſäckel im Wege des Verkaufs oder der Verpachtung
in Vorſchlag gebracht worden. Durch dieſe letzteren Mittel be—
abſichtigt man dann die Gemeindeſchulden zu bezahlen, die Ge-
meindeſteuern zu vermindern und weitere öffentliche Anſtalten zu
begründen und zu unterhalten. Bei dieſer Frage ſcheiden ſich
die Intereſſen der beiden Klaſſen wieder aufs deutlichſte. Der
Allmendnutzen, wie er ſich im Lauf der Zeit ausgebildet hat
und wie er die Tendenz zeigt, ſich in Zukunft noch mehr
zu entwickeln, kommt weſentlich den unteren nichthablichen
Klaſſen zu gute. Die Abſchaffung und Verminderung der Steuern
infolge fiskaliſcher Benutzung der Allmend dagegen würde faſt
ausſchließlich die beſitzenden Klaſſen erleichtern. Endlich kommt
die Verwendung der Allmendnutzungen zum Bau neuer Schul—
häuſer, zur Anlegung neuer Wege, zur Begründung von wiſſen—
ſchaftlichen Sammlungen, zur beſſeren Beleuchtung der Straßen
u. ſ. w. hauptſächlich auch wieder den beſitzenden Klaſſen zu gute
oder befriedigt doch für die unteren Klaſſen ein weniger dringendes
Bedürfnis vor einem dringenderen. Denn täuſche man ſich nicht!
Für den kleinen Mann iſt das Holz, an deſſen Feuer die Win—
deln ſeiner Kinder getrocknet werden und durch das er ſich ſelbſt
und ſeinen greiſen Eltern eine warme Stube ſchaffen kann, das
Stück Wieſe und Weide, das ihm das Halten einer Kuh oder
Ziege für ſich und ſeine Kinder geſtattet, endlich der Gemüſe—
und Kartoffelgarten, der ihm bei hohen Gemüſe- und Kartoffel-
preiſen und geringem Verdienſt den Bezug der notwendigſten
Lebensmittel ſichert, von ungleich größerer Wichtigkeit als gute
Wege und Straßenbeleuchtung, als ſchöne Sammlungen und
gute (oder gar am Ende ſchlechte) Schulen, für die übrigens
3 *
—
36 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen.
Staat und Gemeinde ja auch ohnehin ſorgen müſſen. Dabei iſt
freilich nicht zu leugnen, daß die Geldgabe, wie ſie neuerdings
immer mehr üblich wird, die denkbar unzweckmäßigſte Form der
Bürgernutzung iſt, weil ſie zu ihrer Aneignung keinerlei Arbeit
vorausſetzt wie die eigentliche Allmendnutzung, und ferner, daß
viele Gemeinwälder und Gemeinalpen ſchlecht bewirtſchaftet
werden. Aber die Geldgabe dürfte nur eine vorübergehende
Nutzungsform ſein und die Bewirtſchaftung der Gemeinwälder
und Gemeinalpen läßt ſich, wie manche Erfahrungen lehren, auch
ohne ihre Überleitung in das Privateigentum auf eine höhere
Stufe heben. Zudem weiſt die Natur in den Alpengegenden
ſelbſt darauf hin, daß die großen Alpen und Gebirgswälder ſich
in einer Hand befinden müſſen. Da es in den Schweizer Alpen
aber im allgemeinen an großen Vermögen fehlt, ſo iſt die ge—
noſſenſchaftliche Form des Eigentums großer Korporationen die
einzig mögliche, durch die Alpen und Wälder vor einer unwirtſchaft⸗
lichen Zerſplitterung unter eine große Anzahl kleiner Beſitzer be⸗
wahrt werden. Sodann iſt es für die Thalbewohner der Alpen⸗
kantone eine Lebensfrage, daß ihnen die Benutzung der Alpen und
Gebirgswälder nicht abgeſchnitten werde; die dauernde Verbindung
von Thal und Berg iſt aber bei vorwaltendem kleinen Vermögen der
Thalbewohner am beſten durch das Kollektiveigentum an den Alpen,
an welchen dann den im Thal wohnenden Genoſſen das Nutzungs⸗
recht zuſteht, gewährleiſtet. Aber wenn dieſe Verbindung von
Grundbeſitz im Thal und Alpennutzung für die Hablichen eine
Lebensfrage iſt, ſo iſt nicht minder die Allmendnutzung für die
Armen eine Wohlthat von unermeßlichem Segen. Denn ſie ſchützt
dieſelben davor, daß ſie der entwürdigenden Almoſengenöſſigkeit
anheimfallen. Und wo ſich dieſe dennoch einfand, da iſt ſie
gewöhnlich die Folge der Branntweinpeſt und anderer Schäden,
die den in den Alpengegenden im allgemeinen wohlthätigen
Einfluß des Allmendnutzens paralyſieren.
Wie die Alpenkantone der Schweiz daher einer von oben
dekretierten Verteilung des Gemeinlandes zu Privateigentum oder
einer zwangsweiſen Umwandlung des Allmendgutes in Kämmerei-
Soctalpolitifches aus den Schweizer Alpen. 37
gut bisher abhold geweſen find, jo werden fie es hoffentlich in
ihrem eigenen Intereſſe auch in Zukunft bleiben. Das ſetzt aber
voraus, daß die Schattenſeiten der bisherigen Nutzung und Be—
wirtſchaftung der Allmenden in Zukunft möglichſt beſeitigt werden.
V.
Wir ſind am Schluß. Es bleibt uns nur noch übrig, das
Facit aus der bisherigen Darſtellung zu ziehen und damit die
oben aufgeworfenen Fragen zu beantworten.
1. Hinſichtlich des Zuſammenhangs, welcher zwiſchen der
ſocialen Gliederung und der politiſchen Verfaſſung eines Volkes
beſteht, lehren die Erfahrungen der Schweiz in Verbindung
mit der Geſchichte anderer Völker, daß man wohl politiſche
Verfaſſungen nach der gleichen Schablone auf die mannigfachſten
Geſellſchaftsgliederungen aufpfropfen kann, daß politiſche Ver—
faſſungen ohne entſprechende ſociale Grundlage aber entweder
zur Korruption der politiſchen Verfaſſung durch die Geſellſchaft
oder zur zwangsweiſen Umbildung der Geſellſchaft durch die
Verfaſſung führen müſſen.
Eine demokratiſche Verfaſſung in Staat und Gemeinde, wie
ſie beiſpielsweiſe in den Urkantonen beſteht, ſetzt zu ihrer ge—
deihlichen Wirkſamkeit voraus eine einfache ſociale Gliederung,
geringe und loſe Abhängigkeitsverhältniſſe unter den verſchiedenen
Klaſſen, eine möglichſt geringe Zahl wirklich Armer d. h. Al-
moſengenöſſiger und ein gemeinſames ſtarkes namentlich auch
auf wirtſchaftlicher Grundlage ruhendes Intereſſe aller Klaſſen
an der Erhaltung der beſtehenden Ordnung. Alles das trifft
mehr oder minder in den Urkantonen ein und dient dazu, die
demokratiſche Verfaſſung dort zu wirklich unverfälſchter Aus—
führung gelangen zu laſſen.
2. Ein weiterer Satz, den wir aus der obigen Darſtellung
ableiten können, iſt dieſer: daß ſelbſt unter den einfachſten Ver-
hältniſſen die Geſellſchaft ſich in Klaſſen gliedert; ferner, daß
die Intereſſen dieſer Klaſſen teils harmoniſch teils gegenſätzlich
38 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen.
ſind und daß die Gegenſätzlichkeit ſich in beſtimmten Zeitpunkten
zu ſchroffſter Feindſchaft ſteigern kann. In einem Gleichgewichts⸗
verhältniſſe werden die Klaſſen und ihre Intereſſen ſtehen in
Zeiten, in denen das religiöſe, ſittliche und geiſtige Leben des
Volks zu einer gewiſſen Ruhe gelangt iſt, die Verfaſſung des
wirtſchaftlichen Lebens den vorliegenden Bedürfniſſen entſpricht
und die geſellſchaftliche Gliederung ſich an die wirtſchaftliche
Verfaſſung anſchließt. Dagegen wird es zu Reibungen und
Kämpfen unter den verſchiedenen Klaſſen kommen, wenn die be⸗
ſtehende wirtſchaftliche und ſociale Lage eines Volkes den allge⸗
mein gewordenen Bedürfniſſen ganzer Klaſſen nicht entſpricht,
wenn in dieſen zugleich neue Ideale für die Umgeſtaltung des
äußeren Lebens auftauchen, ſowie namentlich dann, wenn die
beſtehenden religiöſen, ſittlichen und politiſchen Anſchauungen ſich
verändern, was dann leicht auch die politiſche und ſociale
Ordnung ins Schwanken bringen kann. In ſolchen Zeiten teilen
ſich Bewegungen und Erregungen, welche anfangs nur ein Gebiet
betreffen, wie ein Lauffeuer auch anderen Gebieten mit. Aber
wenn in ſolchen Zeiten die unteren Klaſſen und ebenſo die kranken
Teile der oberen Geſellſchaftsſchicht den Maßſtab für das Mög⸗
liche und Erreichbare verlieren, ſo iſt das immer nur ein Beweis
für die zu geringe Macht derjenigen Faktoren, welche, wie die
Religion, die gemeinſame Sitte, die geſchichtliche Tradition ſo⸗
wie die Vaterlandsliebe, beſtimmt ſind, das Gefühl der Gemein⸗
ſamkeit unter den verſchiedenen Klaſſen wach und rege zu erhalten.
3. Fragen wir weiter, welche Bedeutung das Kollektiveigen⸗
tum für die Geſellſchaft ſowie das Verhältnis ihrer einzelnen
Klaſſen zueinander hat, ſo ſehen wir, daß dasſelbe, vorausge—
ſetzt daß das Privateigentum in gewiſſem wenn auch beſchränktem
Umfange nebenbei beſtehen bleibt, den Klaſſenkampf nicht zu be⸗
ſeitigen vermag. Und alles Privateigentum will ja ſelbſt der
extreme Socialismus der Gegenwart nicht aufgehoben wiſſen,
ſondern neben dem Kollektiveigentum an ſämtlichen Produk⸗
tionsmitteln und am Grund und Boden das Privateigentum an
den Gebrauchsgütern beſtehen laſſen. Alſo angenommen daß in
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Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen. 39
irgend einer entfernten Zukunft die Forderungen des extremen
Socialismus realiſiert würden, ſo würde doch immer das Fort—
beſtehen des Privateigentums an den Gebrauchsgütern den Keim
zu ungleichen Vermögensverhältniſſen in ſich tragen. Und welche
Legion von Dienern der Wohlfahrtspolizei gehörte nicht außerdem
dazu, um die Einhaltung der meiſt nur durch die Zweckbeſtim—
mung des einzelnen Individuums gezogenen Grenzlinie zwiſchen
Gebrauchsgut und Kapital zu beaufſichtigen. Daß dieſe Grenz-
linie aber auch trotz der vielen Argusaugen doch immer wieder
zu Gunſten des Privateigentums verſchoben werden würde, zeigt
jede Seite der Geſchichte der ſchweizeriſchen Allmend. Bei der
Verſchiedenheit der Begabung und Charakteranlage der einzelnen
Menſchen ſowie bei der Verſchiedenheit der Entwicklung der
geiſtigen und ſittlichen Fähigkeiten, die auch der rigoroſeſte Schul—
zwang und die konſequenteſte Uniformierung des Schulweſens
nicht ganz zu beſeitigen vermöchte, — würden die Vermögens—
verhältniſſe, ſelbſt wenn man ſie anfangs vollſtändig gleich
machen wollte, allmählich doch wieder ungleich werden, womit
dann wiederum Klaſſenunterſchiede gegeben wären. Dieſe müßten
ſich um ſo ſicherer einſtellen, wenn mit dem Privateigentum auf
beſchränktem Gebiete auch das Erbrecht als ſein Komplement
zugelaſſen werden würde. Die verſchiedenen Intereſſen dieſer
Klaſſen würden dann bei der Benutzung des Gemeineigentums
wenn auch in abgeſchwächter Weiſe, ſo doch immerhin noch
deutlich genug zur Geltung gelangen. Und der Widerſtreit der
Intereſſen müßte ebenſo zum Klaſſenkampf führen wie gegen—
wärtig. Ein ſolcher iſt unter den oben angegebenen Voraus—
ſetzungen und in dem gleichfalls oben bezeichneten Umfange
überhaupt unvermeidlich, ſolange noch ein Reſt von Freiheit
und Privateigentum beſtehen bleibt. Erſt wenn es gelingen ſollte,
ein Volk vollſtändig zu kaſernieren, das Individuum zu einer
Nummer und die Familie zu einer jeden ſittlichen Inhalts baren
Geſchlechtsgemeinſchaft zu degradieren, — und das wäre die
notwendige Konſequenz der vollſtändigen Aufhebung des Privat-
eigentums — erſt dann wäre jede Spur verſchiedener Klaſſen
40 Soctalpolitifches aus den Schweizer Alpen.
und damit auch der Kampf unter denſelben beſeitigt. Ein ſolcher
Zuſtand müßte aber ſchließlich notwendig dahin führen, daß
der Bedarf jedes einzelnen nach einem beſtimmten Normalmaß
von der Geſamtheit geregelt würde. Der auf dieſem Wege
erzielte Friede der Geſellſchaft wäre dann der Ruhe des Fried-
hofs zu vergleichen, auf dem die individuelle Freiheit begraben
läge. Ein ſolcher Preis iſt aber ein zu teurer, als daß er, ſelbſt
wenn man den höchſten Grad und die allgemeinſte Verbreitung
der materiellen Wohlfahrt dafür eintauſchen könnte, gezahlt
werden würde. Selbſt ein Volk, das an die größte Tyrannei
nach unſeren Begriffen gewöhnt iſt, müßte vor dieſer Konſequenz
zurückſchrecken.
Es verlangt vielmehr die Geſamtordnung unſeres heutigen
Lebens, deren Grundlage im Gegenſatz zum ſocialiſtiſchen Zu⸗
kunftsſtaat, wie wir ihn uns nach den einzelnen ſocialiſtiſchen
Poſtulaten konſtruieren, die individuelle Freiheit auf allen Ge⸗
bieten iſt, auch als Baſis unſeres wirtſchaftlichen Thuns und
Laſſens die Freiheit und ihre Ausgeſtaltung in der Güterwelt
als Privateigentum und Erbrecht. Aber wenn die gegenwärtige
Geſamtordnung unſeres Daſeins, ohne die uns das Leben nicht
lebenswert erſcheinen würde, auch im allgemeinen die Herrſchaft
des Privateigentums in der Welt der beweglichen Güter und
am Grund und Boden verlangt, ſo iſt dadurch doch nicht
ausgeſchloſſen, daß innerhalb gewiſſer Grenzen auch das Kollektiv⸗
eigentum am Grund und Boden, d. h. das Grundeigentum von
Gemeinden und anderen öffentlichen Körperſchaften, deſſen Nutzung
den G iedern dieſer Gemeinſchaften freiſteht, Platz greifen könne.
Ja dieſes ſoll das Privateigentum dort einengen, wo jo eigen⸗
artige Verhältniſſe des Bodens, ſeiner Konfiguration und ſeines
Klimas vorliegen wie in den Alpengegenden, ohne daß dadurch
dem Prinzip des Privateigentums etwas vergeben wäre. Aber
auch ohne ſolche natürliche Grundlage ſoll das Kollektiveigentum
in beſcheidenerem Umfange neben dem herrſchenden Privateigentum
Platz finden. Denn während das Privateigentum hauptſächlich
denjenigen Klaſſen, in deren Händen ſich die Leitung des Pro—
Socialpolitifches aus den Schweizer Alpen. 4]
duktionsprozeſſes und die Anſammlung des Kapitals befindet, zu
gute kommt, kann das Kollektiveigentum bei zweckmäßiger Be—
nutzung — in den ländlichen Gemeinden — dazu dienen, die
untere Klaſſe zu heben und ſie vor Verarmung und direkter
Staatsunterſtützung zu bewahren, den Gegenſatz zwiſchen reich
und arm zu mildern und in dem Armen das Gefühl zu ſtärken,
daß er an den Geſchicken ſeiner Heimat, an ihrem Wohl und
Wehe lebhaft mitintereſſiert iſt. Kleine und vollſtändig unent-
geltliche oder nur niedrig vergoltene Landnutzungen haben für
die unteren Klaſſen der Landbewohner eine ähnliche Bedeutung
wie das Verſicherungsweſen für die ſtädtiſchen und induſtriellen
Arbeiter. |
4. Wenn wir hiernach zu dem Reſultat gelangt find, daß
das Kollektiveigentum von überwiegend wohlthätigem Einfluß
für das wirtſchaftliche, ſociale und politiſche Leben der Schweizer
Alpenkantone iſt, ſo darf doch auch die Kehrſeite des eben dar—
geſtellten Bildes nicht überſehen werden.
Die wirtſchaftliche Ordnung dieſer Länder ruht bei ausge—
dehntem Kollektiveigentum und dünner Bevölkerung ausſchließlich
auf dem Ackerbau und der Viehzucht und weiſt demzufolge einen
mehr einfachen und harmoniſchen ſocialen Bau auf, als er ſich
in Ländern mit entwickelten Induſtrie- und Handelsverhältniſſen
und dichter Bevölkerung, in denen die geſamte Güterwelt im
heftig wogenden Kampf ums Daſein dem Privateigentum unter—
worfen iſt, findet. Dafür entbehren die Alpenkantone aber auch
jener höheren Kultur, wie ſie aus der mannigfachen Reibung
der Gegenſätze eines reich bewegten Lebens entſpringt, jener
Kultur, für welche große Völker in der bisweilen ſchroffen Un—
gleichheit ihrer ſocialen Verhältniſſe einen hohen Preis zahlen
müſſen.
Und in der That ſind ſelbſt die ſpärlichen Elemente höherer
Kultur, die ſich bei dem Gebirgsvolk der Schweizer Alpen finden,
demſelben von außen zugetragen und bedürfen ſtets wieder
der Erneuerung von außen, um nicht völlig zu verſchwinden.
Als älteſte und noch gegenwärtig bedeutendſte Kulturträgerin
42 Socialpolitiſches aus den Schweizer Alpen.
in jenen Ländern erſcheint die katholiſche Kirche. Dieſe lehrte
das rauhe Gebirgsvolk nicht nur glauben und beten, ſie zog auch
die Grundlinien für ihr ſittliches und wirtſchaftliches Leben, ſie
baute ihm Kirchen und Schulen und ſenkte die erſten Keime der
Wiſſenſchaft und Kunſt in jenen harten Boden. Und auch noch
gegenwärtig erhalten ſeine Prieſter und Künſtler gewöhnlich ihre
Ausbildung in fremden Kollegien und Kunſtſchulen, ſeine Advo⸗
katen, Richter und Arzte auf auswärtigen Univerſitäten.
Sollen wir das etwa bedauern?
Wir denken nein.
Erblicken wir doch in jenen innigen Wechſelbeziehungen
zwiſchen der Natur jener Länder und den Lebensordnungen ihrer
Bewohner ein Stück weiſer Zweckmäßigkeit.
Jene Gebirgsgegenden vermögen ihrer natürlichen Beſchaffen⸗
heit nach nur eine dünne Bevölkerung zu ernähren und — es
findet ſich das Privateigentum, das in ſeiner unendlichen Teil⸗
barkeit zu immer neuen Anſiedelungen und damit zu einer un⸗
begrenzten Vermehrung der Bevölkerung führt, von einem großen
Teil jenes Bodens ausgeſchloſſen.
Bodenart, Bodenkonfiguration und Klima jener Länder weiſen
dieſelben im Frieden auf das primitive Gewerbe der Viehzucht
und im Kriege auf die Verteidigung enger Thalſchluchten und
ſteiler Gebirgspäſſe im unregelmäßigen Kampf hin und — die
einfache ſociale Gliederung ſowie der harte Beruf ihrer Bevöl⸗
kerung bewahrt ſie vor einer feineren Kultur, deren Träger jenen
Aufgaben wahrſcheinlich nicht gewachſen wären.
S EN
ne Ex. 220
1)
Die Tage des Bauernſtandes in Preußen.
Referat für das Preuß. Landes⸗Okonomie⸗Kollegium.
Februar 1883.
Meine Herren! Indem ich mich hiermit dem mir gewordenen
Auftrage unterziehe, Ihnen über die Reſultate der im vorigen
Jahr ſeitens des Landwirtſchaftsminiſteriums veranſtalteten En—
quete über die bäuerlichen Wohlſtands- und Beſitzverhältniſſe zu
referieren und aus dem gewonnenen Reſultat meine Konkluſionen
zu ziehen, muß ich mir im voraus Ihre Nachſicht dafür erbitten,
daß mein Vortrag einen viel größeren Umfang annehmen wird,
als es ſonſt an dieſer Stelle üblich zu ſein pflegt.
Zu meiner Entſchuldigung möge dienen, daß ich bei der mir
für dieſe Arbeit eingeräumten kurzen Friſt und bei meinen
ſonſtigen Amtspflichten nicht die nötige Muße fand, um mein
Referat in gedruckter Form in Ihre Hände gelangen zu laſſen.
Ich bin ſomit darauf angewieſen, Ihnen dasſelbe hier mündlich
vorzutragen !.
1 Die in dem Bericht erwähnten Thatſachen find, ſoweit nicht be—
ſondere Quellen für dieſelben ausdrücklich angegeben worden ſind, den zu
einem eigenen Bande zuſammengefaßten Berichten über die bäuerlichen
Wohlſtands⸗ und Beſitzverhältniſſe entnommen. (Vgl. Verhandlungen des Kgl.
[Preußiſchen] Landes⸗Okonomie⸗Kollegiums, III. Seſſion der II. Sitzungs⸗
periode. Berlin 1883.)
44 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
In dieſem Referat werde ich zuerſt über Anlaß und Methode
der angeſtellten Enquete und ſodann über ihr Reſultat zu ſprechen
haben. Hierauf will ich eine Diagnoſe der gegenwärtigen Lage
des preußiſchen Bauernſtandes zu geben verſuchen und ſchließlich
die Mittel und Wege andeuten, die den preußiſchen Bauernſtand
meiner Anſicht nach aus ſeiner gegenwärtigen mißlichen Lage
herausführen können.
I.
Die allgemeine Veranlaſſung zu der vorliegenden Enquete
war durch die geringe Übereinſtimmung der Urteile über die gegen⸗
wärtige Lage unſeres Bauernſtandes gegeben. Stehen ſich doch
ſeit einigen Jahren die Urteile über dieſen Gegenſtand diametral
gegenüber, ohne daß bisher eine Ausgleichung unter denſelben
ſtattgefunden hätte. Die einen halten den bäuerlichen Grund⸗
beſitz, im weſentlichen ohne Zuthun ſeines Beſitzers, für über⸗
ſchuldet und ſehen denſelben in immer größere Abhängigkeit vom
Geldkapital geraten. Dieſer Anſicht nach iſt das Hinabſinken
des Bauernſtandes zu einem ländlichen Proletariat nur eine
Frage der Zeit; nur durch energiſche und tief in die gegen-
wärtige Agrarverfaſſung eingreifende Maßregeln könnte es aufge-
halten werden. Die anderen dagegen geben allenfalls zu, daß der
Bauernſtand wie überhaupt der Stand der ländlichen Grund⸗
beſitzer ſich in einer Kriſis befindet, die aber größtenteils von
ihm ſelbſt durch die in den 50 er und 60 er Jahren gezahlten un⸗
vernünftig hohen Kaufpreiſe veranlaßt worden iſt. Nur durch Opfer,
die die Grundbeſitzer ſelbſt tragen müſſen, kann nach dieſer An⸗
ſicht die Kriſis beſeitigt werden.
Dieſer Gegenſatz der Anſichten tritt gleichmäßig in der
Wiſſenſchaft und in der Preſſe, in den Parlamenten und in
Regierungskreiſen zu Tage.
Ihn durch Beibringung eines unanfechtbaren Thatſachen—
materials zu beſeitigen und an ſeine Stelle ein durch Thatſachen
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 45
begründetes Urteil zu ſetzen, liegt um ſo mehr im Intereſſe der
Staatsregierung, als ſie nur aus einer unbefangenen Würdigung
des beſtehenden Zuſtandes einen richtigen Maßſtab für ihr
weiteres Verhalten gewinnen kann.
Den unmittelbaren Anſtoß zu der auch ſonſt genugſam ge—
rechtfertigten Enquete hat die Staatsregierung dann wohl er—
halten durch die bekannten von den Abgeordneten v. Huene
und Knebel im Abgeordnetenhauſe geſtellten Anträge und die
von dem Grafen v. Schlieben im Herrenhauſe an die Staats-
regierung gerichteten Interpellationen, welche teils in den Februar
teils in den Mai des vorigen Jahres fallen.
Mußte demnach über kurz oder lang geſchehen, was im
vorigen Jahre wirklich geſchehen iſt — nämlich die Vornahme
einer Unterſuchung der bäuerlichen Wohlſtands- und Beſitz—
verhältniſſe —, ſo bleibt der Staatsregierung doch das Verdienſt,
zur rechten Zeit einen Schritt gethan zu haben, der auch erſt
viel jpäter — und dann vielleicht zu ſpät — hätte geſchehen
können.
Statt der Veranſtaltung einer eigentlichen Enquete mit
Vorladung und Vernehmung von Zeugen, mit Kreuzverhör ıc.
hat die Staatsregierung es vorgezogen, den auch bei früheren
Gelegenheiten, namentlich im Reich, eingeſchlagenen Weg der
Verſendung eines Fragebogens zu betreten.
Was nun dieſen letzteren betrifft, ſo wurde derſelbe im
Juni vorigen Jahres an die landwirtſchaftlichen Centralvereine
ſämtlicher Provinzen mit der Weiſung verſandt, daß die Ant—
worten zum November eingehen ſollten.
Daß man ſich zunächſt an die landwirtſchaftlichen Vereine
wandte, war gewiß richtig. Sind ſie doch diejenigen Organe,
die dem Landwirt am nächſten ſtehen. Und wenn ihre Thätigkeit
auch vorwiegend auf das techniſche Gebiet gerichtet iſt, ſo hängt
dieſes doch ſo innig mit dem ſocialwirtſchaftlichen zuſammen,
daß die Vereine notwendig Kenntnis von den Vorgängen auch
auf dieſem letzteren nehmen müſſen.
Eine andere Frage freilich iſt, ob den landwirtſchaftlichen
46 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
Vereinen die Quellen, aus denen ſie den Stoff zur Beantwortung
der an ſie gerichteten Fragen zu ſchöpfen hatten, immer offen⸗
lagen. Und ferner: ob ſie überall die nötigen Kräfte beſaßen,
um den Gegenſtand der Frageſtellung methodiſch in einer ſolchen
Weiſe zu behandeln, daß die von ihnen abgefaßten Berichte
auf jeden Unbefangenen von überzeugender Wirkung ſein mußten.
Erſcheinen dieſe Bedenken nicht ganz unberechtigt, ſo wäre
es zweckmäßig geweſen, dem Fragebogen eine etwas präcijere
Faſſung zu geben oder denſelben doch mit einer Inſtruktion über
die Art, wie er zu beantworten geweſen wäre, zu verſehen.
Ohne eine ſolche Inſtruktion lag die Verſuchung für die
landwirtſchaftlichen Vereine ſehr nahe, auf die allgemein ge⸗
haltenen Fragen ebenſo allgemein zu antworten.
Werden aber Fragen wie die, ob eine „beſondere“ Höhe
oder „ſchnelle“ Zunahme der Verſchuldung des Grundbeſitzes
vorliegt oder ob „häufige“ Subhaſtationen und „mehrfache“
Parzellierungen in den „letzten“ Jahren vorgekommen ſind, mit
ja oder nein beantwortet, ſo iſt durch ſolche Antworten wenig
gewonnen.
Ferner kann man ſich des Eindrucks nicht ganz erwehren,
daß einige Berichte ihr ſpecifiſches Kolorit durch die optimiſtiſche
oder peſſimiſtiſche Lebens- und Weltanſchauung ſowie den
politiſchen oder ſocialwirtſchaftlichen Parteiſtandpunkt ihrer Ver⸗
faſſer erhalten haben. Es fällt daher ſchwer, aus ſolchen mehr
oder minder ſubjektiven Urteilen die Thatſachen ſelbſt heraus⸗
zuſchälen, namentlich aber dieſe verſchieden nuancierten Bilder mit⸗
einander zu vergleichen.
Das eben Geſagte ſchließt nicht aus, daß alle Bericht⸗
erſtatter ihr Beſtes gegeben haben und daß unter den ein-
gelaufenen Berichten ſich einige vorzügliche befinden, die den be—
handelten Gegenſtand in ſcharfer und, wie mir ſcheint, vollſtändig
objektiver Beleuchtung erſcheinen laſſen. Es ſind das namentlich
diejenigen Berichte, deren Verfaſſer ſich nicht darauf beſchränkt
haben, die ihnen gebotenen Unterlagen der Zweigvereine zu⸗
ſammenzuſtellen, ſondern die — getrieben von dem Bewußtſein
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 47
der Verantwortlichkeit ihrer Stellung oder von lebhaften In⸗
tereſſe für den behandelten Gegenſtand — ſelbſt Umſchau ge—
halten und den Quellen, aus denen ein richtiges Urteil zu ge—
winnen iſt, nachgeſpürt haben.
Zu den letzteren Arbeiten ſind u. a. auch die Berichte einiger
Landräte und ſonſtigen Verwaltungsbeamten zu rechnen, die für
ihren Kreis oder einen Teil desſelben aus den Grund- und
Hypothekenbüchern, aus den Klaſſenſteuerrollen, aus den Subhaita-
tionsverzeichniſſen ꝛc. eine Fülle von Thatſachen für die Be⸗
urteilung des Bauernſtandes und ſeiner gegenwärtigen Lage
beigebracht haben.
Dieſe zum Teil vorzüglichen Arbeiten laſſen es bedauern,
daß — wenn man nun einmal von einer wirklichen En⸗
quete abſehen wollte — nicht gleichzeitig mit den landwirtſchaft—
lichen Vereinen direkt eine größere Anzahl von Landräten, Amts—
richtern, Kataſter⸗ und Hypothekenbeamten (deren Auswahl man
wohl am zweckmäßigſten den Ober- oder Bezirkspräſidenten hätte
überlaſſen können) um ihre Meinungsäußerungen angegangen
worden iſt. Der Beruf dieſer Perſonen bringt ſie mit dem
Bauernſtande in tägliche Berührung und ſie beſitzen, ſofern ſie
längere Zeit am Orte thätig ſind, eine genaue Kenntnis der
ſocialwirtſchaftlichen Verhältniſſe ihrer Amtsbezirke. Auch er—
ſcheinen ſie nach den wenigen eingegangenen Proben durchaus
befähigt, das ihnen zugängliche Material methodiſch zu ver—
arbeiten. Bei gehöriger Auswahl der zu befragenden Perſonen
hätte man ohne Zweifel auf die Beibringung eines reichhaltigen
und zugleich wohl geſichteten Materials rechnen können.
Nach dem Vorausgeſchickten ſind eine Anzahl von Berichten
nur mit der größten Vorſicht zu benutzen und die in denſelben
beigebrachten Zahlen nur zum Teil verwertbar. Ja manche der
letzteren ſind ſchlechterdings unbrauchbar, weil ſie entweder der
Zeit nach nicht weit genug zurückreichen, wie z. B. die uns aus
den letzten Jahren mitgeteilten Zahlen über die vorgekommenen
Subhaſtationen, oder weil ihnen nicht die Grundzahlen, auf die
ſie bezogen werden müſſen, beigegeben ſind, wie z. B. bei den An⸗
48 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
gaben über die Zahl der parzellierten Höfe, denen vielfach Daten
über die Zahl der Höfe überhaupt wie über den Umfang der⸗
ſelben nicht beigefügt ſind. Endlich ſind die für die verſchiedenen
Provinzen ermittelten und verarbeiteten Zahlen häufig unter⸗
einander unvergleichbar, weil ſie nach verſchiedenen Geſichts⸗
punkten gewonnen worden ſind. Ich erinnere nur daran, daß
die Ermittelung der Verſchuldung des Grundbeſitzes von den
meiſten Berichterſtattern auf die hypothekariſche Verſchuldung be⸗
ſchränkt, von einigen dagegen auch auf die perſönliche Ver⸗
ſchuldung der Beſitzer ausgedehnt worden iſt. Ferner daran,
daß die Verſchuldung des Grundbeſitzes in einigen Berichten in
Beziehung geſetzt iſt zu dem durchſchnittlichen Verkehrswert, in
anderen dagegen zum Ertragswert und in dritten endlich zu
einem ſogenannten wahren Wert des Grundbeſitzes, deſſen Be⸗
deutung mir nicht ganz klar geworden iſt. Die durch dieſe ver⸗
ſchiedene Berechnungsart gewonnenen Prozentzahlen ſind natürlich
untereinander nicht vergleichbar.
Gehe ich nun auf die Bedeutung der geſtellten 5 Fragen
ein, ſo iſt es klar, daß man durch dieſelben einmal die Ver⸗
änderungen des Wohlſtandes und ſodann die Beſitzverſchiebungen
treffen wollte.
Auf den erſten Gegenſtand beziehen ſich die Fragen: 1. Iſt
eine beſondere Höhe oder ſchnelle Zunahme der Verſchuldung
des ländlichen Grundbeſitzes in den letzten Jahren wahrzu⸗
nehmen? 2. Wenn dies der Fall, in welchen Gegenden, bis zu
welcher Höhe und aus welchen Urſachen? und 3. Haben häufige
Subhaſtationen ländlicher Grundſtücke ſtattgefunden?
Indeſſen laſſen die Antworten auf dieſe Fragen doch nur
in bedingter Weiſe einen Schluß auf die Wohlſtandsverhältniſſe zu.
Die abſolute Zunahme der doch allein mit Sicherheit zu ermit-
telnden hypothekariſchen Verſchuldung des bäuerlichen Grundbeſitzes
ſpricht an ſich durchaus noch nicht für den Niedergang des Wohl—
ſtandes der bäuerlichen Bevölkerung. Denn einmal kann eine Zunahme
der hypothekariſchen Verſchuldung ja nur oder doch größtenteils
auf einer Konverſion von perſönlichen Schulden in hypothekariſche
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 49
beruhen. Und dafür, daß die Zunahme eines Teils der hypo—
thekariſchen Verſchuldung ſo aufzufaſſen iſt, liegen unbeſtreitbare
Beweiſe aus Hannover, Pommern und aus anderen Provinzen
vor. Ferner iſt in der Zunahme der hypothekariſchen Ver—
ſchuldung auch dann kein beſorgniserregendes Symptom zu er—
blicken, wenn mit derſelben eine Verbeſſerung der Gebäude und
ihrer inneren Einrichtung, eine Vermehrung des Betriebskapitals
und namentlich des Viehſtandes, eine intenſivere Bewirtſchaftung
des Bodens und demgemäß auch eine Erhöhung des Ertrags—
und Verkehrswertes desſelben parallel geht. Ja wenn gar alle
dieſe Momente in ſtärkerem Grade eintreten als die Verſchuldung
ſelbſt, ſo wird ſogar auf ein Steigen des Wohlſtandes geſchloſſen
werden müſſen. Um zu einem ſicheren Schluß zu gelangen,
müßte demnach nicht nur das Fortſchreiten der Verſchuldung,
ſondern auch das Verhältnis derſelben zu der Wertbewegung der
Bauerngüter konſtatiert werden.
Wie die Zunahme der hypothekariſchen Verſchuldung des Grund—
beſitzes nicht notwendig ein ungünſtiges Zeichen für die Wohlſtands—
verhältniſſe zu ſein braucht, ſo kann auch aus dem Gleichbleiben
oder Zurückgehen der hypothekariſchen Verſchuldung nicht mit Sicher—
heit auf günſtige Vermögensverhältniſſe geſchloſſen werden. Denn
wenn die Benutzung des Perſonalkredits durch die Bauern auch
in der Abnahme begriffen iſt, ſo ſpielt derſelbe doch noch immer
eine bedeutende Rolle, ſo daß in Gegenden, in denen die Ver—
ſchuldung des Bauernſtandes notoriſch eine ſehr hohe iſt, dieſe
Lage aus den Hypotheken- und Grundbüchern keineswegs immer
erſichtlich wird. Denn wo das Kreditbedürfnis des Bauern
hauptſächlich von ſeinen Verwandten und Freunden befriedigt
wird, da wird das Verlangen nach Beſtellung einer Hypothek
oder gar nach Eintragung derſelben ins Grundbuch als kränkendes
Mißtrauen angeſehen, deſſen Außerung man dem Schuldner ſo—
lange als nur irgend thunlich zu erſparen ſucht. Sodann iſt
der gewerbsmäßige Geldverleiher in der Regel kein Freund
der Hypothek, weil ſich die hohen Zinſen und Proviſionen
hierbei weniger leicht verſchleiern laſſen als bei der wechſel—
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit- u. Streitfragen. 4
50 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
mäßigen Form des Darlehns. Auch veranlaßt der Wunſch nach
Steuerhinterziehung den Gläubiger, ſeinem Schuldner gegenüber
häufig geradezu die Bedingung zu ſtellen, daß die Schuld bei
der Klaſſenſteuerveranlagung nicht angegeben und noch viel weniger
durch hypothekariſche Eintragung kundbar gemacht werde.
Eine ſolche Begünſtigung der Perſonal- vor der hypothekariſch
intabulierten Realſchuld ſetzt natürlich voraus, daß der Gläubiger
ſeine Forderung vor den Folgen eines Prozeſſes oder einer Sub⸗
haſtation ſicherſtellen könne. Das geſchieht gewöhnlich in der
Weiſe, daß er alle übrigen auf denſelben Schuldner lautenden
Forderungen aufkauft und den Schuldner dann im geeigneten
Augenblick veranlaßt, ihm ſein Grundſtück abzutreten.
Dies führt mich auf die Frage nach der Bedeutung, welche
die Vermehrung der Subhaſtations-Fälle für die Beurteilung
des Wohlſtands hat. Gewiß werden wir von einer rapid und
ſtark ſteigenden Zahl der Subhaſtationen bäuerlicher Grundſtücke
auf einen Rückgang des Wohlſtandes ſchließen dürfen. Aber
nicht ebenſo ſicher wäre der umgekehrte Schluß von einer ſich
gleichbleibenden oder gar einer abnehmenden Zahl von Subhaſta⸗
tionen. Denn nach den Berichten ſuchen faſt in allen Provinzen
ſtark verſchuldete bäuerliche Beſitzer und ihre Gläubiger der
Subhaſtation durch Parzellierung und Verkauf ihrer Grundſtücke
zuvorzukommen. Was aus der Provinz Sachſen berichtet wird,
daß nämlich die größte Zahl der parzellierten Güter zur Subhaſta⸗
tion reif war, dürfte demnach die Regel auch für die übrigen
Provinzen ſein.
So kommt es denn zur Subhaſtation nur dort, wo es den
betreffenden Beſitzern ſelbſt an Unternehmungsluſt fehlt und wo
ſich auch der zu ſolchem Geſchäft bereite Vermittler nicht ein⸗
ſtellt, weil es in der betreffenden Gegend überhaupt oder doch
wenigſtens zur Zeit an Kaufliebhabern für ſolche Parzellen fehlt,
oder endlich, wo die verſchuldeten Güter zu klein ſind, um eine
weitere Parzellierung zuzulaſſen.
Demnach müſſen zur Beurteilung der Wohlſtandsverhältniſſe
außer den Antworten auf die Frage 1—3 auch die Antworten
Spa KR TEE
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 51
auf die Frage 4: Sind größere und mittlere Bauerngüter mehr-
fach von den bisherigen Beſitzern parzelliert oder durch ge—
werbsmäßige Unternehmer ausgeſchlachtet worden? herangezogen
werden.
Außerdem iſt durch dieſe Frage 4 auch der zweite Haupt-
gegenſtand der Enquete, nämlich der über die in den letzten Jahr—
zehnten ſtattgehabten Veränderungen in den Grundbeſitzverhält—
niſſen des Bauernſtandes, getroffen worden. Endlich will die
Frage 5: Sind die betreffenden Parzellen mehr zur Arrondierung
des größeren und mittleren Beſitzes oder zur Etablierung kleinerer
Wirtſchaften oder Häuslerſtellen benutzt worden? die Richtung
fixieren, in der ſich dieſe Beſitzveränderungen vollzogen haben.
II.
Ich wende mich nunmehr zur Feſtſtellung des nach Maßgabe
der obigen Geſichtspunkte ermittelten Reſultats der Enquete,
wobei ich mich darauf beſchränken will, den empfangenen Geſamt⸗
eindruck zu ſchildern.
Bezüglich der Einzelheiten und namentlich der Zahlenbelege
verweiſe ich auf die in Ihren Händen befindlichen Berichte.
Daß die Verſchuldung des bäuerlichen Grundbeſitzes in den
letzten 3 bis 4 Jahren beſonders ſtark gewachſen ſei, findet ſich
in einer Anzahl von Berichten ausdrücklich negiert, ja es ſcheinen
ſich die Verhältniſſe in dieſer allerletzten Zeit etwas gebeſſert
zu haben. Dagegen wird ziemlich allgemein zugegeben, daß die
Verſchuldung in den letzten 10—20 Jahren erheblich zugenommen
habe. Durch ziffermäßige Belege für einzelne Gemeinden, Kreiſe
und ganze Provinzen wird dieſe Thatſache näher zu erhärten
geſucht.
Da die Zahlen ſich aber faſt nur auf die Zunahme der
hypothekariſchen Verſchuldung beziehen, ſo iſt der Beweis nicht
ſtringent, ſolange nicht zugleich der Umfang der perſönlichen
Verſchuldung des Bauernſtands zur Zeit der früher geringeren
und der gegenwärtig ſtärkeren hypothekariſchen Verſchuldung
genau feſtgeſtellt iſt. Dieſer Punkt hat namentlich in Pommern
4 *
52 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
zu einer lebhaften Kontroverſe Anlaß gegeben, indem einerſeits
behauptet wird, daß nur eine Konverſion der perſönlichen in
hypothekariſche Schulden vorliege, während andererſeits auch für
die Gegenwart auf das Beſtehen einer ſtarken perſönlichen Ver⸗
ſchuldung neben der bedeutend angewachſenen hypothekariſchen
Laſt hingewieſen wird.
Was die gegenwärtige Höhe dieſer letzteren betrifft, ſo iſt
ſie eine ſehr ungleiche in den verſchiedenen Provinzen, Kreiſen
und Gemeinden. Während einesteils für Schleswig-Holſtein,
Oſt⸗ und Weſtpreußen, Nieder- und Mittelſchleſien, Branden⸗
burg 2c. konſtatiert wird, daß es in einzelnen Gegenden eine An⸗
zahl ganz unverſchuldeter Bauerngüter giebt, kommen in dieſen
ſowie in den anderen Provinzen auch wieder einzelne Güter vor,
die bis zu ihrem vollen Verkehrswert oder gar über denſelben hinaus
verſchuldet ſind. Die zwiſchen dieſen beiden Extremen liegende
große Zahl von Bauerngütern ſcheint in den günſtiger ſituierten
Gegenden bis ¼ oder gar bis zu /, in den weniger gut ſituierten
Gegenden dagegen bis zu 8 oder gar ¼ des Verkehrswertes
der Güter verſchuldet zu ſein.
Was ſodann das Verhältnis der Verſchuldung zu dem
Wohlſtande des Bauernſtands betrifft, ſo haben nur wenige Be⸗
richte dieſe Frage direkt beantwortet. Wo ſolches nicht ge—
ſchehen iſt, muß auf dieſes Verhältnis aus dem Komplex der zu
Tage getretenen Wohlſtandsſymptome geſchloſſen werden. Da
die beigebrachten Zahlen nur ausnahmsweiſe beweiskräftig und
untereinander vergleichbar ſind, ſo wird der Geſamteindruck, den
die Schilderung der bäuerlichen Verhältniſſe macht, entſcheiden
müſſen.
Danach ſcheint trotz der allgemeinen Zunahme der Ver—
ſchuldung doch nur für einen Teil der Monarchie eine Abnahme
des bäuerlichen Wohlſtandes angenommen werden zu dürfen.
Insbeſondere wird eine ſolche Abnahme beſtritten für einen
großen Teil Oſtpreußens und Schleswig-Holſteins, für Teile der
Provinzen Weſtpreußen, Sachſen und Brandenburg ſowie Teile
von Nieder- und Mittelſchleſien. Hier wie ausnahmsweiſe auch
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 53
in einigen Kreiſen der anderen Provinzen, ſo namentlich in Han—
nover und Weſtfalen, erfreuen ſich hauptſächlich diejenigen größeren
Bauern eines blühenden Wohlſtands, die in den Fluß- oder See-
marſchen oder ſonſt auf fruchtbarem Boden ſitzen und vorzugs—
weiſe Viehzucht, Rübenbau und landwirtſchaftliche Nebengewerbe
treiben.
Dagegen ſcheint der Wohlſtand im allgemeinen in der Ab—
nahme begriffen zu ſein in einem großen Teil der Provinzen
Poſen und Pommern (hier namentlich in den von der polniſchen
Bevölkerung bewohnten Landesteilen), in einem großen Teil
Oberſchleſiens, des Regierungsbezirks Kaſſel und der Rhein—
provinz ſowie Hannovers, Weſtfalens und Naſſaus. Auch ge—
hören hierher einige mehr oder minder umfangreiche Teile der—
jenigen Provinzen, für die im allgemeinen ein zunehmender oder
doch gleichbleibender Wohlſtand konſtatiert iſt.
In ungünſtigen Wohlſtandsverhältniſſen befinden ſich nament—
lich diejenigen Bauern, deren Güter die Spannfähigkeit verloren
und die dennoch ſelbſt die frühere Lebensſtellung beibehalten haben,
ſowie die Beſitzer kleiner Stellen, ſofern ſie die nötige Gelegenheit
zur Verwendung ihrer überſchüſſigen Arbeitskraft entweder nicht
finden oder nicht ſuchen; ſodann auch die in entlegenen
Gegenden mit ſchlechten Verkehrswegen wohnenden Bauern, die
entweder bei rauhem wechſelndem Klima (Gebirgsgegenden) oder
auf kargem Boden (Geeſt, Moor ꝛc.) Cerealienbau treiben.
Aber ſelbſt dieſe ungünſtigen Verhältniſſe wiſſen die Bauern
einiger Gegenden bisweilen durch ihre ausdauernde Arbeit und
Entſagung zu überwinden, ſo daß ſich ausnahmsweiſe auch die
Bauern mancher Geeſtdiſtrikte in ihrem früheren Wohlſtande
erhalten haben.
Die oben hervorgehobenen günſtig ſituierten Gegenden dürften
aber doch, auch wenn man die betreffenden Berichte als vollſtändig
objektive Kriterien anſehen wollte, den kleineren Teil des geſamten
Areals einnehmen. Für den größten Teil des Bauernſtands
ſcheint mir ein Rückgang des Wohlſtands ſeit den ſechziger Jahren
unzweifelhaft vorzuliegen.
54 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
Dieſer Rückgang beginnt in der Regel damit, daß das müh⸗
ſam erſparte Kapital angegriffen und aufgebraucht und der etwa
vorhandene Wald niedergeſchlagen wird. Dann pflegt der Bauer
die notwendigen Reparaturen der Gebäude und Ergänzungen am
Betriebskapital zu unterlaſſen. Hierauf erfolgt auch die Ver⸗
äußerung dieſes oder jenes Stückes Vieh ſowie manches Haus⸗
geräts und Zierats, bis dann endlich die unproduktive Ver⸗
ſchuldung beginnt. Steht dem Bauern kein ſolider Kredit zu
Gebote oder hat er nicht die Umſicht ihn zu benutzen, ſo gerät
er gewöhnlich in die Hände gewerbsmäßiger Geldverleiher, womit
dann in der Regel ſein Untergang beſiegelt iſt.
Dieſer Prozeß vollzieht ſich hier langſam und dort raſch.
Auch hat derſelbe bei den Bauern der einen Gegend ſchon früh
begonnen und dann bereits zur Vernichtung des Bauernhofes
und zur Deklaſſierung des Bauern geführt. In anderen Gegenden
hat ſich der Bauernſtand noch bis in die Gegenwart vollſtändig
kräftig zu halten gewußt. In dritten endlich — und dieſe
dürften die große Mehrzahl bilden — iſt der Niedergang bereits
ebenfalls, jedoch ſpäter als im erſten Fall eingetreten, ſo daß
ſich hier der Bauernſtand gegenwärtig noch im vollen Kampf mit
den für ſeine Exiſtenz verderblichen Elementen befindet. Auf
dieſe laſſen ſich zugleich die weſentlichſten Verſchuldungsurſachen
zurückführen.
Was dieſe letzteren betrifft, ſo ſind es teils die ſeit
den ſechziger Jahren ins Sinken gekommenen Preiſe bei der
einen Art von Bodenprodukten, teils die Unveränderlichkeit der Preiſe
bei einer anderen und eine nur mäßige Steigerung bei einer
dritten, welche den Bauern namentlich deshalb ſo hart treffen, weil
gleichzeitig die landwirtſchaftlichen Produktionskoſten erheblich
geſtiegen ſind.
Mag der Rückgang oder das Stillſtehen der Woll- und
Getreidepreiſe ſowie die Steigerung der Produktionskoſten
in verſchiedenen Gegenden auch in ſehr ungleichem Grade
erfolgt ſein, ſo iſt doch ſoviel ſicher, daß dieſe beiden die
Geld-Reinerträge weſentlich ſchmälernden und das Sinken
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 55
des Grundwerts beſtimmenden Momente ihre Einwirkung überall
ausüben.
Was die Vermehrung der Produktionskoſten betrifft, ſo iſt
der ſtarken Steigerung der Arbeitslöhne eine Erhöhung der
Lebensanſprüche der bäuerlichen Beſitzer vorhergegangen. Iſt die
erſtere hauptſächlich eine Folge des Aufſchwunges, den Handel
und Induſtrie ſeit dem Jahre 1870 genommen haben, ſo iſt die
letztere wieder zurückzuführen auf die beiſpiellos günſtige Lage
der ländlichen Grundbeſitzer in den fünfziger und ſechziger Jahren.
Endlich ſind beide Thatſachen wohl nicht außer Zuſammenhang
mit der durch die Freizügigkeit und das Hinauswachſen der
Induſtrie auf das Land bedingten Annäherung zwiſchen Stadt
und Land, ſo daß ſtädtiſche Lebensgewohnheiten, ſtädtiſche Ver—
gnügungs⸗ und Putzſucht immer weiter auf das Land dringen.
Und wie mit der Erhöhung des Arbeitslohnes nicht zugleich
auch die Arbeitsleiſtung gewachſen iſt, ſondern im Gegenteil viel-
fach über eine Abnahme derſelben geklagt wird, ſo hat auch mit
der Übertragung ſtädtiſcher Lebensanſprüche und Lebensgewohn-
heiten auf den Bauernſtand nicht zugleich auch eine entſprechende
Annäherung desſelben an das ſtädtiſche Element mit Bezug auf
die Anſtelligkeit, Gewandtheit ſowie die Fähigkeit, vorhandene
günſtige Konjunkturen auszunutzen und ſich auf ungünſtige ent—
ſprechend einzurichten, ſtattgefunden. Semler in ſeinem hoch—
intereſſanten Buche über die amerikaniſche Konkurrenz! findet
bei einem Vergleich des amerikaniſchen Farmers mit dem deut—
ſchen Bauer, daß dem letzteren eine gewiſſe halsſtarrige Un—
beweglichkeit, die lieber das Ungemach über ſich ergehen läßt, als
daß ſie demſelben vorbeugt, eigentümlich ſei. Mögen ſich dieſe
Verhältniſſe ſeit Semlers Fortgang aus dem Vaterlande
auch etwas geändert haben, mag namentlich unſer Viehzucht und
Viehhandel treibender Marſchbauer und unſer mit der Zucker⸗
Semler, Die wahre Bedeutung und die wirklichen Urſachen der
amerikaniſchen Konkurrenz in der landwirtſchaftlichen Produktion. Wismar
1881.
56 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
fabrikation in Berührung tretender Rübenbauer viel von ſeiner
früheren Unbeweglichkeit eingebüßt haben, ſo dürfte im großen
Ganzen die obige Darſtellung Semlers doch auch heute noch
richtig ſein. |
Und zwar hängt dieſe Schattenſeite des Bauern mit feinen
guten Seiten gleichſam als Revers der Medaille, wenn auch,
wie ich glaube, nicht untrennbar zuſammen. Denn noch heute
entſpricht der Unempfänglichkeit gegen das, was wir mit einem
banalen Wort als die Anforderungen der Zeit bezeichnen, die
zähe Kraft im Ertragen des Schwierigſten und die Gewohnheit
harter, andauernder, aber den Blick nur auf das Nächſte
richtender Arbeit.
Zu dieſen in der Perſon des Bauern liegenden Hinder—
niſſen des wirtſchaftlichen Fortſchreitens kommen dann noch
in der Rheinprovinz, Naſſau, Hohenzollern, Thüringen und Ober⸗
ſchleſien folgende in der Grundbeſitzverteilung enthaltene Hemm⸗
niſſe einer rationellen Kultur: die zu weit getriebene Parzellierung
des Bodens, die Gemengelage, der Mangel an Zugänglichkeit
der einzelnen Parzellen, der vielfach noch faktiſch beſtehende Flur⸗
zwang ꝛc.
In die ungünſtige Periode, die mit dem Schluß der 60er
und dem Anfang der 70 er Jahre beginnt, fällt außerdem noch
eine ununterbrochene Reihe von teils mittelmäßigen, teils weniger
als mittelmäßigen Ernten. Nur im letzten Jahr ſcheint in den⸗
jenigen Gegenden, die nicht unter dem Regenüberfluß gelitten
haben, eine Wendung zum Beſſeren eingetreten zu ſein. Zieht
man ſodann noch in Betracht, daß das an ſich unbefriedigende
Ernteergebnis des letzten Jahrzehnts noch vielfach durch Über—
ſchwemmungen geſchädigt worden iſt, ſo wird man ſich über
die ſchwierige Lage des Landmannes nicht wundern dürfen.
Eine nicht geringe Anzahl von Bauern hat endlich durch |
Feuersbrünſte, Viehſterben und Hagelſchaden ſchwer gelitten, da
ſie nicht verſichert waren.
Auch wurden die geringeren Naturalerträge nicht einmal,
wie in früheren Zeiten, durch hohe Preiſe kompenſiert. So
S
’ u
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 57
mußten denn wegen der niedrigen Preiſe der nicht reichlich ge—
ernteten Bodenprodukte ſowie wegen der hohen Produktionskoſten
die in Geld ausgedrückten Reinerträge gering ausfallen.
Dazu kommt, daß in dieſem Zeitraum die Laſt der auf
dem Grundbeſitz ruhenden Staats-, namentlich aber der Kommunal-
ſteuern gewachſen iſt, während die Reinerträge, aus denen ſie
doch gezahlt werden müſſen, herabgegangen ſind. Zuſchläge zu
den Staatsſteuern von 2 bis 300 Prozent für Kommunalzwecke
ſcheinen am Rhein und in Oberſchleſien nicht zu den Selten—
heiten zu gehören, ja in einigen Fällen wird ſogar von Zu—
ſchlägen bis zu 500 Prozent berichtet.
Sofern dieſe Zuſchläge die Einkommen- und Klaſſenſteuer
der Handel und Gewerbe treibenden Klaſſen ſowie der Rentiers
treffen, mögen ſie — wie häufig behauptet worden iſt — in der
That nur nominell hohe ſein, d. h. durch niedrige Einſchätzung
zur Staatsſteuer kompenſiert werden.
Bei den Zuſchlägen zu den Grund- und Gebäudeſteuern iſt
das anders. Gehören dieſe ohne Berückſichtigung der vorhandenen
Schulden erhobenen Ertragsſteuern ſchon überhaupt zu den ir—
rationellſten, ſo treten ihre Mängel noch beſonders ſcharf hervor
in den zu Kommunalzwecken ſtattfindenden Zuſchlägen von be—
deutender Höhe. Am härteſten werden dieſe dort empfunden,
wo der bäuerliche Grundbeſitz ſtark verſchuldet iſt und die un—
günſtige Lage eine weſentliche Steigerung der faktiſchen Erträge
gegenüber den Grundſteuerreinerträgen ausſchließt. So wird z. B.
aus Oberſchleſien berichtet, daß im Kreiſe Lublinitz die Staats—
und Gemeindeſteuern aller Art ſowie die Reallaſten vom durchſchnitt—
lichen Reinertrag des bäuerlichen Grundbeſitzes 73 Proz. abſorbieren.
Und wenn daran erinnert wird, daß die Kommunalſteuern doch
weſentlich zu produktiven Zwecken verwendet werden und ſich in
den erhöhten Erträgen des Grundbeſitzes wieder erſetzen, ſo darf doch
dagegen geltend gemacht werden, daß die ſteigenden Armenlaſten
einem produktiven Zweck nicht gewidmet find, daß die Schul⸗
58 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
und Kirchenlaſten der landwirtſchaftlichen Produktion direkt ent⸗
weder gar nicht oder doch nur allmählich zu gute kommen und
daß die Wegelaſten nur langſam in den erhöhten Erträgen der⸗
jenigen Grundſtücke wieder erſcheinen, die überhaupt für den Ab⸗
ſatz produzieren, während die Steuer doch ſofort für allen Grund⸗
beſitz entrichtet werden muß.
In denjenigen Gegenden, in welchen in den letzten Jahrzehnten
eine wachſende Verſchuldung des Grundbeſitzes eingetreten iſt, iſt
dieſelbe hauptſächlich bewirkt worden durch die in den 50er und 60er
Jahren zu hohen Preiſen und mit unzulänglichen Mitteln abgeſchloſ⸗
ſenen Gutskäufe ſowie durch die nach Maßgabe des Verkehrswerts er⸗
mittelten Erbteile der Geſchwiſter des den Hof übernehmenden Erben.
Wenn in einem Punkt unter den verſchiedenſten Berichten
die vollſtändigſte Übereinſtimmung beſteht, fo iſt es in dieſem:
daß diejenigen bäuerlichen Güter am wenigſten verſchuldet ſind,
welche ſeit Generationen zu einer mäßigen den Ertragswert nicht
überſteigenden Taxe vom Vater auf den Sohn vererbt worden
ſind. Wo die Bauernhöfe dagegen in den letzten Jahrzehnten im
Wege des Kaufs die Hand gewechſelt haben oder wo die Ber-
erbung derſelben nach Maßgabe des allgemeinen Inteſtaterbrechts
mit ſeinen hohen Taxen ſtattgefunden hat, da liegt gewöhnlich
eine ſtarke Verſchuldung vor. Denn Verkäufe und Erbüber⸗
tragungen, welche in eine Zeit ſteigender Grundwerte fallen,
müſſen hohe Kaufſchillinge und Antrittsgelder ergeben. Soweit
dieſe dann nicht bar ausbezahlt werden konnten — und das
iſt doch nur teilweiſe geſchehen —, beſchweren fie den Grund:
beſitz mit einer Laſt, die in der Gegenwart um ſo drückender iſt,
je ſtärker infolge der oben angeführten Umſtände der Grund⸗
wert im letzten Jahrzehnt zurückgegangen iſt.
Zu einer wahren Kalamität werden dieſe mit dem Sinken
des Grundwerts einen immer größeren Bruchteil desſelben re—
präſentierenden Schulden namentlich dort, wo es an einer ge—
nügenden dem Intereſſe des bäuerlichen Beſitzes Rechnung tragen⸗
den Organiſation des Kredits fehlt.
Das meiſte Kapital, das der Bauer zur Überwindung vor⸗
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 59
übergehender Kalamitäten, zu Betriebs- und Meliorationszwecken,
zur Abfindung ſeiner Geſchwiſter oder zur Bezahlung des Kauf—
ſchillings bedurfte, pflegte er, ſofern er ſich dasſelbe nicht ſelbſt
erſpart hatte, in früheren Zeiten allgemein ſeinen bäuerlichen Nach-
barn oder Verwandten oder einem ſtädtiſchen Kaufmann, einem Stif-
tungsfonds oder einer Sparkaſſe zu entlehnen. Und auch noch in
der Gegenwart ſcheint dieſe Art rein individueller Kreditgebung
in den vorwiegend bäuerlichen Bezirken mit geſunden Wohlſtands—
verhältniſſen, wie z. B. in Schleswig-Holſtein, in einigen Teilen
Hannovers, Weſtfalens, Brandenburgs ꝛc., eine bedeutende Rolle
zu ſpielen. Aber dort ſowohl wie in noch höherem Grade in
den weniger gut ſituierten Gegenden tritt dieſe, wenn ich mich ſo
ausdrücken darf, unorganiſierte Art der Befriedigung des bäuerlichen
Kreditbedürfniſſes immer mehr zurück. Je mehr ſich das Kapital
dem Staat und der Gemeinde, den Banken, den Aktiengeſell—
ſchaften aller Art ſowie dem Handel und der Induſtrie zuwendet,
ein je größerer Wert ſeitens des Kapitaliſten auf den Beſitz zu
jeder Zeit an der Börſe realiſierbarer Papiere gelegt wird, je mehr
ferner der Familienſinn abnimmt und der nachbarliche Zuſammen—
hang ſchwindet, deſto ſpärlicher fließen für den Bauern die oben
erwähnten Kreditquellen. Wird dann nicht zugleich durch eine
zweckmäßige Kreditorganiſation für billigen, ſtetigen und unkünd—
baren Kredit geſorgt, ſo verfällt der Bauer, zumal bei zu⸗
nehmender Verſchuldung — wie ſie der Gegenwart eigen iſt —,
leicht dem gewerbsmäßigen Geldverleiher.
Von den kleineren Städten aus nähert ſich dieſer dem
Bauern in der verſchiedenſten Geſtalt: bald als Hauſierer, der
ihm Branntwein und Schnittwaaren aufdrängt; bald als Vieh—
verleiher, der ihm ein paar Kühe in den leer gewordenen Stall
ſtellt, oder als Viehhändler, der mit ihm das Vieh ein- und
austauſcht. Iſt der Bauer bereits bei dieſen Geſchäften häufig
auf den Kredit des Händlers angewieſen, ſo weiß er nun auch,
an wen er ſich in der Geldnot zu wenden hat. Die Aus-
dehnung der Wechſelfähigkeit auch auf den Bauernſtand ermöglicht
es jetzt dem Geldverleiher, infolge der mit der Wechſelform
60 b Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
verbundenen Zahlungsſchraube, auch ſolchen verſchuldeten Perſonen
Kredit zu gewähren, denen er ihn ohne dieſe Form nicht ge-
währen würde. Die Beſeitigung der Zinsbeſchränkungen durch
die preußiſche Verordnung vom 12. Mai 1866 und das Geſetz
des norddeutſchen Bundes vom 14. November 1867 brachten dann
auch dort, wo ſich in dem gewerbsmäßigen Geldverleiher wenn auch
nicht die Stimme des Gewiſſens, ſo doch die Furcht vor der
Beſtrafung regte, ſelbſt dieſe zum Schweigen. Und ſo ſehen wir
denn ſeit jener Zeit bis zum Jahre 1880 faſt in allen Provinzen
den Wucherer ſich an den in bedrängte Lage gelangenden Bauern
wie die Flechte an den Baum anſetzen und nicht eher ruhen, bis
der Baum, vollſtändig von ihr überzogen und ſeines Saftes be-
raubt, morſch zuſammenbricht.
Mit dem Haufier- und Viehhandel ſowie mit dem Leihge⸗
werbe verknüpft ſich dann naturgemäß auch der Handel mit Im⸗
mobilien als die letzte Konſequnz des wucheriſchen Treibens.
Wie ich bereits oben erwähnte, kann die Subhaſtation des
Bauerngutes häufig nur durch rechtzeitigen Verkauf desſelben zu
hohem Preiſe vermieden werden. Ein hoher Kaufpreis für einen
verſchuldeten und deteriorierten Hof läßt ſich aber gewöhnlich
nur durch parzellenweiſen Verkauf desſelben erzielen. Denn der
Begehr nach kleinerem Grundbeſitz iſt namentlich in Zeiten der
Kapitalplethora und ſteigender Grunderträge groß. Aber auch
unter weniger günſtigen Bedingungen iſt der Wunſch des bäuer⸗
lichen Nachbarn, ſeinen Hof zweckmäßig zu arrondieren oder zu
vergrößern, und das Streben des ländlichen und Induſtriear⸗
beiters ſowie des kleinen Handwerkers nach Erwerbung eines
Landſtücks zum Aufbau eines Hauſes, zur Erzeugung der not-
wendigſten Lebensmittel und zur Verwendung ſeiner Muße⸗
ſtunden ſowie der Arbeitskraft ſeiner Frau und ſeiner Kinder
vorhanden.
Dieſe Situation benutzt bisweilen der Bauer ſelbſt, ſei er
nun ſtark verſchuldet oder nicht, um ſich ſeines Beſitzes zu einem
möglichſt hohen Preiſe zu entäußern. Mit dem erzielten Rein⸗
gewinn wandert er dann aus, um ſich jenſeits des Ozeans ein
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 61
neues Heim zu gründen, oder er zieht in die Stadt und giebt
ſich hier gelegentlich wohl auch ſelbſt dem Geldwucher hin oder
er kauft ein anderes größeres Gut oder er ſinkt, wenn der Er—
lös gering ausgefallen iſt, zum Kätner, Gärtner, Häusler oder
gar zum Einlieger herab. So wird uns übereinſtimmend aus
Schleswig⸗Holſtein, Poſen, Sachſen und aus anderen Provinzen
berichtet.
In den weitaus meiſten Fällen aber führt die ſtarke Ver—
ſchuldung des Bauern zur Ausſchlachtung ſeines Hofes entweder
durch ſeinen ſtets gefälligen Geſchäftsfreund oder deſſen Helfers—
helfer. Um an Steuern und Stempel zu ſparen, erfolgt der
Verkauf dabei gewöhnlich auf den Namen der Bauern, wenngleich
für Gefahr und Rechnung des Ausſchlächters. Durch endloſe
Zeitungsannoncen wird die Privatverſteigerung, in welcher Form
der parzellenweiſe Verkauf ſich häufig vollzieht, eingeleitet.
Freigebige Libationen von Spirituoſen und die Überredungs—
künſte der Ausſchlächter und ihrer Schlepper müſſen die Kauf—
luft anfeuern. Daß er in der Regel viel höhere Preiſe zu er-
zielen weiß als der Bauer ſelbſt, iſt übrigens nicht durch dieſe
Manipulationen, ſondern auch dadurch bedingt, daß er den
Käufern den Kaufſchilling kreditieren kann. Nur ausnahmsweiſe
behält der Bauer die Gebäude und einen kleinen Reſt ſeines
früheren Guts. Meiſt geht auch dieſes in fremde Hände über.
Dem kleinen Erlös, den derſelbe im beſten Fall übrigbehält,
ſteht der meiſt reichlich bemeſſene Gewinn des Ausſchlächters
gegenüber. So brachte beiſpielsweiſe die Ausſchlachtung von 52
Höfen in dem pommerſchen Amt Freienwalde den gewerbsmäßigen
Parzellanten bei einem Geſamterlös der Verkäufer von 1779000
Mark — 197530 Mark ein, alfo etwas über 10 Prozent.
Wird durch ſolche Parzellierungen die Verteilung des
Grundbeſitzes auch bisweilen entſprechend dem vorhandenen Be—
dürfnis korrigiert, indem die benachbarten Bauernhöfe und
Rittergüter beſſer arrondiert werden und das Bedürfnis nach
Schaffung kleiner Häuslerſtellen befriedigt wird, ſo geſchieht dies
62 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
doch immer nur auf Koſten des Verſchwindens eines ſpannfähigen
Bauernhofes. Den neuen Käufern aber erwächſt aus den über⸗
nommenen Verpflichtungen eine Laſt, die nicht nur für den Be⸗
ſitzer kleiner Stellen, ſondern auch für die Bauern, welche ihren
Beſitz erweitert haben, häufig den Keim zum wirtſchaftlichen
Untergang enthält. Denn ebenſo bereitwillig, wie der Güter⸗
händler einen Teil des Kaufſchillings kreditiert, ebenſo unerbitt⸗
lich pflegt er bei Nichteinhaltung der Termine zu ſein. So
ſchafft er ſich denn in den Käufern neue Objekte für ſeine Thä⸗
tigkeit, die immer weiter um ſich greift und aus dem wirtſchaft⸗
lichen Niedergang möglichſt vieler Exiſtenzen für ſich Gewinn zu
ziehen ſucht.
In Zeiten ſinkender Ertrags- und Verkehrswerte des Grund
und Bodens, wie in der Gegenwart, pflegen die Ausſchlächter
ihre Thätigkeit, wie uns von manchen Seiten berichtet wird,
eine Weile einzuſtellen, aber freilich nur, um dieſelbe bei günſtiger
Gelegenheit wieder aufzunehmen.
So zerbröckelt denn auf der einen Seite der bäuerliche
Grundbeſitz, dieſer feſteſte Stützpunkt unſerer ſocialen Ordnung
auf dem Lande, in Kleinbauern- und Häuslerſtellen. Und
parallel dieſem Prozeß geht eine Klaſſenbewegung, die immer
weitere Kreiſe unſerer ländlichen Bevölkerung dem Proletariat
zuführt. Denn die kleinen Häuslerexiſtenzen ſind unter den un⸗
günſtigen klimatiſchen und Bodenverhältniſſen unſeres Nordoſtens
nur dort lebensfähig, wo fie ihren Beſitz nicht bereits über—
ſchuldet antreten und wo ſich für ſie genügende Arbeit in der
Induſtrie, im Berg- und Hüttenweſen oder auf großen Land⸗
gütern vorfindet. Endlich hat ſich die, verglichen mit dem
Bauernſtande, viel geringere Widerſtandsfähigkeit dieſer kleinen
Stellenbeſitzer in ungünſtigen Zeiten nach den übereinſtimmenden
Nachrichten ſämtlicher Berichte in dem letzten Jahrzehnt wieder
recht deutlich gezeigt.
Und mit dem eben geſchilderten Prozeß verbindet ſich dann
ein anderer, der in der Aufſaugung des bäuerlichen Beſitzes ent-
weder direkt oder indirekt, nach ſeiner Parzellierung, durch den
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 63
mittleren und großen beſteht. Freilich zeigt ſich derſelbe faſt
nur im Nordoſten, und auch hier ſoll er in einigen Provinzen,
z. B. in Oſt⸗ und Weſtpreußen, in Pommern, aber auch in
Schleswig⸗Holſtein, ſeit den 50 er Jahren zum Stillſtand ge—
kommen ſein.
Der für den großen Umfang der Rittergüter zu geringe
Kapitalbeſtand verbietet es denſelben angeblich, ſich zu erweitern.
Doch können dieſem gegen die Vergrößerung ſprechenden Mo—
ment unter Umſtänden andere und zwar ſtärkere Gründe das
Gleichgewicht halten.
So führt z. B. der Rübenbau dort, wo er Platz greift,
vielfach zu einer Umwälzung der vorhandenen Beſitzverhältniſſe
und namentlich zur Bildung großer Güter, wie mit ſeltener
Einmütigkeit aus Norderdithmarſchen und aus dem Regierungs—
bezirk Kaſſel, aus den Provinzen Hannover, Sachſen und Schle—
ſien berichtet wird. Ja es ſcheint faſt, als ob die unter bejon-
derer ſtaatlicher Protektion (verſteckte Ausfuhrprämie!) ſtehende
Rübenzuckerinduſtrie für die Enteignung des deutſchen Bauern—
ſtandes im 19. Jahrhundert dieſelbe Bedeutung haben wird, wie
ſie die ebenfalls ſtaatlich begünſtigte Wollinduſtrie mit ihren
hohen Wollpreiſen für die Verwandlung der bäuerlichen Acker
in gutsherrſchaftliche Wieſen und Weiden ſeit dem 15. Jahr-
hundert in England gehabt hat!“. Auch trifft der oben gegen
die Vergrößerung der vorhandenen Güter und gegen die Bildung
neuer großer Beſitzkomplexe angeführte Grund überall dort nicht
zu, wo an großen Kapitalien kein Mangel iſt. Mögen dieſe
nun im Handel und in der Induſtrie erworben ſein oder aus
anderen Quellen, wie z. B. aus den nicht verzehrten Revenuen
grundbeſitzender Magnaten entſpringen: immer ſuchen ſie in letzter
Inſtanz ihre Inveſtierung im Grundbeſitz. So zeigt der Be—
richt für Schleſien, daß von Breslau aus namentlich in Mittel-
ſchleſien dieſer Agglomerationsprozeß des ländlichen Grundbeſitzes
1 E. de Laveleye-Bücher, Das Ureigentum. Leipzig 1879.
Si. 455 ff.
64 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
auch in letzter Zeit nicht ſiſtiert iſt. So ſind ferner im branden⸗
burgiſchen Kreiſe Prenzlau 75 Prozent der eingegangenen
Bauernſtellen mit Rittergütern vereinigt und im Kreiſe Soldin
etwa 60 Prozent der vorhandenen Bauerngüter von den benach⸗
barten Großgrundbeſitzern aufgekauft. Vollends aber in der
Provinz Poſen hat die Inkorporierung von Bauerngütern in die
Gutsbezirke koloſſale Dimenſionen angenommen. Hier zählte
man im Jahre 1880 an bäuerlichen Nahrungen, welche ſelb⸗
ſtändigen Gutsbezirken inkommunaliſiert waren, 500 mit einem
Flächengehalt von 29 280 Morgen und an bäuerlichen Nahrungen,
welche zwar in das Eigentum von Beſitzern ſelbſtändiger Guts⸗
bezirke übergegangen, aber nicht zugleich inkommunaliſiert waren,
2332 mit einem Flächengehalt von 148953 Morgen. Es find
demnach in der Provinz Poſen 2832 frühere Bauernhöfe mit
zuſammen 178 233 Morgen in den Beſitz von Rittergutsbeſitzern
gelangt.
Alles in allem genommen hat der Bauernſtand, von zwei
Seiten eingeengt, in den letzten Jahrzehnten nicht unerheblich
an Terrain verloren. Hinſichtlich dieſes Gegenſtandes erlaube
ich mir auf die von mir geſammelten Daten zu verweiſen !.
Den vorliegenden Berichten entnehme ich im ſpeciellen folgende
Zahlen:
Im pommerſchen Kreiſe Neuſtettin waren von den bei
Regulierung des Beſitzes vorhanden geweſenen 2402 ſpannfähigen
Bauernhöfen im Jahre 1878 nur noch übrig 1031 Höfe: 1306
waren zerſtückelt und 65 von benachbarten Rittergüten abſorbiert
worden. 5
In der Provinz Schleſien ſind nach einem Bericht des
Oberpräſidenten zwiſchen 1850 und 1880 verſchwunden 4923
Bauerngüter mit einem Areal von 194855 ha.
In der Provinz Poſen find zwiſchen 1859 und 1880, alſo in
1 v. Miaskowski, Das Erbrecht und die Grundeigentumsvertei⸗
lung im Deutſchen Reiche. Erſte Abteilung. Leipzig, Duncker und Hum⸗
blot. 1882. S. 126—164.
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 65
nur 21 Jahren, 8396 — 17,54 Prozent ſämtlicher ſpann⸗
fähigen Bauerngüter verloren gegangen, dagegen hat das Ge—
ſamtareal der ſpannfähigen Bauerngüter nur 104 505 Morgen
— 3 Prozent eingebüßt.
III.
In der obigen Darſtellung habe ich verſucht, die Eindrücke
zu fixieren, welche die Berichte auf mich gemacht haben. Es bleibt
mir jetzt noch übrig, für den ermittelten Zuſtand einen kurzen
und prägnanten Ausdruck zu finden. Vielleicht läßt ſich derſelbe
treffend als der einer Kriſis bezeichnen, die aus dem akuten in
das ſchleichende Stadium übergeht. Am deutlichſten wird der
ſpecifiſche Charakter der gegenwärtigen Kriſis übrigens hervor—
treten aus einem Vergleich des gegenwärtigen, aus dem Anfang
der ſiebziger Jahre (für einige Teile des Deutſchen Reichs aber
bereits aus einer früheren Zeit) datierenden Zuſtandes der Dinge
mit der Kriſis, die der deutſche Grundbeſitz in den 20er und 30er
Jahren durchlebt hat.
Des landwirtſchaftlichen Notſtandes am Schluß der 40er
und am Anfang der 50er Jahre dagegen braucht hier nicht weiter
gedacht zu werden, weil er von kurzer Dauer war und wenig
Analogieen mit der Gegenwart darbietet.
Ich hebe zunächſt das den beiden Kriſen der 20 er und
70 er Jahre Gemeinſame hervor, um dann auf dieſem Hinter-
grunde die weſentlichen Verſchiedenheiten um ſo deutlicher her—
vortreten zu laſſen.
Auch in den 20 er Jahren war auf eine kurze Zeit be—
ginnender Proſperität, wie ſie ſich nach Beſeitigung der Kon—
tinentalſperre, namentlich aber nach Eintritt des Friedens ein—
zuſtellen anfing, eine faſt 20 jährige Notſtandsperiode für den
norddeutſchen Grundbeſitz eingetreten.
Das durch die hohen Getreidezölle Englands bewirkte Stocken
der Getreideausfuhr nach England erzeugte im vorwiegend
agrikolen Norden Deutſchlands ſo niedrige Getreide— a Fleiſch⸗
v. Miaskows ki, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen.
66 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
preiſe, daß der Landwirt bei denſelben nicht beſtehen konnte. Ge⸗
ſteigert wurde dieſe Kalamität dann noch durch eine Reihe ſchlechter
Ernten, die bei der geringen Nachfrage nicht einmal eine
Steigerung der Preiſe zu bewirken vermochten. Dazu kam dann
eine ſtarke, zum Teil noch aus den Kriegszeiten herrührende
Verſchuldung vieler Rittergüter. Wie jetzt, jo trat auch damals
die Kriſis in zahlreichen Sequeſtrationen und Subhaſtationen der
verſchuldeten Güter zu Tage. So waren beiſpielsweiſe von der
ſchleſiſchen Landſchaft im ungünſtigſten Jahr der Napoleoniſchen
Zeit, nämlich im Jahre 1811, nur 100 inkorporierte Güter ſe⸗
queſtriert, während ihre Zahl um Weihnachten 1831 auf 114
jtieg!. Die Grundbeſitzer konnten ihre Steuern nicht bezahlen;
die Getreidehändler wurden bankerott; Handel und Schiffahrt
lagen darnieder und die Armenlaſten nahmen ungeheuere Dimen⸗
ſionen an. Mit den niedrigen Getreidepreiſen ſank auch der
Ertragswert der Güter und mit dieſem ihr Verkehrswert. In
Dithmarſchen z. B. gab der Staat die Hufen, welche er für die
ſchuldig gebliebenen Steuern erworben hatte, fleißigen Knechten
zum Geſchenk hin, um wenigſtens in Zukunft die Steuern nicht
zu verlieren. Für den Bauernſtand war dieſer Zuſtand um ſo
gefährlicher, als er erſt eben aus der Gutsunterthänigkeit entlaſſen
worden war und ſeine Wirtſchaft zum Teil neu einrichten mußte.
In dieſem Zuſtande des Niedergangs, in dem er die frühere
grundherrliche Stütze entbehrte und doch noch nicht auf eigenen
Füßen zu ſtehen vermochte, iſt ein Teil des Bauernſtandes zu
Grunde gegangen und ſein Beſitz den benachbarten Rittergütern
inkorporiert worden.
Als die ſchwächeren Elemente unter den Rittergutsbeſitzern
und Bauern den Kampfplatz geräumt und die übriggebliebenen
ſich in die neuen Verhältniſſe eingelebt hatten, als die Getreide⸗
ausfuhr nach England wieder zuzunehmen anfing und die ſich im
Inlande entwickelnde Induſtrie ſowie die nach den Kriegen raſch
1 v. Görtz, Die Schleſiſche Landſchaft. Ein Kulturbild der Provinz
Schleſien im Hinblick auf ihre Land- und Forſtwirtſchaft. Breslau 1869.
S. 149.
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 67
anwachſende Bevölkerung eine größere Nachfrage nach Boden—
produkten und damit höhere Preiſe für dieſelben erzeugte, begann
dann — ſeit dem Schluß der 30 er Jahre — eine beiſpiellos
günſtige Periode für die deutſche Landwirtſchaft.
Da bei ſteigenden Roherträgen und Preiſen die Produktions-
koſten im ganzen bis zum Anfang der ſiebenziger Jahre ſich nur
wenig veränderten und auch die Lebenshaltung des Bauern bis
dahin weſentlich dieſelbe blieb, ſo mußten die Reinerträge der
Güter und ebenſo ihre Ertragswerte ununterbrochen ſteigen. Daß
dann die Kaufpreiſe die Ertragswerte noch bei weitem überſtiegen,
hatte ſeinen Grund in der Hoffnung auf ununterbrochen ſteigende
Erträge ſowie in der parallel mit dem Anwachſen des beweglichen
Kapitals ſteigenden Nachfrage nach Grundbeſitz. Freilich gegen
den Schluß dieſer Periode beginnen die Produktionskoſten zu
ſteigen und erhöht ſich auch teilweiſe die Lebenshaltung des
Bauern: doch werden dieſe beiden Momente recht wirkſam erſt
in der nächſten Periode, die im ganzen erſt am Anfang der 70er
Jahre beginnt.
Dieſe letzte Kriſis wird eingeleitet durch das Fallen der
Wollpreiſe infolge der auſtraliſchen Konkurrenz; ſie ſetzt ſich
dann in der Verdrängung des deutſchen Getreides vom engliſchen
Markt durch die amerikaniſche und indiſche Einfuhr fort und
ſchließt mit dem Eindringen des unter beſonders günſtigen Be⸗
dingungen produzierten ungarischen, ruſſiſchen und amerikaniſchen
Getreides nach Deutſchland. Ob und in welchem Grade der
Getreideeinfuhr auch die Fleiſcheinfuhr zu folgen vermag, läßt
ſich noch nicht genau überſehen. Genug, die Folgen ſind dieſelben
wie zur Zeit der erſten Kriſis: für einige Getreidearten niedrige
Preiſe, fallende Gutserträge und ein Sinken der Ertrags- und
Verkehrswerte des Grundbeſitzes. Hierauf folgt die wachſende
Verſchuldung desſelben, die Zunahme der Subhaſtationen, der
häufige Wechſel im Beſitz der Rittergüter und die Expropriation
eines Teils des Bauernſtandes !.
Die Lage der Gegenwart erſcheint ſonach bereits ſchlimm
J. Conrad, Die Getreidezölle, in feinen Jahrbüchern Bd. 24.
5 *
68 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
genug, wenn man nur diejenigen Punkte berückſichtigt, in denen
ſie mit der älteren Kriſis übereinſtimmt. Denn wer vermag
heute das Ende der durch die Konkurrenz des Oſtens und Weſtens
eingeleiteten Bewegung abzuſehen?
Noch bedenklicher aber erſcheint die Kriſis der Gegenwart,
wenn man zugleich die ſie von den Zuſtänden der 20 er Jahre
unterſcheidenden Züge ins Auge faßt.
Damals befand man ſich in einem durch die neuere Agrar⸗
geſetzgebung geſchaffenen Übergangszuſtande, doch war zu hoffen,
daß die noch latente Fülle von perſönlicher Energie, Kraft und Um⸗
ſicht für die Landwirtſchaft nutzbar gemacht werden würde, heutzu⸗
tage iſt dieſe Kraft der Landwirtſchaft bereits vielfach zu gute ge⸗
kommen. Aber was einerſeits an größerer Energie und Umſicht für
die Wirtſchaft gewonnen iſt, das dürfte andererſeits zum Teil an
Enthaltſamkeit und Einfachheit der Sitten verloren gegangen
ſein. Damals ſtand zu erwarten, daß die ſich entwickelnde Sn-
duſtrie eine vermehrte Nachfrage nach Bodenprodukten und
damit auch höhere Preiſe erzeugen werde; heute ſtehen höhere
Preiſe für die Bodenprodukte infolge der vermehrten Nachfrage
der Induſtrie bei freiem auswärtigen Getreidehandel wohl kaum
in Ausſicht. Damals hatte man bei der Produktion und dem
Abſatz inländiſcher Produkte nur mit den Kulturſtaaten des weſt⸗
lichen Europa zu rechnen; heute kommen auch die Länder des
öſtlichen Europa und andere Weltteile in Betracht. Damals war
nur der Rittergutsbeſitz verſchuldet, der Bauernſtand dagegen trat
mit einem im ganzen unverſchuldeten Grundbeſitz in die Kriſis
ein, und auch während der Kriſis durfte er denſelben infolge
des Edikts vom 14. Sept. 1811 § 29 und 54 nur bis zu Ya
des Wertes verſchulden (dieſe Beſchränkung wird erſt durch das
Geſetz vom 20. Dezember 1843 beſeitigt); heutzutage tritt der
Bauernſtand bereits zum Teil ſtark verſchuldet mit Reſtkaufgeldern
und Erbanteilen in die Kriſis ein. Und hiermit im engſten Zu⸗
ſammenhange ſteht, daß die Anwendung des allgemeinen Inteſtat—
erbrechts mit feinen Vorſchriften über die Taxation des Nach—
laſſes nach dem Verkehrswert und über die völlig gleiche Be-
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 69
handlung der Geſchwiſter damals noch allgemein durch eine ſtarke
bäuerliche Sitte ausgeſchloſſen wurde, während dieſe Sitte jetzt
vor dem geſchriebenen Recht im Weichen begriffen iſt, ſo daß
dieſes ſeine unheilvolle Wirkung auf Verſchuldung und Grund—
beſitzverſchiebung immer ſtärker zu äußern beginnt!. Das Fehlen
zweckmäßiger Kreditorganiſationen für den Bauernſtand ferner
konnte nicht viel ſchaden in einer Zeit, in der die Benutzung
des bäuerlichen Kredits durch die Geſetzgebung beſchränkt war
und es im Notfall an hülfsbereiten Verwandten, Freunden und
Nachbarn nicht fehlte; heute iſt dieſe Art der Kreditbefriedigung
in der Abnahme begriffen, trotzdem der Kreditbedarf größer ge—
worden und die rechtliche Zuläſſigkeit ſeiner Benutzung nunmehr
unbeſchränkt iſt. In die durch das Fehlen entſprechender
Kreditorganiſationen entſtandene Lücke tritt jetzt der mit
außerordentlichem Raffinement vorgehende Stand der gewerbs—
mäßigen Geldverleiher und Gutsausſchlächter ein, der gleichſam
das Amt des ſtaatlichen Exekutors an ſich zu ziehen weiß:
in den zwanziger und dreißiger Jahren dagegen fehlte dieſe
Klaſſe entweder noch vollſtändig oder dieſelbe begann ihre Thätig—
keit doch erſt in einigen Gegenden, ſo z. B. während der dreißiger
Jahre in den 4 paderborniſchen Kreiſen.
Was folgt nun aus der eben gezogenen Parallele? Meines
Erachtens, daß die gegenwärtige Kriſis nicht allein dem inneren
Heilungsprozeß überlaſſen werden darf, und zwar weil ſie teils
durch Begehungs- teils durch Unterlaſſungsfehler des Staates
nicht unweſentlich mit beſtimmt iſt. Dieſem erwächſt ſomit die
Aufgabe, den freien Bauernſtand, den er zu Anfang dieſes
Jahrhunderts geſchaffen hat, am Schluß desſelben zu erhalten.
Was hat nun aber in dieſer Beziehung zu geſchehen? Mit der
Beantwortung dieſer Frage gelange ich zu dem vierten und letzten
Punkt meines Referats.
1 Von der Wirkſamkeit der neueren Höfegeſetze kann fürs erſte nur
für Hannover und Oldenburg die Rede ſein, weil die Höfegeſetze hier bereits
aus dem Jahre 1873 und 1874 ſtammen, während ein ſolches für Lauen⸗
burg erſt 1881 und für Weſtfalen gar erſt 1882 erlaſſen worden iſt.
70 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
IV.
Waren die Umriſſe des Bildes, das ich aus den Berichten
herzuſtellen ſuchte, wenig deutlich und iſt namentlich die Ent⸗
wickelung in den nächſten Jahren ungewiß, ſo wird ſich hieraus
die Forderung ergeben, daß die Staatsregierung, wie ſie ſchon
bisher der Erforſchung der bäuerlichen Wohlſtands- und Beſitz⸗
verhältniſſe ihre Aufmerkſamkeit gewidmet hat, ſo auch hinfort
ihre auf dieſes Ziel gerichteten Beſtrebungen nicht einſtellen ſoll.
Denn nur wenn wir genau wiſſen, wie es um den Bauern⸗
ſtand in den verſchiedenen Teilen des Landes ſteht, wird es
möglich ſein, das in jedem Fall Zweckmäßige und Erreichbare
anzuordnen und durchzuführen. |
Nun hat die Staatsregierung außer der uns heute be⸗
ſchäftigenden Unterſuchung auch Ermittelungen angeordnet über
die hypothekariſche Verſchuldung des Grundbeſitzes in einzelnen
Amtsbezirken. Sie läßt ferner eine Statiſtik der Subhaſtationen
aufſtellen und benutzt die Reſultate der Gebäudeſteuer⸗Veranla⸗
gung, um aus denſelben die Landwirtſchafts-Einheiten nach be⸗
ſtimmten Größenkategorieen feſtzuſtellen.
Endlich unterſtützt die Staatsregierung den Verein für
Socialpolitik, welcher eine Reihe von Publikationen in Angriff
genommen hat, in welchen die bäuerlichen Zuſtände der verſchie⸗
denen Teile Deutſchlands nach einzelnen Typen von Perſonen,
welche mit den örtlichen Verhältniſſen vertraut ſind, dargeſtellt
werden ſollen.
Das iſt, namentlich wenn man berückſichtigt, daß das In⸗
tereſſe an der Erhaltung des bäuerlichen Grundbeſitzes bei uns
erſt ſeit kurzer Zeit erwacht iſt, ſchon ſehr viel, aber es iſt doch
noch lange nicht genug. Ich möchte daher als dringend wünſchens⸗
wert bezeichnen, daß eine Ausdehnung der fürs erſte nur für
einzelne Amtsbezirke angeordneten Statiſtik der hypothekariſchen
Verſchuldung auf das Gebiet der ganzen Monarchie erfolge.
Zwar würde dieſe Statiſtik kein ganz vollſtändiges Bild der
Verſchuldung des ländlichen Grundbeſitzes geben. Denn einesteils
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Die Lage des Bauernftandes in Preußen. 71
pflegen nicht alle bezahlten hypothekariſchen Schulden gelöſcht
zu werden und andererſeits belaſten den Bauernſtand neben den
hypothekariſchen Schulden noch andere und gewiß ſehr beträcht—
liche rein perſönliche Schulden. Aber trotz dieſer Mängel jeder
Statiſtik über die hypothekariſche Verſchuldung wäre es doch
außerordentlich wichtig, den geſamten Stand der hypothekariſchen
Belaſtung ländlichen Grundbeſitzes in Preußen zu kennen. Die
Ermittelung von Typen mag genügen in Fällen, in denen es
ſich um die individuelle Betrachtung ſehr komplizierter Er—
ſcheinungen handelt, die ſich der generell verfahrenden ſtatiſtiſchen
Aufnahme entziehen: im gegebenen Fall dagegen reicht dieſe
Methode um ſo weniger aus, als es ſich ja gerade um die Er—
mittelung der geſamten hypothekariſchen Belaſtung des
deutſchen Grundbeſitzes handelt und als man ſich bei den Folge—
rungen, die man aus der Verſchuldung der typiſchen Bezirke auf
die Geſamtheit zieht, ſehr leicht irren kann.
Sodann würde ich wünſchen, daß die Zu- und Abnahme
der hypothekariſchen Verſchuldung des ländlichen Grundbeſitzes
fortlaufend Jahr für Jahr aus den Hypothekenbüchern ausge—
zogen und für die verſchiedenen Beſitzkategorieen mit Unterſcheidung
der einzelnen Verſchuldungsurſachen zuſammengeſtellt werde. Die
Ausfüllung der betreffenden Formulare, welche mit der Eintragung
in die Hypothekenbücher und der Löſchung aus denſelben Hand
in Hand zu gehen hätte und durch die betreffenden Hypotheken-
beamten vorzunehmen wäre, kann unmöglich viel Zeit bean-
ſpruchen !.
Ferner erſcheint mir eine reichere Gliederung der Sub—
haſtationsſtatiſtik etwa nach Art der für das Jahr 1880 vorge—
nommenen bayeriſchen Aufnahme wünſchenswert.
1 Über die für Frankreich und Öfterreich vorliegende Statiſtik der
hypothekariſchen Belaſtung des Grundbeſitzes ſ. L. v. Stein, Die drei
Fragen des Grundbeſitzes und ſeiner Zukunft. Stuttgart 1881. S. 196 ff.
v. Inama⸗Sternegg, Die Statiſtik des Grundeigentums und die ſo⸗
ciale Frage, in der öſterreichiſchen ſtatiſtiſchen Monatsſchrift Jahrg. VIII
Heft IV.
72 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
Endlich würde ich großen Wert darauf legen, daß die zur
Klarſtellung der Lage des Bauernſtandes in Preußen für not⸗
wendig gehaltenen Ermittelungen auch in den übrigen deutſchen
Staaten — womöglich zu gleicher Zeit — vorgenommen werden.
Es könnte die Königl. Preußiſche Staatsregierung vielleicht ein
ſolches gemeinſames Vorgehen ihrerſeits bei den betreffenden
Miniſterien der übrigen Staaten anregen.
Damit wäre dann der feſte Rahmen gegeben, der durch die
individuelle Beſchreibung einzelner typiſcher Bezirke zweckmäßig
ausgefüllt werden könnte, und zugleich ein allgemeiner Maßſtab
für das Urteil feſtgeſtellt, ohne den typiſche Einzeldarſtellungen
leicht verwirrend wirken können.
Zugleich bin ich aber nicht der Anſicht, daß der Staat mit
ſeinen etwaigen zur Erhaltung des Bauernſtandes in Angriff zu
nehmenden Maßnahmen zu warten hätte, bis eine vollſtändig
ſichere Grundlage für die Beurteilung der beſtehenden bäuerlichen
Wohlſtands- und Beſitzverhältniſſe gewonnen wäre.
Denn ſoweit ſind dieſe denn doch im allgemeinen klar
geſtellt, daß man wenigſtens weiß, wo die Hebel anzuſetzen ſind.
Soll nun etwa unſere heutige auf der Freiheit des Indivi⸗
duums und ſeines Beſitzes ruhende Agrarverfaſſung weſentlich
abgeändert und zur Wiedereinführung einer den einzelnen bin⸗
denden Geſamtordnung, wie ſie früheren Jahrhunderten eigen
war, zurückgekehrt werden?
Auf etwas Ähnliches läuft der neueſte Vorſchlag des geiſt⸗
vollen Lorenz v. Stein! hinaus, der einerſeits den Dualis⸗
mus von geſchloſſenen Hufen und walzenden Grundſtücken, wie
er ſich noch gegenwärtig im Königreich und in der Provinz
Sachſen ſowie in einigen thüringiſchen Ländern faktiſch vorfindet,
zu einem allgemeinen, durch die Rechtsordnung garantierten
machen will und der andererſeits das Individualeigentum an
einem Teil des Bodens zugleich in eine Art Kollektiveigentum
1 L. v. Stein, Bauerngut und Hufenrecht. Gutachten, erſtattet an
die K. K. Miniſterien des Ackerbaues und der Juſtiz. Stuttgart 1882. Ferner:
Die drei Fragen des Grundbeſitzes und ſeiner Zukunft. Stuttgart 1881.
*
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Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 73
und die Individualwirtſchaft in eine Kollektivwirtſchaft um—
wandeln möchte.
Oder ſoll etwa nach den Vorſchlägen des Freiherrn v.
Vogelſang eine durch Geſetz dekretierte Schließung der Hypo—
thekenbücher des ländlichen Grundbeſitzes und eine ſyſtematiſch
geordnete Hypothekenablöſung durch eine ſtaatliche Hypotheken—
Ablöſungskaſſe eintreten !?
Oder ſoll durch Übertragung der amerikaniſchen homestead
laws, wie man ſie bei uns bisher aufgefaßt hat, auf deutſchen
Boden der Bauer vor dem Verdrängtwerden von ſeiner Scholle
dadurch geſchützt werden, daß von Geſetzes wegen für einen Minimal-
grundbeſitz eine Einrichtung geſchaffen werde, die dem kraft letzt—
williger Verfügung beſtehenden Familienfideikommiß nicht un-
ähnlich ſehen würde?
Ich möchte dieſe Fragen fürs erſte verneinen.
Denn iſt auch die Lage eines Teiles unſeres Bauernſtandes
eine wenig befriedigende, ſo iſt ſie doch noch lange nicht ſo
verzweifelt, daß radikale Umwälzungen der beſtehenden Agrar—
verfaſſung, wie die vorgeſchlagenen, notwendig oder auch nur
wünſchenswert wären.
Auch darf wohl erwähnt werden, daß die Vorſchläge
L. v. Steins und v. Vogelſangs nicht auf deutſchem,
ſondern auf öſterreichiſchem Boden erwachſen ſind. Hier aber
ſcheinen die Zuſtände der bäuerlichen Grundbeſitzer nach den aus
dem letzten Jahrzehnt zur allgemeinen Kenntnis gelangten
Zahlen über die Zunahme der Verſchuldung, über die ſteigende
Zahl der Zwangsvollſtreckungen und über die dabei erlittenen
Kapitalverluſte allerdings viel ſchlimmer zu ſein als bei uns.
Aber wenn ich die obigen radikalen Vorſchläge fürs erſte
1 Freiherr von Vogelſang, Die Grundbelaſtung und Entlaſtung.
Wien 1879. Derſelbe, Die Notwendigkeit einer neuen Grundentlaſtung.
Wien 1880. Derſelbe, Die ſocialpolitiſche Bedeutung der hypothekariſchen
Grundbelaſtung. Wien 1881. Neubelaſtung des Grundbeſitzes in elf Jahren
und Vorſchlag zur Schuldentlaſtung, im Wiener Vaterland 1882 No. 218
und 224.
74 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
verwerfe, ſo bin ich doch von der Notwendigkeit überzeugt, daß
die ohne Verletzung der Fundamentalſätze unſerer beſtehenden
Agrarverfaſſung gegebenen Mittel zur Erhaltung unſeres Bau⸗
ernſtandes um ſo ſchleuniger, umfaſſender und energiſcher in
Angriff genommen werden ſollen.
Denn wenn mir auch die Vorſchläge zu einem weitgehenden
Eingreifen des Staats in die beſtehende Ordnung der Dinge in der
Gegenwart nicht genügend begründet erſcheinen, ſo muß ich mich
noch viel entſchiedener gegen diejenigen wenden, welche die gegen⸗
wärtige Kriſis lediglich aus dem Geſichtspunkt individueller Schuld
und Sühne behandeln. Weil, ſo wird nicht ſelten geltend ge⸗
macht, die Kriſis weſentlich dadurch bedingt iſt, daß der ländliche
Grundbeſitz von ſeinen jetzigen Beſitzern zu ſo hohen Preiſen ge⸗
kauft oder im Erbgange übernommen worden iſt, wie ſie ſchon
damals den Erträgen nicht entſprachen und noch weniger heute
entſprechen, ſo iſt auch eine Beſſerung in der Lage des Grund⸗
beſitzes lediglich dadurch zu erzielen, daß der Wert desſelben ſich
wieder au niveau der gegenwärtigen Erträge ſetze.
Als ob es denn eine ſo kleine Sache iſt, wenn ein ganzer
Stand und gerade derjenige Stand, der mit den feſteſten Banden
an das Vaterland geknüpft iſt, Millionen und Milliarden ſeines
Vermögens plötzlich in die Erde verſinken ſieht? Als ob eine
ſolche Expropriation ſich überhaupt vollziehen läßt, ohne daß zahl⸗
loſe Exiſtenzen und zwar die ſchwächeren, d. h. die am meiſten
verſchuldeten, dadurch ruiniert würden? Und wenn nun gar
dieſe von dem Verluſt ihrer ganzen Habe und damit ihrer ſocialen
Stellung bedrohten Perſonen einen weſentlichen Teil derjenigen
Klaſſe bilden, die der Staat von jeher als ſeine Hauptſtütze im
Krieg und Frieden angeſehen hat? Und wenn damit zugleich
die Baſis dieſer Klaſſe, die bäuerliche Hufe, auseinanderbricht,
ſo daß keine Kunſt des Politikers ſie ſpäter wieder herſtellen
kann? Kann denn überhaupt von einer individuellen Schuld
derjenigen geſprochen werden, die in Zeiten ſteigender Guts⸗
erträge im Vergleich zu der ſpäter eintretenden Kriſis zu hohe
Kaufpreiſe für ihren Grundbeſitz gezahlt haben, oder waren dieſe
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 75
5 nicht vielmehr die Folge allgemeiner Konjunkturen? Mir ſcheint,
daß der Staat ſich der Pflicht, einer ganzen Klaſſe, die durch
eine für ſie unglückliche Verkettung von Umſtänden in die gegen—
wärtige kritiſche Lage gekommen iſt, die hülfreiche Hand zu bieten,
nicht entſchlagen darf. Und zwar dies um ſo weniger, als
derſelbe durch Erhaltung des Grundbeſitzerſtandes nur einen Akt
der Selbſterhaltung ausübt und als er durch ſein eigenes Ver—
halten nicht unweſentlich zur Verſchärfung der gegenwärtigen
Kriſis beigetragen hat.
Daß er dabei das durch die Geſamtlage bedingte Herab—
gehen des Grundwertes nicht vollſtändig aufhalten kann, iſt jelbit-
verſtändlich; nur darauf kann und ſoll er hinwirken, daß der
Prozeß ſich möglichſt langſam und ſchmerzlos für die durch den—
ſelben Betroffenen vollziehe und daß die gegenwärtigen Grund—
beſitzer und unter dieſen wieder namentlich die Bauern als Stand
möglichſt in ihrem Beſitz erhalten werden.
Iſt der Anſtoß zur gegenwärtigen Kriſis durch die Kon—
kurrenz unſerer Produktion mit derjenigen von Ländern, die unter
beſonders günſtigen Produktionsbedingungen wirtſchaften, gegeben,
ſo liegt die Frage ſehr nahe, ob dieſe Konkurrenz für uns nicht
durch Maßregeln der Zollgeſetzgebung beſeitigt werden könnte.
Auf dieſe Frage möchte ich hier aber nur ungern eingehen, da
die landwirtſchaftlichen Zölle inſofern mit den gewerblichen Zöllen
aufs engſte zuſammenhängen, als die erſteren ohne die letzteren
nicht möglich ſind, die Behandlung der ganzen Zollfrage mich
aber zu weit führen würde. Nur ſoviel erlaube ich mir zu be—
merken, daß wenn es richtig iſt, was von kompetenter Seite
neulich angeführt wurde“, daß nämlich ein wirkſamer Schutz
des deutſchen Weizenbaues auf den am ungünftigiten ſituierten
Grundſtücken gegenüber denjenigen Preiſen, welche durch die
Produktionskoſten der fi) in günftigfter Lage befindenden Land⸗
1 A. Meitzen, Die Individualwirtſchaft der Germanen und die
drohende Kapitalkriſis unſeres Grundbeſitzes, in Conrads Jahrbüchern
N. F. Bd. VI Heft 1 u. 2 S. 20 ff.
76 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
wirte des amerikaniſchen Weſtens beſtimmt ſind, nur durch einen
Zoll von 8 Mark pro 100 kg zu ermöglichen iſt, — an einen
ſolchen oder überhaupt einen erheblich höheren Zoll, als wir ihn
gegenwärtig beſitzen, nur gedacht werden könnte, wenn die mittel⸗
europäiſchen Staaten ſich zu einem gemeinſchaftlichen Zollverbande
zuſammenſchließen würden.
Doch ſind in den obigen Zahlen nur zwei Extreme ins Auge
gefaßt. Sofern daher weniger günſtig ſituierte amerikaniſche
Konkurrenten und unter vorteilhafteren Bedingungen wirtſchaftende
Landwirte bei uns in Frage kommen, dürfte die durch die über⸗
ſeeiſche Konkurrenz drohende Gefahr weniger groß und die Aus⸗
ſicht auf ihre Beſiegung nicht ganz hoffnungslos ſein. Doch ge⸗
hört dieſe Frage ja noch immer zu den beſtrittenſten, und unſere
Staatsregierung hat ſich neuerdings dadurch einen neuen An⸗
ſpruch auf den Dank der Landwirte erworben, daß ſie dem
Studium derſelben ihre volle Aufmerkſamkeit widmet.
Wie aber auch die Entſcheidung in der Konkurrenzfrage
ausfallen möge, ſo wird der Blick unſerer Landwirte in jedem
Fall darauf gerichtet ſein müſſen, ihre Produkte zu den möglichſt
geringen Koſten hervorzubringen. Dabei werden ſie ſich zugleich
in höherem Grade, als dies bisher geſchehen iſt, denjenigen Kul⸗
turen zuzuwenden haben, deren Produkte gegenwärtig die relativ
höchſten Preiſe aufweiſen.
Daß namentlich der Viehzucht und Verarbeitung animaliſcher
Produkte ſowie dem Gemüſe⸗, Handelsgewächs- und Obſtbau
größere Aufmerkſamkeit geſchenkt werden muß, gilt heutzutage
für eine Binſenwahrheit.
Bei dieſer Gelegenheit mag es übrigens nicht unangemeſſen
ſein, auch einmal daran zu erinnern, daß die Grenzen, bis zu
welchen der Getreidebau durch die Mehrerzeugung von Futter⸗
kräutern, Gemüſe und Handelsgewächſen eingeſchränkt werden kann,
ſehr enge ſind. Denn bereits die Inanſpruchnahme von weiteren
4 Prozent der gegebenen Ackerfläche des Deutſchen Reichs zum
Anbau von Futterpflanzen würde ausreichen, um den gegen⸗
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 77
wourtig 50 Pfd. pro Kopf der Bevölkerung betragenden Fleiſch⸗
konſum um weitere 10 Pfd. pro Kopf zu vermehren. Eine noch
höherezFleiſchproduktion würde aber aller Wahrſcheinlichkeit nach
die Fleiſchpreiſe bedeutend ſinken und damit die Viehzucht un—
rentabel machen. Und wollte man nur 1 Prozent der Acker—
fläche des Deutſchen Reichs mehr als bisher mit Handels—
gewächſen und Gemüſe anbauen, ſo würden damit dieſer Kultur
ſchon neue 287 000 ha zugewieſen werden. Es blieben ſomit
von den 50,2 Prozent der deutſchen Ackerfläche, auf denen gegen—
wärtig Getreide gebaut wird, nach Abzug der obigen beiden
anderen Verwendungen noch immer über 45 Prozent übrig.
Sonach wird die Lage des Grundbeſitzes in Zukunft wohl
weſentlich mit davon abhängen, ob und inwieweit es gelingen
mag, die Koſten der Getreideproduktion weſentlich niedriger zu
ſtellen oder, was ja auf dasſelbe herauskommt, bei gleichbleibenden
Koſten den Ertrag bedeutend zu ſteigern. Bedeutet doch ein
durchſchnittlicher Mehrertrag von einem Scheffel Weizen pro
Morgen für die deutſchen Landwirte einen jährlichen Mehrgewinn
von 300 Mill. Mark.
Alſo hier wird der Hebel anzuſetzen ſein, und daß auf dem
Gebiete der landwirtſchaftlichen Technik noch große Verbeſſerungen
möglich ſind, davon muß man ſich unwillkürlich überzeugen,
wenn man einen hervorragenden Kenner der deutſchen Landwirt-
ſchaft! anführen hört, daß unſerem Getreidebau noch lange nicht
diejenige Sorgfalt gewidmet wird, deſſen er fähig iſt. Wenn
beiſpielsweiſe die verſchiedenen Weizenvarietäten ſich in ihren
Körnererträgen wie 7 zu 19 und in ihren Stroherträgen wie 21
zu 25 ſtellen, ſo müſſen noch ſehr große Steigerungen der Ge—
treideerträge durch Anpaſſung der auf den verſchiedenen Boden—
arten am beſten gedeihenden Getreidevarietäten an dieſelben
E | ſowie überhaupt durch individuellere Behandlung der Landwirt—
1 Drechsler, Die Steigerung des Reinertrages durch den Getreide—
bau. Vortrag, gehalten in der Sitzung des landwirtſchaftlichen Vereins
der goldenen Aue am 14. März 1882 zu Nordhauſen.
78 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
ſchaft möglich ſein. So wird denn die Verbeſſerung der Zu⸗
ſtände des Grundbeſitzes in erſter Linie von den Grundbeſitzern
und Landwirten ſelbſt abhängen: von ihren Kenntniſſen und ihrem
Überblick, ihrem Fleiß und ihrer Ausdauer.
Wenn ferner Semler als Charakteriſtikum unſeres Bauern⸗
ſtandes die große Unbeweglichkeit und geringe Anſtelligkeit
desſelben anführt und wenn er den Hauptgrund hierfür in der
weiten ſocialen Kluft findet, die denſelben von ſeinen höher ge⸗
bildeten Berufsgenoſſen trennt“, jo wird dem Bauern nicht anders
zu helfen ſein, als daß er in Zukunft dem größeren Landwirt
näher rückt. In den landwirtſchaftlichen Vereinen wäre nun ein
ſolcher Vereinigungs- und Ausgleichungspunkt gegeben: von
denſelben halten ſich die Bauern vieler Gegenden aber noch immer
fern. So wird denn wohl der größere Landwirt den Bauer
aufſuchen müſſen, wozu ſich in den neu entſtehenden Bauern⸗
vereinen eine paſſende Gelegenheit finden würde. Die gemein⸗
ſame Arbeit und der vereinte Kampf für dieſelben Intereſſen des
Grundbeſitzes wird dann vielleicht auch den Bauer über ſich
ſelbſt hinausheben und ihn ſeinem rührigeren größeren Nachbar
allmählich annähern.
Daß die landwirtſchaftlichen Vereine und Schulen ihre
ſegensreiche Arbeit auf dem Gebiet der landwirtſchaftlichen Tech-
nik dabei nicht nur nicht vermindern, ſondern angeſichts der Ge⸗
fahr der Lage womöglich noch verdoppeln ſollen, verſteht ſich von
ſelbſt. Auch wird der große Grundbeſitz nach wie vor die Be⸗
deutung einer Verſuchsſtation für den mittleren und kleinen
Grundbeſitz haben.
Indes hilft alles Können und Wollen des Bauern doch nur
wenig, wo das wirtſchaftliche Fortſchreiten desſelben durch faktiſche
Hemmniſſe der Grundbeſitzverteilung und namentlich durch die zu
weit gehende Parzellierung gehindert iſt. Es wird daher nichts
anderes übrigbleiben, als nach geſchehener Durchführung der
Konſolidation nach naſſauiſchem Muſter auch in der Rhein⸗
1 Semler a. a O. S. 97 ff.
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Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 79
provinz, in Hohenzollern ꝛc. die weitere Verkleinerung der einzelnen
Parzellen unter ein beſtimmtes Minimum herab nach naſſauiſchem,
heſſen⸗darmſtädtiſchem, thüringiſchem und badiſchem Beiſpiele
zu verbieten. Auch wäre wohl zu erwägen, ob nicht an die
Wiederbelebung einer geſetzlichen Beſtimmung gedacht werden
könnte, wie ſie in dem Landdiſtrikt der Republik Florenz im
XV. Jahrhundert aus der zu weit getriebenen Parzellierung des
Grundbeſitzes entſprungen war. Dieſelbe beſtand darin, daß die
Beſitzer unbebauter Grundſtücke, deren Wert 1— 200 Lire nicht
überſtieg, zum Verkauf derſelben an den Beſitzer der benachbarten
Grundſtücke gezwungen waren, falls dieſer ihn verlangte und ſein
Grundbeſitz das zu expropriierende Grundſtück von 2 bis 3 Seiten
einſchloß. Es lag dieſer Beſtimmung augenſcheinlich die Abſicht
der Regierung zu Grunde, aus den in der Feldmark zerſtreut
liegenden Parzellen größere abgerundete Güter zu ſchaffen,
welche eine Familie zu ernähren und die öffentlichen Laſten zu tragen
im ſtande wären 1.
Auch in einem anderen Punkt würde ich den Bauernſtand
— aber nicht nur ihn — einem Zwange unterwerfen. In
einigen Berichten nämlich wird konſtatiert, daß der Bauer nur
ſelten aus freier Initiative ſeine Gebäude und ſein Inventar
gegen Feuersgefahr und die Frucht ſeiner Felder gegen Hagel—
ſchaden zu verſichern pflegt. Trifft ihn dann das Unglück, ſo
kann hierin der Keim zu ſeiner Verſchuldung und ſeinem Ruin
enthalten ſein. Hier wünſchte ich nun, daß an die Beſtimmungen
des Geſetzes vom 12. März 1881 — welches die Viehbeſitzer
zur Zwangsverſicherung ihres Viehes veranlaßt für den Fall,
daß dasſelbe infolge des Befallenwerdens von beſtimmten Seuchen
polizeilicher Tötung unterworfen werden ſollte — angeknüpft
würde, um auch die Verſicherung gegen Feuersgefahr und Hagel—
ſchäden obligatoriſch zu machen. Durch einen ſolchen Zwang
würde eine nicht unbedeutende Quelle der Verſchuldung ver—
ſtopft werden.
1 Pöhlmann, Die Wirtſchaftspolitik der Florentiner Renaiſſance.
Leipzig 1879. S. 12.
80 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
Je mehr ferner der bäuerliche Haushalt noch immer in der
Naturalwirtſchaft ſteckt, deſto ſchwieriger wird es ſein, das zum
Lebensunterhalt Verbrauchte von den eigentlichen Produktions⸗
koſten auszuſcheiden. Die Folge dieſer geringen Überſichtlichkeit
iſt nicht ſelten ein großer Mangel an haushälteriſchem Sinn,
ſoweit es ſich wenigſtens um die Verwendung des auf der
eigenen Scholle Produzierten handelt. Dazu hat ſich infolge
der für den Landwirt günſtigen Periode (von Mitte der 40er bis
zum Schluſſe der 60 er Jahre) hier und da eine den jetzigen Ver⸗
hältniſſen nicht mehr entſprechende allzu üppige Lebenshaltung
eingeſtellt. Dieſe plötzlich herunterzuſchrauben iſt namentlich in
einer bäuerlichen Wirtſchaft außerordentlich ſchwierig. Widerſpricht
dem ſchon der konſervative Charakter des Bauern, ſo machen
noch die Rückſichten auf die an der Lebenshaltung der Bauern⸗
familie teilnehmenden und größtenteils ſehr prätentiös gewordenen
Knechte und Mägde ſolches beſonders ſchwierig.
Und doch verlangt die Kriſis der Gegenwart eine Rückkehr
zu größerer Einfachheit und Mäßigkeit, wie die Kriſis der 20 er
Jahre ſie ebenfalls gebracht hat.
Wird dieſe Veränderung auch nicht anders als von innen
heraus infolge der harten unerbittlichen Notwendigkeit bewirkt
werden, ſo kann ſie der Staat doch befördern durch Einſchränkung
des Hauſierhandels mit Branntwein und durch Verminderung der
Schänken, deren Einfluß namentlich in den Zeiten des bäuerlichen
Niedergangs von vielen Vereinen als ſehr verderblich bezeichnet
wird.
Auch müßte der Verbildung der Bauerntöchter in ſtädtiſchen
Penſionaten nach Möglichkeit geſteuert und in Gegenden, in
denen die Hausfrauen zur Führung des Haushalts nicht ge—
ſchickt genug ſind, für eine beſſere Unterweiſung ihrer Töchter
Sorge getragen werden. Auf dieſem Gebiete erwachſen den
Bauernvereinen ſchöne Aufgaben.
Was ſodann die ſonſtigen hohen Produktionskoſten der
bäuerlichen Wirtſchaft betrifft, ſo dürfte es ſehr ſchwierig, wenn
nicht überhaupt unmöglich ſein, den gegenwärtigen Stand der
9 9 * 9 * „ e >
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 81
landwirtſchaftlichen Arbeitslöhne herabzudrücken, ſolange der
Verdienſt in den Städten und Fabrikdiſtrikten ein bedeutender
iſt. Und vom ſocialpolitiſchen Standpunkte iſt die ſeit einem
Jahrzehnt ſich vollziehende Nivellierung der Löhne ja eine erfreuliche
Thatſache. Zu bedauern bleibt nur, daß die Leiſtungen den Lohn—
erhöhungen nicht parallel gegangen ſind, ſondern daß im Gegen—
teil — wie aus mehreren Gegenden berichtet wird — die
Leiſtungen des Arbeiters geringer und ſeine ganze Haltung un—
zuverläſſiger geworden iſt. Da der Geldlohn nicht weſentlich
herabgedrückt werden kann, ſo müßte wenigſtens dahin gewirkt
werden, daß der Gebrauchswert der Arbeit entſprechend ſteige.
Eine Beſſerung der ländlichen Arbeiterverhältniſſe hat eine
Neugeſtaltung der Gemeindeverhältniſſe im Oſten der Monarchie
zur Vorausſetzung.
Diejenigen Gebiete, auf denen der Staat im Intereſſe des
bäuerlichen Grundbeſitzes am wirkſamſten thätig ſein kann, be—
treffen außer der Gemeindegeſetzgebung die Steuer-, Erbrechts—
und Gewerbegeſetzgebung ſowie die Organiſation des landwirt—
ſchaftlichen Kredits und die Domänenverwaltung.
Da der Bauer namentlich durch die Kommunalſteuer un—
verhältnismäßig hart betroffen wird, ſo gilt es hier Wandel zu
ſchaffen durch eine beſſere Verteilung der Laſten zwiſchen Staat
und Kommunalverband und durch Einführung eines zweck—
mäßigeren Syſtems von Kommunalſteuern. Auch dieſe Reform
iſt meines Erachtens ohne vorhergehende Anbahnung geſunder
Gemeindeverhältniſſe und ohne Reform der Armen- und Schul-
geſetzgebung nicht durchzuführen. Ein näheres Eingehen auf dieſen
Punkt iſt jedoch an dieſer Stelle unmöglich. Ich will mich daher
darauf beſchränken, die Dringlichkeit dieſer Reformen durch die
Rückſicht auf den bäuerlichen Notſtand noch beſonders zu
betonen.
Wenn oben konſtatiert wurde, daß der im ererbten Familien⸗
beſitz ſich erhaltende Bauer durchſchnittlich weniger verſchuldet
iſt und demnach auch der Gefahr, von Haus und Hof verdrängt
zu werden, weniger unterliegt als derjenige Bauer, der ſeinen
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 6
82 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
Grundbeſitz gekauft hat, ſo folgt daraus, daß alles gethan werden
muß, um dem Bauerngute den Charakter des Familienbeſitzes
zu bewahren. Dies hängt nun freilich in erſter Linie von der
Stärke des Familienſinnes ab, und auf dieſen kann der Staat
wenn überhaupt, ſo nur auf indirektem Wege durch die Schule
u. ſ. w. einwirken. Aber dieſer Familienſinn bedarf doch einer
feſten Stütze, an der er ſich aufrichten und erhalten kann, wie
die Rebe am Baume. Eine ſolche Stütze nun kann für den Fa⸗
milienſinn das geltende Erbrecht ſein, ſofern es den vorhandenen
Bedürfniſſen des Grundbeſitzes und den im Volk lebenden In⸗
ſtinkten Rechnung trägt. Leider hat ein ſolches dem preußiſchen
Bauernſtande ſeit ſeiner Emancipation gefehlt; denn das geltende
gemeine und preußiſche Inteſtaterbrecht hat nicht ſtützend, ſondern
zerſetzend auf den Familienſinn des Bauernſtandes eingewirkt.
Bisher freilich hat eine ſich als Überbleibſel einer älteren Rechts⸗
ordnung darſtellende Verehrungsſitte die Anwendung des all⸗
gemeinen Erbrechts wirkſam paralyſiert. Doch hat dieſe Sitte
— ich meine namentlich die in den öſtlichen Provinzen ſo ſehr
verbreitete Übung der Gutsübergabe- oder Altenteilverträge —
auch ihre ſehr nachteiligen Seiten, wie namentlich der Poſener
Bericht beweiſt. Der Verluſt der Arbeit des ſich bereits mit
50, ja bisweilen ſogar ſchon mit 40 Jahren auf den Altenteil
ſetzenden Bauern, die Überlaſtung des Gutsübernehmers mit
großen Abfindungen, die Vergiftung der Beziehungen zwiſchen
Eltern und Kindern und häufige Prozeſſe zwiſchen denſelben ſind
der hohe Preis für die Erhaltung des bäuerlichen Grundbeſitzes
in der Familie durch das Mittel der Übergabeverträge.
Zugleich pflegt in dem ungleichen Kampfe zwiſchen dem geſchrie⸗
benen Recht und der Sitte die letztere mit der Zeit dem erſteren
naturnotwendig zu weichen, wie der eiſerne Topf beim Zuſammen⸗
ſtoß mit dem irdenen dieſen unfehlbar in Scherben ſchlägt. Daß
die alte Vererbungsſitte denn auch in der That in der Abnahme
begriffen iſt, wird von mehr als einem Bericht beſtätigt. Die
durch keine Sitte mehr zurückgehaltene Anwendung des allge⸗
meinen Erbrechts auf den ländlichen Grundbeſitz muß aber mit
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 83
Notwendigkeit entweder zu unwirtſchaftlicher Zerſtückelung oder
zur Überſchuldung und indirekt ebenfalls wieder zur Zer—
ſtückelung oder zur Aufſaugung des bäuerlichen Grundbeſitzes
durch das Geldkapital bezw. den großen Grundbeſitz führen.
Damit iſt aber zugleich die wichtigſte Urſache für den Unter-
gang unſeres Bauernſtandes gegeben, die um ſo ſtärker wirken
muß, je weniger der Bauernſtand im Vergleich mit dem größeren
Gutsbeſitz, welcher noch immer zum Teil nach Lehn- und Stamm⸗
guts⸗ ſowie nach Fideikommißgutserbfolge vererbt wird, ge—
ſchützt iſt.
Eine Beſeitigung dieſer in letzter Inſtanz wichtigſten Ver⸗
ſchuldungsurſache des bäuerlichen Grundbeſitzes kann nur durch
eine Reform des Inteſtaterbrechts bewirkt werden. Dieſe aber
muß darin beſtehen, daß der Bauernhof vom Geſetz als das be—
handelt wird, was er in Wirklichkeit iſt, nämlich als eine Ein-
heit. Derſelbe ſollte daher nach dem Geſetz ungeteilt nur einem
Erben deferiert werden, ſo daß die ſämtlichen Geſchwiſter nur
in den Wert des Gutes zu ſuccedieren haben. Und ſodann ſollte
die Auseinanderſetzung zwiſchen dem das Gut antretenden An-
erben und ſeinen Geſchwiſtern auf Grund des Ertrags- und
nicht des Verkehrswertes ſtattfinden. Denn nur die Anwendung
jenes bei der Taxation des nachgelaſſenen Guts ermöglicht die
Erhaltung desſelben in der Familie; die Anwendung dieſes,
nämlich des Verkehrswertes, drängt dasſelbe dagegen naturnot=
wendig aus der Familie heraus oder führt doch allmählich zur
Verkümmerung der Vermögensverhältniſſe der Familie. Erhielte
ein ſolches der Natur des Grundbeſitzes angepaßtes Inteſtat—
erbrecht nur ſubſidiäre Bedeutung, ſo daß es dem Beſitzer un—
benommen bliebe, auch anders frei über ſein Gut zu verfügen,
— wobei übrigens die durch das geltende Pflichtteilsrecht gezo—
genen Schranken erweitert werden müßten — ſo ließe ſich
gegen dasſelbe auch vom Standpunkt der gegenwärtig gel-
tenden Agrarverfaſſung nichts einwenden. Ja im Gegenteil, ein
ſolches Erbrecht dürfte der auf dem Prinzip der Freiheit ruhenden
und die Arrondierung des Grundbeſitzes anſtrebenden Agrarver—
6 *
84 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
faſſung der Gegenwart beſſer entſprechen als das gegenwärtig
geltende gemeine Erbrecht. Freilich wird man ein ſolches An⸗
erbenrecht nur dort einführen dürfen, wo die notwendige Voraus⸗
ſetzung desſelben — ein entſprechender auf die Erhaltung der
Grundbeſitzeinheiten gerichteter Familienſinn — vorhanden iſt.
Es ſcheint nun der Boden für die Einführung des Anerbenrechts
überall dort gegeben zu ſein, wo ſich der Trieb und die Sitte,
den Grundbeſitz in irgend welcher Form, secundum, praeter oder
ſelbſt contra legem, in der Familie zu erhalten, vorfindet.
Zu dieſen Formen gehören auch die in den ſechs öſtlichen
Provinzen allgemein verbreiteten Altenteilsverträge. Es gilt
daher, für die denſelben zu Grunde liegende Intention, im
Inteſtaterbrecht, das ja auch nur den präſumtiven Willen des
Erblaſſers ausſprechen ſoll, eine andere Form zu finden, durch
die zugleich die den Übergabeverträgen anhaftenden Mängel
beſeitigt werden. Ob die Grenzziehung zwiſchen denjenigen
Landesteilen, für welche das Anerbenrecht einzuführen, und
denjenigen, für welche das allgemeine Erbrecht beizubehalten
ſein wird, beſſer durch die Reichs- oder Landesgeſetzgebung
erfolgen ſoll, mag einſtweilen eine offene Frage bleiben.
Da auch hier Gefahr im Verzuge iſt und der Weg der
Landesgeſetzgebung für einzelne Provinzen bereits beſchritten iſt,
das Reichs⸗Civilgeſetzbuch aber noch in weitem Felde ſteht, jo
würde ich mich im Augenblick für den Erlaß von Landes- und
Provinzialgeſetzen entſcheiden, ſo jedoch, daß auch innerhalb der
einzelnen Provinz weitere Unterſcheidungen möglich blieben und
daß der Frage der ſchließlichen Regelung des Erbrechts für den
land- und forſtwirtſchaftlich benutzten Boden im deutſchen Civil⸗
geſetzbuch dadurch nicht präjudiziert würde. Daß das Syſtem
der hannoverſchen Höferolle — bei der großen Abneigung des
Bauernſtandes vor letztwilligen Verfügungen — nicht aus⸗
reicht, ſcheint mir nach den bisherigen Erfahrungen unzweifelhaft
zu fein. Denn die hannoverſchen Verhältniſſe, auf die man ſich
ſeitens der Vertreter des Syſtems der Höferolle gern beruft, ſind
ſo exceptioneller Natur, daß die hier erfolgte Eintragung von
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 85
ca. 60 Prozent der Höfe für den Umfang, in dem die Höferolle
in anderen Provinzen benutzt werden wird, nichts beweiſt. Auch
beruht dieſe Angabe nicht auf einer genau durchgeführten Sta—
tiſtik, und in mehreren der Berichte wird darüber geklagt, daß
die Höfe ſelbſt in Hannover in großem Umfange nicht einge—
tragen ſind. In Oldenburg dagegen, wo allein eine genügende
Statiſtik der eingetragenen Grunderbſtellen beſteht, waren im
Jahre 1880 erſt etwas über 25 Prozent ſämtlicher behauſter
landwirtſchaftlicher Privatbeſitzungen dem Grunderbrecht unter—
ſtellt worden !.
Dasſelbe Ziel einer Verhütung der Überſchuldung des
bäuerlichen Grundbeſitzes müßte auch durch eine entſprechende
Organiſation des Kredits angeſtrebt werden.
Allem zuvor möchte ich hier feſtſtellen, daß, ſo hoch ich auch
Rodbertus' theoretiſche Verdienſte ſtelle, ich doch kein Freund
ſeines praktiſchen Vorſchlags: die Kapitalſchulden in Renten-
ſchulden umzuwandeln, bin, ſofern er nämlich mehr beſagen will,
als daß die Friſten für den Kredit der Landwirte den Betriebs:
perioden der Landwirtſchaft und der für den Landwirt beſtehenden
Schwierigkeit, ſein Kapital flüſſig zu machen, angepaßt werden
ſollen. Übrigens ſind ſelbſt die eifrigſten Anhänger dieſes Vor⸗
ſchlages angeſichts der ſinkenden Grundrente und zugleich des
fallenden Zinsfußes vor der Umwandlung der Kapital- in
Rentenſchulden kopfſcheu geworden. Mit den langen Terminen
der Grundſchulden muß meines Erachtens vielmehr der Amorti—
ſationszwang verbunden werden.
Wird der Individual-Kredit in der Gegenwart immer ſel⸗
tener, ſo muß der Bauer, wenn nicht für einen ſeinem Bedürfnis
entſprechenden billigen, ſtetigen und mit Amortiſationszwang ver-
bundenen Kredit durch die Organiſation von entſprechenden Ein⸗
richtungen geſorgt wird, unfehlbar dem Wucher verfallen. Nun iſt
zwar in den letzten Jahrzehnten und namentlich in den letzten Jahren
I Paul Kollmann, Die Anwendung des bevorzugten Erbrechts am
Grundeigenthum im Herzogthum Oldenburg zu Anfang des Jahres 1880.
Oldenburg 1883, S. 17.
86 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
in dieſer Beziehungen manches geſchehen. Einige Landſchaften haben
die Gewährung von Realkredit über den urſprünglich beſchränkten
Kreis der ſogenannten inkorporierten Güter ausgedehnt. Aus
Schleſien, Poſen und Weſtpreußen wird auch über die günſtigen
Erfolge dieſer Maßregel berichtet. Aber immer noch iſt der Ge⸗
brauch, der von dem Kredit der Landſchaften ſeitens der mittleren
und kleineren Grundbeſitzer gemacht wird, ein verhältnismäßig
geringer. Die hauptſächlichen Gründe für dieſe Zurückhaltung
der Bauern dürften in der Entfernung der Landſchaftsverwaltung
von den Wohnorten der Bauern, in der Koſtſpieligkeit der landſchaft⸗
lichen Taxe, in der niedrigen Beleihungsgrenze für diejenigen
Güter, die von der Aufnahme einer Specialtaxe abſehen wollen,
ſowie in der langen Dauer und Weitläufigkeit der ganzen An⸗
leiheoperation zu ſuchen ſein. Einen teilweiſen Erſatz für die
Landſchaften liefern in einem Teil der Rheinprovinz die Raiff⸗
eiſenſchen Darlehnskaſſen, indem ſie nicht nur das Bedürfnis
nach Perjonal-, ſondern auch das nach Realkredit befriedigen;
letzteres freilich in der in der Rheinprovinz allgemein üblichen
Weiſe der Gewährung verhältnismäßig kurzer Kreditfriſten. Der
Verſuch, dieſe ſegensreich wirkende Inſtitution auch in andere
Provinzen zu verpflanzen, dürfte nur dort gelingen, wo ſich zu⸗
gleich die ſpecifiſchen Vorausſetzungen für dieſelbe finden.
Dieſe ſind: eine dichte, ortſchaftsweiſe zuſammenwohnende Be⸗
völkerung, deren vermögendere und gebildetere Beſtandteile ſich
der mühevollen Aufgabe zu unterziehen bereit ſind, die Leitung
und Unterſtützung der Kaſſen zu übernehmen, und deren ärmere
Glieder zugleich genug geſunden Sinn beſitzen, um ſich dieſer
Leitung zu unterwerfen und dieſelbe auch ihrerſeits zu unter-
ſtützen. Wo dieſe Vorausſetzungen gegeben ſind, da ſollte die
Ausbreitung der ländlichen Kreditgenoſſenſchaften mit Energie
betrieben werden. Bewähren ſich dieſelben in einer Gegend, ſo
iſt damit zugleich auch das Vorhandenſein der erforderlichen
Grundlagen für den weiteren genoſſenſchaftlichen Zuſammenſchluß
der kleineren Beſitzer zu anderen Zwecken erwieſen, wie eben⸗
falls das Beiſpiel der Rheinprovinz und Heſſen-Darmſtadts
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 87
zeigt. Wo dieſe Vorausſetzungen indes fehlen, wie zum
Teil in unſeren öſtlichen Provinzen, da wird auf andere
Weiſe für eine Befriedigung zunächſt der Bedürfniſſe nach Real-
kredit geſorgt werden müſſen. Daß dieſe Befriedigung nicht
durch kapitaliſtiſche Aktiengeſellſchaften geſchehen ſoll, hat die
Geſchichte der Hypothekenbanken gezeigt; der Kredit, den ſie ge—
währen, iſt zu teuer, und das Intereſſe der Grundbeſitzer von
ihnen nur gewahrt, ſoweit es mit dem Intereſſe des beweglichen
Kapitals zuſammenfällt. Wenn es demnach nicht das Geld—
kapital und ſeine Organiſationen ſind, ſo werden es andere
Kreiſe und Inſtitutionen ſein müſſen: die größeren Grundbeſitzer
und ſonſtigen ländlichen Honoratioren, die Kommune oder der
Staat, welche den dem Bauern erforderlichen Kredit für ihn
zu organiſieren haben, es ſei denn daß aus den Bauern-Vereinen
ſelbſt eigene bäuerliche Landſchaften erwachſen. Zunächſt wird
aber wohl darnach zu ſtreben ſein, daß die alten ritterſchaftlichen
Landſchaften die Gewährung von Realkredit an die Bauern
möglichſt erleichtern und fördern.
Neben den Darlehnskaſſenvereinen, wo ſolche beſtehen, ſollten
die Sparkaſſen und Provinzialhülfskaſſen vorzüglich dem Per⸗
ſonalkredit dienen, deſſen Organiſation ja noch mehr vernachläſſigt
erſcheint als die des Realkredits. Wenn ich hier der genoſſen—
ſchaftlichen Vorſchußvereine und Volksbanken nach dem Syſtem
Schulze in ihrer Beziehung zur Landwirtſchaft nicht beſonders
gedenke, ſo geſchieht es deshalb, weil ich glaube, daß der von
denſelben ins Auge gefaßte Zweck durch die Darlehnskaſſenvereine
beſſer erreicht wird. Auch tritt neuerdings die Forderung, die
Reichsbank den Bedürfniſſen des Landwirts nach Perſonalkredit
mehr als bisher dienſtbar zu machen, immer deutlicher
hervor. Dies könnte entweder geſchehen, indem die Centralſtelle
und ebenſo die verſchiedenen Filialen der Reichsbank dem Land-
wirt ſowohl im Wechjeldisfont- wie im Lombardgeſchäft längere
Kreditfriſten, etwa von 6—12 Monaten, gewähren. Zu dieſem
Zweck müßten ſie ſich dann freilich auch durch Ausgabe lang—
terminlicher Obligationen oder auf anderen Wegen längeren
88 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
Kredit zu verſchaffen in der Lage ſein. Oder es könnte ſo ge⸗
ſchehen, daß ein Teil des dem Reich aus der Geſchäftsführung
der Reichsbank zufließenden Reingewinns den Einzelſtaaten zum
Zweck der Unterſtützung des landwirtſchaftlichen Kredits über⸗
geben würde. Dieſe Summen wären dann vielleicht den Provinzial⸗
hülfskaſſen zum Zweck der Erhöhung ihres Dotationsfonds zuzuteilen
und dieſe eben mit der Organiſation des Perſonalkredits ſpeciell für
den mittleren und kleinen Grundbeſitz zu betrauen. Zu dieſem
Zweck müßten ſie ſich dort, wo Darlehnskaſſenvereine in genügender
Anzahl beſtehen, mit dieſen in Rapport ſetzen und in der Perſon
von eigenen Kaſſenvereins-Inſpektoren eine Mittelinſtanz ſchaffen,
welche die Aufgaben hätte, einesteils die Darlehnskaſſenvereine
zu kontrollieren und banktechniſch zu beraten und anderenteils
die für die Provinzialhülfskaſſen erforderlichen Nachrichten über
den Vermögensſtand und die Kreditwürdigkeit der Kredit ſuchen⸗
den Bauern zu beſchaffen und endlich die Verhandlungen zwiſchen
den Kreditnehmern und den Provinzialhülfskaſſen möglichſt zu
erleichtern und zu fördern. Wo Danrlehnskaſſenvereine nicht
beſtehen und ſich auch nicht begründen laſſen, da würde auch für
die Herſtellung beſonderer örtlicher Organe des Perſonalkredits
zu ſorgen ſein. Ob ſich hierfür die beſtehenden Sparkaſſen eignen
würden, deren Organismus nach einem Vorſchlage des ſchle⸗
ſiſchen landwirtſchaftlichen Centralvereins durch Einrichtung einer
eigenen Abteilung für den Perſonalkredit zu vervollſtändigen
wäre, oder ob hierfür eigene lokale Organe der Provinzialhülfs⸗
kaſſe zu begründen wären, möchte ich fürs erſte dahingeſtellt
ſein laſſen. Im ganzen aber wird man bei Löſung des
ſchwierigen Problems ſowohl für die Befriedigung des legitimen
Kreditbedürfniſſes nach Möglichkeit zu ſorgen als auch zu ver—
meiden haben, daß durch allzu leichte Kreditgewährung der
Bauer zu unvorſichtiger oder gar leichtfertiger Kreditbenutzung
verleitet werde.
Iſt aber einmal für das vorhandene Kreditbedürfnis des
Bauern durch entſprechende Organiſationen in genügender Weiſe
Bi
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 89
geſorgt, ſo wird man den gewerbsmäßigen Geldverleihern und
Güterausſchlächtern ihr Handwerk legen können und legen müſſen.
Eine Anzahl von landwirtſchaftlichen Vereinen — nämlich
die Vereine für Heſſen, Schleswig-Holſtein ꝛc. — ſprechen ſich
ſehr entſchieden für eine Erſchwerung des Güterausſchlachtens
aus. Zu dieſem Zweck bringen ſie u. a. die Einführung einer
hohen Gewerbeſteuer in Vorſchlag. Mir ſcheint jedoch, daß dieſes
Mittel in Zeiten, in denen die gewerbsmäßige Güterparzellierung
überhaupt vorteilhaft iſt, nur dahin führen würde, daß die den
Güterausſchlächtern auferlegte Steuer von ihnen auf ihre Opfer
abgewälzt werden würde. Auch die ſonſtigen Mittel, welche von der
Geſetzgebung einiger deutſcher Staaten in Anwendung gebracht ſind,
um das Güterausſchlachten zu erſchweren, haben ſich nicht alle ge—
nügend bewährt: ich denke hier an die ältere preußiſche, an die
bayeriſche, kurheſſiſche und württembergiſche Geſetzgebung. So
entſteht denn die Frage, ob es nicht möglich und zugleich ge—
raten wäre, die gewerbsmäßige Parzellierung von Grundſtücken
als gemeinſchädlich überhaupt zu verbieten und unter polizeiliche
Strafe zu ſtellen. Wenn das deutſche Handelsgeſetzbuch den ge—
werbsmäßigen Kauf und Verkauf von Grundſtücken in der Ab⸗
ſicht, dadurch einen Gewinn zu erzielen, nicht zu den Handels—
geſchäften zählt, d. h. denſelben nicht den für Handelsgeſchäfte
beſtehenden handelsrechtlichen Normen unterwirft, ſo dürfte hierin
bereits ein Fingerzeig für die weitere Behandlung dieſes Gegen—
ſtandes enthalten ſein. Und in der That liegt hier kein Zweig
des Handels vor, dem eine volkswirtſchaftlich nützliche Funktion
innewohnt. Denn den wenigen möglichen, aber nicht notwendigen
Vorteilen der gewerbsmäßigen Güterparzellierung ſtehen über—
wiegende und zudem ſicher eintretende Nachteile gegenüber. Ich
habe bereits früher auf dieſelben hingewieſen und faſſe ſie hier
nochmals kurz dahin zuſammen, daß die gewerbsmäßige Güter⸗
parzellierung in der Regel ebenſowohl zum Ruin derjenigen, von
denen die Güter gekauft, als auch derjenigen, denen ſie ganz
oder ſtückweiſe verkauft werden, ſowie überhaupt zur Ver⸗
ſchlechterung der Grundeigentumsverteilung führt. Auch arbeiten
90 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
ſich gewerbsmäßige Güterausſchlächter und wucheriſche Geldver⸗
leiher gegenſeitig in die Hände, ſo daß die Güterparzellierung
den Schlußakt einer Leidensgeſchichte und zugleich den Beginn einer
Kette von weiteren Vexationen bezeichnet.
Es wird daher in einem der Berichte ausdrücklich darauf
hingewieſen, daß wer dem Wucher auf dem Lande wirkſam
begegnen will, den Schlußakt desſelben, bei dem häufig gerade der
größte Gewinn realiſiert wird und auf den alles andere gleich-
ſam nur vorbereitend hinweiſt, d. h. die gewerbsmäßige Güterzer⸗
ſtückelung zu beſeitigen ſuchen muß. Dieſe durch ein Verbot zu
treffen, iſt nun zwar nicht leicht, da ſie ſich häufig in die Form des
Auftrages kleidet. Doch genießen die Güterausſchlächter in
ihrem Bezirk vollſtändige Notorietät. Verzeichnet doch eine
Aachener Feuerverſicherungsgeſellſchaft die Güterausſchlächter auf
ihrer ſchwarzen Tafel, ſo daß, wenn ein Hof in den Beſitz einer
ſolchen Perſon gelangt, derſelben der Verſicherungsvertrag ſofort
gekündigt wird. Auch bezweifle ich nicht, daß es einer ſach⸗
gemäßen Formulierung der zu verbietenden Handlung durch den
Geſetzgeber ſowie einer der Intention des Geſetzes, dem all⸗
gemeinen Rechtsgefühl und den konkreten Einzelheiten des ge⸗
gebenen Falls gleichmäßig Rechnung tragenden Rechtſprechung
unſerer Richter gelingen werde, das Richtige zu treffen, wie in
der ungleich ſchwierigeren Frage der Definition und Anwendung
des Wucherbegriffes das Richtige getroffen zu ſein ſcheint.
Wenigſtens wird in mehreren der uns vorliegenden Berichte der
günſtigen Folgen des Deutſchen Reichsgeſetzes betreffend den
Wucher vom 24. Mai 1880 für den Bauernſtand gedacht. Na⸗
mentlich der Bericht des poſenſchen Centralvereins ſpricht es
ſehr beſtimmt aus, daß es mit dem Bauernſtand einiger Teile
der Provinz nie ſoweit gekommen wäre, wenn dieſes Geſetz und
die erſt in den letzten Jahren geſchaffenen Kreditorganiſationen
früher beſtanden hätten.
Sollte ſich indes der oben angegebene Weg, die gewerbsmäßige
Güterausſchlachtung durch die Geſetzgebung auszuſchließen, als un⸗
beſchreitbar erweiſen, ſo müßten wenigſtens die Bauernvereine mit
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 91
allen ihnen zur Verfügung ſtehenden Mitteln der Güterausſchlach—
tung entgegenzuwirken ſuchen. Dies könnte u. a. durch Unterſtützung
in Verfall geratener Bauern, durch Ankauf ihrer Güter ſowie
durch Warnung vor dem Treiben der Güterausſchlächter geſchehen.
Doch kann mir entgegnet werden, daß die Reform des Erb—
rechts und die Organiſation des landwirtſchaftlichen Kredits
doch nur im ſtande ſind, den Bauer vor der Überſchuldung
zu bewahren; was aber dann, wenn er bereits überſchuldet iſt?
Soll man ihn, wenn man den privaten Exekutor, den Güteraus—
ſchlächter, beſeitigt, nun ohne weiteres der ſtaatlichen Zwangs-
vollſtreckung überlaſſen? Ich ſage entſchieden: Nein! Schon
oben habe ich darauf hingewieſen, daß die Bauernvereine in die
leer gewordene Lücke eintreten könnten. Und wo dieſelben fehlen
oder ſich nicht darauf einlaſſen wollen und wo die Zwangsvoll—
ſtreckung daher größere Dimenſionen annimmt, da ſollte der Staat
vor außerordentlichen Maßregeln nicht zurückſchrecken, ähnlich wie
er ja auch am Anfang des Jahrhunderts zum Schutze der Grund—
beſitzer Moratorien erlaſſen hat. Auch könnte der Staat oder
die Gemeinde ſolche zur Subhaſtation reife Güter ankaufen, um
ſie damit dem Bauernſtande zu erhalten.
Das ſetzt allerdings den ernſten Willen zu einer ſchöpferiſchen
Domänenpolitik voraus, welche ich übrigens mit dem Augenblick
für möglich und zugleich für angezeigt halte, in dem die Staats⸗
domänen aus dem Reſſort des Finanzminiſteriums ausgeſchieden
ſind. Fortan ſollten die Domänen nicht nur Ertragsquellen,
ſondern zugleich die wichtigſten Mittel zur Schaffung und Er—
haltung geſunder Grundbeſitz- und Socialverhältniſſe auf dem
Lande ſein. Wo es gilt, einen untergehenden Bauernſtand zu
erhalten, da kaufe der Staat die dem Verfall entgegengehenden
Güter an, und wo der Bauernſtand verſchwunden iſt, da benutze
er die vorhandenen Domänen, um neue Bauern- und Häusler—
ſtellen zu begründen. Ein ſolches Vorgehen des Staates wäre
um jo wichtiger, als durch dasſelbe auch dem privaten Lati—
fundienbeſitz ein nachahmungswertes Beiſpiel gegeben werden
würde. Durch einige mißlungene Verſuche ſollte ſich die Do—
92 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
mänenverwaltung von weiteren Verſuchen nicht abhalten laſſen,
zumal wenn das Mißlingen durch die ungeſchickte Durchführung
genügſam erklärt werden kann. Die Frage der Domänenzerlegung
iſt für diejenigen Gegenden, in denen der Bauernſtand bereits ver⸗
ſchwunden iſt oder doch zu verſchwinden droht, nun einmal ge⸗
ſtellt; es wäre daher wünſchenswert, daß zur Löſung derſelben
der Verſuch ihrer Durchführung nach einem wohldurchdachten
Plan zunächſt in kleinen Dimenſionen gemacht werden würde.
Schließlich füge ich noch hinzu, daß der Staat hinfort auch
alle allgemeinen Maßregeln der Geſetzgebung und Verwaltung
auf die Frage hin, ob und wiefern ſie der Erhaltung des
Bauernſtandes förderlich ſein können, prüfen ſollte.
Zugleich kann ich konſtatieren daß hiermit bereits ein er⸗
freulicher Anfang gemacht iſt, indem die Intereſſen des Grund⸗
beſitzes in den letzten Jahren ſeitens der Staatsregierung
eine viel unbefangenere Prüfung und zugleich eingehendere Be⸗
rückſichtigung erfahren haben als in dem vorhergegangenen
Jahrzehnt.
Ich erlaube mir dieſes Urteil durch zwei Beiſpiele zu
belegen.
Bei Beratung des Entwurfs zur Subhaſtationsordnung vom
15. März 1869 und zum Geſetz über den Eigentumserwerb und
die dingliche Belaſtung der Grundſtücke ꝛc. vom 5. Mai 1872
vermochten die den Intereſſen des Grundbeſitzes Rechnung
tragenden Geſichtspunkte, welche nunmehr in dem neueſten Geſetz⸗
entwurf, betreffend die Zwangsvollſtreckung in das unbewegliche
Vermögen, volle Berückſichtigung gefunden haben, noch nicht
durchzudringen.
Zugleich darf bei dieſer Gelegenheit wohl hervorgehoben
werden, daß es weſentlich liberale Abgeordnete — ich nenne hier
namentlich den jetzigen Oberbürgermeiſter Dr. Miquel und den
Dr. Lasker — waren, welche damals mit ebenſo großer Ent⸗
ſchiedenheit wie Sachkenntnis einen Standpunkt vertraten, welcher
gegenwärtig von allen Parteien und namentlich von der konſer⸗
vativen Partei vertreten wird. Während der Vertreter der Staats⸗
ai le ci
Die Lage des Bauernſtandes in Preußen. 93
regierung damals aber aus formalzjuriftifchen Gründen wider-
ſprach, hat die Staatsregierung jetzt, durch die Macht der
Thatſachen eines Beſſeren belehrt, ſelbſt die Initiative ergriffen,
um den von ihr damals zurückgewieſenen Gedanken in die Ge-
ſetzgebung einzuführen.
Ein anderes Beiſpiel iſt ſodann folgendes. Gegenüber der
außerordentlich maßvollen Forderung der Provinz Hannover nach
Einführung des Syſtems der Höferolle für die Vererbung des
bäuerlichen Grundbeſitzes äußerte ſich noch eine im Jahre 1872
verfaßte Denkſchrift des preußiſchen Miniſteriums ſchlechterdings
ablehnend !. Im Jahre 1874 wurde dann aber doch, allerdings
in einer durch die Staatsregierung ſowie das Abgeordnetenhaus
weſentlich verſtümmelten Geſtalt, die Vorlage des hannoverſchen
Provinziallandtages zum Geſetz erhoben, und im Jahre 1879
entſchloß ſich die Staatsregierung, das hannoverſche Höferecht,
zum Teil ſogar über die urſprüngliche Vorlage des hannoverſchen
Provinziallandtages hinaus, auszubauen. Ja im Jahre 1880
geſchah das, was im Jahre 1872 als unerhört und unvereinbar
mit den Traditionen der preußiſchen Geſetzgebung angeſehen
wurde, nämlich daß die Staatsregierung den Gedanken einer
Ausdehnung des hannoverſchen Höferechts auf die altpreußiſchen
Provinzen des Oſtens ins Auge faßte. Sollte da nicht auch
die weitere Hoffnung begründet ſein, daß die Staatsregierung
in Zukunft, nach Maßgabe der gewonnenen Einſicht, den be—
rechtigten Intereſſen des Grundbeſitzes ihre Aufmerkſamkeit in noch
höherem Grade zuwenden werde?
Doch ich eile zum Schluß, indem ich die oben gegebenen
Anregungen in den Antrag zuſammenfaſſe:
Das Landesökonomiekollegium wolle die Staatsregierung
erſuchen,
eine Kommiſſion niederzuſetzen, deren Aufgabe es ſein
würde, ſich einerſeits mit der weiteren Klarſtellung der
1 Entwurf eines Geſetzes, betreffend das bäuerliche Recht in der Pro⸗
vinz Hannover, nebſt Begründung. Als Manuſkript gedruckt. Berlin, Geh.
Ober⸗Hofbuchdruckerei. 1872.
94 Die Lage des Bauernſtandes in Preußen.
gegenwärtigen Lage des preußiſchen Bauernſtandes und
ſeiner Entwickelung in den nächſten Jahren und anderer⸗
ſeits mit der Beratung und Vorbereitung derjenigen
Maßregeln zu beſchäftigen, welche der gegenwärtigen
Notlage des Bauernſtandes zu ſteuern und ſeine Stellung
zu befeſtigen geeignet wären.
Zum Schluß geſtatten Sie mir noch einen Wunſch aus⸗
zuſprechen.
Der bekannte alte Satz: „Handwerk hat einen goldenen
Boden“ iſt in ſeiner Anwendbarkeit auf die Gegenwart vielfach
zweifelhaft geworden.
Auch von dem Bauernſtande ſagt der Dichter:
Nimm Hack' und Spaten, grabe ſelber,
Die Bauernarbeit macht dich groß,
Und eine Herde goldner Kälber,
Sie reißet ſich vom Boden los!
Sorgen wir dafür, ein jeder an ſeinem Platz, daß der vom
Dichter ausgeſprochene Gedanke auch in Zukunft wahr bleibe,
wie er es in der Vergangenheit war!
Auf Grund dieſes Referats beſchloß das Landesökonomie⸗
kollegium einſtimmig:
die Staatsregierung zu erſuchen
1. ihre fortgeſetzte Aufmerkſamkeit der weiteren Klar⸗
ſtellung der gegenwärtigen Lage des ländlichen
Grundbeſitzes, namentlich ſeiner Verſchuldung und
ſonſtigen Belaſtung ſowie ſeiner Bewegung, zu
widmen und
2. diejenigen Maßregeln zu ergreifen, welche die
Stellung des Bauernſtandes zu befeſtigen im
ſtande wären.
III.
Die gegenwärtige Tage der deutſchen
Tandwirtſchaft.
Vortrag, gehalten auf Veranlaſſung der Geheſtiftung in Dresden
Februar 1888.
H. A.! Wenn man heute von der Lage der deutſchen Landwirt—
ſchaft ſpricht, ſo verſteht man darunter vornehmlich die Lage der—
jenigen, welche infolge der Selbſtbewirtſchaftung oder Verpachtung
ihrer Güter eine Grundrente aus denſelben beziehen. Somit han⸗
delt es ſich in erſter Linie um die ländlichen Grundeigentümer
und erſt in zweiter um die ländlichen Pächter und Arbeiter
ſowie die an dem Gedeihen der Landwirtſchaft indirekt beteiligten
Klaſſen.
Die Höhe der Grundrente wird aber wieder durch den
Stand der Guts wirtſchaft ſowie die Einwirkung der Volks- und
Weltwirtſchaft auf dieſelbe beſtimmt. Wegen der innigen Be-
ziehungen, die zwiſchen der Technik des Landbaues und der
Landwirtſchaft beſtehen, wird freilich auch die techniſche Seite
des Landbaues nicht ganz überſehen werden dürfen.
Die jeweilige Höhe der Grundrente eines Gutes ergiebt ſich,
wenn man von den Geldroherträgen desſelben die Betriebskoſten
nebſt der Verzinſung und Amortiſation des geſamten nicht un—
trennbar mit dem Grund und Boden verbundenen Kapitals
u. ſ. w. ſowie einen mittleren Unternehmergewinn, der in
96 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft.
engſter Beziehung zur Lebenshaltung der Eigentümer und Pächter
zu ſtehen pflegt, abzieht. Die Grundrente dient zur Verzinſung
des Grundkapitals im weiteſten Sinne, alſo einſchließlich des
im Grund und Boden fixierten und mit demſelben untrennbar
verbundenen Kapitals. Gehört das Grundkapital ausſchließlich
dem Grundeigentümer, ſo fällt ihm allein die Grundrente zu;
haben aber auch andere Perſonen, die Gläubiger des Grund⸗
eigentümers, Anteil an demſelben, ſo muß er die Grundrente mit
ihnen teilen.
Sinken nun die Geldroherträge und bleiben die Ausgaben
bezw. der Unternehmergewinn unverändert, oder ſteigen die
Ausgaben bezw. der Unternehmergewinn und bleiben die
Geldroherträge unverändert, ſo muß die Grundrente ſinken
bezw. das Grundkapital ſich ſchlechter verzinſen. Über⸗
ſteigen die Roherträge die Ausgaben nur um ein weniges oder
decken gar die Roherträge die Ausgaben nicht mehr, ſo daß die
Grundrente bedeutend unter den landesüblichen Zinfuß ſinkt oder
gar vollſtändig verſchwindet, ſo kann man in erſterem Falle von
einer landwirtſchaftlichen Kriſis, in letzterem von einem Notſtande
ſprechen. Die Kriſis und der Notſtand können ſich zu einer
öffentlichen Kalamität ſteigern, wenn die Zahl der von derſelben
betroffenen Rentenbezieher eine große iſt und die Kriſis indirekt
auch auf andere Berufskreiſe ihren Einfluß ausübt.
I.
Bei Beantwortung der Frage, ob die deutſche Landwirtſchaft
ſich gegenwärtig in einer Kriſis oder gar in einem Notſtand be⸗
findet, ſtehen ſich in der wiſſenſchaftlichen Litteratur, in der
Tagespreſſe und in den Parlamenten, wenn wir von unterge⸗
ordneten Meinungsnuancen abſehen, drei Hauptanſichten gegen⸗
über. |
Unter denſelben wird die eine hauptſächlich von den Ver⸗
tretern des beweglichen Kapitals, des Handels und zum Teil
auch der Induſtrie vertreten. Sie gelangt zum Ausdruck vor⸗
nehmlich in der liberalen Preſſe und negiert das Vorhandenſein
Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 97
ſowohl eines wirklichen Notſtandes als einer Kriſis, indem ſie
nur eine Depreſſion der wirtſchaftlichen Lage der Landwirte zu—
giebt. Aber auch dieſe wird nur als eine im Verlauf der wirt-
ſchaftlichen Entwickelung mit naturgeſetzlicher Regelmäßigkeit auf:
tretende Erſcheinung aufgefaßt, die übrigens nur vorübergehender
Natur iſt. Geſtützt wird dieſe Anſicht durch die Ausſagen ein—
zelner Landwirte, die ſich in relativ günſtigen Verhältniſſen
befinden, und durch das äußere Auftreten mancher Großgrund—
beſitzer in den Städten, das den Anſchein großer Wohlhabenheit
erzeugt. Im Zuſammenhange mit dieſer Diagnoſe wird jede In—
tervention des Staates zu Gunſten der Landwirtſchaft abgewieſen,
weil ſie den übrigen Erwerbszweigen, namentlich dem Handel
und der Induſtrie, ſowie den fixierten Exiſtenzen und Lohnar⸗
beitern ſchade und unter den Landwirten vornehmlich den großen
und größten Grundbeſitzern, alſo denjenigen, die eine Unter:
ſtützung am wenigſten bedürfen, nütze.
Übereinſtimmend mit dieſer erſten Anſicht erkennen auch die
Socialiſten einen ſpecifiſchen Notſtand der ländlichen Grundbeſitzer
nicht an. Die allgemeine Depreſſion ſämtlicher Erwerbszweige
dagegen wird von ihnen auf die ſich in der Gegenwart immer
ungünſtiger und excentriſcher geſtaltende Verteilung des Ein—
kommens und Vermögens zurückgeführt. Je mehr ſich das Kapital
in einigen wenigen Händen konzentriere und je höher das abſolute
von dieſen Bevorzugten bezogene Renteneinkommen trotz des
relativen Sinkens der Rente anwachſe, deſto weniger ſeien ſie in
Ä der Lage, ihren geſamten Rentenbezug zu verbrauchen. Da der
; nicht perſönlich verbrauchte Reſt Fapitalifiert wird, ſo wachſe der
4 Kapitalbeſitz lawinenartig. Von ihm, der eine produktive Ver⸗
| wendung ſucht, gehe der Anreiz zur Steigerung der Produktion
3 ins unermeßliche aus, während doch die Maſſen keine vermehrte
| Kaufkraft aufweiſen, da fie in ihrem Einkommen auf die Be⸗
ſtreitung der Lebensnotdurft beſchränkt ſeien. Und auch die
kapitalkräftigen Glieder der Geſellſchaft, deren Bedürfniſſe ſchon
durch die bisherige Produktion vollſtändig befriedigt ſeien, können
dem weiteren Anwachſen der Produktion eine entſprechende
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 7
8
*
98 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft.
Steigerung der Nachfrage nicht entgegenbringen. Demnach wird
die gegenwärtige allgemeine Notlage auf eine unzulängliche und
ungerechte Verteilung des Einkommens und Vermögens zurück⸗
geführt und die Vorbedingung für dieſelbe in der heutigen
Rechtsordnung und namentlich in der Inſtitution des Privat⸗
eigentums und Erbrechtes erblickt. Eine Beſſerung dieſer nach
Anſicht der Socialiſten durch und durch ungeſunden Zuſtände,
unter denen die von ihren Arbeitgebern um einen Teil ihres
Arbeitsproduktes gebrachten Arbeiter am meiſten leiden, wäre
ſomit nur durch Beſeitigung des Privateigentums und Erbrechts
an den Produktionsmitteln bezw. am Grund und Boden zu
erreichen.
Von der erſten und zweiten Anſicht gleich verſchieden iſt eine
dritte, die hauptſächlich von einer großen Anzahl landwirtſchaft⸗
licher Fachblätter und einer kleineren Zahl politiſcher Zeitungen,
meiſt konſervativer Richtung, vertreten wird. Sie hat in den
letzten Jahren, in engſtem Zuſammenhange mit dem Sinken der
Preiſe faſt aller Produkte des Landbaues, eine ſehr große An⸗
zahl von Anhängern in den landwirtſchaftlichen und dieſen nahe⸗
ſtehenden Kreiſen ſowie in den politiſchen Vertretungskörpern
gefunden. Nach dieſer Anſicht iſt die Notlage der Landwirte eine
allgemeine und äußerſt bedenkliche, indem ſie bei längerer Fort⸗
dauer einen großen Teil der jetzigen Grundbeſitzer und unter
ihnen namentlich den Bauernſtand mit dem Verluſte ihres Be⸗
ſitzes bedroht. Das in den Städten mühelos erworbene Kapital
werde dann die maſſenhaft zur Subhaſtation gelangenden Güter
zu niedrigen Preiſen zuſammenkaufen. Auch dränge die unrentabel
gewordene Landwirtſchaft zum Aufgeben des Ackerbaues und zur
Umwandlung der Acker in Wieſen und Weiden. Der Stand der
hiſtoriſchen Beſitzer aber, welcher dem Staate im Kriege und im
Frieden die feſteſte Stütze geboten habe, werde zum Proletariat
herabgedrückt werden. Als letzte Urſache dieſer bedenklichen Zu⸗
ſtände werden bezeichnet: Der ungenügende Schutz, den die
deutſche Landwirtſchaft gegenüber der überſeeiſchen und ruſſiſchen
Konkurrenz bis vor kurzem gefunden habe, die Hochwertigkeit
er a
4
Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 99
unſerer Valuta und die Entwertung des Silber- und Papier⸗
geldes in einer Reihe mit uns in der Getreideproduktion kon—
kurrierender Staaten ſowie die Übermacht, die das bewegliche
Kapital infolge der modernen Geſetzgebung über das Grund—
kapital erlangt habe. Die dem hiſtoriſchen Grundbeſitzerſtande
drohende Gefahr könne daher nur vermieden werden durch Schutz—
zölle, welche ſo hoch ſind, daß ſie den Vorſprung, den das Aus—
land in ſeinen billigeren Produktionskoſten vor dem Inlande
hat, ausgleichen, durch Begründung einer bimetalliſtiſchen
Staatenunion, damit der durch die angebliche Goldknappheit und
durch die Entwertung der Valuta in einer Reihe von Ländern
gegebene künſtliche Anreiz zum Export ihrer landſchaftlichen Pro—
dukte beſeitigt und die Lage der verſchuldeten Gutsbeſitzer gegen-
über ihren Gläubigern verbeſſert werde. Endlich bildet die
Forderung der Übernahme ſämtlicher hypothekariſcher Schulden
der Grundbeſitzer durch den Staat und die Herabſetzung der an
dieſen zu zahlenden Zinſen auf das Niveau der Zinſen der
Staatsſchulden zwar noch keinen integrierenden Beſtandteil dieſes
Programmes, dieſelbe hat ſich aber gleichwohl mehrfach an die
Offentlichkeit gewagt.
Einzelne Schriftſteller haben dann noch von dieſen drei
weitverbreiteten Standpunkten abweichende Anſichten über die
gegenwärtige Lage der Landwirtſchaft ausgeſprochen.
Indes genügt es, die oben charakteriſierten drei Standpunkte
im Auge zu haben. |
Da es ſich in dieſer Arbeit lediglich um eine Diagnoſe der
gegenwärtigen Lage der deutſchen Landwirtſchaft handelt,
jo können aus der folgenden Betrachtung namentlich alle die-
jenigen Erklärungsverſuche fortbleiben, die über den Gegenſtand
hinausgehen, ſei es nun, daß ſie die angeblich unbefriedigende
Lage ſämtlicher Erwerbszweige auf die Goldknappheit und die
Goldteuerung oder auf die fehlerhafte Vermögens- und Ein⸗
kommenverteilung zurückführen. Eine ſolche Vereinfachung des
Problems iſt für unſere Zwecke nicht nur zuläſſig, ſondern ſogar
geboten, weil die Lage der Landwirtſchaft gegenwärtig eine gleich
7 *
100 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft.
unbefriedigende iſt in den Ländern mit Gold-, Silber-, Papier⸗
und ſogenannter hinkender Währung und weil ſie früher, na⸗
mentlich in den vierziger bis ſechsziger Jahren, eine ſehr befrie⸗
digende war trotz der beſtehenden von den Socialiſten ſtigma⸗
tiſierten Rechtsordnung.
II.
Um die gegenwärtige Lage der Landwirtſchaft in ihrer
Eigenart zu erfaſſen, muß zunächſt in einigen Worten auf die
hinter uns liegenden Decennien zurückgegangen werden.
Nach Überwindung einer ſchweren Zeit trafen ſeit dem
Schluß der 30 er Jahre eine Reihe von günſtigen Umſtänden
zuſammen, um eine ſteigende Proſperität der deutſchen Land⸗
wirtſchaft im allgemeinen bis in die Mitte der 70 er Jahre und
für den deutſchen Südoſten (Bayern) wenigſtens bis zu den 60er
Jahren herbeizuführen. Zu dieſen Umſtänden gehörten die lange
Friedenszeit und das Anwachſen der Bevölkerung, die Gründung
des Zollvereins, das Aufblühen der inländiſchen Induſtrie und
des Handels, der Ausbau eines dichten Chauſſee- und Eiſen⸗
bahnnetzes ſowie die Hebung der Binnenſchiffahrt, die Befreiung
des bäuerlichen Bodens von den feudalen Laſten, die Arrondierung
der großen und bäuerlichen Güter, die Gemeinheitsteilungen, das
Eindringen rationeller Betriebsmethoden in die landwirtſchaftliche
Praxis namentlich der größeren Güter, die Erleichterung und
ſeit den 40 er Jahren die Freigebung der Getreideeinfuhr nach
England, ſowie im Zuſammenhange mit allen dieſen Momenten
die Vermehrung der landwirtſchaftlichen Produktion und zugleich
die noch ſtärkere Vermehrung der Nachfrage nach ihren Erzeug—
niſſen ſowie infolgedeſſen die Preisſteigerung derſelben.
Die verbeſſerten Verkehrsmittel, die anfangs die heimiſchen
Produkte der Induſtrie und des Landbaues dem Auslande zu⸗
geführt hatten, begannen nun aber allmählich auch die aus⸗
ländiſchen Produkte der billiger produzierenden Länder dem In⸗
lande zuzuführen. Beſchwerden über den Druck, den die in-
Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 101
ländiſchen Preiſe hierdurch zu erleiden anfingen, tauchten zuerſt
in den 50 er Jahren über die auſtraliſche Wolle und in den
60 er Jahren, zunächſt in Bayern, über das öſterreichiſche, un:
gariſche und rumäniſche Getreide auf. Dieſelben kulminieren
dann in den 70er und 80 er Jahren in den allgemeinen Klagen
über den Preisdruck, den das ruſſiſche und überſeeiſche Getreide
ſowie der Branntwein und Zucker der Hauptproduktionsländer
auf den europäiſchen Markt ausüben. |
Will man dieſe für die wirtſchaftliche Entwickelung Mittel-
europas bedeutſame Thatſache begreifen und auf eine allgemeine
Formel zurückführen, ſo kann man ſagen, daß die Weltwirtſchaft
eben im Begriffe ſteht, in eine neue höchſt wichtige Phaſe ihrer
Entwickelung zu treten.
Was man für das Altertum und für das Mittelalter als
Weltwirtſchaft bezeichnet hat, verdient nicht ganz dieſen Namen.
Kommen doch in der alten Welt im weſentlichen nur die Be⸗
ziehungen der am mittelländiſchen Meer gelegenen Länder unter-
einander in Betracht. Was darüber hinaus an ſporadiſchen
Verbindungen der altklaſſiſchen Kulturvölker mit Afrika und dem
ſüdweſtlichen Aſien, mit Indien und China, mit den Zinninſeln
und den Nordſeeländern bekannt geworden iſt, war für das
wirtſchaftliche Leben dieſer Völker nur von geringer Bedeutung,
indem ſie aus den ferneren Ländern hauptſächlich nur Purpur⸗
muſcheln, koſtbare Gewänder, Seidenſtoffe, Gewürze und nur
ausnahmsweiſe Getreide bezogen. Und auch das Mittelalter hat
bis zu dem Zeitalter der großen Entdeckungen den Kreis dieſer
Beziehungen nur nach dem Norden und Nordoſten Europas er—
weitert. Aber auch jetzt noch, wie ſchon früher, blieb es für den
Verkehr von Land zu Land, von Weltteil zu Weltteil charakte⸗
riſtiſch, daß den einzelnen weſt- und mitteleuropäiſchen Ländern
aus nah und fern hauptſächlich nur diejenigen Waren zuge:
führt wurden, die ſie ſelbſt gar nicht erzeugen konnten oder doch
nicht genügend erzeugten. Namentlich die Zufuhr des Getreides
aus den öſtlichen Ländern hat nur die Verteuerung desſelben im
Weſten verhütet, da die eigenen Ernten hier der vorhandenen
102 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft.
Nachfrage, namentlich in Mißwachsjahren, nicht genügten. Sollen
doch die Niederlande im 16. Jahrhundert trotz der hohen Technik
ihres Landbaues nur ein Viertel ihres Getreidebedarfs ſelbſt
produziert haben. Demnach wird bei der frühe eingetretenen
Induſtrieblüte dieſes Landes auch ſchon für die dem 16. voran⸗
gegangenen Jahrhunderte angenommen werden dürfen, daß ihre
Getreideproduktion dem inländiſchen Bedarf nicht genügt habe.
Dieſelbe Bedeutung der Ergänzung des fehlenden Bedarfs hatten
auch die anderen aus den Oſtſeeländern, aus Polen und Rußland
durch Vermittlung namentlich hanſeatiſcher Kaufleute dem Weſten
zugeführten Produkte: außer dem Getreide waren dies vornehm⸗
lich Wachs, Häute, Pelzwerk, Hederichsöl, Seehundſchmiere, Pech,
Blei, Eiſen u. a. m.
Eine Ausnahme von der Regel, daß die den einzelnen weſteuro⸗
päiſchen Ländern aus dem Auslande zugeführten Rohprodukte
der inländiſchen Produktion nicht ſchädlich waren, ſondern die⸗
ſelbe in willkommener Weiſe ergänzten, bilden nur die im
Altertum aus Karthago und Sicilien in Rom zuſammenfließenden
Getreidemaſſen, welche die Preiſe des italiſchen Getreides weſent⸗
lich drückten und die Latifundienbildung begünſtigt zu haben
ſcheinen.
Dieſer Charakter des Welthandels ändert ſich mit der Auf-
findung des Seeweges nach Indien und der Entdeckung Amerikas.
Die ſeit dem 16. Jahrhundert in großen Maſſen nach Europa
ſtrömenden Edelmetalle, namentlich das Silber, üben jetzt auf
den europäiſchen Bergbau inſofern einen Einfluß aus, als ſie
ihn in den weniger ergiebigen Bergwerken nicht mehr lohnend er⸗
ſcheinen laſſen. Aber auch jetzt noch beſchränkt ſich im übrigen
der Import Europas weſentlich auf Gegenſtände hohen ſpecifiſchen
Wertes: außer den Edelmetallen auf Edelſteine, Gewürze, Droguen,
koſtbare animaliſche Produkte, wie Seide, Federn und Elfenbein,
endlich auch ſeltene Manufakte der Leder-, Metall- und Tertil-
induſtrie, wie ſie namentlich dem ſtilvollen Kunſtſinn und der ma⸗
nuellen Geſchicklichkeit der aſiatiſchen Kulturvölker zu verdanken
find. In den nächſten Jahrhunderten belebt ſich dann die Schiff:
=
”
**
.
1
e
0
’E
3
3 5
*
Be Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 103
fahrt auf dem atlantiſchen Ocean immer mehr. Auch der un—
geheure pacifiſche Ocean, der bis dahin im Weltverkehr nur als
trennendes Element gewirkt hatte, wird jetzt durch Vermittelung
einer regelmäßigen Schiffahrt dem Handel dienſtbar gemacht;
endlich wächſt in Auſtralien eine neue durch ihren Gold- und
Diamantenreichtum, ſowie durch ihre Schafzucht ausgezeichnete
Welt empor. Neben ſeiner Extenſivität nimmt der Welthandel
jetzt auch an Intenſivität erſtaunlich zu. Aber noch bis in die
Mitte unſeres Jahrhunderts bleiben von demſelben, wenigſtens
ſoweit es ſich um die Überwindung großer Entfernungen handelt,
die landwirtſchaftlichen Produkte des inneren Rußland ſowie der
überſeeiſchen Länder wegen ihrer hohen Frachtkoſten größtenteils
ausgeſchloſſen.
Erſt der, um dieſe Zeit erfolgten außerordentlichen Ver—
mehrung des beweglichen Kapitals, der Vervollkommnung
der Technik und ihrer Einwirkung auf die Verkehrswege und
Verkehrsmittel ſowie der Verbilligung der Frachten gelingt es
ſchließlich, die Produkte des jungfräulichen, im ganzen leicht zu
bearbeitenden und in ſeinen Erträgen ſicheren Bodens jener
fernen Länder dem weſtlichen und mittleren Europa in uns
geheuren Maſſen zuzuführen. Welchen Einfluß der Eintritt der
landwirtſchaftlichen Produkte in den Welthandel gehabt hat,
zeigen u. a. folgende Zahlen. Während man den Warenumſatz
im Welthandel im Jahre 1860 auf 29, 1865 auf 35 Milliarden
Mark ſchätzte, war dieſe Umſatzſumme im Jahre 1882 auf 67
Milliarden geſtiegen.
Auf die Erſchließung der Kornkammern an der Donau und
im inneren Rußland folgt die Zugänglichmachung des Getreide—
reichtums (und zum Teil auch ſchon der Viehproduktion) der
nordamerikaniſchen Union, Indiens, Chiles, Argentiniens, Agyp⸗
tens, Kanadas und Ausſtraliens für Mittel-Europa. Mit ziffer⸗
mäßiger Beſtimmtheit tritt uns dieſe Entwicklung deutlich vor
Augen in der Vergrößerung des europäiſchen Imports aus dieſen
Ländern, wobei hervorgehoben werden mag, daß der Weizen
hauptſächlich in England, der Roggen und Hafer in dem öſtlichen
104 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft.
Teil Preußens zuſammenſtrömt, ſo daß in London und in Berlin
die Preiſe dieſer Produkte für die geſamte Welt zur Fixierung
gelangen. Der auf dem Londoner Markt im Jahre 1850
feilgebotene Weizen umfaßte 16 203 312 Centweight (1 Cw. =
50,8 kg), im Jahre 1870 aber bereits 30 901 229 Cw. und
vollends 1885: 61 489 864 Cw. — Die in London ausgebotene
Weizenmenge hatte ſich ſomit zwiſchen 1850 und 1870 verdoppelt
und zwiſchen 1850 und 1885 vervierfacht.
Damit iſt eine weitere wichtige Wendung des Welthandels
bezeichnet. Das Weſen dieſer neuen Phaſe beſteht darin, daß
fortan die landwirtſchaftlichen Produkte fremder Länder und
Erdteile auf dem europäiſchen Markte zuſammenſtrömen, nicht
nur, wie bisher, in ſolchen Quantitäten, die zur Ergänzung des
eigenen Bedarfs dienen, ſondern in Konkurrenz mit den Pro⸗
dukten des europäiſchen Landbaues weit über dieſes Maß hinaus,
und daß ſie ferner zu Preiſen angeboten werden, welche niedriger
ſind als diejenigen, die bisher in Europa bezahlt wurden und
auf die ſich die europäiſche Landwirtſchaft eingerichtet hat.
Es weiſen die Getreidepreiſe in Deutſchland folgende Ver—
änderungen auf. Setzt man mit Conrad (Jahrbücher für
Nationalökonomie und Statiſtik, N. F. Bd. XV Heft 4 S. 323)
die Durchſchnittspreiſe für die Hauptgetreidearten (Weizen, Roggen,
Gerſte und Hafer) zwiſchen 1847/67 — 100, fo verhielten ſich
zwar die Preiſe von 1868/72 wie 109, von 1873/74 wie 117,
aber ſeitdem beginnt ein anhaltendes Sinken, ſo daß die Preiſe
von 1875/77 = 110, die von 1878/80 —= 93 und die von
1881/85 — 89 find, und auch ſeitdem hat ſich, wie weiter zu
zeigen ſein wird, der Preisrückgang fortgeſetzt.
Verſchärft wird dieſe durch das Zuſammenſtrömen der land⸗
wirtſchaftlichen Produkte der oſteuropäiſchen und überſeeiſchen
Länder verurſachte Kriſis noch durch Valutadifferenzen, welche
zwiſchen den Ländern der Gold- oder doch der ſogenannten hinkenden
Währung einerſeits und den Ländern der Silber- und der Papier⸗
währung andererſeits beſtehen. Denn für die Länder mit minder⸗
Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 105
jr | wertiger Valuta kommt, durch das Schwanken ihres Geldwerts
und ihrer Wechſelkurſe nach unten, zu den natürlichen und volks—
wirtſchaftlichen Vorzügen ihrer Produktion noch ein künſtlicher
Anreiz zum Export hinzu. Dieſer hat in dem Silberwährungs—
lande Indien und in dem Papierwährungslande Rußland neben
anderen Gründen die Ausdehnung des Getreidebaues und Ex—
portes während der letzten Jahrzehnte weit über ihre bisherigen
Grenzen hinaus erweitert. So betrug die Ausfuhr Indiens an
Weizen im Jahre 1870 erſt 3910, 1880 aber bereits 109 778
und 1887: 1 113 167 Tonnen. Dagegen hat in dem letzten
Jahrfünft die Weizenausfuhr Nordamerikas ſucceſſive abgenom—
men. Denn während im Jahre 1880 noch 99 572 329 Buſhel
Weizen aus Nordamerika exportiert wurden, war der Export
im Jahre 1883 auf 41 655 653 Buſhel geſunken und hat ſich
im Jahre 1885 erſt wieder auf 52 382 587 Buſhel gehoben.
Der Vorſprung, den Indien infolge ſeiner minderwertigen
Valuta vor Nordamerika und anderen Exportländern beſitzt, dient
zum Teil dazu, um ſeine größeren Frachtkoſten auszugleichen.
Denn während die Fracht für 1000 kg Weizen von New York
über Boſton nach Hamburg im Oktober 1887 nur 10,2 Mark
betrug, kam ſie von Bombay nach London um erde Zeit auf
20,7 Mark zu ſtehen.
Auch iſt dieſer Anreiz zum Export Indiens und Rußlands
nur ein vorübergehender, weil der durch die Valutadifferenzen
erzielte außerordentliche Gewinn der Landwirte und Händler
jener Länder mit minderwertiger Valuta infolge des weiteren
Sinkens der Produktenpreiſe auf dem Weltmarkte und des
Steigens der inländiſchen Produktionskoſten ſchließlich verloren
gehen muß.
Endlich kann auch zugeſtanden werden, daß die Anſammlung
von großen Vermögen in einigen Händen dazu beigetragen hat,
die Produktion überhaupt, alſo auch die landwirtſchaftliche, ins
unermeßliche zu ſteigern, während doch die effektive Nachfrage
nach den landwirtſchaftlichen Produkten mit dem Angebot nicht
106 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft.
gleichen Schritt zu halten vermag; bei den Reichen nicht, wein
ſie hier auf natürliche phyſiſche Schranken der Konſumtions⸗
fähigkeit ſtößt, bei den arbeitenden Klaſſen nicht, weil ſie durch
ihr Einkommen und das Entſtehen gewiſſer mit der wachſenden
Geſelligkeit zuſammenhängender Bedürfniſſe begrenzt iſt.
Als das Reſultat all dieſer Faktoren ergiebt ſich ein Sinken
zunächſt der Woll- und Getreidepreiſe, dann aber auch der Preiſe
der meiſten übrigen landwirtſchaftlichen Produkte, wobei der Be⸗
ginn und das Tempo des Preisrückganges für die einzelnen
Produkte allerdings verſchieden iſt.
Wenn die Abnahme der landwirtſchaftlichen Proſperität für
ganz Deutſchland bereits ſeit der Mitte der ſiebziger Jahre be⸗
ginnt, ſo hat das ſeinen Grund in dem Zuſammentreffen des
wenn auch zunächſt nur mäßigen Rückganges der Getreidepreiſe
mit einer Reihe ſchlechter Ernten, während ihr damals noch die
verhältnismäßig hohen Preiſe einer Reihe von anderen Pro⸗
dukten der Landwirtſchaft und der landwirtſchaftlichen Neben⸗
gewerbe, ſo z. B. der Hülſenfrüchte, des Fleiſches, des Zuckers
und Branntweins, entgegenwirkten.
Seit den achtziger Jahren verſchlimmert ſich dann die Lage
der Landwirtſchaft trotz der beſſeren Ernten der letzten ſechs bis
ſieben Jahre infolge des weiteren, jetzt ſehr ſtarken Sinkens
der Getreidepreiſe und des gleichzeitigen Preisrückganges faſt
aller übrigen landwirtſchaftlichen Produkte und unter dieſen
namentlich auch des Branntweins und Zuckers. Setzt man mit
Conrad (Jahrbücher für Nationalökonomie und Statiſtik, N. F.
Bd. XVI Heft 3 S. 296— 297) die Preiſe der landwirtſchaftlichen
Produkte in Deutſchland für den Durchſchnitt der Jahre 1879
— 1882 — 100, fo verhalten ſich die Preiſe des Jahres 1887
folgendermaßen: Weizen = 78,5, Roggen — 73,1, Gerſte = 82,1,
Mais — 76,1, Hafer = 76,6, Weizenmehl = 78,3, Roggenmehl
— 73,6, Kartoffelſpiritus = 93,0, Rohzucker = 67,0.
Bezeichnet das Billigerwerden der Gebrauchs- und Verbrauchs⸗
güter und Kapitalien ſchon überhaupt einen wichtigen Kultur⸗
ſein, wenn er ſich, wie im gegebenen Fall, auf die von den
* Miaſſen konſumierten Nahrungsmittel bezieht. Mag der Vorteil,
den die Konſumenten und unter ihnen namentlich die Lohn—
arbeiter von dem Preisrückgang der Rohprodukte haben können,
ihnen auch nicht vollſtändig zu gut gekommen ſein, weil Zwiſchen⸗
händler, Müller, Bäcker und Fleiſcher, ihre Preiſe noch nicht ent—
ſprechend herabgeſetzt haben, ſo iſt es doch nicht fraglich, ob,
ſondern nur wann dieſes geſchehen wird. Auch giebt es eine
Reihe von Mitteln der Geſetzgebung und der genoſſenſchaftlichen
Organiſation, um die Herbeiführung dieſes Zeitpunktes künſtlich
zu beſchleunigen.
Aber dieſes erfreuliche Bild hat doch auch ſeine ernſte Kehr—
ſeite. Der Preisrückgang der meiſten landwirtſchaftlichen Pro—
dukte ſchmälert zunächſt die in Geld ausgedrückten Roherträge
der Landwirtſchaft.
Ob zugleich auch eine Verminderung der Grundrente ein—
tritt, hängt noch von anderen Faktoren ab, namentlich davon,
ob und wieweit es gelingt, die ſachlichen und perſönlichen Aus—
gaben der Landwirte zu reduzieren.
III.
Um über dieſen Punkt ins klare zu kommen, haben wir zu
fragen: in welchem Zuſtande befanden ſich die Landwirte bei Be⸗
ginn des Preisrückganges und mit welchen Mitteln ſuchten ſie
demſelben zu begegnen?
Hierauf iſt zunächſt zu antworten, daß die Zeit der land⸗
wirtſchaftlichen Proſperität, die im ganzen bis in die Mitte der
ſiebziger Jahre dauerte, einen außerordentlichen Aufſchwung
der landwirtſchaftlichen Technik namentlich auf den größeren,
aber auch auf den bäuerlichen Gütern zur Folge gehabt hat.
Dieſer Aufſchwung trat hervor in dem Übergang zu intenſiveren
Betriebsſyſtemen, in dem zunehmenden Gebrauch von künſtlichem
Dünger und von Kraftfutter, in der Verbeſſerung der landwirtjchaft-
108 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft.
lichen Geräte, in der vermehrten Anwendung von Maſchinen und
Dampfkraft, in der ſorgfältigeren Bearbeitung des Bodens,
namentlich aber in der Vervollkommnung der landwirtſchaftlichen
Nebengewerbe und unter dieſen wieder beſonders der Rübenzucker⸗
fabrikation und der Branntweinbrennerei. Gelang es den Fort⸗
ſchritten der landwirtſchaftlichen Technik, dadurch die Natural⸗
roherträgniſſe bedeutend zu ſteigern, ſo ermöglichten die hohen
Preiſe der landwirtſchaftlichen Produkte auch die Erzielung hoher
Geldroherträge. Da während des erſten Teils dieſer Periode der
Proſperität die Produktionskoſten und namentlich die Arbeits⸗
löhne niedrig ſtanden, die Lebenshaltung der ländlichen Grund⸗
beſitzer und Pächter einfach und die Steuerlaſt eine geringe
war, ſo mußte auch die Grundrente ſteigen.
Dieſe erhöhte Grundrente führte dann wieder, namentlich bei
den vermögenderen und umſichtigeren Landwirten, zur Vornahme
von umfangreichen Meliorationen. Sie hatte aber auch zur Folge,
daß gegen Ende dieſer Periode das Leben der größeren Grund⸗
beſitzer manche luxuriöſe Gewohnheiten annahm und ihre ganze
Exiſtenz ſich ſehr weſentlich hob. Den größeren Grundbeſitzern
folgte dann langſam und zögernd der Bauernſtand, indem er ſich
manchen bis dahin nicht gekannten Luxus in der Kleidung, häus⸗
lichen Einrichtung und Kindererziehung, namentlich aber im
Hausbau geſtattete. Angeregt durch die ſteigende Nachfrage nach
Arbeitern ſeitens der Induſtrie hoben ſich im Anfange der
ſiebziger Jahre auch die Löhne der landwirtſchaftlichen Arbeiter.
Und dieſen höheren Löhnen entſprach nicht etwa zugleich eine
höhere Arbeitstüchtigkeit. Im Gegenteil! die Klagen über die
geringe Brauchbarkeit, namentlich über die Unzuverläſſigkeit der
ländlichen Arbeiter haben ſeitdem zugenommen, ſo daß die höheren
Löhne ſich zugleich häufig mit geringeren Leiſtungen verbinden.
Hand in Hand mit dem allgemeinen nationalen Aufſchwung er⸗
folgte am Schluſſe dieſer Periode auch die Verwendung reich⸗
licherer Mittel ſeitens des Staates und der Kommunen für
Zwecke, die bis dahin vernachläſſigt worden waren, was wieder
eine Erhöhung der auf die einzelnen Landwirte fallenden Steuern
Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 109
38
8 zur Folge hatte. Nun entſprachen dieſen erhöhten Laſten der Land—
den. Aber dieſe Leiſtungen kommen den Grundbeſitzern direkt ent—
weder gar nicht oder doch nur nach längeren Zeiträumen zu gute.
Die Jahre der Proſperität haben ſomit zur Folge gehabt,
daß die Grundrente zwar bedeutend geſtiegen war, zugleich aber
auch, daß der Staat und die Gemeinden ſowie die geſamte
ländliche Bevölkerung viel anſpruchsvoller geworden waren.
Die erhöhte Grundrente gelangte aber nicht nur während
des Beſitzes, ſondern auch beim Beſitzwechſel zum Ausdruck. Wie
der Beſitzer ſelbſt, ſo wollten auch alle ſeine Kinder leben, und
das Leben, daß der Beſitzer auf dem Lande geführt hatte, wollte
er auch in der Stadt fortſetzen, nachdem er ſein Gut verkauft
oder ſeinen Kindern übergeben hatte. Ja nicht ſelten trachtete
der größere Gutsbeſitzer beim Kauf ſeines Gutes lediglich dar—
nach, dasſelbe möglichſt bald wieder mit Vorteil zu verkaufen,
um dann in der Stadt ſein früheres Leben, aber ohne die
frühere Mühe und Arbeit, fortſetzen zu können. Und dem
größeren Gutsbeſitzer folgte auch hierin mancher Bauer, wenn—
gleich die dem Bauernſtande innewohnende vis inertiae denſelben
im ganzen von der Beſchreitung dieſes Weges abgehalten hat.
Dabei verlangten die Beſitzer beim Verkauf ihrer Güter Preiſe,
deren Höhe ſich durch die bisherige Grundrente allein nicht recht—
fertigen ließ. Und wenn ſie zu den hohen Preiſen dennoch
Käufer fanden, ſo erklärt ſich dieſes aus dem Umſtande, daß
die Käufer, weil die Grundrente in den letzten Jahrzehnten geſtiegen
war, auch auf ihr ferneres Steigen in der Zukunft mit Be—
5 ſtimmtheit rechnen zu können meinten. So wurde denn in den
N hohen Kaufpreiſen bereits in der Gegenwart die künftig erwartete
Steigerung der Grundrente diskontiert. Begünſtigt ward dieſe
die Preiſe des Grundbeſitzes ſteigernde Tendenz noch durch die
Anſammlung großer Kapitalmaſſen in Handel und Induſtrie,
indem viele eine ſichere Anlage ihres Kapitals in Grund und
Boden und nicht ſelten auch eine Art Nobilitierung ihres Er-
werbs durch den landwirtſchaftlichen Beſitz und Beruf ſuchten.
110 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft.
Alle dieſe Vorgänge hatten eine bedeutende Steigerung der Güter⸗
preiſe beim Kauf ſowohl wie beim Erbübergang zur Folge.
An dieſem Kaufs- und Verkaufstaumel nahmen aber nicht
nur diejenigen Perſonen teil, deren Geldkapital ausreichte, um
den Kauf bar zu bezahlen, ſondern auch ſolche, die genötigt
waren, ſich einen beträchtlichen Teil des Kaufſchillings und der
Übernahmegelder kreditieren zu laſſen. Erſchienen doch ſolche
Kreditkäufe zu einer Zeit, in der man mit Sicherheit auf ein
weiteres Steigen der Grundrente und ein Sinken des Zinsfußes
rechnen zu können glaubte, als durchaus vorteilhaft, zumal wenn
man berückſichtigt, daß das größere Gut zugleich das kreditfähigere
iſt und daß ſich dasſelbe für mancherlei Kulturarten und Be⸗
triebsformen beſſer eignet als ein kleineres.
Hieraus ergaben ſich denn namentlich für die größeren Güter
des Nordoſtens folgende Reſultate: ihre Preiſe waren nicht nur
entſprechend der effektiv erhöhten Grundrente, ſondern weit über
dieſes Maß hinaus geſtiegen; ferner war der größere Grund⸗
beſitz — ſoweit er nicht gebunden war oder ſeine Beſitzer
in dieſem Tanz um das goldene Kalb die Erhaltung des
Familienbeſitzes der Erzielung eines bedeutenden Geldgewinnes
nicht vorgezogen hatten — in hohem Grade mobiliſiert worden;
endlich war die hypothekariſche Verſchuldung der größeren einem
häufigen Beſitzwechſel unterworfenen Güter eine beträchtlichere
geworden als die des mittleren bäuerlichen Grundbeſitzes, der
nicht ſo häufig wie jener die Hand gewechſelt hatte. So hat
die in zweiundfünfzig Amtsgerichtsbezirken des preußiſchen
Staates im Jahr 1883 von A. Meitzen ermittelte Höhe der
Grundbuchſchulden ergeben, daß — unter Ausſchluß der rechtlich
gebundenen Güter — die größeren Güter zum Achtundzwanzig⸗
fachen, die Bauerngüter zum Achtzehnfachen und die kleineren
bäuerlichen Stellen nur zum Zwölffachen des Grundſteuerreiner⸗
trags verſchuldet ſind.
Ahnliche Erſcheinungen, wie bei dem großen Grundbeſitz im
Nordoſten, finden ſich auch bei dem aus vielen Parzellen zuſam⸗
mengeſetzten kleinbäuerlichen Beſitz Mittel-, Süd- und Weſtdeutſch⸗
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Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 111
lands, wenngleich fie hier zum Teil aus anderen Gründen ent-
4 ſpringen. Es ift namentlich die in den langen Friedensjahren ftarf
aangewachſene Bevölkerung und ihr allgemeines Beſtreben, die ge—
machten Erſparniſſe in Grund und Boden anzulegen, der ſoge—
nannte Landhunger, ſowie ihr Kleben an der Scholle, wodurch die
Preiſe der einzelnen Parzellen auf eine ſolche Höhe getrieben
werden, daß die Verzinſung des Kaufſchillings durch die Grundrente
eine minimale wird oder, was dasſelbe iſt, daß bei landesüblicher
Verzinſung des Kaufpreiſes der Beſitzer für ſeine dem Landbau
auf der eigenen Scholle gewidmete Arbeit im Ertrage derſelben
keinen Entgelt mehr findet. Da ferner die im perſönlichen
Dienſt ſowie in der Induſtrie gemachten Erſparniſſe und das
im Erbwege oder durch Heirat gewonnene Geldkapital nicht
immer ausreichen, um den Kaufſchilling bar zu bezahlen, ſo
wird auch hier der häufige Beſitzübergang zur Hauptveranlaſſung
für die Verſchuldung der kleinen Grundbeſitzer. Daher zeigt ſich
% in dem, verglichen mit dem Nordoſten, agrarpolitiſch anders ge—
| arteten Süden und Weſten der kleine parzellierte Grundbeſitz am
meiſten verſchuldet, während der größere und beſſer arrondierte
bäuerliche Beſitz und ebenſo der meiſt rechtlich gebundene größere,
namentlich ſtandesherrliche Beſitz viel weniger verſchuldet iſt. Zu
dieſem Reſultat gelangt unter anderem die badiſche Enquete von
1882/83, indem in den zur Unterſuchung gelangten Gemeinden
die kleinen Beſitzungen (bis zu 2 Hektar) die relativ größte Be-
laſtung mit Schulden aufweiſen. Dieſelbe Erſcheinung wird auch
für einige Teile Bayerns, für Kärnten, Krain und Steiermark
beſtätigt. Eine Ausnahme von dieſer Regel bilden nur die badiſchen
Gemeinden mit geſchloſſenem Beſitz und Anerbenrecht, indem hier
die geſchloſſenen einem irrationell geſtalteten Anerbenrechte unter⸗
worfenen Hofgüter von 5—20 Hektar am höchſten verſchuldet
ſind. Dazu kommt dann noch als weitere Kalamität des kleinen
Beſitzes jener Gegenden eine bis zur Unwirtſchaftlichkeit geſteigerte
Teilung der einzelnen Parzellen.
In den Strudel der gewagten Preisbildung und der Mobi⸗
liſierung des Grundbeſitzes hat ſich der ſpannfähige Bauernſtand
112 Die gegenwärtige Lage der deutfchen Landwirtſchaft.
mit arrondiertem Beſitz und althergebrachter Erbfolge im Norden
ſowohl wie im Süden am wenigſten hineinziehen laſſen. Von
ihm läßt ſich nach den wenigen Anhaltspunkten, die wir dafür =
beſitzen, denn auch annehmen, daß er im allgemeinen durch Hypo
thekariſche Schulden am wenigſten belaſtet iſt. Dagegen leidet
er unter ſeinen Perſonalſchulden mehr als der große Grund⸗
beſitzer, weil es für ihn vielfach noch an Anſtalten fehlt, die
ihm einen ſeinen Bedürfniſſen entſprechenden Perſonalkredit ver⸗
mitteln, und weil er dort, wo dieſelben beſtehen, ſie noch nicht
genügend zu benutzen verſteht. Daher gerät er bereits bei relativ
geringer Verſchuldung leicht in die Hände von Wucherern, die
ſeine momentanen Verlegenheiten benutzen, um ihn zu ruinieren.
Auch befindet er ſich in einem Übergangsſtadium, indem der
Geldverkehr erſt jetzt in die Bauernwirtſchaft vollſtändig ein⸗
dringt. Dieſem doppelten Andrange der Weltwirtſchaft und des
Geldverkehrs fühlt ſich der noch von den Feſſeln und Gewohn⸗
heiten der älteren naturalwirtſchaftlichen Periode beherrſchte
Bauer, dieſer konſervatipſte Beſtandteil unſerer ſocialen Schich⸗
tung, nicht ganz gewachſen. Ihm fehlt noch viel von der Be⸗
weglichkeit, Rührigkeit und Anſtelligkeit des amerikaniſchen
Farmers, der in der Anwendung der Errungenſchaften der land⸗
wirtſchaftlichen Technik, in der Ausnutzung gegebener Konjunk⸗
turen und in der Anpaſſung ſeiner Wirtſchaft an dieſelben un⸗
ſerem Bauer weit überlegen iſt. Wenn dieſer auch weniger als
der große Grundbeſitzer unter dem Zwange ſteht, den die durch
ſociale Rückſichten gebotene Lebenshaltung und Kindererziehung
dem letzteren auferlegt, ſo laſtet doch ſeine inferiore ſociale
Stellung ſchwer auf ihm und verhindert jenen Aufſchwung, den
der in ſocialer und politiſcher Beziehung ſich der vollſten Gleich⸗
heit mit ſeinen Mitbürgern erfreuende amerikaniſche Farmer zu
nehmen vermag.
So hat denn die gegenwärtige Kriſis unſeren deutſchen
Grundbeſitzerſtand ſchlecht vorbereitet gefunden: mit hohen für
ſeinen Grundbeſitz gezahlten Kaufpreiſen und ſtarker Verſchul⸗
dung, mit geſteigerten Produktionskoſten, Staats- und Gemeinde⸗
Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 113
abgaben, mit einer erhöhten Lebenshaltung und mannigfachen
Luxusbedürfniſſen, aber zugleich mit verhältnismäßig geringem
Kapitalbeſitz iſt er in dieſelbe eingetreten. Kein Wunder daher,
daß den infolge geſunkener Preiſe verminderten Geldroherträgen
nun auch bald eine Verminderung der Grundrente entſprach.
Wenn die geſunkene Grundrente ſomit gegenwärtig eine niedrigere
Verzinſung des Grundkapitals, in dem neben den gezahlten
hohen Kaufpreiſen noch mancherlei zum Teil nicht unbedeutende
Kapitalverwendungen der gegenwärtigen Beſitzer enthalten ſind,
bewirkt als vor der Kriſis, ſo verdient doch hervorgehoben zu
werden, daß ein ähnliches Schickſal auch die Beſitzer des in
ſoliden Effekten (Staatspapiere, landſchaftliche Pfandbriefe
u. ſ. w.) angelegten Geldkapitals infolge der Zinsreduktion be—
troffen hat. Unter dieſen Kapitalbeſitzern befinden ſich in einer be—
ſonders ſchlimmen Lage diejenigen kleinen Kapitaliſten, die aus
irgend einem Grunde nicht in der Lage ſind, die Schmälerung ihres
fundierten Einkommens durch Arbeitsverdienſt erſetzen zu können.
Aber während die Kapitaliſten Großbritanniens und Frank—
reichs einen niedrigeren Zins beziehen als die Kapitalbeſitzer
Deutſchlands, werden umgekehrt die Grundbeſitzer Deutſchlands
durch das Sinken der Grundrente ſchwerer betroffen als die Grund—
beſitzer Großbritanniens und Frankreichs, und zwar aus einer
Reihe von Gründen, die wir hier nur kurz andeuten können.
IV.
Verglichen mit Deutſchland, deſſen Grundbeſitzverteilung im
ganzen eine geſunde iſt, indem ſich bei uns große, mittlere und
kleinere Güter in mannigfachen, der äußeren Naturausſtattung
und den volkswirtſchaftlichen Zuſtänden angepaßten Miſchungs⸗
verhältniſſen vorfinden, hat Großbritannien eine viel weniger
günſtige Verteilung ſeines Bodens. Die extrem ariſtokratiſche
Verteilung des Grundbeſitzes in Großbritannien hat neben ihren
überwiegenden Schattenſeiten aber doch auch einige wenige Vor—
züge, die beſonders während der gegenwärtigen Kriſis deutlich
zu Tage getreten ſind. Die ſehr großen und wenig wee
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen.
114 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft.
Grundbeſitzer, die nicht ſelten in ihrer Hand den Beſitz von
Bergwerken, ſtädtiſchen Häuſern und neuerdings auch überſeeiſchen
Ländereien verbinden, können die Kriſis viel leichter überſtehen
als die deutſchen Grundbeſitzer, die neben ihrem Grund und
Boden nur ſelten Kapital, aber häufig Schulden beſitzen. So
wird das Sinken der Grundrente bei den großbritanniſchen
Grundbeſitzern zum Teil kompenſiert durch das Steigen der Berg⸗
werks⸗, Häuſer⸗ und überſeeiſchen Landrente. Und wenn eine
ſolche Kompenſation auch nicht eintritt, ſo gefährdet die Ver⸗
minderung der an ſich großen Einkommen doch noch nicht die
Exiſtenz derjenigen, die ſie beziehen. Die großen und größten
Grundbeſitzer waren daher vielfach in der Lage, ihren Pächtern
die Pachtgelder zu ſtunden und auf einen Teil ihres Pacht⸗
ſchillings definitiv zu verzichten und trotzdem ihre verpachteten
Grundſtücke noch bedeutend zu meliorieren. Wo den Pächtern
ſolche Konzeſſionen nicht gemacht worden ſind und ſie ihre Pacht
aufgeben mußten, da haben ſie als kapitaliſtiſche Unternehmer
von einer viel größeren Geſchäftsroutine, als unſere ſtarren
Bauern ſie beſitzen, in einem anderen Unternehmen diesſeits oder
jenſeits des Oceans ihr Fortkommen gefunden. Damit ſoll nun
durchaus nicht geleugnet werden, daß auch viele engliſche Pächter
ihr Kapital verloren und daß die zahlreichen großen ſowie die
wenigen mittleren und kleineren engliſchen Grundbeſitzer —
unter den letzteren namentlich die lebenslänglichen Nutznießer
von Pfarrländereien — empfindliche Verluſte erlitten haben,
ſondern nur darauf hingewieſen werden, daß die gegenwärtige
Kriſis an ſich in ihren letzten Konſequenzen für Großbritannien
keine ſo tiefgehenden wirtſchaftlichen, politiſchen und ſocialen
Wirkungen haben wird wie in Deutſchland. Dieſes erklärt ſich
indeſſen nicht nur durch die größere Widerſtandsfähigkeit der eng⸗
liſchen Grundbeſitzer, ſondern auch daraus, daß an dem Blühen
der Landwirtſchaft in England ein geringerer Teil der Bevöl⸗
kerung direkt intereſſiert iſt als in Deutſchland. Und die gewerb⸗
und handeltreibenden Klaſſen Großbritanniens haben infolge
der Verbilligung der landwirtſchaftlichen Produkte zu den Vor⸗
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Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 115
zügen des wohlfeilſten Kapitals, der wohlfeilſten Kohlen und
Maſchinen noch den der wohlfeilſten Nahrungsmittel erhalten,
ein Vorzug, der namentlich der Induſtrie zu gute kommen muß.
Denn iſt dieſe an den Umſätzen des geſamten Welthandels mit
ca. 46 Prozent beteiligt, und droht ihr dieſer Anteil durch die
konkurrierenden Nationen geſchmälert zu werden, ſo findet ſie in
dem Billigerwerden der Lebensmittel, das bereits teilweiſe zu einer
Herabſetzung der Löhne geführt hat, eine weſentliche Kräftigung
für ihre bedrohte Poſition.
Ahnliches wie für England gilt auch für Frankreich. Der
mittlere und kleine Grundbeſitzer nimmt hier eine größere Fläche
ein als in manchen Teilen Deutſchlands und ſpeciell in Preußen.
Die von dem Code civil geſtützte Sitte der Naturalteilung des
ererbten Grundbeſitzes, das weit verbreite régime conjugal, der
haushälteriſche und ſparſame Sinn des Franzoſen, endlich auch
die mangelhafte Hypothekenverfaſſung haben hier bisher eine ſo
ſtarke hypothekariſche Verſchuldung des ländlichen Grundbeſitzes
verhindert, wie ſie bei uns beſteht. Freilich iſt die Kriſis auch
in Frankreich bisher nicht ſpurlos an dem ländlichen Grundbeſitz,
namentlich dem größeren, vorübergegangen. Aber immerhin
laſtet ſie auf Frankreich aus den angegebenen Gründen, ſowie
weil dasſelbe wegen ſeines größtenteils fruchtbaren Bodens und
milderen Klimas mancherlei Früchte bauen kann, die der über-
ſeeiſchen Konkurrenz nicht unterliegen, weniger ſchwer als auf
Deutſchland.
Was die Kriſis bei uns beſonders drückend macht, das
ſind, außer den ungünſtigeren klimatiſchen und Bodenverhält—
niſſen und dem geringeren Kapitalreichtum, namentlich im
Nordoſten Deutſchlands, mancherlei Mängel unſerer Agrarver-
faſſung und der Sitte unſerer landwirtſchaftlichen Kreiſe. Da⸗
hin gehören die Gewohnheit, im Vergleich zum vorhandenen
Kapitalbeſitz zu große Güter zu kaufen, die hohen Kaufpreiſe
und Übernahmetaxen, der häufige Beſitzwechſel der Güter, die
ſtarke Gebundenheit der Lebenshaltung und der Konſumtions—
gewohnheiten, namentlich unſerer größeren Grundbeſitzer, durch
8* |
116 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft.
äußere ſociale Rückicchten und Standesgewohnheiten, die geringe
Rührigkeit unſeres Bauernſtandes u. a. m.
V.
Wenn ſomit infolge der in Deutſchland geltenden Agrar-
verfaſſung und landwirtſchaftlichen Sitte die Kriſis ſich bei uns
auch mehr verſchärft als in anderen Ländern, ſo bewirkt dieſer
Umſtand doch auch wieder, da die Bedingungen der Produktion,
die Agrarverfaſſung und landwirtſchaftliche Sitte in den ver⸗
ſchiedenen Teilen Deutſchlands ſehr ungleich ſind, daß die Kriſis
bei uns keineswegs alle Grundbeſitzer mit gleicher Schwere trifft.
Zunächſt ſei hier auf den Unterſchied in der Lage des weſtlichen
und öſtlichen Deutſchland hingewieſen, indem die Preiſe der
landwirtſchaftlichen Produkte im Weſten und Süden zum Teil
nicht unbedeutend höher ſtehen als im Oſten. Zu den höheren
Preiſen kommen dann im Weſten und Süden noch hinzu das
günſtigere Klima, die größere Fruchtbarkeit des Bodens, der
größere Kapitalreichtum, die größere Rührigkeit der Bevölkerung
ſowie die größere Zahl konſumtionsfähiger Städte. Haben dieſe
Vorzüge nicht verhindern können, daß auch hier ein Rückgang
der Grundrente eingetreten iſt, ſo dürfte er doch nicht ſo be—
deutend ſein wie in dem von der Natur weniger begünſtigten,
noch zum Teil in der Naturalwirtſchaft ſteckenden, weniger kapital⸗
kräftigen, weniger induſtriellen und ſtädtereichen Oſten.
Was die Beſitzer der rechtlich gebundenen größeren Güter⸗
komplexe, der ſogenannten Herrſchaften betrifft, deren Zahl
auch in Deutſchland keine geringe, wenn auch keine ſo große iſt wie
in Großbritannien, ſo ſind ſie durch die Kriſis meiſt nur inſofern
betroffen, als ſie von ihren großen Gutserträgen gegenwärtig nicht
mehr ſoviel kapitaliſieren können wie in Zeiten der Proſperität.
Aber auch unter den Beſitzern des dem freien Verkehr unter-
worfenen Grundbeſitzes hat die wirtſchaftliche Depreſſion einen
ſehr ungleichen Grad erreicht. Abgeſehen von den ſehr großen,
rechtlich gebundenen Herrſchaften iſt der größere Grundbeſitz im
Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 117
Nordoſten von der gegenwärtigen Kriſis ſtärker betroffen als der
mittlere und kleine. Es iſt dies nicht zum wenigſten dadurch
bedingt, daß mit der Größe des Grundbeſitzes die Quote der
zum Verkauf zu bringenden Produkte wächſt, ſo daß die kleinen
Grundbeſitzer ihre Produkte größtenteils ſelbſt verzehren und
daher unter dem Preisfall weniger zu leiden haben. Daß der
größere frei veräußerliche und verſchuldbare Grundbeſitz von der
gegenwärtigen Kriſis ſtärker getroffen wird als der mittlere und
kleinere, beweiſen u. a. die Zahlen der für 1886/87 für Preußen
aufgeſtellten Statiſtik der Zwangsverſteigerungen land- und forſt⸗
wirtſchaftlicher Grundſtücke. Demnach nimmt, in Verhältnis⸗
zahlen ausgedrückt, unter den Gründen, welche die Subhaſtation
herbeigeführt haben, die ungünſtige Lage der Landwirtſchaft ein:
bei den Beſitzungen von 50 ha und mehr = 17,02 Prozent
= = = = 50 — 7,07 ha ==710 =
2 2 2 z 7, 07 — 2 ha == 3, 13 =
0 - „2 ha bis 75 a2 = 2,56 -
Mit biste gutachtlich begründeten Nachrichten ſtimmt auch
die ſtatiſtiſch feſtgeſtellte Thatſache überein, daß der Anteil an
den Subhaſtationen überhaupt bei den größeren Beſitzungen ver—
hältnismäßig weit bedeutender iſt als bei den kleineren.
Es entfielen nämlich:
auf Beſitzungen
von 50 ha und darüber von der ee EN Fläche = 77,81 Proz.
- 50—10 ha = = „ 216,21
„10 —2 ha RE = z „„
dis 25 a = — 0,73: >»
Freilich tritt der bereits oben erwähnte Dualismus in den
Agrarverhältniſſen des Nordens und Nordoſtens einer- und des
Südens andererſeits auch in der Subhaſtationsſtatiſtik hervor,
indem im Süden der kleine Grundbeſitz von den Subhaſtationen
ſtärker betroffen wird als der mittlere und große. Im Norden
und Nordoſten dagegen ſcheint der kleine Grundbeſitz ſich relativ
am beſten zu befinden, namentlich dann, wenn die Arbeitskraft
der Beſitzer ausreicht, um ihre Gütchen ohne Hinzuziehung fremder
Lohnarbeiter zu beſtellen, und wenn ſie auf denſelben Gemüſe⸗
und Handelsgewächſebau oder Viehzucht betreiben.
118 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft.
Außerdem befinden ſich die Beſitzer von Gütern, welche die⸗
ſelben zu mäßigen Taxen von ihren Eltern ererbt haben, im all⸗
gemeinen in beſſerer Lage als diejenigen, die ſie zu hohen
Preiſen gekauft oder von ihren Geſchwiſtern übernommen haben.
Mit dieſer Unterſcheidung fällt größtenteils die Unterſcheidung
der Beſitzer ſtark und wenig verſchuldeter Güter zuſammen.
Wer ferner die nötige wirtſchaftliche und techniſche In⸗
telligenz und das erforderliche Betriebskapital beſaß, vermochte
ſchon im voraus die herannahende Kriſis zu erkennen und ſich
mit einer raſchen Wendung den veränderten Konjunkturen an-
zupaſſen. Insbeſondere haben diejenigen die Nachteile der Kriſis
am beſten pariert, welche vorzugsweiſe Produkte erzeugen, deren
Preiſe gar nicht gefallen ſind, wie z. B. Gemüſe und manche
Handelsgewächſe, oder welche bei der Erzeugung von ſolchen
Produkten, deren Preiſe jeweilen relativ am wenigſten gefallen
waren, ſich in der Vorhand befanden und nicht ſolange warteten,
bis nun auch das Angebot dieſer Produkte im Inlande ein ſo
ſtarkes wurde, daß auch ihre Preiſe ſanken.
Endlich werden diejenigen Beſitzer die Kriſis leichter über⸗
ſtehen, die in der Erziehung ihrer Kinder von der ſocialen Sitte
und ihren Anforderungen weniger abhängig als andere oder
perſönlich fähig und bereit ſind, ihren Verbrauch auf das durch
das Sinken der Preiſe gebotene Niveau herabzuſetzen.
VI.
Folgt nun ſchon aus dem Bisherigen, daß die deutſchen
Grundbeſitzer von der gegenwärtigen Kriſis in ſehr verſchiedenem
Grade betroffen worden ſind, ſo werden dieſe Differenzen noch
vergrößert, ja es wird die Kriſis in ihren Wirkungen für einige
Beſitzer noch weſentlich gemildert durch eine Reihe von Umſtänden,
die der Depreſſion entgegenwirken.
Hierher gehört freilich eine allgemeine Verminderung der
Produktionskoſten nicht. Denn namentlich die Löhne der länd⸗
lichen Arbeiter, welche einen weſentlichen Poſten unter den
Produktionskoſten ausmachen, ſind, wenn man von vereinzelt
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Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 119
gebliebenen exceſſiven Lohnerhöhungen der Gründerzeit abſieht,
im ganzen auf derjenigen Höhe geblieben, die ſie in den ſiebziger
Jahren erreicht haben. Die ſachlichen Produktionskoſten dagegen
haben ſich im einzelnen infolge des Sinkens der Preiſe für Me-
tallwaren, Geräte, Maſchinen, künſtlichen Dünger, Kraftfutter ꝛc.
niedriger geſtellt.
Das Hauptgegengewicht gegenüber den geſunkenen Preiſen
der Bodenprodukte übt aber der um 1 Prozent und mehr ge—
ſunkene Zinsfuß des Geldkapitals aus. Dadurch iſt namentlich
für die verſchuldeten Gutsbeſitzer eine weſentliche Entlaſtung er—
wachſen. Aber freilich iſt dieſe Entlaſtung keine gleichmäßige,
ſondern, je nach der Perſon der Gläubiger und Schuldner, eine
ſehr verſchiedene geweſen.
Mit der Reduktion des Zinsfußes ſind die Landſchaften
nämlich früher vorgegangen als die Sparkaſſen und Bodenkredit⸗
banken, und dieſe wieder früher als die Stiftungen und manche
Privatgläubiger. Es haben demnach den meiſten Vorteil von
der bisherigen Zinsreduktion die größeren Grundbeſitzer überhaupt
und ſpeciell bezüglich ihrer erſten Hypotheken, den geringſten die
mittleren und kleineren Grundbeſitzer bezüglich ihrer zweiten
Hypotheken und Perſonalſchulden gehabt. Indeſſen iſt das
Sinken des Zinsfußes für das Geldkapital doch in einer an-
deren Beziehung dem geſamten ländlichen Grundbeſitz zu gut ge—
kommen. Mag der Verkehrswert, d. h. der durchſchnittliche Kauf—
preis für den ländlichen Grundbeſitz, in Zeiten der Proſperität im
allgemeinen und im beſondern in Ländern mit dichter Bevölkerung
auch mehr oder minder bedeutend über dem Ertragswert desſelben
ſtehen, ſo bildet dieſer letztere doch immer den feſten Punkt, um
den die Kaufpreiſe oscillieren und von dem ſie beſtimmt werden.
Dieſer Ertragswert ergiebt ſich aber aus der Kapitaliſation der
durchſchnittlichen Grundrente nach dem für das Geldkapital
landesüblichen Zinsfuß. Wenn nun auch die Grundrente infolge
der gegenwärtigen Kriſis zurückgegangen iſt, ſo iſt dafür mit dem
Sinken des Zinsfußes der Multiplikator erhöht worden. Da⸗
durch dürfte ſich wohl hauptſächlich erklären, daß während die
120 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft.
Pachtgelder in manchen Gegenden einen nicht unbedeutenden
Rückgang erfahren haben, die Kaufpreiſe der Grundſtücke, abge⸗
ſehen von vereinzelten Notverkäufen, im allgemeinen durchaus
nicht in demſelben Grade geſunken ſind wie die Grundrente; ja,
daß im freihändigen Verkaufe noch immer ſehr hohe Kaufpreiſe
gezahlt werden. Freilich gelangt die gegenwärtige Kriſis auch
auf dieſem Gebiete darin zum Ausdrucke, daß der Beſitzwechſel
in der Gegenwart ein viel langſameres Tempo eingeſchlagen hat,
indem zwar eine große Anzahl von Gütern zum Verkaufe an⸗
geboten werden, die Käufer aber im Vergleich zu den früheren
Zeiten der Proſperität viel zurückhaltender geworden ſind.
Ferner haben der Kriſis in den letzten Jahren entgegen⸗
gewirkt eine Reihe guter Ernten. Denn während in die ſiebziger
Jahre eine Reihe ungünſtiger Ernten fallen, weiſen die achtziger
Jahre gute oder doch wenigſtens mittlere Ernten auf. Das
größere Quantum der gewonnenen Produkte hat daher den Preis⸗
ſturz einigermaßen auszugleichen vermocht. Und was von der
Geſamtheit der Landwirte in günſtigen Jahren gilt, das gilt
von einzelnen derſelben überhaupt, ſofern es ihnen gelungen iſt,
in den Jahren der Proſperität und über dieſelben hinaus durch
zweckmäßig vorgenommene Meliorationen und ſorgfältige Kultur
die Quantität ihrer Produktion zu ſteigern und die Qualität
derſelben den Bedürfniſſen des Marktes anzupaſſen.
Auch haben die Landwirte hie und da den Verſuch gemacht,
ihre Reinerträge dadurch zu erhöhen, daß ſie die Verarbeitung
ihrer Produkte wieder mehr ſelbſt in die Hand nahmen und ſich in
dem Bezuge ihrer ſachlichen Produktionsmittel ſowie in dem Abſatze
ihrer Produkte von den Zwiſchenhändlern zu emancipieren ſuchten.
In erſterer Beziehung verdienen beſonders Erwähnung die
allerdings nur vereinzelt gemachten Verſuche, das auf den eigenen
Feldern gewonnene Getreide ſelbſt zu vermahlen ſowie das
Mehl zu Brot für den Verkauf auf dem Lande und in den
nahegelegenen Städten zu verbacken, und namentlich die in
weitem Umfang eingetretene Verarbeitung der Milch zu Molkerei⸗
produkten und der Abſatz derſelben an die Konſumenten durch
Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 121
Molkereigenoſſenſchaften. In letzterer Beziehung iſt zu erwähnen
der von den Landwirten mancher Gegenden ins Werk geſetzte
genoſſenſchaftliche Bezug von Saatgut, Kraftfutter, künſtlichem
Dünger und Maſchinen ſowie der gemeinſchaftliche Abſatz von
Vieh und Fleiſch, ebenfalls mit Umgehung der Händler. Immer⸗
hin find das nur einzelne Anfänge, jo daß für die Vereins-
und Genoſſenſchaftsthätigkeit hier noch ein weites Gebiet der
praktiſchen Bethätigung offenliegt.
Endlich möge noch derjenigen ſtaatlichen Thätigkeit gedacht
werden, welche die allgemeine Förderung der Volkswirtſchaft und
die ſpecielle Unterſtützung der Landwirtſchaft verfolgt. Hierher ge—
hören im allgemeinen die mannigfachen Verbeſſerungen in den
Verkehrsſtraßen und Verkehrsmitteln und ſpeciell die Förderung
des landwirtſchaftlichen Vereins-, Unterrichts- und Ausſtellungs—
weſens ſowie die ſeit 1879 eingeſchlagene Zollpolitik.
Während in England das Vorwiegen der induſtriellen und
Handelsintereſſen die Abhaltung der landwirtſchaftlichen Pro—
dukte des Auslands durch Schutzzölle verhindert hat, ſo daß die
engliſche Landwirtſchaft ſich kurzer Hand zur Einſchränkung des
Cerealienbaues entſchließen mußte, find in Frankreich, Oſterreich⸗
Ungarn, Portugal, Italien und Schweden-Norwegen agrariſche
Zölle eingeführt und ebenſo in Deutſchland die Agrarzölle nach
ihrer Einführung im Jahre 1879 zweimal, in den Jahren 1885
und 1887, erhöht worden.
Daß trotz dieſer dem Rückgange der Preiſe entgegenwirken⸗
den Kräfte und Maßregeln die Lage der Grundbeſitzer eine
ſchwierige iſt, kann nicht geleugnet werden.
Alles in allem genommen charakteriſiert ſich die gegenwärtige
Kriſis ſomit als ein Zuſtand geſunkener und ſinkender Grund—
rente, gegen welches Sinken die Geſetzgebung, die landwirtſchaft—
lichen Vereine und die einzelnen Landwirte ſich kräftig zu wehren
ſuchen. Das Reſultat dieſer Gegenwehr und daher auch der
Grad, bis zu welchem die Grundrente geſunken, iſt aber für die
verſchiedenen Teile Deutſchlands und die verſchiedenen Beſitzer
ſehr ungleich.
122 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft.
Unter der Kriſis leiden daher in erſter Linie dauernd die
Grundeigentümer, ſodann in zweiter Linie die Pächter, dieſe
jedoch nur ſolange, als der von ihnen kontraktlich zu zahlende
Pachtzins nicht entſprechend der ſeit dem Kontraktabſchluß ge⸗
ſunkenen Grundrente reduziert worden iſt. In dritter Linie
werden von der Kriſis aber auch alle diejenigen betroffen, welche
beim Abſatz ihrer Produkte oder Leiſtungen auf die Landwirte
angewieſen ſind, wozu namentlich die Fabrikanten für den land⸗
wirtſchaftlichen Betrieb erforderlicher Produktionsmittel (künſt⸗
licher Dünger, Kraftfutter, Maſchinen, Geräte ꝛc.), aber auch
die Verfertiger ſolcher zum perſönlichen Bedarf dienender Artikel
gehören, welche ihren lokalen Abſatz vorzugsweiſe in landwirt⸗
ſchaftlichen Kreiſen haben. Dagegen wußten die ländlichen Arbeiter
ihre Löhne im ganzen auf der früheren Höhe zu behaupten, und
auch der allgemeine Zuſtand der Landbautechnik iſt, dank den wiſſen⸗
ſchaftlichen Anregungen ſowie der Umſicht und Energie, welche die
Landwirte auch in ſchweren Zeiten beweiſen, ein vorzüglicher. Trotz
der Kriſis hat die Intenſivierung des landwirtſchaftlichen Betriebes
auch in dem letzten Jahrzehnt zugenommen, was ſich namentlich
in der konſtanten Vermehrung der Getreideerntemenge zeigt.
Eine Ausnahme von dieſer Regel bilden meiſt nur die zur
Subhaſtation gelangten Güter, welche häufig bereits lange vor
der eingetretenen Kataſtrophe vernachläſſigt und während der
Subhaſtationsperiode dann zum Teil vollſtändig devaſtiert werden.
VII.
Um einen Maßſtab für die Beurteilung der gegenwärtigen Kriſis
zu gewinnen, wird es nicht überflüſſig ſein, dieſelbe mit der Kriſis,
welche die deutſche Landwirtſchaft namentlich im Nordoſten in den
zwanziger und dreißiger Jahren durchgemacht hat, zu vergleichen.
Auch die letztere war veranlaßt durch ein ſtarkes Sinken der Ge⸗
treidepreiſe, welches nach Abſchluß der Kriegsjahre eintrat und bis
zur zweiten Hälfte der dreißiger Jahre dauerte. War doch auf
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Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 123
dem Breslauer Markte der Preis für den Scheffel Roggen,
welcher noch 1823 mit 28 Sgr. 5 Pfg. notiert war, in den
Jahren 1824 und 1825 auf 17 Sgr. geſunken und im
Jahre 1835 nur auf 22 Sgr. 3 Pfg. geſtiegen. Erſt 1837
iſt derſelbe mit 37 Sgr. 4 Pfg. notiert. Ja, in den entlegenſten
Teilen Oſtpreußens ſoll der Scheffel Roggen ſogar für 5 Sgr.
angeboten worden ſein. Dank der mit dem Frieden wieder—
erwachten Unternehmungsluſt, der freien Agrargeſetzgebung und
der Anwendung der Lehren Thaers und Schwerz' auf die
Praxis hatte die landwirtſchaftliche Produktion jener Jahre
rapid zugenommen. Der vermehrten Produktion fehlte aber
zunächſt der entſprechende Abſatz, namentlich weil der Zuſtand
der Wege in Preußen am Anfange dieſer Periode ein elender und
die Fracht daher ſehr hoch zu ſtehen kam; dann, weil der Export
des Getreides auf dem Seewege nach England durch die engliſche
Zollgeſetzgebung von 1815 außerordentlich erſchwert war, und
endlich, weil die dünne inländiſche, noch weſentlich agrikole Be—
völkerung mit ihrer Nachfrage nach Getreide dem Angebot des—
ſelben nicht nur nicht folgen konnte, ſondern weil dieſe Nach—
frage infolge der Zunahme des Kartoffelbaues zeitweilig ſogar
zurückging. Dieſe niedrigen Preiſe drückten die Landwirte da—
mals noch viel ſchwerer als gegenwärtig, weil namentlich die
Gutsbeſitzer des Oſtens viel ausſchließlicher als jetzt auf den
Cerealienbau angewieſen waren und neben dieſem in größerem
Maßſtabe nur Schafzucht betrieben.
Und auch damals wie jetzt trat die Landwirtſchaft wenig
vorbereitet und zugleich viel weniger widerſtandsfähig als jetzt
in die Kriſis ein. Denn die Kriegszeit von 1806-1815 hatte
die Grundbeſitzer in ihren Vermögensverhältniſſen ſtark herunter⸗
gebracht. War doch während dieſer Zeit mehr als die Hälfte des Vieh-
ſtandes in der Provinz Preußen draufgegangen, und blieben doch
in Schleſien viele Rittergüter des rechten Oderufers, deren In—
ventar im Kriege zerſtört worden war, noch jahrelang herrenlos,
weil ſich kein Käufer für dieſelben finden wollte. Unter ſolchen
Umſtänden iſt es begreiflich, daß die Folgen der Kriſis geradezu
124 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft.
in erſchreckenden Symptomen zu Tage treten mußten und zum
Teil tiefer gingen als die Wunden, die der Krieg geſchlagen hatte.
Handel und Schiffahrt lagen darnieder, und viele Kornhändler
machten Bankerott. Die Grundbeſitzer zahlten ihre Steuern nu
unregelmäßig und in manchen Gegenden gar nicht. An einen 1
freihändigen Verkauf der Güter war nicht zu denken; dagegen
war die Zahl der ſequeſtrierten und ſubhaſtierten Güter eine ſehr
große. In Schleſien z. B., wo dieſelbe während der Kriegsjahre
im Maximum 100 (Weihnachtstermin 1811) betrug, war ſie
im Weihnachtstermin 1831 auf 114 geſtiegen, und zwar trotz⸗
dem die ſchleſiſche Landſchaft auch jetzt gegen ihre Schuldner
die größte Nachſicht übte. Wie in Schleſien, ſo traten auch
in der Provinz Preußen zahlreiche Subhaſtationen ein; hier
wurden auf einmal 218 Güter öffentlich verſteigert, und in
manchen Teilen der Provinz wechſelte die volle Hälfte der Güter
ihre Beſitzer. Bei dieſen Verſteigerungen wurden im allgemeinen
nur niedrige Angebote erzielt, ſo daß die Landſchaft Verluſte er⸗
litt und die ehemaligen Beſitzer in Vermögensverfall gerieten.
Obgleich manche altangeſeſſene Adelsgeſchlechter durch eigene
Thätigkeit oder wohlwollende Unterſtützung der Regierung! ſich
in ihrem Beſitz erhielten, waren doch andere nicht zu retten. Zu
den Salzburger Exulanten, von denen die Unternehmendſten ſich
bereits früher zu Grundherren emporgearbeitet hatten, trat jetzt
mit einem Male eine ganze Schar bürgerlicher Gutsbeſitzer aus
Bremen, Braunſchweig und Sachſen hinzu, die dann um ſo
beſſer gediehen, je tüchtiger ſie waren, je niedrigere Preiſe ſie zu
zahlen, je weniger ſociale Bedürfniſſe ſie zu befriedigen und je
ſpäter, d. h. je näher dem Ausgang der Kriſis, ſie ihre Güter
1 Hierher gehören namentlich die in den beiden erſten Jahrzehnten
unſeres Jahrhunderts in Preußen erlaſſenen Generalindulte und Moratorien
ſowie die außerordentliche ſtaatliche Unterſtützung im Betrage von 3 Mil⸗
lionen Thalern = dem 16. Teile der damaligen Staatseinnahmen, welche
den Landwirten Oſtpreußens im Jahre 1822 teils direkt gewährt wurde,
teils indirekt zu gute kam.
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Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 125
gekauft hatten. Eine ähnliche Entwicklung der landwirtſchaft—
lichen Verhältniſſe zeigt ſich in jenen Jahren der Kriſis auch in
einigen anderen deutſchen Ländern, wie z. B. in Bayern, Schles—
wig⸗Holſtein c. In Dithmarſchen z. B. war der Wert des
Bodens ſo tief geſunken, daß der Staat diejenigen Hufen, die
er wegen rückſtändiger Steuern den Beſitzern abgenommen hatte,
fleißigen Knechten unentgeltlich zum Eigentum übergab, um die
Steuern nicht auch in Zukunft zu verlieren.
Verglichen mit den oben angeführten Thatſachen, laſſen die
Symptome der gegenwärtigen Kriſis, ſoweit ſie in der Statiſtik
der landwirtſchaftlichen Produktion, der Subhaſtationen, der
Domänenverpachtung, der hypothekariſchen Verſchuldung und
ihrer Bewegung für den Unbeteiligten deutlich erkennbar vor—
liegen, dieſelbe noch lange nicht ſo akut erſcheinen, wie es die
Kriſis der zwanziger und dreißiger Jahre war. Dabei iſt aller—
dings zu erwägen, daß die Leiſtungen der Statiſtik auf dieſem
Gebiete außerordentlich ungenügend ſind und daß die in den
drei ſüddeutſchen Staaten Baden, Württemberg und Heſſen ver—
anſtalteten Enqueten ſich weſentlich auf die erſte Periode der
Kriſis beſchränken. Es iſt daher wohl möglich, daß — wie aus
den betreffenden Kreiſen verſichert wird — gegenwärtig eine
größere Anzahl von landwirtſchaftlichen Exiſtenzen ſich nur not—
dürftig über Waſſer hält, in Zukunft aber ſicher zu Grunde gehen
und erſt dann die ganze Schwere der gegenwärtigen Kriſis für
jedermann erkennbar zu Tage treten wird.
VIII.
Die erſte Kriſis unſeres Jahrhunderts erreichte ihren Abſchluß
dadurch, daß die am wenigſten widerſtandsfähigen Landwirte aus
der Reihe der Grundbeſitzer ausſchieden, daß die übrigen ſich
unter großen Opfern und Entbehrungen auf die niedrigen Ge—
treidepreiſe einrichteten und endlich daß die ſinkende Tendenz
126 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft.
der Preiſe ſeit dem Schluß der dreißiger Jahre dem Steigen
derſelben Platz machte.
Wird nun auch die gegenwärtige Kriſis, die ähnliche Ent⸗
ſtehungsgründe und einen ähnlichen Verlauf aufweiſt, ähnlich
ausgehen wie die der zwanziger und dreißiger Jahre? Dieſe
Frage würde ſich nur dann mit Sicherheit beantworten laſſen,
wenn man wüßte, wie lange der Preisdruck, der gegenwärtig
auf den landwirtſchaftlichen Produkten laſtet, dauern und wie
groß die Widerſtandsfähigkeit der Mehrzahl unſerer Gutsbeſitzer
gegenüber der Kriſis ſein wird.
Über dieſe beiden Punkte laſſen ſich aber nicht einmal be⸗
ſtimmte Vermutungen ausſprechen. Denn wenn auch von der
Vermehrung der Bevölkerung und ihres Bedarfes, von der voll⸗
ſtändigen Urbarmachung der kulturfähigen Ländereien Rußlands,
Nordamerikas und Indiens ſowie aus anderen Gründen eine
Hebung der Preiſe der landwirtſchaftlichen Produkte erwartet
werden darf, jo kann dieſer Zeitpunkt doch noch ſehr weit hin⸗
aus liegen, zumal ſich nicht überſehen läßt, ob und wieweit
bisher unbekannte Länder, z. B. Teile von Sibirien, in Kultur
genommen und weitere Erleichterungen und Verbilligungen des
Transportes ins Werk geſetzt werden können (Panamakanal).
Auch wäre es ein Fehlſchluß, wenn man von dem zähen Wider⸗
ſtande, den die deutſchen Grundbeſitzer bisher der Kriſis gegen-
über gezeigt haben, ohne weiteres ſchließen wollte, daß ſich der⸗
ſelbe auch in der Zukunft gleich kräftig zeigen werde.
Tritt nun in abſehbarer Zeit eine Steigerung der Preiſe
der landwirtſchaftlichen Weltprodukte, alſo namentlich der Cere⸗
alien ein, ſo werden ſich die meiſten Grundbeſitzer Deutſchlands
aller Wahrſcheinlichkeit nach bis dahin wenn auch nicht un⸗
gebeugt, ſo doch ungebrochen in ihrem Beſitz zu behaupten
vermögen.
Tritt dagegen die eben erwähnte Wendung in der Preis⸗
bewegung in abſehbarer Zeit nicht ein, ſo iſt mit ziemlicher
Sicherheit anzunehmen, daß der Kriſis alle diejenigen gegen-
Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 127
= wärtigen Grundbeſitzer zum Opfer fallen werden, die ſich,
namentlich weil ſie ſtark verſchuldet ſind, den im Vergleich zu
den letzten Jahrzehnten für den Landwirt in ungünſtigem Sinne
veränderten Konjunkturen nicht anzupaſſen vermögen.
Da ſich nun über den Zeitpunkt, bis zu welchem die Ur—
ſachen der gegenwärtigen Kriſis fortdauern werden, nichts Be—
ſtimmtes ſagen läßt, ſo beſteht die Aufgabe der Gegenwart
darin, den Hauptnachdruck auf diejenigen Maßregeln zu legen,
welche die möglichſte Anpaſſung der Landwirtſchaft an die ge—
gebenen Konjunkturen zum Ziele haben, und zugleich darin, die
oben erwähnten Mängel und Unvollkommenheiten des landwirt-
ſchaftlichen Betriebes und des Verkehrs mit Landgütern und
landwirtſchaftlichen Produkten zu beſeitigen.
Demnach wäre in erſter Linie anzuſtreben, daß die Land—
wirte durch Betriebsveränderungen ſich vorzugsweiſe der Er—
zeugung ſolcher Produkte zuwenden, für welche jeweilen die re—
lativ höchſten Preiſe zu erzielen ſind; daß ſie die Qualität ihrer
Produkte der Nachfrage entſprechend geſtalten und das Quantum
derſelben auf der gegebenen Fläche vermehren; daß ſie, ſoweit
es mit den obigen Zielpunkten vereinbar iſt, an Produktions-
koſten möglichſt ſparen und wenigſtens den lokalen und natio=
nalen Markt nach Thunlichkeit ſelbſt direkt verſorgen; endlich,
daß ſie ihre Lebenshaltung einſchränken, nicht mehr im ſelben
Umfange wie früher mit Hülfe des Kredits Grundbeſitz erwerben
und, ſofern ſie den Beſitz ihrer Güter auch ihren Nachkommen
erhalten wollen, die Übernahmetaren nach Maßgabe der gejun-
kenen Grundrente herabſetzen. Jeder Grundbeſitzer, der dieſe
Ziele zu erreichen vermag, iſt als ein ſolcher anzuſehen, der die
Kriſis überwunden hat.
Wenn die eben bezeichnete Thätigkeit auch in erſter Linie
dem einzelnen Landwirt ſelbſt obliegt, ſo kann ſie doch ſehr
weſentlich unterſtützt werden durch den Zuſammenſchluß und das
Zuſammenwirken der Landwirte in Vereinen, Genoſſenſchaften
und korporativen Verbänden ſowie durch Maßregeln der inneren
128 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft.
Volkswirtſchaftspolitik im allgemeinen und der Agrarpolitik im
ſpeciellen.
Dieſe Maßregeln würden ſich hauptſächlich zu richten haben
auf das Gebiet der ſtaatlichen und kommunalen Beſteuerung
(Übertragung einzelner ſtaatlicher Steuern auf die Kommunen
und Übernahme einzelner kommunaler Laſten auf den Staat),
des Kanal- und Eiſenbahnbaues, der teilweiſen Herabſetzung der
Eiſenbahnfrachten, der Reform mancher Handelsuſancen und
Handelseinrichtungen (Warenbörſen), der möglichſten Förderung
des Genoſſenſchaftsweſens, der vermehrten Zugänglichkeit des
niedrigen Zinsfußes für den Real- und Perſonalkredit auch der
mittleren und kleinen Grundbeſitzer durch entſprechende Kredit⸗
organiſationen, der Beförderung von Ent- und Bewäſſerungen
in großem Maßſtabe, der Konſolidierung und Kodifizierung der
abſterbenden Reſte einer den Bedürfniſſen des Grundbeſitzes an⸗
gepaßten Vererbungsſitte in einem eigenen Inteſtaterbrecht
u. a. m.
Ob in der Folge dann noch weitere außerordentliche ſtaat⸗
liche Maßregeln nötig werden mögen, ähnlich wie ſie im Anfange
des Jahrhunderts den notleidenden Landwirten Preußens zu teil
geworden ſind, entzieht ſich zunächſt der Beurteilung und hängt
davon ab, ob und wieweit die gegenwärtige Kriſis ſich in der
Zukunft noch verſchärfen wird.
Vergleichen wir zum Schluß das Ergebnis, zu dem wir in
dieſer Arbeit gelangt ſind, mit den am Anfange derſelben kurz
ſkizzierten agrarpolitiſchen Programmen, jo ſtimmen wir weder
den quietiſtiſchen Optimiſten zu, welche die Hände in den Schoß
legen und, wie ein ruſſiſches Sprichwort ſagt, „am Meere ſitzend
auf beſſeres Wetter warten“ wollen, noch auch den Peſſimiſten,
welche die beſtehenden wirtſchaftlichen und ſocialen Verhältniſſe
für ſo verzweifelt halten, daß ihrer Anſicht nach nur durch eine
vollſtändige Anderung unſerer geſamten Rechtsordnung, ins⸗
beſondere durch Umwandlung des Individualeigentums an Grund
und Boden in Kollektiveigentum, geholfen werden könne. Aus
demſelben Grunde vermögen wir uns auch der Forderung der
. zu DT
Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft. 129
5 Übernahme ſämtlicher hypothekariſchen Schulden des ländlichen
Grundbeſitzes durch den Staat nicht anzuſchließen, da eine ſolche
naturnotwendig über kurz oder lang zur Verſtaatlichung des
ländlichen Grundbeſitzes führen würde. Auch verſprechen wir
uns für ein Staatsweſen wie das Deutſche Reich, das hinſichtlich
der Einfuhr ſeiner landwirtſchaftlichen und der Ausfuhr ſeiner
induſtriellen Produkte auf das Ausland angewieſen iſt, von dem
Verſuche einer mechaniſchen Hebung der Preiſe für die landwirt—
ſchaftlichen Produkte durch Schutzzölle auf die Dauer nur einen
geringen Erfolg, da bei niedrigen Sätzen der Schutzzölle infolge
der engen Zuſammenhänge und Beziehungen, welche heute unter
den einzelnen Volkswirtſchaften beſtehen, unberechenbare Rück—
ſchläge von außen und bei hohen, gleichſam prohibitiv wirken—
den Sätzen infolge der widerſtreitenden Intereſſen der verſchiedenen
Klaſſen ebenſo unberechenbare Rückſchläge von innen zu befürchten
ſind. Endlich vermögen wir auch an das Zuſtandekommen eines
auf die Regelung der Währungsverhältniſſe beſchränkten, alle
Kulturſtaaten Europas und die nordamerikaniſche Union um—
faſſenden Bundes ebenſowenig zu glauben wie an die dauernde
Aufrechterhaltung eines ſolchen nur aus einigen wenigen Staaten
beſtehenden Verbandes.
Dagegen ſcheint uns ein Zollbund, beſtehend aus einer Reihe
in gleicher oder ähnlicher wirtſchaftlicher Lage befindlicher mittel—
und weſteuropäiſcher Staaten, zu den in abſehbarer Zeit realifier-
baren Dingen zu gehören. Ja wir ſind der Anſicht, daß es
neben dem Intereſſe der ländlichen Grundbeſitzer und induſtriellen
Unternehmer das Intereſſe der arbeitenden Klaſſen und nament—
lich die in Deutſchland inaugurierte Socialgeſetzgebung ſein wird,
die zu ſolchen internationalen Vereinigungen und Organiſationen
hindrängen werden, weil der weiteren Fortführung dieſer Geſetz—
gebung auf lediglich nationaler Baſis ſich mit der Zeit
unüberwindliche Hinderniſſe entgegenſtellen dürften.
Ein ſolcher Zollbund könnte ſich, ſoweit er den Bedarf
ſeiner Bevölkerung an landwirtſchaftlichen und induſtriellen Er-
zeugniſſen vollſtändig zu decken vermöchte und in einem mit
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit- u. Streitfragen. 9
130 Die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft.
dieſem Bunde in Beziehung zu ſetzenden umfaſſenden Kolonial⸗
gebiete auch die Bezugsquellen für ſeine Kolonialprodukte beſäße,
ohne erheblichen Schaden nach außen hin ſchärfer und zugleich
wirkungsvoller abſchließen, als es den einzelnen mittel⸗ und
weſteuropäiſchen Staaten für ſich möglich iſt. In einem ſolchen
Zollbunde würde auch eine Ausgleichung der Socialgeſetzgebung
im weiteſten Sinn möglich ſein. |
IV.
Die Grundeigentumsverteilung und Erb-
rechtsreform in Deutſchland.
Referat für den Verein für Socialpolitik. Oktober 1882.
Verehrte Anweſende! Wenn der Ausſchuß unſeres Vereins
mir zur Wiedereröffnung der allgemeinen Verſammlungen nach
faſt zweijähriger Pauſe das Wort erteilt hat, ſo empfinde ich
das als eine beſondere Ehre. Darf ich doch hoffen, damit unſere
fortan wieder regelmäßig ſtattfindenden Zuſammenkünfte ein⸗
zuleiten.
Und daß wir uns regelmäßig verſammeln, dafür fehlt es
uns wahrlich weder an Beratungsgegenſtänden noch an ſonſtigem
Anlaß. | |
Denn wir befinden uns in einer Übergangszeit, ſowohl hin-
ſichtlich des wirtſchaftlichen Lebens ſelbſt als auch hinſichtlich
der Wiſſenſchaft von demſelben. In einer ſolchen Zeit aber thut es
not, die alten Formen des wirtſchaftlichen Lebens wie die alten
Lehrſätze der Wiſſenſchaft auf ihre Widerſtandsfähigkeit und
Richtigkeit und die neuen auf ihre Durchführbarkeit und innere
Begründung zu prüfen.
Wo vermöchte ſolches aber beſſer zu geſchehen als in
einem Kreiſe von Perſonen, die lediglich durch das Intereſſe an
demſelben Gegenſtande zuſammengeführt werden?
9 *
132 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland.
Und während uns dasſelbe objektive Intereſſe zuſammen⸗
führt, hält uns trotz aller Differenzen im einzelnen im gro⸗
ßen Ganzen dieſelbe Geſinnung zuſammen.
Wenn ich dieſe Geſinnung, ſoweit ſie das ſocialpolitiſche
Gebiet betrifft, in eine kurze Formel zuſammenzufaſſen verſuche,
ſo möchte dieſe ſo lauten, daß wir alle an den Errungenſchaften
unſerer Kultur ſowie an dem wirtſchaftlichen Eckſtein derſelben,
dem Privateigentum und der perſönlichen Freiheit, feſthalten,
dieſe Errungenſchaften aber einem immer größeren Kreiſe von
Perſonen zugänglich machen und damit die Kluft zwiſchen den
beſitzenden und nichtbeſitzenden Klaſſen ſchließen oder doch wenig⸗
ſtens verengen möchten.
Innerhalb dieſes weiten Programms, auf deſſen Durch⸗
führung unſere ganze Zeit hindrängt, iſt aber im einzelnen für
die größten individuellen Meinungsverſchiedenheiten Raum.
Zu uns gehören diejenigen, die ernſt und ehrlich von dem
freien Zuſammenwirken, ſei es der unteren Klaſſen allein, ſei es
der höheren mit ihnen und für ſie, eine Hebung des vierten
Standes erwarten. Zu uns gehören gleichermaßen auch
diejenigen, die von dem voluntarism allein den gewünſchten
Erfolg nicht erhoffen und deshalb die Geſetzgebung mit ihrem
Zwang herbeirufen. Zu uns endlich gehören auch diejenigen,
denen eine arbeiterfreundliche Geſetzgebung nicht genügt, ſondern
die allein von einer Ausdehnung des Gebiets der öffentlichen
Wirtſchaft die Ausfüllung der mannigfachen Lücken und die
Auflöſung der mancherlei Disharmonieen des privatwirtſchaft⸗
lichen Syſtems erwarten.
Vielleicht, daß die Meinungsdifferenzen, die in dieſem
Augenblick die ganze Nation durchziehen und in unſerem Verein
wie in einem Mikrokosmus ebenfalls zum Ausdruck gelangen,
ſich bis zu einem gewiſſen Grade vereinigen laſſen, wenn man
jeder dieſer Anſichten ihre relative Berechtigung für ein beſtimm⸗
tes Land und eine beſtimmte Kulturſtufe zuerkennt. Und wahr⸗
ſcheinlich werden auch ihre Vertreter, indem ſie ſich ihre Anſichten
bildeten, von den Eindrücken, die ſie in verſchiedenen Ländern
Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 133
empfingen, und von den Erfahrungen, die ſie an verſchiedenen
Orten machten, weſentlich beſtimmt. Um uns die Verſchieden—
heit der Kulturſtufen und der ſich aus denſelben ergeben—
den Forderungen klar zu machen, brauchen wir aber nicht einmal
in fremde Länder zu wandern. Bereits das Deutſche Reich zeigt
uns innerhalb ſeiner Grenzen ſehr ſtarke Kontraſte. Hier an
den geſegneten Ufern des Mains und Rheins hat eine jahr—
tauſend alte Kultur, hat eine weſentlich homogene Nationalität
eine gewiſſe Ausgleichung unter den verſchiedenen Klaſſen, ihren
Anſchauungen, Sitten, ihrer Lebenshaltung geſchaffen. Hier
wird man daher vielleicht hoffen dürfen, daß der regelmäßige
Verlauf der Kultur von ſelbſt den im Intereſſe des Ganzen er-
forderlichen Ausgleichungsprozeß auch ohne tief eingreifende In—
tervention des Staates weiterführen werde. Ja ſelbſt wo es
momentan größere Schwierigkeiten und Hemmniſſe zu überwinden
gilt, da wird die freie Selbſthülfe der Arbeiter und der humane
Sinn der Arbeitgeber aus eigener Initiative auch dieſe größten—
teils — wenn auch nicht allein — zu überwinden wiſſen. An⸗
ders im Nordoſten, wo den Maſſen die erſt unlängſt beſeitigten
Verhältniſſe der Grundherrſchaft noch immer im Blut und in
den Sitten ſtecken. Dort iſt zu den aus alter Zeit ſtammenden
Klaſſenunterſchieden der ländlichen Bevölkerung der erſt aus
den letzten Jahrzehnten herrührende ſociale Gegenſatz in der
Großinduſtrie hinzugetreten und die urſprüngliche Kluft da—
durch nur noch erweitert worden. Und hierzu kommt noch in
einigen Teilen des Oſtens der Unterſchied der Konfeſſionen und
Nationalitäten und endlich eine Arbeiterbevölkerung, die weder
die Fähigkeit noch die Übung beſitzt, ſich ſelbſt ſchrittweiſe das
im gegebenen Augenblick Mögliche und Erreichbare zu erkämpfen.
Und doch gehören dieſe verſchiedenen Kulturzuſtände ein und
demſelben Reiche an, und doch drängt der erleichterte Austauſch
der Gedanken und der Verkehr der Menſchen wie in den oberen
und mittleren, ſo auch in den unteren Klaſſen nach einem Aus⸗
gleich der Lebensanſprüche und Lebenshaltung.
Was Wunder, daß das Vorhandenſein dieſer Gegenſätze
ee
134 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland.
und das Gefühl des Unvermögens, dieſelben aus eigener Kraft
auszugleichen, bald zu dumpfer Reſignation, bald zur größten
Empfänglichkeit für die ausſchweifendſten Zukunftsphantaſieen
führt. Dort im Nordoſten, wo einerſeits die unteren Klaſſen
ſich nicht zu helfen wiſſen und die oberen zu dünn geſäet ſind,
um ſie wirkſam unterſtützen zu können, und wo andererſeits ein
Ausgleichungsprozeß, an dem im Süden und Südweſten Jahr-
hunderte gearbeitet haben, in Jahrzehnten erfolgen muß,
ſollen nicht die Errungenſchaften unſerer ganzen Kultur in Frage
geſtellt werden, kann und muß der Staat viel tiefer eingreifen
als im Süden und Weſten. Dabei hat er aber zugleich das
propter vitam vitae perdere causas zu vermeiden oder, zu
deutſch, die Eckſteine der Kultur, Eigentum nnd Freiheit, mög⸗
lichſt zu ſchonen, indem er die Kultur verteidigt und ausbreitet.
Für dieſe verſchiedene ſocialpolitiſche Aufgabe, die dem
Staat im Südweſten und Nordoſten unſeres Vaterlandes er⸗
wächſt, giebt es ein nicht unintereſſantes Präcedenz in der neuen
Agrargeſetzgebung. Im Weſten und Süden Deutſchlands hatte
ſich die Agrarverfaſſung des Mittelalters im Laufe der Jahr⸗
hunderte gleichſam von ſelbſt zu größerer Freiheit entwickelt.
Es bedurfte daher, um ſie vollſtändig zu beſeitigen, in unſerem
Jahrhundert nicht ſo radikaler Eingriffe wie im Nordoſten. Hier
dagegen mußte unvermittelt mit einem Schlage ein ganz neuer
Zuſtand geſchaffen werden, für den es Vorbereitungen nur auf
den königlichen Domänen gab. Es mußte der Staat ſomit hier
erſt ſelbſt eine Saat ausſtreuen, deren Früchte er dereinſt
pflücken wollte, während im Weſten und Süden demſelben die
leichtere Aufgabe zufiel, den Baum mehr oder minder ſtark
zu ſchütteln, von dem die Frucht der modernen Agrarverfaſſung,
langſam gereift im Lauf der Jahrhunderte, gleichſam von ſelbſt
herabfallen ſollte.
Das eben gebrauchte Bild führt mich unwillkürlich zu
meinem eigentlichen Thema: den Beziehungen des Erbrechts zu
der Verteilung des Grundeigentums im Deutſchen Reiche.
Ehe ich in die Behandlung desſelben eintrete, bedarf es
EB Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutfchland. 135
3
8
85
9 >
aber wohl einer kurzen Erklärung, wie der Verein für
1
es
*
Socialpolitik zur Wahl dieſes dem Gebiet der Agrar- und
Juſtiz politik angehörenden Themas gekommen iſt. Dieſe Er-
klärung dürfte in der eminent ſocialpolitiſchen Bedeutung dieſes
Gegenſtandes liegen. Denn das Wohl und Wehe des ländlichen
Arbeiterſtandes wird kaum durch ein anderes Moment ſo ſehr
beſtimmt wie durch die Grundeigentumsverteilung, und dieſe
hängt weſentlich von der Geſtaltung des Erbrechts ab.
Ich beginne mit einer Skizzierung der Art, wie der deutſche
Boden nach Eigentumseinheiten verteilt iſt. An den nötigen
Zahlen hierfür, welche, wenn ſie ihren Zweck vollſtändig erfüllen
ſollen, aus ein und derſelben Zeit ſtammen und nach denſelben
Geſichtspunkten aufgenommen und bearbeitet ſein müßten, fehlt
es freilich ſogut wie vollſtändig. Doch genügt das vorhandene
Material immerhin, um die Entwerfung eines im allgemeinen
zutreffenden Bildes zu ermöglichen.
Dieſes nun zeigt im Nordweſten und Südoſten unſeres
Vaterlandes gewiſſe gemeinſame Züge, während der Süd—
weſten und der Nordoſten in einem Gegenſatz zueinander
ſtehen.
Im Nordweſten und Südoſten wiegt der bäuerliche Grund—
beſitz vor und findet ſich neben demſelben einerſeits eine verhältnis⸗
mäßig kleine Zahl großer Güter, deren Geſamtareal jedoch im
allgemeinen nicht über 25 Prozent des Bodens einnimmt, und eine
große Anzahl kleiner Güter, deren Geſamtareal dem der großen
Güter nicht einmal gleichkommt. Wenigſtens die Hälfte, in einigen
Gegenden aber auch ein viel größerer Prozentſatz allen Bodens wird
vom bäuerlichen Beſitz eingenommen. Es gehören zur nord—
weſtlichen Ländergruppe einmal die deutſchen Küſtenſtriche an
der Nordſee und ihre Fortſetzungen im Binnenlande, alſo nament⸗
lich der weſtliche und mittlere Teil von Schleswig-Holſtein, das
bremiſche Landgebiet, Oldenburg, Hannover, Weſtfalen, Braun⸗
ſchweig, die heſſiſche Grafſchaft Schaumburg, die beiden Lippe,
Waldeck, und zur ſüdöſtlichen Gruppe der größte Teil von
Ober⸗ und Niederbayern, Teile der bayeriſchen Kreiſe Oberpfalz
136 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland.
und Schwaben ſowie jenſeits des Deutſchen Reichs die deutſchen
Kronländer Oſterreichs. Die Verbindung zwiſchen beiden kom⸗
pakten Ländermaſſen bilden Teile der thüringiſchen Staaten
und hier wieder namentlich der Oſtkreis des Herzogtums Alten⸗
burg und Teile des Königreichs Sachſen. Es ſind das vorzugs⸗
weiſe vom ſächſiſchen und frieſiſchen ſowie vom bayeriſchen
Volksſtamm bewohnte Länder, in denen die hofweiſe Anſiedelung
namentlich am Meer und im Gebirge häufig vorkommt und die
Wirtſchaften größtenteils — wenn man von der ſich neuerdings
in Braunſchweig, Hannover und anderwärts ausbreitenden Rüben⸗
kultur abſieht — auf Getreidebau und Viehzucht baſiert ſind.
Die Eigentümer der Bauerngüter bewirtſchaften dieſelben mit
ihren Familien und einem fremden Dienſtperſonal ſelbſt. Sie
ſind Eigentümer, Dirigenten, Aufſeher und Arbeiter in einer
Perſon. Und hierin ſowie in der ſich an die natürliche Glie⸗
derung der Familie anſchmiegenden Arbeitsteilung beſtehen die
Hauptvorzüge dieſer bäuerlichen Wirtſchaften.
Ein geſunder Bauernſtand findet ſich zerſtreut auch noch in
vielen Teilen des deutſchen Nordoſtens und in einigen des
Südweſtens. Doch wird er dort im allgemeinen durch den
großen und hier durch den kleinen Grundbeſitz in den Hinter⸗
grund gedrängt.
Die Küſtenſtriche um die Oſtſee und ihre Fortſetzungen bis
tief in das Binnenland hinein: der Oſten Schleswig-Holſteins,
die beiden Mecklenburg und die öſtlichen Provinzen Preußens
ſind vorzugsweiſe die Sitze des großen Grundbeſitzes, welcher
hier zum mindeſten 50, hie und da wohl aber 60 und 70, ja
in Neu⸗Vorpommern über 80 Prozent des geſamten Bodens ein⸗
nimmt. Dieſe öſtlich von der Elbe gelegenen, urſprünglich von
Slaven bewohnten Länder ſind für die deutſche Kultur verhältnis⸗
mäßig ſpät gewonnen worden und dürfen den Germaniſierungs⸗
prozeß auch heute noch nicht als völlig abgeſchloſſen anſehen.
Auf den großen Rittergütern und den umfangreichen Domänen
haben der Getreide-, Kartoffel- und Rübenbau, die Viehzucht,
die Waldwirtſchaft und die landwirtſchaftlichen Nebengewerbe:
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Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 137
Branntweinbrennerei, Bierbrauerei, Zuckerfabrikation, ihre natur-
gemäße Stätte.
Den größten Gegenſatz zum Nordoſten bildet in jeder
Beziehung das mittlere und ſüdweſtliche Deutſchland.
Zunächſt hinſichtlich der Verteilung des Grundeigentums. Wie
im Nordoſten die großen, ſo herrſchen hier die kleinen
Güter vor, welche gewöhnlich nur gerade hinreichen, um die den
Landbau ſelbſt betreibende Familie zu ernähren und zu beſchäftigen.
Nimmt in den Großgüterbezirken der ſpannfähige Bauernhof die un-
terſte oder doch eine mittlere Sproſſe auf der Leiter der ver-
ſchiedenen Güter ein und ſind demſelben nur hier und da aus—
nahmsweiſe kleinere Landſtellen beigemiſcht, jo iſt in Mittel-
ſowie in Süddeutſchland das größere Bauerngut auf der Skala
der Grundeigentumsverteilung zur höchſten Stufe avanciert und
teilt dieſe Stellung hier nur noch mit dem ſtandesherrlichen Beſitz
und dem Beſitz der toten Hand. Die Rolle, die neben dem Brivat-
beſitz im Nordoſten ausſchließlich das Domänengut ſpielt, muß das—
ſelbe im Süden mit dem noch umfangreichen Gemeindebeſitz teilen.
Wie im Nordoſten der Staat die mittelalterliche Agrarverfaſſung
bis in ihre letzten Konſequenzen auflöſte, ſo hat er auch die Ge—
meindegründe allgemein der Teilung unterworfen, während man im
Südweſten auch in dieſer Beziehung weniger ſchroff vorgegangen
iſt, ſo daß ſich hier bis auf den heutigen Tag noch ſehr umfangreiche
Allmenden erhalten haben. Nach unten läuft die breite Schicht der
kleinen Güter im Südweſten und in Mitteldeutſchland in zahl—
reiche Zwerg⸗, Gewerbe- und Tagelöhnergüter aus, jo daß
hier der größte Teil des Bodens (zwiſchen 60 und 80 Prozent) von
dem Klein⸗ und Zwergbeſitz eingenommen wird. Hierher gehört
der größte Teil der thüringiſchen Staaten, der beiden Heſſen, der
fränkiſchen Teile Bayerns, Naſſaus, der Rheinprovinz und
ein Teil von Württemberg, Baden und Eljaß - Lothringen,
Dieſe Länder finden ſich faſt ausſchließlich von Franken, Alle:
mannen, Heſſen und Thüringern beſiedelt: lauter Stämmen, die
ſich bereits ſeit den Anfängen deutſcher Geſchichte auf dem von
ihnen jetzt eingenommenen Boden dorfweiſe niedergelaſſen haben
138 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutfchland.
und bereits damals mit der römiſchen Kultur in mehr oder
minder nahe Berührung gekommen ſind. Der kleine Umfang
der Güter, das Zerfallen dieſer in viele kleine Parzellen, die
Gemengelage und der teilweiſe noch gegenwärtig beſtehende
Flurzwang ſind zugleich ebenſo viele Hinderniſſe für einen ratio⸗
nellen Ackerbau im großen Stil der norddeutſchen Wirtſchaften.
Dieſelbe Rolle, die auf dem Ritter- und Domänengut das
Kapital und die intelligente Leitung ſpielen, übernimmt hier das
hochgradige Intereſſe und die unermüdliche Sorgfalt des ſeine
Scholle mit den Seinigen ſelbſt bebauenden Kleingütlers. Der
kleine Umfang des Grundbeſitzes, verbunden mit einer ſehr
dichten Bevölkerung, führt daher zu großer Arbeitsintenſivität des
Betriebs, zur Erſetzung des Pferdes durch die Kuh, des Pfluges
durch den Spaten, des Wagens durch den Tragkorb. Nament⸗
lich in den fruchtbaren Flußthälern und Ebenen mit mildem
Klima treten der Ackerbau und die Viehzucht hinter den Gemüſe⸗,
Wein⸗ und Handelsgewächsbau ſowie die Obſtzucht zurück.
Größere ſpannfähige Bauerngüter finden ſich hier im allgemeinen
nur ſelten, verſprengt unter den kleinen Gütern, vor und nur
ausnahmsweiſe drücken ſie der Bodenverteilung einer Gegend
ihren Stempel auf, ſo z. B. im badiſchen Schwarzwalde, im
württembergiſchen Oberſchwaben, im Hohenloheſchen u. ſ. w.
Sollen wir mit den meiſten Agrarpolitikern der Gegenwart
diejenige Verteilung des ländlichen Grundeigentums als die
günſtigſte bezeichnen, in der ſich der große, mittlere und kleine
Beſitz entſprechend der natürlichen Ausſtattung und der wirt⸗
ſchaftlichen Kulturſtufe eines Landes in zweckmäßiger Weiſe ge⸗
miſcht findet und der bäuerliche Grundbeſitz überwiegt, ſo wird
dieſer Typus der Grundeigentumsverteilung dem heutzutage an
jedes wirtſchaftliche Gebilde anzulegenden ſocialpolitiſchen Maß⸗
ſtabe beſſer entſprechen müſſen als jeder andere Typus.
Und in der That befindet ſich die breite Maſſe der Be⸗
völkerung bei einem ſolchen Gemiſch der verſchiedenen Güter⸗
größen am beſten, vorausgeſetzt nur, daß die großen Güter keinen
zu weiten Raum einnehmen, daß es an kleinem und kleinſtem
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. iR Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 139
Beſitz für den ſtrebſamen und tüchtigen Arbeiterſtand nicht fehlt
und daß die ſpannfähigen Bauerngüter vorwiegen.
Ich will verſuchen, dieſes Urteil näher zu begründen.
In den Bezirken des einſeitig vorwiegenden großen Grund—
beſitzes kann das Einkommen der ländlichen Arbeiter unter Um—
ſtänden ein hohes ſein. Dieſe Eventualität trifft in den Ländern
mit fruchtbarem Boden und günſtiger Abſatzgelegenheit, wie z. B.
an der Oſtküſte Holſteins, in Neu-Vorpommern, in einem Teil
Mecklenburgs ꝛc., zu. Schreitet die Bevölkerung nicht zu früh
zur Ehe, ſo pflegt die Lebenshaltung derſelben — ausſchließlich
gemeſſen an dem, was ſie ißt und trinkt und wie ſie ſich kleidet,
— hier eine befriedigende zu ſein. Aber die ſtarke überſeeiſche
Auswanderung aus dieſen Gegenden ſowie die große Empfänglich—
keit, welche die ſocialdemokratiſche Agitation unter den länd—
lichen Arbeitern dieſer Gegenden findet, zeigen denn doch, daß es
denſelben an dem rechten Behagen ſowie namentlich an derjenigen
Anhänglichkeit an die heimatliche Scholle fehlt, welche wir unter
der Bevölkerung anderer Gegenden unſeres Vaterlandes ſelbſt
bei niedrigerer Lebenshaltung finden. Den Grund hiervon er—
blicke ich in der großen Schwierigkeit für die Arbeiter, ſich einen
kleinen Beſitz zu erwerben und jo allmählich durch Fleiß, Spar-
ſamkeit und Glück innerhalb des von ihnen erwählten Berufs
und auf der heimiſchen Scholle vorwärts zu kommen. Denn
auch die Anſäſſigmachung als Inſtleute auf den großen Gütern
iſt kein Surrogat für die Erwerbung eines eigenen Beſitzes. In—
dem die Anſäſſigmachung auf der Inſtſtelle zu frühem Heiraten
führt, ſchließt ſie mit dem meiſt darauf folgenden reichen Kinder—
ſegen zugleich jede Ausſicht auf eine beſſere Zukunft aus. Der
Inſtmann wird faktiſch zu einem glebae adscriptus, der das
Gefühl des freien Grundbeſitzers nicht kennt und nicht kennen
kann. Dazu kommt dann noch die weite Kluft, die in den
Großgüterbezirken die ländlichen Arbeiter, mögen ſie nun zum
Geſinde, zu den freien Tagelöhnern oder den Inſtleuten gehören,
von der Gutsherrſchaft und den gutsherrlichen Beamten trennt
und hier ähnliche ſociale Verhältniſſe ſchafft wie in den Bezirken
140 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland.
der Großinduſtrie, wo zwiſchen dem Unternehmer und dem Ar⸗ Er
beiter eine nur ſelten überbrückbare Kluft beiteht. a
Das entgegengeſetzte Bild zeigen die ſocialen Verhält⸗ |
niſſe der Kleingüterbezirke. Hier ift fait jedermann auf Er
dem Lande Grundeigentümer oder kann es doch mit einigem
Aufwande von Arbeit und Sparſamkeit werden. Aber bei der
dichten Bevölkerung liegt die Gefahr nahe, daß die kleinen Güter
durch wiederholte Teilung zu Zwerggütern werden, Zwerggütern,
die zu klein zur vollſtändigen Ernährung einer Familie und zur
Ausnutzung ihrer Arbeitskräfte find. Die Klein- und Zwerg⸗
gütler pflegen bereits in gewöhnlichen Zeiten, bei Durchſchnitts⸗
ernten, aus den Gütern nur das für ihren Unterhalt Allernotwendigſte
herauszuwirtſchaften. Mißrät dann die Ernte während einer Reihe
von Jahren, bricht eine Viehſeuche aus, zerſtören Krieg oder Revo⸗
lution die Frucht des Feldes, ſo gelangt der Kleingütler in die
äußerſte Bedrängnis. Denn an Erſparniſſen aus guten Jahren fehlt
es entweder ganz, oder wo ſie vorhanden ſind, ſind ſie doch ſehr
bald verzehrt, und eine weitere Reduktion der Lebenshaltung iſt
kaum möglich. In ſolchen Zeiten kommen dem kleinen Beſitz
auch ſeine ſocialpolitiſchen Vorzüge abhanden. Beſtehen dieſe in
normalen Zeiten hauptſächlich darin, daß der Kleingütler trotz
angeſtrengter Arbeit und vielfachen Entbehrungen dennoch mit
ſeinem Schickſal zufrieden iſt, mit Zähigkeit und Liebe an der
heimiſchen Scholle hängt und den Verlockungen ſocialer und po⸗
litiſcher Utopiſten den Widerſtand des konſervativen Beſitzers
entgegenſtellt, ſo ändert ſich jetzt, wo der Beſitzer zum Proletarier
herabſinkt, auf einmal das Bild. Not und Verzweiflung
drängen die Bewohner ganzer Dörfer zur Auswanderung, und
es bemächtigt ſich ihrer eine bis dahin völlig unbekannte Em⸗
pfänglichkeit für ſociale und politiſche Umſturzpläne. Mithin
ſtellt ſich unter den Kleingütlern in ſolcher Zeit der Not aus⸗
nahmsweiſe ein Gemütszuſtand ein, wie er bei der beſitzloſen
Bevölkerung der Großgüterbezirke die Regel bildet und gerade
dort am ſtärkſten hervortritt, wo die Lebenshaltung am höchſten
iſt. Als Beleg hierfür erinnere ich nur an das Verhalten der
a ee ee
n N
Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 141
ländlichen Arbeiterbevölkerung eines Teils des deutſchen Nordens
während des letzten Jahrzehnts und namentlich während der
erſten Hälfte der 70 er Jahre und an das Verhalten der ſüd—
deutſchen Bevölkerung am Ende der 40 er und am Anfang der
50 er Jahre.
Die Mängel der eben erwähnten Extreme der Bodenver-
teilung auf ſocialem Gebiet finden ſich am beſten vermieden dort,
wo bei einer zweckmäßigen Miſchung von Gütern verſchiedener
Größe der ſpannfähige bäuerliche Beſitz den Grundſtock bildet.
Was den Bauer vor allem auszeichnet, iſt, daß er eine Reihe
von ſchlechten Jahren leichter zu überwinden vermag als der
Kleingütler und unter Umſtänden auch als der Großgrundbeſitzer.
Denn in der Fähigkeit, ſich krumm zu legen, macht keiner es
ihm gleich. Der Bauer iſt ferner ein notwendiges Mittelglied
zwiſchen dem Großgrundbeſitzer und dem ländlichen Arbeiter.
Wo im Nordoſten der Bauernſtand fehlt, da will auch die Be—
gründung kleiner Landſtellen nicht gelingen: bedürfen doch die Be—
ſitzer derſelben zu ihrem Gedeihen eines mannigfach abgeſtuften
Bauernſtandes, an den ſie ſich anlehnen, und freier Gemeinde—
verhältniſſe, in denen ſie ſich wohl fühlen können. Wo aber beides
fehlt, fehlen auch die Vorausſetzungen für eine anſäſſige und zu⸗
friedene Arbeiterbevölkerung. Wer dieſe ſchaffen will, ſchaffe daher
zuerſt einen kräftigen Bauernſtand und geſunde Gemeindeverhältniſſe.
Aber worin beſteht denn die beſſere Lage der ländlichen
Arbeiter bei vorherrſchend bäuerlichem Grundbeſitz? Etwa in
einem hohen Einkommen? Das Einkommen der Tagelöhner,
des Geſindes und der Inſtleute des Großgrundbeſitzes iſt nicht
ſelten höher. Oder in der großen Leichtigkeit, mit der ſie zu
eigenem Grundbeſitz gelangen können? In dieſem Punkt ſind
ihnen wieder die Arbeiter der Kleingüterbezirke überlegen. Alſo
wohl darin, daß weil die Gelegenheit zur Erwerbung des Grund—
beſitzes nicht ſo allgemein verbreitet iſt wie in den Klein- und
Zwerggüterbezirken, die ländliche Bevölkerung im Durchſchnitt
ſich nicht ſo früh niederläßt und heiratet, auch nicht ſo ſehr an
der Scholle klebt, ſondern leichter in andere Berufe abſtrömt.
142 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland.
Und ſodann darin, daß denjenigen, die ſich der Landwirtſchaft 8 ;
dauernd widmen, die Bahn zum Fortſchreiten innerhalb ihres
Berufs und zur Erwerbung eines Beſitzes doch wieder ungleich =
mehr geebnet ift als in den Großgüterbezirken.
Wir wiſſen namentlich aus Weſtfalen, daß hier die länd⸗
lichen Arbeiter als Knechte oder Heuerlinge auf den Bauern⸗
oder Rittergütern beginnen und aus dieſer Stellung ſich nicht
ſelten in die Klaſſe der kleinen Kötner und Brinkſitzer empor⸗
arbeiten, und daß es dann ihnen ſelbſt oder ihren Kindern
wieder gelingt, ſich zuerſt in den Beſitz eines kleinen und dann
vielleicht auch in den eines größeren Bauernguts zu ſetzen.
Wenn der Übergang in die Klaſſe der Grundbeſitzer hier im all⸗
gemeinen langſamer vor ſich geht, und ſchwieriger iſt als in
den Kleingüterbezirken, ſo iſt das erreichbare Ziel dafür auch
wieder höher geſteckt. Auch beeinflußt die höhere Lebenshaltung
des Bauernſtandes die Lebenshaltung der unter ihm ſtehenden
Klaſſen. Dieſe höhere Lebenshaltung macht die Bevölkerung der
Bauerngutsbezirke ländlichen Notſtänden gegenüber viel wider⸗
ſtandsfähiger als die Bevölkerung der Kleingüterbezirke. So iſt
denn bei vorherrſchendem Bauerngutsbeſitz die auf die Erhaltung
der beſtehenden Zuſtände gerichtete Geſinnung eine viel all⸗
gemeinere als in den Großgüterbezirken und zugleich eine viel
konſtantere als in den Kleingüterbezirken.
Prüfe ich die Verteilung des deutſchen Grundbeſitzes nach
dieſem eben gewonnenen Maßſtabe, ſo gelange ich zu dem Schluß,
daß ſie den obigen Anforderungen im ganzen Nordweſten und
Südoſten, aber auch noch immer auf großen Strecken des Nord⸗
oſtens und Südweſtens entſpricht.
Eine Ausnahme bildet nur ein Teil des Nordoſtens und
Südweſtens. Wenn in Mecklenburg der Bauernſtand im ritter⸗
ſchaftlichen Gebiet auf ein Minimum reduziert iſt oder wenn in
Neu⸗Vorpommern mehr als 80 Prozent des nutzbaren Bodens
von ſelbſtändigen Gutsbezirken eingenommen werden oder wenn
in Oberſchleſien von 1193 ſelbſtändigen Gutsbezirken ſich 528 in
der Hand von nur 49 Perſonen befinden, ſo wird man nicht
Kr * 5
Br Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 143
* leugnen können, daß hier Anſätze zu Latifundienbildungen vor-
liegen, die, weiter entwickelt, uns zu engliſchen Zuſtänden führen
müſſen. Und andrerſeits iſt die Zerſplitterung der Güter in
einzelnen Gegenden von Mittel- und Süddeutſchland wieder
ſoweit gediehen, daß eine rationelle Bodenkultur hier aus—
geſchloſſen iſt und die kleinen Beſitzer leicht zu Proletariern
herabſinken.
Damit gelange ich zu dem Reſultat, daß dort, wo ein ge—
ſunder Bauernſtand prävaliert, die Verteilung des Grundbeſitzes
ihren Schwerpunkt gleichſam in dieſem hat und damit die Ga-
rantie längerer Dauer darbietet, während Länder mit einſeitig
vorwiegendem Großgrundbeſitz zur Latifundienbildung und
Länder mit einſeitig vorwiegendem Kleinbeſitz zur Zwerggüterei
hinneigen, alſo über ſich ſelbſt hinaus auf krankhafte Zuſtände
hinweiſen.
Wenn nicht alle Anzeichen trügen, ſo tritt innerhalb unſerer
im ganzen geſunden Grundeigentumsverteilung dieſe letztere Er—
ſcheinung, nämlich die Zunahme einerſeits der ſehr großen und
andererſeits der ganz kleinen Güter, beides auf Koſten des
mittleren Beſitzes, in den letzten Jahrzehnten immer ſtärker
zu Tage.
Daß wir hier nur von Vermutungen ſprechen können, wo
wir abſolute Sicherheit haben ſollten, gereicht unſerer Statiſtik
nicht zur Ehre. Denn außer den beiden bekannten Denkſchriften
des preußiſchen Miniſteriums für landwirtſchaftliche Angelegen—
heiten beſitzen wir keinerlei zuverläſſiges Material über dieſen
Gegenſtand. Die preußiſchen Zahlen reichen aber nur bis zum
Jahre 1865, auch leiden ſie an mehr als einem Mangel. So
iſt die ganze Aufnahme auf den Begriff der Spannfähigkeit
baſiert, ohne daß dieſer ſelbſt genau und gleich verbindlich für
alle Gegenden feſtgeſtellt worden wäre. Und in dem Grau der
allgemeinen Durchſchnittszahlen vermögen wir das Schwarz und
Weiß, aus deren Gemiſch dasſelbe entſtanden iſt, nicht mehr zu
unterſcheiden. Sollen dergleichen Durchſchnittszahlen daher von
Wert ſein — und ſie können es ſein — ſo müſſen ſie durch
144 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutfchland.
einzelne Unterſuchungen, welche die typiſchen Vorgänge innerhalb
engerer Grenzen feſtſtellen, ergänzt werden.
Ehe ich durch bündige beweiskräftige Zahlen widerlegt
werde, halte ich daran feſt, daß unſere im ganzen geſunde
Bodenverteilung ſich auf dem Wege befindet, auszuarten und
krankhaft zu werden. |
Dieſe Anſicht ſtütze ich auf eine Reihe von Notizen, die ich
ſowohl offiziellen wie privaten Quellen entnehme.
Auf die eben behauptete Thatſache läßt ſich, abgeſehen von
den einzelnen Daten, welche ſie zu verbürgen ſcheinen, auch ſchon
aus allgemeinen Gründen ſchließen. Dieſe Gründe ſind in dem
Anwachſen der ländlichen Bevölkerung und in der außerordent⸗
lichen Zunahme des beweglichen Kapitals zu finden.
So iſt der Prozeß des Kleinerwerdens der Güter eine Folge
geſteigerter Arbeitsintenſität und das Größerwerden eine Folge
beſſer durchgeführter Arbeitsteilung, vermehrter Benutzung von
Maſchinen und überhaupt größerer Kapitalsintenſivität der Wirt⸗
ſchaft. In den beiden eben erwähnten Fällen gehen die Ver⸗
änderungen zuerſt in dem Umfang der Wirtſchaften vor ſich, und
an dieſe ſchließen ſich bei uns mehr oder minder ſchnell die Ver⸗
änderungen in den Gütergrößen an. Es iſt alſo die Veränderung
in den Wirtſchaftseinheiten, welche zugleich zur Veränderung der
Beſitzeinheiten führt. Und wir können es nur mit Freuden be⸗
grüßen, daß in Deutſchland beide Prozeſſe im allgemeinen —
wenn wir von einigen Ausnahmen abſehen — miteinander Hand
in Hand gehen oder doch der eine dem andern unmittelbar zu
folgen pflegt, während z. B. in England und Irland und neuer:
dings auch in einigen Teilen Frankreichs die wirtſchaftliche Kor⸗
rektur der vorhandenen Eigentumseinheiten durch Zerlegung der
großen Güter in einzelne Teile und deren Verpachtung erfolgt, was
meiſt zum Abſenteeismus der Grundeigentümer führt.
Was wir an den neueſten Veränderungen in der Verteilung
des deutſchen Grundbeſitzes tadeln, iſt aber nicht dieſes, daß ſich
die Güter vergrößern und verkleinern, entſprechend den vorhan⸗
denen Bedürfniſſen der Volkswirtſchaft ſowie des landwirtſchaft⸗
9 * 5; De
m = 1 Er
Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 145
lichen Betriebs, ſondern daß es häufig geſchieht unabhängig von
dieſem innerlich begründeten und deshalb unaufhaltbaren Prozeß
lediglich infolge von Tendenzen, welche dem beweglichen Kapital
als ſolchem innewohnen.
Dieſe Tendenzen treten hauptſächlich in folgenden beiden
Vorgängen deutlich und prägnant zu Tage.
Wie im Spekulationshandel mit Effekten auf der Börſe,
ſucht ein Teil des Geldkapitals im Grundbeſitz ſeine Anlage,
lediglich um durch wohlfeilen Einkauf und teueren Verkauf
einen möglichſt großen Handelsgewinn zu erzielen. Am billigſten
laſſen ſich ſolche Güter ankaufen bei Leuten, die ſich in finanzieller
Klemme befinden, und wo dieſe nicht von ſelbſt eintritt, da ver⸗
ſucht man ſie künſtlich zu erzeugen, um ſie dann beliebig aus—
nutzen zu können. Und am beſten laſſen ſich ſolche Güter dann
wieder verwerten, wenn man ſie in Teile zerlegt und dieſe
Teile entweder an einen benachbarten Beſitzer oder an beſitzloſe
Arbeiter verkauft. Je unſicherer die rechtzeitige Bezahlung des
Kaufſchillings erſcheint, um ſo höher wird dieſer ſelbſt normiert.
Man begnügt ſich wohl auch mit der Anzahlung, treibt den
Käufer gelegentlich zum Zwangsverkauf und kauft das Grund—
ſtück dann für einen Spottpreis zurück, um es alsbald wieder
einem dritten an den Hals zu hängen. So bringt denn der
Gütermetzger das, was innerlich zueinander gehört, bisweilen
zuſammen; noch häufiger aber reißt er es künſtlich auseinander.
In jedem Fall aber fördert er den Agglomerations- wie den
Zerſtückelungsprozeß des Grundeigentums.
Dieſe Operationen vollzieht das Kapital zunächſt in dem⸗
jenigen Stadium, in dem es in der Hand des Gütermetzgers
aus kleinen Kanälen zu einem etwas größeren Strom zuſammen⸗
fließt.
Ein zweites Mal ergießt ſich dann das Geldkapital auf das
Land, nachdem es im Handel und in der Induſtrie, im Bank⸗
und Börſenverkehr ſich in großen Maſſen in einzelnen Händen
angeſammelt hat, um ſeinen Beſitzern größere Sicherheit der An⸗
lage und eine angeſehenere perſönliche Stellung zu N
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen.
146 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland.
Auf einen entſprechenden Gewinn, beſtehe dieſer auch nur in der
Verzinſung nach landesüblichem Zinsfuße, wird nicht immer,
wohl aber häufig verzichtet. Dafür bietet dieſe Kapitalanlage
die Annehmlichkeit des Sommeraufenthalts, die Möglichkeit noblen
Paſſionen — der Jagd, Fiſcherei u. ſ. w. — nachzugehen und
den Söhnen eine geſunde Beſchäftigung ſowie zugleich das An-
ſehen eines Mitgliedes der land-gentry zu verſchaffen. Motive
dieſer und ähnlicher Art ſind es, die das große Kapital aus den
Städten auf das Land hinausdrängen, wo es Inveſtierung im
Grundbeſitz ſucht und findet.
Derſelben Tendenz dienen auch die großen, in feſtem Beſitz
befindlichen Herrſchaften der depoſſedierten Fürſten, Standes herren
u. ſ. w., deren große Revenuen, nicht ganz aufgezehrt, immer
wieder von neuem in Grundbeſitz angelegt werden.
Gegen dieſe Transſubſtantiation des Geldkapitals in Grund⸗
beſitz wäre nun an ſich nichts einzuwenden, wenn ſie nur nicht
unſere an ſich geſunde Grundbeſitzverteilung verſchlechterte und
wenn ſie nicht zugleich durch das Elend ſo vieler grundbeſitzenden
Familien erkauft werden würde. Und zwar häufig ohne deren
Verſchulden, nur weil dem Grundbeſitz bei dem Zuſammenſtoß mit
dem beweglichen Kapital die Rolle des irdenen Topfes zugewieſen
iſt, der durch den eiſernen in Scherben zerſchlagen wird.
Denn das bewegliche Kapital, wo es in Berührung mit
dem Grundbeſitz tritt, befruchtet zwar dieſes und ſteigert ſeine
Produktivität in außerordentlicher Weiſe, ſucht aber zugleich den
Grundbeſitz von ſich abhängig zu machen und ſeinen Geſetzen zu
unterwerfen.
Indem der Grundbeſitz ſich dann wieder dieſem Einfluß zu
entziehen ſucht, kommt es zu Reibungen und Kämpfen, ähnlich
wie zwiſchen dem Kapital und der Arbeit. Dieſer Antagonis⸗
mus zwiſchen dem monied- und land-interest beginnt, wenn wir
von der antiken Welt abſehen, mit der modernen Städtegründung,
mit der erſten Anſammlung von beweglichem Kapital im Handel
und in der Induſtrie, ſetzt ſich dann mit der Anhäufung der
Geldmaſſen ſeit der Entdeckung Amerikas fort und kulminiert
Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 147
in unſerer Zeit der unermeßlichen Vermehrung des beweglichen
Kapitals.
Die mittelalterliche Agrarverfaſſung mit ihrer Gebundenheit
des Grundbeſitzes und der Grundbeſitzer erſchwerte zwar die Be—
fruchtung des Grund und Bodens durch das bewegliche Kapital,
ſetzte damit aber auch zugleich dem Eindringen und der Herr—
ſchaft desſelben auf dem Lande Schranken.
Die freie Agrarverfaſſung, welche ſeit der franzöſiſchen Re—
volution von 1789 überall an die Stelle der Feudalordnung ge—
treten iſt, räumt dieſe Schranken hinweg und ermöglicht dadurch im
Bunde mit der Anwendung der Naturwiſſenſchaften auf die Land⸗
wirtſchaft eine bis dahin nicht geahnte Steigerung der landwirt—
ſchaftlichen Produktion. Sie hat aber, wo ſie rein negativer Natur
geblieben iſt, den Grundbeſitz zugleich dem beweglichen Kapital
auf Gnade und Ungnade übergeben. Glücklicherweiſe iſt die Irr—
lehre des dem Aufklärungszeitalter entſtammenden laissez-faire
auf dem Gebiete der Agrarverfaſſung niemals ſo entſchieden zur
Anwendung gelangt wie auf anderen Gebieten. Selbſt in den
Zeiten des größten Freiheitstaumels hat man denn doch nicht
ganz vergeſſen, daß der Grund und Boden, wie er für den Staat
von anderer Bedeutung iſt wie das bewegliche Kapital, ſo auch
deſſen poſitiver Förderung viel weniger entbehren kann. Es ent—
hält daher die moderne freiheitliche Agrargeſetzgebung neben ihren
rein negativen Beſtandteilen, welche mit der Vergangenheit
tabula rasa machten, auch nicht unweſentliche poſitive Schöpfungen
für die Zukunft: ſei es daß ſie die aus früheren Zeiten ſtam—
menden umbildet, ſei es daß ſie ganz neue ins Leben ruft. Wir
rechnen zu denſelben in Deutſchland namentlich das Inſtitut der
preußiſchen Landſchaften, die Arrondierungs-, Deich-, Waſſer⸗,
Meliorations⸗, Vereins⸗ und Unterrichtsgeſetzgebung und die
dieſen Gebieten angehörigen ſtaatlichen Anſtalten. Aber immerhin
ſind das erſt nur Anfänge zu neuen poſitiven Schöpfungen, An—
fänge, deren Fortbildung die Sorge der Gegenwart und die
Aufgabe der Zukunft iſt.
Mit der negativen Richtung der neueren Agrargeſetzgebung
10 *
148 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland.
hängt auch die Unterſtellung des geſamten Grundbeſitzes unter
ein weſentlich der Natur des beweglichen Kapitals angepaßtes
Erbrecht zuſammen. Ja, in der Ausdehnung des römischen
Erbrechts auf den Grundbeſitz iſt, nächſt einer ungenügenden
Organiſation des landwirtſchaftlichen Kreditweſens, das Haupt⸗
mittel gegeben, durch welches das bewegliche Kapital ſeine Herr⸗
ſchaft über den Grund und Boden ausübt.
Um die ganze Tragweite dieſes Schrittes klar zu legen, ge⸗
ſtatten Sie mir wohl, mit einigen Worten auf die Geſchichte
des deutſchen Erbrechts einzugehen.
Dieſes war in den erſten Jahrhunderten der deutſchen Ge⸗
ſchichte ein wahres Familienerbrecht. Feſte, unabänderliche Re⸗
geln leiteten den Grundbeſitz von einer Generation auf die andere
über, ohne daß eine Abweichung von denſelben ſtatthaft geweſen
wäre. Damit der Grundbeſitz in der Familie blieb, waren
Frauen von der Succeſſion in denſelben ausgeſchloſſen oder doch
den Männern nachgeſtellt. Auch durfte über denſelben ohne Ein⸗
willigung der Blutsverwandten weder unter den Lebenden noch
auf den Todesfall verfügt werden. Die von den Männern ab⸗
ſtammenden männlichen Nachkommen des Erblaſſers gleichen
Grades beſaßen gleiche Erbrechte; doch wird die Naturalteilung
des Immobiliarnachlaſſes anfangs faktiſch nicht häufig vor-
gekommen ſein und, wo ſie ausnahmsweiſe vorkam, den vor⸗
handenen Bedürfniſſen der Volkswirtſchaft entſprochen haben.
Dieſes dem Zuſtand der reinen Naturalwirtichaft entſprechende
Erbrecht erlitt aber bereits früh einige Modifikationen.
Mit dem Eindringen der erſten Anfänge des Geldverkehrs
ſowie ſonſtiger römiſcher Einflüſſe auf denjenigen Boden, auf
dem Römer und Germanen zuſammentrafen, mit dem Beweg⸗
licherwerden des Lebens und der Verbreitung chriſtlicher Elemente
in Anſchauung und Sitte ſowie mit dem Erſtarken des Staates
mußte ſich auch das Erbrecht ändern.
Neben den Männern erhielten jetzt auch Frauen ein Erbrecht;
das ſogenannte Beiſpruchsrecht verlor ſich zum Teil ganz, zum
Teil wurde es nur abgeſchwächt; letztwillige Verfügungen fanden
Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 149
in immer weiteren Kreiſen Eingang und der Immobiliarnachlaß
wurde nun häufiger der Naturalteilung unterworfen. Infolge
dieſer Entwickelung wäre das aus germaniſcher Wurzel erwachſene
Erbrecht, namentlich in den Städten, der im 15. und 16. Jahr⸗
hundert erfolgten Reception des römiſchen Erbrechts immer mehr
entgegengereift, wenn nicht die ſtändiſche Periode für die Ver—
erbung des Grundbeſitzes einen Rückſchlag gebracht hätte. In
dem engen Kreiſe des Lehn- und Hofrechtes ſowie ſonſtiger
ſtändiſcher Sonderrechte lebten die altgermaniſchen Ideen des
Erbrechtes, modifiziert durch die ſpecifiſchen Bedürfniſſe des mittel-
alterlichen Lebens, wieder auf. Dieſe Modifikationen find nament-
lich darauf zurückzuführen, daß alles Eigentum ſich mittlerweile
in ein Ober⸗ und Untereigentum geſpalten hatte und daß jetzt
nicht mehr die Bedürfniſſe des ganzen Volks, ſondern einzelner
Stände maßgebend waren. In den Kreiſen des Adels gelangte
die Rückſicht „auf die Erhaltung des Anſehens und Glanzes der
Familie“ zur Geltung, und innerhalb des hofhörigen Verbandes
richtete ſich das Bemühen auf „die Erhaltung der Präſtations—
fähigkeit der bäuerlichen Höfe“.
In der Erbfolge des Lehn- und Hofrechts, der Stammgüter,
der Güter der hochadligen Häuſer und der Familienfideikommiſſe
treten die Frauen wieder hinter die Männer zurück oder werden
von dieſen auch ganz ausgeſchloſſen; die Veräußerung der Familien-
güter wird teils wieder mehr erſchwert, teils vollſtändig verboten;
die Teſtierfreiheit wird zurückgedrängt; die urſprünglich faktiſch
nur ſelten vorgekommene Verſchuldung und Teilung des Grund—
beſitzes wird jetzt auch rechtlich ausgeſchloſſen. Eine Konſequenz
der Unteilbarkeit des Grundbeſitzes iſt die Individualſucceſſion
in denſelben, derart daß immer nur einer unter mehreren nach
gemeinem Recht gleichberechtigten Erben das väterliche Gut erhält
und daß den übrigen Geſchwiſtern nur mäßige Abfindungen u. ſ. w.
zu teil werden oder daß ſie auch allein auf den mobilen Nach—
laß angewieſen ſind.
Durch dieſe ſtändiſch-ſingulären Erbrechte hat ſich der größte
Teil des deutſchen Grundbeſitzes vor der Zerſtückelung, vor dem
150 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland.
Eindringen des beweglichen Kapitals, vor der Verſchuldung und
vor der Expropriation zu ſchützen geſucht und zu ſchützen gewußt.
Die auf eine Erhaltung des Gleichgewichts der produktiven Kräfte
gerichtete Agrarverfaſſung bewahrte den Grundbeſitz dann weiter
vor der Anſammlung in einigen wenigen Händen. Auch gegen die
Anwendung des mittlerweile zur Reception gelangten römiſchen
Rechts war das oben ſkizzierte ſtändiſche Erbrecht gerichtet. Und ſo
ſtehen wir den vor der merkwürdigen Erſcheinung, daß während
das römiſche Recht prinzipiell für das ganze Gebiet des Privatrechts
recipiert iſt, ſeine Anwendung auf die Vererbung von länd⸗
lichen Immobilien gleichwohl von dem größten Teil des deutſchen
Bodens jahrhundertelang ausgeſchloſſen bleibt.
Erſt ſeitdem die mittelalterliche Agrarverfaſſung beſeitigt
und die ſtändiſche Geſellſchaft vor dem allgemeinen Staatsbürger⸗
tum zurückgewichen iſt, dringt auch das gemeine Erbrecht —
und ich verſtehe unter demſelben auch das dem römiſchen Recht
nachgebildete Recht der modernen Kodificationen — in ſeiner
Anwendung auf den ländlichen Grundbeſitz vor.
In dieſer Beziehung zeigt ſich ein hochintereſſanter Unter-
ſchied unter den Hauptkulturvölkern des weſtlichen Europa.
Wie England ſeine Feudalverfaſſung, ohne die Kontinuität zu
unterbrechen, in eine modern-rxepräſentative umgewandelt hat, jo
hat es auch aus lehnrechtlicher Wurzel ſein der Natur des Grund—
beſitzes angepaßtes Inteſtaterbrecht, nach welchem das Grundeigen⸗
tum nach dem Tode ſeines Beſitzers immer nur an eines ſeiner
Kinder übergeht, weiter entwickelt. Nicht dieſes aber trägt, wie viel-
fach behauptet wird, die Hauptſchuld an der excentriſchen Grund⸗
eigentumsverteilung in England, ſondern der Mangel an Für⸗
ſorge für die Erhaltung des mittleren Beſitzes ſeitens des eng-
liſchen Staats. Zur Zeit, als der Bauernſtand in England am
meiſten bedroht war, zeigte ſich der engliſche Staat, der denſelben
gegenüber dem Andrängen des beweglichen Kapitals und des
großen Grundbeſitzes energiſch hätte ſchützen ſollen, ebenſo unfähig
dieſe Aufgabe zu erfüllen wie in Deutſchland nur die landes⸗
herrliche Gewalt in Mecklenburg und Neu-Vorpommern.
Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 151
Ein von dieſem ſehr verſchiedenes Bild zeigt uns Frankreich.
Wie Frankreich die Zeit zu einer organiſchen Reform ſeiner ſtän—
diſchen Körperſchaften und ſeiner Socialgeſetzgebung verpaßt hatte,
ſo auch die Zeit zur Reform ſeines Erbrechts. Mit dem ancien
régime beſeitigte die franzöſiſche Revolution auch dieſes mit einem
Schlage. Von dem feudalen Erbrecht, das den Grundbeſitz un—
löslich an beſtimmte privilegierte Familien gekettet hatte, ging
man hier unvermittelt zum Erbrecht des Jahres 1793 und des
Code über. Von der Rückſicht auf die Natur des Grundbeſitzes
und auf die Möglichkeit ſeiner Erhaltung in der Familie findet
ſich namentlich in dem erſteren Geſetz keine Spur vor: die freie
Teſtierbefugnis wird der Gleichheitsidee und dem Teilungszwang
geopfert. Mit einem Wort, die franzöſiſche Revolution janktio-
niert den bekannten Gedanken Mirabeaus „que l'égalité des
successions ne peut @tre derangee par les dispositions de
homme et qu'on ne puisse favoriser aucun de ses h£ritiers
au préjudice de l'autre“. Auf dieſe ſprungweiſe Entwickelung
in Frankreich paßt daher in vorzüglicher Weiſe der Ausſpruch
Sir Henry Maines: „The history of property — and succes-
sion dürfen wir hinzufügen: — on the European continent
is the history of the subversion of feudalized law of land
by the Romanized law of movables.“
Eine mittlere Stellung zwiſchen Frankreich und England nimmt
Deutſchland ein. Zwar das römische und das demſelben nach—
gebildete Erbrecht gilt im Prinzip auch für einen großen Teil des
Deutſchen Reichs. Dasſelbe behandelt die zum Nachlaß gehörigen
Immobilien vollſtändig wie die Mobilien, indem es den in dem—
ſelben Grad mit dem Erblaſſer verwandten Perſonen völlig gleiche
Rechte einräumt und die Naturalteilung ſowie die Taxation des
Nachlaſſes nach dem Verkehrswert begünſtigt. Im Preußiſchen
Landrecht wird der Taxation nach dem Verkehrswert noch beſonders
Vorſchub geleiſtet durch die Beſtimmung, daß jeder Erbe das Recht
habe, den meiſtbietlichen Verkauf des Nachlaßgrundſtücks zu ver—
langen, während das auf dem linken Rheinufer geltende fran—
zöſiſche Erbrecht wieder mehr auf die Naturalteilung desſelben
152 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland.
hindrängt. In der Einſchränkung der Teſtierbefugnis endlich
gehen das franzöſiſche wie das preußiſche Recht — an altdeutſche
Rechtsideen anknüpfend — noch über das römiſche Recht hinaus.
Auf die Dauer müſſen dieſe erbrechtlichen Beſtimmungen zu
folgenden Reſultaten führen: ſofern nämlich einer der Erben
das Gut ungeteilt übernimmt, zur Überlaſtung desſelben mit
Nachlaß⸗Schulden, zum Zwangsverkauf und auf dieſem Umwege
oder direkt zum Übergang in fremde Hände; ſofern das Nach⸗
laßgrundſtück aber in natura geteilt wird, zu einer unwirt⸗
ſchaftlichen Zerſtückelung des Grundbeſitzes und ſchließlich zu
krankhaften Zuſtänden.
Dieſe Wirkungen werden um ſo ſicherer und ſchneller ein⸗
treten, je ſtärker der Grundbeſitz überhaupt verſchuldet iſt, je
mehr Erben, unter die das Nachlaßgrundſtück geteilt werden
muß, im einzelnen Fall vorhanden ſind, in je ungünſtigerer Lage
ſich die Landwirtſchaft befindet, je weniger Kapital der das elter⸗
liche Gut antretende Erbe oder ſeine Frau mitbringt und je weniger
zweckmäßig die Verfaſſung des Hypothekenweſens und die Organi⸗
ſation des ländlichen Kredits eingerichtet ſind.
Wenn dieſe Wirkungen bisher noch nicht überall in voller
Schroffheit hervorgetreten find, jo iſt das in Frankreich zurüd-
zuführen auf das Zwei-Kinder-Syſtem, durch welches die länd⸗
liche Bevölkerung dem morcellement des Bodens vorzubeugen
weiß, in Deutſchland dagegen durch das Gewohnheitsrecht und
die zahlreichen Singularrechte, welche das gemeine Erbrecht
bisher von der Anwendung auf einen großen Teil des Bodens
ausgeſchloſſen haben. Und dort, wo das lebhafte Familiengefühl
einen adäquaten rechtlichen Ausdruck nicht findet, pflegen die
Erblaſſer zu mannigfachen Hülfsmitteln zu greifen und die Erben
nicht geringe Opfer zu bringen, um den Grundbeſitz in der
Familie zu erhalten. Mit dem Erblaſſer und den Erben im
Bunde ſtanden bis vor kurzem in Deutſchland die Richter, indem
ſie nicht ſelten contra legem Gutsübertragungsverträge, niedrige
Erbſchaftstaxen, Erbſchaftsauseinanderſetzungen, an denen unter
Vormundſchaft oder Kuratel ſtehende Perſonen beteiligt waren,
1 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 153
N ſelbſt wenn ſie dem Intereſſe dieſer nicht ganz entſprachen, be—
ſtätigten oder doch anerkannten.
Indes täuſche man ſich nicht, eine ſolche allgemeine Ver—
ſchwörung gegen das geſchriebene Recht iſt auf die Dauer nicht
möglich. Sie dauert nur ſolange, als der frühere Rechtszuſtand in
der Sitte noch einen mehr oder minder ſtarken Nachklang findet; auf
dieſe wird das geſchriebene Recht der Gegenwart aber notwendig
zerſetzend und auflöſend wirken. Denn jeder mit einer ſolchen
contra legem getroffenen Dispoſition Unzufriedene kann dieſelbe
umſtoßen, und an ſolchen wird es in unſerer Zeit, in der die
einzelnen Familienglieder durch Beruf und Neigung von dem
Familienſitz häufig weit weg verſprengt werden und der Beſitz
eines möglichſt großen Kapitals die Vorausſetzung für jede ſelb—
ſtändige Unternehmung bildet, nicht fehlen.
Und auch die einzelnen Singularrechte in der Form, in der
wir ſie aus der Vergangenheit überkommen haben, befinden ſich in
prekärer Lage. Seit der Beſeitigung der Stände, denen ſie auf
den Leib geſchnitten waren, ſchweben ſie gleichſam in der Luft.
Denn was bedeutet ein bäuerliches Anerbenrecht, nachdem der recht-
liche Begriff des Bauernſtandes und Bauerngutes verſchwunden iſt?
Was das adlige Familienfideikommiß zu einer Zeit, in der der
alte Landadel durch die moderne Geldariſtokratie erſetzt wird? Auch
ſtehen weſentliche Beſtimmungen dieſer ſingularrechtlichen Inſtitute
mit den Grundprinzipien unſerer heutigen Wirtſchaftsordnung,
mit unſern Rechtsideen und ſittlichen Idealen in Widerſpruch.
Denn es widerſtrebt unſerm Rechtsbewußtſein, wenn ein Kind
den Grundbeſitz allein erbt und die andern vollſtändig leer aus—
gehen, wie das ältere Anerben- und Fideikommißrecht beſtimmen.
Es liegt ferner weder im Intereſſe der Familie noch in dem
der Volkswirtſchaft, wenn die Perſon des Anerben oder Fidei-
kommißbeſitzers, gleichgültig ob ſie tüchtig iſt oder nicht, von dem
Geſetz unabänderlich beſtimmt wird und ebenſo wenn das Geſetz
die Aufnahme hypothekariſcher Schulden und den Verkauf einzelner
Stücke des Fideikommißgutes verbietet. Es widerſpricht endlich
unſern Gerechtigkeitsidealen, wenn wir das tiefſinnige Wort des
154 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland.
Dichters: „Was du ererbt von deinen Vätern haſt, erwirb es,
um es zu beſitzen“ von der Anwendung auf ein beſtimmtes Rechts⸗
gebiet völlig ausgeſchloſſen ſehen, indem der durch Familien⸗
fideikommiſſe vinkulierte Beſitz gegen die Untüchtigkeit, den
Leichtſinn und die Verſchwendungsſucht der einzelnen Familien⸗
mitglieder gefeit erſcheint, während ſich ringsum jede wirtſchaft⸗
liche Schuld rächt.
Aber bleibt denn, will man für das Grundeigentum die
Scylla des altſtändiſchen Anerbenrechts und des Familienfidei⸗
kommiſſes in ſeiner ſtarren gemeinrechtlichen Form vermeiden,
wirklich nichts andres übrig, als dasſelbe an der Charybdis des
allgemeinen Erbrechts zerſchellen zu laſſen?
Wie befremdend es nach dem Vorhergeſagten auch klingen
mag, ich glaube dieſe Frage für Deutſchland entſchieden verneinen
zu ſollen.
Wie auf dem Gebiet der Agrarverfaſſung die Aufgabe der
Gegenwart nicht darin beſteht, bei der Negation der mittelalter⸗
lichen Ordnung der Dinge ſtehen zu bleiben, ſondern die geſunden
Gedanken früherer Zeiten mit den Ideen der Gegenwart zu
lebenskräftigen Inſtitutionen zu verbinden — ich erinnere hier
nur an den fruchtbaren Keim, der in den altpreußiſchen Land⸗
ſchaften für die Ausgeſtaltung des bäuerlichen Kredits und in den
Erbpachtverhältniſſen früherer Zeiten für die Schaffung eines
Bauernſtandes enthalten iſt —, ſo auch auf dem Gebiete des
Erbrechtes.
Wir brauchen auch hier nur die bisherige Rechtsentwickelung
zu befragen — freilich nicht die in unſern Geſetzbüchern para⸗
graphierte allein, ſondern auch diejenige, die in dem Gewohn—
heitsrecht unſerer Dörfer, Bauernhöfe und Rittergüter zu Tage
tritt, und nicht nur diejenige unſeres Rechtes, ſondern auch die ver-
wandter Völker —, um auf den richtigen Weg gewieſen zu werden.
Zunächſt brauchen wir eine Erweiterung der Teſtierfreiheit,
ſoweit es ſich wenigſtens um Verlaſſenſchaften handelt, die aus
ländlichen Grundſtücken beſtehen. Wie die Reception des römiſchen
Rechtes mit ſeiner nur durch Pflichtteilsrechte eingeſchränkten
J
Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 155
Teſtierfreiheit ſeiner Zeit einen weſentlichen Fortſchritt bedeutete
gegenüber dem ſtarren Zwang des altdeutſchen Inteſtaterbrechtes,
welches letztwillige Verfügungen und Veräußerungen von Immo—
bilien ausſchloß oder doch ſehr bedeutend einſchränkte, ſo muß
jetzt über das römiſche Recht hinausgegangen werden. Die große
Beweglichkeit des modernen Lebens und die ſocialwirtſchaftliche
Notwendigkeit, die einmal gebildeten Unternehmungen und Ver—
mögen in der Flucht der Generationen zuſammenzuhalten, ver—
langen dieſes gebieteriſch. Die hochentwickelte Volkswirtſchaft
der Engländer und Amerikaner ſcheint auch unſerer Rechts—
entwickelung hier den richtigen Weg vorzuzeigen. Und wollte man
hiergegen einwenden, daß das aus urſprünglich ſpecifiſch römiſcher
Wurzel erwachſene Pflichtteilsrecht derart in unſer Rechtsbewußtſein
hineingewachſen iſt, daß es ohne ſchmerzliche Operation nicht
entfernt werden kann, ſo laſſe man es im Prinzip noch eine
Weile beſtehen, ſchränke es aber derart ein, daß es dem Erblaſſer
ſelbſt unter ungünſtigen Verhältniſſen — ſtarke Verſchuldung des
Gutes, viele Kinder, ungünſtige landwirtſchaftliche Konjunk—
turen u. ſ. w. — noch möglich wird, Dispoſitionen zu treffen,
durch welche der Familie das Gut erhalten wird. Im übrigen
baue man aber auf die elterliche Liebe, welche es in freien An-
ordnungen unter Lebenden und auf den Todesfall beſſer als das
ſtarre Geſetz verſtehen wird, die nötige Ausgleichung des Ver—
mögens unter den Kindern wenn auch nicht nach dem Prinzip
der formalen Gleichheit, ſo doch nach dem der materiellen Gerechtig—
keit zu treffen.
Aber die Erweiterung der Teſtierfreiheit allein genügt nicht,
ſie genügt namentlich nicht für ein Volk wie das unſrige, daß
im großen Ganzen nicht gewöhnt iſt, ſeine Nachlaßverhältniſſe
durch letztwillige Verfügungen zu ordnen. Wenigſtens trifft dies
für den größten Teil der ländlichen Bevölkerung und hier ſpeciell
für den Bauernſtand zu.
Hier gilt es nun, ein neues, den Bedürfniſſen des Grund—
beſitzes angepaßtes Inteſtaterbrecht zu ſchaffen oder vielmehr
nur die vorhandenen Keime zu einem ſolchen weiterzuentwickeln.
156 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland.
Denn es braucht nur diejenige Übung und Sitte zum geſchriebenen
Recht erhoben zu werden, welche teils innerhalb des Rahmens
des geltenden Rechts teils auf Umwegen gegen dasſelbe ſich
Geltung zu verſchaffen ſucht.
Wenn wir große Gebiete Südweſt- und Mitteldeutſch⸗
lands und ferner kleinere auch ſonſt verſprengte Gebiete aus⸗
nehmen, jo findet ſich das Beſtreben, den ländlichen Grundbeſitz
durch Übertragung desſelben zu einem mäßigen Anſchlag an einen
der Erben in der Familie zu erhalten, allgemein verbreitet.
Indem man zu einem der vielen Mittel greift, welche die Er⸗
reichung dieſes Zieles verſprechen, glaubt man durchaus nichts
Unrechtes zu thun, ſelbſt wenn man weiß, daß es dem Sinn und
Wortlaut des Geſetzes widerſpricht. Hier liegt ein Stück wichtigen
Rechtsbewußtſeins vor, deſſen Berückſichtigung der Socialökonom
dem Geſetzgeber der Zukunft dringend ans Herz legen muß.
Und glücklicherweiſe dürfen wir konſtatieren, daß die Geſetz⸗
gebung, wenn auch fürs erſte nur ſchüchtern und zaghaft, dieſen
Weg bereits betreten hat, den Weg zur Formulierung eines den
Bedürfniſſen der gegenwärtigen Volks- und Landwirtſchaft an⸗
gepaßten Anerbenrechtes.
In dieſer Beziehung unterſcheidet ſich die deutſche Erb⸗
rechtsgeſetzgebung ſehr weſentlich von der franzöſiſchen. Mit
einem Radikalismus, der dem goüt excessif de logique et
d'équité entſpricht, welchen ein neuerer franzöſiſcher Schriftſteller
für die apanage de tout eitoyen frangais erklärt, hat die fran⸗
zöſiſche Revolution aus Furcht vor der alten Geſellſchaft und in
dem Beſtreben, das Vermögen derſelben zu zerſtückeln, die Bildung
eines Gewohnheitsrechts auf dieſem Gebiet im Keim erſtickt.
So blieb denn ſelbſt für die geſunden Gedanken der früheren
ſingulären Rechtsbildungen kein Raum mehr übrig.
In Deutſchland wurde nun freilich das römiſche Recht auch
recipiert und in einigen deutſchen Staaten ein demſelben durch die
neuere Geſetzgebung nachgebildetes Erbrecht geſchaffen, aber neben⸗
bei ließ man — wie ſchon erwähnt wurde — noch die mannigfachen
ſingulären Erbrechtsinſtitute und das Gewohnheitsrecht beſtehen.
Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 157
Nur in Preußen ging man in allen dieſen Beziehungen ra-
dikaler zu Werk. Das allgemeine Landrecht behielt das Fidei—
kommiß zwar bei, bildete dasſelbe aber doch den Anforderungen
des modernen Lebens entſprechend um, und die ſpätere preußiſche
Geſetzgebung hat die ſtarre Unveräußerlichkeit, Unteilbarkeit, Un⸗
verſchuldbarkeit der Fideikommißgüter noch weiter gemildert. Der
preußiſchen Geſetzgebung iſt dann auch die Geſetzgebung einiger
anderer deutſchen Länder in dieſer Beziehung gefolgt.
Das allgemeine Landrecht behielt freilich auch noch das
ſpecifiſch bäuerliche Erbrecht mit ſeiner ermäßigten Erbſchaftstaxe
bei, aber die Hardenbergiſche Agrargeſetzgebung beſeitigte auch
dieſes vollſtändig.
Hier, wo man den Bogen der Freihandelsdoktrin auf dem
Gebiet der Agrargeſetzgebung am ſtärkſten geſpannt hatte, ſollte
die Reaktion gegen ihre Ausſchreitungen aber auch am früheſten
eintreten.
Bereits ſeit den 20er Jahren und dann wieder in den
Jahren 1841 und 1847 hat die preußiſche Regierung — wie
es ſcheint, auf die perſönliche Initiative Friedrich Wilhelms III
und IV hin — zuerſt bei den Provinzialſtänden, dann auch
beim Vereinigten Landtage Schritte zur Wiedereinführung eines
bäuerlichen Anerbenrechtes oder wenigſtens einer ermäßigten Erb-
ſchaftstaxe gethan.
Aber ſie begegneten damals entweder leidenſchaftlichem Wider—
ſtreben oder doch kühler Ablehnung. |
Wie die Mehrheit der Franzoſen auch gegenwärtig die Ge—
ſetzgebung der Revolution von 1789 in jeder Beziehung für ein
unübertreffliches Ideal hält, an dem auch im einzelnen nicht
gemäkelt werden darf, ſo trieb man bis in unſere Tage eine
Art politiſchen Kultus mit der Hardenbergiſchen Agrargeſetz—
gebung.
Dieſe war nun freilich im großen Ganzen eine hiſtoriſche
Notwendigkeit und darin dürfte zugleich ihr höchſtes Lob enthalten
ſein. Auch wird man es wohl erklärlich finden, daß wegen
der zahlreichen Widerſtände, die ſie zu überwinden hatte, ihre
158 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland.
Durchführung ſich von einer gewiſſen doktrinären Einſeitigkeit
nicht immer fern gehalten hat.
Aber uns, die wir über den Parteikämpfen jener Tage ſtehen
und die Fundamentalprinzipien jener Geſetzgebung als geſichert
anſehen dürfen, gebührt denn doch ein freieres Urteil über dieſe
Geſetzgebung als denjenigen, die in der Verteidigung derſelben
gegen die maßloſen Angriffe einer kurzſichtigen Reaktion ſelbſt zur
Partei wurden.
Und da wird denn doch nicht geleugnet werden können, daß
ſie es in mehr als in einem Punkte verſehen hat: zunächſt indem
ſie die Gemeinheitsteilungen mit einem übel angebrachten Fana⸗
tismus durchführte, namentlich indem ſie den Waldbeſitz einer un⸗
wirtſchaftlichen Zerſtückelung preisgab, ferner indem ſie die Ver⸗
kehrsfreiheit für den Grundbeſitz begründete, ohne doch den Güter⸗
ſchacher auszuſchließen oder wenigſtens zu erſchweren, und endlich —
um von weiteren Punkten zu ſchweigen — indem ſie den bäuer⸗
lichen Grundbeſitz dem allgemeinen Erbrecht unterwarf.
In all dieſen Punkten ſteht die Geſetzgebung manches an⸗
dern deutſchen Staates höher als die preußiſche.
Doch es bedurfte erſt der Erfahrungen mehrerer Jahrzehnte,
es bedurfte namentlich der für die Landwirtſchaft ſchwierigen
Zeiten, wie wir ſie ſeit dem Schluß der 60 er Jahre durchleben,
um dieſe Mängel zum allgemeinen Bewußtſein zu bringen
Aber wenn auch um teueren Preis, ſo haben wir endlich
doch erkannt, daß nicht alles, wofür die früheren Generationen
ſich bedingungslos begeiſterten, die Probe der Erfahrung zu be⸗
ſtehen vermag. Dieſer Einſicht iſt es dann zugleich — wenn
auch nicht ihr allein — zu verdanken, daß die Reform des
bäuerlichen Erbrechts in der Gegenwart ungleich weniger Wider-
ſtand findet als in den 20 er und 40 er Jahren.
Die Bewegung für dieſe Reform ging zunächſt am Schluſſe
der 60 er Jahre von jener neuen preußiſchen Provinz aus, der
der preußiſche Staat manchen trefflichen Mann und manche be—
währte Einrichtung verdankt. Den vereinten Bemühungen ſich
ſonſt im politiſchen Leben nicht ſelten befehdender Männer ge-
Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 159
lang es endlich 1874 das ſogenannte hannoverſche Höfegeſetz zu—
ſtande zu bringen, freilich nicht, ohne daß dasſelbe vorher von
der Schere eines dem Leben abgewendeten Doktrinarismus im
preußiſchen Abgeordnetenhauſe und im Miniſterialbureau gründ—
lich beſchnitten worden wäre. Dem hannoverſchen Höferecht
hatte in mehrfacher Beziehung ein aus dem Jahre 1870 ſtam—
mendes lippe ⸗ſchaumburgiſches Geſetz zum Vorbild gedient.
Um dieſelbe Zeit wie in Hannover wurden auch in Bremen,
Oldenburg und Braunſchweig ähnliche, ja zum Teil weitergehende
Geſetze erlaſſen. Aber es bedurfte doch noch einiger Zeit, nm
das Vorurteil gegen dieſe Geſetzgebung ſoweit zu überwinden,
daß an eine Ausdehnung derſelben auf die altpreußiſchen Pro—
vinzen gedacht werden konnte.
Mittlerweile war das öffentliche Urteil auch ſoweit gereift, daß
durch eine Novelle zum hannoverſchen Höfegeſetz vom Jahr 1880
die weſentlichſten Verſtümmelungen, welche der urſprüngliche
Entwurf des hannoverſchen Provinziallandtags vom Jahre 1874
erfahren hatte, wieder beſeitigt werden konnten.
Bei Gelegenheit der Einbringung eines für die Provinz
Weſtfalen beſtimmten Geſetzentwurfes faßte das preußiſche Ab—
geordnetenhaus im Jahre 1879 dann den Beſchluß, die Staats-
regierung zu erſuchen, daß ſie die in dieſem Geſetzentwurfe ent—
haltenen Grundſätze auch auf die übrigen Provinzen zur An—
wendung bringe. Von der Staatsregierung um ihre Anſicht
befragt, haben nun freilich eine Reihe von Provinziallandtagen
— die Provinziallandtage von Dft- und Weſtpreußen, Pommern
und Poſen — ſowie der Kommunallandtag des Regierungs—
bezirks Wiesbaden die Frage nach dem Bedürfnis „einer ander—
weiten Regelung des Erbrechts“, wie der techniſche Ausdruck
lautet, negiert, während die Provinziallandtage von Lauen-
burg, Schleswig⸗Holſtein, Schleſien, Weſtfalen, Brandenburg
und Sachſen und zum Teil auch der Kommunallandtag des Re—
gierungsbezirks Kaſſel ſich für die provinzielle Regelung des
Grunderbrechts erklärt haben. In Lauenburg und Weſtfalen
haben die Verhandlungen bereits zum Erlaß von Geſetzen ge—
160 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland.
führt, welche ſich an das hannoverſche Höfegeſetz in ſeiner ver⸗
beſſerten Faſſung anſchließen, ja die weſtfäliſche Landgüterord⸗
nung von 1882 kommt den Bedürfniſſen des Grundbeſitzes noch
weiter entgegen. In den übrigen vier Provinzen ſowie im
Regierungsbezirk Kaſſel befinden ſich die Geſetze noch im Stadium
der Beratung.
All dieſen Erbrechtsgeſetzen iſt gemeinſam, daß ſie den Kern
des altſtändiſchen Anerbenrechts mit der modernen Wirtſchafts⸗
und Rechtsordnung verſöhnen wollen.
Zu dieſem Zweck wird von der freieſten Dispoſitionsbefugnis
des Grundeigentümers ausgegangen und dieſelbe für letztwillige
Verfügungen noch über die Schranken des gemeinen Pflicht⸗
teilrechts hinaus erweitert.
Für den Fall, daß keine letztwillige Verfügung getroffen
worden iſt, wird für den landwirtſchaftlichen Grundbeſitz die
Individualſucceſſion eines der Kinder eingeführt; dieſe ſchließt
jedoch die Vererbung des Nachlaſſes nach gemeinem Recht
nicht aus. Der Anerbe erhält neben dem Eigentum am Grund⸗
beſitz ein ſogenanntes Voraus, eine Vorteilsberechtigung an dem
Wert desſelben (/ des Ertragswerts nach dem hannoverſchen
Recht, Ya nach dem bremiſchen Recht), während an dem übrigen
Wert ſämtliche Erben zu gleichen Teilen participieren, ſo in
Hannover, Bremen, Lauenburg, Schleswig-Holſtein. Bisweilen
liegt die Begünſtigung des Anerben auch nur in der niedrigen
Erbſchaftstaxe, für die er das Gut antritt, jo z. B. in Weſt⸗
falen und nach dem Geſetzentwurf von Brandenburg und Schleſien.
Wieviel Güter der Erblaſſer hinterläßt, ſoviel Anerben werden
berufen. Die Höhe des Voraus und der Erbſchaftstaxe wird
lediglich durch die Rückſicht auf die Erhaltung des Gutes in der
Familie beſtimmt. Nur in Braunſchweig und Schaumburg⸗Lippe
erhalten die Miterben des Anerben lediglich Abfindungen und
keine Erbanteile. Der Wertermittelung wird der Ertragswert
zu Grunde gelegt. Dieſelbe erfolgt entweder für jedes einzelne
Grundſtück durch eine Taxationskommiſſion oder für alle Grund⸗
ſtücke nach Maßſtab des Grundſteuerkataſters. Den erſteren
Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 161
Weg ſchlagen das hannoverſche Höferecht und die demſelben
folgenden Höfegeſetze ein, den letzteren die weſtfäliſche Land—
güterordnung. Die Geſetzentwürfe für Brandenburg und Schleſien
kombinieren beide Modalitäten, ſo daß nur für den Fall, daß
ein Erbe es verlangt, eine individuelle Ermittelung des Ertrags—
werts eintritt, während ſonſt der kapitaliſierte Kataſtralrein⸗
ertrag entſcheidend iſt.
Weitere Punkte, in denen dieſe Geſetze untereinander
differieren, find folgende. Während das ſchaumburg⸗lippeſche,
braunſchweigiſche, bremiſche, lauenburgiſche und hannoverſche
Geſetz das Anerbenrecht auf den bäuerlichen Grundbeſitz be—
ſchränken, geben das oldenburgiſche und weſtfäliſche Geſetz ſowie
die neueren Geſetzentwürfe für Schleswig-Holſtein, Brandenburg
Schleſien und Sachſen demſelben eine weitere Ausdehnung auf
das geſamte land- und forſtwirtſchaftlich benutzte behauſte oder
nichtbehauſte Grundeigentum. Es war für dieſe weitere Aus-
dehnung des Anerbenrechts die Erwägung maßgebend, daß das—
ſelbe in ſeiner neueſten Geſtalt vollſtändig losgelöſt erſcheint
von ſeinem bäuerlichen Urſprung und daß alle Gründe,
welche für die Erſetzung des gemeinen Rechts durch das
Anerbenrecht ſprechen, gleichmäßig für alles land- und forſt⸗
wirtſchaftlich benutzte Grundeigentum zutreffen. Speciell für
den mittleren Grundbeſitz iſt das Anerbenrecht eine Not-
wendigkeit, weil derſelbe durch das Erbrecht weniger ge—
ſchützt iſt als der große Grundbeſitz, welchen Lehnrecht,
Stammgutsſyſtem und Familienfideikommiſſe in den Familien
erhalten helfen. Aber auch für den großen Grundbeſitz kann
das Anerbenrecht dereinſt die Bedeutung eines Schutzdachs ge—
winnen, unter das derſelbe treten wird, wenn das Familien—
fideikommiß beſeitigt werden ſollte. Und ferner: je beſſer das
allgemeine Inteſtaterbrecht den Bedürfniſſen des ländlichen Grund—
beſitzes und der grundbeſitzenden Familien entſpricht, deſto ge—
ringerem Widerſtande wird die Aufhebung des Familienfidei⸗
kommiſſes oder doch eine weitere Annäherung desſelben an das
allgemeine Erbrecht ſeiner Zeit begegnen. Dazu kommt dann
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 11
162 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland.
die weitere Erwägung, daß es das allgemeine Urteil weniger
verletzt, wenn eine beſtimmte Kategorie von Gütern oder eine
beſtimmte Art von Rechtsgeſchäften einem eigenen ſingulären
Recht unterſtellt wird, als wenn dies mit Rückſicht auf eine be⸗
ſtimmte Klaſſe von Perſonen geſchieht. Zudem fehlt es nicht
an Präcedenzfällen für einen ſolchen Vorgang. Hat ſich doch
für die ſich auf den Handel beziehenden Rechtsgeſchäfte und In⸗
ſtitute ein eigenes Handelsrecht und ſpeciell für den Handels⸗
verkehr zur See ein eigenes Seerecht, trotz der im allgemeinen
nivellierenden Tendenz des modernen Rechts, erhalten. Und auch
für den der Land- und Forſtwirtſchaft ſowie dem Bergbau
dienenden Grundbeſitz hat ſich ein eigenes Agrar-, Forſt⸗ und
Bergbaurecht ausgebildet. Warum ſollte nicht auch das Erb-
recht, ſofern ſich dasſelbe auf den land- und forſtwirtſchaftlich
benutzten Boden bezieht, eigenartig geſtaltet werden können?
Endlich ein letzter, aber der wichtigſte Punkt, in dem die
neueren Geſetzgebungen untereinander differieren, iſt folgender.
Die bremiſche und oldenburgiſche ſowie die neuere preußiſche
Geſetzgebung für Hannover, Lauenburg und Weſtfalen laſſen das
gemeine und preußiſche allgemeine Erbrecht für den geſamten
Grundbeſitz in Kraft. Durch einen ausdrücklichen Willensakt
des Eigentümers, der ſich in der Eintragung eines Gutes in die
Höfe⸗ oder Landgüterrolle manifeſtiert, ſoll dasſelbe jedoch für
den Fall der Vererbung dem Anerbenrecht unterworfen werden
können. Indem dieſe Eintragung im Vergleich zur Errichtung
einer letztwilligen Verfügung außerordentlich erleichtert wird und
indem ferner für den Fall der Eintragung die Regeln, nach
denen die Vererbung erfolgt, nicht erſt ausdrücklich von dem
einzelnen beſtimmt zu werden brauchen, ſondern im Geſetz fixiert
ſind, leiſtet die Geſetzgebung der Anwendung des Anerbenrechts
Vorſchub. Die Präſumtion ſpricht alſo hier für die Geltung
des allgemeinen Rechtes; das Anerbenrecht, um für das einzelne
Gut zur Anwendung zu gelangen, muß von dem Eigentümer
desſelben ausdrücklich gewollt ſein. Dasſelbe bleibt aber dann,
wenn dieſer Wille durch Eintragung in die Höferolle zu Tage
ä Die Grundeigentumssverteil. u. Exbrechtsreform in Deutſchland. 163
J been iſt, ſolange in Geltung, als die Löſchung des betreffenden
Grundſtücks aus der Höferolle nicht erfolgt iſt.
Ein anderes Syſtem als das der Höferolle hat die ſchaum—
burg⸗lippeſche und die braunſchweigiſche Geſetzgebung und hat
der Entwurf des brandenburgiſchen Provinziallandtags acceptiert.
Dasſelbe lag auch dem Schorlemerſchen Entwurf für Weſt—
falen und dem urſprünglichen Entwurf des Provinzialaus—
ſchuſſes der Provinz Schleſien zu Grunde: in den beiden letzten
Provinzen iſt es aber angeſichts des Wunſches der Staatsregie—
rung, die Anerbenrechtsgeſetzgebung in allen preußiſchen Pro—
vinzen über den Leiſten der hannoverſchen Höferolle zu ſchlagen,
wie ich glaube, ſehr contre cœur aufgegeben worden. Es unter—
ſcheidet ſich vom Syſtem der Höferolle dadurch, daß die Verer—
bung nach Anerbenrecht zum Inteſtaterbrecht für den geſamten
bäuerlichen Grundbeſitz gemacht iſt. Dadurch iſt die Vererbung
nach gemeinem Recht für das einzelne Grundſtück übrigens keines—
wegs ausgeſchloſſen, nur muß fie in jedem ſpeciellen Fall aus-
drücklich gewollt und dieſer Wille in einer letztwilligen Dispoſition
ausgeſprochen ſein. Die ſchaumburg⸗lippeſche und braunſchweigiſche
Geſetzgebung ſteht ſomit in dieſer Beziehung in direktem Gegenſatz
zur preußiſch-hannoverſchen. In Hannover ſpricht die Präſumtion
für das gemeine Erbrecht, und das Anerbenrecht kann auf das
einzelne Grundſtück nur dann Anwendung finden, wenn dieſes in
die Höferolle eingetragen iſt; in Schaumburg-Lippe und Braun-
ſchweig dagegen bildet das Anerbenrecht die Regel, die, um
für das einzelne Grundſtück durch das gemeine Erbrecht erſetzt
zu werden, ausdrücklich ausgeſchloſſen werden muß.
In denjenigen Ländern, in denen das Anerbenrecht virtuell
oder potentiell für den geſamten land- und forſtwirtſchaftlich be⸗
nutzten Grundbeſitz eingeführt iſt, iſt von demſelben doch meiſt
der ganz kleine Beſitz, der zur Erhaltung einer Familie nicht
ausreicht, ausgeſchloſſen: ſo nach den Geſetzen von Bremen und
Weſtfalen und nach den Geſetzentwürfen für die Provinzen
Schleſien, Brandenburg und Sachſen, während die übrigen
Geſetze eine ſolche Minimalgrenze nicht kennen.
11*
164 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland.
Zieht man in Betracht, daß die Sitte, letztwillige Ver⸗
fügungen zu treffen, bei uns auf dem Lande, namentlich unter
dem mittleren Stande, wenig verbreitet iſt, jo wird man dar⸗
aus den Schluß ziehen müſſen, daß das geltende Inteſtaterbrecht
auf die Dauer für die Art der Vererbung entſcheidend werden
muß. Wenigſtens dürfte dies die Regel ſein. Denn wenn in
Hannover und Oldenburg die Benutzung der Höferolle im
weiteſten Umfange erfolgt iſt, ſo iſt das eine Ausnahme, die auf
durchaus ſinguläre Zuſtände zurückzuführen iſt. In Hannover
war der Einführung des Höfegeſetzes eine hochgradige Erregung
der geſamten Bevölkerung vorausgegangen. Hier, wo eine im
beſten Sinne ariſtokratiſche Geſinnung die weiteſte Verbreitung
findet, wurde die Erhaltung des Anerbenrechts als eine ſpeeifiſch
hannoverſche Angelegenheit aufgefaßt, für die ſich in gleicher
Weiſe Herr von Bennigſen wie Herr Windthorſt und
mit ihnen die ganze Bevölkerung intereſſierte. So gelang es
denn gleich in den erſten Jahren, die Eigentümer von über 60
Prozent aller damals eintragungsfähigen Höfe zur Unterſtellung
derſelben unter das Höferecht zu veranlaſſen. Und in Oldenburg
wiederum hatte das alte Grunderbrecht bis zur neuen Geſetz—
gebung ununterbrochen fortbeſtanden und entwickelten die Ver⸗
waltungsbehörden eine ſo energiſche Thätigkeit, um dasſelbe der
Bevölkerung auch in der neuen Form zu erhalten, daß gleich in
den erſten Jahren ebenfalls ein großer Teil aller Grundbeſitzungen
dem neuformulierten Grunderbrecht unterſtellt wurde.
Ich bezweifle auch nicht, daß es dem Einfluß des weſt—
fäliſchen Bauernvereins und ſeinen einflußreichen Leitern gelingen
werde, in dieſer Provinz ein ähnlich günſtiges Reſultat zu er—
zielen.
Dagegen bin ich der Überzeugung, daß in den übrigen
preußiſchen Provinzen ſowie in anderen deutſchen Ländern das
Anerbenrecht erſt dann von wirklich maßgebender Bedeutung
werden wird, wenn es gelingt, dasſelbe nach dem Vorbilde
Lippe⸗Schaumburgs und Braunſchweigs und zugleich ohne die
in dieſen Ländern beliebte Beſchränkung desſelben auf den bäuer⸗
Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 165
lichen Grundbeſitz zum Inteſtaterbrecht für den geſamten länd-
lichen Grundbeſitz zu machen.
Nun wird aber gegen eine ſolche Ausdehnung des Anerben—
rechts auf das ganze Gebiet des Deutſchen Reichs mit Recht
geltend gemacht, daß in manchen Gegenden das Rechtsbewußtſein
und die Sitte der ländlichen Bevölkerung einer ſolchen Maßregel
entſchieden widerſtreben würde. Es iſt das namentlich der Fall
in Gegenden mit ſehr zerſtückeltem und zugleich parzelliertem
Grundbeſitz, in denen derſelbe etwas von der Beweglichkeit des
Kapitals angenommen hat und in denen das Rechtsbewußtſein
zugleich zäh an der Sitte der gleichen Erbteilung feſthält.
Darf nun die Geſetzgebung auf dem Gebiet des Erbrechts
den vorhandenen Rechtsüberzeugungen überhaupt keinen Zwang
anthun, ſo würde ſich ein ſolcher dort, wo die Güterzer⸗
ſtückelung und ⸗parzellierung eine krankhafte geworden iſt, auch
nicht einmal aus Rückſichten auf die Erhaltung der vorhandenen
Grundbeſitzverteilung empfehlen. Erſt in dem Maße, wie hier
geſundere Verhältniſſe eintreten, — und dieſe zu ſchaffen oder
zu begünſtigen, iſt eine der wichtigſten Aufgaben der Agrarpolitik —
ſollte den Beſitzern der beſſer arrondierten Güter von mittlerem
und größerem Umfange Gelegenheit gegeben werden, dieſelben
dem Anerbenrecht zu unterftellen.
Eine ſolche Möglichkeit iſt aber bei dem bisher eingeſchlagenen
Wege einer einheitlichen Regelung dieſer Frage für ein ganzes
Land oder eine ganze Provinz nicht vorhanden. Denn dieſe
erfolgt nur, wenn ſich der überwiegende Teil der Bevölkerung
für das Anerbenrecht entſcheidet. Dabei kommen aber weder die
kleinen Unterabteilungen eines Landes und einer Provinz noch
die einzelnen Güter zu ihrem Rechte. Dies hat ſich ſchon früher
in Oldenburg und noch neuerdings in Weſtfalen und Heſſen
gezeigt, indem ſich weder für das ganze Großherzogtum Oldenburg
noch auch für die ganze Provinz Weſtfalen noch endlich für den
ganzen Regierungsbezirk Kaſſel ein einheitliches Anerbenrecht ein—
führen ließ und daher hier ſchon in den einzelnen Landesteilen
unterſchieden werden mußte. Auch wurden durch die provinzielle
166 Die Grundeigentumsperteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland.
Regelung des Anerbenrechts Anomalieen wie z. B. die folgende
veranlaßt: daß nämlich zur Provinz Weſtfalen vier Kreiſe der
Rheinprovinz hinzugeſchlagen werden mußten, um ihnen ein
Anerbenrecht zu gewähren, das der übrige Teil der Rheinprovinz
perhorreszierte.
Ich gelange daher zu folgendem Vorſchlag. Die Kommiſſion
für die Ausarbeitung eines deutſchen Civilgeſetzbuches möge
neben dem allgemeinen Erbrecht, welches für das ſämtliche
Mobiliarvermögen und ebenſo für das ſtädtiſche Immobiliar⸗
vermögen in Anwendung zu kommen hätte, für das land- und
forſtwirtſchaftlich benutzte Grundeigentum das Anerbenrecht in
doppelter Geſtalt einführen: nämlich einmal in der Geſtalt eines
von Geſetzes wegen geltenden Inteſtaterbrechts und ſodann eines
erſt durch Eintragung in die Höferolle zur Anwendung gelangen⸗
den Höferechtes. Den einzelnen Ländern und Landesteilen
(Provinzen, Kreiſen, Bezirken) wäre dann anheimzugeben, ſich
für das eine oder andere der beiden Erbrechtsſyſteme zu ent⸗
ſcheiden.
In den Landesteilen mit arrondiertem Beſitz und ſtarkem
Familienbewußtſein würde wahrſcheinlich das Anerbenrecht als
Inteſtaterbrecht recipiert werden, ſo daß dasſelbe für das einzelne
Grundſtück im gegebenen Vererbungsfall nur durch ausdrückliche
Willenserklärung ausgeſchloſſen werden könnte; in den Ländern
mit zerſtückeltem und parzelliertem Grundbeſitz, ſtark hervor⸗
tretendem Individualismus und Gleichheitsgefühl dagegen würde
das allgemeine Mobiliarerbrecht Anwendung auf den ländlichen
wie auf den ſtädtiſchen Grundbeſitz finden, jedoch ſo, daß ſeine
Wirkſamkeit für einzelne Güter durch ausdrückliche Eintragung
derſelben in die Höferolle ausgeſchloſſen werden könnte. Von
der Belehrung und dem Beiſpiel erwarte ich, daß man ſich
mit der Zeit in ganz Norddeutſchland, in einem großen Teil
Bayerns, im württembergiſchen Ober-Schwaben, im Hohenlohe⸗
ſchen, im badiſchen Schwarzwalde für das Anerbenrecht als
Inteſtaterbrecht erklären werde, während in Mittel- und Süd⸗
weſtdeutſchland mit Ausnahme nur der eben bezeichneten Bezirke
Be
Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland. 167
> 2 das jetzige Syſtem der Höferolle neben dem allgemeinen Erbrecht
Anwendung finden werde.
Daß ſich gegen dieſen Plan mancherlei Bedenken vorbringen
laſſen, weiß ich wohl. Ich habe dieſelben bei der detail—
lierten Ausführung meines Vorſchlags in der zweiten Abteilung
meines für unſern Verein ausgearbeiteten Gutachtens eingehend
berückſichtigt. An dieſer Stelle verbietet mir die leider bereits
zu weit vorgeſchrittene Zeit, näher auf dieſe Bedenken einzugehen.
Ich eile daher zum Schluß, indem ich, nochmals zu dem
Anfange meines Vortrages zurückkehrend, nur noch die Frage zu
beantworten ſuche, was denn eigentlich durch eine ſolche Reform
des Erbrechts erzielt werden ſoll. Dieſe Antwort lautet in
Kürze: es ſoll die im großen Ganzen geſunde Verteilung des
ländlichen Grundeigentums in der Zukunft beſſer konſerviert
werden, als das gemeine Erbrecht dies zu thun geſtattet, und es
ſollen die grundbeſitzenden Familien gegenüber dem Andrängen
des beweglichen Kapitals in ihrem Beſitz beſſer geſchützt werden,
als dies gegenwärtig möglich iſt.
An der Erhaltung der vorhandenen Grundbeſitzverteilung
und der altangeſeſſenen grundbeſitzenden Familien hat der Staat
ein eminentes Intereſſe. Denn eine geſunde Grundbeſitzverteilung
bildet die erſte Vorausſetzung für ein geſunde Vermögens- und Ein⸗
kommensverteilung überhaupt. Sie allein ſchützt auch davor, wie
ſelbſt von ſocialdemokratiſcher Seite wiederholt zugeſtanden worden
iſt, daß die ſociale Frage auf dem Lande nicht eine ebenſo
brennende werde, wie ſie es bereits in den Städten iſt. Sodann
ſind die Familien, in deren Beſitz ſich ein großer Teil der größeren
und mittleren Güter befindet, namentlich in unſerm Nordoſten,
aufs engſte mit den Schickſalen unſeres Staates und unſerer
Dynaſtie verwachſen, für die ſie im Kriege ihr Blut vergoſſen
und im Frieden ihre beſten Kräfte hingegeben haben. In unſerm
Bauernſtande endlich beſitzen wir ein ſociales Element, um das
uns mancher andere Staat beneiden dürfte, mancher Staat, der
trotz größeren Reichtums und höherer materieller Kultur dennoch
168 Die Grundeigentumsverteil. u. Erbrechtsreform in Deutſchland.
auf thönernen Füßen ruht, weil ihm ein geſunder Bauernſtand
fehlt. Wie dieſer Mittelſtand eins der koſtbarſten Vermächtniſſe
unſerer Geſchichte iſt, ſo ruht in ihm auch eine der kräftigſten
Bürgſchaften für unſere Zukunft. Denn noch immer gilt das
Wort des Dichters:
Es ſprießt der Stamm des Rieſen
Aus Bauernmark hervor!
V.
Das Anerbenrecht und das künftige bürger-
liche Gefeßbud für das Deutſche Reich‘.
Eingabe des deutſchen Landwirtſchaftsrats an den Kanzler des
Deutſchen Reichs vom 27. April 1886.
Die Kriſis, unter der die deutſche Landwirtſchaft ſeit einigen
Jahren leidet, hat unter anderem zur Folge gehabt, daß einige
Staatsregierungen, Vereine und Private eine Reihe von Unter-
ſuchungen über den Umfang und die Urſachen derſelben ange—
ſtellt haben. Wenn die Reſultate dieſer Arbeiten auch in man⸗
I Baernreither, Das Stammgüter-Syſtem und Anerbenrecht in
Deutſchland. Wien 1882.
A. Peez, Über die Frage eines ſingulären Erbrechts für den kleinen
Grundbeſitz. Wien 1883.
v. Inama⸗Sternegg, Zur Reform des Agrarrechts, beſonders des
Anerbenrechts, in Grünhuts Zeitſchrift für das Privat- und öffentliche
Recht der Gegenwart. Bd. 10.
v. Miaskowski, Das Erbrecht und die Grundeigentumsverteilung
im Deutſchen Reiche. 2 Abteilungen. Leipzig 1882 —84.
Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik über die Anerben-
rechtsfrage im Jahre 1882, im Bericht über die am 9. und 10. Oktober
1882 abgehaltene Generalverſammlung. Leipzig 1882.
Verhandlungen des deutſchen Landwirtſchaftsrats über die An⸗
erbenrechtsfrage in den Jahren 1884—86, im Archiv des deutſchen Land—
wirtſchaftsrates VIII. — X. Jahrgang.
170 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich.
chen Beziehungen voneinander abweichen, ſo hat ſich doch in
einem Punkte eine nahezu vollſtändige Übereinſtimmung unter
denſelben ergeben. .
Von allen Seiten nämlich wird beſtätigt, daß die Lage der⸗
jenigen Beſitzer, auf deren Gütern verhältnismäßig viele Schul⸗
den ruhen, am ſchlechteſten ſei und daß die hohe Verſchuldung
wieder ihre weſentlichſten Urſachen in dem häufigen Beſitzwechſel
der Güter, in dem Ankauf derſelben zu hohen Preiſen bezw. in
den hohen Erbſchaftstaxen und endlich in den unzureichenden
Mitteln, mit denen die Landgüter in vielen Fällen erworben
werden, habe.
Es beſagt dieſes Reſultat übrigens nichts Neues, es enthält
nur eine allgemeine Beſtätigung deſſen, was von einzelnen
agrarpolitiſchen Schriftſtellern und ſonſtigen mit unſeren Agrar⸗
verhältniſſen vertrauten Perſonen bereits ſeit Jahrzehnten mit
mehr oder minder großer Entſchiedenheit behauptet worden iſt.
Dieſes Reſultat dürfte aber deshalb von beſonderem Werte ſein,
weil es die allgemeine Aufmerkſamkeit auf einen Mangel unſerer
Agrargeſetzgebung im weiteſten Sinne des Worts hinlenkt,
wozu wir auch die Erbrechtsgeſetzgebung, ſoweit ſie auf die
Vererbung des ländlichen Grundbeſitzes Anwendung findet, rechnen.
Wird dieſer und mancher andere Mangel, der unſerer Agrar⸗
geſetzgebung eigen iſt, infolge der grellen Beleuchtung, in die ſie
die gegenwärtige Kriſis ſtellt, erkannt und abgeſtellt, ſo dürfte
die Not, unter der die gegenwärtige Generation zu leiden hat,
zum Segen für die künftigen Geſchlechter werden.
Das geltende gemeine und landrechtliche Erbrecht trägt
an dem namentlich unter den Rittergütern des Oſtens in
den letzten Jahrzehnten häufig vorgekommenen Beſitzwechſel in⸗
ſofern ſchuld, als es auch ſeinerſeits auf den ohnehin in der
Abnahme begriffenen Sinn für den Familienbeſitz auflöſend ge⸗
wirkt hat. Dieſe Wirkung iſt aber wiederum ſpeciell darauf
zurückzuführen, daß die Erbſchaftstaxe je länger, um jo mehr auf
die Höhe des beim Verkaufe eines Gutes erzielbaren höchſten
Preiſes geſchraubt wird. Und dieſe Praxis wieder findet
Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 171
3
ihren Stützpunkt in dem jedem von mehreren Erben eingeräumten
"= Rechte, behufs Feſtſtellung der Taxe die Meiſtbotſtellung des be-
5 treffenden Gutes verlangen zu dürfen, ſowie in der den Vor—
mündern und Kuratoren minderjähriger und unter Kuratel
ſtehender Perſonen obliegenden Pflicht, auf eine möglichſt
hohe Taxe zu dringen. Denn eine ſolche Beſtimmung, welche
den einzelnen Erben die nötige Handhabe zur Realiſierung rein
individualiſtiſcher Beſtrebungen giebt, iſt dazu angethan, um den
auf die Erhaltung eines ererbten Gutes in der Familie ge—
richteten Sinn zu zerſtören oder doch abzuſchwächen. Iſt derſelbe
geſchwunden, ſo wird das Landgut als eine Ware wie jede
andere behandelt, deren Beſitz man nicht erſtrebt, um eine dauernde
Stätte für die produktive Thätigkeit ſowie einen feſten Boden
für die Entwicklung der Familie zu gewinnen, ſondern lediglich,
um ſie billig zu kaufen und möglichſt teuer wieder zu verkaufen.
Stellt der Beſitzer ſich aber einmal auf dieſen ſpekulativen Stand—
punkt, ſo findet er ſeine Befriedigung nicht mehr in der ununter—
brochenen Dauer, ſondern nur noch in dem möglichſt raſchen
Wechſel ſeines Beſitzes. Durch einen ſolchen häufigen Beſitz—
wechſel geht dann nicht nur der Vorteil der „Werkfortſetzung“
(Fr. Liſt) verloren, es knüpfen ſich an einen ſolchen namentlich
bei uns, wo Käufer und Erben die Güter häufig mit unzu—
reichenden Mitteln übernehmen, auch noch eine Reihe poſitiver
Schäden wirtſchaftlicher, ſocialer und politiſcher Art. Ein locker
2 auf der Scholle ſitzender Beſitzer wirtſchaftet mehr für den Schein,
als daß er feinem Gute wirklich diejenigen Zuwendungen an
Arbeit und Kapital zukommen läßt, die nicht gleich ſichtbar
werden, ſondern oft erſt nach Jahrzehnten rentieren. Einem
ſolchen Beſitzer wird auch nur ſelten daran gelegen ſein, ſeinen
Arbeitern und Nachbarn eine gerechte Schonung ihrer Intereſſen
angedeihen zu laſſen. Ferner pflegen Güterſpekulanten, und in
ſolche verwandeln ſich naturgemäß die loſe auf der Scholle
ſitzenden Beſitzer, der ländlichen Selbſtverwaltung und der poli—
tiſchen Vertretung nicht dieſelben Dienſte zu leiſten wie die ſeß—
haften und deshalb mit den dauerenden Intereſſen ihrer Gegend
„
FR 9 fü ö 5 ?
172 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich.
feſt verwachſenen Grundbeſitzer. In politiſcher Beziehung nament⸗
lich eignen ſie ſich alle Schattenſeiten der Städter an, ohne
daß mit dieſen Schattenſeiten doch die Vorzüge derſelben ver⸗
bunden wären.
Wenn wir bisher ausſchließlich von den Nachteilen ſprachen,
die daraus entſtehen, daß der Rittergutsbeſitz ſeinen Cha⸗
rakter als Familienbeſitz verliert, ſo muß auch hinſichtlich des
bäuerlichen Grundbeſitzes noch beſonders darauf hinge⸗
wieſen werden, daß der nicht mehr regelmäßig vom Vater auf den
Sohn ſich vererbende Grundbeſitz nicht nur der betreffenden Fa⸗
milie, ſondern zugleich auch dem Bauernſtande und damit der
geſamten Volkswirtſchaft verloren geht. Denn ein Bauerngut
als Ganzes wird nur ausnahmsweiſe wieder von einem Bauern
gekauft; häufig gelangt es in die Hände eines früheren Beamten
großer Gutswirtſchaften, der, weil er auf ſo ſchmaler Baſis zu
wirtſchaften nicht gewohnt iſt, meiſt zu Grunde geht, worauf das
Gut dann entweder als Ganzes von einem benachbarten Groß—
grundbeſitzer ſeinem Beſitze einkorporiert oder parzelliert wird,
in beiden Fällen aber als ſelbſtändiges Bauerngut zu exiſtieren
aufhört.
Je häufiger ſich nun ſolche Vorgänge wiederholen, um ſo
raſcher ſchrumpft die Baſis, auf der die Exiſtenz dieſes durch
Verbindung von Kapital und Arbeit in einer eigenen Unter⸗
nehmung charakteriſierten ländlichen Mittelſtandes ruht, zuſammen
und verſchlechtert ſich die im ganzen normale Verteilung unſeres
Grundbeſitzes, indem ihr geſundeſter Beſtandteil an Umfang und
Bedeutſamkeit verliert.
Wie lebhaft aber dieſe Gefahr bereits gegenwärtig allgemein
empfunden wird, das zeigt die Einmütigkeit faſt ſämtlicher na-
tionalökonomiſcher Theoretiker ſowie aller ſonſt weit auseinander
gehenden Parteien — mit Ausnahme nur der ſocialdemokrati⸗
ſchen —, wenn es gilt, dieſen die heutige Geſellſchaft und ihre
Ordnung gegen die wilden Waſſer der Umſturzbeſtrebungen
ſchützenden Damm, als welcher der Bauernitand allgemein an-
erkannt wird, zu ſchützen und zu befeſtigen.
ET Dias Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 173
Unſere eben verſuchte Beweisführung wird unterſtützt durch
die von den neueſten agrariſchen Ermittelungen ebenfalls be—
ſtätigte Thatſache, daß die gegenwärtige Kriſis am wenigſten
auf diejenigen Grundbeſitzer drückt, die ihre Güter zu einer
mäßigen, den durchſchnittlichen Ertragswert derſelben nicht über—
ſteigenden Taxe ererbt haben; und zwar deshalb, weil dieſe Güter
gewöhnlich weniger ſtark verſchuldet ſind als diejenigen Güter,
die zu hohen Preiſen gekauft oder bei der Erbſchaftsregulierung
übernommen worden ſind.
Da im Durchſchnitt die bäuerlichen Güter entweder infolge
des in einem großen Teil des nordweſtlichen und nördlichen, aber
auch in einzelnen Teilen des mittleren und ſüdlichen Deutſch—
land geſetzlich oder gewohnheitsrechtlich geltenden Anerbenrechtes
oder infolge der im Nord- und Südoſten, aber auch ſonſt in
manchen Teilen Süd- und Mitteldeutſchlands verbreiteten Sitte,
den Bauernhof bei Lebzeiten der Eltern an einen Sohn zu einer
mäßigen Taxe zu übergeben (Gutsübergabeverträge), viel häufiger
vom Vater auf den Sohn zu Bedingungen, welche dieſem in der
Regel die Erhaltung des Gutes ermöglichen, vererben als die
Rittergüter, auf die das gemeine und landrechtliche Erbrecht in
viel größerem Umfange Anwendung findet, ſo erklärt ſich hieraus
zugleich zur Genüge die in jüngſter Zeit (1883) für 52 Diſtrikte
der preußiſchen Monarchie konſtatierte Thatſache, daß die größeren
Güter zum Achtundzwanzigfachen, die Bauernhöfe dagegen nur
zum Achtzehnfachen und die Bauernſtellen vollends nur zum
Zwölffachen des Grundſteuereintrages verſchuldet ſind !.
Unter den großen Gütern bilden eine Ausnahme von der
Regel, d. h. ſind verhältnismäßig niedrig verſchuldet, hauptſäch—
lich nur die fideikommiſſariſch gebundenen Güter. Alſo auch
hier iſt es wieder neben der Erſchwerung der hypothekariſchen
I „Ermittelungen über die durchſchnittliche Höhe der Grundbuchſchulden
der bäuerlichen Beſitzungen in 52 Amtsgerichtsbezirken des preußiſchen
Staates nach dem Stande des Jahres 1883. Im Auftrage des Herrn
Miniſters der Landwirtſchaft, Domänen und Forſten bearbeitet von Auguſt
Meitzen.“ Seite 80.
174 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich.
Verſchuldung die eigenartige Erbfolge (Individualſucceſſion eines
der Kinder unter vollſtändigem Ausſchluſſe der übrigen Allodial⸗
erben von der Erbfolge in das Fideikommißgut bez. mäßiger
Abfindung derſelben), welche die geringe Verſchuldung der Güter
bewirkt.
Indes darf bei Hervorhebung dieſer Lichtſeiten an dem
gegenwärtigen Zuſtande der Vererbung des Grund und Bodens
doch nicht unerwähnt bleiben, daß ſie nicht die Gewähr längerer
Dauer beſitzen.
Denn was zunächſt die Familienfideikommiſſe betrifft, ſo
harmonieren ſie ſowenig mit der ganzen Architektonik unſerer
auf dem Grundſatze der Freiheit und der Gleichheit ruhenden
Rechtsordnung, daß die Wellen einer hochgehenden demokratiſchen
Strömung, die leicht an die bereits beſtehende und immer ſtärker
werdende, auf die Beſeitigung der engliſchen entails gerichtete
Bewegung anknüpfen kann, auch bei uns das Fideikommißinſtitut
zu Falle bringen würde.
Ferner iſt das ältere, ſtrenge Anerbenrecht in jüngſter Zeit
in einer Reihe von Staaten beſeitigt und teilweiſe durch das
neuere Anerbenrecht nach dem Prinzip der Höferolle erſetzt
worden. Durch das neue Inſtitut iſt aber ein durchaus unzu⸗
reichender Erſatz für das ältere gegeben. Denn wenn die An⸗
wendung dieſes neueren Anerbenrechtes von der ausdrücklichen
Willensäußerung des Erblaſſers abhängig gemacht wird, ſo
darf — bei der in Deutſchland im allgemeinen und ganz ſpeciell
im Bauernſtande nur wenig verbreiteten Sitte, letztwillige Ver⸗
fügungen oder ähnliche Dispoſitionen zu treffen — nur unter
beſonders günſtigen Verhältniſſen auf eine umfaſſende Anwendung
dieſes wohl richtig als indirektes Inteſtaterbrecht bezeichneten
neuen Anerbenrechts gerechnet werden. Solche beſonders günſtige
Verhältniſſe haben nun freilich in der Provinz Hannover und
im Großherzogtum Oldenburg vorgelegen, und hier iſt denn auch
der Gebrauch, der von der Höferolle gemacht worden iſt, kein
geringer geweſen. Überall aber, wo die Verhältniſſe weniger
günſtig lagen als in dieſen beiden Ländern — in denen das
. Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 175
* Anerbenrecht als eine gemeinſame Landesangelegenheit aller
Klaſſen der Bevölkerung angeſehen wurde, die man namentlich
in Hannover gegenüber dem Alt-Preußentum beſonders betonen
zu müſſen glaubte, und in denen Verwaltungs- und Juſtizbeamte,
größere Grundbeſitzer und landwirtſchaftliche Vereine ebenſoviel
Eifer wie Einſicht bei Durchführung der Höfegeſetze zeigten —,
da iſt nach übereinſtimmenden Nachrichten von der Höferolle
bisher faſt gar kein Gebrauch gemacht worden. Es wäre aber
gewiß voreilig und falſch, hieraus zu ſchließen, daß die ländliche
Bevölkerung dem, was durch die Höferolle von der Geſetzgebung
erſtrebt wird, abgeneigt ſei. Von einer Abneigung gegen den
Zweck des neuen Anerbenrechts kann um ſo weniger die Rede
ſein, als namentlich der Bauernſtand nach althergebrachter Sitte
denſelben Zweck, den das Anerbenrecht verfolgt, durch andere
Mittel zu erreichen beſtrebt iſt und als das neue Anerbenrecht
den wenigſten Grundbeſitzern in ſeiner Bedeutung vollſtändig be—
kannt iſt, indem es der gegen die Höfegeſetze gerichteten Agitation
gelungen iſt, die Tragweite der einzelnen Beſtimmungen zu über—
treiben und dadurch namentlich unter der bäuerlichen Bevölkerung
ein Mißtrauen zu erzeugen, das in dem Geſetze ſelbſt keinerlei
Begründung findet. Dieſes Mißtrauen nun könnte durch die Ini—
tiative der Rittergutsbeſitzer leicht beſeitigt werden, wenn dieſe ſich
entſchließen wollten, durch die Eintragung ihrer Güter in die Höfe—
rolle den Bauern ein gutes Beiſpiel zu geben. Denn die neueren
für eine Anzahl preußiſcher Provinzen erlaſſenen Höfegeſetze und
Landgüterordnungen geſtatten ſämtlichen Beſitzern landwirtſchaft—
licher Güter die Eintragung in die Höferolle und ſchließen nur die
ganz kleinen Beſitzer aus. Doch haben auch die Rittergutsbeſitzer
teils infolge der auch in dieſer Klaſſe verbreiteten Abneigung
gegen letztwillige Dispoſitionen, teils infolge der Unbekanntſchaft
mit dem Inſtitut der Höferolle, teils endlich infolge der Un—
ſicherheit und Schwierigkeit ihrer Lage von der Höferolle bisher
ſogut wie gar keinen Gebrauch gemacht. So iſt denn vorläufig,
das Reſultat dieſer neueren Geſetzgebung — immer abgeſehen
von Hannover und Oldenburg — kein anderes als dieſes, daß
176 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich.
man ſich ſcheut die Initiative zu einer rechtlichen Regelung des
Immobiliarnachlaſſes zu ergreifen, die man ſich von Geſetzes
wegen in der Form des direkten Inteſtaterbrechts gewiß gern
gefallen laſſen würde.
Was ferner die Sitte der Gutsübergabe betrifft, jo iſt fie
freilich nur auf die Kreife des Bauernſtandes beſchränkt, hier
aber ſehr weit verbreitet. Während dem Bauern die Teſtaments⸗
errichtung im ganzen unſympathiſch iſt und er ſich, wie wir eben
gezeigt haben, auch zu der Eintragung ſeines Gutes in die Höfe⸗
rolle bisher im allgemeinen nur ſelten verſtanden hat, iſt ihm
die Übergabe des Gutes an einen der Erben bei Lebzeiten ge⸗
läufig. Dieſe verſchiedene Stellung des Bauern zur Höferolle
einer- und zu den Gutsübergabeverträgen andererſeits iſt nun
aber keineswegs, wie man auf den erſten Blick annehmen könnte,
durch den Inhalt und Zweck dieſer beiden Inſtitute bedingt, denn
der Zweck iſt bei beiden derſelbe, nämlich die Erhaltung des Grund⸗
beſitzes in der Familie, ſondern weſentlich nur durch die Form,
indem der ſeinem Weſen nach konſervative Bauer ſich an die eine
Form ſeit Generationen gewöhnt hat, während ihm die andere
neu und deshalb unbequem iſt.
Nun könnte man ſich ja, da von beiden Inſtituten derſelbe
Zweck erreicht wird, an der bezüglich der Gutsübergabe beſtehenden
Sitte genügen laſſen, wenn nicht dagegen zwei ebenſo triftige
wie allgemein anerkannte Gründe ſprächen. Denn
1. iſt die Sitte der Gutsübergabe ausſchließlich auf die
bäuerlichen Grundbeſitzer beſchränkt, während die Beſeitigung der
in dem gemeinen und landrechtlichen Erbrechte enthaltenen, dem
Grundbeſitze ſchädlichen Beſtimmungen den größeren Gutsbeſitzern
doch zum mindeſten ebenſo not thut;
2. ſind die Gutsübergabeverträge, wenn ſie auch das oben
anerkannte günſtige Reſultat zur Folge haben, doch andererſeits
mit einer Anzahl ſo bedeutender Mängel für den Frieden der
Familie, die Sittlichkeit ſowie zum Teil auch für die Volks⸗
wirtſchaft verbunden, daß das Bedürfnis, das durch dieſes Rechts⸗
inſtitut erreichte Ziel auf einem anderen Wege, durch eine andere
rr ee
Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 177
Rechtsform zu erreichen, um ſo lebhafter anerkannt werden wird,
je allgemeiner die Überzeugung durchdringt, daß eine Reform des
Inſtitutes der Übergabeverträge ſelbſt nicht wohl thunlich iſt.
Endlich iſt noch zu erwähnen, daß auch die freiwilligen Ver⸗
einbarungen unter den Miterben, welche dahin zielen, einem unter
ihnen das ererbte Gut zu einer mäßigen Taxe zu überlaſſen,
unter dem Einfluſſe des oben ſkizzierten, den Individualismus
begünſtigenden, gemeinen und landrechtlichen Erbrechtes immer
ſeltener werden.
So ſind denn die geſetzlichen und gewohnheitsrechtlichen
Stützpunkte, welche der Familienbeſitz in dem gegenwärtigen
Erbrechte beſitzt, nur ſehr ſchwach und nehmen außerdem an
Kraft der Wirkſamkeit von Tag zu Tag ab. Der Grund hier—
für dürfte weniger in der Abnahme des Familienſinnes über⸗
haupt zu ſuchen ſein als in der eigentümlichen Stellung dieſer
Rechtsinſtitute zu dem allgemeinen Erbrechte. Denn es erſtreckt
ſich dieſes gewöhnlich auch auf das ganze Territorium eines be—
ſtimmten Staates ſowie auf alle Klaſſen ſeiner Bewohner und
gelangt daher immer zur Anwendung, wenn es nicht ausdrücklich
durch einen Vertrag unter Lebenden (Gutsübergabe, Erbſchafts—
auseinanderſetzung), ex pacto et providentia majorum (Familien-
fideikommiſſe), durch letztwillige Verfügung oder endlich durch Ein—
tragung eines Gutes in die Höferolle ausgeſchloſſen wird. Nun
iſt es aber, zumal bei einem Volke, in dem der Geiſt der Initia⸗
tive überhaupt und ſpeciell der Sinn für letztwillige Verfügungen
nicht ſehr ſtark entwickelt iſt, leicht erklärlich, daß die lediglich
durch perſönliche Initiative in Wirkſamkeit zu ſetzende Ver⸗
erbungsnorm, mag ſie der wirtſchaftlichen Natur der Sache und
der perſönlichen Rechtsüberzeugung auch noch ſehr entſprechen,
gegenüber der anders gearteten geſetzlichen Beſtimmung, zumal
wenn dieſe in dem Egoismus einzelner Familienglieder eine ſtarke
Stütze findet, einen ſchweren Stand haben und deshalb nur aus—
nahmsweiſe zur Geltung gelangen wird.
Dieſe und ähnliche Erwägungen drängen ſich beſonders leb—
haft in einem Augenblicke auf, in dem das für das geſamte
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 12
178 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich.
Deutſche Reich beſtimmte bürgerliche Geſetzbuch ſich in der Ausar⸗
beitung befindet. Es entſteht unwillkürlich die Frage, ob die ge⸗
ſetzliche Regel, welche bisher ihre formelle Rechtskraft nur auf die
einzelnen deutſchen Staaten erſtreckt hat, nun auch zur Regel für
das geſamte deutſche Reichsgebiet gemacht werden ſoll.
Dieſe Frage bejahen hieße dieſer Regel für die Zukunft
eine noch größere Kraft beilegen, als ſie bereits in der Ver⸗
gangenheit gehabt hat. In dem kleineren Kreiſe eines ein⸗
zelnen Staates oder einer Provinz konnte es noch eher gelingen,
für das allgemeine Geſetzesrecht ein Gegengewicht in dem ſingu⸗
lären oder partikulären Geſetzes- oder Gewohnheitsrecht und in
der Sitte zu ſchaffen, als ſolches für das weitere Gebiet des
Reiches möglich ſein wird. Denn mit dem Umfange des An⸗
wendungsgebietes wächſt auch die innere Kraft des auf dasſelbe
berechneten Geſetzesrechtes: gegenüber dem Zuge nach Rechts⸗
einheit in einem ſo großen Körper wird es weder dem lokalen
noch dem ſingulären Geſetzes- und Gewohnheitsrecht, geſchweige
denn der Sitte in Zukunft möglich ſein, ſich gehörig zur Geltung
zu bringen. Wenn daher das Reichsgeſetzbuch den einzelnen
Landesgeſetzgebungen etwa geſtatten ſollte, ältere Rechtsinſtitute,
wie das Fideikommiß, das Stammgut u. a. m., beizubehalten
oder ſelbſt neuere Rechtsinſtitute, wie z. B. das modifizierte
Anerbenrecht, neben das geltende Reichsrecht oder an die Stelle
desſelben zu ſetzen, ſo würden ſolche nur geduldete Einrichtungen
doch bereits den Todeskeim in ſich tragen. Denn einmal werden
die einzelnen Landesgeſetzgebungen ſich nur unter einem beſonders
ſtarken Drucke der Bevölkerung dazu verſtehen, von der ihnen
eingeräumten geſetzgeberiſchen Kompetenz Gebrauch zu machen;
dann aber wird in denjenigen Staaten, in denen dieſes gleich-
wohl geſchähe, der Zug nach Rechtseinheit wahrſcheinlich ſo ſtark
ſein, daß dieſe Gebilde der Landesgeſetzgebung doch zu keinem
rechten Gedeihen gelangen würden.
Entſpricht daher ein beſtimmtes, dem Privatrecht angehöriges
Rechtsinſtitut den gegebenen Verhältniſſen, d. h. wird ſeine wirt⸗
ſchaftliche, ſociale und politiſche Notwendigkeit oder doch Zweck—
‚a = Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 179
mäßigkeit erwieſen, ſo wird man, um demſelben die Gewähr
effektiver Anwendung zu ſichern, danach ſtreben müſſen, daß das-
ſelbe Aufnahme in dem bürgerlichen Geſetzbuch finde. Ein ſolches
Verfahren dürfte auch allein der Bedeutung des künftigen bürger—
lichen Geſetzbuches entſprechen, welches doch unmöglich das für ein
beſtimmtes Gebiet als ungeſund und abnorm Erwieſene zur Regel
erheben und das den gegebenen Verhältniſſen Entſprechende,
Normale nur als Ausnahme dulden darf.
Wenn wir dieſen Satz auf unſeren Gegenſtand anwenden,
ſo würde dafür zu ſorgen ſein, daß die land- und forſtwirt—
ſchaftlich benutzten Güter von dem Inteſtaterbrecht als Einheiten
behandelt und einer ſolchen Taxe unterworfen werden, daß ihre
Erhaltung in der Familie unter normalen Verhältniſſen möglich
iſt. Das heißt aber nichts anderes, als daß für dieſe Güter
die Anerbenrechtsfolge zur geſetzlichen Regel erhoben werde; zur
geſetzlichen Regel in dem Sinn, daß beim Nichtvorhandenſein
einer entgegenſtehenden letztwilligen Dispoſition oder vertrags—
mäßigen Vereinbarung ein ſolches Landgut nur einem Kinde zu
einer mäßigen, auf Grund der durchſchnittlichen Erträge zu er—
mittelnden Taxe deferiert wird, und zwar bereits von Geſetzes
wegen und nicht erſt infolge der perſönlichen Initiative des Be—
ſitzers. |
Ein ſolches für den land- und forſtwirtſchaftlich benutzten
Grundbeſitz beſtimmtes Inteſtaterbrecht dürfte aber nicht ohne
weiteres auf das ganze Deutſche Reich anwendbar ſein, weil nicht
überall die Vorausſetzungen einer gedeihlichen Wirkſamkeit desſelben
vorhanden ſind. Dieſe Vorausſetzungen ſind zum Teil objektiver
Natur und beſtehen darin, daß die Güter wirklich auf die Dauer
berechnete Wirtſchaftseinheiten bilden, jo daß der Umfang der-
ſelben, die Art der Kultivierung, die Größe und Art der Wohn—
und Wirtſchaftsgebäude ſowie des Inventars durch eine lange
Praxis dergeſtalt aneinander gepaßt ſind, daß eine Störung dieſes
Gleichgewichtes durch Zerlegung des Gutes in einzelne Teile oder
Inkorporierung in ein anderes Gut in der Regel von mehr oder
minder großen privat- und volkswirtſchaftlichen Verluſten be—
12*
180 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich.
gleitet ſein würde. Neben dieſer objektiven Vorausſetzung bedarf
es für das Anerbenrecht aber noch einer ſubjektiven, indem ſeine
gedeihliche Wirkſamkeit nur dort gewährleiſtet iſt, wo die be⸗
treffenden Familien, in deren Beſitz ſich die Landgüter befinden,
Wert auf die Erhaltung derſelben legen und die einzelnen
Familienglieder, von dieſem Gefühl mehr oder minder durch⸗
drungen, nicht ausſchließlich danach ſtreben, einen möglichſt großen
Geldanteil aus der Nachlaßmaſſe zu erhalten.
Was zunächſt die objektive Vorausſetzung für die Neu⸗
geſtaltung des Anerbenrechtes betrifft, ſo iſt ſie überall vor⸗
handen, wo der Grundbeſitz nicht aus mehreren kleinen Parzellen
beſteht, welche ſich aus dem vom Manne Ererbten, von der Frau
Eingebrachten und von beiden Teilen Zugekauften zu Beſitz⸗ und
Wirtſchaftskombinationen verbinden, die nach einem Menſchen⸗
alter immer wieder auseinanderfallen. In Gegenden der letzteren
Art hat der Grundbeſitz etwas von der Natur des beweglichen
Kapitals angenommen, und iſt hier zugleich die Vorliebe für den
eigenen Beſitz unter der Bevölkerung ebenſo ſtark verbreitet, wie
das Feſthalten der durch ein einzelnes Glied repräſentierten
Familie an dem ererbten Gute, als einer von Generation zu
Generation unverteilt übergehenden Einheit, faſt gänzlich ver⸗
ſchwunden iſt. Demnach fehlt auch die zweite, ſubjektive Voraus⸗
ſetzung in der Regel in denſelben Gegenden, in denen die erſte, ob⸗
jektive Vorausſetzung nicht vorhanden iſt. Während nämlich in
dem bei weitem größten Teile des Deutſchen Reiches die Landgüter
auf die Dauer berechnete Einheiten im obigen Sinne ſind und
die beſitzenden Familien ſich ſolange wie möglich im Beſitze der-
ſelben zu erhalten ſuchen, zu welchem Zwecke die einzelnen Glieder
bereit ſind, mehr oder minder große Opfer zu bringen, Opfer,
für die ſie ſich weniger in materieller als in immaterieller Be⸗
ziehung — durch die Erhaltung der Heimſtätte in der Familie —
entſchädigt ſehen, legt in dem kleineren Teile von Deutſchland
nicht die Familie, ſondern der einzelne einen großen Wert darauf,
ein Stück Landes ſein zu nennen, unbekümmert darum, ob das⸗
ſelbe ererbt iſt oder nicht.
Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 181
Dieſer Dualismus, auf den wir in der Agrarverfaſſung und
in der Rechtsüberzeugung ſtoßen, prägt ſich auch in der bei an—
nähernd gleichem geſetzlichen Erbrecht ſich vorfindenden Vererbungs—
ſitte aus. Denn während in der erſten größeren Gruppe von
Ländern das wirtſchaftliche Bedürfnis und die Rechtsüberzeugung
ebenſoſehr gegen die gleiche Natural- wie Civilteilung des aus
einem Landgute beſtehenden Nachlaſſes unter ſämtlichen Erben
reagiert, werden in der zweiten kleineren Gruppe nicht nur die
ererbten Komplexe von Parzellen, ſondern auch dieſe Parzellen
ſelbſt unter ſämtlichen Erben zu gleichen reellen Teilen verteilt,
und nur ausnahmsweiſe findet die gleiche Civilteilung, wobei
zugleich der höchſtmögliche Verkaufswert der Taxe zu Grunde
gelegt wird, ſtatt.
Zur erſteren Gruppe von Ländern gehört faſt der ganze
Norden Deutſchlands, ein großer Teil des Südoſtens und einige
Enklaven in der zweiten Ländergruppe; zu dieſer wiederum ein
Teil von Mitteldeutſchland und der größte Teil von Südweſt—
deutſchland. Die erſte Ländergruppe charakteriſiert ſich im all-
gemeinen durch geringere Fruchtbarkeit des Bodens, durch ein
rauheres Klima und eine kürzere Vegetationsperiode, durch eine
wenig dichte Bevölkerung und geringe Städtezahl, durch das
Vorwiegen des Cerealien⸗, Kartoffel⸗ und Rübenbaues, der
Viehzucht und der landwirtſchaftlichen Nebengewerbe, durch die
Konzentration des geſamten Lebens in der Familie und im
Hauſe, durch das ſtärkere Hervortreten von Klaſſenunterſchieden
und durch eine verhältnismäßig junge Kultur. In der zweiten
Gruppe dagegen iſt der Boden im allgemeinen fruchtbarer, das
Klima milder, der Anbau von Gemüſe, Handelsgewächſen und
Wein mehr verbreitet, die Bevölkerung dichter, die Zahl der
Städte größer und das Leben auf dem Lande durch Elemente
ſtädtiſchen Weſens vielfach durchſetzt, die Geldwirtſchaft bis in
das feinſte Geäder des Verkehrs eingedrungen, das häusliche
Leben mehr durch das öffentliche zurückgedrängt, die Klaſſen⸗
unterſchiede mehr verwiſcht, die wirtſchaftliche Kultur älter und
mehr befeſtigt.
182 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich.
Ausnahmsweiſe finden ſich in der erſten Gruppe von Ländern
Gegenden, in denen die Elemente der zweiten Gruppe vorherrſchen.
Es gehören dahin namentlich die Umgebungen größerer Städte.
Und umgekehrt wieder ſind in der zweiten Gruppe von Ländern
der erſten mehr oder minder verwandt einzelne von den Städten
weit abgelegene Gegenden, wozu namentlich die Gebirge gehören.
Aus dem eben kurz ſkizzierten Dualismus, der ſich in der
Agrarverfaſſung und Rechtsüberzeugung innerhalb des Deutſchen
Reiches vorfindet, könnte man vielleicht ſchließen, daß ſich die
Zuſtände der zweiten Ländergruppe zu den Zuſtänden der erſten
ſchlechthin wie das höhere zu dem niederen Entwickelungs⸗
ſtadium verhalten. Wäre dieſe Annahme richtig, ſo wären die
im Süden herrſchenden Ordnungen die normalen und auf eine
längere Dauer berechneten, dagegen die im Norden herrſchenden
nur von temporärer Bedeutung, indem ſie den Ordnungen der
höheren Kulturſtufe im Laufe der Zeit Platz machen müßten.
Doch iſt dieſe Annahme in doppelter Beziehung unrichtig, indem
der Dualismus begründet iſt einmal durch Verſchiedenheiten der
natürlichen Ausſtattung, die ſich ganz und gar nicht nivellieren
laſſen, und ſodann durch eine hiſtoriſche Entwickelung, deren
verſchiedene Reſultate ſich ebenfalls in abſehbarer Zeit nicht aus⸗
gleichen werden. Somit wäre eine Übertragung der im deut⸗
ſchen Südweſten vorhandenen ſpecifiſchen Einrichtungen und unter
ihnen namentlich der oben ſkizzierten Vererbungsſitte ſowie der
durch dieſelbe weſentlich bedingten Verteilung des Grundbeſitzes
auf das geſamte Reich, ſelbſt wenn ſie wünſchenswert erſcheinen
würde, ſchlechterdings undurchführbar. Eine ſolche Übertragung
iſt aber auch nicht einmal wünſchenswert, weil die Zuſtände des
Südweſtens keineswegs als durchweg befriedigend bezeichnet wer—
den können und zwar deshalb nicht, weil die hier regelmäßig
erfolgende Naturalteilung nicht nur des geſamten Immobiliar⸗
nachlaſſes, ſondern ſogar der zu demſelben gehörigen einzelnen
Parzellen unter die ſämtlichen Erben oder doch wenigſtens unter
eine Mehrheit derſelben nicht nur die Wirkung, ſondern auch
die Urſache der ſich hier zum Teil vorfindenden relativen Über⸗
Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 183
völkerung iſt. In Verbindung mit den im Südweſten noch
vorherrſchenden Bürgerguts- oder Almendnutzungen erzeugt die
Naturalteilung des Grundbeſitzes im Erbwege ferner jenes ver—
derbliche Kleben an der Scholle, das eine Regulierung der Be—
völkerung entſprechend den vorhandenen Erwerbsquellen verhindert.
Die ſtarke Verkleinerung der Grundbeſitzeinheiten, ihre Parzel—
lierung und Gemengelage verhindern ſodann den kräftigen
Aufſchwung der landwirtſchaftlichen Technik, ein Übelſtand, der
namentlich gegenüber den unter weſentlich günſtigeren Bedingungen
produzierenden anderen Ländern und der gefährlichen Konkurrenz,
welche ſie der deutſchen landwirtſchaftlichen Produktion bereiten,
in der Gegenwart beſonders deutlich hervortritt.
Wenn nun im allgemeinen die Vorausſetzungen der eigen—
artigen Vererbungsſitte, wie ſie Mittel- und Südweſtdeutſchland
eigentümlich ſind, ſich nicht auf das übrige Reich übertragen
laſſen, ſo gilt dasſelbe auch umgekehrt von den Agrar- und
Vererbungsverhältniſſen in dem weitaus größten Teile des Deut-
ſchen Reiches in ihrer Beziehung zu Mittel- und Südweſt—
deutſchland.
Soll daher das Erbrecht in Zukunft den wirtſchaftlichen
Verhältniſſen dieſer beiden Ländergruppen und der Rechtsüber—
zeugung ihrer Bevölkerung möglichſt eng angeſchloſſen werden —
und es wird das doch wohl als wünſchenswert bezeichnet werden
müſſen —, ſo gelangt man notwendig zu einem Dualismus auch
in der Normierung des für den ländlichen Immobiliarbeſitz be—
ſtimmten Erbrechtes, indem auf der einen Seite für den über—
wiegenden Teil des Deutſchen Reiches das Inteſtaterbrecht
nach der Anerbenfolge zu geſtalten, für einen kleineren Teil
hingegen an dem bisherigen Inteſtaterbrecht, das ja außerdem
ſeine Anwendung auf den Mobiliar- und den ſtädtiſchen Im—
mobiliarbeſitz beibehielte, feſtzuhalten ſein wird. In denjenigen
Gegenden der erſten Ländergruppe, in denen die Rechtsüber⸗
zeugung der einzelnen Grundbeſitzer ausnahmsweiſe dem Anerben-
rechte widerſtrebt, würden die letzteren in der nur durch das
Pflichtteilsrecht beſchränkten Teſtierfreiheit ein Mittel finden, um
184 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich.
ſich für den gegebenen Fall von der Anwendung des Anerben⸗
rechtes frei zu machen. Da aber auch in der zweiten Länder⸗
gruppe mehr oder minder umfangreiche Enklaven vorkommen, in
denen es in den wirtſchaftlichen Verhältniſſen begründet iſt und
der Rechtsüberzeugung entſpricht, daß die Güter als Einheiten
behandelt werden, ſo wird man auch dieſen Ausnahmeverhält⸗
niſſen Rechnung tragen müſſen. Dieſes wird aber wohl am
zweckmäßigſten in der Weiſe geſchehen, daß man denjenigen
Grundbeſitzern, welche arrondierte Güter beſitzen und dieſelben
als ſolche in der Familie zu erhalten wünſchen, ſolches nicht
nur zu thun geſtattet, ſondern auch durch Einführung des In—
ſtituts der Höferolle noch erleichtert.
Es erübrigt jetzt nur noch die Frage zu beantworten, von
wem und in welcher Weiſe die Grenze zwiſchen den Anwendungs⸗
gebieten dieſer beiden Erbrechtsſyſteme (Anerbenfolge mit freier
Teſtierbefugnis, eingeſchränkt nur durch das Pflichtteilsrecht,
und gleiches Erbrecht mit dem Inſtitut der Höferolle) zu ziehen
ſein wird.
Wenn die Regelung dieſer beiden Erbrechtsſyſteme durch
das Reichsgeſetzbuch in jedem Falle als wünſchenswert er-
ſcheint, ſo könnte man gleichwohl den einzelnen Landesgeſetz⸗
gebungen die Entſcheidung darüber vorbehalten, ob ſie das eine
oder das andere der beiden Syſteme für ihr geſamtes Staats⸗
gebiet oder beide nebeneinander für verſchiedene Teile des Staats⸗
gebietes in Kraft ſetzen wollen, wobei denſelben auch noch das
Recht eingeräumt werden könnte, die von dem Reichsgeſetzbuch
aufgeſtellten allgemeinen Normen in einzelnen Punkten zu ſpe⸗
cialiſiren.
Uns will indes ein anderer Weg als der ſachgemäßere er-
ſcheinen. Iſt nämlich die Vererbung des ländlichen Grundbeſitzes
nach der Anerbenfolge die der wahren Natur des Grund
beſitzes allein entſprechende und daher volkswirtſchaftlich und
ſocialpolitiſch wünſchenswerte und ſind die ſachlichen wie perjön-
lichen Vorausſetzungen einer ſolchen Ausgeſtaltung des Erbrechts
in dem weitaus größten Teile des Deutſchen Reiches vorhanden,
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Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 185
ſo ſollte das bürgerliche Geſetzbuch das Anerbenrecht auch
für das geſamte Deutſche Reich in Kraft ſetzen, zugleich aber
denjenigen Staaten, in denen dieſe Vorausſetzungen ausnahms⸗
weiſe nicht vorhanden ſind, geſtatten, das für den ſtädtiſchen
Mobiliar⸗ und Immobiliarbeſitz beſtimmte Erbrecht auch für den
ländlichen Immobiliarbeſitz beizubehalten, wobei aber zugleich die
Eintragung desſelben in die Höferolle mit all ihren Folgen zu
ermöglichen wäre.
Gegen dieſen Vorſchlag könnte nun vom Standpunkte der
auch von uns als ein Poſtulat der modernen Entwicklung aner-
kannten Rechtseinheit und -gleichheit eingewendet werden, daß
derſelbe einen Dualismus innerhalb des Erbrechtes ſtatuiert, in—
dem der aus land- und forſtwirtſchaftlich benutztem Grundbeſitz
beſtehende Nachlaß anders als der geſamte übrige Nachlaß be—
handelt werden würde.
Dieſem Einwande gegenüber iſt zunächſt zu erwähnen, daß durch
den obigen Vorſchlag im Vergleich mit dem gegenwärtig beſtehen—
den Zuſtande der Vererbung des Grundbeſitzes, welcher die größten
Verſchiedenheiten von Land zu Land, ja von Dorf zu Dorf auf:
weiſt, immerhin eine viel größere Gleichmäßigkeit des Erbrechts
begründet werden würde. Sodann würde auch das Prinzip der
Rechtsgleichheit, ſofern man unter demſelben die gleiche Behand-
lung aller einem beſtimmten Staate angehörigen Perſonen
ohne Unterſchied der Konfeſſion, der Stammesangehörigkeit, des
Standes u. ſ. w. verſteht, keineswegs verletzt werden, indem die ver—
ſchiedene Normierung des Erbrechtes lediglich von der Eigenart
der Nachlaß-Gegenſtände abhängig gemacht werden ſoll. Auch
fehlt es an Präzedenzfällen für die Durchbrechung des Prinzipes
der Rechtsgleichheit in letzterem Sinne nicht: haben doch die
eigenartigen wirtſchaftlichen Verhältniſſe des Land- und Gee-
handels zur Aufſtellung eines eigenen Handels-, Wechſel- und
Seerechtes geführt und hat man doch ſogar die Handhabung
dieſes Rechtes von den allgemeinen Civilgerichten auf eigene
Handelsgerichte zu übertragen für nötig gefunden. Auch in dem
bereits gegenwärtig geltenden Bergbau-, Forſt⸗ und Agrarrecht
186 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich.
ſind mancherlei Modifikationen des allgemeinen Sachen⸗ und
Vertragsrechts enthalten. Wenn man nun in Zukunft auch für
die Geſtaltung des Erbrechtes in höherem Grade als bisher
wirtſchaftliche Geſichtspunkte entſcheidend ſein laſſen will, jo
wird damit nichts Neues geſchaffen, ſondern nur dem bereits auf
einem ziemlich umfangreichen Gebiete realiſierten Gedanken, daß
das Recht den wirtſchaftlichen Vorausſetzungen zu entſprechen
habe, noch weitere Ausdehnung gegeben. Und zwar auf einem
Gebiete, auf dem das Geſetzesrecht gegenwärtig der wirtſchaft⸗
lichen Natur des Grundbeſitzes wenig Rechnung trägt, was dann
wieder zur Folge hat, daß ein großer Teil der Gutsbeſitzer ſich
in die Zwangslage verſetzt ſieht, entweder das geltende Inteſtat⸗
erbrecht im gegebenen Falle zur Anwendung gelangen zu laſſen,
dann aber auf die Erhaltung des Grundbeſitzes in der Familie
zu verzichten, oder aber die Anwendung des Inteſtaterbrechtes
durch eine Reihe von secundum, praeter et contra legem ge-
troffenen Dispoſitionen von ſich abzuhalten.
So ſteht denn die künftige Geſetzgebung vor der Alternative,
ob fie das aus römiſcher Wurzel entſprungene Inteſtaterbrecht
mit ſeinen verhängnisvollen Wirkungen für den Familienſinn
und den Familienbeſitz ſowie für die Verteilung des Grund⸗
beſitzes auch für die Zukunft beibehalten oder ein neues den
wirtſchaftlichen, ſocialen und politiſchen Anforderungen ent⸗
ſprechendes Recht im oben bezeichneten Sinne ſchaffen will.
Wollte man das beſtehende Inteſtaterbrecht im Reichsgeſetzbuch fort-
beſtehen laſſen und nebenbei der Landesgeſetzgebung nur geſtatten,
daß ſie die Intereſſen des Grundbeſitzes ihrerſeits für beſtimmte
engbegrenzte Gebiete durch Einführung beſonderer erbrechtlicher
Inſtitute ſchütze, ſo wäre das nur ein halbes und ſchwächliches
Auskunftsmittel, das ſeinen Zweck nicht erreichen und deshalb
der hohen Aufgabe, welche den Redacteuren des bürgerlichen Ge-
ſetzbuches geſtellt iſt, nicht entſprechen würde.
Eine Neuſchöpfung durch das bürgerliche Geſetzbuch in dem
oben angedeuteten Sinne brauchte übrigens nur auf den in der
deutſchen Rechtsentwicklung enthaltenen Stoff zurückzugreifen und
Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich. 187
denſelben den Anforderungen des wirtſchaftlichen und ſittlichen
Lebens der Gegenwart anzupaſſen.
Zu dieſem Zwecke hätte man ſich zu erinneren, daß das
altgermaniſche Erbrecht das Landgut als Familienbeſitz auffaßte
und ſein Heraustreten aus der Familie erſchwerte, in der Familie
dann freilich einen Unterſchied zwiſchen Männern und Frauen
ſtatuierte, die Erben desſelben Geſchlechtes aber völlig gleichſtellte
und die Teſtierfreiheit ausſchloß.
Unter dem Einfluſſe des bereits früh durch die Kirche ver—
mittelten römiſchen Rechtes ſowie der ebenfalls durch die Kirche
vertretenen Auffaſſung, daß alle Menſchen gleich ſind, wurden
dann die Frauen den Männern im Erbrecht gleichgeſtellt, wurde
die Teſtierfreiheit zunächſt in beſcheidenen Grenzen zugelaſſen und
der Begriff des Familienbeſitzes auf einen engeren Kreis von
Gütern beſchränkt.
Eine ſolche Geſtaltung des Erbrechtes wies zunächſt keine
bedeutenden wirtſchaftlichen Nachteile auf, ſolange Land im Über—
fluß vorhanden war und der auf der einen Seite durch Erb—
teilung verkleinerte Grundbeſitz auf der andern Seite durch Neu—
rodung wieder leicht vergrößert werden konnte und ſolange die
Naturalteilung ſowie die Verſchuldung des Grundbeſitzes durch
Ausſcheidung von Erbteilen für die Geſchwiſter ſich überdies in—
folge des Mangels an Geldkapital in den meiſten Fällen von
ſelbſt verbot.
Als die grundbeſitzenden Familien aber ſeit dem weiteren
Vordringen des römiſchen Rechtes, ſeit Vermehrung des Geld—
kapitals u. ſ. w. für die Erhaltung ihres Beſitzes und damit
für die Baſis ihrer wirtſchaftlichen und politiſchen Stellung zu
fürchten anfingen, da wurde eine Reihe von erbrechtlichen In—
ſtituten geſchaffen, die ſowohl den wirtſchaftlichen Bedürfniſſen
wie der Machtſtellung der höheren Stände Rechnung trugen.
Teils aus einer Kombination von altgermaniſchen und römiſchen
Rechtsideen hervorgegangen, teils ſich als ſelbſtändige Schöpfungen
darſtellend, waren alle dieſe erbrechtlichen Inſtitute — das Bei⸗
ſpruchsrecht und die Ganerbſchaft, die Erbfolge der Lehn- und
188 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich.
Stammgüter, der Güter des hohen Adels und der Familien⸗
fideikommiſſe, ſowie das bäuerliche Anerbenrecht — dem Charakter
der Zeit entſprechend für einzelne beſtimmte Stände berechnet.
Sie ſchufen ferner abſolutes Recht, ſo daß ſie durch entgegen⸗
ſtehende Vereinbarungen oder letztwillige Verfügungen nur ſelten
beſeitigt werden konnten. Ihnen allen gemeinſam war ferner
die Bevorzugung eines der mehreren gleich nahen Erben, der als
Organ der Familie, als Fortpflanzer ihrer Traditionen und ihres
Beſitzes angeſehen wurde, wogegen die Geſchwiſter desſelben ent⸗
weder von der Erbfolge im Grundbeſitze vollſtändig ausgeſchloſſen
oder beſten Falls kümmerlich abgefunden wurden. In einigen
dieſer Inſtitute ſteigerte ſich dann der Rechtsſchutz, mit dem der
Familienbeſitz umgeben wurde, zur vollen oder doch partiellen Un⸗
teilbarkeit, Unveräußerlichkeit und Unverſchuldbarkeit desſelben.
Immer aber hingen dieſe ſingulären und zugleich partikulären
Rechtsinſtitute durch tauſend Fäden mit der Agrarverfaſſung des
Mittelalters und des ancien régime zuſammen.
Dieſe zu jener Zeit von vielen einzelnen Punkten aus faſt
den geſamten Grundbeſitz umſpannende Ordnung wurde dann
durch das Vordringen des gemeinen Rechtes, das auch in der
Gegenwart nicht als abgeſchloſſen angeſehen werden kann, auf
immer kleinere Gebiete zurückgedrängt und in ihren Wirkungen
abgeſchwächt.
Schwächliche und deshalb verfehlte Neuſchöpfungen, wie der
den fünfziger Jahren angehörende Verſuch, in dem Inſtitut der
ſogenannten landwirtſchaftlichen Erbgüter das Familienfideikommiß
auf den bäuerlichen Grundbeſitz zu übertragen, ſowie die neueren
auf das Prinzip der Höferolle baſierten provinziellen Höferechte
und Landgüterordnungen, werden dieſen Prozeß nicht aufhalten.
Demnach befindet ſich der Stand der Grundbeſitzer gegen-
wärtig in einer ähnlichen Lage wie am Ausgange des Mittel-
alters, zu welcher Zeit die Geldwirtſchaft und das römiſche
Erbrecht auf ihn einzudringen begannen und ihn mit der
Expropriation bedrohten. Nur daß die Situation jetzt eine
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Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb f. d. Deutſche Reich. 189
ungleich bedenklichere geworden iſt. Denn die Geldwirtſchaft,
welche ſich damals erſt in ihren Anfängen befand und zunächſt
nur in wenigen großen Städten und längſt den großen Handels-
ſtraßen Eingang fand, iſt gegenwärtig auch in die entlegenſten
Winkel des flachen Landes und der Gebirgswelt eingedrungen.
Das Geldkapital, das damals zuerſt feinen Einfluß in der ger—
maniſchen Welt geltend zu machen begann, iſt jetzt zu einer groß—
artigen alles beherrſchenden Macht herangewachſen. Das römiſche
Recht, das damals erſt in die Köpfe der auf italieniſchen und
deutſchen Univerſitäten gebildeten Juriſten einzudringen anfing,
hat ſeit jener Zeit eine viel größere Verbreitung und Zuſtimmung
unter dem Volke gewonnen. Und endlich hat der deutſche Grund—
beſitzer der Gegenwart nicht nur den Kampf mit dem über-
mächtig gewordenen Geldkapital, ſondern auch mit der ſich für
ihn immer verderblicher geſtaltenden Konkurrenz der überſeeiſchen
Produktion zu beſtehen.
Es iſt daher kein Zufall, wenn in der Gegenwart der Ruf
nach Schutz des Grundbeſitzes durch das Erbrecht immer lauter
von allen Seiten erſchallt. Aus einem kleinen Rinnſal iſt die
Bewegung für die Geſtaltung eines eigenen Grunderbrechtes im
Laufe eines Jahrzehntes zu einem anſehnlichen Strome ange—
wachſen, der auch die Widerſtrebenden mit ſich fortzureißen droht.
War dieſe Bewegung anfangs auf die hauptſächlich aus Ver—
tretern des Grundbeſitzes beſtehende konſervative Partei beſchränkt,
ſo findet ſie neuerdings auch unter den Liberalen Anhänger, und
es iſt die Zeit wahrſcheinlich nicht mehr allzu fern, daß auch
die Vertreter des Geldkapitals ſich derſelben nicht mehr wie bis—
her entgegenſtellen werden. Es bedarf zu dieſem Zwecke nur
der Erwägung, daß die Kapitalbeſitzer von heute die Grundbe—
ſitzer von morgen ſind und daß, wenn ſie als Erwerber von
Grundbeſitz auch wünſchen müſſen, daß alles, was ihnen dieſen
Erwerb erſchwert, vermieden werde, ſie als Grundbeſitzer doch
das Intereſſe haben, ſich in dem Beſitze des einmal Erworbenen
zu behaupten. Daß dieſes durch Errichtung von Fideikommiſſen
auch ſeitens derjenigen geſchieht, welche noch vor kurzem für die
190 Das Anerbenr. u. d. künft. bürgerl. Geſetzb. f. d. Deutſche Reich.
freieſte wirtſchaftliche Bewegung eintraten, iſt ein Beweis dafür,
daß die Berührung mit dem Grund und Boden auch die Kapital⸗
beſitzer ſehr bald ihren einſeitigen, lediglich den Intereſſen des
Kapitals entſprechenden Anſchauungen abwendig gemacht. Dieſes
Auskunftsmittel genügt aber keineswegs, weil die meiſten Grund⸗
beſitzer wegen der Verſchuldung ihrer Güter von demſelben keinen
Gebrauch machen können und weil die Fortdauer des Familien⸗
fideikommiſſes wegen des Widerſpruchs, in dem ſich dieſes In⸗
ſtitut mit den Rechtsanſchauungen der Gegenwart befindet, durch—
aus keine geſicherte iſt.
Dieſe Erwägungen führen uns gleichſam von ſelbſt auf die
Forderung hin, daß die von uns für notwendig gehaltene Ge-
ſtaltung eines Grunderbrechtes alles zu vermeiden haben wird,
was an demſelben als Überbleibſel einer überlebten Ordnung
erſcheinen würde. Wir rechnen dazu namentlich den ſtändiſchen
und lokalen Charakter desſelben, die Beſchränkung der Dispoſition
über den Grundbeſitz durch Veräußerungs-, Teilungs- und Ver⸗
ſchuldungsverbote ſowie den Ausſchluß oder die Erſchwerung leßt-
williger Verfügungen und endlich den gänzlichen Ausſchluß der
Miterben von der Succeſſion in den Wert des Grundbeſitzes.
Was wir von einer Neugeſtaltung des Erbrechts fordern,
iſt lediglich dieſes:
1. daß von der Fiktion, das zum Nachlaß gehörige einzelne
Landgut ſei eine beliebig teilbare Sache, abgeſehen werde,
2. daß der Auseinanderſetzung unter mehreren Miterben
bezw. der Feſtſtellung ihres Anteils an dem Nachlaſſe
eine Taxe zu Grunde gelegt werde, nach welcher einer
der mehreren gemeinſchaftlichen Erben das Gut antreten
und auf die Dauer ſeinen Nachkommen erhalten könne, und
3. endlich, daß eine Regulierung der Erbfolge auf Grund
dieſer beiden Prinzipien (Anerbenrecht) in dem bürger-
lichen Geſetzbuch für das Deutſche Reich erfolge und
zwar in folgender Weiſe:
daß der Regel nach die Anerbenfolge von Geſetzes
herben. u. d. fünft. bürgerl. Seſeßb. f. d. Deutſche Reid 191
EN wegen zur Anwendung | gelange und daß nur aus-
nahmsweiſe in denjenigen Staaten, in denen dieſes
FR aus beſtimmten oben dargelegten Gründen nicht
thunlich erſcheint, durch die Landesgeſetzgebung von
dieſer Regel abgewichen werden könne, indem von
derſelben neben dem für den geſamten Mobiliar-
a und Immobiliarbeſitz gemeinſamen Inteſtaterbrechte
das Inſtitut der Höferolle eingeführt werde.
VI
Die Gufsübergabe- (Altenteils-) Verträge.
Referat für den deutſchen Landwirtſchaftsrat. März 1887.
M. H.! Es iſt bereits der Beſchlüſſe Erwähnung geſchehen,
die wir im vorigen Jahre in der Anerbenrechtsfrage gefaßt haben.
Ich erlaube mir, diejenigen Herren, die damals nicht Mitglieder
des Landwirtſchaftsrats waren, auf den Geſchäftsbericht pro 1888
zu verweiſen. In demſelben finden Sie den im vorigen Jahre
von dem deutſchen Landwirtſchaftsrat gefaßten Beſchluß wörtlich
mitgeteilt und die Eingabe des Landwirtſchaftsrats an den Herrn
Reichskanzler abgedruckt !.
Wenn uns heute eine Gegenſtand beſchäftigt, der mit der
im vorigen Jahre behandelten Materie in engſtem Zuſammenhang
ſteht, ſo iſt das zurückzuführen auf eine Anregung, die im vorigen
Jahre dem preußiſchen Landesökonomiekollegium gegeben worden iſt.
Ein Mitglied jener Körperſchaft hat angeſichts der Mängel,
die bei der Ausführung der Gutsübergabeverträge hervorgetreten
ſind, geglaubt einen Antrag ſtellen zu müſſen, der zwar von dem
Landesökonomiekollegium nicht angenommen worden iſt, aber doch
die Anregung zu einer weiteren Behandlung dieſer Frage ge—
geben hat.
M. H.! Sie wiſſen ja, daß unter Gutsübergabeverträgen,
1 Vgl. oben V.
Die Gutsübergabe- (Altenteils⸗ Verträge. 193
Altenteilsverträgen u. ſ. w. ſolche Verträge verſtanden werden,
welche gewöhnlich zwiſchen einem Vater und ſeinem Sohne ab—
geſchloſſen werden, Verträge, durch welche der Vater bei Leb—
zeiten ſein Gut dem Sohne zum Eigentum übergiebt und ſich
eine Summe ausbedingt, die ihm oder ſeinen Erben zu zahlen
iſt, gleich oder in einem ſpäteren Zeitpunkt, zu der dann noch eine
Leibrente hinzutritt, die dem Vater bezw. der Mutter entweder
in natura oder in Geld zu entrichten iſt, ſolange ſie leben.
Mit dieſen Gutsübergabeverträgen ſuchen die betreffenden
Perſonen, welche ſie abſchließen, drei Zwecke zu verbinden. Es
wollen die Väter einmal in der Zeit, in der ſie nicht mehr
arbeitsfähig ſind oder es nicht mehr zu ſein glauben, ſich von
der Wirtſchaft frei machen, indem ſie ihr Gut einem ihrer prä—
ſumtiven Erben übertragen; ſodann wünſchen ſie zweitens das
Gut, an dem der Schweiß und die Arbeit von Jahrzehnten kleben,
in der Familie zu erhalten, um über das Schickſal desſelben be-
ruhigt zu ſein; und endlich wünſchen ſie eine Regulierung ihres
Nachlaſſes unter den Erben ſchon bei Lebzeiten vorzunehmen.
Dieſe drei Zwecke werden überall dort ins Auge gefaßt, wo
das gemeinrechtliche Erbrecht gilt, wo alſo alle Kinder ein gleiches
Anrecht auf den Nachlaß des Vaters oder der Eltern haben, wo
die Gutstaxen hoch hinaufgeſchraubt zu werden pflegen u. ſ. w.
Der eine Punkt, das Streben, die Güter der Familie zu erhalten,
kommt dagegen nicht in Betracht in Ländern, in denen das auf
dem Prinzip des Anerbenrechtes ruhende Inteſtaterbrecht bereits
genügend für dieſen Zweck ſorgt.
Die Gutsübergabeverträge ſind über ganz Deutſchland ver—
breitet; ſie kommen überall vor, und was ihre Wirkung betrifft, ſo
wird zu unterſcheiden ſein zwiſchen früheren Zeiten und der Gegen-
wart. Dieſe Verträge ſtammen aus der gutsherrlichen Periode und
haben damals entſchieden eine günſtige Wirkung ausgeübt, damals,
wo der Gutsherr den Bauern zwingen konnte, das Gut, wenn
ſeine Kraft nicht mehr ausreichte, einem Jüngeren zu übergeben,
wo er das aber nur that, wenn wirklich der Bauer nicht mehr
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 13
194 Die Gutsübergabe- (Altenteils-)Derträge.
im ſtande war, jein Gut zu bewirtſchaften, wo ferner der Guts⸗
herr dafür ſorgte, daß die Verpflichtungen des Gutsübernehmers
nicht zu hoch waren u. ſ. w.
Am Schluß dieſer gutsherrlichen Periode wurde das, was
bis dahin der Wille des Gutsherrn feſtſetzte, in geſetzliche
Normen gebracht. Die meiſten deutſchen Staaten haben ſeit
dem vorigen Jahrhundert Geſetze erlaſſen des Inhalts, daß ſolche
Gutsübergabeverträge zur Beſtätigung den Juſtizbehörden zu
unterbreiten wären und daß die Juſtizbehörden bei dieſer Beſtäti⸗
gung beſtimmte Normativbeſtimmungen zu befolgen hätten. Es
durfte alſo z. B. der Gutsübergeber ſich nicht auf den Altenteil
zurückziehen, bevor er ein beſtimmtes Alter erreicht hatte, und es
durften die dem Gutsübernehmer auferlegten Verpflichtungen ein
gewiſſes Maß nicht überſchreiten. Das iſt auch der Standpunkt, den
noch das Preußiſche Allgemeine Landrecht einnimmt, der Standpunkt,
der von den meiſten übrigen deutſchen Geſetzgebungen geteilt wird.
Das Erfordernis der Prüfung und Beſtätigung der Gutsübergabe⸗
verträge durch die Juſtizbehörden iſt dann in dieſem Jahrhundert
allgemein (in Preußen im Jahre 1845) aufgehoben worden. Es
können alſo abgeſehen von den Vorſchriften über das Formale der
Verträge die Kontrahenten ihren Verträgen jetzt jeden beliebigen
Inhalt geben; ſie können die Verpflichtungen außerordentlich hoch
ſtellen; es kann der Gutsübergeber den Vertrag abſchließen zu
einer Zeit, wo er noch bei voller Kraft iſt, u. ſ. w.
In den vierziger Jahren entbrannte in Preußen ein Kampf
zwiſchen dem Erbrecht des Allgemeinen Landrechts und dem
Anerbenrecht, und in dieſem Kampfe ſtellten ſich eine Reihe her⸗
vorragender Autoritäten (die Juſtizminiſter von Savigny und
von Mühler, der Abgeordnete Waldeck u. a.) auf die Seite
des Gutsübergabevertrages und des gemeinen Rechtes, indem
ſie die Anſicht vertraten, daß das Anerbenrecht nicht erforderlich
ſei, weil die Zwecke desſelben vollſtändig erreicht würden durch
die Gutsübergabeverträge. Dieſe Anſicht hat ihre Spuren auch
in der jetzigen juriſtiſchen Litteratur hinterlaſſen, indem z. B.
Dern burg und andere noch derſelben Meinung ſind, daß das
Die Gutsübergabe- (Altenteils-)Derträge. 195
Anerbenrecht zu entbehren ſei, wenn man von den Gutsüber—
gabeverträgen nur den rechten Gebrauch mache. Dieſelbe An—
ſicht iſt neuerdings, am Ende der ſiebziger und Anfang der
achtziger Jahre, auch hervorgetreten in einer Reihe von öſt—
lichen preußiſchen Provinziallandtagen. Um dieſe Zeit wurde
den ſämtlichen Provinziallandtagen der preußiſchen Monarchie
von der Staatsregierung die Frage unterbreitet, ob ſie nicht das
hannöverſche Höferecht auch für ihre Provinzen eingeführt zu
ſehen wünſchten. Wenn nun die größere Zahl der Provinzial—
landtage ſich auch für die Annahme erklärte, ſo hat doch eine
Minorität derſelben, Poſen, Oſt- und Weſtpreußen, ſich gegen das
Anerbenrecht ausgeſprochen, indem ſie ſich auf den älteren Stand—
punkt ſtellten, daß die Übergabeverträge dieſelben Zwecke vollſtändig
erfüllen, die man mit dem Höferechte zu erreichen beſtrebt iſt.
Wie verhält es ſich nun mit den Folgen dieſer Übergabe—
verträge? Ich habe ſchon angedeutet, daß dieſe Folgen in
früheren Zeiten günſtige waren; ſie waren es auch noch im Anfang
der Zeit, da die Verträge freigegeben wurden, und ſie ſind es
zum Teil auch noch heute. Da, wo ſich eine ſtarke Familien—
ſitte, wo ſich ein Pietätsverhältnis zwiſchen Eltern und Kindern
erhalten hat, wohnen die Eltern bei den Kindern, ſie leiſten, auch
wenn ihre Arbeitskraft ſich gemindert hat, kleine Beihülfen, die
eine gewiſſe Entſchädigung bieten für das Wenige, was ſie von
den Kindern erhalten. Aber es ſcheint doch dieſer günſtige Zu—
ſtand gegenwärtig die Ausnahme zu bilden. Denn es werden
aus den verſchiedenſten Teilen Deutſchlands, aus dem äußerſten
Nordoſten ſowohl wie aus dem Südweſten, Klagen darüber laut,
daß die Freiheit der Gutsübergabeverträge dahin geführt habe,
dem Gutsbeſitzer Verpflichtungen von ſolcher Höhe aufzuerlegen,
daß ſie von ihm auf die Dauer nicht getragen werden können.
Es verhält ſich damit folgendermaßen. Wenn der Vater ſein
Gut abgeben will, ſo iſt der Sohn gewöhnlich in dem Alter, in
dem er heiraten will oder bereits geheiratet hat; es liegt ihm
daher möglichſt viel daran, in den Beſitz des väterlichen Gutes
zu kommen, und er widerſtrebt nicht den ihm für den Fall der
13 *
196 Die Gutsübergabe- (Altenteils-)Derträge.
Übernahme angeſonnenen Bedingungen, auch wenn dieſe Bedin⸗
gungen für ihn auf die Dauer unerfüllbar ſind. Er rechnet
nämlich darauf, daß der Vater nicht lange leben werde und daß er
dann der Verpflichtung ledig ſei, den hohen Auszug (Altenteil) zu
zahlen. Bleibt nun der Vater länger am Leben, als der Sohn
erwartet, ſo entſpringen daraus Familienzwiſtigkeiten, die nament⸗
lich im Oſten, in Schleſien, Poſen u. ſ. w., ſehr leicht und häufig
mit einer Verhandlung vor dem Schwurgericht wegen Streitig⸗
keiten, Mißhandlung, ja wegen Mordes enden. Im Südweſten
(Baden u. ſ. w.) wird wenigſtens darüber geklagt, daß die Ver⸗
pflichtungen außerordentlich hohe ſind und daß ſie über kurz oder
lang den Ruin der Gutsübernehmer zur Folge haben.
Dieſe Klagen verſchärfen ſich in Preußen unter der Herr⸗
ſchaft des Allgemeinen Landrechts namentlich dadurch, daß dieſe
Altenteile bei uns die Natur einer Reallaſt haben, daß demnach
auch die Verpflichtung des Sohnes, des Gutsübernehmers, wenn
er ſein Gut an eine dritte Perſon veräußert, auf dieſen Dritten
übergeht und daß die Verhältniſſe zwiſchen der dritten Perſon
und dem Gutsübergeber, der auf dem Gute ſitzen bleibt, beſonders
unerquicklich werden. Es finden ſich nicht ſelten Fälle vor, daß
auf einem Gute 2 oder 3 ſolcher Altenteile ruhen.
Dieſe Mißſtände haben nun in letzter Zeit zu verſchiedenen
Vorſchlägen geführt.
Ich will dieſelben der Reihe nach durchgehen.
Einmal iſt in radikaler Weiſe in Anregung gebracht worden,
den Abſchluß von Gutsübergabeverträgen überhaupt zu verbieten.
Dieſer Vorſchlag läßt ſich meines Erachtens bald abthun. Da
die Gutsübergabeverträge an ſich nicht contra bonos mores find,
ſondern nur ein Mißbrauch mit denſelben getrieben wird, wie
er mit jedem Vertrag getrieben werden kann, ſo liegt keinerlei
berechtigter Grund vor, den Abſchluß dieſer Verträge auszuſchließen.
Ein weiterer Vorſchlag geht dahin, auf die ältere Gejeß-
gebung zurückzugreifen und vorzuſchreiben, daß die Verpflichtungen,
die der Gutsübernehmer übernimmt, in die Grundbücher, in die
Hypothekenbücher nur dann eingetragen werden dürfen, wenn ſie
Die Gutsübergabe⸗ (Altenteils⸗ Verträge. | 197
eine gewiſſe Höhe nicht überſteigen. In dieſer Richtung bewegt
ſich der bereits oben erwähnte Antrag, den Herr Kollege Kenne—
mann dem Landesöfonomiefollegium in der vorigen Seſſion vor—
gelegt hat. Dieſer Antrag lautete folgendermaßen:
Das Kollegium wolle beſchließen:
Die Auflaſſung eines bäuerlichen Grundſtückes mit Auf-
erlegung eines Ausgedinges darf nur dann erfolgen,
wenn durch das Gutachten eines Sachverſtändigen nach—
gewieſen iſt, daß dasſelbe mit Zurechnung der in Ab—
teilung II und III des Grundbuchs bereits eingetragenen
Leiſtungen den dreifachen Grundſteuerreinertrag nicht
überſteigt.
Das Landesökonomiekollegium hat dieſem Antrag nicht bei-
ſtimmen können und zwar aus folgenden Gründen. Zunächſt
wurde bemerkt, daß in dieſem Antrag ein Eingriff in die Ver—
tragsfreiheit enthalten ſei, der ſehr weit gehe und bedenkliche
Konſequenzen nach ſich ziehen könne. Sodann wurde geſagt, daß
die Annahme dieſes Antrages nicht viel nützen würde, weil er
ſich ſehr leicht umgehen laſſe, indem der Übernehmer ja nur
neben dieſer hypothekariſchen Verpflichtung perſönliche Verpflich—
tungen einzugehen brauche, die dann ſpäterhin in das Grundbuch
eingetragen werden könnten.
Wenn der vorgeſchlagene Weg auch meiner Anſicht nach
nicht beſchreitbar iſt, ſo bleibt nur ein dritter übrig, nämlich
durch die Anerbenfolge in der Form des Inteſtaterbrechts das—
ſelbe zu erzielen, was durch die Gutsübergabeverträge erzielt
werden ſoll. Wenn der Vater vollſtändig ſicher iſt, daß nach
ſeinem Tode das Gut in einer Weiſe auf ſeinen Erben übertragen
werde, daß er dabei beſtehen kann, ſo wird für ihn eine der Veran⸗
anlaſſungen, einen Gutsübergabevertrag abzuſchließen, wegfallen.
Freilich eins der Ziele, das durch die Gutsübergabeverträge zu er—
reichen geſucht wird, wird durch das Anerbenrecht allein nicht er—
reicht; es iſt nämlich durch dasſelbe nicht dafür geſorgt, daß der
Erblaſſer ſich zurückziehen könne, wenn er alt und invalide ge—
worden iſt. Ich meine aber, daß ſich auch dieſes Ziel im Wege
198 Die Gutsübergabe- (Altenteils-)Derträge.
einer Reform der ländlichen Sitte ſehr wohl erreichen laſſe. Wenn
nämlich die Anerbenfolge als Inteſtatrecht eingeführt iſt, ſo kann
der Vater, wenn er nicht mehr ſelbſt wirtſchaften will, dem
präſumtiven Anerben ſein Gut verpachten. Es würden dadurch
vollſtändig klare Verhältniſſe geſchaffen werden; jeder Teil würde
wiſſen, was er zu empfangen und zu leiſten hat; und es würde
der Vater bis zum Ende ſeines Lebens in dem Eigentum ſeines
Gutes bleiben und dadurch ſeine Autorität gewahrt ſehen.
Auch iſt von dem Anerbenrecht mit ſeiner ſich nach dem Er⸗
tragswert richtenden Taxe ein indirekter Einfluß auf Gutsüber⸗
gabeverträge zu erwarten, — indem dieſe Verträge, die ja im
übrigen fürs erſte fortbeſtehen würden, deren Zahl aber doch im
Laufe der Zeit abnehmen müßte, ſich in Beziehung auf die
Höhe der Verpflichtungen nach der vom Geſetz normierten Erb⸗
ſchaftstaxe richten würden.
So gelange ich denn zu dem Schluß, daß die uns beſchäf—
tigende Frage ſich am beſten erledigen wird, wenn es wirklich
gelingt, die Anerbenfolge in denjenigen Teilen Deutſchlands, in
denen die Vorausſetzungen dafür gegeben find, als Inteſtaterbrecht
einzuführen. Ich glaube, daß die berechtigten Klagen, welche gegen
die Gutsübergabeverträge in letzter Zeit geltend gemacht worden
ſind, dem Herrn Reichskanzler mitgeteilt werden ſollten als weitere
Begründung unſeres letztjährigen Antrages; ſie enthalten nämlich
eine Reihe weiterer Motive, welche ſehr wohl unſeren Antrag
zu unterſtützen im ſtande wären. Ich ſchlage daher unter
Punkt 1 vor, daß eine Denkſchrift auszuarbeiten ſei in dem Sinne,
daß die oben erwähnten Klagen auf ihre Berechtigung zu prüfen
und als weitere Begründung unſeres Antrages dem Herrn
Reichskanzler bezw. der Kommiſſion für die Ausarbeitung des
bürgerlichen Geſetzbuches mitzuteilen ſeien.
Sodann gehe ich aber noch einen Schritt weiter. Wir können
nicht wiſſen, welche Beſchlüſſe die Kommiſſion für die Ausarbeitung
des bürgerlichen Geſetzbuches faſſen, und ebenſowenig, wann das
letztere ins Leben treten wird. Das kann ja möglicherweiſe erſt
nach 10, 15, 20 Jahren geſchehen. Unterdeſſen geht aber viel
koſtbare Zeit verloren, und deswegen habe ich geglaubt Ihnen
Die Gutsübergabe- (Altenteils-)Derträge. 199
vorschlagen zu ſollen, daß, ohne den Entſchließungen der Kommiſſion
für das bürgerliche Geſetzbuch zu präjudizieren, ſchon gegen—
wärtig die Regierungen der Einzelſtaaten aufgefordert werden
mögen, ihrerſeits mit der Reform des Erbrechts nach dem Prinzip
der Anerbenfolge vorzugehen. Wenn dieſe in größerer Zahl
unſerem Antrage Folge leiſten, ſo wird damit ein Schritt ge—
than ſein, der den weiteren, von uns befürworteten Schritt der
Kommiſſion für das bürgerliche Geſetzbuch nicht nur nicht er—
ſchwert, ſondern vielmehr erleichtert: dieſelbe könnte ſich dann
auf die Partikulargeſetzgebung ſtützen und brauchte in dem bürger—
lichen Geſetzbuch nur das zu konſolidieren, was in der Geſetz—
gebung der Einzelſtaaten bereits enthalten iſt.
Wenn ich dieſen Antrag ſtelle, ſo thue ich es infolge der
oben mitgeteilten Erwägungen und angeſichts einiger Vorgänge,
die ſich in den letzten Jahren abgeſpielt haben. Da iſt zunächſt
ein Vorgang in Bayern zu erwähnen, wo die Verſammlung des
landwirtſchaftlichen Centralvereins mit großer Majorität, ich glaube
ſogar mit Einſtimmigkeit, den Beſchluß gefaßt hat, für Bayern
ein ſolches Geſetz zu veranlaſſen. Ich erwähne ferner einen
Vorgang, der ſich in Baden abgeſpielt hat. Der durch ſeine
vorzügliche Enquete über die Lage der ländlichen Bevölkerung
Badens bekannte Miniſterialrat Buchenberger, der früher
ein Gegner des Anerbenrechts war, hat infolge ſeiner Special—
ſtudien ſich immer mehr für dasſelbe zu erwärmen vermocht und
hat jetzt in einer Arbeit, die in dem jüngſten Hefte von
Schmollers Jahrbuch erſchienen iſt, ausdrücklich erklärt, daß
für einige Teile Badens die Anerbenfolge not thue und zwar
nicht in der Form der Höferolle, ſondern in der Form des Inteſtat⸗
rechtes. Sie ſehen alſo, daß Perſonen, auf deren Stimme
Gewicht zu legen iſt, wenn ſie auch anfangs unſeren Vorſchlägen
entgegenſtanden, ſich denſelben jetzt günſtiger zeigen.
So meine ich denn, daß ich auch den zweiten Punkt meines
Antrages Ihnen zur Annahme vorſchlagen darf. Es fällt kein
Baum auf den erſten Schlag; wir haben im vorigen Jahre den
200 Die Gutsübergabe- (Altenteils-)Derträge.
erſten Schlag mit einer Axt geführt, welche vielleicht nicht ſcharf
genug war, wir wollen jetzt eine zweite ſchärfere Axt in die Hand
nehmen und glauben von Ihnen erwarten zu können, daß Sie
uns hierin unterſtützen.
Dieſes Referat führte zur Annahme folgender Anträge ſeitens
des deutſchen Landwirtſchaftsrats.
Der deutſche Landwirtſchaftsrat beſchließt:
1. In Ergänzung und zur weiteren Begründung ſeines
Beſchluſſes vom Januar 1886, betreffend die Aufnahme
des Anerbenrechts in das bürgerliche Geſetzbuch für das
Deutſche Reich, die bei den Gutsübergabeverträgen in
letzter Zeit zu Tage getretenen Übelſtände zur Kenntnis
des Herrn Reichskanzlers bezw. der Kommiſſion für die
Ausarbeitung des bürgerlichen Geſetzbuchs zu bringen.
2. Den oben erwähnten Beſchluß vom Januar 1886 nebſt
Motivierung auch den einzelnen Bundesregierungen mit
dem Erſuchen mitzuteilen, in Erwägung ziehen zu wollen,
ob derſelbe ohne Präjudiz für die künftige deutſche
Civilgeſetzgebung nicht ſchon jetzt durch die Geſetzgebung
der einzelnen deutſchen Staaten für ihr ganzes Gebiet
oder doch wenigſtens fur einen Teil desſelben zur Aus⸗
führung gebracht werden könnte. |
VII.
Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Brannf-
weinſteuerreform.
Referat für den deutſchen Verein gegen Mißbrauch geiſtiger
Getränke. Mai 1885.
H. A.! Die letzte Generalverſammlung unſeres Vereins! hat
eine Kommiſſion niedergeſetzt und dieſe mit dem Auftrage betraut,
ſie möge folgende zwei Fragen unterſuchen. Erſtens: übt die ge—
ringere oder größere Zugänglichkeit des Branntweins einen Ein-
fluß auf den Branntweinkonſum und auf das gewohnheitsmäßige
Trinken aus? und zweitens: wenn ein ſolcher Einfluß vorhanden,
wie läßt ſich die Zugänglichkeit des Branntweins vermindern?
Die Kommiſſion iſt hierauf in folgender Weiſe vorgegangen:
ſie hat zunächſt einen Fragebogen entworfen und denſelben ihren
Mitgliedern mitgeteilt, indem ſie ſich ſchriftliche Gutachten von
denſelben erbat; ſie hat dann auf der Baſis dieſer Gutachten
eine Diskuſſion eintreten laſſen und ihre Mitglieder einer Art
Kreuzverhör unterworfen, in welchem die verſchiedenen Anſichten
zu einer gewiſſen Ausgleichung gelangten. In Bezug auf die
weſentlichſten Punkte kann ich konſtatieren, daß eine Überein⸗
ſtimmung erzielt worden iſt; diejenigen Punkte, in Beziehung
1 Des deutſchen Vereins gegen den Mißbrauch geiſtiger Getränke.
202 Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform.
auf welche eine itio in partes ſtattfand, ſind nur nebenſäch⸗
licher Natur.
Ich werde nun darüber zu referieren haben, wie das Votum
der Kommiſſion ausgefallen iſt.
Die Kommiſſion ging zunächſt von folgenden Erwägungen
aus. Man ſagte ſich, daß das Branntweintrinken eine Reihe
von Anläſſen und Urſachen hat, die zum Teil als legitim
angeſehen werden können, inſofern ſie das Trinken entſchuldbar
oder doch wenigſtens erklärlich machen. Es ſind dieſe Urſachen
zu ſuchen im Klima (kaltes, rauhes Klima im Norden), ferner
in gewiſſen Arten der Beſchäftigung (Arbeiten bei naßkaltem
Wetter oder in ſehr erhitzten Räumen), ferner in mangel⸗
hafter Ernährung, in unbefriedigenden Familien- und Wohn⸗
verhältniſſen, in gewiſſem Grade auch in perſönlichem Unglück,
ferner in dem Bedürfnis, namentlich in politiſch erregten Zeiten,
mit Geſinnungsgenoſſen zuſammenzukommen, u. ſ. f.
Der Branntweingenuß führt nun dahin, daß, ſoweit unge⸗
nügende Ernährung in Frage kommt, ein Gefühl der Sättigung
erzeugt wird; daß die bei rauher, kalter Witterung beſchäftigten
Arbeiter erwärmt werden; er führt zur geſelligen Verbindung
der einzelnen und wird zu einem Vehikel der politiſchen Agi⸗
tation; er hebt endlich über Sorge und Elend momentan hin⸗
weg. Das ſporadiſche Trinken wird dann aber leicht zum ge⸗
wohnheitsmäßigen, der mäßige Trinker zum unmäßigen; auch
breitet ſich das Trinken über Kreiſe aus, für die die eben an⸗
geführten Urſachen nicht zutreffen. Man könnte im allgemeinen
ſagen, daß der Branntweinkonſum bei uns in Deutſchland am
meiſten Berechtigung hat im Nordoſten und zwar hier in den
unteren Schichten der arbeitenden Bevölkerung; von hier iſt er
aber auch in andere Gegenden und in andere Schichten der Be⸗
völkerung eingedrungen. So hat man konſtatiert, daß auch in
den mittleren und oberen Klaſſen unſeres Volkes das Schnaps⸗
trinken nach ruſſiſchem und franzöſiſchem Beiſpiel zunimmt.
Auch breitet ſich das urſprünglich auf den Nordoſten beſchränkte
Branntweintrinken in rapider Weiſe über andere Teile Deutſch⸗
Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform. 203
lands aus: neuerdings ſind namentlich laute Klagen über das
Umſichgreifen der Branntweinpeſt aus Elſaß- Lothringen, aus
dem gebirgigen Teile Württembergs, aus Baden und aus der
Schweiz laut geworden. Eine Stärkung und Befeſtigung erhält
dieſe in den unteren Klaſſen herrſchende Unſitte durch die Ge—
wohnheiten unſerer oberen Klaſſen, nämlich durch eine gewiſſe
Unmäßigkeit und durch den weit verbreiteten Sinn für das Kneipen—
leben. Wenn unſere jeunesse dorée ſich im Champagner be—
rauſcht, wenn unſere Studenten und Philiſter vor dem Bier—
ſchoppen manche Stunde dahindämmern, ſo hält ſich der Arbeiter
für berechtigt Schnaps zu trinken. Und in der That ſehen wir
hier wie überall, daß die Sitte der oberen Klaſſen beſtimmend
auch für die unteren Klaſſen wird; das, was ſich die oberen
Klaſſen nicht verſagen, davon wollen auch die unteren nicht
laſſen; und ſo erſcheint die Sitte der oberen Zehntauſend ver—
zerrt wie in einem Hohlſpiegel in der Arbeiterwelt wieder.
Was iſt dagegen zu thun? Man könnte ſagen: es ſollen zu—
nächſt die Urſachen beſeitigt werden, die zum gewohnheitsmäßigen
Trinken führen. Soweit dies geſchehen kann, befinden wir uns
bereits auf dem Wege dazu, indem die Agitation unſeres Vereins
unter anderem auch dieſes Ziel ins Auge gefaßt hat. Es wird
indes des einmütigen Zuſammengehens von Staat und Kirche, von
geſellſchaftlicher Organiſation und individueller Initiative be—
dürfen, um auf dieſem Gebiet etwas zu erreichen, und erreichen
werden wir im beſten Fall das zu erſtrebende Ziel erſt nach
einigen Jahrzehnten. Demgegenüber fragt es ſich nun, ob man
nicht auf andern Wegen raſchere Reſultate haben könnte. Wir
glauben dieſe Frage bejahen zu ſollen. Es dürfte möglich ſein,
gewiſſe Erfolge dadurch zu erreichen, daß man zunächſt auf
mechaniſchem Wege vorgeht, indem man den Branntwein weniger
leicht zugänglich macht und umgekehrt die Zugänglichkeit des
Bieres, Kaffees und Thees erhöht.
Was heißt das aber: den Branntwein weniger leicht zugänglich
machen? Es heißt das zweierlei: einmal die Zahl derjenigen An-
ſtalten, in denen gewerbsmäßig Branntwein verſchenkt wird,
204 Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform.
vermindern und andererſeits den Branntwein im Preiſe erhöhen.
Was den erſteren Punkt anbelangt, ſo hat unſer Herr Geſchäfts⸗
führer Ihnen bereits darüber referiert, daß das, was von ſeiten
unſeres Vereins in dieſer Angelegenheit geſchehen kann, bereits
geſchehen iſt. Es liegt eine Petition desſelben an den Reichstag
vor, über die günſtig berichtet wurde, und wir dürfen hoffen,
daß der Reichstag in der nächſten Seſſion, gemäß den Anträgen
des Berichterſtatters der Kommiſſion, das Erforderliche beſchließen
werde. Anders ſteht es aber mit der zweiten Frage, nämlich
mit der Frage der Erhöhung des Branntweinpreiſes.
Hier ſtoßen wir zunächſt auf ein gleichſam theoretiſches
Hindernis. Es wird nämlich der Zuſammenhang zwiſchen der
Höhe der Branntweinpreiſe und dem Umfang des Trinkens ge-
leugnet, und zwar ſtützt man ſich auf die Statiſtik Rußlands
und Englands, indem in England der Hektoliter Spiritus zu
100 Prozent Tralles mit 394 Mark, in Rußland mit 182 Mark
beſteuert wird und dennoch, trotz dieſer hohen Steuer und trotz
des infolge der hohen Beſteuerung eintretenden höheren Preiſes,
der Branntweinkonſum in beiden Ländern ein ſehr ſtarker iſt.
In England fallen auf den Kopf der Bevölkerung 3,87 Liter
Alkohol und in Rußland 6,48 Liter. In Deutſchland dagegen ent⸗
fallen auf den Hektoliter 100 prozentigen Spiritus nur etwa 16 Mark
Steuer, und trotzdem iſt das Reſultat dasſelbe wie in Rußland,
indem nämlich auf den Kopf der Bevölkerung etwas über 6 Liter
Spiritus entfallen. Man beruft ſich nun darauf, daß in dieſen
Ländern der Konſum gleich groß ſei, trotzdem die Branntwein⸗
ſteuer eine verſchiedene Höhe habe und trotzdem der Preis infolge⸗
deſſen ebenfalls ein ungleicher ſei. Ich laſſe dieſe Argumentation
indes nicht gelten, denn wer ſagt uns denn, ob, wenn in Rußland
und England die Steuer und infolgedeſſen auch der Preis des
Branntweins nicht ſo hoch wäre, der Konſum nicht noch viel
ſtärker wäre als gegenwärtig?
Ein wirklich exakter Beweis gegen den von uns behaupteten
Zuſammenhang zwiſchen Branntweinkonſum und Branntwein⸗
preiſen ließe ſich nur erbringen, wenn man nachwieſe, daß in
er
Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform. 205
einem beſtimmten Lande die Herabſetzung der Branntweinſteuer und
das Sinken der Branntweinpreiſe den Branntweinkonſum nicht
erweitert und daß eine Erhöhung der Steuer und ein Steigen
der Preiſe den Branntweinkonſum nicht vermindert habe. Dieſer
Beweis iſt nicht zu erbringen, wohl aber der gegenteilige. Wir
dürfen ſchon aus der Analogie des Tabaks — der Tabaksverbrauch
pflegt parallel mit der Erhöhung der Preiſe abzunehmen —
auch auf den Branntwein ſchließen und dürfen ferner auf das
Beiſpiel Elſaß⸗Lothringens hinweiſen. Elſaß-Lothringen hat bis
zum Jahre 1873 die franzöſiſche Konſumtionsſteuer gehabt; die
Preiſe des Branntweins waren damals hohe und der Konſum
ein geringer. Seit 1873 ſind mit der Ausdehnung der ſehr
mäßigen norddeutſchen Branntweinſteuer auf Elſaß-Lothringen
die Branntweinpreiſe ſehr erheblich geſunken und zugleich hat
ſich in rapider Weiſe die Sitte des Branntweintrinkens einge—
bürgert, jo daß, während ſich früher der Wein- zum Branntwein⸗
konſum wie 7:1 verhielt, jetzt nach 15jähriger Wirkſamkeit des
norddeutſchen Geſetzes ein Verhältnis von 1:1 beſteht. Zu⸗
gleich iſt die Zahl der Schenken um 15 Prozent geſtiegen. Ahn—
liches wird aus Württemberg berichtet. In Württemberg be—
ſteht ſeit dem Jahre 1865 ein Geſetz, das den Branntwein
außerordentlich wenig belaſtet, und zugleich hat der Konſum,
namentlich in dem Hauſe des kleinen Brenners, in einigen
Gegenden ſehr große Dimenſionen angenommen. Das Umgekehrte
läßt ſich für die ruſſiſche Oſtſeeprovinz Livland nachweiſen.
Hier war der Branntweinkonſum in früheren Zeiten ſehr ſtark;
ſeit die ruſſiſche Regierung eine hohe Steuer erhebt, hat das
Branntweintrinken in demſelben Grade abgenommen, wie der
Bierkonſum geſtiegen iſt. Aus allen dieſen Thatſachen müſſen
wir ſchließen, daß der von uns behauptete Zuſammenhang
exiſtiert, und dürfen uns nicht von denen irre machen laſſen,
die ihn negieren.
Bevor ich über die Vorſchläge, welche in unſerer Kom—
miſſion gemacht worden ſind, referiere, geſtatten Sie mir einige
Worte über den status quo unſerer Branntweinſteuergeſetzgebung
206 Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform.
vorauszuſchicken. Im Deutſchen Reiche beſitzen wir formell keine
einheitliche Branntweinſteuer, indem neben der norddeutſchen
Branntweinſteuergemeinſchaft, die ſich aber auch auf Elſaß⸗
Lothringen, Heſſen u. ſ. f. erſtreckt, die drei ſüddeutſchen Staaten
ſich ihre Autonomie in Sachen der Branntweinſteuer erhalten
haben. In der norddeutſchen Branntweinſteuergemeinſchaft gilt
nun aber die Materialſteuer für nicht mehlige und die Maiſch⸗
raumſteuer für mehlige Stoffe. Die letztere Steuer richtet
ſich hier nach dem Umfang derjenigen Gefäße, in denen der Roh⸗
ſtoff eingemaiſcht wird. Die Folge iſt, daß die verſchiedenen
Brennereien die Steuer ſehr ungleich tragen, indem die verſchie⸗
denen Rohſtoffe einen ſehr ungleichen Alkoholprozentſatz geben.
Die Steuer trifft ferner ſehr ungleich die Brennereien von ver⸗
ſchiedener Größe, indem die Technik in den größeren Brennereien
höher entwickelt iſt als in den kleinen. Es läßt ſich daher nicht
beſtreiten, daß dieſer Steuermodus dem Prinzip der Gerechtigkeit
nicht entſpricht. Im Süden beſtanden früher andere Steuerarten;
gegenwärtig dagegen hat ſich nur noch in Baden die ſogenannte
Blaſenſteuer erhalten. In Bayern und Württemberg dagegen
hat man die Steuergeſetzgebung in letzter Zeit derjenigen Nord⸗
deutſchlands angenähert. In Bayern (1880) hat man die Maiſch⸗
raumſteuer mit den Sätzen der norddeutſchen Steuergemeinſchaft
eingeführt, jedoch mit einigen Modifikationen, ſo z. B. ſind die
kleinen Brennereien günſtiger geſtellt, indem für ſie die Steuer
pauſchaliert wird; auch iſt die Fabrikatſteuer fakultativ eingeführt.
Von dieſer Fakultät machen indes nur ſehr wenige Brennereien
Gebrauch. Auch in Württemberg iſt man neuerdings (1885)
dahin gelangt, die Maiſchraumſteuer einzuführen; dieſes Land
hat im weſentlichen das bayeriſche Geſetz übernommen, jedoch
mit der Modiſikation, daß die Fabrikatſteuer in Württemberg
nicht zugelaſſen iſt und daß man in der Begünſtigung der kleinen
Brennereien noch weiter gegangen iſt wie in Bayern.
Was ſind nun die Reſultate dieſer unſerer Geſetzgebung?
Laſſen Sie mich Ihnen dieſelben in einigen Zahlen vor-
führen. In der Branntweinſteuergemeinſchaft betragen die Ein⸗
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Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform. 207
= nahmen, die aus der Branntweinſteuer gewonnen werden, etwa
361% Millionen Mark, und der einzelne Kopf der Bevölkerung
wird von der Steuer mit noch nicht ganz einer Mark, nämlich
mit 0,98 Mark belaſtet. Dagegen weiſen andere Staaten viel
günſtigere Reſultate auf. Rußland mit ſeiner Fabrikatſteuer be-
zieht 250 Millionen Rubel aus der Branntweinſteuer, und es
ſollen nach der Angabe eines ruſſiſchen Acciſebeamten außerdem
etwa hundert Millionen Rubel an Steuer hinterzogen werden,
jo daß die Steuer eigentlich 350 000 000 Rubel einbringen
müßte. Der Kopf der Bevölkerung wird in Rußland belaſtet
mit über 8 Mark. In Frankreich werden 237¼ Millionen
Frances eingenommen; der Kopf der Bevölkerung iſt belaſtet mit
etwas unter 6 Mark. In England trägt die Branntweinſteuer
mit der Licenz 16 Mill. &; auf dem Kopfe laſten dort
über 12 Mark; ja ſelbſt von dem kleinen Holland wird aus der
Branntweinſteuer ein Ertrag von 22¼ Millionen Gulden ge—
zogen. Endlich muß noch hervorgehoben werden, daß gegen—
wärtig unſer norddeutſches Geſetz in ſeiner Ausführung nicht
mehr den urſprünglichen Intentionen des Geſetzgebers entſpricht.
Während nämlich nach dem urſprünglichen Geſetz, das aus den
zwanziger Jahren ſtammt, auf den Liter Alkohol entfallen ſoll
ein Steuerertrag von 26 Mark, entfällt auf denſelben gegen—
wärtig infolge der Verbeſſerung der Technik nur noch die Summe
von etwa 16 Mark; während ferner nach dem von der Regie—
rung angenommen Steuerſatze die Steuer in der Gegenwart 63
Millionen Mark bringen müßte, bringt fie faktiſch nur 36¼ Mil-
lionen.
Es ſind nun ſeit den 60er Jahren wiederholt Verſuche ge—
macht worden, die deutſche Branntweinſteuergeſetzgebung zu
ändern.
Im Jahre 1869 haben die verbündeten Regierungen
dem Reichstag eine Vorlage gemacht, nach welcher die Maiſch—
raumſteuer beibehalten, aber die Sätze derſelben etwas erhöht
werden ſollten. Auch die fakultative Fabrikatſteuer war in Aus—
ſicht genommen. Der Reichstag lehnte die Erhöhung der Maiſch—
208 Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform.
raumſteuer jedoch ab. Seitdem hat ſich das Blatt gewendet:
ſeit dem Jahre 1869 hat der Reichstag zu einer Reform
der Branntweinſteuer wiederholt den Anſtoß gegeben. Eine
letzte Anregung iſt dann im Jahre 1877 im Bundesrat durch
die mecklenburgiſche Regierung erfolgt. Aber alle dieſe Anregungen
haben zu keinem Reſultat geführt, indem die verbündeten Regie⸗
rungen ſich gegen eine Reform der Branntweinſteuer erklärten.
In der Gegenwart dürfte nun in dieſer Lage der Dinge eine
kleine Anderung eingetreten ſein. Diejenigen Kreiſe, welche die Re⸗
gierung in ihrem Widerſtreben gegen die Erhöhung der Brannt⸗
weinſteuer ſeit dem Schluſſe der ſechziger Jahre unterſtützt haben,
ſcheinen ſich nicht mehr vollſtändig ſicher zu fühlen und wollen
daher nicht mehr in der unbedingten Negation verharren. Denn
ſie ſind es, die jetzt mit Anträgen hervortreten, Anträgen, die aller⸗
dings möglichſt wenig an dem Beſtehenden ändern wollen. In
der letzten Reichstagsſeſſion haben die Abgeordneten v. Ühden,
Fürſt Hatzfeldt, v. Kardorff und Dr. Buhl verſchiedene dies⸗
bezügliche Anträge geſtellt; ſie alle aber haben vorläufig zu keinem
Reſultat geführt wegen der Haſt, mit der die Reichstagsver⸗
handlungen in der letzten Zeit geführt worden ſind. Immerhin
ſcheint mir die Situation im Augenblick der Art zu ſein, daß
man den Hebel der Reform mit Erfolg anſetzen kann. Während
noch vor einigen Jahren die Rufe nach einer Erhöhung der
Branntweinſteuer einfach überhört wurden, hat man jetzt ein
aufmerkſameres Ohr für dieſe Dinge.
Und in der That erſcheint eine Reform der Branntwein⸗
ſteuergeſetzgebung im Augenblick aus verſchiedenen Gründen als
geboten. Das aus den Jahren 1875 und 1878 ſtammende Fi⸗
nanzreformprogramm des Reichskanzlers hat bisher nicht in
ſeinem ganzen Umfang durchgeführt werden können; und zwar
iſt ſeine Durchführung geſcheitert an dem Widerſtreben der
Reichsregierung, die Branntweinſteuer zu erhöhen. Es hat die
Regierung unter anderem dreimal, in den Jahren 1875, 1880
und 1881, dem Reichstage umfangreiche Entwürfe zur Erhöhung
der Bierſteuer vorgelegt, der Reichstag hat ſich aber geweigert
Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinftenerreform. 209
eine Erhöhung der Bierſteuer vorzunehmen, ſolange nicht die
Branntweinſteuer erhöht iſt. Anders handeln würde heißen den
Konſum des Bieres einſchränken und den des Branntweins noch
weiter künſtlich fördern. Für die Reform ſpricht ferner der Wunſch,
die norddeutſche Branntweinſteuergemeinſchaft auf den Süden
auszudehnen, ſowie Gründe der Volksmoral und Socialpolitik,
Momente, die wir in unſerem Verein hauptſächlich zu vertreten
haben. Freilich iſt neuerdings von einer Seite, deren Gewicht
ich nicht gering ſchätze, gegen eine Erhöhung der Branntwein—
ſteuer folgendes angeführt worden. Es iſt nämlich geſagt worden,
daß infolge der Zollreform die notwendigen Nahrungsmittel, alſo
ſehr wichtige Artikel des täglichen Bedarfs des Arbeiters, ver—
teuert worden ſeien, und es iſt ferner darauf hingewieſen wor—
den, daß durch die ſocialpolitiſche Geſetzgebung dem Arbeiter
regelmäßige Ausgaben für Verſicherungszwecke zugemutet mwer-
den, die er früher nicht gekannt hat. Man ſchließt daraus
weiter, daß ein ſolcher Zeitpunkt nicht geeignet ſei, um die Brannt⸗
weinſteuer zu erhöhen, indem durch Erhöhung der Ausgaben des
Arbeiters für notwendige Lebensmittel eine Situation geſchaffen
ſei, in der die Gründe, welche den Branntweinkonſum in größerem
Umfang berechtigt erſcheinen laſſen, beſonders ſtark hervortreten.
Dieſe Argumentation geht von den Arbeiterkreiſen aus, und
ihr hat ſich auch, wenn ich nicht irre, die ſocialdemokratiſche
Fraktion angeſchloſſen. Dieſelbe will ſich lediglich der an die
Regierung zu ſtellenden Forderung anſchließen, daß nur ent⸗
fuſelter Branntwein ausgeſchenkt werden dürfe.
Ich erkenne an, daß die neueſte Zollgeſetzgebung die Preiſe
für gewiſſe Lebensmittel erhöhen kann. Ich nehme ferner an,
daß, wenn die Konjunkturen günſtige find, eine entſprechende Er-
höhung der Löhne eintreten werde, aber es wird eine ſolche Er-
höhung jedenfalls nur allmählich erfolgen. Mittlerweile aber
kann der Arbeiter in Bedrängnis kommen und ſeine Lage kann
gegen früher momentan verſchlimmert werden. Daraus folgt
aber nicht, daß die Branntweinpreiſe nicht erhöht werden dürfen,
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 14
210 Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform.
ſondern nur, daß die höheren Steuerbeträge, die den Arbeiter
jetzt belaſten, beſeitigt werden müſſen. Dazu eben wollen
wir aber gerade die Mittel durch eine Erhöhung der Brannt⸗
weinſteuer gewinnen.
Ich komme jetzt auf die Vorſchläge zu ſprechen, die in der
Kommiſſion gemacht worden ſind.
Zwei Stimmen erklärten ſich für Beibehaltung der Maiſch⸗
raumſteuer mit den bisherigen Sätzen, indem ſie den Reform⸗
hebel an anderer Stelle anſetzen wollen. Als Gründe für ein
Nichteintreten in die Steuerreform wenigſtens in dieſem Augen⸗
blick wurden angeführt zunächſt das Widerſtreben der Regierung
und ſodann die Notlage der Landwirtſchaft. Meine Herren,
was das erſtere anbetrifft, ſo meine ich, daß gerade diejenigen,
die nicht prinzipielle Gegner der gegenwärtigen Regierung ſind,
die ernſte Pflicht haben, die letztere dahin zu drängen, daß ſie
endlich einmal in dieſer Frage vorgehe. Was die Notlage der
Landwirtſchaft anbetrifft, ſo ſind ja augenblicklich eine Anzahl
von Maßregeln ergriffen worden, die geeignet ſind dieſelbe
zu beſeitigen oder wenigſtens zu mildern. Ich möchte ferner
zur Erwägung geben, daß dieſer Notlage der Landwirtſchaft ein
Notſtand des ganzen Volkes gegenüberſteht, denn der unmäßige
Genuß des Branntweins bezeichnet einen ſolchen auf ſanitärem und
ſittlichem Gebiete. Ein Notſtand liegt ferner auch vor auf dem
Gebiet der Reichsfinanzen und der Finanzen der einzelnen Staaten.
Denn ich nenne es einen Notſtand, wenn das Reich und die Einzel⸗
ſtaaten im Augenblick ein Deficit in ihrem Etat aufweiſen und
nicht in der Lage ſind, eine Anzahl wichtiger Aufgaben zu löſen,
weil es an Mitteln zur Deckung der Ausgaben gebricht. Es
ſteht ſomit jener Notlage ein doppelter Notſtand gegenüber, und
wenn die Notlage ſich auf einen wenngleich wichtigen Bruch⸗
teil der Bevölkerung bezieht, ſo ergreift der Notſtand mehr oder
weniger alle.
Dies ſind die Gründe, die mich dazu bewegen, dem
erſten Vorſchlage nicht zuzuſtimmen. Auch ſcheint mir das von
Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform. 211
derſelben Seite in Ausſicht genommene Surrogat für die
Erhöhung der Branntweinſteuer nicht ausreichend zu ſein. Es
wird nämlich vorgeſchlagen: die Einführung einer hohen Schank—
ſteuer und einer entſprechenden Steuer vom Kleinverkauf; die
Trennung der Gaſtwirtſchaft von der Schankwirtſchaft; die
Unterordnung des Detailverkaufs der Brennereien unter die
Beſtimmungen über den Kleinhandel, ſo daß ſie im Detail keinen
Branntwein abgeben dürfen, wenn ſie nicht alle Bedingungen er—
füllen, die dem Kleinhändler für den Betrieb ſeines Gewerbes
vorgeſchrieben ſind; die Sonderung des Verkaufs von Branntwein
und von anderen Gegenſtänden und endlich die ſtrenge Durch—
führung des gegen den „Handel im Umherziehen“ mit Branntwein
und das Aufſuchen von Beſtellungen auf Branntwein gerichteten
Verbots.
Mit dieſen Vorſchlägen bin ich freilich vollſtändig einver—
ſtanden; ich glaube nur nicht, daß ſie allein dem Übel ſteuern
werden, ſondern ich meine im Gegenteil, daß, wenn eine hohe
Schankſteuer eingeführt wird, dieſes Mittel zur Bekämpfung des
Übels leicht gefährlicher werden kann, als das bekämpfte Übel
ſelbſt es iſt. Denn führt man nur für den Detailverkauf und -ver-
trieb des Branntweins hohe Steuern ein, ſo werden die Preiſe im
Detail weſentlich differieren von den Preiſen im Großhandel,
und eine Folge dieſer Differenz kann leicht ſein, daß die
Konſumenten ſich zuſammenthun, um den Branntwein faßweiſe
zu beziehen, daß der Konſum aus den Schenken dann in das Haus
verpflanzt wird und daß an die Stelle des offenen Trinkens
in der Schenke das häusliche Trinken tritt, bekanntlich das
größte Übel, das einem Volke widerfahren kann. Dasſelbe iſt
bekanntlich in einigen Teilen der Schweiz ſehr weit verbreitet,
jo daß nur "/s alles konſumierten Branntweins in den Schenken
und 7/8 in den Häuſern getrunken wird. Indem hier neben
den Männern auch die Weiber, Kinder und Dienſtboten dem
Trunke ergeben ſind, wird dadurch ein Zuſtand geſchaffen, den
man in der Schweiz mit Recht als Branntweinpeſt bezeichnet.
14*
212 Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinftenerreform.
Gegen die alleinige Einführung der Schankſteuer ſprechen
übrigens noch andere Gründe. So werden z. B. die Gaſtwirte
bemüht ſein, die Preiſe der Nahrungsmittel zu erhöhen, um die
Steuer abzuwälzen; auch wird der Ertrag einer ſolchen Steuer ein
minimaler ſein und kann dieſelbe nur als Gemeindeſteuer erhoben
werden. Indem ich mich alſo dieſem letzten Vorſchlage der Ein⸗
führung einer Schankſteuer mit ihren ſupplementären Maßregeln
anſchließe, beſtreite ich, daß es ausreicht, ihn allein zu acceptieren ;
es muß vielmehr eine weſentliche Erhöhung der Branntwein⸗
ſteuer hinzukommen.
Ein zweiter Vorſchlag, ebenfalls vertreten durch zwei Mit⸗
glieder der Kommiſſion, geht dahin, das bisherige Steuerſyſtem,
die Maiſchraumſteuer, beizubehalten, aber die Steuerſätze zu er⸗
höhen. Das eine Mitglied wollte nur eine ganz minimale Erhöhung
und zwar im Sinne einer Übergangsmaßregel, die zur Einfüh-
rung eines neuen Steuerſyſtems mit weſentlich höheren Sätzen
führen ſollte; das andere Mitglied dagegen denkt ſich die Steuerer⸗
höhung mit einer dauernden Beibehaltung der Maiſchraumſteuer
verbunden. Dieſer letztere Herr erkennt die Schattenſeiten der
Maiſchraumſteuer vollſtändig an, ſucht dieſelben aber zu vermin⸗
dern, indem er vorſchlägt, daß nach den verſchiedenen Rohſtoffen,
welche zur Einmaiſchung gelangen, und nach dem verſchiedenen
Stande der Technik für die Brennereien ungleiche Sätze einge⸗
führt werden, daß der Kreis der landwirtſchaftlichen Brennereien
ausgedehnt und eventuell auch die fakultative Fabrikatſteuer ein⸗
geführt werde. Ich möchte mich auch gegen dieſen Vorſchlag
erklären, weil eine ſolche Erhöhung der Steuer, wenn ſie gering⸗
fügig iſt, nichts an dem gegenwärtigen Zuſtand ändert; ſie giebt
weder größere Einnahmen, noch wird ſie höhere Preiſe bringen.
Erhöht man die Steuer aber um ein beträchtliches, ſo werden
die eben angeführten Kautelen nicht verhindern, daß die Unge⸗
rechtigkeit, die ſchon jetzt beſteht, in der kraſſeſten Weiſe geſteigert
werde.
Wenn ich mich auch gegen dieſen Vorſchlag erkläre, ſo ziehe
Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform. 213
ich aus dem demſelben zu Grunde liegenden Gedankengange doch
folgenden Schluß. Ich gebe zu, daß die Maiſchraumſteuer
von günſtigem Einfluß auf die Brennereitechnik in Preußen und
in Norddeutſchland geweſen iſt; denn die Maiſchraumſteuer führt
dahin, daß der Brenner ſuchen wird die Steuer abzuwälzen, in—
dem er möglichſt viel Spiritus aus dem gegebenen Maiſchraum
zieht. Dieſer dauernde Antrieb, der durch das Selbſtintereſſe
gegeben iſt, hat zu derjenigen hohen Entwickelung der Technik
geführt, welche dieſelbe heute einnimmt. Ich gebe ferner zu, daß
die Maiſchraumſteuer den leichten ſandigen Boden, der im Oſten
große Verbreitung hat, ſeiner naturgemäßen Verwendung, der
Kartoffelkultur, zugeführt hat; ferner daß die Kartoffelbrennereien
die Ernährung eines zahlreichen Viehſtandes ermöglichen und die
Kultur auf den Brennereigütern erhöhen. Es iſt aber nicht nur
die Kultur der Güter eine beſſere geworden, auch die Rente und
der Grundwert derſelben ſind beträchtlich geſtiegen und der nationale
Reichtum gewachſen. Meine Herren, aus allen dieſen Gründen
folgt für mich, daß an Stelle dieſer Maiſchraumſteuer nicht
plötzlich die Fabrikatſteuer treten darf, wie von zwei Mitgliedern
unſerer Kommiſſion vorgeſchlagen wird. Denn behalten Sie wohl
im Auge, daß ſich im Oſten 3600 Brennereien befinden, die über
12000 Mark jährlich Steuer zahlen und weſentlich nur Kartoffeln
zum Brennen verwenden, und daß unter den Beſitzern viele ſind,
die beträchtliche Schulden zu tragen haben. Für dieſe Brennereien
die Maiſchraumſteuer plötzlich durch die Fabrikatſteuer erſetzen,
würde heißen: Perſonen, die durch die Geſetzgebung in eine be—
ſtimmte Situation hineingeſtellt find, für einen Zuſtand verant-
wortlich machen, den ſie nicht verſchuldet haben. Man hat ange-
geführt, daß die Fabrikatſteuer allein dem Prinzip der Gerech—
tigkeit entſpricht, indem ſie die Produzenten, große und kleine,
Kartoffel-, Melaſſe⸗ und Rübenbrenner, unter gleiche Bedingungen
ſtellt. Ich habe dies zugegeben, kann mich aber meinerſeits nicht
entſchließen, um der Durchführung eines abſtrakten Prinzips
willen Tauſende von Exiſtenzen zu gefährden. Auch würde
214 Die Mäßigfeitsbeftrebungen und die Branntweinſteuerreform.
die Fabrikatſteuer eine große Anzahl von kleinen und kleinſten
Brennereien entſtehen laſſen. Der Nutzen aber, den die Land⸗
wirtſchaft aus dieſen zu ziehen vermöchte, könnte leicht geringer
ſein als der ſittliche und ſocialpolitiſche Schaden, der ſich an
dieſe kleinen Brennereien knüpft, wie das Beiſpiel der Schweiz
und Württembergs zeigt. Außerdem würde die Fabrikatſteuer
wahrſcheinlich dahin führen, daß die Rübe, die in der Zuckerin⸗
duſtrie keine genügende Verwendung mehr findet, maſſenhaft in
der Brennerei Verwendung fände und daß damit ſtatt einer
Verminderung der gegenwärtigen Produktion eine künſtliche
Vermehrung derſelben ſtattfinden würde. Endlich iſt ein letzter
Grund, der gegen die Einführung der Fabrikatſteuer in der
Branntweinſteuergemeinſchaft ſpricht, dieſer, daß wir die mate⸗
rielle Übereinftimmung, die wir in Beziehung auf die Branntwein⸗
ſteuer innerhalb des Deutſchen Reiches allmählich errungen haben
— indem gegenwärtig derſelbe Beſteuerungsmodus und dieſelben
Steuerſätze im ganzen Norden, in Bayern und Württemberg
beſtehen —, mutwillig preisgeben würden. Denn ich kann mir
nicht denken, daß, wenn wir heute in Norddeutſchland die Maiſch⸗
raumſteuer aufgeben, die beiden ſüddeutſchen Staaten, welche erſt
vor kurzem dem norddeutſchen Beiſpiel gefolgt ſind, uns dann
ebenfalls folgen werden.
Wenn ich alſo vor dieſem Vorſchlag aus Rückſicht auf die
Intereſſen, die durch einen plötzlichen Übergang von der Maiſch⸗
raum- zur Fabrikatſteuer empfindlich geſchädigt werden würden,
meinerſeits warne, ſo bin ich mir doch bewußt, daß die Inter⸗
eſſen, die an die Maiſchraumſteuer geknüpft ſind, immerhin nur
durch ein Areal repräſentiert werden, das ungefähr 10 des Acker⸗
landes in Norddeutſchland und ¼0 des Ackerlandes im Deutſchen
Reiche gleichkommt. Wenn dieſe Intereſſen daher auch Scho⸗
nung verdienen, jo darf ihnen doch nicht die ausſchließliche Herr—
ſchaft eingeräumt werden, wo ihnen andere wichtigere Intereſſen
gegenüberſtehen.
So gelange ich denn zu dem Reſultat, daß ich mich dem⸗
jenigen Votum anſchließe, das in der Kommiſſion vertreten war
„ 5
5 Vi
Die Mäßigfeitsbeftrebungen und die Branntweinſteuerreform. 215
durch drei Mitglieder Drei Stimmen ſind freilich keine im—
poſante Zahl; um ſo mehr ſcheint es angezeigt, darauf hinzu—
weiſen, daß die drei Votanten Männer ſind, die verſchiedenen volks—
wirtſchaftlichen und politiſchen Parteien angehören und vollſtändig
unabhängig voneinander, jeder auf einem beſonderen Wege, zu
demſelben Reſultat gelangt ſind. Ich ſchlage nun in erſter Linie
vor, an der Maiſchraumſteuer fürs erſte feſtzuhalten und zwar,
indem ich einige Modifikationen an derſelben vornehmen würde,
ſo daß die kleinen Brennereien etwas erleichtert, die Steuerſätze
für die übrigen etwas erhöht werden, um eine ſolche Erhöhung
des Steuerbetrages herauszubringen, die hinreichen würde,
ein etwaiges Deficit zu decken, das entſtehen könnte durch
eine mäßige Erhöhung der Export-Bonifikation. Denn die
letztere ſcheint mir notwendig angeſichts der zum Teil be—
trächtlichen Exportprämien, welche eine Reihe Staaten ihren
Branntweinproduzenten zahlt. Unſer ausländiſcher Markt iſt
in den letzten Jahren ſehr bedeutend zuſammengeſchrumpft, in—
dem heute nur noch die Schweiz, Spanien und einige über—
ſeeiſche Länder unſere Abſatzgebiete bilden. Ich erkläre mich auch
einverſtanden damit, daß im Hinblick auf die Kornbranntwein-
brenner eine fakultative Fabrikatſteuer eingeführt werde.
Ich denke aber bei dieſem Vorſchlage nicht ſtehen zu
bleiben, ſondern wünſche, daß zu dieſer Maiſchraumſteuer eine
andere Steuer hinzutrete, die auf das ganze Reich auszu—
dehnen ſein würde, eine Steuer, die zu erheben wäre von all
demjenigen Branntwein, der in den Trinkkonſum gelangt,
zu erheben wäre nach Maßgabe des Fabrikats, aber nicht bei
dem Brenner, ſondern bei denjenigen Perſonen, welche die Vermitte—
lung zwiſchen dem Brenner und den Konſumenten übernehmen. In
dieſer Beziehung gehen die Vorſchläge unter uns etwas aus—
einander: die einen wollen die Steuer erheben bei dem letzten
Verkäufer, die anderen bei dem erſten Käufer, bei demjenigen alſo,
der den Branntwein von dem Brenner bezieht. In beiden Fällen
werden zwar ziemlich umfangreiche Kontrollen nötig werden, aber
dieſe Kontrollen ſind kein Hindernis geweſen, daß die Konſumſteuer
216 Die Mäßigkeitsbeſtrebungen und die Branntweinſteuerreform.
eingeführt wurde und noch gegenwärtig beſteht in Nordamerika, in
Frankreich ſowie in Baden, Heſſen, Elſaß-Lothringen, in letzteren
Ländern allerdings nur für den Wein. Wir glauben, daß die⸗
ſelbe Steuer im Deutſchen Reich noch leichter durchzuführen ſein
wird als in den eben genannten Staaten und Ländern, und zwar
deshalb, weil wir uns eines intelligenten und zuverläſſigen
Beamtenperſonals erfreuen, weil für die Bemeſſung der Steuer
Anhaltspunkte vorliegen in der beizubehaltenden Maiſchraumſteuer
und weil der größte Teil des vorhandenen Branntweins über die
Eiſenbahn geht und hier leicht der erforderlichen Kontrolle
unterworfen werden kann. Dieſe Steuer kann zu hohen Sätzen
angelegt werden, ohne daß ſie deshalb für den Produzenten und
für den Konſumenten läſtig zu werden brauchte. Man hat einer⸗
ſeits vorgeſchlagen, den Steuerſatz zu normieren auf eine Mark
und andererſeits auf 50 Pfennige pro Liter. Im erſten Falle
würde der Geſamtertrag der Steuer — wenn man den mutmaßlichen
Minderkonſum an Alkohol abrechnet — ſich im ganzen Deutſchen
Reiche auf etwa 220 Millionen Mark, im zweiten Falle auf 110
Millionen Mark ſtellen. Wenn man nun einen Teil dieſes Steuer⸗
ertrages dazu verwenden wollte, um Steuern aufzuheben, die den
Arbeiter empfindlich treffen, wie z. B. die Salzſteuer, den Kaffee⸗
und Petroleumzoll, die noch gegenwärtig beſtehenden unterſten
Stufen der Klaſſenſteuer, ſo würden immer noch Summen übrig⸗
bleiben, die dem Reiche und den Einzelſtaaten die Möglichkeit geben
würden, einige derjenigen Aufgaben zu löſen, die ſie zu löſen be⸗
rufen ſind. Zu dieſen letzteren rechne ich die Flußkorrektionen,
den Bau von Kanälen, die beſſere Dotierung der Schullehrer,
die Erhöhung der Beamtengehälter u. ſ. f. Die Einnahmen
würden eine Ergänzung finden in der Schankſteuer, die zu dieſen
beiden Steuern hinzuzufügen wäre und deren Betrag in die
Gemeindekaſſe fließen müßte.
Ich könnte jetzt ſchließen. Bevor ich es thue, geſtatten Sie
mir aber noch einige wenige Worte. Man hat den Branntwein
im Mittelalter als aqua vitae bezeichnet und die Franzoſen
nennen ihn auch noch heute eau de vie. Dieſe Bezeichnung entſpricht
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und A er a4 zu einer Lebensquelle für die
des Deutſchen Reiches werde!
VIII.
Über Rentengüter.
Votum, abgegeben im Preuß. Landesökonomie⸗Kollegium auf
Veranlaſſung einer demſelben zugegangenen Denkſchrift des
landwirtſchaftlichen Miniſteriums über die geſetzliche Zulaſſung
von Rentengütern. November 1885.
Meine Herren! Ich bin mir der Verantwortlichkeit voll⸗
kommen bewußt, wenn ich zu ſo ſpäter Zeit das Wort ergreife,
nachdem über den uns vorliegenden Gegenſtand bereits ſo er⸗
ſchöpfend geſprochen worden iſt. Wenn ich es dennoch thue, ſo
geſchieht es angeſichts der außerordentlichen Wichtigkeit dieſer
Frage, d. h. nicht wegen der Wichtigkeit dieſes Geſetzentwurfs
an ſich, der meiner Anſicht nach nur eine geringe Bedeutung hat,
ſondern wegen der Wichtigkeit derjenigen Maßregeln, die der
Geſetzentwurf, falls er Geſetzeskraft erlangen ſollte, nach ſich
ziehen kann.
Meiner Anſicht nach können nämlich dieſe Maßregeln ent⸗
weder zu einem neuen Damm führen, der das Eindringen der
ſocialdemokratiſchen Flut vom flachen Lande voll abwehren
wird, oder zum Niederreißen der bereits vorhandenen Dämme,
wodurch ſie der Ergießung des verheerenden Elements über
das flache Land weiter Vorſchub leiſten würden.
Geſtatten Sie mir, ein paar Worte über dieſe meine An⸗
Über Rentengüter. 219
ſicht zu jagen auf die Gefahr hin, Ihnen bereits Bekanntes zu
wiederholen.
Die Frage, wie ſie hier geſtellt iſt: Welchen Erfolg wird
dieſer Entwurf haben?, iſt meiner Anſicht nach gar nicht
ſchlechthin zu beantworten. Solange nämlich Se. Excellenz der
Herr Miniſter uns nicht ſagt, was der Staat ſeinerſeits mit
dieſem Entwurf anzufangen denkt, ſolange der Herr Miniſter
vielmehr erklärt, er wolle ſich durchaus nicht binden, bin ich
genötigt, mir hypothetiſche Thatſachen zu konſtruieren, unter
denen dieſes Geſetz zu wirken beſtimmt iſt.
Ich nehme erſtens an, daß dieſer Geſetzentwurf den Kam—
mern vorgelegt werden wird und zur geſetzgeberiſchen Erledigung
gelangt, ohne daß ſich die Staatsregierung darüber ſchlüſſig macht,
ob ſie das Geſetz auf die Domänen anwenden will. Die
Folgen, die dann eintreten, werden meiner Anſicht nach wahr—
ſcheinlich ſein — von einer Sicherheit kann man ja auf
einem ſolchen Gebiet nicht ſprechen, von einer Möglichkeit
allein zu ſprechen lohnt ſich nicht, man muß alſo die wahrjchein-
lichen Folgen zu ermitteln ſuchen —, daß die Beſitzer der
großen Allodialgüter von dieſem Entwurf keinen Gebrauch
in dem Sinn machen werden, daß ſie in namhafter Zahl
Bauernſtellen begründen, und zwar, weil bei ihnen viel-
mehr die Tendenz beſteht, ſich abzurunden, als die Tendenz,
Teile ihrer Güter zu Bauernſtellen abzugeben. Mir wenigſtens
ſind keine Fälle bekannt geworden, in denen in nennenswertem
Umfange eine ſolche Abzweigung von Teilſtücken der großen Güter
zu Bauerngütern ſtattgefunden hat. ä
Ein zweiter, vielleicht noch wichtigerer Grund, weshalb
von dieſem Geſetz durch die Allodialbeſitzer kein Gebrauch
gemacht werden wird, iſt die Furcht vor der Zwangsablöſung.
Die preußiſche Staatsregierung hat meiner Anſicht nach im
Jahre 1873 in Schleswig-Holſtein einen großen Fehler be-
gangen, als ſie die Zwangsablöſung des Erbpachtkanons zu
einem niedrigen Satz in Vorſchlag brachte. Es iſt bekannt,
daß bis dahin dort zahlreiche Erbpachtgüter beſtanden. Der
220 über Rentengüter.
Erbpachtkanon wurde durch freiwillige Vereinbarung in der
Regel zum 25 fachen Betrage abgelöſt; nach dem Geſetz von 1873
mußten die Kanonempfänger ſich dagegen gefallen laſſen, daß
derſelbe mit dem 20 fachen Betrage abgelöſt wurde. Daß
der Geſetzentwurf der Regierung die Zuſtimmung des Pro⸗
vinziallandtages erhielt, iſt durch die vielen Intereſſenten, die
in demſelben ſaßen, leicht erklärlich: es waren das Bauern,
welche ihre Erbpachtſtellen möglichſt wohlfeil zum Eigentum er⸗
halten wollten. Der preußiſche Landtag hat dann dem Votum des
Provinziallandtags einfach zugeſtimmt. Jenes Vorgehen hat den
Glauben an die Dauer ſolcher Erbpachtverhältniſſe im Grund⸗
beſitzerſtande ſtark erſchüttert. Man wird ſich daher ſagen: wenn
der uns vorliegende Entwurf Geſetz werden ſollte, ſo kann ſich das,
was dort in Schleswig-Holſtein einmal geſchehen iſt, jederzeit
wiederholen, zumal die Kammern von den Intereſſenten leicht zu
bewegen ſind, ähnliche Beſchlüſſe wie der vorerwähnte wieder zu faſſen.
Es kommt drittens dann noch das Jagdrecht in Betracht,
deſſen ſich die Großgrundbeſitzer nicht gern werden begeben wollen
und das doch durch die Begründung von kleineren oder mittleren
Rentengütern leicht eine Beſchränkung erfahren könnte.
Kurz, ich glaube nicht, daß ſeitens der Beſitzer großer allo⸗
dialer Güter von einem ſolchen Geſetz zum Zweck der Begrün⸗
dung von wirklichen Bauerngütern oder Bauernſtellen Gebrauch
gemacht werden wird.
Auch von den Beſitzern der Fideikommißgüter glaube ich das
nicht und ebenſowenig von der toten Hand, den Kommunen u. ſ. w.,
ſolange ihnen nicht an einem Beiſpiel der Nutzen dieſes In⸗
ſtituts vor Augen geführt wird; dieſes Beiſpiel kann aber nur
vom Staat gegeben werden.
Dagegen halte ich es nicht für ausgeſchloſſen, daß hier und
da auf Privatgütern in dieſer Weiſe Arbeiterſtellen begründet
werden werden.
Bei dieſem Anlaß geſtatte ich mir, ein paar Worte ein⸗
zuſchalten über den bisherigen Gang, den die Angelegenheit,
welche wir jetzt diskutieren, genommen hat. Ihr Urſprung fällt
Über Rentengüter. 221
in die Jahre 1872 und 1873, wo die Löhne ſehr hoch ſtanden
und die Tendenz der ländlichen Bevölkerung dahin ging,
in die Städte auszuwandern. Damals erſchien im ſchleſiſchen
„Landwirt“ ein Artikel, der darauf hinwies, man möge das
Erbpacht⸗ oder Erbzinsverhältnis wieder beleben und es zur
Begründung von Arbeiterſtellen benutzen, um ein Arbeiterperſonal
heranzuziehen, welches ſtändig auf der Scholle ſitzt und zu gleich—
mäßigen Löhnen arbeitet.
Parallel damit gingen Beſtrebungen, die einen ganz andern
Ausgangspunkt hatten und den Namen des Oberbürgermeiſters
Miquel an ihrer Spitze trugen. Herr Miquel hatte durch die
Eindrücke, die er in ſeiner niederſächſiſchen Heimat empfangen,
den ſocialen Wert des Bauernſtandes kennen gelernt und
wünſchte dieſe wichtige ſociale Gruppe auch in denjenigen Teilen
des Oſtens einzubürgern, in denen ſie entweder ganz verſchwunden
oder doch nur ſehr ſchwach vertreten iſt. Dieſe Beſtrebungen
führten dahin, daß im Jahre 1874 im preußiſchen Abgeord—
netenhauſe ein Antrag auf Zerlegung der Domänen in Bauern—
güter geſtellt und angenommen wurde und daß auf dieſen Antrag
hin von ſeiten des Miniſteriums auf einigen pommerſchen
Domänen Verſuche zur Begründung von Bauern- und Arbeiter⸗
ſtellen gemacht wurden.
In eine weitere Entwickelungsphaſe trat die Angelegenheit
in den Jahren 1878 und 1879 im Landesökonomie-Kollegium.
Es wurde hier ein auf die Wiederbelebung des Erbzinsverhält-
niſſes gerichteter Beſchluß gefaßt, doch iſt ſeitdem nichts ge—
ſchehen, um dieſem Beſchluß Folge zu geben.
Neuerdings endlich hat ſich die in unſerm Volk vorhandene
demokratiſche Strömung der Frage der inneren Koloniſation be—
mächtigt. Aus Widerwillen gegen die großen Grundbeſitzer und
ihren politiſchen Einfluß im Oſten will man mittlere und kleine
Güter ſchaffen. |
Sie ſehen alſo, daß ſehr verſchiedene Ausgangspunkte zu
demſelben Reſultate, dem Verlangen nach Begründung neuer
Bauerngüter und Arbeiterſtellen geführt haben.
222 Über Rentengüter.
In dieſen Tagen nun iſt uns ein diesbezüglicher Geſetzent⸗ 8
wurf, welcher zu dieſem Zweck eine neue Rechtsform einführen —
will, zur Begutachtung vorgelegt. Wenn derſelbe jo, wie er
uns vorliegt, zum Geſetze erhoben wird, ſo ſteht meines Erachtens
nur zu erwarten, daß auf den Privatgütern Arbeiterſtellen nach
Erbzinsrecht geſchaffen werden, die für den Beſitzer von Vorteil
ſein können, weil ſie ihm die Dispoſition über eine beſtimmte
Arbeitskraft mit gleichmäßigem Lohne verſchaffen.
Aber, meine Herren, dieſe Einrichtung kann doch auch ihre
Kehrſeite, die namentlich den Arbeiter trifft, haben. Freilich
braucht dieſelbe für den Arbeiter nicht in jedem Fall von
Nachteil zu ſein. Sie wird auch für ihn günſtig ſein, wenn
er, der jedenfalls nicht von dem Ertrag ſeiner Erbzinsſtelle allein
wird leben können, ſich an eine Gemeinde anlehnen kann; wenn
er außer der Arbeit beim Erbzinsherrn auch noch andere
Arbeitsgelegenheit findet auf benachbarten Gütern, in der In⸗
duſtrie u. ſ. w. Dann wird ſich der Lohn einigermaßen nach
den Fluktuationen des Marktes regulieren und der Arbeiter eine
gewiſſe Selbſtändigkeit bewahren können. Aber wenn ſolche Ar⸗
beiter auf iſoliert liegenden Latifundien angeſiedelt werden,
wenn dieſe fern von der Gemeinde liegen, wenn es für den Ar⸗
beiter an anderer Arbeitsgelegenheit fehlt, dann werden dieſe
Erbzinsſtellen meiner Anſicht nach zu einer Art glebae adscriptio
führen. Die zu Erbzins angeſetzten Arbeiter werden freilich
das Recht haben, ihre Erbzinsſtellen zu verkaufen, aber ſie
werden hier nur ſchwer Käufer finden und daher genötigt ſein,
namentlich in einer Zeit ſinkender Bodenrente, billiger zu arbeiten,
als fie es ſonſt thun würden, wenn fie freie Herren ihres Schick⸗
ſals wären. Ich möchte daher entſchieden davor warnen, daß
wir die Hand zur Begründung von ländlichen Arbeiterverhältniſſen
bieten, die mich an ähnliche Verhältniſſe in der Induſtrie Schleſiens
erinnern. Die hausinduſtriell beſchäftigten Weber in Schleſien
ſind oder waren doch in einer ähnlichen Lage; ſie beſitzen kleine
Häuſer und Gärten, aber dieſer Beſitz iſt für fie zum Fluch ge-
Über Rentengüter. 223
worden; denn fie trennen ſich nicht von der Scholle, fie laſſen
ſich an Hungerlöhnen genügen, und Sie wiſſen ja, meine Herren,
zu welchen Übelſtänden das geführt hat.
Würde der Geſetzentwurf die obige Folge haben, dann
fürchte ich, daß die Agitation der Wiſſerſchen Bauernvereine,
die jetzt nur ſchwer auf das Land eindringt, viel leichter
Eingang finden werde, und dieſe Agitation der politiſchen
Demokratie wieder wird, wie auf ſo vielen anderen Gebieten,
nur die Vorfrucht für die Social demokratie ſein. Ich kann
mich möglicherweiſe irren, wollte meine Befürchtungen hier an
dieſer Stelle aber doch nicht unausgeſprochen laſſen.
In einem zweiten Falle, den ich mir konſtruiere, kann ich
mir die Folgen dieſes Geſetzentwurfs allerdings als ſehr günſtige
denken. Dieſer Fall würde dann eintreten, wenn die Staats⸗
regierung, bevor ſie dieſem Geſetzentwurf weiteren Fortgang giebt,
ſich darüber ſchlüſſig macht, was ſie thun will, um demſelben
die möglichſt günſtigen Folgen zu ſichern. Der Herr Miniſter
hat geſtern gewiß ſehr richtig geſagt, er allein könne über dieſen
Punkt keine bindende Erklärung abgeben. Und in der That!
Es handelt ſich um eine ſo wichtige und in ihrer Durchführung
ſo ſchwierige Maßregel, daß das Staatsminiſterium, vielleicht
nach Anhörung des Staatsrats, ſich zunächſt wird darüber
ſchlüſſig machen müſſen, ob mit einer Neubelebung und Stärkung
des Bauernſtandes vorgegangen werden ſoll, wobei dieſer Geſetz⸗
entwurf dann nur die Bedeutung einer Ausführungsmaßregel
haben würde. Es handelt ſich demnach in erſter Linie um die
Beantwortung der Frage, ob die Staatsregierung an die Politik
der preußiſchen Kurfürſten und Könige vom großen Kurfürſten bis
auf Friedrich Wilhelm IV anknüpfen will, um die innere Koloni-
ſation zu fördern. Ich will hier mit hiſtoriſchen Analogieen
nicht leichtfertig ſpielen, denn ich weiß, daß Dinge, die früher
möglich waren, es jetzt nicht mehr ſind, und möchte daher
mit einigen Worten den Unterſchied feſtſtellen, der zwiſchen der
alten Koloniſation und dem, was jetzt möglich aber auch not—
224 Über Rentengüter.
wendig iſt, beſteht. Die Koloniſationen bis zum Schluß des vorigen
und zum Teil auch bis zur Mitte unſeres Jahrhunderts erfolg⸗
ten auf wüſtem Boden zum Zweck der Förderung der Kultur;
ſie erfolgten, namentlich im vorigen Jahrhundert, um die Popu⸗
lation zu vermehren in Anwendung merkantiliſtiſcher Grundſätze:
man wollte einen Überfluß an Leuten haben, den man in die
Induſtrie überleiten konnte, u. ſ. w. Heute ſtehen wir anders.
Das Land iſt, wenn wir von den Mooren abſehen, größtenteils
kultiviert; die Bevölkerung iſt vollzählig, ja mehr als vollzählig
vorhanden, und wir müſſen eher daran denken, für den vorhan⸗
denen Überſchuß unſerer Bevölkerung neue Erwerbsquellen zu
ſchaffen, als ihre Vermehrung zu fördern. Alſo aus den früher
maßgebend geweſenen Gründen darf man heute nicht mehr
Bauernſtellen ſchaffen. Es ſind vielmehr ganz neue Momente,
die heute für die innere Koloniſation in Betracht kommen. Sie
erlauben mir wohl von dem Vielen, was ſich über dieſen Gegen⸗
ſtand ſagen läßt, nur zweierlei anzuführen. Wenn die Staats⸗
regierung ſich für dieſe wichtige Maßregel entſchließen ſoll, ſo
muß ſie durchdrungen ſein von der Überzeugung, daß der
Bauernſtand ein notwendiger Beſtandteil unſerer wirtſchaftlichen,
ſocialen und politiſchen Ordnung iſt, und ſie muß ferner durch⸗
drungen ſein von der Überzeugung, daß dieſer Bauernſtand —
wenn auch nicht in der allernächſten Zeit — auszugehen droht.
Der Herr Miniſter hat geſtern geſagt, im großen und ganzen
ſei unſere Grundbeſitzverteilung keine ungünſtige und nur in ein⸗
zelnen Teilen ſei ſie krankhaft. Das iſt im allgemeinen richtig.
Aber es muß doch noch hinzugefügt werden, daß, abgeſehen von
den krankhaften Stellen der Grundbeſitzverteilung in Neuvor⸗
pommern, Poſen, Oberſchleſien u. ſ. w., der Grundbeſitzverteilung
auch im ganzen eine Gefahr droht, indem ganz allgemein
Tendenzen zur Latifundien- und Zwerggüterbildung zu Tage
treten. Es darf nicht überſehen werden, daß die territoriale
Baſis des Bauernſtandes abnimmt, — wenn man unter Bauern
ſolche Leute verſteht, die als Eigentümer auf der Scholle ſitzen
und entweder genug Land haben, um auf demſelben nur ihre
u,
WW
Über Rentengüter. 225
eigene Arbeitskraft zu verwerten, oder auch ſoviel, um zugleich
Geſinde halten zu können, — indem auf der einen Seite die großen
Güter einen Teil des von den Bauern eingenommenen Landes
abſorbieren und andererſeits die bäuerlichen Beſitzungen ſelbſt ſo
klein werden, daß eine Familie ſich nicht mehr darauf ernähren
kann, und doch wieder nicht ſo klein, daß daraus Arbeiterſtellen
werden. Alſo die territoriale Baſis des Bauernſtandes nimmt
ab. Zahlenmäßig genau werden wir das erſt nach 30 — 40 Jahren
beweiſen können; wir können und müſſen dieſe Theſe nach
den vielen in ihren Reſultaten übereinſtimmenden Einzel—
beobachtungen aber ſchon heute als richtig anſehen. Iſt das der
Fall, ſo hat die Staatsregierung, wenn ſie nicht zu ſpät kommen
will, jetzt die dringende Aufgabe, einmal an den ſchadhaften
Stellen zu beſſern und dann gegenüber der vorhandenen Tendenz
zur Bildung von Groß- und Zwerggütern einen — wenn ich
mich ſo ausdrücken darf — ſocialpolitiſchen Apparat zu ſchaffen,
der der obigen Tendenz entgegenzuwirken die Beſtimmung hätte.
Ich gehöre nicht zu denjenigen, die bei Schaffung eines ſolchen
Apparates in die gegenwärtige Ordnung der Dinge tief ein—
greifen wollen; ja ich bin von der Notwendigkeit überzeugt, daß
wir an den beiden großen Prinzipien der Stein-Hardenbergſchen
Geſetzgebung, an der perſönlichen Freiheit und dem freien Eigentum
im weſentlichen feſtzuhalten haben; denn wenn wir das nicht thun,
ſo geben wir ja diejenige Baſis preis, von der aus wir gegen die
Socialdemokratie ankämpfen. Ich glaube aber, daß auch ohne
Verletzung der beiden Grundpfeiler unſerer heutigen Ordnung
im Wege der Geſetzgebung und Verwaltung ſich außerordentlich
viel thun läßt, um die obigen für den Beſtand unſerer
heutigen Ordnung gefährlichen Tendenzen wirkſam zu be-
kämpfen.
Eine dieſer Maßregeln iſt die Benutzung der Domänen, um
die Lücken, welche der Bauernſtand aufweiſt, auszufüllen, um die
krankhaften Stellen unſerer Grundbeſitzverteilung zu heilen.
Wie ich die Benutzung der Domänen zu dem erwähnten Zweck
verſtanden wiſſen will, darüber möchte ich mir erlauben, ein paar
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 15
296 Über Rentengüter.
Worte zu jagen. Ich verjtehe fie nicht in dem Sinne, wie das N
thörichterweiſe häufig geſagt worden iſt und neuerdings von der
Agitation betont wird, als ob nun alle Domänen in Bauern
güter zerlegt werden ſollen; aber auch nicht in dem Sinne, wie |
der Herr Korreferent gejagt hat, daß nur Odländereien oder
ſolche Waldſtücke, die nicht genügend rentieren, zur Anſetzung
von Bauern zu benutzen ſeien. Meiner Anſicht nach ſollte viel⸗
mehr ſo verfahren werden, daß die Grundbeſitzverteilung zunächſt
nur an denjenigen Stellen, wo ſie ſchadhaft geworden iſt, durch
Zerlegung der bereits vorhandenen oder neu zu erwerbenden
Domänen in Bauerngüter repariert werde.
Bei Durchführung dieſes Gedankens würden wir uns in
einer ſehr glücklichen Lage befinden. Denn gerade in Neuvor⸗
pommern, Poſen und Oberſchleſien, wo es mit dem Bauern⸗
ſtande beſonders ſchlimm ſteht, beſitzt der Staat umfangreiche
Domänen, er brauchte alſo nichts zuzukaufen. Indes wenn dies
an anderen Stellen, wo keine Domänen vorhanden ſind, nötig wäre,
ſo würde ich auch der Anſicht ſein, daß er es thun müßte.
Wenn ich alſo ſage, daß dieſer Geſetzentwurf für mich nur
dann acceptabel erſcheint, wenn ich der ernſten Abſicht der Staats⸗
regierung ſicher bin, daß ſie denſelben als Vorausſetzung zu
einer ſocialpolitiſchen Maßregel in großem Stil benutzen will,
ſo will ich doch zugleich hinzufügen, daß das Erbzinsverhältnis
mir nur als eine von mehreren möglichen Durchführungs⸗
modalitäten erſcheint. Denn ich kann mir die Durchführung der
oben ſkizzierten Maßregel auch wohl ohne Begründung von Erb-
zinsgütern denken und verweiſe in dieſer Beziehung auf das
Beiſpiel von Oldenburg. Dort hatte man in den letzten Jahr⸗
zehnten vielfach neue Kolonieen geſchaffen, indem man ſie ſofort
in das volle Eigentum der Koloniſten hat übergehen laſſen, und
zwar gegen Anzahlung einer Kapitalſumme und Auferlegung
eines Kanons. Die Parzellierung war nur während der erſten
30 Jahre verboten. Wenn der Bauer ſich erſt feſtgeſetzt, d. h.
30 Jahre auf der Scholle geſeſſen hat, dann ſcheint mir
die Gefahr nicht mehr groß, daß das Grundſtück ausgekauft
Über Rentengüter. 227
| werde oder der Parzellierung verfalle. Wäre die Gefahr aber wirk—
lich ſo groß, wie ſie geſtern hier geſchildert worden iſt, ſo müßte
man aus den vorgeſchlagenen Maßregeln notwendig die weitere
Konſequenz ziehen, daß auch für alle im Eigentum befindlichen
Bauerngüter dieſelben Beſchränkungen der Veräußerung, Verpfän⸗
dung, Parzellierung, Konſolidation u. ſ. w. einzuführen wären, wie
ſie hier für die Erbzinsgüter in Vorſchlag gebracht worden ſind.
Bevor ich ſchließe, möchte ich noch betonen, daß, wenn ich
dieſen Entwurf nicht in die weiteren Stadien geleitet ſehen
möchte ohne eine vorherige Entſchließung der königlichen Staats—
regierung darüber, daß gerade ſie von demſelben Gebrauch
machen will, ich dieſe Entſchließung der Staatsregierung nicht
auf die Maßregel der inneren Koloniſation beſchränkt, ſondern
im Zuſammenhang mit anderen Maßregeln ergriffen zu ſehen
wünſche. Denn es gilt nicht bloß die Lücken, die der Bauern⸗
ſtand gegenwärtig aufweiſt, auszufüllen, ſondern auch für die Er—
haltung desſelben in der Zukunft zu ſorgen. Bei dieſer Ge-
legenheit möchte ich übrigens nicht noch einmal auf Dinge zu
ſprechen kommen, die bereits — auch an dieſer Stelle — wieder-
holt beſprochen worden ſind. Daß es nämlich dringend not thut,
von dem Syſtem der Höferolle abzugehen und das Inſtitut der
Anerbenfolge als Inteſtaterbrecht für den geſamten land- und
forſtwirtſchaftlich benutzten Grundbeſitz einzuführen, für eine ge-
nügende Organiſation des bäuerlichen Kredits zu ſorgen u. ſ. w.
Kurzum, die uns zur Beratung vorliegende Maßregel hat meiner
Anſicht nach nur dann eine Berechtigung, wenn ſie ein Ausfluß
der Überzeugung iſt, daß im Augenblick eine von großen Gefichts-
punkten geleitete Agrarpolitik dringend not thut.
Sie werden jetzt abzuwägen haben, ob und wieweit das von
mir Vorgebrachte ſtichhaltig iſt. Ich habe es für meine Pflicht
gehalten, mich nicht bloß auf die Erregung von Hoffnungen,
die ſich an dieſen Geſetzentwurf knüpfen, zu beſchränken, ſondern
auch die Befürchtungen, die ich hege, auszuſprechen.
15 *
IX.
Zur Währungskrage.
Korreferat für den deutſchen Landwirtſchaftsrat. Januar 1886.
M. H.! Nicht ohne Bedenken ergreife ich in dieſer Seſſion
zum zweitenmal das Wort als Referent, — ich, ein Theoretiker
mitten in einer Welt von Praktikern. Wenn ich es dennoch
thue, ſo geſchieht es, weil ich glaube, daß in dieſer ſpeciellen
Frage, über die Sie heute zu beraten haben, Sie ganz ebenſo
Theoretiker ſind, wie ich es bin. Denn in der Praxis können
Sie wohl Erfahrungen darüber machen, daß die Preiſe land⸗
wirtſchaftlicher Produkte niedrig ſind, daß es Ihnen ſchlecht
geht u. ſ. w., — aber den Zuſammenhang zwiſchen Ihren prak⸗
tiſchen Erfahrungen und der beſtehenden Währung können Sie
nur auf theoretiſche d. h. wiſſenſchaftliche Weiſe finden. Sie
müſſen alſo, wenn Sie zu einer Anſicht über die Währungsfrage
gelangen wollen, ganz denſelben Denkprozeß durchmachen wie
jeder Theoretiker.
Sodann bin ich zur Übernahme dieſes Referats auch noch
durch eine andere Erwägung beſtimmt worden, nämlich durch die
Erwägung, daß der häufig behauptete Gegenſatz zwiſchen Theorie
und Praxis faktiſch nicht exiſtiert, wenn beide ihre Schuldigkeit
thun. Denn verſchieden iſt bei Theoretikern und Praktikern nur der
Ausgangspunkt für die Behandlung der Dinge, nicht aber wird
es das Reſultat ſein, wenn beide methodiſch richtig operieren.
F ee - \ 1
Zur Währungsfrage. 229
Der Theoretiker pflegt gewöhnlich mehr von einem abſtrakten
Standpunkt auszugehen, der Praktiker ſchöpft aus der Fülle ſeiner
einzelnen Beobachtungen und Erfahrungen. Der Theoretiker iſt
vorzugsweiſe berufen, das allgemeine Intereſſe, das Intereſſe aller
Stände, aller Klaſſen wahrzunehmen; der Praktiker unterliegt
leicht der Gefahr, vorzugsweiſe das Intereſſe ſeines Standes,
ſeiner Klaſſe hervorzuheben, auch wenn dieſes im Widerſpruch
ſteht mit den Intereſſen anderer Klaſſen.
Ich erlaube mir, bei dieſer Gelegenheit noch ein Wort zu
ſagen über die Beziehungen, welche zwiſchen dem allgemeinen Wohl
und dem Klaſſenintereſſe beſtehen, weil ſie von wichtiger, grund—
legender Bedeutung für unſern Gegenſtand ſind. Es wird häufig
geſagt, das allgemeine Intereſſe ſtehe über dem Intereſſe der
einzelnen Klaſſen und Berufe, alſo außerhalb desſelben. Das
iſt meiner Anſicht nach falſch. Das allgemeine Wohl ſchließt
das richtig verſtandene Klaſſenwohl und Klaſſenintereſſe
vielmehr in ſich. Denn das Gemeinwohl iſt nichts anderes als ein
allgemeiner Gleichgewichtszuſtand, den der Staat, ſoweit er es
vermag, zwiſchen den einzelnen Klaſſenintereſſen herzuſtellen be—
ſtrebt ſein ſoll; das richtig prozedierende Klaſſenintereſſe wird
daher die Schranken, die das Gemeinwohl ihm zieht, immer im
Auge behalten müſſen. Von dieſem Standpunkte werde ich mein
Referat erſtatten, indem ich mich zugleich an die, wie mir ſcheint,
ſehr glückliche Praxis meines Herrn Vorredners anſchließe und es
ebenfalls vermeide, auf Details einzugehen, namentlich vermeide,
Ihnen ſtatiſtiſches Detailmaterial in größerem Umfange vorzu⸗
führen. Denn dieſe Verſammlung iſt viel zu zahlreich, um auch
nur mit Aufmerkſamkeit ſtatiſtiſches Material und ſtatiſtiſche Be⸗
weisführungen entgegennehmen, geſchweige denn überhaupt ſolche
beigebrachten Zahlen kontrollieren zu können. Auch werde ich mich
auf einzelne ſtreitige Detailfragen nicht einlaſſen, namentlich ſo—
weit ſie reine Doktorfragen ſind; denn auch für die Entſcheidung
derſelben ſcheint mir dieſe Verſammlung nicht das richtige Forum
zu ſein. Ich werde mich vielmehr darauf beſchränken, Ihnen die
Kette von Schlüſſen vorzuführen, die mich zu meinen Reſolutionen
230 Fur Währungsfrage.
führt, und möchte dabei wünſchen, daß Sie in ihr einen ſo engen
Zuſammenhang der Glieder untereinander zu erkennen vermögen,
daß nicht ein Glied beliebig herausgeriſſen werden kann, ohne daß
die ganze Kette zerreißt und die Reſolutionen damit ihre Vor⸗
ausſetzung verlieren.
Ich gehe aus von der Bedeutung des Geldweſens für die
Volks- und Weltwirtſchaft und darf hier wohl in Übereinſtimmung
mit Ihnen allen hervorheben, daß das Geldweſen eine Inſtitution
iſt, an deren möglichſt zweckmäßiger und vollkommener Geſtaltung
alle Klaſſen das gleiche Intereſſe haben, und daß der Staat, indem
er das Geldweſen reguliert, in erſter Linie beſtrebt ſein muß,
einen möglichſt ſtabilen Wertmeſſer zu ſchaffen.
Ich darf auch wohl hinzufügen, daß das Geld ſich natur⸗
notwendig bei jedem Volke auf einer beſtimmten Stufe der
Entwickelung einzuſtellen pflegt und daß der Staat dann nur
das, was ſich von ſelbſt eingeſtellt hat, anerkennt und ſpäter
reguliert, neu ordnet u. ſ. w. Es beſteht auf dieſem Gebiet ein
ähnliches Verhältnis, wie auf dem Gebiete der Rechtsentwicke⸗
lung zwiſchen dem Gewohnheitsrecht und dem Geſetzesrecht.
Und was vom Gelde im allgemeinen gilt, gilt auch ſpeciell
von der Währung. Die Währungseigenſchaft pflegt im Laufe
der Entwickelung gleichſam naturnotwendig immer demjenigen
Gegenſtande zuzufallen, der im gegebenen Augenblick für ein be⸗
ſtimmtes Volk der geeignetſte iſt, und wenn der Staat ſpäter
die Funktion übernimmt, ſeinerſeits über die Währung Entſchei⸗
dung zu treffen, ſo iſt das weſentlich nur eine formale Funk⸗
tion, indem der Staat demjenigen Gegenſtand die Währungs⸗
eigenſchaft beilegt oder doch wenigſtens beilegen ſollte, der im
gegebenen Augenblicke gleichſam durch die allgemeine Entwicke⸗
lung als ſolcher bezeichnet wird.
Wenn die Staaten nun im Laufe der Geſchichte die
Währungseigenſchaft beigelegt haben zunächſt einer Anzahl von
Gebrauchsgütern und dann allgemein den Metallen und unter
dieſen wieder zunächſt dem Kupfer, der Bronze u. ſ. w. und
Fur Währungsfrage. 231
7 erſt ſpäter den Edelmetallen und unter den Edelmetallen wieder
zunächſt dem Silber und dann dem Golde, ſo hätte der ein—
zelne Staat ja gewiß anders handeln können und hat es aus—
nahmsweiſe auch gethan. Aber wenn er doch im großen und
ganzen dieſer Entwickelung gefolgt iſt und damit nur ſanktioniert
hat, was die Entwickelung der Dinge ihm vorzeichnet, ſo wieder—
holt ſich hier derſelbe ſcheinbare Gegenſatz zwiſchen Willensfrei—
heit und Geſetzmäßigkeit, den wir auf allen Gebieten des per—
ſönlichen, ſocialen und politiſchen Lebens antreffen und der hier
nur ſeine ſpecielle Anwendung findet.
Dieſer Entwickelung folgend, iſt dasjenige Land, das das
reichſte genannt werden kann und das die ausgebreitetſten Handels⸗
beziehungen namentlich im internationalen Verkehr beſitzt, zuerſt
zur Goldwährung übergegangen, alſo England im Jahre 1816
mit ſeinen ſämtlichen Kolonieen und Dependenzen, mit Aus—
nahme nur Indiens und Ceylons. Und ebenſo beruht es auf
dieſer Entwickelung, wenn dann diejenigen Staaten, die England
in Bezug auf ihren Reichtum und die Intenſität ihrer inter-
nationalen Handelsbeziehungen nahe kommen, wenn dieſe Staaten
in neuerer Zeit das Beſtreben zeigen, dieſelbe Währung anzu—
nehmen. Dieſes Beſtreben iſt in den letzten Jahrzehnten unter-
ſtützt worden durch eine Reihe mehr zufälliger Momente: erſtens
durch die reiche Goldgewinnung und das maſſenhafte Einſtrömen
von Gold nach Europa ſeit dem Jahre 1848; ſodann durch das
Abſtoßen des Goldes aus Amerika nach Europa nach dem Bürger—
kriege, infolge der Papiergeldwirtſchaft, und endlich ſpeciell für
uns in Deutſchland durch den glücklichen Ausgang des letzten
Krieges und durch den Milliardenſegen, deſſen wir uns zu er—
freuen hatten.
Parallel mit dieſer allgemeinen Entwickelung, die eine den
Dingen immanente iſt, iſt die Theorie gegangen, indem ſie in
den 60 er und zum Teil auch in den 70 er Jahren, wie ſie es
immer thut und immer thun ſoll, dieſe Entwickelung zu begreifen,
ihr zum Ausdruck zu verhelfen und damit dieſelbe wiederum weiter
zu fördern geſucht hat.
232 Sur Währungsfrage.
Ich will nicht behaupten, daß die monometalliſtiſche Theorie,
wie ſie bis zu Anfang der 70 er Jahre faſt ausſchließlich herr⸗
ſchend war, es immer verſtanden hat, alle Einſeitigkeiten zu ver⸗
meiden. Auch hat dieſe Theorie damals ſich nicht vollſtändig
klar gemacht, welches die Folgen des allſeitigen Übergangs zur
Goldwährung ſein würden. Im ganzen muß aber doch geſagt
werden, daß dieſelbe damals ihre Schuldigkeit ganz und voll
gethan hat; wir dürfen daher ihre Mängel nicht allzu hoch
anſchlagen.
Dieſer Strömung folgend iſt alſo, wie geſagt, eine Reihe
von Staaten in den letzten Jahrzehnten zur Goldwährung
übergegangen oder hat wenigſtens den Verſuch dazu gemacht.
Ich darf Sie erinnern an die nordamerikaniſche Union im Jahre
1873, an die ſkandinaviſche Union (1872 — 1875), endlich an
Deutſchland, das ſeit 1873 den Beſchluß gefaßt hat, die Gold⸗
währung einzuführen und, man darf wohl ſagen, dieſen Beſchluß
auch zum großen Teile glücklich durchgeführt hat.
Wie der außerordentliche Goldzufluß ſeiner Zeit den Über⸗
gang zur Goldwährung in einer Reihe von Staaten mit ver⸗
anlaßt hat, ſo iſt die Wandlung in der Konjunktur der Edel⸗
metallproduktion — die darin beſteht, daß die Goldproduk⸗
tion in den 70er Jahren ab- und die Silberproduktion dagegen
zugenommen hat — zum Hemmnis für die vollſtändige Durch⸗
führung der Goldwährung geworden. Denn mag man über die
Intenſivität, mit der die verſchiedenen Urſachen auf die in
der letzten Zeit eingetretene Silberentwertung eingewirkt haben,
auch noch immer ſtreiten, ſo ſteht doch, wie ich glaube, ſoviel
feſt — und das wird in letzter Zeit ſelbſt von hervorragenden
Bimetalliſten zugegeben —, daß der entſcheidende Grund der
Silberentwertung in der außerordentlichen Zunahme der Silber⸗
produktion und in der ausnahmsweiſe in dem Jahrzehnte
1865-1875 eingetretenen Abnahme des Silberabfluſſes nach
Indien liegt. Zugleich muß man aber wohl zugeben, daß
dieſe tiefere Urſache ſich erſt geltend gemacht hat infolge eines
f 6 — n . Pr
Fur Währungsfrage. 233
äußeren Anſtoßes und daß dieſer äußere Anſtoß durch den
Verkauf der demonetiſierten Silbermünzen ſeitens des Deutſchen
Reiches gegeben war. Aber auch dieſer Anſtoß hat wiederum
ſo, wie er gewirkt hat, nur wirken können, weil infolge
desſelben die Staaten der lateiniſchen Münzunion zuerſt im
Jahre 1874 die Prägung ihrer Silbercourantmünzen kontin—
gentiert und dann 1876 bezw. 1878 vollſtändig eingeſtellt
haben. Erſt nachdem dieſer Währungs- und Prägemechanis—
mus, wonach immer 15 ¼ Gewichtsteile Silber in Münz—
form umgewandelt werden konnten in einen Gewichtsteil
Gold, zu funktionieren aufgehört hatte, iſt jenes koloſſale
Sinken des Silberpreiſes permanent geworden. Ich darf, um
dieſes Sinken kurz zu charakteriſieren, erwähnen, daß gegen—
über dem früher normalen Stande des Silberpreiſes von
60—61 Pence pro Unze Standardſilber (Wertverhältnis des
Silbers zum Golde = 1: 15 ½ ) der im Juli 1876 erreichte
Preis von 463¾ Pence bereits einige Zeit anhält und in
der letzten Zeit noch unter das Preisminimum von 1876 herab—
gegangen iſt.
Durch dieſes Sinken der Silberpreiſe ſind nun eine Reihe
von Mißſtänden entſprungen, und dieſe Mißſtände haben dazu ge—
führt, daß neben der Einſtellung der Silberprägung in den Staaten
der lateiniſchen Münzunion das Deutſche Reich im Jahre 1879
ſeine Silberverkäufe, die Verkäufe ſeiner noch reſtierenden Silber—
thaler und der in ſeinem Beſitz befindlichen Silberbarren, ein—
geſtellt hat und daß 1878 infolge der Bland-Aliſon-Bill in Nord⸗
amerika die Aufnahme von Silberprägungen zu einem beſchränkten
Betrage (zwiſchen 2—4 Millionen Dollars monatlich) beſchloſſen
und durchgeführt worden iſt. Dadurch iſt in einer Reihe von
Staaten ein Währungszuſtand begründet worden, den man bisher
in der Münzgeſchichte nur ausnahmsweiſe gekannt hat, ein Zu—
ſtand, den man als den der hinkenden Währung bezeichnet. Der—
ſelbe beſteht darin, daß das Gold die eigentliche Valuta bildet,
alſo in unbeſchränktem Maße frei ausgeprägt werden kann, daß
234 Fur Währungsfrage.
nebenbei aber auch Silbercourantmünzen, aljo Münzen mit
unbeſchränkter und abſoluter Zahlungskraft, wenngleich nur in
beſchränkter Quantität kurſieren. Von dieſen ſilbernen Courant
münzen beſitzen nun die verſchiedenen Staaten einen jehr un
gleichen Betrag und leiden ſomit unter dieſem Ausnahmezuſtande
in einem verſchiedenen Grade. Nach der neueſten Annahme be⸗
ſitzen die Staaten der lateiniſchen Münzunion ſilberne Fünf⸗
frankſtücke im Betrage von etwa 3000 — 4000 Millionen
Franken. In Amerika ſind ſeit 1878 Silber-Dollars für einen
Betrag von über 925 Millionen Mark dem Verkehr übergeben
worden.
Am günſtigſten, und zwar ſehr weſentlich günſtiger als die
Staaten der lateiniſchen Münzunion, befindet ſich das Deutſche
Reich, indem es nur etwa 450 Millionen Mark in Thalern in
Cirkulation hat.
Ich gehe noch ſpecieller auf die Lage der Währung in
Deutſchland ein und werde mich dabei auf den nationalen
Standpunkt ſtellen. Ich glaube mich dabei in Übereinſtimmung
mit Ihnen zu befinden, die Sie ja dieſen Standpunkt immer
zum Ausgangspunkt Ihrer Erörterungen und Beſchlüſſe machen
und noch im vorigen Jahre in der Schutzzollfrage ſo ſcharf
und entſchieden betont haben. Ich frage mich: was haben
wir ſeit 1873 gewonnen und was haben wir verloren? und
wie ſtellt ſich die Bilanz zwiſchen Gewinn und Verluſt?
Wir haben gewonnen eine Valuta, nach der alle reich ge-
wordenen oder wenigſtens reich werdenden, im internationalen
Handelsverkehr eine gewiſſe Rolle ſpielenden Nationen ſtreben;
wir haben gewonnen eine Valuta, die auf der gleichen Baſis
ſteht wie die Valuta Englands, und ich möchte bei dieſer Ge⸗
legenheit beſonders betonen, daß es uns gelungen iſt, mittelſt
dieſer Valuta diejenigen großen Fortſchritte im internationalen
Verkehr zu machen, die wir in den letzten 15 Jahren gemacht
haben, und zwar iſt das ſo zu erklären. England umſpannt die
internationalen Handelsbeziehungen gleichſam mit einem feſten
Fur Währungsfrage. 235
Bande, und dieſes Band wird durch ſeine Valuta nicht unweſentlich
befeſtigt. Wenn wir nun ebenfalls in dieſen Zauberkreis eingetreten
ſind, ſo konnte das nur geſchehen an der Seite von England. Bei
dieſem Vorgange hat uns die mit England gemeinſame Valuta
unſchätzbare Dienſte geleiſtet, und wir würden, wenn wir dieſelbe
preisgeben wollten, ſofort einen Teil unſerer Stellung opfern.
Wir haben ferner eine Valuta gewonnen, die viel ſtabiler iſt als
die Doppelwährung, Silberwährung oder Papierwährung; eine
Valuta endlich, die es den Kapitaliſten des In- und Auslandes
außerordentlich wünſchenswert macht, ihr Kapital in unſeren Fonds
anzulegen.
Dieſen Vorteilen ſtehen nun allerdings manche Opfer gegen⸗
über, mit denen wir dieſen Fortſchritt erkauft haben. Wir
haben einmal eine nicht geringe Summe ausgegeben — ich ſpreche
nicht von derjenigen Summe, die notwendig geweſen iſt, um das
nötige Gold anzuſchaffen und Goldmünzen auszuprägen —, um
unſer Silber zu veräußern, ſie macht nach meiner Schätzung etwa
64—65 Millionen Mark aus; auch haben wir trotz dieſes Opfers
es noch nicht zu jener Solidität der Valuta gebracht, die für
uns wünſchenswert wäre. Denn wir haben neben etwa 16—17
Hundert Millionen in Goldmünzen noch immer an 450 Millionen
Mark in Thalern, die im Augenblicke ca. 23 Prozent unter⸗
wertig ſind, in Cirkulation; es kurſieren im Betrage von ca.
330 Millionen ſilberne Scheidemünzen, die ca. 33 Prozent
unterwertig find; wir haben endlich Reichskaſſenſcheine im Be-
trage vom ca. 130 —140 Millionen Mark.
Das iſt ein Stand des Geldweſens, der nicht als der
wünſchenswerteſte bezeichnet werden kann, obgleich er auch
nicht ſo ſchlecht iſt, wie er häufig gemacht wird. Unſer Geld⸗
weſen iſt im großen und ganzen gut; es iſt nur die Gefahr
vorhanden, daß im Falle eines Krieges oder ſonſtiger Unglücks—
fälle Ungelegenheiten entſtehen können. Alſo indem ich zuge—
ſtehe, daß Mängel vorliegen, möchte ich doch wünſchen, daß
man dieſelben nicht übertreibe. Ferner gebe ich zu, daß
236 Sur Währungsfrage.
in außerordentlichen Zeiten, namentlich im Falle von Kriegen oder
inneren Unruhen, das bekannte ſignifikante Wort des Herrn
Reichskanzlers von dem Zerren der Banken an der Golddecke
Platz greifen kann. a
Auch unſer Ausfuhrhandel nach Oſtaſien leidet empfindlich
unter der Silberentwertung, weil die Warenpreiſe in Silber
dort nicht ſofort entſprechend der Wertverminderung des Silbers
ſteigen; und umgekehrt wird die Einfuhr indiſcher Produkte nach
Europa während der Periode der fortſchreitenden Entwertung
des Silbers künſtlich geſteigert, was den Druck, unter dem die
europäiſche Landwirtſchaft ſteht, erheblich verſtärkt. Und endlich
hat Deutſchland als Silberproduktionsland an der Entwertung
des Silbers ein unmittelbares Intereſſe, da es durch dieſelbe
ebenfalls geſchädigt wird.
Solche Thatſachen waren es, die dahin führten, daß an
Stelle des von einem Teil der Monometalliſten ins Auge ge⸗
faßten Ideals, wonach alle Kulturſtaaten zur Goldwährung
überzugehen hätten, ein bimetalliſtiſches Weltprogramm aufgeſtellt
wurde, das Programm einer bimetalliſtiſchen Weltunion, zu
der gleichfalls alle Kulturſtaaten gehören ſollen. Dieſes Pro⸗
gramm war zunächſt ein theoretiſches, indem eine Anzahl her⸗
vorragender Theoretiker ſich davon überzeugte, daß die frühere
monometalliſtiſche Theorie manche Lücken und Einſeitigkeiten ent⸗
halte. Aber auch die Bimetalliſten haben, indem ſie auf die
eine Einſeitigkeit aufmerkſam machten, es nicht immer ver⸗
mieden, in andere Einſeitigkeiten zu verfallen.
Während man z. B. früher auf die naturgeſetzlichen Vorgänge
im Geldweſen zu viel Gewicht legte und meinte, daß der Staat
gegenüber denſelben nichts ausrichten könne, iſt man ſeitdem viel⸗
fach in das entgegengeſetzte Extrem verfallen, indem man ſich nun
den Staat im Münz- und Währungsweſen als omnipotent denkt.
Das iſt ebenfalls unrichtig, indem es gewiſſe Schranken giebt,
die der Staat anerkennen muß, wenn er mit ſeiner Münzpolitik
nicht Fiasko machen will.
e
Zur Währungsfrage. 237
An dieſen Umſchwung in der Theorie hat ſodann die
bimetalliſtiſche Agitation angeknüpft. In Frankreich vertrat in
den ſechziger Jahren — alſo bereits vor dieſem Umſchwunge —
der bekannte Senator Wolowski, allein inmitten der Mono-
metalliſten, die nationale Doppelwährung. Ihm hat ſich
ſpäter der in Frankreich nationaliſierte Italiener Cernuschi
angeſchloſſen, indem er die Doppelwährung in dem Sinne
vertrat, daß ſie ausgedehnt werden müſſe auf eine Reihe von
Staaten. Dieſem beredten aber überſchwänglichen Manne iſt
es gelungen, für ſeine Anſichten in anderen Ländern, in Frank—
reich, Belgien, vorzugsweiſe aber in Nordamerika und Deutſch—
land, eine Reihe von ſehr talentvollen, außerordentlich rührigen
und ſcharfſinnigen Adepten zu gewinnen. Dieſe Herren haben es
nun darauf abgeſehen, Stimmung zu machen für ihre Anſichten in
den Miniſterien, Banken, Parlamenten, ja ſchließlich bei uns
in Deutſchland auch in weiteren Volkskreiſen u. ſ. w.
Die Art und Weiſe, wie ſie argumentieren, iſt folgende. Sie
ſagen: wenn es Frankreich während faſt eines Jahrhunderts, von
1785 bis 1874, und der lateiniſchen Münzunion während eines
Jahrzehnts, von 1865 bis 1874, gelungen iſt, das geſetzlich feſt—
geſtellte Wertverhältnis zwiſchen Silber und Gold von 1:15 /
maßgebend zu machen auch für das faktiſche Wertverhältnis dieſer
beiden Metalle auf dem Markt, indem die Abweichungen des letz—
teren von dem erſteren nie ſehr bedeutend waren, ſo würde dieſes
Reſultat ſich in Zukunft noch ſicherer erreichen laſſen von einem
großen Weltbunde, dem die wichtigſten Kulturſtaaten beitreten.
Es wird ferner geſagt: Durch einen ſolchen bimetalliſtiſchen
Münzbund werde der befürchteten Goldknappheit geſteuert werden;
durch denſelben werde das Silber, das ja ſeinen früheren Preis
angeblich lediglich infolge ſeiner Demonetiſierung verloren hat,
dieſen Preis wieder erhalten; dadurch aber werden alle Silber
produzierenden Länder geſchützt werden vor weiteren Verluſten oder
wenigſtens vor einem lucrum cessans, und es werde endlich dem
Deutſchen Reiche dadurch die Möglichkeit gegeben, ſeine Währungs—
238 Fur Währungsfrage.
verhältniſſe definitiv zu regeln, ohne weitere große Verluſte zu
erleiden.
Dieſe Agitation muß ja nun, wie das in der Natur jeder
Agitation liegt, mit ihren Beſtrebungen zum Siege zu gelangen
und zu dieſem Zweck die öffentliche Meinung für ſich zu gewinnen
ſuchen. Da ſie aber die Wahrnehmung gemacht hat, daß ſehr
große Kreiſe unſeres Volkes — es gehören dazu die kapital⸗
beſitzenden Klaſſen, die Handeltreibenden, die Beamten und
Penſionäre und die Arbeiter — für ihre Beſtrebungen unem⸗
pfänglich ſind, daß es ihnen gleichſam, wenn ich mich ſo aus⸗
drücken darf, an dem ſechſten, bimetalliſtiſchen Sinne fehlt,
ſo hat ſie ſich an die Induſtriellen und Landwirte als ihren
letzten Rettungsanker gewendet. Hier, namentlich innerhalb der
landwirtſchaftlichen Kreiſe, hat die Agitation auch wirklich einigen.
Anklang gefunden. Es erklärt ſich das ſehr leicht. Wenn man
in Not iſt — und die Landwirtſchaft befindet ſich in einer ge⸗
drückten Lage —, ſo iſt man empfänglich für alles, was einem
auch nur die entfernteſte Ausſicht auf Beſſerung dieſer Lage ver⸗
ſpricht. Man befindet ſich in einer eigentümlichen pſychologiſchen
Verfaſſung, indem man jeden Strohhalm ergreift, ſelbſt wenn
man ſich von vornherein ſagen muß, daß dabei nicht viel heraus⸗
kommen kann. Mir war die Bemerkung eines verehrten Kollegen
aus unſerer Mitte, die er mir geſtern gemacht hat, intereſſant,
er ſagte: Wir ſind eigentlich Freihändler, aber angeſichts der Not
ſind wir für den Schutzzoll geweſen, und nachdem wir den
Schutzzoll nun in zwei Etappen durchgeſetzt haben, unterſchreiben
wir alles, was uns zum Zweck der Linderung unſeres Notſtandes
geboten wird.
Dieſen Kreiſen gegenüber hat die bimetalliſtiſche Agitation
ſich neuer Argumente bedient, die früher entweder gar nicht oder
wenigſtens nicht ſo ſtark betont worden ſind. Es wird geſagt:
durch den Übergang zur Goldwährung ſeitens einer Reihe von
Staaten und infolge der Abnahme der Goldproduktion habe ſich
Goldknappheit eingeſtellt; dieſe habe wieder Geldknappheit erzeugt
und den Geldwert geſteigert; der hohe Geldwert bedeute aber
Sur Währungsfrage. 239
niedrige Preiſe und dieſe wieder, wenn längere Zeit andauernd,
führen zu Kriſen: deswegen ſei die Einführung der Goldwährung
die Haupturſache der gegenwärtigen landwirtſchaftlichen Kriſis.
Zugleich hat die Agitation, die ja außerordentlich erfinderiſch
iſt in der Beibringung von Argumenten, die ſie unterſtützen können,
— was natürlich nur ein Lob für ſie iſt — in letzter Zeit noch auf
folgenden Punkt aufmerkſam gemacht. Sie hat darauf aufmerkſam
gemacht, daß eine Reihe von Staaten infolge der ſchlechten Valuta
einen ungünſtigen Wechſelkurs beſitzen. Der ungünſtige Wechſel—
kurs aber enthalte für dieſe Staaten gleichſam verſchleiert einen
Schutzzoll und eine Exportprämie. Dieſe Staaten — Indien, Ruß—
land, Oſterreich⸗-Ungarn — ſeien infolgedeſſen in der Lage, ihr
Getreide unter für ſie günſtigeren Verhältniſſen auf den europäiſchen
Markt zu werfen, als ſie ſonſt zu thun im ſtande wären. Sie
vermehren alſo das Angebot auf dem Weltmarkt und ſchaden uns.
An dieſe Wendung in der Argumentation hat ſich neuer—
dings auch eine Wendung in der ganzen Richtung, die die
Agitation genommen hat, angeſchloſſen. Früher war immer
nur die Rede von einem Weltbunde mit England. Noch auf
dem mit großem Pomp aber ſehr geringem Erfolge in Scene
geſetzten bimetalliſtiſchen Kongreſſe von 1882 wurde ausdrücklich
betont: in einen ſolchen Bund ſoll Deutſchland nur eintreten mit
England. Ja, der Leiter der deutſchen Agitation hat noch in
einem Briefe vom Auguſt vorigen Jahres an den Engländer Gibbs
dieſen Standpunkt ebenſo warm wie beredt vertreten. In dieſem
vom 1. Auguſt 1884 datierten Briefe heißt es unter anderem:
— — „wir in Deutſchland find bemüht, nationale Wirtſchafts—
politik zu treiben, und es iſt nicht vom bimetalliſtiſchen, ſondern
lediglich vom nationalen Standpunkt aus, daß die deutſchen
Bimetalliſten in ihrer Mehrzahl von einer Doppelwährung ohne
England nichts wiſſen wollen. — — Wir können auch eine nur
momentane Inferiorität unſerer Valuta unter der engliſchen nicht
dulden und wollen nicht, daß England das Monopol der Gold—
valuta erwirbt und damit ein wenn auch nur vorübergehendes
Anſehen auf dem Weltmarkt gewinnt.“
240 Fur Währungsfrage.
Am Schluß des vorvorigen Jahres iſt nun in dieſer Stel⸗
lung der bimetalliſtiſchen Agitation in Deutſchland eine Wen⸗
dung eingetreten. Derſelbe Herr, der dieſen von nationaler Ge⸗
ſinnung getragenen Brief geſchrieben und der Preſſe übergeben
hat, hat jetzt die Loſung ausgegeben: Bimetalliſtiſche Union auch
ohne England.
Noch bis vor einem Jahre hatte die bimetalliſtiſche Agitation
mit beſonderer Vorliebe geltend gemacht, die Wiſſenſchaft ſtehe in
Deutſchland auf ihrer Seite. Seitdem die Agitation ſich im Herbſt
des vorigen Jahres von der bimetalliſtiſchen Theorie losgelöſt hat
— denn die Theoretiker ſtehen noch auf dem Standpunkt, daß eine
Union für Deutſchland nur wünſchenswert ſei mit England —,
hat ſie das Recht verwirkt, ſich auf die Wiſſenſchaft zu berufen.
In unbedingter Weiſe hat ſie dieſes Recht freilich auch früher
nicht gehabt; denn wenn fie ſich auf einige hervorragende Theo⸗
retiker des Geldweſens, wie Wagner, Schäffle und Lexis,
berufen konnte, ſo haben auf der anderen Seite eine Anzahl
zum mindeſten eben ſo tüchtiger Kenner des Münzweſens — ich
nenne nur die Namen Roſchers, Naſſes, Knies' und
Soetbeers — mit Entſchiedenheit den entgegengeſetzten Stand⸗
punkt vertreten und bis heute an demſelben feſtgehalten. Das
ſei übrigens nur in Parentheſe geſagt. Es iſt das für unſere
Frage gerade nicht ausſchlaggebend, ich hielt es aber doch für
notwendig, den Mißbrauch, der ſeitens der Agitation mit der
Wiſſenſchaft getrieben wird, einmal zur Sprache zu bringen.
Ich wende mich nunmehr zu einer Beurteilung des Pro⸗
gramms der Bimetalliſten und ſpeciell der bimetalliſtiſchen Agi⸗
tation in ihrem gegenwärtigen Stadium, in dem ſie das Ein⸗
treten Deutſchlands für die Begründung eines bimetalliſtiſchen
Bundes auch ohne England verlangen. Ich muß dieſen Stand⸗
punkt um ſo mehr ins Auge faſſen, als er ja auch in dem An⸗
trage des Referenten ſeinen Ausdruck findet, nämlich in dem
zweiten Punkt des Antrages, wonach ein ſolcher Bund ſeitens
Deutſchlands eventuell auch ohne England anzuſtreben ſei.
Was wird nun von einem ſolchen Bunde erwartet? Zu⸗
1
8 9
Sur Währungsfrage. 241
nächſt, daß das von ihm geſetzlich feſtgeſtellte Wertverhältnis auf
die Dauer auch faktiſch aufrechterhalten werde. Ein hervor—
ragender Bimetalliſt hat gerade in letzter Zeit mit beſonderem
Nachdruck darauf aufmerkſam gemacht, daß dieſe erhoffte Wir—
kung wohl eintreten könne, aber durchaus nicht mit Sicherheit
einzutreten brauche, ja daß eine große Wahrſcheinlichkeit dafür
beſtehe, daß Gold und Silber ſich in dieſem geſetzlichen Wert—
verhältnis nicht im Verkehr werde erhalten laſſen, und zwar
deshalb, weil England nach wie vor eine große Nachfrage nach
Gold repräſentieren wird und weil nach wie vor das Sinnen
und Trachten des Verkehrs, des Luxusbedarfs und der Induſtrie
auf das Gold gerichtet ſein wird.
So kann es denn außerordentlich leicht kommen, daß das
Gold auch in einer ſolchen ohne England zu begründenden Union
ein Agio erhält.
Bei dieſer Gelegenheit geſtatten Sie mir wohl, mit einigen
Worten der Erfahrungen zu erwähnen, die ich bisher uur flüchtig
berührt habe. Es iſt richtig, daß in Frankreich während einer
längeren Periode das geſetzliche Wertverhältnis im großen und
ganzen mit dem faktiſchen Wertverhältnis der beiden Metalle
übereingeſtimmt hat. Das hat aber nicht verhindert, daß innerhalb
dieſer Periode bald das eine, bald das andere Metall zum größten
Teil ausgewandert iſt, ſo daß von 1830 bis 1848 Frankreich
hauptſächlich Silbermünzen im Verkehr hatte, indem das Gold
ausgewandert war, und ſeit jener Zeit bis zum Anfang der
ſiebenziger Jahre wieder faſt nur Goldmünzen, indem das Silber
ausgewandert war. Es beſtand daher, wie man ſagt, dort die
alternative Währung.
Auch darf daran erinnert werden, daß in den zwanziger
und dreißiger Jahren in Frankreich für Goldmünzen ein Agio
im Betrage von 1¼ bis 2 Prozent gezahlt wurde; nur gegen
ein ſolches Agio war damals Gold zu haben.
Wenn ferner angeführt wird, dieſe Mängel würden in einer
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 16
242 Sur Währungsfrage.
Währungsunion vermieden werden, ſo will ich mir jetzt erlauben,
auf dieſen Gegenſtand mit einigen Worten näher einzugehen.
Die Erfahrungen, die mit Münz- und Währungsbünden
bisher gemacht worden ſind, geben uns keinerlei Hoffnung,
daß dieſelben in Zukunft längere Zeit aufrechtzuerhalten ſein
werden. In dieſer Beziehung iſt gerade die Erfahrung, die man
mit der lateiniſchen Münzunion gemacht hat, außerordentlich
lehrreich. Wir haben uns zu vergegenwärtigen, daß dieſer Münz⸗
bund in Wirkſamkeit trat unter den denkbar günſtigſten Verhält⸗
niſſen, wie ſie ſich vielleicht niemals wiederholen werden. Dieſer
Münzbund wurde protegiert von dem damals mächtigſten Manne
Europas und der Welt, von dem Kaiſer Napoleon III. Es traten
zu dem Bunde Staaten zuſammen, die nicht von gleicher oder
ähnlicher Machtſtellung waren, deren Intereſſen nicht weſentlich
kollidierten, zwiſchen denen keine Kriege bevorſtanden oder auch
nur möglich waren, Staaten, die ihren Schwerpunkt in Frank⸗
reich hatten, die gleichſam wie die Satelliten um den Planeten
ſich um Frankreich gruppierten. Und was iſt die Folge geweſen?
Daß dieſer Bund ſein 25 jähriges Beſtehen kaum erleben und
feiern wird. Was iſt geſchehen? was bedeutet dieſe letzte Ver⸗
ſammlung vom Herbſt und Winter vorigen Jahres? Nicht etwa
eine Erneuerung dieſes Bundes auf ſolider Baſis, ſondern im
weſentlichen eine Vereinbarung über die Art und Weiſe, wie
die einzelnen Staaten bei Auflöſung der Münzunion miteinander
liquidieren ſollen, wobei jeder ſich eine ſolche Situation zu
ſchaffen geſucht hat, daß er mit möglichſt wenig Schaden aus
der Union herauskommt. Und was iſt ferner auf dieſer letzten
Konferenz noch beſonders anerkannt worden? Es iſt anerkannt
worden, daß die ſilbernen Fünffrankſtücke im Verkehr von Staat
zu Staat keine größere Bedeutung haben ſollen, als die Scheide⸗
münzen ſie im Innern haben, ſo daß im Verkehr von Staat
zu Staat trotz des Beſtehens der Union eigentlich bereits gegen⸗
wärtig die Goldwährung beſteht.
Ich frage nun weiter: welche Folgen werden ſonſt noch ein⸗
no an
Sur Währungsfrage. 243
treten, wenn es gelingen jollte, die geplante Währungsunion
eine Zeit lang in Kraft zu erhalten? Es wird geſagt, die Gold—
knappheit werde aufhören. Ich habe bereits oben angedeutet,
daß die Verwirklichung dieſer Annahme durchaus nicht ſicher
geſtellt iſt. Es ſcheint mir aber auch fraglich, ob die Silber—
preiſe in der Union wirklich in dem Grade ſteigen werden,
wie es angenommen wird. Die bimetalliſtiſche Agitation be—
hauptet ja zum Teil noch heute, daß es möglich ſein werde, das
frühere Wertverhältnis von 1: 15½ wieder herzuſtellen; die
bimetalliſtiſche Theorie beſtreitet es aber. Sie giebt nur zu, daß
es möglich ſein werde, das gegenwärtig faktiſch beſtehende Ver—
hältnis von 1: 20 auf die Dauer zu erhalten, und auch das
nur unter der Vorausſetzung, daß die Produktionsverhältniſſe
des Goldes und Silbers in Zukunft ſich weſentlich in derſelben
Richtung bewegen wie in der Vergangenheit, und ferner unter
der Vorausſetzung, daß der Induſtrie- und Luxusbedarf an
Gold nicht zunimmt. Immerhin wird zugegeben werden können,
daß eine ſolche Union in der Lage ſein würde, das weitere
Sinken des Silberpreiſes zu verhindern.
Wenn das der Fall iſt, ſo frage ich weiter: welcher Folgen
wird der Währungsbund im übrigen für die Volkswirtſchaft haben?
Es darf nicht bezweifelt werden, daß das Geld ſich infolge der
einzuführenden Doppelwährung vermehren wird. Schon zweifel—
hafter iſt es jedoch, ob es auch gelingen wird, dieſes Plus an Geld
auf die Dauer in Cirkulation zu erhalten, oder ob es nicht viel—
| mehr in die Banken fließen und dort feitliegen wird. Die letzten
Erfahrungen, die Amerika gemacht hat, ſind in dieſer Beziehung
außerordentlich lehrreich und berechtigen uns zu ſolchen Zweifeln.
In Amerika iſt ja, wie Sie wiſſen, der frühere Goldbeſtand er—
halten und noch vermehrt worden durch neue Prägungen; außer—
dem beſteht noch ein Teil des früheren Staatspapiergeldes, und
hinzugekommen iſt ſeit 1878 die Ausprägung von Silberdollars
in dem nicht geringen Betrage von über 925 Millionen Mark.
Und was iſt die Folge? Die Silberdollars ſelbſt werden vom Ver—
16 *
244 Sur Währungsfrage.
kehr zurückgewieſen, und die Silbercertifikate, die anfangs willige
Abnehmer fanden, werden neuerdings ebenfalls von den Banken
zurückgewieſen.
Aber nehme ich für einen Augenblick an, daß es gelingen werde,
dieſes Mehr an Geld, das die bimetalliſtiſche Union zur Folge
haben wird, auch wirklich in Cirkulation zu erhalten, ſo fragt es
ſich weiter: wird dieſe vermehrte Geldcirkulation bei uns wirk⸗
lich höhere Warenpreiſe zur Folge haben? Die Herren Bimetalliſten
ſind meiſt nicht Anhänger der Quantitätstheorie sans phrase,
ſie nehmen alſo nicht an, daß in demſelben Grade, wie ſich das
Geld vermehrt, dasſelbe nun auch im Werte ſinken wird und
die Preiſe ſteigen müſſen, ſondern ſie argumentieren folgender⸗
maßen. Sie ſagen: dieſe vermehrte Geldmenge wird anregend
auf die Produktion wirken, ſie wird der ganzen Volkswirtſchaft
einen neuen Aufſchwung geben und wird dadurch indirekt die
Preiſe zum Steigen bringen. Indem man dies annimmt, ſtützt
man ſich auf Vorgänge in der Vergangenheit. Man ſagt, die
vermehrte Produktion der Edelmetalle, namentlich die vermehrte
Silberproduktion ſeit dem 16. Jahrhundert, habe einen koloſſalen
Aufſchwung der europäiſchen Volkswirtſchaft bewirkt und dasſelbe
Reſultat habe die Vermehrung des Goldes und des Geldes ſeit
dem Jahre 1848 und 1850 gehabt, indem ſeit jener Zeit ein
gar nicht zu leugnender mächtiger Aufſchwung der meiſten Volks⸗
wirtſchaften Europas ſtattgefunden habe. Daraus wird nun der
Schluß gezogen, daß, da dieſelben Urſachen immer dieſelben
Wirkungen haben, auch die bimetalliſtiſche Union mit ihrer Ver⸗
mehrung des Geldes an die Stelle der jetzigen Stagnation des
wirtſchaftlichen Lebens einen neuen Aufſchwung bringen werde.
Dieſem Schluß kann ich nicht ohne weiteres beitreten. Die⸗
ſelben Urſachen auf volkswirtſchaftlichem Gebiete haben nur dann
dieſelben Wirkungen, wenn ſie begleitet werden von denſelben
Nebenumſtänden. Dieſe Nebenumſtände waren aber in den 50 er
und 60 er Jahren vollſtändig andere als gegenwärtig.
Auf die Gefahr hin, etwas breit zu, werden, glaube ich
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8
Fur Währungsfrage. 245
doch auf dieſen Punkt näher eingehen zu ſollen, weil er bisher
nicht genügend berückſichtigt worden iſt. Wie ſtanden die Dinge im
Jahre 1850? Es waren eben politiſchen Stürme niedergeſchlagen
worden, alles war müde und ſehnte ſich nach Ruhe; Frankreich
hatte ein gouvernement fort erhalten; in Deutſchland war die
Loſung: „Ruhe iſt die erſte Bürgerpflicht“. Man wandte ſich
allgemein dem wirtſchaftlichen Leben zu und ſuchte in dem Er—
werb von Reichtum gleichſam einen Erſatz für die politiſchen
Enttäuſchungen. Ferner kamen damals die großen techniſchen Fort—
ſchritte auf dem Gebiete des Verkehrsweſens erſt ganz und voll
zur Geltung. Die Segelſchiffe wurden durch Dampfſchiffe erſetzt;
das dichte Eiſenbahnnetz, deſſen wir uns jetzt erfreuen, wurde
nach und nach ausgebaut; das Telegraphennetz verdichtete ſich
in ähnlicher Weiſe wie das Eiſenbahnnetz u. ſ. w. Auch die
großen Fortſchritte in der gewerblichen und wirtſchaftlichen Technik,
die bis dahin ausſchließlich oder wenigſtens vorzugsweiſe in
England Anwendung gefunden hatten, wurden jetzt auf die ganze
Kulturwelt ausgedehnt. Endlich — und darauf kann nicht genug
Gewicht gelegt werden — befand ſich Europa damals in einem
anderen Verhältnis zu den Edelmetalle produzierenden Ländern wie
jetzt. Dieſe Produktionsländer hatten noch keine Induſtrie, ſie
ſandten die gewonnenen Edelmetalle meiſt nach Europa, um ihre
feineren Bedürfniſſe zu befriedigen. Das wirkte außerordentlich
belebend auf die europäiſche Volkswirtſchaft und ſpeciell auf die
Induſtrie. Die Blüte der Induſtrie bedingte aber wieder die
Blüte der Landwirtſchaft, und jo entſtand jener allgemeine Auf—
ſchwung der ſechziger Jahre, der am Anfange der ſiebziger Jahre
noch eine ungeſunde Steigerung erhielt.
Und wie ſtehen wir heute? Das Bild iſt ein vollſtändig
anderes geworden. An Stelle einer Lethargie der Produktion,
wie fie am Schluß der 40er Jahre beſtand, ift eine Überſpannung,
eine Überreizung derſelben getreten. Es iſt daher gegenwärtig
wünſchenswert, daß nicht mehr, ſondern daß weniger produziert
werde. Denn es ſteht zu befürchten, daß der neue Anreiz, den
246 Sur Währungsfrage.
die Produktion von einer vermehrten Geldmenge empfangen würde,
leicht eine Steigerung der gegenwärtigen Kriſis hervorbringen
wird, gegen welche die Kriſis von 1873 gar nichts iſt. Auch
iſt zu berückſichtigen, daß die wirtſchaftlichen Konſequenzen aus
den Fortſchritten der Verkehrstechnik gezogen ſind und daß auf
dieſem Gebiete nur noch wenig zu thun übrigbleibt. Es können
wohl noch einige Vicinalbahnen gebaut werden u. ſ. w., aber
das Hauptnetz iſt fertiggeſtellt. Die Fortſchritte in der Gewerbe⸗
technik haben ebenfalls die größte Verbreitung gefunden. Ich
will nicht ſagen, daß nicht noch Fortſchritte auch in dieſer Be⸗
ziehung möglich ſind, immerhin wird die Entwickelung der Technik
in Zukunft wahrſcheinlich ein langſameres Tempo einſchlagen. Und
endlich iſt das Verhältnis Europas zu den Edelmetall-Produktions⸗
ländern zum Teil ein anderes geworden, als es früher war. Die
Edelmetall⸗Produktionsländer haben bei ſich zu Haufe mittlerweile
eigene Induſtriezweige etabliert und haben ſich mit Schutzzoll⸗
ſchranken umgeben; ſie üben alſo in der Gegenwart keine der⸗
artige Anregung auf die europäiſche Produktion mehr aus wie
in der Vergangenheit. Soweit ſie heute ihr Edelmetall nach
Europa ſchicken, thun ſie es zum Teil allerdings noch zum Zweck
der Bezahlung bezogener Waren, aber doch nicht mehr in dem
Maße wie früher, ſie thun es jetzt hauptſächlich, um ihre Schulden
zu verzinſen und zu bezahlen, ihre Eiſenbahnſchulden, ihre
Staatsſchulden u. ſ. w. Ein Herüberſtrömen von Silber nach
Europa zu dieſem letzteren Zweck vermag aber auf die Produktion
durchaus nicht ſo einzuwirken wie ein Herüberſtrömen zum aus⸗
ſchließlichen Zweck des Einkaufs von Waren.
Damit gelange ich zu dem Reſultat, daß unter den ver⸗
änderten Verhältniſſen die Vermehrung der Geldmenge wahr⸗
ſcheinlicher- oder doch möglicherweiſe einen ganz anderen Effekt
haben wird als früher.
Nun frage ich weiter, indem ich für einen Augenblick annehme,
daß eine Preisſteigerung der Waren eintreten werde, — ich ſtelle
mich alſo auf dieſen hypothetiſchen Standpunkt —: Wem wird
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Sur Währungsfrage. 247
3 fie nützen? Sie wird entſchieden denjenigen Klaſſen nützen, die
materielle Güter produzieren, alſo der Induſtrie, der Landwirt—
ſchaft. Sie wird ihnen aber nur eine Zeit lang nützen, nämlich
ſolange, als die Preiſe der zu ihrer Produktion erforderlichen
Faktoren ſich nicht auf dasſelbe Niveau geſtellt haben werden, wie
die Preiſe der Produkte ſelbſt. Dieſer Zeitpunkt muß ja jeden⸗
falls eintreten, und fraglich iſt nur, ob er früher oder ſpäter
eintreten wird. Dann aber wird es jedenfalls mit der Anregung
und Förderung der Landwirtſchaft und der Induſtrie durch die
veränderte Währung ein Ende haben.
Doch muß zugleich auch in Betracht gezogen werden —
und ich glaube, daß das nicht gering angeſchlagen werden darf
—, daß dieſen Vorteilen der einen Klaſſe oder der zwei Klaſſen
große Nachteile einer ganzen Reihe von anderen Klaſſen gegen-
überſtehen. In demſelben Grade wie Induſtrie und Landwirt—
ſchaft gewinnen, würden die Kapital beſitzenden und die Handel
treibenden Klaſſen u. ſ. w. verlieren. Zu dieſer Klaſſe der
Kapitaliſten gehören nun keineswegs ausſchließlich oder auch
nur vorwiegend, wie häufig gejagt wird, die couponabjchneiden-
den Schmarotzer und Praſſer, ſondern es gehören dazu auch jene
Millionen von emſigen und ſparſamen mittleren und kleinen
Exiſtenzen, die „heute“ eine kleine Summe erſpart haben, um
„morgen“ eine etwas behaglichere Exiſtenz zu führen. Es gehören
dazu jene Hunderttauſende von Witwen und Waiſen, die in dem
kleinen Erbe, das ſie beſitzen, die einzige Baſis für ihre Exiſtenz
haben. Es gehören dahin Penſionäre, Gemeinde-, Privat,
Staatsbeamte; und endlich — worauf ich den allergrößten Wert
lege — die Arbeiter.
Nun können Sie ſagen und werden Sie mit Recht ſagen,
daß dieſe Dinge für die Beamten und die Arbeiter ſich im Laufe
der Zeit ausgleichen müßten, indem in demſelben Grade, wie
der Sachwert des Geldes ſinke, die Gehälter und die Löhne
ſteigen müßten. Das iſt ganz richtig, aber bedenken Sie nur,
um welchen Preis, mit welchen Opfern dieſe Steigerung erkauft
248 Fur Währungsfrage.
ift. Denn wenn es auch der Landwirtſchaft und Induſtrie beſſer
geht, ſie wird nicht ohne weiteres höhere Löhne zahlen, ſie ge⸗
winnt damit nur die Möglichkeit, es zu thun. Die effektiv
höheren Löhne müſſen ihr vielmehr erſt abgerungen werden, und
dieſes Ringen wird mit großen Arbeiterbewegungen verbunden
ſein, mit Arbeiterbewegungen, die nur ins Leben treten infolge
von Leiden und Not. Dieſe Leiden und die Folgen, die ſich an
die Leiden des arbeitenden Volkes knüpfen, ſind nicht etwa von
mir aus abſtrakten Vorderſätzen deduziert, ſondern ſie werden
bereits gegenwärtig von den arbeitenden Klaſſen vorausgefühlt.
Denn nicht etwa, weil dieſe Klaſſe à la baisse ſpekuliert, wie
der Herr Referent geſagt hat, ſondern weil ſie das Vorgefühl
dieſer kommenden Dinge hat, deshalb nimmt ſie eine negative
Stellung zu den Experimenten, die Goldwährung zu bejeitigen
oder an unſerer gegenwärtigen Valuta zu rütteln, ein.
Ich habe bisher lediglich gegen die bimetalliſtiſche Union
ohne England geſprochen und will nunmehr mit einigen Worten
auf die Eventualität einer ſolchen Union mit England ein⸗
gehen. Ich darf in dieſer Beziehung kurz ſein, weil dieſer Fall
meiner Überzeugung nach in abſehbarer Zeit nicht eintreten
wird und zwar nicht eintreten wird auf Grund von Erfahrungen,
die die bimetalliſtiſche Agitation bisher in England gemacht hat.
Wenn einer der verehrten Herren nach England hinübergereiſt
iſt und mit einem Bimetalliſten dort geſprochen hat und dann
ſagt: ja, in der nächſten Zeit wird ſich auch in England die
allgemeine Meinung dem Bimetallismus zuwenden, ſo hat ein
ſolcher Ausſpruch doch, ſo ſehr ich auch die Anſichten dieſes
Herrn ſonſt ſchätze, außerordentlich wenig Bedeutung; er ſteht auf
der gleichen Höhe wie ſ. Z. das Urteil des früheren amerikani⸗
ſchen Geſandten in Berlin, der durch ſeinen Verkehr mit einigen
Herren der Fortſchrittspartei die Überzeugung gewonnen hatte,
daß ganz Deutſchland freihändleriſch geſinnt ſei und daß es nur
der böſe Reichskanzler ſei, der dieſe wahre Geſinnung des deut⸗
ſchen Volkes nicht zum Ausdruck kommen laſſe.
Man kann mir nun aber entgegnen: Deine Anſicht iſt auch
*
Fur Währungsfrage. 249
Ag nicht mehr wert wie die jenes eben angeführten Herrn. Das
iſt ja an ſich richtig, aber für meine Anſicht erlaube ich mir,
mich auf einen hervorragenden Bimetalliſten in England, Herrn
Gibbs, zu beziehen. Herr Gibbs ſpricht ſich in einem an
Herrn Dr. Arendt gerichteten Briefe vom 5. Juni 1884 fol-
gendermaßen aus:
„Ich habe überreichlich Gelegenheit gehabt zu er—
fahren, ſowohl was unſere Staatsmänner über den
Gegenſtand der Doppelwährung denken, als was das
vorherrſchende Gefühl in England iſt, und ich bin ſicher,
daß, zumeiſt aus Unkenntnis, aber in einigen Fällen
aus ehrlicher und mißleiteter Überzeugung, meine Lands—
leute im allgemeinen, in vollem Ernſte, der Einführung
der Doppelwährung abgeneigt ſind.“
Nun wird geſagt, dem deutſchen Reichskanzler, der es in
ſehr geſchickter Weiſe verſtanden hat, die engliſche Regierung zum
Nachgeben in der Kolonialfrage zu bewegen, werde es auch ge—
lingen, England zum Eintritt in einen ſolchen Bund zu beſtimmen.
Ich halte dieſen Schluß für unrichtig und möchte mir erlauben,
auf die ganz verſchiedene Natur dieſer beiden Dinge hinzuweiſen.
Als Deutſchland das Gebiet der Kolonialpolitik betrat, zog es
einfach aus ſeiner Machtſtellung in Europa die Konſequenz für
ſeine Weltbeziehungen. England hatte damals nur zu dulden,
daß dieſes geſchah, hatte ſich nur des Handelns zu enthalten.
Ein Beitritt Englands zum Währungsbunde würde aber von
England ein Thun verlangen auf dem Gebiete der inneren
Politik, auf dem jeder Staat aufs eiferſüchtigſte ſeine Auto—
nomie wahrt. 8
Ich glaube deshalb, daß auf einen Erfolg gar nicht zu rechnen
iſt, und bin feſt überzeugt, daß der Herr Reichskanzler einen
Schritt in dieſer Richtung nicht thun wird, weil er es nicht gewohnt
iſt, Anregungen zu geben, die keinen Erfolg haben. Und weil ich
dieſen Glauben habe, ſo finde ich es nicht entſprechend dem Anſehen
und der Würde dieſer Verſammlung, die doch nicht irgend ein
Bauernverein, ſondern die höchſte Repräſentation der deutſchen
Ba
250 Sur Währungsfrage.
Landwirtſchaft iſt, etwas zu verlangen, was nur ein Schlag
ins Waſſer wäre.
Ich komme jetzt ſchließlich auf den Punkt 1 des Antrags des
Herrn Referenten zu ſprechen. Dieſer Antrag iſt mir ſeinem mate⸗
riellen Inhalt nach ſympathiſch, und ich habe im weſentlichen ein
ähnliches Poſtulat in meinen Antrag aufgenommen. Nur wider⸗
ſtrebt es mir, zu verlangen, daß die verbündeten deutſchen Re⸗
gierungen die Anregung dazu geben ſollen, daß andere Staaten
einen Bund ſchließen. Ich halte es nämlich nicht für thunlich,
daß eine Regierung, die ſelbſt nicht gewillt iſt einem ſolchen
Bund beizutreten — und das jagt ja der erſte Antrag —, eine
andere Regierung veranlaſſe, etwas zu thun, was auch ihr Vor⸗
teil bringt, was ſie aber ſelbſt nicht thun will, indem ſie ſich nur
darauf beſchränkt, gewiſſe Garantieen zu bieten. Dieſe Garantieen
möchte auch ich geboten ſehen, nur wünſchte ich zugleich abzuwarten,
bis diejenigen Staaten, die unter dem gegenwärtigen niedrigen
Preisſtande des Silbers in viel höherem Grade leiden als wir, bereit
ſind, einen ſolchen Bund zu gründen. Dadurch würde vermieden,
daß, wenn die Deutſche Regierung eine ſolche Anregung giebt,
man ihr den Vorwurf macht: warum machſt du die Sache nicht
ſelbſt? du hältſt ſie für ſo prekär, daß du es nicht thuſt, und
muteſt es uns zu! — In Bezug hierauf muß auf die gegenwärtige
Situation mit einigen Worten eingegangen werden.
Die Staaten der lateiniſchen Münzunion ſehen auf Deutſch⸗
land und warten ab, welche Maßregeln Deutſchland ergreifen
wird. Setzen wird dieſe Staaten matt, indem wir ihnen gegenüber
das gleiche Verfahren einſchlagen! Sie ſind die am meiſten
Leidenden und müſſen deshalb den erſten Schritt thun. Warten
wir dies alſo ab! Das Abwarten halte ich auch deshalb für
zweckmäßig, weil derjenige, der eine beſtimmte Angelegenheit an⸗
regt, jedenfalls größere Konzeſſionen machen muß als derjenige,
der die Anregung von außen abwartet. Wenn ich nicht irre,
iſt dieſer Geſichtspunkt auch von dem Herrn Reichskanzler in einer
Sitzung des Reichstags zur Geltung gebracht worden.
Hieran anknüpfend bemerke ich nur noch, daß ich den größten
48 Pe.
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Fur Währungsfrage. 251
IE Wert darauf lege, daß die von uns ſeit 1873 errungene
günſtige Währungspoſition nicht leichtfertig preisgegeben, ſondern
daß an derſelben feſtgehalten werde, weil ich die Befürchtung
hege, daß das Hinzutreten zu einem ſolchen Bunde uns im
Falle eines Krieges in unſerer monetären Potenz bedeutend
ſchlechter ſtellen würde, als wir gegenwärtig ſtehen.
Und nun gelange ich zum Schluß. Ich thue dies mit dem
Ausdruck des Bedauerns darüber, daß ich mich in dieſer hoch—
wichtigen Frage von einer Anzahl verehrter Kollegen trennen
muß, mit denen ich in den letzten Jahren im Landesökonomie⸗
kollegium Hand in Hand gegangen bin, um gegenüber den viel-
fach falſchen Anſichten die gegenwärtige kritiſche Lage der Land—
wirtſchaft klar zu ſtellen. Auch heute, und heute mehr als je,
erkenne ich dieſe ſchwierige Lage voll und ganz an.
Fordern Sie daher vom Staate, was er Ihnen nur immer
gewähren kann, fordern Sie aber nur, was Ihnen wirklich hilft
ohne zugleich andere große Klaſſen zu ſchädigen; fordern Sie
namentlich aber nicht, was dem Staat unüberſehbare Verlegenheiten
bereiten kann!
Infolge dieſes Korreferats wurde die von dem Korreferenten
beantragte Reſolution, nach erfolgter Streichung eines Teils der
von demſelben vorgeſchlagenen Motive, zum Beſchluß erhoben.
Dieſelbe lautete folgendermaßen:
In Erwägung, daß die Richtung, welche die Währungs⸗
politik der infolge der Silberentwertung am meiſten bedrängten
Staaten nehmen wird, ſich zur Zeit noch nicht überſehen läßt,
erklärt der Deutſche Landwirtſchaftsrat:
1. daß es für das Deutſche Reich zur Zeit angemeſſen er-
ſcheint, an der bisher eingenommenen abwartenden
Stellung einſtweilen feſtzuhalten,
2. daß das Deutſche Reich erſt, wenn eine größere Klärung
der Sachlage eingetreten, darüber entſcheiden möge, ob
es die Veräußerung ſeiner ſilbernen Courantmünzen
wieder aufnehmen oder ob es dieſen Münzen eine andere
Verwendung im innern Verkehr geben will, und
252
Zur Währungsfrage.
3. daß, falls die durch die Silberentwertung am meiſten
bedrängten Staaten ihrerſeits außer ordentliche
Maßregeln zum Zweck der Hebung des Silberpreiſes
zu ergreifen die Abſicht hätten, das Deutſche Reich das
Zuſtandekommen derſelben, womöglich nach vorher mit
England getroffener Verſtändigung, in der von den
Vertretern des Deutſchen Reiches auf der Pariſer Münz⸗
konferenz von 1881 vorbezeichneten Richtung fördern
möge.
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X.
Das ländliche Genollenſchaftswelen
in Preußen.
Korreferat für das Preuß. Landesökonomie-Kollegium.
November 1887.
Meine Herren! Der Herr Vorſitzende hat bereits ſeinem
Bedauern darüber Ausdruck gegeben, daß der Herr Referent
verhindert iſt, heute unter uns zu erſcheinen. Dieſes Bedauern
wird auch von mir in hohem Grade geteilt, weil ich in die
unangenehme Lage verſetzt bin, eine Lücke auszufüllen, zu deren
Ausfüllung ich nicht genügend vorbereitet bin. Ich werde mich
daher darauf beſchränken müſſen, Ihnen auf Grund des vor—
liegenden Referats des abweſenden Herrn Referenten und auf
Grund von mir eingezogener Nachrichten einiges mitzuteilen. Ich
bitte, mein Referat aber nur aufzufaſſen als einen allgemeinen
Überblick, der eine Vervollſtändigung und Vertiefung erſt durch
die Mitteilungen aus der Praxis, die Sie, meine Herren, geben
werden, zu erhalten haben wird.
Das landwirtſchaftliche Genoſſenſchaftsweſen iſt ein Gegen—
ſtand, der zu denjenigen gehört, welche im Zuſammenhang mit
einer ganzen Reihe von anderen Einrichtungen wohl im ſtande
ſind, weſentliches für die Landwirtſchaft in ihrem gegenwärtigen
kritiſchen Zuſtande zu leiſten. Die Effekte, die im einzelnen von
dieſen Einrichtungen ausgehen, ſind ja nicht ſehr groß, aber durch
254 Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen.
ihre Summierung wird man vielleicht mehr erzielen können als
durch einzelne andere Maßregeln — wie z. B. die Erhöhung der
Schutzzölle u. ſ. w. —, die vielleicht ſehr effektvoll ſcheinen, aber
es ſchließlich doch nicht ſind.
Wenn die gegenwärtige Kriſis ſich dahin charakteriſieren läßt,
daß die Grundrente mehr oder weniger ſtark im Fallen begriffen
iſt, und zwar infolge der Depreſſion der Preiſe für die landwirt⸗
ſchaftlichen Produkte, ſo iſt durch die Genoſſenſchaften das Mittel
gegeben, dieſe Grundrente nach der einen oder anderen Seite
wiederum etwas zu heben, ſei es nun dadurch, daß die Produk⸗
tionskoſten vermindert werden, oder dadurch — was namentlich
für die An und Verkaufsgenoſſenſchaften gilt —, daß ein Teil des
Gewinns, der ſonſt in die Taſche der Zwiſchenhändler fließt, von
den Landwirten zurückbehalten wird.
Der Herr Vorſitzende, der ſich das große Verdienſt er⸗
worben, als Mitglied des Landesökonomie-Kollegiums dieſe
Frage in Anregung gebracht zu haben, hat es durch ſeinen Frage⸗
bogen in ſehr zweckmäßiger Weiſe vermieden, daß nicht de rebus
omnibus et quibusdam aliis diskutiert werde, indem er in
demſelben von vornherein aus dem großen Komplex der Genoſſen⸗
ſchaften einzelne Gruppen ausgeſchieden hat, nämlich diejenigen,
die einer Specialgeſetzgebung unterſtehen und eine beſondere ſtaat⸗
liche Unterſtützung genießen; ferner die Kreditgenoſſenſchaften,
die ja beſſer im Zuſammenhange mit der Kreditorganiſation be⸗
behandelt werden, und die Konſumvereine, inſofern ſie ſich darauf
beſchränken, Organiſationen von Konſumenten zu ſein, welche
möglichſt wohlfeil und in guter Qualität ſich diejenigen Artikel
verſchaffen wollen, die zur Befriedigung ihrer perſönlichen
Bedürfniſſe erforderlich ſind.
Wenn man dieſe Genoſſenſchaftskategorieen ausſcheidet, ſo
bleiben für die heutige Beſprechung hauptſächlich zwei Gruppen
übrig: die Produktivgenoſſenſchaften und die An- und Verkaufs⸗
genoſſenſchaften. Dieſe letzteren Genoſſenſchaften haben nun, wie
ich ſchon anzudeuten mir erlaubte, den Vorzug, daß ſie die
Möglichkeit gewähren, die Grundrente, wenn auch nur um ein
Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen. 255
geringes, zu erhöhen. Sie haben aber außerdem für den mitt—
leren und kleinen Grundbeſitzerſtand eine große pädagogiſche Be—
deutung, indem ſie den Bauernſtand zu einer beſſeren Geſchäfts—
führung erziehen: ſie zwingen ihn, diejenigen Waren, die er kauft,
ſich auf ihre Preiswürdigkeit näher anzuſehen und zu prüfen;
ſie zwingen ihn, bei denjenigen Waren, die er für den Markt
herſtellt, ſich möglichſt den Bedingungen des Marktes anzupaſſen,
ſeiner Produktion alſo eine möglichſt rationelle Richtung zu geben;
ſie entwöhnen ihn ferner einer Iſolierung, die ja dem Bauern
auf dem Gebiete des Kreditweſens ſo ſehr ſchadet und die Vor—
bedingung ſeiner Ausbeutung durch den Wucher iſt. Ja dieſer
pädagogiſche Einfluß der Genoſſenſchaften iſt vielleicht noch größer
und wertvoller als der auf die Erhöhung der Grundrente gerichtete.
Meine Herren, ich ſagte, es ſtehen heute zwei Gruppen von
Genoſſenſchaften zur Diskuſſion. Was die erſte Gruppe betrifft, ſo
wird ſie durch die Produktivgenoſſenſchaften gebildet. Innerhalb
derſelben muß man wieder die General- von den Special-Produktiv⸗
genoſſenſchaften unterſcheiden. Erſtere ſind ſolche, welche den ganzen
Einzelbetrieb aufſaugen. Nach geſchehener Umfrage kann kon—
ſtatiert werden, daß, wenn die Antworten vollſtändig ſein ſollten
— was ſie allerdings wahrſcheinlich nicht find —, ſolche General-
Produktivgenoſſenſchaften auf dem Gebiete der Landwirtſchaft
innerhalb der preußiſchen Monarchie nicht vorkommen. Wenn
ausnahmsweiſe für die Provinz Sachſen angeführt wird, daß dort
eine Rübenbau⸗ und Zucker⸗Produktivgenoſſenſchaft beſteht, jo iſt
das keine General-Produktivgenoſſenſchaft; fie muß daher an
einen andern Ort verwieſen werden.
Dagegen iſt die Zahl der ſogenannten Special-Produktiv⸗
genoſſenſchaften keine geringe. Das Weſen derſelben beſteht
darin, daß der mittlere und kleine Grundbeſitz und ſein Betrieb
in dem ſchweren Kampf, den er mit denjenigen Faktoren, die
ihm überlegen find, mit dem Großbetrieb und Großkapital
zu führen hat, ſich in denjenigen ſpeciellen Punkten, in denen
er ſchwach iſt, durch die Verbindung mit ſeinesgleichen zu
ſtärken ſucht. Es geht alſo hier nicht der ganze Einzelbetrieb
256 Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen.
in dem genoſſenſchaftlichen Betrieb auf, ſondern der Einzel⸗
betrieb bleibt im großen und ganzen beſtehen und verbindet ſich
nur in denjenigen Punkten und Richtungen, wo er ſich dem Groß-
kapital und Großbetrieb gegenüber ſchwach erweiſt, mit verwandten
Betrieben und ſucht hier etwas Ahnliches auf künſtlichem Wege
zu erzielen, was gleichſam naturgemäß durch den Großbetrieb
gegeben iſt. Dieſe ſpeciellen Produktivgenoſſenſchaften oder Er⸗
gänzungsgenoſſenſchaften, wie man ſie wohl nicht unrichtig auch
genannt hat, ſind nun entweder beſchränkt auf einzelne Punkte
der Produktion oder es verbindet ſich mit dem Produktionszwecke
auch die Sorge für den Abſatz, ſo daß die in der Genoſſenſchaft
produzierten Gegenſtände zugleich von der Genoſſenſchaft abgeſetzt
werden.
Was nun zunächſt die ausſchließlichen Special-Produktiv⸗
genoſſenſchaften betrifft, ſo ſind hier zu nennen die Dampf⸗
dreſchgenoſſenſchaften, die einige Verbreitung haben, über die
aber nicht ſehr viele Urteile vorliegen, und ſodann eine Reihe
von Genoſſenſchaften, die ſich auf die Viehzucht, namentlich auf
die Veredelung der Viehraſſen u. ſ. w. beziehen. In dieſer Be⸗
ziehung möchte ich die Herren auf einen ſehr wertvollen Beitrag
hinweiſen, den Herr Geh. Rat Settegaſt dem Kollegium in einer
Denkſchrift geliefert hat, welche ſich über den außerordentlichen
Wert, den die Erhaltung reiner, konſtanter Viehraſſen für den Land⸗
wirt hat, verbreitet. Ich bedauere, daß dieſe Denkſchrift nicht
gedruckt worden iſt; denn ſie enthält des Lehrreichen viel. Herr
Geh. Rat Settegaſt führt unter andern auch eine Reihe von
Genoſſenſchaften an, die in der von ihm angegebenen Richtung
ſehr zweckmäßig wirken könnten. Aus den uns vorliegenden
Berichten läßt ſich mit Genugthuung konſtatieren, daß eine
große Anzahl ſolcher Genoſſenſchaften bereits exiſtiert. So ſind
über alle Provinzen der Monarchie die Zuchtſtiergenoſſenſchaften
in großer Zahl verbreitet; ſie erhalten entweder eine Sub⸗
vention des Staates oder der Provinz, oder beſtehen auch ohne
Subvention. Mit dieſen Zuchtſtiergenoſſenſchaften — die, wie
ich ſehe, nur in Hohenzollern nicht vorkommen, aber dort erſetzt
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Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen. 257
werden durch die Gemeinden, ſo daß das Reſultat weſent—
lich dasſelbe ſein dürfte — verbinden ſich nun in einigen Pro—
vinzen Verſicherungsverbände, welche zum Zweck haben, die
Verſicherung gegen Viehſterben ꝛc. zu übernehmen. Solche Ber:
bände liegen ebenfalls vor in einer Reihe von Provinzen. Es
ſind ſodann noch zu erwähnen einige Vereine, welche zwar keine
eigentlichen Genoſſenſchaften ſind, aber doch die Verbeſſerung der
Zucht von Rindvieh, Pferden und Schafen zum Zweck haben.
Für Pferde exiſtieren ſolche Verbände namentlich in Oſt- und
Weſtpreußen, Pommern, Schleſien und Weſtfalen, für Rindvieh
in Oſtpreußen, Schleswig-Holſtein, Weſtfalen ꝛc., für Schafe
namentlich in Schleſien.
Von dieſen ausſchließlichen Special-Produktivgenoſſenſchaften
gelange ich nun zu den gemiſchten Produktivgenoſſenſchaften
d. h. zu denjenigen, welche zugleich Abſatzgenoſſenſchaften ſind;
hier ſind zu erwähnen die Brennereigenoſſenſchaften, von denen
vier in der Provinz Brandenburg beſtehen. Es iſt ferner
zu erwähnen, daß auch in Schleſien der Verſuch mit einer
Brennereigenoſſenſchaft gemacht worden, hier aber geſcheitert
iſt. Es iſt ſodann zu erinnern an die bereits erwähnte Rübenbau⸗
und Zucker⸗Produktivgenoſſenſchaft in der Provinz Sachſen.
Endlich zeichnet ſich neuerdings namentlich die Rheinprovinz
durch ein ganzes Netz ſolcher Produktivgenoſſenſchaften aus, die
der Produktion ſowie dem Abſatz dienend dort eine bedeutende
Rolle zu ſpielen ſcheinen, es find das namentlich kleinere Mühlen-,
Winzer⸗ und Tabaksbaugenoſſenſchaften.
Die wichtigſte Art dieſer gemiſchten Produktivgenoſſen⸗
ſchaften ſind aber die Molkereigenoſſenſchaften. Sie unterſcheiden
ſich untereinander danach, ob ſie zugleich die Magermilch ver—
arbeiten und zum Verkauf bringen oder nach Gewinnung der
Butter, des Käſes ꝛc. die Magermilch den betreffenden einzelnen
Genoſſenſchaftsmitgliedern wieder zurückgeben. Auch dieſe Ge-
noſſenſchaften ſind über die ganze Monarchie verbreitet; ja ſie
kommen in einzelnen Provinzen in ſehr großer Zahl vor. Soviel
ich ſehe, exiſtieren nur zwei Provinzen, in denen ſie nicht vorhanden
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 17
258 Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen.
ſind. In den übrigen Provinzen wird nicht über eine zu geringe
Zahl, ſondern zum Teil, wie in Hannover und Schleswig⸗Hol⸗
ſtein, über eine zu große Zahl derſelben geklagt. Im übrigen
iſt das Urteil über dieſe Molkereigenoſſenſchaften ſehr günſtig.
Ich komme jetzt auf die zweite große Gruppe von Genoſſen⸗
ſchaften, die An- und Verkaufsgenoſſenſchaften, alſo diejenigen Ein⸗
richtungen zu ſprechen, welche den Handel, der ſich zwiſchen Produ⸗
zenten und Konſumenten einſchiebt, einzuengen ſuchen. Sie geſtatten
mir vielleicht bei dieſer Gelegenheit einen kleinen Exkurs, um zu
zeigen, daß die Bewegung für die Begründung von landwirtſchaft⸗
lichen An- und Verkaufsgenoſſenſchaften, wie ſie namentlich im
Süden und Weſten ſehr ſtark iſt, nicht eine iſolierte, ſondern eine
allgemeine über ganz Europa hinaus verbreitete Erſcheinung iſt.
Infolge der außerordentlichen Verbeſſerung der Verkehrswege
und -mittel, die ſich gleichmäßig auf den Güter⸗, Perſonen⸗ und
Nachrichtenverkehr bezieht, zeigt ſich überall das Beſtreben, die
zahlreichen Zwiſchenglieder, die ſich zwiſchen Konſumenten und
Produzenten eingeſchoben haben, ich will nicht ſagen: ganz zu
eliminieren, denn das iſt unmöglich, wohl aber ſie ihrer Zahl
nach zu beſchränken. Dadurch gerät auch diejenige Bevölkerung,
die das Handelsgewerbe treibt, in eine ſchwierige Lage. Es gilt
das ſowohl vom überſeeiſchen Handel, der die Weltteile verbindet,
wie von dem großen Binnenhandel und namentlich von dem
Detailhandel. |
Was den überſeeiſchen Handel betrifft, jo kaufte — um
Ihnen an einem Beiſpiel zu zeigen, um was es ſich handelt —
früher der ſchleſiſche Lederhändler ſeine Ware aus Oſtindien,
aber doch nicht vom oſtindiſchen Händler direkt, ſondern
von dem Hamburger Händler; dieſer ſtand mit einem Londoner
Hauſe und das Londoner Haus mit dem indiſchen Händler
in der Seeſtadt und der letztere wieder mit dem Händler im
Binnenlande in Verbindung, der ſeinerſeits endlich die Hand
dem Produzenten reichte. Alle dieſe verſchiedenen Händler wollten
natürlich einen entſprechenden Gewinn machen. Infolge des er-
leichterten Sachgüter-, Nachrichten- und Perſonenverkehrs nun,
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— 7
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Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen. 259
infolge der Möglichkeit, ſich ſchnell zu ſehen, zu ſprechen oder
durch den Telegraphen zu verſtändigen, ſind jetzt eine Anzahl
von Zwiſchengliedern ausgefallen, ſo daß der ſchleſiſche Händler
jetzt direkt mit dem indiſchen Produzenten oder dem indiſchen
Kaufmann und zwar per Telegraph verkehrt, indem er ſich zum
Zweck der Effektuierung des abgeſchloſſenen Handels nur einer
Mittelsperſon oder eines Mittelsinſtituts, eventuell des Spedi—
teurs, Bankiers u. ſ. w. bedient.
Eine ähnliche Tendenz beſteht auch im Binnenhandel und zwar
ſowohl im Engros⸗ wie im Detailhandel, indem auch hier der
Konſument ſich möglichſt direkt mit dem Produzenten in Beziehung
zu ſetzen ſucht. Namentlich gegen den Detailhandel iſt in der
Gegenwart eine mächtige Strömung gerichtet. Dieſelbe gelangt
zum Ausdruck in einer Reihe von Inſtituten: in den Konſumver⸗
einen, die nichts anderes ſind als organiſierte Konſumenten, welche
den Gewinn, den der Zwiſchenhändler genießt, ſich ſelbſt zuführen
und zugleich dafür ſorgen, daß ſie gute Waren erhalten; in den
großen bazarähnlichen Magazinen, wie ſie namentlich einen ſehr
günſtigen Boden in Frankreich finden, indem der Detailhandel in
denſelben verbunden iſt mit einem großen Beſitz und großem Betrieb,
wodurch die Möglichkeit gegeben iſt, die beſten Bezugsquellen zu
benutzen, billig einzukaufen und an Generalkoſten zu ſparen und
dadurch wieder den Konſumenten eine gute Ware zu wohlfeilem
Preiſe zu liefern; endlich gehören auf landwirtſchaftlichem Gebiet
die ſogenannten An⸗ und Verkaufsgenoſſenſchaften, die ebenfalls
den Detailhandel einzuſchränken ſuchen, hierher. Es liegt in den⸗
ſelben alſo nichts Singuläres, ſondern nur die Anwendung einer
allgemeinen Erſcheinung auf ein ſpecielles Gebiet vor.
Was zunächſt die Abſatzgenoſſenſchaften betrifft, ſo habe
ich dieſelben, ſoweit fie mit den Produktivgenoſſenſchaften kom-
biniert erſcheinen, bereits erwähnt. Namentlich die weitver-
breiteten Molkereigenoſſenſchaften ſind ja zugleich auch Abſatz—
genoſſenſchaften. Außerdem giebt es aber noch Genoſſenſchaften,
die ſich nur mit dem Handel beſchäftigen, die ſich alſo darauf
beſchränken, die im Einzelbetrieb fertiggeſtellte Ware zu verkaufen.
17°
260 Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen.
Es bezieht ſich dies namentlich auf das Vieh; und hier muß
konſtatiert werden, daß in Preußen in dieſer Beziehung noch
außerordentlich wenig geſchehen iſt und daß unſer Vaterland in
dieſer wichtigen Frage hinter einer Reihe anderer Staaten zurück⸗
ſteht. Während nämlich die Viehabſatzgenoſſenſchaften im Süden,
ſpeciell in Heſſen, dem klaſſiſchen Lande des Genoſſenſchaftsweſens,
aber auch in Oldenburg große Verbreitung haben, iſt man bei
uns in dieſer Beziehung noch ſehr im Rückſtande. Es iſt das
Verdienſt unſeres Vizepräſidenten, des Herrn v. Hammerſtein,
daß er nach dem Muſter eines Oldenburger Vorgangs in Berſen⸗
brück eine Viehabſatzgenoſſenſchaft gegründet hat, die, ſoviel man
aus den Rechnungsabſchlüſſen erſehen kann, gute Reſultate er⸗
giebt; ferner gehört hierher die Oſtfrieſiſche Viehausfuhrgenoſſen⸗
ſchaft. Damit iſt aber auch, wenn die Berichte vollſtändig ſind, Be
alles erſchöpft, was ſich über dieſen Gegenſtand jagen läßt.
Beſſer ſteht es mit den Ankaufsgenoſſenſchaften, die ſich nicht
nur dem Namen, ſondern auch dem Weſen nach von den ſoge⸗
nannten Konſumvereinen dadurch unterſcheiden, daß ſie nicht für
den Ankauf von Gegenſtänden des perſönlichen Bedarfs, ſondern
von Gegenſtänden, die für die landwirtſchaftliche Pro⸗
duktion erforderlich ſind, wie z. B. Saat, künſtliche
Düngemittel, Kraftfutter u. ſ. w., ſorgen. Solche Genoſſenſchaften
exiſtieren nun in allen Provinzen. Am wenigſten ſtark vertreten
ſcheinen ſie zu ſein in Poſen, Pommern, Sachſen, Hohenzollern,
Weſtfalen; ſtärker vertreten ſind ſie in Oſtpreußen, Schleſien,
Heſſen und am ſtärkſten in Hannover, Schleswig⸗Holſtein, Naſſau
und in der Rheinprovinz. Die erſte Aufgabe dieſer Genoſſen⸗
ſchaften beſteht darin, die betreffenden Waren in einem guten,
dem Bedürfnis wirklich entſprechenden Zuſtande den Konſumenten
zu liefern, alſo namentlich eine keimfähige Saat u. ſ. w. Zu
dieſem Zwecke werden die Waren vor ihrem Ankauf unterſucht.
Es leitet dieſe Genoſſenſchaften ferner das Beſtreben, die Waren
möglichſt wohlfeil zu liefern; und wenn man das kleine Büch⸗
lein anſieht, welches aus der Feder des Herrn v. Mendel, des
jetzigen Generalſekretärs des landwirtſchaftlichen Vereins der
Be er
u U a al zn
Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen ki Preußen. 261
Provinz Sachſen, ſtammt, ſo wird man finden, daß von den
Vereinen in einzelnen Fällen außerordentliche Vorteile für ihre
Mitglieder erzielt worden ſind. Neben dieſen beiden Funktionen,
eine unverfälſchte, den Bedürfniſſen entſprechende Ware billig zu
beſchaffen, haben die Einkaufsgenoſſenſchaften der Rheinprovinz
noch das Verdienſt, eine dritte Funktion übernommen zu haben:
ſie lehren ihren einzelnen Mitgliedern nämlich zugleich die Be—
nutzung dieſer Waren im landwirtſchaftlichen Betriebe, alſo
namentlich des Saatkorns und der künſtlichen Düngemittel u. ſ. w.,
und kontrollieren zugleich die einzelnen Abnehmer in der Ber-
wendung der gekauften Ware.
Wenn ich ſagte, daß dieſe Genoſſenſchaften nicht in allen
Provinzen gleichmäßig verbreitet ſind, ſo verlangt die Gerechtig—
keit doch hervorzuheben, daß dort, wo ſie weniger entwickelt
ſind, für ſie ein Surrogat beſteht, welches entweder darin gegeben
iſt, daß einzelne Landwirte ſich ad hoc für den Ankauf be⸗
ſtimmter Waren zuſammenthun und dann die Verbindung wieder
löſen, nachdem die Waren angekauft und verteilt ſind, oder
darin, daß die landwirtſchaftlichen Vereine die Funktion ſolcher
Genoſſenſchaften übernehmen, oder endlich darin, daß andere
Vereine, wie z. B. in Weſtfalen der Bauernverein, dasſelbe
thun. Wenn ich alſo bemerkte, in Weſtfalen ſeien die Ankaufs⸗
genoſſenſchaften wenig verbreitet, ſo ſoll das nicht heißen, daß
die Vorteile derſelben den weſtfäliſchen Bauern nicht zu gute
kommen, ſondern nur, daß dort die Funktion der Anfaufs-
genoſſenſchaft von dem Bauernverein übernommen worden iſt.
Daß man bei Gründung ſolcher Genoſſenſchaften übrigens
außerordentlich große Schwierigkeiten zu überwinden hat, haben
wir in Schleſien ſehr deutlich geſehen. Wir haben in Schleſien
und zwar in der Oberlauſitz vielleicht die blühendſte Anfaufs-
genoſſenſchaft, die es in Preußen giebt. Die oberlauſitzer Ge⸗
noſſenſchaft hat die Landwirte jener Gegend hinſichtlich des Be—
zugs der betreffenden Waren faſt gänzlich von dem Einzel-
handel emancipiert, und zwar verdanken wir dieſe Inſtitution
einem Herrn v. Zaſtrow, der nicht nur ſein außerordentliches
262 Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen.
praktiſches Geſchick, ſondern auch ſeine Arbeit jahrelang dieſer
Genoſſenſchaft gewidmet und ſie auf eine bedeutende Höhe ge⸗
hoben hat.
Herr v. Zaſtrow iſt vor einiger Zeit erſucht worden, in dem
landwirtſchaftlichen Centralvereine Schleſiens einen Vortrag zu
halten über die Art, wie er ſeinen Ankaufsverein zu Wege
gebracht hat. Dieſer Vortrag führte zur Niederſetzung einer
Kommiſſion, die ein Muſterſtatut mit einer Anleitung für die
Gründung ſolcher Genoſſenſchaften entwerfen ſollte. Auf Grund
der oberlauſitzer Erfahrungen wurde nun ein ſolches Statut
ausgearbeitet und den Ortsvereinen mitgeteilt. Aber trotzdem
ſeit jener Zeit einige Jahre verfloſſen ſind, hat ſich bis jetzt nur
in Strehlen ein kleiner Verein gebildet; ein weiterer Erfolg
iſt nicht zu verzeichnen. Es iſt das ein Beweis, daß es bei
ſolchen Organiſationen hauptſächlich auf die geeigneten Perſön⸗
lichkeiten ankommt. Wenn man dieſelben nicht hat, ſo iſt es
ſchwer, ein ſolches Beiſpiel anderwärts nachzuahmen.
Ich glaube, Ihnen damit einen ziemlich vollſtändigen Über⸗
blick über das in dem eingegangenen Material Enthaltene ge⸗
gegeben zu haben, und es fragt ſich nun, welches Facit ſich aus
dem Mitgeteilten ziehen läßt. Ich meine mich dahin reſümieren
zu dürfen, daß wir innerhalb der preußiſchen Monarchie eine
Reihe verheißungsvoller Anfänge auf dem Gebiete des landwirt⸗
ſchaftlichen Genoſſenſchaftsweſens beſitzen. Es ſind das Keime
zur weiteren Entwickelung, aber im großen und ganzen, abge⸗
ſehen von einzelnen Ausnahmen, auch nicht mehr als das. Es
ſind Keime, die bei günſtigem Wind und Wetter gedeihen und
reiche Frucht tragen werden.
Nun fragt es ſich: warum iſt das Wachstum dieſer Keime
bisher nicht mehr vorgerückt, warum bietet Preußen im Ver⸗
gleich mit anderen Staaten des Südens und Weſtens einen
weniger erfreulichen Anblick?
Zum Teil liegt das in Faktoren, die ſich nicht beliebig von
heute auf morgen ändern laſſen, alſo einmal in dem Vorwiegen der
Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen. 263
großen Güter im Oſten und in den großen Entfernungen, in
der wenig dichten Bevölkerung, in dem ſtagnierenden Gemeinde—
leben u. ſ. w. Das ſind lauter Dinge, die ſich in abſehbarer
Zeit nicht ändern werden.
Dagegen giebt es eine Reihe anderer Hinderniſſe, die viel—
leicht beſeitigt werden können. Zu dieſen Hinderniſſen gehören
folgende. Es wird faſt in allen Berichten erwähnt, daß die
unbeſchränkte Solidarhaft der Genoſſen, die ja gegenwärtig für
alle Genoſſenſchaften, ſoweit ſie ſich dem Geſetz von 1868 unter—
ſtellen, obligatoriſch iſt, ein Hindernis für das Aufblühen der
landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften bildet. Namentlich bei uns
im Oſten, wo, um ein günſtiges Reſultat zu erzielen, auf die
Kooperation von Mitgliedern verſchiedener Klaſſen, von wohl-
habenden Leuten und weniger wohlhabenden, gerechnet werden muß,
ſcheuen ſich die mittleren oder wohlhabenden Klaſſen — wie ich
glaube: vollſtändig mit Recht —, eine ſolche ſolidariſche Haft
zu übernehmen, die bei einem eventuellen Deficit vorzugsweiſe ſie
in Mitleidenſchaft ziehen würde.
Aber gegen dieſes Hindernis giebt es ein Remedium. Wir
wiſſen ja alle, daß eine Novelle zum Genoſſenſchaftsgeſetz von
1868 vorbereitet wird und daß in dieſer Novelle zugleich die
Möglichkeit vorgeſehen ſein ſoll, neben den Genoſſenſchaften mit
unbeſchränkter ſolidariſcher Haft auch ſolche mit nur beſchränkter
Haft zu begründen. Ich glaube alſo, wir können in dieſer Be—
ziehung das, was kommt, ruhig abwarten und wollen noch den
Wunſch ausſprechen, daß der Herr Landwirtſchaftsminiſter bei
der Beratung dieſes Geſetzes ſeinen Einfluß dahin geltend machen
möge, daß neben der Möglichkeit, ſolche Genoſſenſchaften mit
beſchränkter Haft zu begründen, für die Genoſſenſchaften mit
unbeſchränkter ſolidariſcher Haft ihrer Mitglieder das Umlage—
verfahren obligatoriſch gemacht werde. Es iſt hier früher
. manches Bedenken ausgeſprochen worden gegen die Genoſſen—
ſchaften mit beſchränkter Haftbarkeit ihrer Mitglieder. Ich habe
dieſe Bedenken ſelbſt geteilt und zum Ausdruck gebracht; aber
fie beziehen ſich meiner Anſicht nach weſentlich oder ausſchließ—
964 Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen.
lich auf die Kreditgenoſſenſchaften. Auf die An- und Verkaufs⸗
genoſſenſchaften finden ſie keine Anwendung.
Ein weiteres Hindernis bildet das Feſthalten der Genoſſen⸗
ſchaften an der Barzahlung. Es wird geſagt, daß die meiſten An⸗
und Verkaufsgenoſſenſchaften von ihren Mitgliedern eine ordent⸗
liche Geſchäftsführung und zugleich Barzahlung verlangen;
die Landwirte ſeien nun aber namentlich in ihrer gegenwärtigen
Lage nicht im ſtande, dieſer Bedingung zu genügen, weshalb
ſie ſich von den Genoſſenſchaften zurückhalten. Demgegenüber
kann auf die Erfahrungen, die in der Oberlauſitz gemacht worden
ſind, hingewieſen werden. Dort hat man ſich geſagt, daß die
Forderung der Barzahlung ein ſehr ſchönes Ideal ſei, welches
aber in der gegenwärtigen Zeit nicht erreicht werden könne. Um
nun wenigſtens das Mögliche zu erreichen, hat man von dieſem
ſchroffen Prinzip eine Ausnahme gemacht, indem man den Genoſſen
Kredit gewährt, aber nur nach ſorgfältiger Prüfung ihres Ver⸗
mögenszuſtandes, die dann von Zeit zu Zeit wiederholt wird.
Die Genoſſenſchaft hat zu dieſem Zweck eine beſondere Kredit⸗
kommiſſion eingeſetzt, und es ſind, wie Herr v. Zaſtrow vor einigen
Jahren in Breslau mitteilte, bisher aus dem Kreditieren keinerlei
Übelſtände und Verluſte erwachſen. Die Genoſſenſchafter dieſes
kleinen Landesteils kennen ſich genau genug, um mit großer
Sicherheit ihre Kreditwürdigkeit gegenſeitig feſtſtellen zu können.
Sodann wird geklagt über Mangel an Kapital, namentlich
in der erſten Zeit nach der Begründung einer Genoſſenſchaft,
und auch über die Schwierigkeit, genügend tüchtige Beamte zu
finden, welche eine gute Kenntnis der Waren, genug Handels⸗
routine beſitzen, u. ſ. w. Über alle dieſe Dinge wird auch im Süden
geklagt, trotzdem haben die Genoſſenſchaften dort doch eine ſehr
große Ausdehnung. Man hat dieſes Hindernis im Süden und
Weſten dadurch zu beſeitigen gewußt, daß man die einzelnen
lokalen Genoſſenſchaften zu größeren Verbänden zuſammenfaßte.
Dabei hat ſich denn herausgeſtellt, daß dieſe größeren Ver⸗
bände eine breitere Kreditbaſis liefern für ihre Geſchäfte, daß
nnen
ee
Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen. 265
es bei größeren Verbänden leichter wird, geeignete Perſonen für
die Verwaltung zu finden, u. ſ. w. Auf dieſem Wege iſt man
über mancherlei Schwierigkeiten hinweggekommen, und ich darf
konſtatieren, daß auch im Norden, wenigſtens auf dem Gebiete
der Molkerei⸗ und Viehhaltungsgenoſſenſchaften und teilweiſe
auch auf dem der Ankaufsgenoſſenſchaften, ſolche Verbände be—
reits beſtehen; jo in Oſt- und Weſtpreußen, in Schleſien ꝛc.
Bei dieſer Gelegenheit erlaube ich mir, aus einem Briefe,
welcher mir vor kurzem zugegangen iſt, anzuführen, daß für
das Deutſche Reich ſeit 1883 ein Geſamtverband der landwirt—
ſchaftlichen Genoſſenſchaften, der bereits manche günſtige Reſultate
aufzuweiſen hat, beſteht; dieſer Geſamtverband gliedert ſich
wieder in Bezirksverbände, zu dieſen Bezirksverbänden ſchließen
ſich die einzelnen Ortsgenoſſenſchaften zuſammen. Dieſer Ge—
ſamtverband der landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften zählt in
Baden 200 und in Heſſen 150 landwirtſchaftliche Ankaufsge—
noſſenſchaften, in der Rheinpfalz 40, in Osnabrück 36, in
Schleswig⸗Holſtein 30, in Weſtpreußen 8, in Göttingen 6 u. ſ. w.
Es wird wohl nicht geleugnet werden können, daß durch einen
ſolchen Zuſammenſchluß die einzelnen Genoſſenſchaften manche
Förderung und Unterſtützung erlangen können, was namentlich
in ſchwierigen Zeiten deutlich hervortreten wird.
Endlich wird über den Mangel an Initiative unter den
Landwirten geklagt. Dieſer Mangel an eigner Initiative dürfte
weniger begründet ſein in dem Mangel an Thatkraft als darin,
daß die Aufmerkſamkeit der Landwirte heutzutage vorzugsweiſe
in Anſpruch genommen wird durch Maßregeln, welche man vor
allem durchgeführt zu ſehen wünſcht, weil man ſich von ihnen
ein durchgreifenderes Reſultat verſpricht als von der Gründung
von Genoſſenſchaften. Wenn dieſe Periode des Wartens auf
Erhöhung der Schutzzölle vorüber ſein und man ſich überzeugt
haben wird, daß die Schutzzölle wenig geholfen haben, dann
wird der Landwirt ſeine Aufmerkſamkeit wieder mehr für andere
Dinge frei haben. Nachdem mittlerweile auch die Novelle zum
266 Das ländliche Genoſſenſchaftsweſen in Preußen.
Genoſſenſchaftsgeſetz in Kraft getreten ſein wird, dürfte die Ge⸗
noſſenſchaftsbewegung dann wieder mehr in Fluß geraten.
Ich ſchließe, indem ich vorſchlage, daß Sie, wenn Sie mit
meinen Ausführungen einverſtanden ſein ſollten, eine allgemeine
Reſolution folgenden Inhalts faſſen mögen:
„Das Landes Okonomie-Kollegium erklärt:
Daß es in der Ausbreitung der landwirtſchaftlichen
Genoſſenſchaften ein weſentliches Förderungsmittel der
landwirtſchaftlichen Kultur und des landwirtſchaftlichen
Wohlſtandes erblickt und erſucht
1. den Herrn Miniſter für Landwirtſchaft, Domänen
und Forſten die landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften
in Preußen nach Möglichkeit zu fördern und zu
dieſem Zwecke dahin wirken zu wollen, daß durch
die Reviſion des Genoſſenſchaftsgeſetzes vom 4. Juli
1868 die Begründung von Genoſſenſchaften mit be⸗
ſchränkter Haftbarkeit ermöglicht und für die Ge-
noſſenſchaften mit unbeſchränkter Haftbarkeit eine der
Beſtimmung des $ 24 des Preußiſchen Geſetzes, be⸗
treffend die Bildung der Waſſergenoſſenſchaften, ähn⸗
liche Beſtimmung getroffen werde, und
2. den Herrn Vorſitzenden, die Frage des landwirtſchaft⸗
lichen Genoſſenſchaftsweſens nach gehöriger Vorbe—
reitung derſelben auf die Tagesordnung einer der
nächſten Sitzungen ſetzen zu wollen.“
Zu dieſen Förderungsmitteln iſt noch zu rechnen eine Maß⸗
regel, die ich nicht ausdrücklich in meinen Antrag aufgenommen
habe. Es werden nämlich von einzelnen Staatsregierungen zum
Teil nicht ganz unbedeutende Summen zum Zweck der Beleh⸗
rung über und der Agitation für die Genoſſenſchaften ausge⸗
worfen. In Heſſen werden z. B. den Genoſſenſchaften jährlich
2500 Mark ſeitens der Staatskaſſe zur Dispoſition geſtellt, in
Baden 1000 Mark, in Württemberg, wenn ich recht unterrichtet
bin, 3000 Mark u. ſ. w. Es wäre alſo, ohne daß ich hier aus⸗
drücklich ein gleiches Petitum ausſpreche, der Herr Miniſter zu
r
ndwi riſchaftlichen Genoſſenſchaftsweſen ſeine Aufmerksamkeit
und alle Mittel, welche bie Ausbreitung desſelben .
XI.
Die Erhöhung der landwirkſchaftlichen
Sıhukzöle,
Votum im deutſchen Landwirtſchaftsrat. November 1887.
Meine Herren! Es iſt mir zweifelhaft geweſen, ob in einer
ſo eminenten Intereſſenfrage, wie diejenige es iſt, die Sie ſoeben
beſchäftigt, ein materiell durchaus Unintereſſierter das Wort er⸗
greifen dürfe. Indeſſen iſt mir geſagt worden, daß es für Sie
von Wert ſein könnte, zu hören, wie ſich die Dinge in dem
Kopfe eines Unbeteiligten abſpiegeln, eines Unbeteiligten, der
gleichwohl Ihren Beſtrebungen eine lebhafte Sympathie ent⸗
gegenbringt.
Was die gegenwärtige kritiſche Situation der Landwirt⸗
ſchaft anbetrifft, ſo kann man ſie und ebenſo die Mittel zu
ihrer Abhülfe in verſchiedener Weiſe auffaſſen. Man kann ſich
entweder auf den ſchroffen Intereſſenſtandpunkt eines Standes
ſtellen und dabei ausſchließlich die Gegenwart im Auge haben;
man kann ferner ausſchließlich die materiellen Intereſſen betonen
und dabei von dem Schaden abſehen, den die rückſichtsloſe Ver⸗
folgung dieſer Intereſſen dem Anſehen der Landwirte zufügen
wird. Oder man kann dieſe Intereſſen im Zuſammenhange mit
den Intereſſen der übrigen Stände würdigen, dabei zugleich auch
das Intereſſe der Zukunft im Auge behalten und neben den
materiellen Intereſſen der Landwirte auch Rückſicht nehmen auf
Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 269
die Stimmung der übrigen Bevölkerung, die der Landwirt
auf die Dauer nicht ohne Schaden für ſich ſelbſt außer acht
laſſen darf.
Die gegenwärtige landwirtſchaftliche Kriſis kann man als
eine Übergangs- und Anpaſſungskriſis charakteriſieren, indem die
Landwirtſchaft ſich in Bezug auf die Produktion einer Reihe wich—
tiger Artikel an die Bedingungen der Weltwirtſchaft anzupaſſen
hat. Was man bisher als Weltwirtſchaft bezeichnet hat, das
hatte eine nicht gerade große Tragweite. Im Altertum und Mittel-
alter beſchränkte ſich die Weltwirtſchaft, d. h. der Verkehr zwiſchen
den damals bekannten Weltteilen, auf einige hochwertige Gegen—
ſtände: Edelmetalle, feine Seidenzeuge, Stickereien, Gewürze u. ſ. w.,
alſo lauter Güter von hohem ſpecifiſchem Werte. Durch die Ent—
deckung Amerikas ſteigerte ſich die nach Europa ſich ergießende Flut
von Silber und Gold; ſeit Ende des vorigen Jahrhunderts trat
in den Weltverkehr die europäiſche Induſtrie mir ihren zum Teil
geringwertigen Produkten ein, doch beſchränkte ſich die Weltwirt—
ſchaft auch damals noch weſentlich auf den Verkehr Europas
mit Aſien und Nordamerika. Erſt ſeit unſerem Jahrhundert
umfaßt der Weltverkehr alle Länder des Erdballs. Die gegen—
wärtige, ſeit den ſechziger Jahren beginnende Phaſe aber wird
beſonders dadurch charakteriſiert, daß Gegenſtände von geringem
ſpecifiſchem Wert, alſo namentlich die Produkte der Landwirt⸗
ſchaft und Viehzucht ſowie des Bergbaus, zum erſtenmal in
den Verkehr der verſchiedenen Weltteile eingetreten ſind und
daß, ſoweit fie aus Ländern mit beſonders günſtigen Produktions-
koſten ſtammen, ſie notwendig auf diejenigen Länder, die nicht ſo
billig produzieren können, drücken und eine Kriſis, ja einen Not⸗
ſtand erzeugen. Meine Herren, ich erkenne vollſtändig an — und
nicht nur heute, ſondern ſolange ich dieſer Körperſchaft anzugehören
die Ehre habe, habe ich es anerkannt —, daß für die Landwirte
des weſtlichen und mittleren Europa und zwar ohne Unterſchied
des Beſitzumfanges der einzelnen Eigentümer und Pächter eine
tiefgehende Kriſis vorhanden iſt.
Aber man wird doch auch zugeſtehen müſſen, daß dieſe Kriſis
270 Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle.
mit ihrer ganzen Wucht hauptſächlich diejenigen trifft, welche
vorzugsweiſe Getreide für den Abſatz produzieren und welche
außerdem ſtark verſchuldet ſind; für die übrigen iſt die Lage
zwar ebenfalls eine gedrückte, aber daß ſie für ſie eine verzweifelte
iſt, daß ſie zum Ruin aller Landwirte führen muß, kann ich nicht
anerkennen.
Nach dieſem Zugeſtändnis möchte ich ferner folgendes zu
erwägen bitten. Es giebt eine Reihe von Artikeln, die nicht
durch die europäiſche Landwirtſchaft erzeugt werden, deren Preiſe
im Vergleich zu den Preiſen der ſechziger Jahre ebenſo ſtark ge⸗
fallen ſind wie die der Landwirtſchaft, und ferner einzelne Ar⸗
tikel, deren Preiſe ſogar in höherem Grade gefallen ſind, ſo
z. B. Seide, Baumwolle, Metalle und namentlich Steinkohlen.
Sie werden alſo zugeben müſſen, daß die Produzenten dieſer
Artikel, die allerdings nur, ſoweit ſie Induſtrieartikel, Metalle
und Steinkohlen hervorbringen, für Europa in Betracht kommen,
ſich ebenfalls in einer Notlage befinden. Sie werden ferner be⸗
rückſichtigen müſſen, daß infolge der mannigfachen Wandlungen,
die der Handel in der jüngſten Vergangenheit erfahren hat, indem
vielfach die Tendenz beſteht, die Kette der zwiſchen dem Produ⸗
zenten und Konſumenten vermittelnden ſelbſtändigen Kaufleute um
ein oder mehrere Glieder zu reduzieren, auch ein Teil des Handels⸗
ſtandes in eine bedenkliche Lage geraten iſt. Sie werden endlich
nicht überſehen dürfen, daß infolge des Sinkens des Zinsfußes,
welches u. a. ſeinen Ausdruck gefunden hat in der Konverſion der
Staatsrente, in der Reduktion des Zinsfußes der Pfandbriefe
und anderer ſicherer Anlagepapiere, ſowie infolge der be-
trächtlichen Entwertung der ruſſiſchen Staatspapiere eine ſehr
ſtarke Verminderung des Einkommens der mittleren Klaſſen, zu
denen auch Penſionäre und Waiſen gehören, die dieſes Deficit
nur ſchwer auf anderem Wege erſetzen können, ſtattgefunden hat.
Alle dieſe Klaſſen befinden ſich ebenfalls in einer gewiſſen
Notlage, ohne daß ſie deshalb eine Erhöhung ihres Einkommens
durch den Staat verlangten.
Durch eine Koalition mit den Großinduſtriellen iſt es Ihnen
Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 271
im Jahre 1879 gelungen, mäßige Zölle durchzuſetzen, die damals
von der Regierung ausdrücklich als Finanzzölle bezeichnet worden
ſind; es iſt Ihnen ferner im Jahre 1885 durch dieſelben Mittel
gelungen, eine zweite Etappe auf dem Wege der Zollpolitik, die
jetzt allerſeits als eine Schutzzollpolitik bezeichnet wurde, zu be—
ſchreiten. Ich befinde mich nun vollſtändig in Übereinſtimmung
mit denjenigen Herren, die ſich geſtern dahin äußerten, daß man
die Wirkung dieſer erhöhten Zölle doch nicht niedrig veranſchlagen
möge. Denn die Zölle von 1885, ſoweit ſich ihre Wirkung ſchon
jetzt überſehen läßt, haben bewirkt, daß die Operationen der Ge—
treideſpekulanten, wie z. B. die am Anfang dieſes Jahres von
Nordamerika ausgegangenen, über die deutſchen Zollſchranken
nicht zu dringen vermochten. Es darf ferner hervorgehoben
werden, daß die deutſchen Inlandspreiſe des Weizens, namentlich
aber des Roggens, ſoweit wir ſie konſtatieren können, in der
letzten Zeit doch nicht ganz unerheblich von den Preiſen des
freien Weltmarkts abweichen, indem ſie relativ höher waren
als dieſe.
Ich glaube daher, daß man berechtigt iſt zu ſagen, die
Zölle von 1879 und 1885 haben auf die Landwirtſchaft im
ganzen günſtig gewirkt, wenngleich ſie ein abſolutes Sinken der
Inlandspreiſe nicht zu verhüten vermocht haben. Doch wird es
niemals gelingen, auch wenn Sie die bisherigen Zollſätze noch
weiter erhöhen, die Bildung der Inlandspreiſe vollſtändig von
der Entwickelung der Weltmarktspreiſe loszureißen. Statt nun
aber an dem Erreichten feſtzuhalten, wollen Sie jetzt weitere auf
die Erhöhung der Zölle gerichtete Schritte thun. Damit ſetzen
Sie aber meiner Anſicht nach das ganze ſeit 1879 mühſam er—
richtete Syſtem der Wirtſchaftspolitik unberechenbaren Gefahren
aus. Denn wir wiſſen wohl, wann die Agitation für die Zölle
begonnen hat; wir wiſſen aber nicht, wann ſie enden wird.
Und was erwarten Sie von der weiteren Erhöhung der
landwirtſchaftlichen Zölle?
Ich meine, daß dieſelbe Ihnen wahrſcheinlich nicht diejenige
Hülfe bringen wird, die Sie erwarten, daß ſie aber anderen
272 Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle.
großen Kreiſen der Bevölkerung ſchaden kann und daß der Rück⸗
ſchlag dann auch Sie treffen wird, und ich bedaure endlich, daß
dieſe ewige Schutzzollagitation Ihre Energie ablenkt von Bahnen,
auf denen Ihnen ſicherere Früchte blühen würden als auf denen
der Schutzzollerhöhungen.
Wenn ich ſage, es iſt möglich, daß die Zölle Ihnen nicht
helfen, die erwartete Hülfe nicht bringen werden, ſo argumentiere
ich folgendermaßen. Sie verſchließen ſich immer mehr gegen die
Einfuhr der ausländiſchen Produkte; eine Reihe anderer Staaten
wird Ihnen weſentlich in dieſem Beſtreben folgen. Dadurch
wird auf dem freien Weltmarkt die Nachfrage eine immer ge⸗
ringere: die Folge kann dann leicht ein weiteres Sinken der
Preiſe auf demſelben ſein. Denn man kann nicht annehmen,
daß der Anbau der reichen Ackerbauflächen in Ungarn, Rußland,
Nordamerika, Indien u. ſ. w. ſogleich entſprechend vermindert
werden wird.
Zugleich bezweifle ich aber nicht, daß ein hoher Schutzzoll
den Inlandspreis gegenüber dieſen geſunkenen Weltmarktspreiſen
und zwar zeitweiſe bedeutend heben wird. Aber dieſes Plus zu
dem ferner ſinkenden Weltmarktspreiſe braucht nicht notwendig
einen höheren Preis im Inlande zu ergeben, als wir ihn gegen⸗
wärtig haben. Von einer Gewißheit in dieſen Dingen kann man
natürlich nicht ſprechen, ſondern nur von Möglichkeiten und
Wahrſcheinlichkeiten.
Für den Fall jedoch, daß Ihre Erwartungen wirklich reali⸗
ſiert werden und die Inlandspreiſe in Zukunft infolge der neuen
Zollerhöhungen ſich nicht nur höher ſtellen als die Preiſe auf
dem freien Weltmarkt, ſondern auch erheblich höher als die
Inlandspreiſe der Gegenwart, ſo wird auf die Dauer nicht zu
vermeiden ſein, daß auch die Mehl- und endlich auch die Brot⸗
preiſe dieſer Steigerung der Getreidepreiſe folgen.
Es iſt das vielfach beſtritten worden, aber meiner Anſicht
nach mit Unrecht. Diejenigen, die ſo argumentieren, daß, weil
die Brotpreiſe bei einem Zollſatz von 1 bezw. 3 Mark nicht ge⸗
ſtiegen ſind, ſie auch bei einem Zollſatz von 6 Mark nicht ſteigen
2
1
A
3
z
2
1
1
1
Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 273
werden, verfallen in den Fehler der Socialdemokraten, welche
ſagen: weil die Einführung des 11 ſtündigen Normalarbeitstages
der Produktion nicht ſchaden wird, jo werde auch der 8 ſtündige
Normalarbeitstag nicht ſchaden. Wenn man bei ſtrammer Hand—
habung der Fabrikordnung den Normalarbeitstag auf 11 Stunden
reduziert, ſo iſt es in der That möglich, daß das Quantum an
Arbeit, das gegenüber einer längeren Arbeitszeit, wie ſie jetzt
noch vielfach vorkommt, verloren geht, durch das Quale erſetzt
wird. Aber dieſe Ausgleichung iſt bei einer Reduktion der
Arbeitszeit auf 8 Stunden doch unmöglich, das werden Sie mir
zugeben, und ebenſo verhält es ſich mit der Relation der Ge-
treidepreiſe und der Brotpreiſe. Eine kleine Steigerung der
erſteren braucht auf die Brotpreiſe nicht einzuwirken, eine ſtarke
Steigerung dagegen wird über kurz oder lang auch in den Brot—
preiſen zum Ausdruck gelangen müſſen. Denn wenn die Bäcker
die Macht hatten, bei ſinkenden Getreidepreiſen die Brotpreiſe
auf der früheren Höhe zu erhalten oder ſie doch nicht entſprechend
herabzuſetzen, ſo werden ihnen wohl auch nicht die Mittel fehlen,
um bei geſtiegenen Getreidepreiſen das Brot zu verteuern.
Steigen aber die Brotpreiſe, ſo werden dadurch zunächſt und
hauptſächlich die Arbeiter betroffen werden. Nun kann ja zu⸗
gegeben werden, daß von der Erhöhung der Arbeitslöhne, die
die Arbeiter in den ſiebziger Jahren gewonnen haben, abgeſehen
von den exorbitant hohen Löhnen in einigen Induſtriezweigen
während der Gründerjahre, im großen Ganzen nicht viel ver—
loren gegangen iſt, indem es den Arbeitern gelungen iſt, die er—
langten Preiſe im großen Ganzen zu behaupten. Aber wir
dürfen doch nicht vergeſſen, daß auf dieſe Löhne auch neue
Zwangsausgaben fundiert worden ſind.
Ich darf Sie daran erinnern, daß in der Mitte der ſiebziger
Jahre das Deutſche Reich genötigt war, ſich nach erhöhten Ein—
nahmen umzuſehen. Sie wiſſen, daß die indirekten Steuern
Preußens auf das Reich übertragen worden ſind; Sie wiſſen,
daß Preußen im Anfang dieſes Jahrhunderts dieſe Steuern nur
zu niedrigen Sätzen erhoben und bis zur Begründung des Reiches
8 v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 18
274 Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle.
nicht weſentlich erhöht hat. Da die direkten Steuern, namentlich
in Preußen, jo wenig rationell eingerichtet find, daß eine weſent⸗
liche Erhöhung ihrer Sätze gegen den Grundſatz der Gerechtigkeit
verſtoßen würde, ſo blieb nichts anderes übrig als die wenig
entwickelten indirekten Steuern weiter auszubilden und namentlich
auch die Zölle ergiebiger zu geſtalten. Nun laſten dieſe indirekten
Steuern aber doch in ſehr erheblichem Maße auf den arbeitenden
Klaſſen und wird die Mehrbelaſtung in Preußen ſicher nicht
durch die Beſeitigung der Klaſſenſteuer für die unterſten Klaſſen
kompenſiert. Kann doch der Satz nicht beſtritten werden, daß
indirekte Steuern und Zölle, ſoweit ſie auf notwendige Unterhalts⸗
mittel gerichtet ſind, umgekehrt progreſſiv wirken, d. h. einen
größeren Teil des Einkommens der kleinen Leute als der mittleren
und höheren Klaſſen wegnehmen. Vergeſſen Sie auch nicht, daß
das Reich in dieſe Notwendigkeit gedrängt worden iſt in dem
Augenblick der Inauguration der ſocialpolitiſchen Ara. Den
Wert der ſocialpolitiſchen Geſetzgebung kann gewiß niemand
höher ſchätzen als ich. Aber wenn dieſe Geſetze dem Arbeiter in
Zukunft auch einen nicht hoch genug zu veranſchlagenden Nutzen
bringen werden, belaſten ſie denſelben doch ſofort mit Verſicherungs⸗
beiträgen u. dgl.
Beſteht doch die volkswirtſchaftliche Bedeutung der Arbeiter⸗
verſicherungsgeſetzgebung darin, daß diejenigen Zuſchüſſe, die dem
Arbeiter bisher aus der Armenkaſſe gezahlt wurden, jetzt unter
die Produktionskoſten aufgenommen werden. Und nun wollen
Sie zugleich die Getreidezölle erhöhen und damit ſchließlich
möglicherweiſe auch die Brotpreiſe verteuern! Das wäre alſo
eine fernere Belaſtung des Arbeiters, die zur Folge haben würde,
entweder daß der Arbeiter ſich in Kleidung und Nahrung Be⸗
ſchränkungen auferlegen muß oder daß er verſuchen wird, die
ihm neu erwachſenen Laſten auf die beſitzenden Klaſſen abzuwälzen.
Bei dieſen wird er aber auf ein um ſo entſchiedeneres Wider⸗
ſtreben ſtoßen, je mehr den Arbeitgebern durch Übernahme neuer
Verpflichtungen infolge der Arbeiterverſicherungsgeſetzgebung die
Konkurrenz auf dem ausländiſchen Markte erſchwert wird. Be⸗
Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 275
rückſichtigen Sie ferner den in Zukunft notwendig werdenden
Ausbau unſerer Arbeiterſchutzgeſetzgebung! Denn es iſt nur eine
Frage der Zeit, daß die Fabrikgeſetzgebung weſentlich verſchärft
werden wird, und dieſe Verſchärfung der Fabrikgeſetzgebung wird
dem induſtriellen Unternehmer neue Opfer auferlegen. Und hier
erlauben Sie mir zugleich, Sie auf die Lage der Induſtrie
hinzuweiſen, wie ſie ſich wahrſcheinlich nach der Erhöhung
der Zölle geſtalten wird. Auf die deutſchen Zollerhöhungen
werden, wie zu befürchten ſteht, eine Reihe von Staaten mit
Repreſſivmaßregeln antworten, wodurch das Abſatzgebiet der
deutſchen Fabrikanten weiter eingeengt werden wird. Dazu
kommt, daß der deutſche Fabrikant durch die Zollerhöhungen
auf landwirtſchaftliche Produkte ſchlechter geſtellt ſein wird
als der engliſche. Denn die billigen Preiſe des Weltmarktes
werden dem engliſchen Fabrikanten zu gute kommen, indem er
in der Lage ſein wird, ſeine Löhne weiter zu reduzieren, was
er bereits bisher in mehreren Induſtriezweigen gethan hat. Zu
dieſem Behufe leiſten ihm die Gewerkvereine und Einigungs—
ämter ſehr gute Dienſte, indem fie mit Hülfe der Arbeiter-
ausſchüſſe die Löhne, auf deren Erhöhung ſie in Zeiten der
Proſperität hingewirkt haben, jetzt reduzieren helfen.
Kurzum ich glaube, daß der Export unſerer Fabrikinduſtrie
durch Schutzzollmaßregeln, welche den Unterhalt der Arbeiter
verteuern, weſentlich geſchädigt wird; und was dieſer Export
für unſere Volkswirtſchaft bedeutet, das mögen Ihnen folgende
Zahlen ſagen. |
Man nimmt an, daß in Belgien von den dort hergeſtellten
Fabrikaten ebenſoviel exportiert wie im Inlande konſumiert
werden, daß dieſes Verhältnis in England = 1:2 und in
Deutſchland ſowie in Frankreich = 1:2 — 3 iſt; alſo min⸗
deſtens ein Viertel unſerer geſamten induſtriellen Produktion
wird gegenwärtig exportiert. Dieſes Viertel beträgt ſeinem
Werte nach von allen Waren, die überhaupt in den Welthandel
und den Weltverkehr kommen, ca. 18 —19 Prozent. Mit dieſem
Prozentſatz nehmen wir unter den exportierenden Völkern neben
18 *
276 Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle.
Frankreich die zweite Stelle ein, indem wir nur von England
übertroffen werden. Solche Erwägungen werden dahin führen,
daß die Induſtriellen ſich mit Entſchiedenheit gegen eine weitere
Erhöhung der Zölle auf landwirtſchaftliche Produkte erklären
werden. Ich glaube, Sie wiſſen das auch und haben ſich daher
bei Zeiten nach anderen Bundesgenoſſen umgeſehen. Mir ſcheint
eine ausdrückliche oder latente Koalition mit einem Teil der
Getreidehändler zu beſtehen. Die Getreidehändler hoffen, daß
der Identitätsnachweis bei der Wiederausfuhr des eingeführten
Getreides aufgegeben werde; es würde eine ſolche Maßregel ohne
Zweifel neues Leben in den Getreidehandel bringen, dieſelbe
dürfte auch vom allgemeinen Standpunkt nicht zu verwerfen ſein,
da wir einzelne Getreideſorten erzeugen, für die im Auslande
ein höherer Preis zu erzielen iſt als im Inlande, und da wir
andererſeits wieder beſtimmter ausländiſcher Getreideſorten, die
wir nicht ſelbſt erzeugen, bedürfen. Da die Aufhebung des
Identitätsnachweiſes aber wahrſcheinlich nivellierend auf die
Preiſe in den verſchiedenen Teilen Deutſchlands einwirken
wird, indem ſie die Preiſe im Nordoſten heben und im Süd⸗
weſten ſenken wird, ſo haben die landwirtſchaftlichen Vertreter
des Südweſtens ſich nicht ohne Schärfe gegen dieſe Maßregel
erklärt. Die Getreidehändler ſchmeicheln ſich ferner, einen großen
Gewinn zu erzielen infolge der billigen Getreideankäufe, die ſie
ſeit dieſem Frühjahr gemacht haben und die ja außerordentliche
Dimenſionen haben ſollen. Und nun ſoll ihnen geholfen werden,
indem ihnen bei der Ausfuhr dieſes Getreides eine Exportprämie
gezahlt wird im Betrage der erhöhten Zollſätze. Einer der Herren
Redner klagte geſtern darüber, daß eine Exportprämie für aus⸗
geführtes Getreide, welchem nicht ein entſprechendes Quantum
eingeführten Getreides gegenüberſtehe, etwas ſei, was von der
öffentlichen Meinung mit der größten Entrüſtung aufgenommen
werden würde. Ich ſchließe mich dieſer Anſicht vollſtändig an.
Ich glaube daher nicht, daß die beiden Bedingungen, unter
denen dieſe Koalition zu ſtande gekommen iſt, in Erfüllung gehen
werden, und ich glaube auch nicht, daß der Handelsſtand in dem
Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 277
Umfange für dieſe Maßregel eintreten wird, wie man es er—
wartet hat.
Somit ſtehen denn den Intereſſen der land- und forjtwirt-
ſchaftlichen Bevölkerung, welche zwar 42,5 Prozent der Geſamt—
bevölkerung ausmacht, aber nicht durchweg ein Intereſſe an der
Erhöhung der Zölle hat, gegenüber das Intereſſe der im Berg—
bau und in der Induſtrie beſchäftigten Klaſſen mit 35,5 Prozent
der Geſamtbevölkerung, das Intereſſe des Handels- und Verkehrs—
gewerbes, welches durch 10 Prozent der Bevölkerung repräſentiert
wird, der Vertreter des öffentlichen Dienſtes und der liberalen
Berufe mit ca. 5 Prozent, nicht zu gedenken derjenigen, deren
Beruf entweder unbekannt geblieben iſt oder die keinen beſtimmten
Beruf beſitzen. So möchte ich denn glauben, daß erhebliche Be—
denken gegen eine Verdoppelung oder gar noch eine weitere Er—
höhung der gegenwärtigen Getreidezölle ſprechen. Ich gebe mich
freilich durchaus nicht der Täuſchung hin, als ob durch mein
Votum an dem bereits feſtſtehenden Reſultate der Abſtimmung
in dieſer Körperſchaft noch etwas geändert werden könne; trotz—
dem habe ich es für meine Pflicht gehalten, meine Bedenken hier
vorzutragen, und zwar namentlich deshalb, weil ich von dieſer
Maßregel eine weitere Verſchärfung der Klaſſengegenſätze be—
fürchte. Und wenn infolge der Reibungen zwiſchen den Arbeit-
gebern und Arbeitnehmern der Induſtrie der Funke in die Höhe
geht, ſind Sie dann ſicher, daß er nicht auch in die Häuſer der
landwirtſchaftlichen Arbeiter fällt?!
Indes gebe ich zu, daß meine Argumentation eine Lücke
enthält. Eine nicht unweſentliche Verſchärfung der gegenwärtigen
Situation, alſo dieſer ſogenannten Anpaſſungskriſe, iſt für uns
infolge gewiſſer Vorgänge auf dem Währungsgebiete eingetreten.
Ich geſtehe zu, daß die Entwertung des Silbers in Indien nicht
ganz ohne Einfluß auf die gegenwärtige landwirtſchaftliche Kriſis
in Europa iſt. Auch ſtehe ich vollſtändig auf dem Standpunkt
desjenigen Herrn, der geſtern äußerte, daß das fortwährende
Schwanken und Sinken der ruſſiſchen Valuta für uns außerordent-
lich nachteilig iſt. Rußland ſetzt außerdem ſeine Eiſenbahntarife
278 Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle.
herab, um unſere Zölle zu paralyſieren. Da könnte nun leicht die
Frage entſtehen, ob ſich nicht Differentialzölle als Retorſions⸗
maßregel, als Kampfmittel gegenüber Rußland rechtfertigen laſſen.
Prinzipiell würde ſich gegen eine ſolche Maßregel unter den gegen⸗
wärtigen Verhältniſſen wohl wenig einwenden laſſen. Wohl aber
ſtößt ihre Ausführung auf mancherlei Schwierigkeiten, die nur
ſchwer zu überwinden ſein dürften. Über dieſen Punkt hat ſich der
Verfaſſer der kleinen Arbeit „Über die Getreidezölle“ (J. B. Staub),
die Ihnen zugegangen ſein wird, folgendermaßen geäußert:
„Wir fürchten, dieſem Staate (d. h. Rußland) gegen⸗
über ſind auch ſo gerechte Zwangsmittel, wie Differential⸗
zölle, ohne Erfolg, während wir durch dieſelben unſere
Ditjeehäfen, unſere nordiſchen Mühlen und Bahnen
ſchädigen würden und eine Verſchiebung der ſeither be-
ſtehenden Erwerbsverhältniſſe eintreten müßte. Sicher
würde ſein, daß ruſſiſche Provenienzen auf einem kleinen
Umweg durch die Meiſtbegünſtigungsländer zu uns ge⸗
langen würden oder in der Weiſe, daß die Einfuhr von
öſterreichiſchem Getreide z. B. bei uns zunehmen und
ruſſiſches Getreide die Lücken in Ofterreich ausfüllen
würde. Wir brächten ſomit dem ausländiſchen Handel
und den ausländiſchen Transportanſtalten Stützen auf
Koſten der eigenen.“
Dieſe gegen Differentialzölle angeführten Bedenken ſcheinen
mir ſehr ſchwerwiegend zu ſein. Nun könnte man ferner ſagen:
iſt es denn nicht möglich, Rußland auf demſelben Gebiete der
Valuta, auf dem es uns Schaden zufügt, zu begegnen? Aber
ſelbſt wenn man ſich auf den Standpunkt des internationalen
Bimetallismus ſtellen wollte, ſo würde man damit der Ent⸗
wertung der Papiervaluta doch nicht beikommen.
Mir ſcheint daher aus dem ganzen Wirrwar und Wider⸗
ſtreit der gegenwärtigen Ara, in welcher der auf die Dauer un⸗
haltbar werdende Widerſpruch immer deutlicher hervortritt, daß
jeder Staat ſeine Grenzen gegenüber der Einfuhr fremder Pro⸗
dukte verſchließt und doch mit einem Teil ſeiner eigenen Pro⸗
N 1 N . } nr
I —
Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 279
dukte das Ausland zu erreichen ſucht, nur ein Ausweg gegeben
zu ſein, und dieſer Ausweg liegt für mich darin, daß Deutſch—
land ſich mit einigen anderen mittel- und weſteuropäiſchen Staaten
zuſammenthue, um ſich in eine ähnliche Lage zu bringen, in der
größere Staaten wie Rußland und Nordamerika ſich in Bezug
auf ihre Produktion und Konſumtion befinden. Es gilt mit
einem Worte ein ſo großes Wirtſchaftsgebiet zu bilden, daß in
demſelben eine wirtſchaftliche Autarkie möglich ſei. Ich komme
dabei auf den Plan einer deutſch⸗öſterreichiſch-ungariſchen Zollunion
zu ſprechen. Wer beobachtet hat, wie dieſer Gedanke anfangs von
wenigen geäußert und mißtrauiſch aufgenommen wurde und troß-
dem mit reißender Geſchwindigkeit Verbreitung gefunden hat,
der wird ſich jagen müſſen, daß in demſelben ein den vorhan-
denen Bedürfniſſen entſprechender und über kurz oder lang in
der einen oder anderen Form zu realiſierender Kern enthalten
ſein muß.
Es laſſen ſich ja mancherlei Bedenken gegen dieſen Plan gel—
tend machen. Die Ausführung desſelben wird jedenfalls nicht leicht
ſein. Denn einmal ſtehen uns ſcheinbar eine Reihe von Handels—
verträgen mit ihrer Meiſtbegünſtigungsklauſel entgegen. Aber
ich teile in dieſer Beziehung die Anſicht Schrauts, Lexis'
und anderer und meine, daß die Beſtimmungen der Meiſt⸗
begünſtigungsklauſel auf eine Zollunion keine Anwendung finden
können. Sodann wird die verſchiedene Höhe und Form der in—
direkten Steuern in Deutſchland und Oſterreich-Ungarn Schwierig-
keiten bereiten; aber ich glaube, daß man auch hierüber hinweg—
kommen kann, weil wir ja ähnliche Verſchiedenheiten in der
Steuergeſetzgebung des Deutſchen Reiches zwiſchen dem Norden
und Süden gehabt haben und zum Teil noch gegenwärtig haben.
Es iſt ferner auf die von den deutſchen abweichenden und
gerade nicht normalen Valutaverhältniſſe Oſterreich-Ungarns hin⸗
gewieſen worden. Gewiß iſt das ein ſchwieriger Punkt; aber
ich glaube, auch er iſt zu überwinden. Vielleicht würden hier
diejenigen Herren, die Neigung für internationale Valutaverein⸗
barungen haben, einen gewiſſen Spielraum erhalten. Es könnte
280 Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle.
z. B. dem Silber in unſerem Münzſyſtem eine größere Anwendung
gegeben werden, ohne daß wir deshalb die Goldwährung aufzu⸗
geben brauchten. Auch könnte man fürs erſte das öſterreichiſch-unga⸗
riſche Papiergeld beibehalten, wenn demſelben eine genügende
Goldfundierung gegeben würde. Es ſind das neuerdings gemachte
Vorſchläge, die nicht ohne weiteres zurückzuweiſen ſind. Noch
ſchwieriger als die Durchführung iſt aber freilich die Begründung
eines ſolchen Zollbundes. Schwierig iſt es namentlich, die deut⸗
ſchen Landwirte davon zu überzeugen, daß für ſie kein Schaden
aus einer ſolchen Maßregel hervorzugehen braucht. Es ſind ja
in dieſer Beziehung aus der Mitte des Landwirtſchaftsrats Vor⸗
ſchläge gemacht worden: man brauchte nicht die Zolllinie zwiſchen
Deutſchland und Oſterreich-Ungarn zu beſeitigen, ſondern könnte
einſtweilen mäßige Zollſätze beſtehen laſſen, ja man könnte vielleicht
die Einführung derjenigen öſterreichiſch-ungariſchen Produkte, von
denen man eine übergroße Konkurrenz fürchtet, zeitweilig kontingen⸗
tieren. Zu beſiegen wäre ferner der Widerſpruch der öſterreichiſchen
Induſtrie. Ich habe mich noch neulich auf einer Reiſe durch
Oſterreich davon überzeugt, daß ſich unter dem Schutz des Schutz⸗
zollſyſtems in Oſterreich neben den alten Induſtriezweigen eine
Reihe neuer Induſtrieen zu entwickeln beginnt. Dieſe würden
ſich natürlich mit allen Mitteln gegen eine ſolche Union ſtemmen.
Aber hier wird ſich ebenfalls ein Ausgleich der Intereſſen finden
laſſen, indem man die Ausfuhr beſtimmter Induſtrieartikel aus
Deutſchland nach Oſterreich-Ungarn ebenfalls zeitweilig beſchränkt.
Endlich käme noch die Antipathie der ſflaviſchen Völkerſchaften
gegen jede Annäherung an Deutſchland in Betracht. Doch würde
es einem entſchiedenen Vorgehen der öſterreich-ungariſchen Regie⸗
rung und Deutſchlands wohl gelingen, auch dieſen Widerſtand
zu beſiegen.
Kurzum, ich glaube, daß, weil ſich eine bedeutende Erhöhung
der bisherigen Zollſätze wegen der kollidierenden Intereſſen der
Induſtrie, des Handels und der Arbeiter als undurchführbar,
eine geringfügige Erhöhung derſelben aber als wenig heilkräftig
erweiſen wird, ſich als einziger Kern aus dieſer Diskuſſion die
Die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Schutzzölle. 281
Notwendigkeit der mitteleuropäiſchen Zollunion ergeben wird.
Eine ſolche Union, in der der innere Bedarf an landwirtſchaft—
lichen Produkten durch die innere Produktion vollſtändig gedeckt
ſein wird und die auch für den Abſatz ihrer Induſtrieerzeugniſſe
im Innern genügenden Spielraum gewähren wird, mag ſich
dann nach außen gegenüber denjenigen Staaten, die auf gleicher
Kultur und Produktionsſtufe ſtehen, aber gleichwohl der Zoll—
union nicht beitreten, verſchließen. Wenn ich auch nicht erwarten
kann, daß ſchon heute eine Reſolution in dieſem Sinne an—
genommen werde, ſo möchte ich Sie doch mit beſonderem Nach—
druck bitten, daß Sie dieſen Gedanken weiter verfolgen und all—
mählich zu dem Ihrigen machen. In dieſem Gedanken werden
Sie dereinſt Ruhe und Sicherheit finden vor dem Wirbelwinde
der ewigen Schutzzollagitation: in dieſem Gedanken und in dieſem
Zeichen werden Sie dereinſt ſiegen!
XI.
Der Wucher auf dem Tande und die Pr-
ganiſation des ländlichen Kredits.
Referat für den Verein für Socialpolitik. September 1888.
Meine Herren! Wenn mir heute die Aufgabe zufällt, über
zwei Themata zu referieren, über die Wucherfrage und die
Frage der ländlichen Kreditorganiſation, ſo erklärt ſich dieſe Ver⸗
bindung der beiden Gegenſtände dadurch, daß das erſte Thema
gleichſam die Grundlage für die Behandlung des zweiten ab⸗
giebt und daß beide Gegenſtände ſozuſagen zu den brennendſten
agrarpolitiſchen Tagesfragen gehören, die, lange durch theoretiſche
Beſprechungen und Diskuſſionen vorbereitet, jetzt dringend der
Erledigung harren.
Die einſchlägige Litteratur darf ich bei den meiſten von
Ihnen als bekannt vorausſetzen; ich will deshalb nur noch kurz
diejenigen Maßregeln erwähnen, welche die heutige Diskuſſion
vorbereitet haben.
Im Jahre 1885 entwarf unſer Verein einen Fragebogen
für eine Wucherenquete. Im Jahre 1886 wurde die Frage des
ländlichen Wuchers im preußiſchen Landesökonomiekollegium
diskutiert; aber weil die damals an verſchiedene Perſonen
gerichteten Fragen nur in geringer Vollſtändigkeit beantwortet
Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 283
waren, ſo beſchloß man weitere Erkundigungen einzuziehen
und das geſamte Material dann dem Deutſchen Landwirt-
ſchaftsrat zu übergeben, damit dieſe Frage dort auf breiteſter
Baſis für das geſamte Reich diskutiert und wo möglich zu be—
ſtimmten Vorſchlägen formuliert werde. Im Jahre 1887 ſind
dann die gewünſchten Berichte eingegangen; ſie ſind zuſammen—
gefaßt zu einem Bande, der ſich in Ihrer aller Händen befindet.
Im Anfang des Jahres 1888 fand ſodann eine ziemlich ein—
gehende Diskuſſion der Wucherfrage im Deutſchen Reichstage
ſtatt in Veranlaſſung einer großen Reihe von Petitionen, die an
den Reichstag gerichtet worden waren. Die Petitionen waren
der Petitionskommiſſion übergeben worden; dieſe hatte ſie be—
raten, hatte einen ausführlichen Bericht abgefaßt, und auf Grund
dieſes Berichts hat der Reichstag ſelbſt ſich mit der Frage be—
ſchäftigt und eine Reſolution des Inhalts gefaßt, daß dem Herrn
Reichskanzler die Petitionen zur Erwägung übergeben werden
ſollen, zur Erwägung darüber, welche geſetzlichen Maßregeln
gegen den Wucher zu ergreifen ſeien.
Was ſodann die Frage des ländlichen Kredits anbetrifft, ſo
iſt ſie in den Jahren 1884 und 1887 im Deutſchen Landwirt—
ſchaftsrat ſehr eingehend behandelt worden. In dem erſteren
Jahre hat man ſich über die für eine ſolche Reform leitenden
Geſichtspunkte geeinigt; im Jahre 1887 hat man ein ſehr weit-
ſchichtiges Material von faſt allen beſtehenden Kreditanſtalten
geſammelt, hat dieſes Material dann einer für dieſen Zweck ſpe—
ciell erwählten Kommiſſion übergeben und dieſe beauftragt, das
Material zu ſichten, es zuſammenfaſſend darzuſtellen und wo
möglich zu ganz beſtimmten Vorſchlägen zu gelangen.
So hat denn unſer Verein in einem Zeitpunkt, in dem der
Löſung der beiden heute zu behandelnden Fragen von ver—
ſchiedenen Seiten vorgearbeitet iſt, die Aufgabe, die eingeleiteten
Verhandlungen weiterzuführen. Er wird, wie ich glaube, einen
nicht unweſentlichen Einfluß auf die ſchließliche Erledigung dieſer
Gegenſtände gewinnen können, wenn es ihm gelingt, zu ganz be—
ſtimmt formulierten Vorſchlägen zu gelangen und für dieſe Vor—
284 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits.
ſchläge die Zuſtimmung der Verſammlung zu gewinnen. Dies
gilt namentlich von der Kreditfrage, bezüglich welcher meines Er⸗
achtens genug über Prinzipien und Syſteme diskutiert worden
iſt und für die jetzt der Zeitpunkt gekommen zu ſein ſcheint, um
poſitive Vorſchläge für eine Reorganiſation des Kredits, ſoweit
ſolche erforderlich ſein ſollte, zu machen.
Ich werde daher mein Referat, für das ich im voraus um
Ihre Nachſicht und um Ihre Geduld bitte, da es länger aus⸗
fallen wird, als ſonſt üblich iſt, möglichſt wenig mit theoretiſchem
Ballaſt beſchweren und ihm hauptſächlich eine volkswirtſchafts⸗
politiſche Pointe zu geben ſuchen.
Einleitungsweiſe darf ich wohl daran erinnern, daß es kein
Zufall iſt, wenn in der Zeit einer tiefgehenden agrariſchen Kriſis
dieſe beiden Gegenſtände das allgemeine Intereſſe erregen. Hängen
dieſelben doch aufs engſte mit beſtimmten Lücken unſerer Agrar⸗
verfaſſung, mit Mängeln unſerer landwirtſchaftlichen Sitten und
Gebräuche zuſammen, und ſind dieſe es doch, die die Kriſis bei
uns in Deutſchland im Vergleich mit andern Ländern beſonders
verſchärft haben. Dieſe Mängel und Lücken konnten in einer
Zeit wirtſchaftlicher Proſperität, bei ſteigender Grundrente, über⸗
ſehen werden; die gegenwärtige agrarpolitiſche Kriſis dagegen
ließ ſie in grellſter Beleuchtung erſcheinen. Sollte es in der
Zukunft gelingen, die Lücken auszufüllen und die Mängel zu be⸗
ſeitigen, ſo wird durch die Leiden der gegenwärtigen Generation
unſerer Landwirte die Befeſtigung der Grundlagen in Sitte und
Recht, auf denen das dauernde Wohl unſerer ländlichen Be—
völkerung beruht, nicht zu teuer erkauft ſein.
Von gleichen Ausgangspunkten hat vor ſechs Jahren in
unſerem Verein eine Verhandlung ſtattgefunden, die Verhandlung
über das ländliche Erbrecht, und es iſt damals in dem über-
einſtimmenden Votum dieſer Verſammlung, wie ich glaube, eine
Löſung dieſer Frage wenigſtens für die Gegenden des vorwiegen—
den großen und mittleren Grundbeſitzes, alſo für die Länder mit
niederſächſiſcher, frieſiſcher und bayeriſcher Beſiedelung und für
die Länder der Koloniſation auf ſlawiſchem Boden, jomit für
Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 285
einen großen Teil von Nord- und Südoſtdeutſchland gefunden
worden.
Der erſte Gegenſtand unſerer heutigen Tagesordnung führt
uns in ganz andere Gegenden, in die Gegenden des kleinen par—
zellierten Grundbeſitzes, vorzugsweiſe alſo in Länder fränkiſcher,
alemanniſcher und thüringiſcher Beſiedelung, ſomit nach Südweſt—
und Mitteldeutſchland. Wenn der Wucher auch nicht allein auf
dieſe Gegenden beſchränkt iſt, ſo iſt er doch hier vorzugsweiſe
verbreitet und findet ſich nur ſporadiſch in anderen Teilen
Deutſchlands. |
Wie der Anlaß, jo ſoll auch die Art der Behandlung heute
dieſelbe oder doch eine ähnliche ſein wie im Jahre 1884, ſoweit
dieſe Behandlung von mir abhängt. Ich werde mich auch heute
nicht darauf beſchränken, die äußeren ſymptomatiſchen Krank—
heitserſcheinungen zu erforſchen und deren Beſeitigung zu erſtreben,
ſondern werde bemüht ſein, zu dem inneren Sitz und zu den
letzten Urſachen des Übels vorzudringen, und die Heilung desſelben
an der Wurzel verſuchen.
Hat das Übel des Wuchers ſeinen Sitz in beſtimmten Schichten
der Bevölkerung, in deren Anſchauungen und Gewohnheiten, ſo
wird die Heilung auch hier zu beginnen haben. Aber da das
Übel zum Teil wenigſtens das Produkt geſellſchaftlicher und
ſtaatlicher Einrichtungen iſt, jo werden auch Staat und Gejell-
ſchaft an der Heilung mitwirken müſſen. Freilich wird auch
dieſe ſtaatliche Thätigkeit ihre Richtung auf die Hebung des
einzelnen und ganzer Bevölkerungsklaſſen, auf ihre Erziehung zu
vollkommeneren Anſchauungen und Sitten zu nehmen haben.
Dazu werden ſich aber vorzugsweiſe ſolche Einrichtungen und
Maßregeln, Organiſationen und Rechtsnormen eignen, die die
Bevölkerung auf ihrer gegenwärtigen Entwicklungsſtufe ins Auge
faſſen, an dieſe Entwicklungsſtufe anknüpfen und welche zugleich
bereits die Feuerprobe beſtanden haben, indem ſie ſich hier und
da auf beſchränktem Gebiet bewährt haben. 5
Ich wende mich nun zu der erſten Frage, die ich heute zu
behandeln habe: zum Wucher auf dem Lande.
286 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits.
re
Ich verſtehe unter Wucher im wirtſchaftlichen Sinne — wohl
nicht im Widerſpruch mit dem allgemeinen Sprachgebrauch — die
Benutzung eines faktiſchen Monopols im Verkehrsgewerbe, in deſſen
Beſitz ſich beſtimmte Perſonen befinden, lediglich zu ihrem Vor⸗
teil und zum Schaden, ja zum Ruin dritter Perſonen. Während
der legitime Handel beiden Teilen nützt, verliert beim Wucher
der eine Teil ebenſoviel, ja bisweilen noch mehr, als der andere
Teil gewinnt. Auf dem Lande ſpeciell trifft der Wucher haupt⸗
ſächlich den kleinen Bauernſtand, während die Bewucherung des
mittleren und größeren Grundbeſitzes ſowie der beſitzloſen Arbeiter
verhältnismäßig ſelten vorkommt.
Das Monopol der Wucherer iſt begründet 1. in beſtimmten
ſeltenen Eigenſchaften derſelben, die ſich zuſammenfaſſen und be⸗
zeichnen laſſen — um ein bekanntes Wort Karl Ernſt von Bärs
auf dieſes Gebiet anzuwenden — als hochentwickelte wirtſchaft⸗
liche „Zielſtrebigkeit“; eine Zielſtrebigkeit, die für die Bewucherten
verderblich wird, weil ſie mit ſittlich geringen Qualitäten der
Wucherer, mit niedriger Schlauheit, Geriebenheit, Rückſichtsloſig⸗
keit, Mißachtung des Rechts und der Sitte verbunden zu ſein pflegt.
Dieſe ſich ſittlich unzuläſſiger Mittel bedienende wirtſchaft⸗
liche Zielſtrebigkeit erzielt aber nur dann Erfolge, wenn ihr
2. eine Bevölkerung gegenüberſteht, die in ſittlicher Hinſicht eben⸗
ſoſehr über wie in wirtſchaftlicher Beziehung unter dem
Wucherer ſteht. Dieſe Bevölkerung findet ſich auf dem Lande
vorzugsweiſe in den Klein- und Zwerggütlern, die in guten und
mittleren Jahren aus ihrem Beſitz knapp ſoviel herauswirtſchaften,
um leben zu können, und bei jeder Mißernte, bei jedem Vieh⸗
ſterben, bei jedem Unglücksfall in der Familie u. ſ. w. in Not
geraten. Es iſt das zugleich eine Bevölkerung, die zum Teil
noch in der Naturalwirtſchaft ſteckt und der die ſie umgebende
Welt zumutet, zu gleicher Zeit zur Geld- und Kreditwirtſchaft
überzugehen; eine Bevölkerung, die unfähig iſt, ihre Vermögens⸗
Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 287
lage und die Konſequenzen ihrer Transaktionen zu überblicken,
und die deshalb vor den gewagteſten Geſchäften nicht zurückſchreckt;
eine Bevölkerung, der die Kenntnis und Initiative fehlt, um die
für ſie günſtigen Verkaufs- und Kreditgelegenheiten aufzuſuchen,
und die in ihrer bäuerlichen Hartköpfigkeit doch wieder der Be—
lehrung ſehr ſchwer zugänglich iſt; eine Bevölkerung, die voll
Argwohns gegen ihresgleichen und gegen Höherſtehende iſt und
doch den gröberen und feineren Verſuchungen des Wucherers nicht
zu widerſtehen weiß.
Dieſe wirtſchaftliche Inferiorität der Kleinbauern findet ihre
Unterſtützung in einer Anzahl allgemein verbreiteter Gebrechen:
namentlich in gewiſſen beim Vieherwerb und bei der Viehleihe
beſtehenden naturalwirtſchaftlichen Gepflogenheiten, in dem allge—
meinen Beſtreben der Bevölkerung, ohne Rückſicht auf ihre Mittel
Grundbeſitz zu erwerben und den vorhandenen Grundbeſitz zu ver—
mehren, endlich in der künſtlichen Steigerung der Gutspreiſe
namentlich durch Verſteigerungen in Wirtshäuſern verbunden mit
Libationen u. ſ. w.
Dazu kommt bisweilen noch das Fehlen von Einrichtungen
und Gelegenheiten, um beſtimmte legitime Bedürfniſſe des Be⸗
wucherten zu befriedigen, namentlich das Fehlen von genügenden,
den Bedürfniſſen, Anſchauungen und Gewohnheiten des Klein-
gütlers angepaßten Einrichtungen für den Kredit überhaupt und
für den Perſonalkredit im ſpeciellen, ſowie hier und da auch das
Fehlen von Gelegenheiten zum legitimen Erwerb von Grundbeſitz.
In dieſe Lücke tritt dann der Wucherer ein, der zum
Geſchäftsfreund und wirtſchaftlichen Lehrmeiſter des Bauern wird,
zum Geſchäftsfreund freilich, der ſein eigenes Intereſſe aufs rück—
ſichtsloſeſte verfolgt, und zum Lehrmeiſter, dem der Bauer nicht
ſelten ſein ganzes Vermögen, ja ſeine Exiſtenz als Lehrgeld be—
zahlen muß.
Endlich 3. wird dieſes Abhängigkeitsverhältnis zwiſchen Be—
wucherten und Wucherern noch verſtärkt durch die Abgrenzung
der der Exploitation unterworfenen Gebiete unter die verſchiedenen
288 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organifation d. ländl. Kredits.
Wucherer, damit ſie ſich nicht ins Gehege kommen, ſich keine
Konkurrenz machen, ſowie durch ein ganzes Syſtem von Schleppern
und Zuträgern, welche dem Wucherer die genaueſte Kunde von
der Vermögenslage ſowie von jedem einzelnen Vorfall in der
Wirtſchaft und in der Familie des Bauern vermitteln. Dadurch
ſind die Wucherer in die Lage geſetzt, ſich in ihrer Geſchäfts⸗
verbindung mit den Bewucherten genau den Gewohnheiten der⸗
ſelben anzupaſſen, indem ſie von ihnen vor der Gewährung des
Darlehns nicht, wie die ſoliden Kreditinſtitute, den Nachweis der
genügenden Vermögenslage oder die Bürgſchaft mehrerer Nach⸗
barn oder die Erfüllung ſonſtiger läſtiger Formalitäten verlangen
und auch nicht fordern, daß ſie koſtſpielige Reiſen in die Städte
machen. Vielmehr tragen ſie den Bauern das Geld ins Haus,
verlangen nur eine Unterſchrift und verſichern ſie ewiger Ver⸗
ſchwiegenheit, die ſie auch bis zu der unvermeidlich werdenden
Kataſtrophe ſtrikt einhalten. Denn nur allmählich wird das
Netz des Wucherers dem Bauer über den Kopf geworfen und
nur allmählich wird es enger zuſammengezogen: das Opfer wird
zuerſt betäubt, um dann ausgebeutet zu werden.
Zunächſt iſt der Wucher eine Privatangelegenheit, die nur
den Wucherer und ſein Objekt angeht; zu einer öffentlichen Kala⸗
mität, die die Aufmerkſamkeit der Geſellſchaft und des Staates
auf ſich zieht, zu einer Kalamität, die nach Abhülfe drängt, wird
der Wucher erſt, wenn die Zahl der Opfer eine anſehnliche wird,
wenn der Wucher ſich in einer Gegend feſtſetzt und wenn derſelbe
ſchließlich zur ſtarken Verſchuldung eines größeren Teiles der
bäuerlichen Beſitzer und endlich zu einer Verſchlimmerung der
Grundbeſitzverteilung führt.
Sie wiſſen ja alle, daß das Vermögen des kleinen Bauern
faſt ausſchließlich aus ſeinem Grundſtück und aus ſeinem Vieh
beſteht, dem Vieh, das zugleich die Milch für die Familie und.
die Zugkraft ſowie den Dünger für den Acker giebt und deſſen
Erlös dem Bauern vielfach das einzige bare Geld einbringt. Auf
dieſe Objekte richtet ſich daher das Sinnen und Trachten des.
Wucherers. Daher ſein Beſtreben, das gute Vieh des Bauern
Der Wucher a. d. Lande u. d. Organifation d. ländl. Kredits. 289
gegen ſchlechtes einzutauſchen und ſich den jungen Nachwuchs
dieſes Viehs zu ſichern; daher ſein Beſtreben, das Gut, deſſen
Wert er vampyrartig in Form von Perſonalſchulden des Beſitzers,
die dann erſt in letzter Stunde mittelſt des Inſtituts der Voll-
ſtreckungshypothek in eine Realſchuld umgewandelt werden, an
ſich gebracht hat, ſchließlich zu möglichſt hohem Preiſe zu ver—
kaufen, um den durch ſeine Forderung erworbenen Wert des
Grundſtücks zu realiſieren. Dieſem Zweck dienen dann die im
Weſten und Süden Deutſchlands üblichen Güterverſteigerungen,
die Zerlegung von größeren Gütern in kleine Parzellen, für die
ſich immer höhere Preiſe erzielen laſſen als für das unzerteilte
Grundſtück, der Verkauf auf Kredit, „auf Zieler“, ſowie der
Handel mit Verſteigerungsprotokollen. Alle dieſe Wucheroperationen
ſchließen gewöhnlich damit, daß das Grundſtück des Bewucherten
meiſt zu hohem Preiſe in andere Hände übergeht, nachdem der
Bauer — wie man zu ſagen pflegt — mit dem weißen Stabe
in der Hand ſein früheres Heim verlaſſen hat.
An dieſen erſten Akt der Tragödie ſchließt ſich aber nicht
ſelten ein zweiter, und zwar geſchieht dies immer dann, wenn
der neue Käufer mit unzulänglichen Mitteln und zu hohem Preiſe
gekauft hat. Gegenüber demſelben wiederholen ſich dann die
Praktiken, die gegenüber dem erſten Bewucherten ausgeführt
worden ſind.
Liegt nun ein ſolcher Zuſtand gegenwärtig in Deutſchland vor?
Wenn man die deutſche Reichsſtatiſtik der wegen Wuchers
Angeklagten und Verurteilten allein befragt, ſo muß man ſagen:
nein oder doch nur in ſehr geringem Maße; denn die Zahl der
Anklagen iſt eine ſehr geringe, die Zahl der Verurteilungen eine
noch geringere — ja, dieſe letztere ſinkt bei keinem Verbrechen
auf einen ſo niedrigen Prozentſatz der Anklagen herab wie beim
Wucher; und außerdem hat die abſolute und relative Zahl der
Anklagen und Verurteilungen wegen Wuchers ſeit dem Jahre 1882
von Jahr zu Jahr abgenommen.
Ein anderes Bild freilich liefert uns die von dem Verein veran-
ſtaltete Enquete. Man hat dieſer Enquete neuerdings ihre Einſeitig—
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 19
290 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits.
keit, Parteilichkeit, ihre vorſchnellen Generaliſationen, überhaupt ihre
methodologiſchen Mängel vorgeworfen; der Herr Korreferent will
die Güte haben, ſich über dieſen Gegenſtand näher zu verbreiten.
Ich will hier nur bemerken, daß ſich methodologiſch gegen das
eingeſchlagene Verfahren mit Recht manches einwenden läßt; ich
will auch zugeben, daß die einzelnen Antworten, die auf unſere
Fragen eingegangen find, von ungleichem Werte find: aber im
allgemeinen wird doch geſagt werden können, daß das, was durch
eine Enquete auf Grund ſchriftlicher Fragebogen — alſo eines
ſehr unvollkommenen Erforſchungsmittels ſocialer Zuſtände —
geleiſtet werden kann, hier geleiſtet iſt. Auch machen durchaus
alle Berichterſtatter den Eindruck unintereſſierter Sachverſtändigkeit.
Freilich beſchränken ſich die meiſten Berichte auf eine Be⸗
ſchreibung der vorkommenden Wucherformen und des üblichen
Wucherverfahrens; aber daß die vollſtändig unabhängig voneinander
vorgehenden Berichterſtatter in dieſen Beſchreibungen untereinander
übereinſtimmen, bietet, wie ich glaube, eine Gewähr dafür, daß
die von ihnen beſchriebenen Formen und Prozeſſe wirklich typiſche
Bedeutung haben.
Über die Verbreitung des Wuchers haben dieſe Berichte
wenig zahlenmäßig Beſtimmtes geſagt und ſagen können. Aber
wie ſollte ihnen möglich ſein, was ſelbſt der Statiſtik auf dieſem
Gebiete nicht gelingen würde! Wohl aber ſagen ſämtliche Be⸗
richterſtatter, daß in denjenigen Bezirken, die ich oben als eigent⸗
liche Wucherbezirke charakteriſiert habe, der Wucher eine große
Verbreitung findet und bedeutende Nachteile im Gefolge hat;
und auch in anderen Gegenden ſcheint er wenigſtens nicht ganz
zu fehlen.
Dieſe Unterlagen find es denn auch geweſen, die den Reichs⸗
tag veranlaßt haben, einen Notſtand anzuerkennen, der das Ein⸗
ſchreiten der Geſetzgebung verlangt, und ähnliche Erwägungen
ſind es geweſen, die den Vorſtand unſeres Vereins veranlaßt
haben, dieſe Frage auf die heutige Tagesordnung zu ſetzen. Wenn
er ſo vorgegangen iſt, hat er nicht bloß von einem ihm zu⸗
ſtehenden Rechte Gebrauch gemacht, ſondern er hat auch
Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 291
eine Pflicht zu erfüllen geglaubt, indem er einen Gegenſtand, der
die öffentliche Aufmerkſamkeit in hohem Grade auf ſich gezogen
hat, einer möglichſt objektiven Beſprechung hat unterziehen wollen.
Iſt die obige Auffaſſung richtig, daß der Wucher aus einem
thatſächlichen Monopol der Wucherer entſpringt, ſo wird auch
die Bekämpfung desſelben auf die Vernichtung oder wenigſtens
die Einſchränkung des Monopols gerichtet ſein müſſen. Dieſe
Bekämpfung hat ſich demnach gegen dieſelben Elemente zu richten,
die das Monopol konſtituieren.
Alſo A. gegen die Perſon des Wucherers. Perſonen, die die
Befähigung und die Neigung zum Wuchern haben, hat es immer
und überall gegeben und wird es immer geben; es kann alſo
nur darauf ankommen, ihre Zahl möglichſt zu verringern und
ihre Thätigkeit zu paralyſieren. Als ein hierzu dienliches Mittel
erſcheint die Abſchreckung des Wucherers durch Androhung und
Verhängung von Strafen. Dieſen Weg haben das Deutſche
Reichsgeſetz vom 24. Mai 1880 und ebenſo das Oſterreichiſche
Geſetz vom 19. Juli 1887 beſchritten.
Den Inhalt dieſer beiden Geſetze darf ich als bekannt voraus
ſetzen. In denſelben hat der Wucherbegriff gegenüber früheren
Auffaſſungen eine ganz neue Bedeutung erhalten.
Aus der Bezeichnung der „Früchte eines Vermögensſtocks“
überhaupt iſt unter dem Einfluß des kanoniſchen Rechts, wie Sie
wiſſen werden, der Wucher zur Bezeichnung „unerlaubter Früchte“,
zur Bezeichnung des Zinsnehmens überhaupt geworden. Verboten
wird aber ſpeciell das Zinsnehmen durch das kanoniſche Recht,
weil es angeblich gegen das göttliche Gebot des „mutuum date
nihil sperantes“ verſtößt.
Am Schluß des Mittelalters, namentlich aber zur Zeit des
ancien régime, findet der Wucherbegriff dann eine neue Stütze
in der geltenden Verwaltungsrechtsordnung. In einer Zeit, in
der die Preiſe beſtimmter Güter ſowie das Entgelt für eine Reihe
von Produktionsfaktoren geſetzlich geregelt werden, iſt es konſe—
quent, auch für die ausbedungene Kapitalrente, den Kapitalzins,
ein geſetzliches Maximum aufzuſtellen. Die Überſchreitung dieſes
19°
292 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits.
Maximums wird jetzt als Wucher bezeichnet und meiſt nur mit
civilrechtlichen, ausnahmsweiſe aber auch ſchon mit ſtrafrechtlichen
Folgen bedroht.
Als dieſe Verwaltungsrechtsordnung des ancien régime
dann zuſammenbricht und die individuelle Freiheit der Pro⸗
duktion, des Erwerbs, des Verkehrs und des Konſums zur Grund⸗
lage einer neuen Geſamtordnung gemacht wird, verſchwindet in
faſt allen Staaten auch die Zinstaxe mit ihren Folgen: in Preußen
im Jahre 1866, im Norddeutſchen Bund im Jahre 1867.
Aber gegen die abſolute Verkehrsfreiheit der Kapitalnutzung
reagiert dann wieder ſehr bald die Rückſicht auf das öffentliche
Wohl, namentlich auf die kleinen geſchäftsunkundigen Leute, und
dieſe Reaktion findet ihre Stütze in dem Rechtsbewußtſein des
Volkes, indem die Schädigung des Darlehnsnehmers durch den
Darlehnsgeber, wenn der erſtere ſich bei Kontrahierung des Dar⸗
lehns in einer Zwangslage befindet, der Darlehnsgeber aber aus
ſolcher Zwangslage einen übermäßigen Gewinn zieht, unter Strafe
geſtellt wird. 5
g Damit iſt der Wucher aus der Übertretung einer religiöſen
und dann einer verwaltungsrechtlichen Vorſchrift zu einem krimi⸗
nellen Delikt geworden, das, wie der Raub, Diebſtahl, Betrug,
Unterſchlagung, betrügeriſche Bankerott ꝛc., zu den in gewinn⸗
ſüchtiger Abſicht begangenen gerechnet werden kann. Aber wie
die früheren Auffaſſungen des Wuchers, ſo iſt auch die heutige
noch immer auf das Gebiet des Darlehns beſchränkt. Der Wucher
im juriſtiſchen Sinne fällt demnach nach dem allgemeinen Stande
unſerer heutigen Geſetzgebung — wenn man von der Geſetzgebung
einzelner ſchweizer Kantone, wie Aargau und Zürich, abſieht —
nicht mit dem Wucher im wirtſchaftlichen Sinne zuſammen, indem
als ſtrafbar heutzutage allgemein nur der Darlehnswucher und
ſeine Verſchleierung gilt.
Welche Wirkungen hat nun das uns zunächſt angehende
Deutſche Reichsgeſetz vom Jahre 1880 gehabt? Die Statiſtik
zeigt, wie ſchon geſagt, daß es nur ſelten in Anwendung ge⸗
kommen iſt; die Berichterſtatter der Wucherenquete dagegen rühmen
Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 293
faſt ſämtlich die günſtigen Folgen des Geſetzes. Dieſer ſchein—
bare Widerſpruch läßt ſich aber, wie ich glaube, leicht beſeitigen.
Denn zunächſt iſt erreicht, daß der Darlehnswucher abge—
nommen hat. Nachdem das Zinsmaximum und damit der ver—
waltungsrechtliche Begriff des Wuchers aufgehoben worden war,
ſagte ſich mancher: quod licet, honestum est, und ſo füllten
ſich die Cadres der profeſſionsmäßigen Wucherer in den 70er
Jahren, in jenen Zeiten des „Tanzes um das goldene Kalb“,
mit freiwilligen Hülfstruppen: mit Bauern, die ſich auf den
Altenteil in die Stadt zurückgezogen hatten, und ſonſtigen Rentiers,
mit kleinen Kaufleuten und Handwerkern, die ſich nichts Schlimmes
dabei dachten, wenn ſie einen tüchtigen Gewinn aus einem Not⸗
darlehen einſtrichen und wenn ſie ſich bei dieſer Gelegenheit all—
mählich auch der Praktiken des profeſſionsmäßigen Wucherers zu
bedienen lernten. Die Ernüchterung, die nach der Kriſis eintrat,
und das Halt, das ihnen das Wuchergeſetz zurief, hat ſie dann
aber zur Beſinnung gebracht.
Freilich, der Kern der Wucherer iſt geblieben. Aber er ſucht
ſeine Geſchäfte jetzt mehr in andere Rechtsformen als in die des
Darlehens einzukleiden, oder er ſucht den Darlehenswucher mit
anderen Wucherformen zu einem unentwirrbaren Knäuel zu ver-
wickeln. So verbreitet ſich an Stelle des ſeltener gewordenen
Darlehenswuchers der Waren-, Ceſſions-, Vieh- und Grundſtücks⸗
wucher immer mehr. Durch alle dieſe Geſchäfte werden ſehr
hohe, zum Teil — wie die Berichte zeigen — exorbitant hohe
Gewinne erzielt. Der Herr Korreferent hat es übernommen,
Ihnen über dieſe einzelnen Formen und deren Folgen Bericht zu
erſtatten; ich beſchränke mich daher darauf, zu bemerken, daß in
dieſen Geſchäften ſeitens des kleinen Bauern bisweilen eine
geradezu unglaubliche Geſchäftsunkenntnis, namentlich aber eine
große Unfähigkeit, ſich in den Formen des Kreditverkehrs zu be—
wegen, zu Tage tritt und daß der Bauer, obgleich er ſeit mehr
als einem halben Jahrhundert und in manchen Gegenden ſeit
Jahrhunderten im Beſitz der perſönlichen Freiheit und ſeit einigen
Jahrzehnten auch im Beſitz der politiſchen Vollberechtigung iſt,
294 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits.
in wirtſchaftlicher Beziehung doch noch in hohem Grade erziehungs⸗
bedürftig erſcheint. Die Aufgabe des Staats und der Geſellſchaft
wird es nun ſein, dieſe Erziehung an Stelle des Wucherers zu
übernehmen. | i
Ehe ich auf die in Anwendung zu bringenden Erziehungs⸗
mittel zu ſprechen komme, habe ich zunächſt der Vorſchläge zu
gedenken, die einen weiteren Ausbau der geltenden Wuchergeſetz⸗
gebung erſtreben und daher ebenfalls gegen die Perſon des
Wucherers gerichtet ſind. In dieſer Beziehung kommt namentlich
folgendes in Betracht.
1. Es iſt vorgeſchlagen worden, es möge im Deutſchen Reiche
der bisher auf das Darlehnsgeſchäft beſchränkte heutige Begriff
des Wuchers hinfort auf alle oneroſen Verträge ausgedehnt
werden. Das kann nun geſchehen durch einfache Erweiterung
des bisherigen Geſetzes nach dem Vorbilde der Geſetzgebung der
Kantone Zürich und Aargau, wie u. a. die dem Reichstag zu⸗
gegangene Petition des Antiwuchervereins für das Saargebiet
verlangt, oder im Wege der Ergänzung des bisherigen Geſetzes
durch eine Reihe von Specialgeſetzen für die verſchiedenen Formen
des Wuchers. Eine ſolche Ergänzung wenigſtens hinſichtlich des
mit dem Viehleihgeſchäft verbundenen Wuchers iſt auch vorgeſchlagen
worden von dem Profeſſor v. Lilienthal, der ſich in letzter Zeit
in ſehr eingehender Weiſe vom juriſtiſchen Standpunkt, aber nicht
allein von dieſem, mit der Wucherfrage beſchäftigt hat.
Für die allgemeine Ausdehnung des Wucherbegriffs darf nun,
wie ich glaube, das Beiſpiel der beiden Schweizer Kantone nicht
herangezogen werden. Denn dieſes für größere wirtſchaftliche
Verhältniſſe heranziehen, hieße ebenſoviel, wie wenn man die
Landsgemeinde einiger Urkantone als Muſterverfaſſung für das
Deutſche Reich empfehlen wollte.
Wohl aber ſcheint für eine ſolche allgemeine Ausdehnung des
Wucherbegriffs die ratio des geltenden Geſetzes zu ſprechen; denn
allen Wucherformen liegt derſelbe oder doch ein ähnlicher ſubjektiver
und objektiver Thatbeſtand zu Grunde. Mit einem ſolchen Schritt
würden wir aber den bisherigen hiſtoriſchen Boden des Wucher⸗
Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 295
begriffs vollſtändig verlaſſen, indem wir den Grundſatz der An—
gemeſſenheit von Leiſtung und Gegenleiſtung für den geſamten
privatwirtſchaftlichen Verkehr proklamieren, die Formulierung
und Anwendung des Grundſatzes aber in jedem einzelnen Falle
dem Richter überlaſſen würden. Das hieße aber den Richter zu
einer Art Cenſor für den geſamten wirtſchaftlichen Verkehr machen;
denn unter den in ſolcher Geſtalt erweiterten Wucherbegriff würde
nicht nur der eigennützige Geſchäftsfreund des kleinen Bauern,
ſondern z. B. auch der große Bankier fallen, der einem in Finanz⸗
not befindlichen Staate eine Anleihe gegen hohe Proviſion ver⸗
mittelt, und ebenſo der Fabrikant, der inmitten einer an Hunger⸗
löhne gewöhnten Bevölkerung ein Etabliſſement errichtet, aus dem
er einen hohen Unternehmergewinn zieht, ꝛc. ꝛc.
Es würde, wie ich glaube, ein ſolches Geſetz den Richter
vor eine innerhalb der heutigen Wirtſchaftsordnung unlös—
bare Aufgabe ſtellen. Ich halte ſie für unlösbar, da bei der
Beurteilung der Angemeſſenheit von Leiſtung und Gegenleiſtung
für die Mehrzahl der oneroſen Verträge der für Darlehnsverträge
gegebene Maßſtab des landesüblichen Zinsfußes fehlen würde.
Und dennoch würde es dem Richter an Zumutungen, dieſe von
der Geſetzgebung ſchwer lösbare Aufgabe nun ſeinerſeits zu löſen,
nicht fehlen. Die Folge eines ſolchen Zuſtandes würde eine tief—
greifende Erſchütterung der geſamten Produktion und des geſamten
Verkehrs ſein.
Ich kann daher zu einem ſolchen Sprung ins Dunkle eben-
ſowenig raten, wie ich mich auch mit zwei anderen weniger weit⸗
gehenden Vorſchlägen nicht einverſtanden zu erklären vermag.
2. Der eine dieſer von verſchiedenen Seiten angeregten Vor⸗
ſchläge will die gewerbsmäßigen Geldverleiher dem Zwang der
Buchführung und dieſe Buchführung wiederum der Kontrolle der
Verwaltungsbehörden unterwerfen. Bei der heutigen Verquickung
des Darlehnsgeſchäfts mit einer Reihe anderer Geſchäfte müßte
dieſer Buchführungszwang konſequenterweiſe auf alle Perſonen,
die mit den kleinen Leuten in Geſchäftsverbindung ſtehen,
ausgedehnt werden. Ein ſolcher Zwang, wenn ordnungs—
296 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits.
mäßig gehandhabt, würde nun zwar unzweifelhaft viel zur Ent⸗
ſchleierung mancher dunklen Wuchervorgänge beitragen. Aber iſt
an eine ordnungsmäßige Buchführung bei Perſonen, die ſich im
ſteten Kampfe mit dem Geſetz befinden und deren ganzes Sinnen
und Trachten darauf gerichtet iſt, dasſelbe zu umgehen, überhaupt
zu denken? und wäre die Aufſicht der Verwaltungsbehörden in
quantitativer und namentlich in qualitativer Beziehung überhaupt
realiſierbar? Ich ſtehe nicht an, beide Fragen mit einem Nein
zu beantworten.
3. Nicht minder unzuläſſig erſcheint mir, wie ebenfalls vor⸗
geſchlagen worden iſt, ein den Anwälten gegenüber auszuſprechen⸗
des Verbot, die Vertretung von Wucherprozeſſen zu übernehmen.
Denn müßte ihnen nicht aus demſelben Grunde die Vertretung
des Mörders, des Betrügers, des Diebes unterſagt werden? Ein
Wucherer iſt doch nur derjenige, der vom Gericht als ſolcher ver⸗
urteilt wird; behauptet nun aber nicht jeder Anwalt, der die
Vertretung eines Wucherers übernimmt, bis zu dieſer Verurteilung
die Überzeugung zu haben, daß ſein Klient unſchuldig ſei? und
wie will man ihm die mala fides nachweiſen? Ein ſolches Ver⸗
bot würde überhaupt der Idee, die dem Anwaltsſtande zu Grunde
liegt, widerſprechen. Dagegen wäre wohl zu wünſchen, daß die
Anwaltskammern gegen diejenigen ihrer Mitglieder auf dem Dis⸗
ciplinarwege ſchärfer vorgehen, die ſich der wiederholten Ver⸗
tretung von Wucherern ſchuldig machen.
4. Die Beſeitigung oder Einſchränkung der Wechſelfreiheit
glaube ich hier nicht näher berühren zu ſollen. Dieſe Frage
wurde früher häufig ventiliert, iſt aber gegenwärtig von den
meiſten Berichterſtattern kaum geſtreift und nur von einigen
wenigen die Beſchränkung der Wechſelfreiheit empfohlen worden.
Dagegen ſcheinen mir folgende Vorſchläge für die Erreichung des
zu erſtrebenden Zieles der Einengung und Beſchränkung des Wuchers
zweckdienlich und zugleich durchführbar zu ſein. Ich rechne dazu
1. eine ſchärfere Handhabung des Wuchergeſetzes. Dieſe
ſchärfere Handhabung wird hauptſächlich bedingt ſein durch eine
weniger formaliſtiſche Ausbildung unſerer Juriſten, durch ein
Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 297
tieferes Eindringen derſelben in die engen Beziehungen, die
zwiſchen Wirtſchaft und Recht beſtehen, und durch ein größeres
Sich⸗Vertraut⸗Machen derſelben mit dem Leben. Dieſe Forde—
rung hängt aufs engſte zuſammen mit dem heutzutage allgemein
verbreiteten Ruf nach einer beſſeren Vor- und Ausbildung unſerer
Juriſten.
Die ſchärfere Handhabung des Wuchergeſetzes wird ſodann
weiter bedingt durch eine lebendigere Teilnahme der Geſellſchaft
an der Klarlegung der Wucherfälle. Welchen Weg man in dieſer
Beziehung einzuſchlagen hat, das zeigen die Antiwucher- bez.
Rechtsſchutzbereine an der Saar, am Rhein, in Heſſen ꝛc., die
das erforderliche Material für die Durchführung von Wucher—
prozeſſen ſammeln, die Bewucherten durch Belehrung und Über—
nahme der Prozeßkoſten unterſtützen und für das Bekanntwerden
der entlarvten Wucherer und der von ihnen benutzten Formen
und Praktiken ſorgen. Dieſe Beiſpiele verdienen Nachahmung.
Aber nicht überall werden ſich Männer finden mit der Sach—
kenntnis, dem Mut, der Opferwilligkeit, der Ausdauer, die
erforderlich ſind, um ſolche Specialvereine zu begründen und zu
leiten. Es ſollten daher, um die Erfolge dieſer Vereine auf
weitere Gebiete zu übertragen, die allgemein verbreiteten land—
wirtſchaftlichen Vereine und die ſich immer mehr verbreitenden
Bauernvereine die Funktionen ſolcher Rechtsſchutzvereine über—
nehmen. Wenn die landwirtſchaftlichen Vereine überhaupt die
Zeichen der Zeit verſtehen, ſo werden ſie ihre Thätigkeit in Zu⸗
kunft nicht, wie bisher meiſtenteils, auf die Belehrung der
größeren Grundbeſitzer in landwirtſchaftlich-techniſchen Fragen be-
ſchränken, ſondern dieſelbe immer mehr auf die volkswirtſchaft—
liche Belehrung, auf die Förderung und Unterſtützung ihrer
Mitglieder ausdehnen und zugleich beſtrebt ſein, auch die kleinen
Bauern in den Kreis ihrer Thätigkeit zu ziehen. Welchen Weg
ſie in der Zukunft zu wandeln haben, das zeigen ihnen die gut—
geleiteten Bauernvereine. Zu den letzteren rechne ich nur die—
jenigen, die das wirtſchaftliche und ſittliche Wohl ihrer Mit-
glieder — und dieſes allein — im Auge haben, nicht aber
298 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organifation d. ländl. Kredits.
diejenigen Bauernvereine, die nichts anderes ſind als maskierte
politiſche Agitationsvereine.
Auch der von Profeſſor von Lilienthal gemachte Vorſchlag,
die Notare, die Hypothekenämter, die Grundbuchverwalter, die
Richter zu verpflichten, daß ſie von wucheriſchen Thatſachen, von
denen ſie amtliche Kenntnis erhalten, Anzeige machen, würde die
Handhabung des Wuchergeſetzes weſentlich erleichtern.
2. Neben der ſchärferen Handhabung des Wuchergeſetzes
kann auch der Erhöhung der für den Wucher angedrohten Straf⸗
minima und -maxima das Wort geredet werden, da für beſonders
qualifizierte Wucherfälle die geſetzlich firierten Strafminima und
maxima zu niedrig erſcheinen.
3. Um den Einfluß der Wucherer zu durchkreuzen, empfiehlt
es ſich ſodann, für alle Teile des Reichs die Vorſchrift zu er⸗
laſſen, daß Verträge über Immobilien nur ſchriftlich und wo
möglich nur unter Mitwirkung öffentlicher Notare und Gerichte
abgeſchloſſen werden dürfen. Denn ſolange in einigen Ländern,
wie z. B. Baden noch heute, zum Vertragsſchluß über die Im⸗
mobilien ſchon der mutuus consensus genügt, ſtehen der Über⸗
redung und Überliſtung der Bauern durch den Wucherer Thür
und Thor offen.
4. Die bei den privaten Verſteigerungen üblichen Praktiken
zur Erzielung ungerechtfertigt hoher Güterpreiſe, deren Schau⸗
platz, wie ſchon geſagt, gewöhnlich das Wirtshaus iſt, wird man
gründlich nur durch ein gegen die Grundſtücksverſteigerung unter
Leitung von Privatperſonen und in Wirtshäuſern zu erlaſſendes
Verbot beſeitigen. — Ein ſolches Verbot beſteht u. a. bereits
in Württemberg und zwar auf Grund eines Geſetzes von 1853,
auf das ich ſpäter noch näher einzugehen haben werde. — Über
die Nützlichkeit eines ſolchen Verbots dürfte kein Zweifel beſtehen;
aber auch ſeine rechtliche Begründung dürfte nicht ſchwer fallen.
Denn wendet ſich der Verſteigerer mit ſeinem Angebot an die
Offentlichkeit, ſo vollzieht er damit einen öffentlichen Akt, deſſen
Delegation an Privatperſonen durch nichts begründet iſt. Es
möge daher in Zukunft das, was öffentlicher Natur iſt, auch von
Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 299
Beamten des Staates oder der Gemeinden und in Formen, welche
der Würde und Bedeutung der Offentlichkeit entſprechen, voll-
zogen werden.
5. Thut eine Erſchwerung des ſpekulativen Güteraus—
ſchlachtens, des ſogenannten Gütermetzgens, not. Man braucht
den Wert der aufſteigenden Klaſſenbewegung, die auf dem Lande
mit dem Ankauf eines Hauſes und eines kleinen Landſtücks be—
ginnt und ſich in allmählicher Erweiterung des Beſitztums fort—
ſetzt, durchaus nicht zu verkennen und wird doch die Vermittelung
der Gütermetzger zu dieſem Zweck für entbehrlich, ja für über—
wiegend ſchädlich halten. Denn wer die zum Ankauf eines kleinen
Grundſtücks erforderlichen Erſparniſſe gemacht hat und wer zu
Preiſen kaufen will, bei denen er beſtehen kann, wird bei der
heutigen Verkehrsfreiheit dieſes Bedürfnis in der Regel auch ohne
jene Vermittler befriedigen können; und wo dies nicht der Fall
ſein ſollte, muß durch andere Mittel für ſolche Befriedigung ge—
ſorgt werden. Der gewerbsmäßige Gütermetzger ſchafft nun aber
infolge der übermäßigen Höhe, auf die er durch künſtliche Mani-
pulationen die Preiſe der Grundſtücke hinaufzubringen pflegt, in
der Regel nicht etwa Exiſtenzen, die proſperieren und ſich auf—
wärts bewegen, ſondern umgekehrt Exiſtenzen, welche ſich der
neugeſchaffenen Lage nicht gewachſen zeigen und nach Verluſt
ihrer geringen Erſparniſſe auf eine niedrigere ſociale Stufe
hinabgleiten. Dieſen Mißbrauch der Verkehrsfreiheit ſucht das
Württembergiſche Geſetz vom 23. Juni 1853 zu beſeitigen. Der
hier in Betracht kommende Inhalt dieſes Geſetzes beſteht darin,
daß Erwerber von Grundſtücken dieſelben in Parzellen an andere
während der erſten drei Jahre nach dem Kauf nicht veräußern
dürfen, es ſei denn, daß ſie die Genehmigung der betreffenden
Verwaltungsbehörde, der Kreisregierung, dafür erlangen; die
Genehmigung ſoll aber nur dann erteilt werden, wenn wirklich
ein mit dem allgemeinen Intereſſe im Einklang ſtehendes Be-
dürfnis zu einer ſolchen Zerſtückelung vorliegt. Dieſes württem⸗
bergiſche Geſetz wird nun, wie mir von württembergiſchen Be—
amten mitgeteilt worden iſt, ſeitens der Kreisregierungen im
300 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organifation d. ländl. Kredits.
allgemeinen ſehr liberal gehandhabt, und es werden die Zügel
nur dann ſtrammer angezogen, wenn ſich in einer Gegend
gewerbsmäßige Wucherer in größerer Anzahl einzuſtellen pflegen.
Daß die gewerbsmäßigen Wucherer eine ſolche Erſchwerung
ihrer Praxis zu umgehen ſuchen werden, indem ſie namens
und im Auftrage ihrer Opfer zu handeln vorgeben, ſteht zu
erwarten: aber es laſſen ſich gegen ſolche Umgehungen Kautelen
ſchaffen, wie denn auch das württembergiſche Geſetz mit Erfolg
ſolche Kautelen geſchaffen hat. Jedenfalls würde ein ſolches
Geſetz in Verbindung mit der Übertragung ſämtlicher Grund⸗
ſtücksverſteigerungen an öffentliche Beamte einen viel genaueren
Einblick in das Treiben der Wucherer ermöglichen, das ja ge⸗
wöhnlich in ſolchen Grundſtücksverſteigerungen kulminiert, als der
befürwortete Buchführungszwang das zu thun vermöchte.
Nun wird man mir vielleicht entgegnen, daß das Güter⸗
metzgen ſeit der agrariſchen Kriſis, in der wir uns befinden,
geringere Dimenſionen angenommen hat, indem die Wucherer es
heutzutage vielfach vorteilhafter finden, ihre Schuldner auf der
Scholle ſitzen zu laſſen, damit dieſelben im Schweiße ihres An⸗
geſichts die Zinſen für ihre modernen Feudalherren herausarbeiten.
Das iſt richtig; aber Geſetze werden ja nicht für einen Tag,
ſondern für die Dauer gemacht, und das Gütermetzgen hat auch
heute noch nicht vollſtändig aufgehört, wie man ſich aus dem
Inſeratenteil unſerer Zeitungen überzeugen kann, in denen gar
nicht ſelten Annoncen der Art vorkommen, daß Kapitaliſten ge⸗
ſucht werden zum Zwecke ſehr lukrativer Güterzerſtückelungen.
Auch wird das Geſchäft bei beſſeren Konjunkturen ſicher wieder
in Blüte kommen.
6. Wenn das Angebot von Ba namentlich in der Form
von kleinen Parzellen, ſoweit ſeine Folgen überwiegend ſchädliche
ſind, eingeſchränkt werden muß, ſo darf die Geſetzgebung doch
nicht zulaſſen, daß das Land auch dort dem Verkehr entzogen
werde, wo dieſer Verkehr der ungünſtigen Folgen entbehren würde.
Nun befindet ſich heutzutage ein nicht unerheblicher Teil des
deutſchen Bodens in fideikommiſſariſcher Gebundenheit und iſt
Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 301
dadurch dem Verkehr entzogen. Als notwendiges Korrelat zu der
obigen Maßregel einer Erſchwerung der gewerbsmäßigen Güter-
zerſtückelung erſcheint daher die den gegenwärtigen Fideikommiß—
beſitzern einzuräumende Erleichterung zur Abtrennung mittlerer
und kleiner Güter von ihren Grundbeſitzkomplexen und das Ver—
bot oder wenigſtens die Erſchwerung der Errichtung neuer ſowie
der Vergrößerung beſtehender Fideikommiſſe.
Die bisher gegen den Wucher empfohlenen Maßregeln waren
faſt ausſchließlich repreſſiver Natur, ſie ſollten den Wucherer ein—
ſchüchtern und ſein gemeingefährliches Thun verhindern oder doch
erſchweren und durchkreuzen. Aber da es niemals gelingen wird,
die waghalſigſten, verſchmitzteſten, gefährlichſten Elemente unter
denſelben und ihr wucheriſches Treiben vollſtändig zu beſeitigen,
ſo wird eine radikale Beſſerung der Zuſtände B. an diejenigen
Perſonen anknüpfen müſſen, aus denen der Wucherer ſich ſeine
Objekte holt. Dieſe gegenüber dem Wucherer widerſtandsfähiger
zu machen, muß daher das letzte Ziel aller Antiwucherbeſtrebungen
ſein. Mit der Aufklärung über die verderblichen Folgen des
Wuchers, mag man ſie noch ſo hoch veranſchlagen, wird aller—
dings nicht alles gethan ſein; wo wirkliche Notſtände oder tief—
eingewurzelte unwirtſchaftliche Lebensgewohnheiten ganzer Be—
völkerungsklaſſen vorliegen oder wo zur Befriedigung ihrer legi—
timen Bedürfniſſe die nötigen Einrichtungen fehlen, da bedarf es
umfangreicherer und zugleich tiefergehender Anſtrengungen.
Dieſe Anſtrengungen werden ſich in erſter Linie zu richten
haben gegen diejenigen Beſitzverhältniſſe und Lebensbedingungen,
die im natürlichen Verlauf der Dinge immer wieder nach beſtimmten
Intervallen zu Notſtänden führen. Die Notſtände entſpringen
nun aber aus dem Kleingütlertum dort, wo für dieſes Klein-
gütlertum die zum Gedeihen desſelben erforderlichen Voraus—
ſetzungen fehlen, alſo wo der Boden wenig ergiebig oder ſchwer
zu bearbeiten und das Klima rauh iſt, wo es an zahlreichen
konſumtionsfähigen Städten und an einer verbreiteten Induſtrie
fehlt, wo Handelsgewächs⸗, Hopfen⸗ und Rebbau entweder durch
die natürliche Ausſtattung einer Gegend ausgeſchloſſen oder aus
302 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits.
anderen Gründen nicht lohnend iſt, endlich wo es am Abſatz für
den Gemüſebau und an lohnbringender Nebenbeſchäftigung fehlt.
Es wäre ſchon viel gewonnen, wenn die vielleicht etwas zu
ausſchließlich von ſocialpolitiſchen Geſichtspunkten beherrſchte
Theorie dieſe Grenzen für die gedeihliche Ausbreitung des kleinen
Bauernſtandes allgemein anerkennen und derſelben nicht auch dort
das Wort reden wollte, wo die Bedingungen dieſer gedeihlichen
Exiſtenz fehlen, und wenn dieſe Theorie gleichzeitig anerkennen wollte,
daß ein befriedigender Zuſtand der kleinen bäuerlichen Bevölkerung
nur möglich iſt in Verbindung mit einem kräftigen, ſpannfähigen
Bauernſtande und vor allen Dingen mit geſunden Gemeindeverhält⸗
niſſen. Auch wäre es eine dringende, wenngleich bisher nur zu ſehr
vernachläſſigte Aufgabe der Volkswirtſchaftspolitik, krankhafte
Zuſtände der Grundbeſitzverteilung zu heilen und ihre Wiederkehr
ſowie namentlich ihre Verbreitung nach Möglichkeit zu verhindern.
Ich ſage: nach Möglichkeit; denn der Kampf gegen die Über⸗
völkerung, die Schollenkleberei, die unnatürliche Preisbildung
ſowie die extreme Verſchuldung, Zerſtückelung und Parzellierung
des Grundbeſitzes iſt um ſo ſchwerer, je enger hier manche
Schattenſeiten des Volkslebens mit geſunden und ehrenhaften
Eigenſchaften des Volkes verknüpft ſind und je feſter beide in
der Volksſeele wurzeln. Auch iſt eine Anderung und Beſſerung
von Zuſtänden, die mit der urſprünglichen Beſiedelung des
Bodens und mit der tauſendjährigen Geſchichte einzelner Volks⸗
ſtämme zuſammenhängen, nicht von heute auf morgen zu be⸗
wirken. Um ſo gründlichere und konſequentere Sorgfalt ſollte
aber auf dieſe Beſſerung ſeitens des Staates verwandt werden.
Die Erſchwerung der Naturalteilung des Bodens und der Bildung
künſtlich hoher Güterpreiſe, die Zuſammenlegung unwirtſchaftlich
gelegener Parzellen, die Zufuhr von Kapital von außen und
der Abfluß der überſchüſſigen Bevölkerung nach außen ſollte
nach Möglichkeit angeſtrebt und vor allem die Ausbreitung des
krankhaften Klein- und Zwerggütlertums in Gegenden, wo das⸗
ſelbe noch nicht beſteht, verhütet werden. Uns im Nordoſten
Deutſchlands würde ja eine Ausbreitung des mittleren und
Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 303
kleinen Beſitzes vielfach not thun; aber wir haben uns auch
immer zu erinnern, daß die Grenzen für die Proſperität des
letzteren hier viel enger gezogen ſind als in dem mit im ganzen
fruchtbarerem Boden und milderem Klima ausgeſtatteten, jtädte-,
induſtrie⸗ und kapitalreicheren Süden und Südweſten.
Ahnlich weitausſchauend wie die Hebung der wirtſchaftlichen
Lage dürfte die Hebung des geiſtigen und ſittlichen Niveaus der
Bevölkerung in den Wucherbezirken ſein. Wir ſtehen hier vor einer
für unſere geſamte zukünftige Entwickelung hochbedeutſamen Kultur—
frage, vor der Frage nämlich, wie der ländlichen Bevölkerung auf—
geklärtere Anſchauungen und beſſere wirtſchaftliche Gewohnheiten
und Sitten vermittelt werden können oder, mit einem Worte,
wie dem deutſchen Bauern etwas von dem Selbſtbewußtſein, der
Anſtelligkeit und Findigkeit des amerikaniſchen Farmers beizu—
bringen iſt. Es iſt das eine Aufgabe, die nur durch größere
ſociale Ausgleichung der verſchiedenen Klaſſen im Laufe der Zeit
gelöſt werden wird, eine Aufgabe, deren Löſung aber immerhin
beſchleunigt werden kann durch einen mehr auf das praktiſche
Leben hinzielenden Unterricht in der Volksſchule und in den
landwirtſchaftlichen Unterrichtsanſtalten, durch eine ſelbſtloſe
Hingabe der oberen und mittleren Klaſſen an die Intereſſen der
ländlichen Bevölkerung, durch ein ſtärkeres Heranziehen der letzteren
in das Genoſſenſchafts- und Vereinsleben zu gemeinſamem Raten
und Thun mit den gebildeten Klaſſen, endlich für unſeren Oſten
auch durch eine reichere Ausbildung der Selbſtverwaltung in der
Gemeinde.
Es möge mir geſtattet ſein, an dieſer Stelle mit einigen
Worten auf einen der eben berührten Punkte näher einzugehen,
nämlich auf die Genoſſenſchaften und ſpeciell auf die Ankaufs—
genoſſenſchaften oder landwirtſchaftlichen Konſumvereine und die
Verkaufs⸗ oder landwirtſchaftlichen Abſatzgenoſſenſchaften. Die—
ſelben haben, abgeſehen von ihrer großen erziehlichen Bedeutung,
indem ſie dem Bauern Vertrauen zu ſich ſelbſt und Vertrauen
zu ſeinesgleichen geben, auch die Aufgabe, ihn beim Ankauf der—
jenigen Gegenſtände, deren er zu ſeinem Betriebe bedarf, und
304 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits.
beim Verkauf ſeiner Produkte möglichſt günſtig zu ſtellen. Wenn
es auch überraſchend und zugleich erfreulich iſt, daß ſich dieſe
Genoſſenſchaften nach dem Syſtem Schulze-Delitzſch in den letzten
Jahrzehnten namentlich unter dem Druck der Kriſis ſehr bedeutend
verbreitet haben, ſo bleibt hier doch noch viel zu thun übrig. Es
muß namentlich den Abſatzgenoſſenſchaften noch ein weites Gebiet
erobert werden — das Gebiet des Abſatzes von Vieh, Getreide,
Flachs, Hopfen, Wein u. ſ. w., und es bedarf noch einer Reihe
von Veranſtaltungen, die an die Genoſſenſchaften zu knüpfen ſind
und von denen dieſelben bisher noch wenig Notiz genommen haben.
Ich erinnere hier vor allem an die Errichtung von Lagerhäuſern
in Verkehrsmittelpunkten, an die Lombardierung der über die ge-
lagerten Warenvorräte ausgeſtellten Warrants u. ſ. w.
Durch die eben angeführten Einrichtungen wird es all⸗
mählich gelingen, den Bauer von dem Warenwucher frei zu
machen.
Um ihn aber auch der Wirkſamkeit des Kreditwuchers zu
entziehen, bedarf es ſchließlich ſolcher Einrichtungen, die dem
Bauern einen Kredit gewähren, welcher der Natur des Grund⸗
beſitzes und des landwirtſchaftlichen Betriebes entſpricht und auf
die Anſchauungen und Gewohnheiten des Bauern mehr Rückſicht
nimmt, als es gegenwärtig gewöhnlich geſchieht. Und damit
komme ich zum zweiten Gegenſtande meines Referats, zur Frage
der ländlichen Kreditorganiſation.
II.
Um dieſen Anforderungen zu entſprechen, muß
1. der Kredit dem Bauern ſo billig gewährt werden, als
es die Konjunkturen des Kapitalmarktes nur irgend geſtatten.
Es muß 2. der Bauer zur Benutzung des für ihn ſo wichtigen
Perſonalkredits erſt noch herangebildet werden; denn derſelbe
kennt den Wert des Betriebskapitals vielfach noch gar nicht ge⸗
nügend und verſteht es nicht, ſich dasſelbe im Wege des Perſonal⸗
kredits zu verſchaffen und dieſen richtig zu benutzen;
Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 305
3. müſſen, je nach den Verwendungszwecken des durch den
Kredit beſchafften Geldes, die Kreditfriſten verſchieden abgeſtuft
und muß in dieſer Beziehung zwiſchen dem Real- und Perſonal⸗
kredit genauer unterſchieden werden.
4. Da die Ausgaben, denen der ſogenannte Beſitz- und
Meliorationskredit dient, ſich in ziemlich regelmäßigen Intervallen,
alſo etwa nach einem Menſchenalter, wiederholen, ſo muß, wenn
nicht der Grundbeſitz überſchuldet werden ſoll, für die Abſtoßung
ſolcher Schulden während dieſer Intervalle geſorgt werden.
Eine ſolche Tilgung des Kredits geſchieht nun aber er—
fahrungsmäßig nicht in dem gewünſchten Umfange, wenn ſie
lediglich in das freie Belieben des Schuldners geſtellt wird; es
iſt daher zu fordern, daß mit dem Immobiliarkredit regelmäßig
der Amortiſationszwang verbunden ſei, dergeſtalt jedoch, daß bei
außergewöhnlichen Einnahmen der Schuldner auch ſtärker tilgen
könne und daß die Zahlung der regelmäßigen Tilgungsbeträge
in Zeiten der Not geſtundet werde.
5. Endlich iſt die Gewährung von Perſonal- und Realkredit
wenn irgend möglich in einer und derſelben Anſtalt zu verbinden,
wie auch ſchon Rodbertus, wie ich glaube: mit Recht, verlangt hat.
All dieſe Aufgaben können und werden aber heute in der
Regel nicht von einzelnen Kreditgebern (Individualkredit), ſondern
nur von Kreditanſtalten (Anſtaltskredit), die auf die Bedürfniſſe
des Bauern zugeſchnitten ſind, gelöſt werden. Wenn ich ſage:
in der Regel, ſo will ich von derſelben ausdrücklich ausnehmen
die Stiftungen mannigfacher Art, deren große namentlich in
katholiſchen Ländern vorhandene Kapitalien dem Hypothekarkredit
zur Verfügung ſtehen, ſowie diejenigen Banken und Bankiers,
welche — wie namentlich aus Mecklenburg, Schleswig-Holſtein,
Oldenburg u. ſ. w. berichtet wird — bei Gewährung von Per⸗
ſonalkredit an Landwirte in ihren Bedingungen ebenſo coulant
wie mäßig ſind. Aber für die Geſamtheit der kleinbäuerlichen
Bevölkerung kommen ſolche Kreditgeber doch nur wenig in Be—
tracht. Es thun daher gut organiſierte Kreditanſtalten um ſo mehr
not, je mehr der legitime Individualkredit ſich auf ein immer
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 20
306 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits.
kleineres Gebiet zurückzieht. Verwandte, Nachbarn, Berufsgenoſſen,
reelle Geſchäftsfreunde, welche früher ihr Kapital den Grund⸗
beſitzern in großem Betrage zur Dispoſition ſtellten, haben heute
ſehr wenig Neigung dazu und zwar aus Gründen, die ja in
unſerer allgemeinen ſocialen und wirtſchaftlichen Entwickelung
ihre Erklärung und zum Teil auch ihre Rechtfertigung finden.
So bleiben denn — je länger, um ſo mehr — als Privat⸗
gläubiger nur ſolche Perſonen übrig, die aus dem dem Landmann
gewährten Kredit einen außergewöhnlichen Gewinn ziehen wollen.
Soll das Gebiet ihrer Thätigkeit eingeſchränkt werden, ſo iſt
dafür zu ſorgen, daß dem Bauern überall Kreditanſtalten zur
Verfügung ſtehen, welche ſeinem gegenwärtigen Kulturzuſtande
entſprechen.
Wie iſt es nun in dieſer Beziehung mit unſeren Kredit⸗
organiſationen beſtellt? entſprechen ſie den an ſie geſtellten An⸗
forderungen in quantitativer und qualitativer Beziehung vollſtändig
oder nicht? Eine kurze Inventariſierung des Beſtandes dieſer
Anſtalten wird die Antwort auf dieſe Frage geben. Bei dieſer
Gelegenheit werde ich mich ausſchließlich der dem Jahre 1885
angehörigen Zahlen bedienen, da mir nur dieſe in einiger Voll⸗
ſtändigkeit vorliegen.
Ich unterſcheide zunächſt zwei Kategorieen derartiger Kredit⸗
anſtalten: ſolche, denen dieſe Kreditgewährung Zweck und die
Herbeiſchaffung des erforderlichen Kapitals nur Mittel iſt, und
ſolche, die die Gewährung des ländlichen Kredits lediglich als
Mittel anſehen, um ihr Kapital zins- und dividendenbringend
anzulegen. Während die erſteren Anſtalten daher lediglich für
die ländliche Bevölkerung da ſind und ihre Intereſſen verfaſſungs⸗
mäßig und prinzipiell berückſichtigen, thun die letzteren dies nur
inſoweit, als dadurch zugleich die Intereſſen des Kapitals, deſſen
Vertretung ihnen in erſter Linie obliegt, gefördert werden. In
den erſteren Anſtalten ſteht ſomit das organiſierte Intereſſe des
Grundbeſitzes dem einzelnen Kapitaliſten oder einer Summe von
ſolchen, in den letzteren das organiſierte Intereſſe des Kapitals
dem einzelnen Grundbeſitzer gegenüber.
uA
Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 307
Wer an das Dogma der Intereſſenharmonie gller Klaſſen
und der durch ſie repräſentierten Produktionsfaktoren nicht blind
glaubt, wird zugeſtehen müſſen, daß die Intereſſen des beweg—
lichen Kapitals und des Grundbeſitzes auseinandergehen können
und daß die Wahrung der Intereſſen des letzteren nur dort in
der richtigen Hand iſt, wo fie prinzipiell und ohne Nebenrück—
ſichten angeſtrebt wird.
A. Zu der einen und zwar zur zweiten Klaſſe von Anſtalten
zähle ich 1. die Bodenfredit- oder Hypothekenbanken. Die ledig⸗
lich dem hypothekariſchen Kredit dienenden Bodenkreditbanken,
welche meiſtenteils Aktiengeſellſchaften ſind, ſtammen aus einer
Zeit, in welcher der Individualkredit ſich vom ländlichen Grund—
beſitz in erheblichem Maße zurückzuziehen begann, die genoſſen—
ſchaftlichen Kreditinſtitute aber dem Bedürfnis der Landwirte —
wegen der niedrigen Beleihungsgrenze und aus anderen Gründen
— nicht genügten. In dieſer Zeit haben die Hypothekenbanken
allerdings hauptſächlich dem ſtädtiſchen, aber auch dem ländlichen
Grundbeſitz nicht unweſentliche Dienſte geleiſtet, ſich dieſe Dienſte
aber auch teuer bezahlen laſſen und durch eine Reihe von Be—
dingungen, welche wohl dem Intereſſe des durch dieſe Anſtalten
repräſentierten Kapitals, nicht aber auch zugleich dem des länd—
lichen Grundbeſitzes dienen, ſich die Gunſt des letzteren nicht
zu erhalten gewußt, namentlich dann nicht, als der Geldmarkt
flüſſiger geworden war, und namentlich dort nicht, wo die älte—
ren genoſſenſchaftlichen Inſtitute ſich in ihrer Praxis den neu
entſtandenen Bedürfniſſen mehr anzupaſſen und die Schuldner
die Läſtigkeit der von ihnen eingegangenen Bedingungen, an die
ſie für längere Zeit gebunden waren, einzuſehen anfingen. Das
durch die Rückſicht auf die Erzielung hoher Dividenden geleitete
Streben dieſer Inſtitute, ihren Geſchäftskreis möglichſt zu er—
weitern, hat ſie ferner nicht immer die wünſchenswerte Vorſicht
bei Beleihung der Immobilien beobachten laſſen, und auch ſonſt
hat ihre Geſchäftsführung nicht überall die nötige Garantie der
Solidität, wie ja neuere Vorgänge (Gothaer Grundkreditbank!)
zeigen, geboten.
20 *
308 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organifation d. ländl. Kredits.
Aus dieſen Gründen beſteht, wenigſtens im Norden Deutſch⸗
lands und ſperiel in Preußen, für dieſe Anſtalten in der länd⸗
lichen Bevölkerung keine große Zuneigung.
Im Süden Deutſchlands iſt ihre Lage inſofern eine excep⸗
tionelle, als ſie hier, bei dem Fehlen von ſtaatlichen und ge⸗
noſſenſchaftlichen Kreditanſtalten für den Hypothekarkredit, ſich
im Beſitz eines Quaſimonopols für die hypothekariſche Beleihung
des ländlichen Grundbeſitzes befinden. Auch haben ſie dieſes
Monopol hier nicht in der einſeitigen Weiſe ausgenutzt, wie
ihnen das bei der großen Freiheit, die ihnen im Süden gegeben
iſt — keine Normativbeſtimmungen! — wohl möglich geweſen
wäre. Ja, manche dieſer Anſtalten haben durch ihre ſolide Ge⸗
ſchäftsführung ſowie durch die möglichſte Rückſichtnahme auf
die Bedürfniſſe des ländlichen Grundbeſitzes — ich erinnere nur
an das Entgegenkommen, das die rheiniſche Hypothenbank gegen⸗
über den badiſchen Landwirten noch neuerdings gezeigt hat —
ihre Stellung auch unter der ländlichen Bevölkerung befeſtigt.
Immerhin wird nicht geleugnet werden können, daß es für den
ländlichen Grundbeſitz hypothekariſche Einrichtungen geben kann,
— und in den Ländern mit Landſchaften, ſtaatlichen und kom⸗
munalſtändiſchen Hypothekenanſtalten auch wirklich giebt —,
welche dem Kreditbedürfnis des ländlichen Grundbeſitzes mehr
und beſſer Rechnung tragen als die Bodenkreditanſtalten. Selbſt
warme Vertreter dieſer letzteren wollen daher ihre Wirkſamkeit
hauptſächlich auf die Beleihung ſtädtiſcher Grundſtücke und in⸗
duſtrieller Etabliſſements beſchränkt wiſſen, wie ſie denn faktiſch
im Norden Deutſchlands an der Beleihung des ländlichen Grund⸗
beſitzes in der Regel nur einen geringen Anteil haben. Von
den bereits faſt 2 Milliarden Mark, welche die reinen und ge⸗
miſchten Hypothekenbanken im Jahre 1885 in Pfandbriefen und
Kommunalobligationen emittiert hatten, entfällt auf den länd⸗
lichen Grundbeſitz Norddeutſchlands nur ein kleiner, auf den⸗
jenigen Süddeutſchlands allerdings ein größerer Teil. Der
Hauptſache nach iſt ihre Thätigkeit auf die Beleihung ſtädtiſcher
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Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 309
Grundſtücke und induſtrieller Etabliſſements ſowie auf die Ge—
währung von Darlehen an Kommunen beſchränkt.
2. Dasſelbe gilt auch von den deutſchen Lebensverſicherungs—
geſellſchaften, welche allein in Preußen im Jahre 1885 674
Millionen Mark, alſo 69 Prozent ihrer Aktiva, in Hypotheken
angelegt hatten. Für das geſamte Deutſche Reich dürfte die
auf Hypotheken ausgeliehene Summe dieſer Lebensverſicherungs⸗
geſellſchaften vielleicht eine Milliarde erreichen, aber ebenfalls
zum bei weitem größten Teile den ſtädtiſchen Grundſtücken und
induſtriellen Etabliſſements zu gute kommen.
3. Was die noch hierher zu rechnenden Sparkaſſen betrifft,
ſo bezifferten ſich die Einlagen derſelben im Jahre 1885 in den
5 größten Deutſchen Staaten allein auf mehr als 2%, Milliar-
den Mark; im ganzen Deutſchen Reich würden die Sparkaſſen⸗
einlagen desſelben Jahres nach einer, wie mir ſcheint, richtigen
Schätzung auf 3¼ Milliarden Mark anzunehmen ſein. Von
dieſen Einlagen wurden nach derſelben Schätzung durchſchnittlich
mehr als 50 Prozent in Hypotheken und davon wieder etwa
33 Prozent, alſo über 1 Milliarde, auf ländliche Hypotheken aus⸗
geliehen. Beſonders ausgebildet iſt dieſer Geſchäftszweig der
Sparkaſſen im Königreich Sachſen, in Bayern, Heſſen, Württem⸗
berg und in einigen preußiſchen Provinzen, wogegen die Befrie—
digung des Perſonalkredits der Landwirte durch die Sparkaſſen
ſich überall in ſehr engen Grenzen bewegt.
Die großen in den Sparkaſſen zuſammenfließenden Summen
haben nun eine Anzahl von einſichtsvollen, energiſchen und
warmen Vertretern des ländlichen Kreditweſens auf den Ge—
danken gebracht, daß die Sparkaſſen durch weiteren Ausbau der—
ſelben in noch viel höherem Grade als bisher dem ländlichen
Kredit überhaupt und namentlich dem ländlichen Perſonalkredit
dienſtbar gemacht werden könnten. Soweit hierbei an die
direkte Gewährung von Darlehen durch die Sparkaſſen an die
Landwirte gedacht wird, teile ich dieſe Anſicht nicht. Denn
ſchon gegenwärtig entſpricht die Kreditgewährung der Sparkaſſen
dem wirklichen Bedürfnis der Landwirtſchaft nur unvollkommen,
310 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits.
weil die von ihnen gewährten hypothekariſchen Darlehen im
allgemeinen kündbar und dem Amortiſationszwange nicht unter⸗
worfen ſind. Auch haben nur die wenigſten Sparkaſſen eine
freiwillige Amortiſation der von ihnen entnommenen Darlehen
eingeführt. Endlich iſt der von vielen Sparkaſſen erhobene
Zins für die Landwirte ein zu hoher, indem dieſelben ſich
für verpflichtet halten, den Einlegern möglichſt hohe Zinſen zu
verſchaffen, und viele derſelben außerdem das Beſtreben zeigen,
einen größeren Reingewinn zu erzielen, der dann zum Teil eine
exoteriſche Verwendung für kommunale und ſonſtige gemeinnützige
Zwecke findet. Ich nenne dieſe Verwendung eine exoteriſche, weil
ſie dem ländlichen Grundbeſitz, der einen Teil der hohen Zinſen
aufbringt, nicht zu gute kommt.
Vollends der weiteren Ausdehnung des direkt durch die
Sparkaſſen zu gewährenden Kredits ſtellen ſich in der Natur
dieſer Inſtitutionen liegende Schranken entgegen. Denn iſt es
ihre erſte Pflicht, auf die möglichſte Sicherheit und die ſtete
Rückzahlbarkeit der Sparkaſſeneinlagen zu ſehen, ſo werden ſie
über den gegenwärtig auf Hypothek ausgeliehenen Prozentſatz der
Einlagen kaum hinausgehen dürfen. Einer Nutzbarmachung der
Sparkaſſen für den Perſonalkredit der Landwirte ſtellt ſich aber
außerdem in den meiſten Fällen die Unbekanntſchaft der Sparkaſſen⸗
verwaltungen mit den Verhältniſſen der Landwirte entgegen, und
dieſe Unbekanntſchaft iſt wieder bedingt durch den Sitz der meiſten
Sparkaſſen, der ſich gewöhnlich in größeren Städten befindet,
durch das Perſonal ihrer Verwaltung, welches nur ausnahms⸗
weiſe ländlichen Kreiſen angehört, und durch die Art ihrer Ge-
ſchäftsführung, welche auf die Ausleihung ganz kleiner Summen
meiſtenteils nicht eingerichtet iſt. Wenn es dennoch hier und
da, z. B. bei den Kreisſparkaſſen zu Merzig und Neu-Ruppin
und bei der Landgemeindeſparkaſſe zu Hildesheim, gelungen iſt,
die Sparkaſſeneinlagen in größerem Maße für den Perſonalkredit
der Landwirte dienſtbar zu machen, ſo ſind dieſe wenigen Aus⸗
nahmen durch den hervorragenden Einfluß und die energiſche
Thätigkeit einzelner für das Wohl der ländlichen Bevölkerung
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Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 311
ſich beſonders intereſſierender Männer zu erklären; einer Aus—
breitung dieſer Thätigkeit aber wird die Natur der Sparkaſſen
und ihrer Einrichtungen, wie ich glaube, einen zähen Widerſtand
entgegenſetzen.
Dieſen Widerſtand allgemein zu beſeitigen, würde daher
nur einer vollſtändigen Reorganiſation der Sparkaſſen gelingen.
Es fragt ſich aber, ob ſich eine ſolche tiefgehende Reorganiſation
empfehlen läßt in einer Zeit, in der das Damoklesſchwert der
Poſtſparkaſſen noch über dem Haupte unſerer beſtehenden Kreis-,
Kommunal⸗, Vereins: und Privatſparkaſſen ſchwebt. Denn die
Poſtſparkaſſen würden notwendig eine ſolche Centraliſation des
geſamten Sparkaſſenweſens zur Folge haben, daß an die di—
rekte Pflege des ländlichen Perſonalkredits durch dieſelben,
welche ſchon bei der gegenwärtig weitgehenden Decentraliſation
des Sparkaſſenweſens auf große Schwierigkeiten ſtößt, vollends
nicht gedacht werden könnte; wie denn auch in denjenigen Län-
dern, in welchen das Poſtſparkaſſenweſen ſich eingebürgert hat,
von einer Nutzbarmachung desſelben für den ländlichen Kredit
kaum die Rede iſt.
Wohl aber ließen ſich größere Summen der bei den Spar-
kaſſen zuſammenfließenden Einlagen, wie ich noch auszuführen
haben werde, bereits jetzt und ebenſo nach Einführung der Poſt—
ſparkaſſen auf indirekte Weiſe für den ländlichen Kredit nutzbar
machen.
4. Endlich wird an dieſer Stelle noch der Bedeutung der
Reichsbank für die Lombardierung landwirtſchaftlicher Produkte
gedacht werden müſſen. Zuverläſſige Angaben über den Umfang
dieſes Geſchäfts laſſen ſich nicht machen, doch ſei erwähnt, daß
die Reichsbank noch neuerdings — im Jahre 1887 — für die
Lombardierung des Spiritus weſentliche Erleichterungen hat ein—
treten laſſen.
B. Ich gehe jetzt zur Beſprechung der anderen großen
Kategorie von Anſtalten über, derjenigen nämlich, die lediglich
zum Zweck der Befriedigung des ländlichen Kreditbedürfniſſes
312 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits.
eingerichtet ſind. Es ſind das entweder genoſſenſchaftliche oder
ſtaatliche bezw. kommunalſtändiſche Einrichtungen.
1. Zu den älteſten genoſſenſchaftlichen Krediteinrichtungen
gehören die Landſchaften oder die ſogenannten Kreditſyſteme.
Aus der Kreditnot des ritterſchaftlichen Grundbeſitzes unter
Friedrich dem Großen hervorgegangen und zuerſt in Schleſien
begründet, haben ſie ſich von hier aus über ſämtliche alte und
neue Provinzen des Preußiſchen Staates mit Ausnahme der
Rheinprovinz ausgebreitet. Und noch weiter: ſie haben Wurzel
gefaßt in Hannover bereits in vorpreußiſcher Zeit, im Königreich
Sachſen, in Mecklenburg und in Braunſchweig. Die Geſamtheit
der zu einer Korporation verbundenen Schuldner vermittelt hier
den Kreditverkehr zwiſchen dem einzelnen Schuldner und dem Geld⸗
markt, indem ſie dem letzteren durch die Emiſſion von Pfandbriefen
das erforderliche Kapital entnimmt, um es dem einzelnen Schuldner
zuzuführen. Dieſe Geſamtheit iſt auch in den meiſten dieſer
Anſtalten für die emittierten Pfandbriefe ſolidariſch verhaftet.
Die Verwaltung der Landſchaften ruht in den Händen von Ver⸗
trauensmännern der Schuldner und gewinnt wenigſtens für einige
ältere preußiſche Provinzen noch eine beſondere Feſtigkeit durch
die Anlehnung an ältere ſtändiſche Einrichtungen. Urſprünglich
nur für den Hypothekarkredit des ritterſchaftlichen, ſogenannten
inkorporierten Grundbeſitzes beſtimmt, haben die alten preußi⸗
ſchen Landſchaften ihre Thätigkeit im Laufe der Zeit auch auf
den nicht inkorporierten, alſo vorwiegend bäuerlichen Grundbeſitz
ausgedehnt und ſind allmählich in der hypothekariſchen Beleihung
auch zu den kleineren Gütern hinabgeſtiegen. Dieſe Ausdehnung
ihrer Thätigkeit erfolgte nun entweder durch die urſprünglich
ritterſchaftlichen Landſchaften ſelbſt, wie z. B. in Schleſien, Oſt⸗
preußen, Hannover, oder durch ſogenannte neuere Landſchaften
für den nicht inkorporierten Beſitz, welche jedoch hinſichtlich ihrer
Verwaltung in einer Art von Perſonalunion mit den alten
Landſchaften ſtehen; ſo in Weſtpreußen, in der Mark, in Pom⸗
mern u. ſ. w. Die erſt in neuerer Zeit ins Leben gerufenen
Landſchaften in Poſen, Provinz Sachſen, Weſtfalen und Schleswig⸗
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Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 313
Holſtein kennen weder die Beſchränkung ihres Kredits auf den
inkorporierten Grundbeſitz noch den Dualismus der Verwaltung,
wie er in Brandenburg, Pommern und Weſtpreußen vorkommt.
Abgeſehen von der Herabſetzung der Minimalgröße für diejenigen
mittleren und kleinen Grundſtücke, welche die Landſchaften be—
leihen, haben dieſelben den Beſitzern nicht inkorporierter Güter
bei Aufnahme von hypothekariſchen Darlehen neuerdings noch
manche Erleichterungen gewährt und ſämtlichen Grundbeſitzern
dadurch eine ſtärkere Benutzung des Kredits ermöglicht, daß die
Kreditgrenze um ca. 10 Prozent des Wertes der Güter erhöht
worden iſt.
Auch iſt bereits im Jahre 1873 eine Centrallandſchaft ge—
gründet worden, um den von derſelben zu emittierenden Pfand—
briefen einen größeren Markt namentlich im Auslande zu ver—
ſchaffen.
Begünſtigt durch alle dieſe Erleichterungen, iſt die Pfand—
briefſchuld allein in den älteren preußiſchen Landſchaften in den
letzten Jahren jährlich um ca. 45 Millionen Mark gewachſen,
und es beträgt die geſamte Pfandbriefſchuld aller Landſchaften
im Jahre 1885 über 11¼ Milliarden Mark.
Die großen Verdienſte der Landſchaften um die Befriedigung
des Kreditbedürfniſſes der ländlichen Grundbeſitzer ſind unbe—
ſtreitbar und werden auch allerſeits anerkannt. Sie beſtehen in
der Gewährung eines möglichſt billigen Kredits, in der Zuführung
der Vorteile des ſinkenden Zinsfußes auf dem Geldmarkte an
ihre Schuldner, in der Gewährung unkündbarer Darlehen ver—
bunden mit allgemeinem Amortiſationszwang und in einer muſter⸗
gültig ſoliden Verwaltung. Immerhin wäre wohl noch eine
weitere Anpaſſung der Landſchaften an die Bedürfniſſe des kleinen
Mannes wünſchenswert. Dieſelbe könnte beſtehen in einer Er—
mäßigung der Koften und Verringerung der Formalitäten bei
Aufnahme von Darlehen, in einer größeren Decentraliſation der
Verwaltung, endlich, in den altpreußiſchen Provinzen, in einer
Heranziehung der mittleren Grundbeſitzer zur Selbſtverwaltung
dieſer Landſchaften.
314 Der Wucher a. d. Lande u. d. Grganiſation d. ländl. Kredits.
Endlich ſei noch erwähnt, daß einige Landſchaften bemüht
geweſen ſind, auch das Bedürfnis ihrer Mitglieder nach Mobiliar⸗
und Perſonalkredit zu befriedigen, indem ſie ſogenannte land⸗
ſchaftliche Darlehnskaſſen begründet und dieſelben mit den er⸗
forderlichen Betriebsfonds ausgeſtattet haben. Den durch Ent⸗
gegennahme von Depoſiten vergrößerten Betriebsfonds verwenden
dieſe landſchaftlichen Darlehnskaſſen hauptſächlich zur Gewährung
von Lombarddarlehen auf Effekten und Produkte, von Krediten
in laufender Rechnung, von Zuſchußdarlehen zu dem Pfandbrief⸗
kredit, zu Inkaſſogeſchäften u. ſ. w. Wenngleich der Jahres⸗
umſatz einzelner dieſer Kaſſen kein geringer iſt — ich erinnere
daran, daß die weſtpreußiſche Darlehnskaſſe im Jahre 1885 einen
Jahresumſatz von ca. 12 Millionen, die oſtpreußiſche ſogar einen
ſolchen von ca. 138 Millionen gehabt hat —, ſo kommen dieſelben
doch faſt ausſchließlich dem großen Grundbeſitz zu gute, da die
mittleren und kleinen Beſitzer in der Regel nicht in der Lage ſind,
deshalb eine Reiſe in die Provinzialhauptſtadt zu machen, und
die ſchriftliche Kommunikation ihnen ebenfalls ſchwer fällt. Alſo
auch hier thäte zum Zweck der Fruchtbarmachung dieſer Ein⸗
richtung für die kleineren Leute eine weitere Decentraliſation
derſelben not.
2. An die Landſchaften ſchließen ſich die Vorſchußvereine
oder Vorſchußkaſſen unmittelbar an, indem wie bekannt Schulze⸗
Delitzſch das Prinzip der Solidarhaft aus den Landſchaften in
dieſe Vorſchußkaſſen übertragen hat. Aber während die erſteren
für den Hypothekarkredit der ländlichen Grundbeſitzer beſtimmt
ſind, dienen die letzteren hauptſächlich dem Perſonalkredit der
Handwerker, Beamten u. ſ. w. in den Städten. Zwar gewähren
fie auch Kredit an Landwirte, aber derſelbe hat einen viel ge⸗
ringeren Umfang als der Kredit, den die ſtädtiſchen Klaſſen be-
ziehen. Die 545 Vorſchußvereine, welche dem Genoſſenſchafts⸗
anwalte im Jahre 1885 nähere Angaben gemacht haben, zählten
im ganzen rund 276000 Mitglieder, von denen nur 73 000,
alſo weniger als 25 Prozent, Berufslandwirte waren. Noch un⸗
günſtiger war das Verhältnis des den Landwirten eingeräumten
Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 315
Kredits zum Geſamtkredit, wenn wir die betreffenden Summen
vergleichen: es betrug dieſe Quote nur 18 Prozent des im Jahre
1885 von den Vorſchußkaſſen überhaupt gewährten Kredits.
Dieſe Zurückhaltung der Landwirte gegenüber den Vorſchuß—
vereinen erklärt ſich vollauf durch den Standort, der den meiſten
dieſer Kaſſen eigen iſt — ſie befinden ſich in Städten —, durch
die hohen Zinſen, Prolongations- und ſonſtigen Gebühren, welche
dieſe Genoſſenſchaften in der Regel erheben — die durchſchnitt—
liche Verzinſung des Betriebskapitals im Jahre 1885 betrug
faſt 6 Prozent — und endlich durch die Kataſtrophen, welche in
den letzten Jahren über eine Anzahl von Vorſchußkaſſen herein—
gebrochen ſind. Die hohe Verzinſung und die Kataſtrophen ſind
aber wohl dadurch begründet, daß manche Genoſſenſchaften dem
urſprünglich im Genoſſenſchaftsweſen herrſchend geweſenen Geiſte
entfremdet ſind, indem ihre Entwicklung ſich in kapitaliſtiſcher
Richtung bewegt hat. Dieſe Richtung tritt namentlich in der
Beſoldung der Mitglieder des Verwaltungsrats und in der Ge—
währung von Tantiemen an dieſelben ſowie in dem Streben
nach möglichſt großen Differenzen zwiſchen dem Zins der Aftiv-
und Paſſivgeſchäfte u. ſ. w. hervor. Und zu befürchten iſt, daß
durch die Zulaſſung von Genoſſenſchaften mit begrenzter Haftbar—
keit ihrer Mitglieder, die ſich ja für andere Arten von Genoſſen—
ſchaften ſehr empfiehlt, die Vorſchußkaſſen in Zukunft dem genoſſen⸗
ſchaftlichen Geiſte noch mehr entfremdet werden.
3. Ungleich beſſer erſcheint dieſer genoſſenſchaftliche Geiſt
gewahrt in den Raiffeiſenſchen Darlehnskaſſenvereinen, welche
von den oben erwähnten landſchaftlichen Darlehnskaſſen wohl
zu unterſcheiden ſind. Auf dem Prinzip der Solidarhaft ihrer
Mitglieder beruhend, haben die Raiffeiſenſchen Darlehnskaſſen⸗
vereine im Gegenſatz zu der Entwicklung, welche die Vorſchuß—
kaſſen genommen haben, an der Unentgeltlichkeit der Verwaltung
— es werden bekanntlich nur die Rechnungsführer beſoldet —
und an dem Ausſchluß der Verteilung von Dividenden unter
ihre Mitglieder feſtgehalten. Dadurch iſt dem Streben nach
möglichſt hohem Reingewinn das Hauptmotiv genommen und
316 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits.
der genoſſenſchaftliche Sinn gewahrt worden. Durch die Be⸗
ſchränkung der Thätigkeit der einzelnen Darlehnskaſſen auf eine
einzige ländliche Gemeinde, in deren Mitte ſie ihren Sitz haben,
iſt der Verwaltung dieſer Kaſſen die genaue Kenntnis der Ver⸗
mögenslage ihrer Mitglieder und deren Beeinfluſſung in wirt⸗
ſchaftlicher und ſittlicher Beziehung ermöglicht, und durch die
Anſchmiegung der Geſchäftsführung an das Kreditbedürfnis der
Mitglieder — ſie gewähren bekanntlich einen längeren Per⸗
ſonalkredit bis zu fünf Jahren — iſt zugleich ihre gedeihliche
Wirkſamkeit gewährleiſtet.
Die zur Kreditgewährung erforderlichen Summen verſchaffen
ſich dieſe Darlehnskaſſen durch die Beiträge ihrer Mitglieder,
durch Darlehne von einzelnen Privaten und von Anſtalten,
namentlich aber durch Entgegennahme von Spareinlagen. Auch
haben eine Reihe von Darlehnskaſſen ihre Thätigkeit neuerdings
auf die Vermittlung des Lebensverſicherungsgeſchäfts und auf
den Ankauf von landwirtſchaftlichen Betriebsmitteln für ihre Mit⸗
glieder ausgedehnt; wo dies der Fall iſt, ſind die Darlehnskaſſen
zugleich zu Sparkaſſen, zu landwirtſchaftlichen Konſumvereinen
und zu Lebensverſicherungsagenturen geworden.
Das Bedürfnis nach einer regelmäßigen Kontrolle der Kaſſen
und nach einer Geſamtvertretung ihrer Intereſſen hat wie bei
den Schulze-Delitzſchen Genoſſenſchaften, jo auch bei den Raiff⸗
eiſenſchen Darlehnskaſſen zum Zuſammenſchluß der Darlehns⸗
kaſſen beſtimmter größerer Gebiete zu Geſamtverbänden mit
einem Anwalt an der Spitze geführt, und der wechſelnde Geld⸗
beſtand der Kaſſen entweder die Errichtung eigener Centraldar⸗
lehnskaſſen als Ausgleichungsſtellen oder doch die Benutzung
bereits beſtehender Anſtalten als ſolcher veranlaßt. So beſtehen
gegenwärtig folgende Verbände: zunächſt der bis zu dem jüngſt
erfolgten Tode von Raiffeifen unter deſſen direkter Leitung
befindlich geweſene Centralverband, der ſich wieder in eine
Reihe von Unterverbänden — für die Rheinprovinz, Schwaben
und Neuburg, Mittel-, Ober- und Unterfranken, Heſſen⸗
Kaſſel, Ober- und Unter⸗Elſaß und Oberſchleſien — gliedert;
Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 317
neben dieſem von Raiffeiſen früher geleiteten Verbande ſtehen
dann eine Reihe von anderen Verbänden, die allerdings nicht
direkt der Perſon Raiffeiſens unterſtellt waren, aber doch an
den Prinzipien ſeiner Geſchäftsführung feſtgehalten haben. Es
gehört hierher der weſtfäliſche Verband, der zugleich Hannover,
Oldenburg und Lippe umfaßt; ſodann der heſſen-darmſtädtiſche,
der ſich zugleich über Naſſau erſtreckt; endlich der badiſche und
der württembergiſche.
Aber wenn die Leiſtungen der Darlehnskaſſen auch wenig
zu wünſchen übriglaſſen, indem ſie ſich als Erziehungsmittel der
bäuerlichen Bevölkerung zu einem geregelten Kreditverkehr und
als die beſten Hülfsmittel gegen den Wucher bewährt haben, ſo
iſt doch ihre Verbreitung bisher, namentlich wenn man die raſt—
loſe Thätigkeit ihres Hauptförderers in Betracht zieht, eine nur
verhältnismäßig geringe geweſen. Denn im Jahre 1885 zählte
der unter ſpecieller Leitung von Raiffeiſen ſtehende Verband nur
291 Kaſſen, der württembergiſche Verband ca. 100, der heſſiſche
79, der weſtfäliſche 75, der badiſche endlich 55 Kaſſen. Seitdem
haben ſich dieſe Kaſſen nun freilich viel weiter verbreitet; aber
die Schwierigkeiten, auf die ihre Verbreitung ſtößt, laſſen ſich
aus den obigen Zahlen doch immerhin deutlich herausleſen.
Und in der That iſt das Gedeihen dieſer Kaſſen an ganz
beſtimmte Vorausſetzungen gebunden, die durchaus nicht überall
anzutreffen ſind. Die Darlehnskaſſenvereine haben zu kämpfen nicht
nur mit dem Mangel an genoſſenſchaftlichem Sinne, mit dem
Mangel an Männern, die die Verwaltung unentgeltlich zu über—
* nehmen geeignet und bereit ſind, mit dem offenen und geheimen
Widerſtand der einzelnen Geldverleiher und Geldinſtitute, ſondern
| E auch mit der Armut der Bevölkerung vieler Gegenden und mit der
Schwierigkeit, für die Schuldner die von der Kaſſenverwaltung
E verlangten Bürgen zu finden. Überhaupt ſcheinen dieſe Kaſſen⸗
vereine nur dort ſich einbürgern zu wollen, wo eine dichte Be—
4 völkerung in geſchloſſenen Dörfern beiſammenſitzt, wo die jocialen
Verhältniſſe derſelben bis zu einem gewiſſen Grade ausgeglichen
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318 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits.
ſind und wo es an Männern nicht fehlt, die die Zwecke derſelben
in uneigennütziger Weiſe fördern wollen und fördern können.
Von den genoſſenſchaftlichen Kreditinſtituten wende ich N
nun zu den ſtaatlichen und kommunalſtändiſchen.
4. Die ſtaatlichen Kreditinſtitute haben ihren Sitz in ee
thüringiſchen Staaten. Das älteſte dieſer Inſtitute ift die aus
dem Jahre 1819 ſtammende altenburgiſche Landesbank; an dieſe
haben ſich dann in den 40er, 50er und 60er Jahren in allen
thüringiſchen Staaten ſogenannte Landeskreditkaſſen — welche
Staatsanſtalten ſind — angeſchloſſen. Ihnen allen iſt gemeinſam,
daß ſie die Aufgabe haben, die Landwirtſchaft und das Ge⸗
werbe durch Gewährung von Darlehen zu unterſtützen. Neben
dieſer Aufgabe verfolgen einige derſelben jpeciell noch die Auf-
gabe, die Zuſammenlegung der Grundſtücke zu erleichtern und
die Rentenablöſung, wo fie noch nicht erfolgt iſt, zu ver-
mitteln; bisweilen iſt jedoch dieſe Ablöſung ſpeciellen Renten⸗
ablöſungskaſſen vorbehalten. Die den Landwirten gewährten
Darlehne ſind Hypothekardarlehne, ſie ſind ſeitens der Anſtalten
meiſtens unkündbar und auch dem Amortiſationszwange unter⸗
worfen. Die erforderlichen Mittel für dieſes Aktivgeſchäft ver⸗
ſchaffen ſich die Anſtalten durch Ausgabe von Inhaberobligationen.
Die Beteiligung des Staates beſteht in der Haftung desſelben
für die Verbindlichkeiten der Anſtalten, in der Dotierung ihres
Betriebsfonds und in der Leitung oder doch Beaufſichtigung ihrer
Verwaltung. Die Verwaltungsberichte dieſer Kreditkaſſen haben
mir leider nicht vorgelegen, weil ſie mit Ausnahme der alten⸗
burgiſchen Landesbank ihre Rechenſchaftsberichte nicht zu ver⸗
öffentlichen ſcheinen; doch entnehme ich einer Notiz in Hildebrands
„Statiſtik Thüringens“ (1871), daß dem Bedürfnis der ländlichen
Grundbeſitzer nach Hypothekarkredit durch dieſe Staatsanſtalten
vollauf genügt wird, indem im Jahre 1867 in Thüringen, ver⸗
glichen mit Preußen, an hypothekariſchen Schulden ungefähr der
doppelte Betrag auf den Kopf und auf die Quadratmeile entfiel.
5. Den Übergang von den ſtaatlichen zu den kommunal⸗
ſtändiſchen Anſtalten bilden die Kaſſeler Landeskreditbank, die
Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 319
naſſauiſche Landesbank und die hannoverſche Landeskreditanſtalt,
welche urſprünglich ſtaatliche Rentenablöſungsinſtitute waren,
aber bereits vor dem Jahre 1866 in allgemeine Kreditanſtalten
für den ländlichen Hypothekarkredit ſämtlicher Grundbeſitzer ohne
Unterſchied der Größe ihres Beſitzes und dann unter preußiſcher
Herrſchaft aus ſtaatlichen Inſtituten in kommunalſtändiſche um—
gewandelt worden ſind. Der Betrag des gegen Ausgabe von
Obligationen im Jahre 1885 von dieſen drei Anſtalten gewährten
Hypothekarkredits beziffert ſich auf ca. 200 Millionen Mark. Die
Prinzipien, auf welchen ihre Einrichtungen beruhen, ſind ähnlich
denen der thüringiſchen Staatsbanken; ihre Verwaltung erfolgt
durch kommunalſtändiſche Beamte und iſt eine ſorgfältige. Einen
Verluſt haben die die Verpflichtungen dieſer Anſtalten garan—
tierenden Stände bisher nicht zu erleiden gehabt.
6. Zu den von Anfang an kommunalſtändiſchen Inſtituten
gehören die landſtändiſche Bank der Oberlauſitz, welche im Jahre
1885 29 Millionen Mark in hypothekariſchen Forderungen beſaß,
ſowie die in den altpreußiſchen Provinzen unter der Verwaltung
der Provinzialſtände ſtehenden Provinzialhülfskaſſen. Die meiſten
von dieſen letzteren entſtammen dem Jahre 1847; ſie wurden
damals ſeitens des Staates mit Fonds dotiert, die für die ein—
zelne Kaſſe durchſchnittlich 1 Million Thaler betrugen und im
Jahre 1875 ſeitens des Staates den Provinzialverbänden über—
wieſen worden ſind. Seitdem haben ſich dieſe Fonds durch
Zinſenzuſchlag, Erhöhung der Dotationen oder Gewährung zinſen—
freier Darlehne ſeitens des Staates nicht unbedeutend vermehrt.
Außerdem iſt ihnen das Recht zur Ausgabe von Provinzial—
anteilsſcheinen in limitiertem Betrage und zur Entgegennahme
von Depoſiten gewährt. Urſprünglich zur Unterſtützung der Pro—
vinz, der Kreiſe, Gemeinden und Genoſſenſchaften, ſowie zur
Begründung neuer gewerblicher und landwirtſchaftlicher Unter—
nehmungen begründet, haben eine Reihe von Provinzialhülfskaſſen
in der neueren Zeit ihre Thätigkeit auch der Gewährung von
Kredit an einzelne Grundbeſitzer zugewendet, ſo daß ſie
jetzt ſtatutariſch, bezw. nach den neueren Ergänzungen ihrer
320 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits.
urſprünglichen Statuten, die Befriedigung des Kreditbedürfniſſes
der einzelnen Grundbeſitzer zu ihrer Aufgabe zählen. Während
die Darlehne an die Verbände verſchiedener Art ohne ſpecielle
Sicherſtellung erteilt zu werden pflegen, wird von den Privat⸗
ſchuldnern eine Realſicherheit (Hypothek oder Fauſtpfand) verlangt.
Die Darlehne ſind terminiert und zum Teil auch dem Amorti⸗
e unterworfen.
Nur ganz flüchtig ſei hier noch der für Meliorations⸗
1 be Landeskulturrentenbanken im Königreich Sachſen
und in den preußiſchen Provinzen Schleſien, Poſen und Schles⸗
wig⸗Holſtein gedacht. Während die ſächſiſche Anſtalt eine große
Thätigkeit entfaltet hat, kann dasſelbe von der ſchleſiſchen, poſen⸗
ſchen und ſchleswig-holſteiniſchen nicht geſagt werden. Es erklärt
ſich dieſe geringe Wirkſamkeit der letzteren Banken übrigens zur
Genüge dadurch, daß in den preußiſchen Provinzen außer den
Landſchaften, die zu ſolchen Meliorationszwecken Kredit gewähren,
auch noch beſondere provinzialſtändiſche Meliorationsfonds beſtehen.
Meine Herren, wenn der bisher gegebene Überblick über die
den ländlichen Grundbeſitzern zur Verfügung ſtehenden Kredit⸗
anſtalten auch nicht vollſtändig erſchöpfend iſt, ſo enthält er doch
immerhin alle weſentlich in Betracht kommenden Kreditanſtalten.
Dieſem Überblick läßt ſich entnehmen, daß die Zahl und die
Mannigfaltigkeit dieſer Anſtalten ſowie der Umfang des von
ihnen gewährten Kredits ſehr groß ſind.
Namentlich für den Immobiliarkredit der Landwirte dürfte
in ausreichendem Maße geſorgt ſein. Damit ſoll aber nicht
zugleich geſagt ſein, daß die Einrichtung der Kreditanſtalten
überall dem Bedürfnis der Landwirte vollſtändig entſpricht. Denn
nicht alle gewähren den Kredit jo billig wie nach Lage des Geld-
marktes geſchehen könnte; nicht alle haben den Amortiſations⸗
zwang eingeführt; nicht alle erleichtern dem Landwirt die Be⸗
nutzung ihrer im ganzen rationellen Einrichtungen durch genügende
Ermäßigung der Aufnahmekoſten und Vereinfachung der Auf⸗
nahmeformalien; nicht alle endlich reichen mit ihren Organen an
den Bauer ſelbſt heran.
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Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 321
Geradezu ungenügend iſt dagegen der Stand der für den
ländlichen Perſonal- und Mobiliarkredit zur Verfügung ſtehenden
Einrichtungen. Wenn man von den ländlichen Darlehnskaſſen—
vereinen abſieht, ſo giebt es nur wenig größere Anſtalten, welche
den oben aufgeſtellten Bedingungen vollſtändig entſprechen; denn
die meiſten unſerer heutigen Bankeinrichtungen gewähren, ent—
ſprechend den kurzfriſtigen Paſſivgeſchäften, welche ſie betreiben,
dem Landwirt einen zu kurzen Kredit, und die häufig vorkommen—
den Prolongationen ſind kein normales Auskunftsmittel. Der
Kredit iſt außerdem meiſt zu teuer, und die Gewährung desſelben
entbehrt jenes erziehlichen Moments, das wir für den bäuer—
lichen Stand zur Zeit wenigſtens nicht entbehren können. Endlich
gilt auch von den Inſtituten des Perſonal- und Mobiliarkredits,
abgeſehen von den oben angeführten Ausnahmen, daß ihr Sitz
ſich meiſt in zu großer Entfernung von dem Wohnort des ſeß—
haften und ſchwer beweglichen Bauern befindet und deshalb
häufig für ihn unerreichbar iſt. Die Konſequenz dieſer Mängel
in Verbindung mit dem Knapperwerden des Individualkredits
iſt, daß der Bauer ſich vielfach auf den Wucherer angewieſen ſieht.
Ich möchte den Zuſtand unſeres gegenwärtigen ländlichen
Kreditweſens, abgeſehen von einzelnen nicht umfangreichen Landes—
teilen, mit einem ſolchen im Armenweſen vergleichen, in dem die
Armenpflege vorzugsweiſe durch Genoſſenſchaften, Vereine und
einzelne Privatperſonen ausgeübt wird. Bei einem ſolchen Zuſtand
braucht es keineswegs an reichen, ja an überreichen Gaben zu fehlen;
aber dieſelben pflegen ungleich über das Land verteilt zu ſein,
ſo daß an dem einen Orte Überfluß, an dem anderen bitterer
Mangel herrſcht. Und wie es in einem ſolchen Zuſtande des
Armenweſens an einer rationellen Verteilung fehlt, ſo mangelt
es noch mehr an einer zweckentſprechenden Verwendung der zu—
ſammenfließenden Gaben. Wie daher im Armenweſen Geſamt⸗
organiſationen not thun, die dafür Sorge tragen, daß kein Armer
verhungre, aber auch keiner zu viel erhalte und alle ihre Unter-
ſtützung in rationellſter Weiſe empfangen, und wie ſolche Drgani-
ſationen von dem Staat und ſeinen Organen gewährleiſtet werden
v. Miaskowski, Agrarpol. Zeit⸗ u. Streitfragen. 21
322 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits.
müſſen, ſo auch im landwirtſchaftlichen Kreditweſen. Unſere
Krediteinrichtungen beruhen in ihrer größten Mehrzahl auf ge⸗
ſunden Grundlagen: aber ſie entbehren der notwendigen allgemeinen
Verbreitung und der genügenden Gliederung nach unten. Sie
bedürfen deshalb des Ausbaues in dieſer Beziehung. Derſelbe
wird durch die Anregung, Leitung und erforderlichen Falls durch
das direkte Eingreifen des Staates erfolgen müſſen.
Unter dem Staat verſtehe ich in dieſem Falle nicht das
Reich, welches weder verfaſſungsrechtlich die Befugnis noch auch
verwaltungsrechtlich die nötigen Organe dafür beſitzt, ſondern
die Einzelſtaaten, zu deren Aufgaben ja die Volkswirtſchafts⸗
politik und ſpeciell die Agrarpolitik gehören. Dieſer Auf⸗
gabe werden ſich die Einzelſtaaten aber um ſo weniger entziehen
können, als bei der großen Bedeutung, die das Kreditweſen für
das Wohlergehen des Landwirts hat, in demſelben ein wirkſames
Mittel gegeben iſt, um unſere Agrarverhältniſſe auf geſunde
Grundlagen zu ſtellen und den Landwirten namentlich in der
gegenwärtigen Kriſis Beiſtand zu leiſten, und als das, was die
meiſten Staaten ſeit der Ablöſungsgeſetzgebung und der Begrün⸗
dung von Rentenbanken auf dieſem Gebiete gethan haben, außer⸗
ordentlich dürftig iſt.
Für die künftige Thätigkeit der Einzelſtaaten auf dem Ge⸗
biete des Kreditweſens möchte ich nun folgenden Plan entwerfen,
der natürlich nicht mehr als eine ganz flüchtig ſpecifizierte Skizze
bieten kann.
Der Staat hätte zunächſt anzuerkennen 1., daß ſich für eine
ſolche Befriedigung des Bedürfniſſes nach ländlichem Hypothekar⸗
kredit, die zugleich den Anforderungen einer geſunden Agrarpolitik
entſpricht, vorzugsweiſe genoſſenſchaftliche, kommunalſtändiſche und
ſtaatliche Organe eignen.
Als ſolche Einrichtungen haben ſich nach den bisherigen Er-
fahrungen bewährt für den Hypothekarkredit die Landſchaften,
die Provinzialhülfskaſſen, die kommunalſtändiſchen Kreditinſtitute
der Oberlauſitz, Hannovers, Heſſens und Naſſaus und endlich
die ſtaatlichen Kreditanſtalten der thüringiſchen Staaten, für
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Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 323
den Perſonalkredit der bäuerlichen Bevölkerung hauptſächlich die
Darlehnskaſſen nach Raiffeiſenſchem Syſtem.
Ohne indeſſen dieſen Kreditanſtalten ein Monopol zu geben,
weil die Konkurrenz auch anderer Inſtitute, wie der Bodenkredit—
banken und der Sparkaſſen, auf ihre Geſchäftsführung anregend
wirkt und ſie vor Stagnation ſchützt, ſollte 2. dafür geſorgt
werden, daß ſolche als muſtergültig anerkannte Anſtalten in
jedem Staate und bei größeren Staaten in jeder Provinz vor-
handen ſeien.
Da nun für alle nord- und mitteldeutſchen Staaten in der einen
oder anderen Form für den Hypothekarkredit berechnete Kredit—
anſtalten beſtehen, jo beſchränkt ſich der Mangel nur auf die
ſüddeutſchen Staaten.
Wenn man von Bayern abſieht, ſo iſt ſowohl das Terri—
torium dieſer ſüddeutſchen Staaten wie auch die Verbreitung des
großen Grundbeſitzes in denſelben zu wenig umfangreich, als
daß hier an eine Gründung von Landſchaften oder provinzial-
ſtändiſchen Kreditinſtituten gedacht werden könnte. Es bliebe
daher nur die Gründung von ſtaatlichen Kreditanſtalten nach
dem Vorbilde der thüringiſchen Landesbanken übrig. Es iſt
deshalb wohl nicht zufällig, wenn man in ſämtlichen ſüddeutſchen
Staaten und außerdem im Königreich Sachſen gleichſam von
ſelbſt und unabhängig voneinander auf den Gedanken gekommen
iſt, ſolche Anſtalten zu begründen. Es iſt das ein Gedanke, der
von Sachverſtändigen der Praxis und der Theorie gleichzeitig
vertreten wird, aber bisher an dem Widerſtande der großen
kapitaliſtiſchen Inſtitute und der Sparkaſſen geſcheitert iſt.
Was ſodann 3. die Befriedigung des Bedürfniſſes der Bauern
nach Perſonalkredit betrifft, ſo iſt für dieſe Befriedigung bisher
nur in einem verſchwindend kleinen Teile Deutſchlands durch die
Dahrlehnskaſſenvereine in genügender Weiſe geſorgt worden.
Mag ihre Verbreitung in Zukunft auch größere Dimenſionen an—
nehmen und mag ſie namentlich in raſcherem Tempo erfolgen als
bisher, ſo wird ihre Wirkſamkeit wegen der ſchweren Erfüllbarkeit
der Bedingungen ihres Beſtehens doch immer auf einen verhältnis—
215
324 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits.
mäßig kleinen Teil Deutſchlands beſchränkt bleiben. Es thut
daher meines Dafürhaltens auf dieſem Gebiet ein Ausbau der
beſtehenden Kreditinſtitute not. ö
Die Sorge für den Ausbau der beſtehenden Einrichtungen
halte ich daher für eine weitere dem Staate obliegende Ver⸗
pflichtung. Hier gilt es an Anſätze anzuknüpfen, die im einzelnen
bereits hier und da vorhanden ſind.
Dieſer Ausbau würde zunächſt darin zu beſtehen haben, daß
a. bei den Anſtalten, die bisher lediglich für den Hypothekar⸗
kredit beſtimmt ſind, allgemein auch Einrichtungen für den Mo⸗
biliar⸗ und Perſonalkredit zu treffen wären. Die von den
preußiſchen Landſchaften ins Leben gerufenen landſchaftlichen
Darlehnskaſſen bilden gleichſam den Anfang hierzu; ihrem Bei⸗
ſpiele hätten dann auch die ſtaatlichen und provinzialſtändiſchen
Kreditanſtalten zu folgen.
Sodann wären b. die meiſten für einen ganzen Staat oder
doch für eine ganze Provinz errichteten und centraliſierten An⸗
ſtalten zu decentraliſieren, d. h. mit Filialen für die einzelnen
Kreiſe und mit Agenturen für die großen Landgemeinden oder
für einen Komplex kleinerer Landgemeinden zu verſehen. Das
unterſte Glied dieſer Reorganiſationen würde jedoch dort in
Wegfall zu kommen haben, wo eigene Darlehnskaſſenvereine be⸗
ſtehen, indem dieſe Darlehnskaſſen die Funktion ſolcher Agenturen
übernehmen könnten.
Auch für dieſe weitere Ausgliederung der beſtehenden Kredit⸗
inſtitute fehlt es nicht an einzelnen Vorbildern. So finden ſich
in den Direktoren und Landesälteſten der einzelnen ſchleſiſchen
Fürſtentumslandſchaften, in der kreisweiſen Verteilung des der
ſchleſiſchen Provinzialhülfskaſſe ſeitens des Staates in Ober-
ſchleſien zur Verfügung geſtellten ſogenannten Notſtandskredits,
in der Beſtellung von unbeſoldeten, nur für ihre Mühewaltung
und nach Maßgabe dieſer entſchädigten Agenten aus den Kreiſen
der örtlichen Landwirte ſeitens der hannoverſchen Landeskredit⸗
anſtalt vielverſprechende Anfänge für eine Decentraliſation der
beſtehenden Kreditanſtalten vor.
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Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits. 325
Auch iſt in der Rheinprovinz die Raiffeiſenſche Central—
darlehnskaſſe bereits mit der Provinzialhülfskaſſe in der Weiſe
in Verbindung gebracht worden, daß die Provinzialhülfskaſſe bis
zu einem beſtimmten Betrage der Centraldarlehnskaſſe Kredit ge—
währt und ebenſo die Überſchüſſe der Darlehnskaſſe gegen Ver—
zinſung entgegennimmt; dafür iſt der Provinzialhülfskaſſe das
Recht der Reviſion und der Kontrolle über dieſe Centraldarlehns—
kaſſe eingeräumt worden. |
Um dem gegenwärtig wirtſchaftlich niedrigen Kulturniveau
der bäuerlichen Bevölkerung Rechnung zu tragen, müßten 4. die
Verhandlungen, welche zwiſchen dem Grundbeſitz und den einzelnen
Kreditinſtituten zum Zwecke der Eröffnung des Kredits geführt
werden, möglichſt erleichtert und vereinfacht werden. Dieſem
Zweck würde namentlich dienen a. die periodiſche Reviſion der
Grundſteuerkataſter in allen deutſchen Staaten nach dem Vor—
bilde einiger deutſcher und fremder Staaten. Es würde eine
ſolche periodiſche Reviſion auch anderen Zwecken, namentlich
Steuerzwecken, zu gute kommen. Ein ſolches — um mich eines
in Oſterreich geläufigen Ausdrucks zu bedienen — Evidenthalten
des Kataſters würde eine ſichere Grundlage für die hypothekariſche
Beleihung des ländlichen Grundbeſitzes abgeben und würde die
Aufnahme zeitraubender und koſtſpieliger Specialtaxen unnötig
machen. Ä
Hierher gehört ferner b. die Führung von Regiſtern über
die perſönliche Kreditwürdigkeit der einzelnen ländlichen Grund—
beſitzer als Baſis für den ihnen zu gewährenden Perſonalkredit,
eine Einrichtung, welche mit gutem Erfolge von der Sparkaſſe
der Landgemeinde Hildesheim und an anderen Orten eingeführt
iſt, und endlich e. die Übernahme der Löſchung bereits gezahlter,
aber noch nicht gelöſchter Hypotheken, die Beſchaffung der Ein—
räumung von Prioritätsrechten ſeitens der privaten Hypotheken—
gläubiger u. ſ. w., kurzum die möglichſte Erleichterung der Be—
nutzung dieſer Muſterkreditanſtalten ſeitens der bäuerlichen Be-
völkerung durch ihre Filialen und durch ihre Agenten.
Ferner müßte 5. der Staat dafür Sorge tragen, daß den
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2 .
326 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits.
Kreditanſtalten, ſoweit es erforderlich wird, noch weitere Summen
zugeführt werden, ohne ſelbſt dieſe Summen herzugeben. Es
könnte das geſchehen in folgender Weiſe: a. indem das Recht
der Kreditanſtalten, Obligationen zu emittieren, weiter ausgedehnt
wird; ſodann b. indem den Sparkaſſen die Verpflichtung auf⸗
erlegt wird, dieſen Kreditanſtalten auf ihr Verlangen größere
Summen zu einem Zinsfuß, der den Zinsfuß der Spareinlagen
nur mäßig überſteigt, zu gewähren und zwar für Friſten, die
mit der Geſchäftsführung der Sparkaſſen verträglich ſind. Und
endlich könnte e. auch die Reichsbank verpflichtet werden, Geld
bis zu einem beſtimmten, nach der Bevölkerungszahl der einzelnen
Staaten und Provinzen zu bemeſſenden Maximalbetrage den
Kreditanſtalten gegen Zins zur Verfügung zu ſtellen.
Mit den nötigen Mitteln verſehen, würde es dieſen nament⸗
lich für den Perſonalkredit weiter auszubildenden Anſtalten
im Laufe der Zeit dann wohl gelingen, die Praxis der ſchottiſchen
Banken mit ihren cash accounts auch unter unſerer bäuerlichen
Bevölkerung einzubürgern. -
Sollte eine Kreditorganiſation nach dem eben kurz ſkizzierten
Plane durchgeführt werden, ſo würde dieſelbe in Verbindung
mit dem bereits früher angeführten genoſſenſchaftlichen Zuſammen⸗
ſchluß der bäuerlichen Bevölkerung die beſte wirtſchaftliche Schule
für dieſe abgeben. Sie könnte viel zur Erlangung jener Selb⸗
ſtändigkeit, Umſicht, Pünktlichkeit und Ordnung beitragen, deren
ſich unſere kleinbäuerliche Bevölkerung noch nicht überall erfreut.
Damit wäre dem Wucher aber in erfolgreicherer Weiſe der
Boden entzogen, als ausſchließlich repreſſive Maßregeln dies zu
thun vermöchten.
Meine Herren, ich weiß nicht, ob meinem Programm, das
ſich aufs engſte an Beſtehendes und Erprobtes anſchließt, indem
es dieſes nur zu verallgemeinern und weiter auszugeſtalten ſucht,
der Vorwurf gemacht werden wird, daß es in der Beſchränkung
des einzelnen und in der Hineinziehung des Staats in das
wirtſchaftliche Gebiet zu weit gehe. Ich meinerſeits war be⸗
u ara
Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation des ländl. Kredits. 327
fſtrebt, die Prinzipien, auf denen unſere heutige Wirtſchaftsord—
nung beruht, möglichſt zu ſchonen und dem Staat weitere wirt—
ſchaftliche Aufgaben nur ſoweit zuzuweiſen, als es unumgänglich
notwendig erſcheint, um der Organiſation des ländlichen Kredits
die Allgegenwart ſowie die Anpaſſung an die Natur des länd—
lichen Grundbeſitzes und das Kulturniveau der bäuerlichen Be—
völkerung zu ſichern, deren ſie ebenſowenig entbehren kann wie
das Armenweſen.
Gewiß aber iſt, daß mir von anderer Seite der Vorwurf
gemacht werden wird, meine Vorſchläge gingen zu wenig
weit. Es wird das von einer Seite geſchehen, welche von der
Annahme ausgeht, daß die Verſchuldung des ländlichen Grund—
beſitzes bereits zu weit gediehen ſei und daß die Grundbeſitzver—
teilung ſich bereits ſo allgemein in krankhafter Weiſe verſchoben
habe, daß nur durch eine Radikalkur geholfen werden kann, eine
Radikalkur, welche tief in die beſtehende Agrarverfaſſung ein—
ſchneidet und namentlich mit den beſtehenden Kreditorganiſationen
tabula rasa macht.
Dieſe Radikalkur erblicken nun die einen in einer Zwangs—
ablöſung oder auch nur Zwangsreduktion der auf dem länd—
lichen Grundbeſitz laſtenden Hypothekarſchuld, einer Maßregel,
die entweder auf ſtaatlichem oder genoſſenſchaftlichem Wege
durchzuführen wäre. Andere wieder befürworten das prinzipielle
Verlaſſen der Grundſätze, auf denen der gegenwärtige Kredit—
verkehr beruht, alſo namentlich die Umwandlung der Kapital—
ſchuld in eine Rentenſchuld. Ein dritter Vorſchlag läuft auf
die Begründung von monopoliſtiſchen Zwangsorganiſationen
für den Verkehr des geſamten ländlichen Grundbeſitzes oder doch
wenigſtens für den des bäuerlichen Grundbeſitzes hinaus, Orga—
niſationen, deren Zwang ſich erſtrecken ſoll auf den Beitritt zu
denſelben, auf die Einhaltung einer beſtimmten Verſchuldungs—
grenze, auf die Gewährung des Hypothekarkredits lediglich für
beſtimmte im Geſetz vorgeſehene Zwecke ſowie auf die ausſchließ—
liche Beleihung und Veräußerung der dieſen Anſtalten angehö—
328 Der Wucher a. d. Lande u. d. Organiſation d. ländl. Kredits.
rigen Grundſtücke durch den Zwangsverband. Ein weniger weit⸗
gehender Vorſchlag will wenigſtens den Ausſchluß der Voll⸗
ſtreckbarkeit von Perſonalſchulden in den ländlichen Grundbeſitz
und die Beſeitigung des Inſtituts der Vollſtreckungshypothek.
Dieſe letzteren Vorſchläge dürften ſich ihrem Effekte nach, wie
wir neuerdings belehrt worden ſind, mit dem Vorſchlag der
Übertragung der amerikaniſchen homestead laws auf Deutſchland
decken. Endlich iſt auch die Reaktivierung des abſoluten oder
relativen Güterſchluſſes oder wenigſtens der Gutsmaxima oder
-minima für den bäuerlichen Grundbeſitz, nach dem Muſter des
Königreichs Sachſen, Altenburgs: und anderer thüringiſcher
Staaten ſowie des badiſchen Schwarzwaldes, in Vorſchlag ge⸗
bracht worden.
Ich kann mich indes nach wiederholter ſorgfältiger Prüfung
nicht für dieſe Vorſchläge erklären, einmal, weil die einen der⸗
ſelben mir innerhalb der gegenwärtigen wirtſchaftlichen Ord⸗
nung undurchführbar erſcheinen und ich die anderen nicht als
ſolche anerkennen kann, durch welche dasjenige Ziel, welches
durch dieſelben erſtrebt war, erreicht werden wird; ſodann aber
und hauptſächlich, weil ich, ſolange der genaue Nachweis dafür,
daß die Grundverſchuldung und krankhafte Verſchiebung unſerer
Grundbeſitzverhältniſſe bereits wirklich bedrohliche Dimenſionen
angenommen hat, nicht erbracht iſt, weitergehende Maßregeln
als die von mir befürworteten nicht für genügend begründet er⸗
achte; endlich, weil ich mich auch nicht davon überzeugen kann,
daß der bedrohliche Zuſtand der Verſchuldung und Grundbeſitz⸗
verſchiebung, wenn er auch noch nicht eingetreten iſt, aus inneren
Gründen unſerer wirtſchaftlichen Ordnung, gleichſam naturnot⸗
wendig eintreten müſſe, wie das ja auch von mancher Seite be-
hauptet worden iſt. Wäre das letztere der Fall, dann würden
auch die oben ſkizzierten radikalen Maßregeln ſich als unzu⸗
reichend erweiſen und in der That nichts übrigbleiben als die
Verſtaatlichung des Grundbeſitzes.
Damit wäre ich an den Schluß meines langen, ja allzu⸗
langen Vortrages gelangt. Prüfen Sie die gemachten Vorſchläge,
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