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Full text of "Allgemeine geschichte der philosophie"

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ALLGEMEINE 

GESCHICHTE  DER  PHILOSOPHIE. 


ERSTER  BAND,  ERSTE  ABTEILUNG. 


ALLGEMEINE 

GESCHICHTE  DER  PHILOSOPHIE 


MIT 


BESONDERER  BERÜCKSICHTIGUNG  DER  RELIGIONEN. 


Von 


Dr.  PAUL  DEUSSEN 

PROFESSOR   AN   DER    UNIVERSITÄT   KIEL. 


ERSTER  BAND,  ERSTE  ABTEILUNG: 

ALLGEMEINE  EINLEITUNG  UND  PHILOSOPHIE  DES  VEDA 
BIS  AUF  DIE  UPANISHAD'S. 


LELPZLG : 

F.    A.    BROCK  HAUS. 

1894. 


OÜOO 

TÖ5 


Druck  von  F.  A.  Brockhaus  in  Leipzig. 


VORREDE. 


JMannigfach  und  widersprechend,  wie  über  so  viele  Dinge, 
sind  die  Ansichten  der  Menschen  über  Bedeutung  und  Wert 
der  allgemeinen  Geschichte  der  Philosophie;  und  während 
manche  in  ihr  die  eine,  allen  gemeinsame,  ewige  Wahrheit 
erblicken,  wie  sie,  vom  Spiegel  des  Genius  anders  und  wieder 
anders  reflektiert,  in  immer  neuer  und  immer  interessanter 
Beleuchtung  erscheint,  —  so  ist  für  andere  die  Geschichte 
der  Philosophie  ganz  oder  doch  zum  gröfsten  Teile  nicht  viel 
mehr  als  ein  Repertorium  von  allerlei  vormaligen  Irrgängen 
der  menschlichen  Vernunft,  welches  sie,  als  einen  nutzlosen 
und  beschwerlichen  Ballast,  am  liebsten  wohl  ganz  über  Bord 
werfen  möchten,  hätte  ihnen  nicht  die  Natur  für  so  manches, 
was  ihnen  versagt  wurde,  einen  um  so  gröfsern  Respekt 
eingepflanzt  für  alles,  was  Geschichte  heifst.  Dafs  aber  so 
viele  blofs  dieses  historische  Interesse  an  der  Geschichte  der 
Philosophie  nehmen,  das  liegt  zum  Teil  an  der  Art,  wie  die- 
selbe bisher  zur  Darstellung  gebracht  worden  ist.  Zwar,  wem 
ein   für  allemal    nur  das  Auge   gegeben  ist,   mit  dem   man 


YI  Vorrede. 

das  Pferd,  nicht  auch  dasjenige,  mit  dem  man  die  Pferdheit 
sieht*,  dem  dürfte  selbst  ein  Plato  redivivus  vergeblich  zu 
helfen  bemüht  sein;  aber  vieles  kann  doch  geschehen,  um 
den  Nebel,  der  von  Geburt  an  auf  unser  aller  Augen  liegt, 
zu  heben,  sodafs  wir  nicht  mehr  die  Dinge  blofs  empirisch, 
das  heifst  von  dem  höchst  einseitigen  Observatorium  unseres 
Intellektes  aus,  betrachten,  sondern  zu  einem  Standpunkte 
geführt  werden,  von  welchem  aus  wir  Intellekt  und  Natur  in 
ihrem  Gegeneinanderarbeiten  beobachten  können,  —  worauf 
im  Grunde  alle  Philosophie  hinausläuft.  Dafs  dieser  Stand- 
punkt, welcher  uns  über  die  einseitige  Betrachtungsweise  des 
Intellektes  erheben  will,  zugleich  doch  immer  (von  Zuständen 
wie  yoga,  ex.cxa.Gic,  unio  mystica  abgesehen)  in  gewissem  Sinne 
ein  solcher  des  Intellektes  bleiben  mufs,  darin  liegt  die  un- 
sägliche Schwierigkeit  aller  Metaphysik,  und  auf  ihr  beruht 
es,  dafs  es  gerade  bei  den  gröfsten  Philosophen  da,  wto  sie 
uns  in  das  innerste  Adyton  ihrer  Weisheit  einführen  wollen, 

—  so  dunkel  wird.  Aber  wo  viele  Lichter  zusammenkommen, 
da  wird  viel  Licht,  und  hiermit  ist  für  die  Geschichte  der 
Philosophie  eine  grofse  und  lohnende  Aufgabe  angedeutet, 
von  deren  Lösung  wir  noch  weit  entfernt  sind.  Oder  dürfen 
wir  uns  rühmen,  einen  Piaton,  einen  Kant  wirklich  verstan- 
den zu  haben,  so  lange  wir  an  den  Ideen,  an  dem  „Ding  an 
sich"  mit  Kopfschütteln  vorübergehen  ?  Hier  und  überall  ist 
es  mit  dem  fleifsigen  Zusammentragen,  Sichten  und  Ver- 
knüpfen der  Nachrichten  nicht  gethan,  —  noch  weniger  frei- 
lich mit  einem  blofsen  Reflektieren,  Zerfasern,  Raisonnieren, 

—  das  alles  ist  im  besten  Falle  nur  [j.ut]<J(.s  ,  über  die  hinaus 


*  'Qaiztp  'AvTiaüte'vTqs,  o's  tcote  nXatam  Sialu.<pt(jßY)Twv  ,,w  IIXflcTtov"  !'<pt] 
„I'tctcov  fj.lv  opco,  iTC7toTY)Ta  öe  ouy_  opw".  —  Kai  8s  etrcsv  „1'x.ei?  M-£v  ü  "t:tco; 
opaxac  toöe  to  o(X}xa,  co  Se  iimönQ;  äsupetrat  ovSe'-co  xe'xTTqaai".  (Simplic. 
in  Arist.  Categ.,  scholia  ed.  Brandis  p.  66  b  46.) 


Vorrede.  VII 

wir  zur  hzoiuzda,  zu  einem  innern  Schauen  gelangen  müssen, 
und  es  ist  das  nächste  und  dringlichste  Ziel  aller  Geschichte 
der  Philosophie,  uns  dahin  zu  bringen,  dafs  wir  die  Natur 
der  Dinge,  die  äufsere  wie  die  innere,  gleichsam  mit  den 
Augen  jedes  einzelnen  Philosophen  anschauen  lernen. 

Steigt  herab  in  meiner  Augen 
Welt-  und  erdgemäfs  Organ! 
Könnt  sie  als  die  euern  brauchen; 
Schaut  euch  diese  Gegend  an! 

—  so  ruft  es  uns  dann  aus  der  Geschichte  der  Philosophie  von 
allen  Seiten  zu,  und  wenn  die  Aussicht  aus  der  Zelle  des 
Pater  Seraphicus  anders  ist  als  aus  der  des  Pater  Profundus, 
Pater  Ecstaticus  und  Doctor  Marianus,  so  ist  es  doch  eine 
und  dieselbe  Gegend,  welche  sie  von  so  verschiedenen  Stand- 
punkten aus  betrachten.  So  ist  es  auch  die  eine  und  mit 
sich  einstimmige  Natur  der  Dinge,  auf  welche  sich  alle  Philo- 
sophen, je  origineller  sie  sind  (d.h.  je  mehr  sie  es  ver- 
dienen, dafs  eine  Geschichte  der  Philosophie  sich  mit  ihnen 
beschäftigt),  um  so  unmittelbarer  beziehen;  und  wenn 
sich  die  verschiedenen  Weltanschauungen  derselben  nicht  so- 
fort, wie  die  photographischen  Aufnahmen  der  nämlichen 
Gegend  von  verschiedenen  Standpunkten  aus,  zum  einheit- 
lichen Bilde  der  ewigen  philosophischen  Wahrheit  zusammen- 
schliefsen,  so  beruht  das  wesentlich  nur  darauf,  dafs  die 
Fläche  des  Bewufstseins ,  welche  das  Bild  aufzunehmen  hat, 
bei  keinem  Philosophen  von  Haus  aus  eine  tabula  rasa,  son- 
dern stets  (je  später  und  je  gelehrter  der  Philosoph  ist,  um 
so  mehr)  mit  allerlei  Traditionen  aus  dem  jedesmaligen  Volks- 
bewufstsein,  der  Religion,  der  vorhergehenden  Philosophie 
beschrieben  ist,  mit  welchen  sich  dann  die  ursprünglichen, 
auf  Autopsie  beruhenden  Erkenntnisse,  so  gut  und  so  schlecht 
es  manchmal  gehen  will,  zum  Ganzen  eines  Systems  zu  ver- 


VIII  Vorrede. 

binden  pflegen.  Dafs  hierdurch  für  die  kritische  (das  Hete- 
rogene von  einander  sondernde)  Betrachtungsweise  hei  jedem 
Philosophen  eine  Scheidung  zweier  Elemente,  des  originellen 
und  des  traditionellen,  und  eine  Abschmelzung  des  letztern 
als  hlofser  Schlacke  geboten  ist,  damit  das  reine  Gold  echter, 
ursprünglicher  Erkenntnis  von  allen  Seiten  zusammenströmend 
sich  verbinde  und  aus  der  Geschichte  der  Philosophie  die 
philosophische  Wahrheit  selbst,  soweit  sie  für  Menschen  er- 
reichbar ist,  von  überallher  uns  entgegenstrahle,  —  das  ist 
in  der  Einleitung  vorläufig  auseinandergesetzt  worden,  und 
im  übrigen  wird  abzuwarten  sein,  inwieweit  sich  in  der  Aus- 
führung diese  Betrachtungsweise  als  fruchtbar  erweisen  wird. 
Auch  dafür  wollen  wir  der  Ausführung  selbst  die  Recht- 
fertigung überlassen,  dafs  wir  viel  mehr,  als  es  bisher  in  der 
Geschichte  der  Philosophie  zu  geschehen  pflegte,  auch  die 
Lehren  der  Religionen  in  den  Kreis  unserer  Betrachtung 
ziehen  werden,  nicht  nur  sofern  sie,  wie  bekannt,  in  mannig- 
facher Beziehung  zur  Philosophie  stehen,  sondern  auch  weil  sie, 
innerlich  und  nach  Abstreifung  des  mythischen  Gewandes 
betrachtet,  selbst  Philosophie  sind.  Denn,  was  die  Urheber 
derselben  ursprünglich  inspirierte,  das  war,  so  kraus  und  bunt 
verbrämt  es  auch  oft  in  den  Dogmen  auftritt,  ein  sehr  Reales, 
innerlich  Erlebtes  und  Geschautes,  —  war,  wenn  man  so  will, 
eine  Offenbarung,  welche,  als  eine  und  dieselbe  in  allen  Zeiten 
und  Ländern,  aus  den  Abgründen  unseres  Innern  uns  ent- 
gegenquillt, und  wir  würden  vielfach  gerade  auf  das  Beste 
von  dem,  was  wir  suchen,  verzichten  müssen,  wollten  wir  das 
religiöse  Element  von  unserer  Betrachtung  ausschliefsen ;  — 
ganz  abgesehen  davon,  dafs  überall,  in  Indien,  Griechenland 
und  der  Neuzeit,  der  lebenskräftigste  und  fruchtbarste  der 
Schöfslinge,  aus  denen  die  Philosophie  erwachsen  ist,  im 
Boden  der  Religion  emporsprofs,  ja,  dafs  bis  zur  Gegenwart 


Vorrede.  IX 

hin  die  neuere  Philosophie,  im  Guten  wie  im  Schlimmen, 
kaum  weniger  unter  dem  Einflüsse  der  religiösen  als  der 
philosophischen  Tradition  steht,  sodafs  jeder  Versuch,  den 
gegenwärtigen  Zustand  der  Philosophie  aus  seinen  Wurzeln 
zu  begreifen,  fast  ebenso  sehr  auf  Jesus  und  Paulus  wie  auf 
Piaton  und  Aristoteles  zurückleitet. 

Eine  weitere  Neuerung  in  unserer  Behandlung  der  all- 
gemeinen Geschichte  der  Philosophie  besteht  darin,  dafs  wir 
der  westasiatisch-europäischen  (griechischen,  christlichen  und 
neuern)  Philosophie,  deren  Darstellung  erst  im  zweiten  Bande 
des  Werkes  unternommen  werden  soll,  in  einem  ersten  Bande 
die  ostasiatische  d.  h.,  der  Hauptsache  nach,  die  indische 
Philosophie  als  die  einzige  wirkliche  Parallele  zu  ihr,  welche 
die  Geschichte  der  Menschheit  aufzuweisen  hat,  gegenüber- 
zustellen gedenken.  Wer  hierin  eine  ungerechte  Bevorzugung 
sehen  wollte,  der  wäre  vielleicht  daran  zu  erinnern,  dafs  In- 
dien zunächst  schon  als  Land  ebenso  grofs  ist  wie  das  ganze 
philosophierende  Europa  zusammengenommen,  dafs  ferner  die 
Inder  früher  als  die  Europäer  über  die  Rätsel  des  Daseins 
nachzudenken  begonnen  und  damit  durch  alle  Jahrhunderte 
hindurch  bis  zur  Gegenwart  hin  fortgefahren  haben,  dafs  aber, 
was  die  Intensität  des  philosophischen  Interesses  betrifft,  das 
durch  so  viele  andere  Dinge  in  Anspruch  genommene  Europa 
mit  Indien  schwerlich  einen  Vergleich  aushalten  dürfte.  In- 
wieweit freilich  auch  ihrem  innern  W^erte  nach  die  indische 
Philosophie  verdient,  dem  ganzen  Komplex  der  abendlän- 
dischen Gedankenwelt  oder  auch  nur  einem  Teile  derselben 
gleichberechtigt  zur  Seite  gestellt  zu  werden,  das  ist  zur  Zeit 
noch  nicht  zu  entscheiden  und  wird  sich  jedenfalls  um  so 
besser  beurteilen  lassen,  je  eingehender  jenes  bisher  so  sehr 
vernachlässigte  Kapitel  aus  der  Geschichte  des  menschlichen 
Geistes  einmal  zur  Darstellung  gebracht  wird.    Zwar  ist  das 


X  Vorrede. 

indische  Denken  in  der  Art  seines  Auftretens  wie  in  seinen 
Grundbegriffen  auf  den  ersten  Blick  von  dem  unsern  so  sehr 
abweichend,  dafs  viele  Fernerstehende  sogar  Bedenken  tragen, 
den  Namen  der  Philosophie  auf  dasselbe  anzuwenden;  aber 
gerade  in  dieser  völligen  Verschiedenheit  und  Unabhängig- 
keit von  der  abendländischen  Denkweise  liegt  der  Hauptwert 
der  indischen  Philosophie  für  uns,  die  wir  am  klassischen 
Altertum  und  an  der  Bibel  grofsgezogen  sind,  und  es  wird 
abzuwarten  sein  und  ist  bis  jetzt  in  keiner  AVeise  voraus- 
zusehen, ob  und  inwieweit  nicht  ein  vollständiges  und  zu- 
reichendes Bekanntwerden  indischer  Weisheit  in  dem  reli- 
giösen und  philosophischen  Denken  des  Abendlandes  nach 
und  nach  eine  nicht  so  sehr  die  Oberfläche  wie  gerade  die 
letzten  Tiefen  berührende  Umwälzung  zur  Folge  haben  wird. 
—  Wer  Gelegenheit  gehabt  hat,  mit  indischen  Denkern  und 
Gelehrten  der  Gegenwart  persönlichen  Verkehr  zu  pflegen, 
der  wird  durch  nichts  so  sehr  überrascht  gewesen  sein  wie 
durch  die  Wahrnehmung,  dafs  sie,  trotz  Scharfsinn,  Tiefsinn 
und  ausgebreitetem  Wissen,  sich  oft  in  den  engsten  und  ein- 
seitigsten Auffassungen  befangen  zeigen,  ohne  sich  doch 
dessen  bewufst  zu  sein.  Wer  weifs,  ob  nicht  eine  ähnliche 
Einseitigkeit  und  Enge  auch  uns  und  allen  den  überlieferten 
Begriffen,  in  denen  wir  aufgewachsen  sind,  anhaftet,  und  ob 
wir  nicht,  wenn  auch  in  anderer  Art,  von  den  Indern  ebenso- 
viel lernen  können  wie  sie  von  uns?  —  Befrage  ich  meine 
eigene  Erfahrung,  so  glaube  ich  nicht  irre  zu  gehen,  wenn 
ich  die  vielfach  veränderten  und,  wie  ich  denke,  vertieften 
Anschauungen,  unter  denen  (falls  mir  die  Ausarbeitung  des 
zweiten  Bandes  vergönnt  sein  sollte)  die  griechische,  biblische 
und  neuere  Philosophie  erscheinen  wird,  zum  nicht  geringen 
Teile  der  Freiheit  gegenüber  den  ererbten  Vorstellungen  ver- 
danke,  welche  mir  aus  der  längern  Beschäftigung  mit  der 


Vorrede.  XI 

wesentlich  anders  gearteten  Gedankenwelt  der  Inder  er- 
wachsen ist.  Diese  letztere  selbst  nach  ihrem  geschichtlichen 
Zusammenhange  zur  Darstellung  zu  bringen,  das  wird  die 
nächste,  dem  ersten  Bande  zufallende  Aufgabe  sein,  von  wel- 
chem in  den  nachfolgenden,  die  Philosophie  des  Veda  bis  zu 
den  Upanishad's  hin  behandelnden  Bogen  nur  der  erste,  aber 
vielleicht  doch  in  mancher  Hinsicht  der  schwierigste  Teil 
vorliegt,  sofern  in  demselben  mehr  als  irgendwo  sonst  alles 
erst  von  Grund  aus  zu  gestalten  war.  Zwar  fehlt  es  nicht 
ganz  an  Vorarbeiten  auf  diesem  Gebiete,  aber  dieselben 
konnten  keine  erhebliche  Hülfe  gewähren,  da  selbstverständ- 
lich alles  aus  den  ursprünglichen  Quellen  zu  schöpfen  war, 
diese  aber  vielfach  in  einem  andern  Lichte  erscheinen,  sobald 
man  die  Dinge  nicht  mehr,  wie  bisher,  vereinzelt,  sondern  in 
ihrem  natürlichen  Zusammenhange  auffafst.  Die  gebührende 
Rücksicht  auf  die  Leistungen  der  Vorgänger  wird  man,  denke 
ich,  nirgendwo  vermissen;  hingegen  schien  mir  eine  ein- 
gehendere Polemik  sowie  die  Aufnahme  neuer,  noch  nicht 
hinreichend  bewährter  Hypothesen  in  einem  Werke  von  so 
allgemeiner  Bestimmung,  wie  es  das  vorliegende  werden  soll, 
nicht  am  Platze  zu  sein.  Namentlich  hielt  ich  es  für  ange- 
messen, in  unserer  kurzen  Skizze  der  vedischen  Mythologie 
für  jetzt  beim  Herkömmlichen  zu  bleiben,  ohne  dafs  damit 
dem  Gärungsprozesse,  welcher  in  diesem  Gebiete  neuerdings 
eingetreten  ist,  seine  Berechtigung  abgesprochen  werden  soll. 
Mit  Dank  habe  ich  zwei  handschriftliche  Stellensammlungen 
benutzt:  die  eine,  von  Professor  Weber  für  das  Petersburger 
Wörterbuch  angefertigte,  aber  dort  nicht  vollständig  ver- 
wertete, über  die  Begriffe  Prajäpati  und  Brahmcm,  die  andere 
von  Professor  Oldenberg  über  wichtige  Stellen  des  Qaia- 
pathahrähmanam.  Beide  machten  mich,  neben  dem  schon 
Bekannten,  welches   sie  enthielten,   doch  auf  manche  Stelle 


XII  Vorrede. 

aufmerksam,  die  ich  sonst  vielleicht  übersehen  haben  würde. 
Im  übrigen  war  ich  auf  meine  eigenen  Erinnerungen  und  Ex- 
cerpte  angewiesen  und  hoffe,  dafs  mir  nichts  für  die  Sache 
Wesentliches  entgangen  ist.  Vollständigkeit  wird  auf  diesem 
Gebiete,  wo  die  meisten  Texte  noch  so  wenig  bearbeitet, 
einige  nur  unzureichend  oder  noch  gar  nicht  publiziert  sind, 
so  bald  nicht  zu  erreichen  sein.  Es  wird  daher  wohl  jeder 
Kenner  des  Veda  aus  dem  Kreise  seiner  Lektüre  der  Sam- 
hitä's  und  BrähmanaSs  mancherlei  nachzutragen  wissen,  und 
es  empfiehlt  sich,  für  derartige  Zwecke  das  Buch  mit  Papier 
durchschiefsen  zu  lassen.  Dafs  dadurch  die  von  mir  auf- 
gestellten Grundanschauungen  wesentlich  modifiziert  werden 
sollten,  glaube  ich  nicht  befürchten  zu  müssen;  und  zwar 
darum  nicht,  weil  der  grofse  innere  Zusammenhang,  in  wel- 
chem hier  zum  erstenmal  die  ältesten  Philosopheme  der 
Inder  erscheinen,  von  mir  nicht  künstlich  gemacht  worden 
ist,  sondern  sich,  so  wie  das  eine  Stück  zum  andern  kam, 
ganz  von  selbst  eingestellt  hat.  Vielfach  sind  es  freilich 
blofse  Keime  und  Ansätze  philosophischer  Gedanken,  die  hier 
vorliegen,  und  zur  vollen  Geltung  werden  sie  erst  kommen 
können,  wenn  auch  die  Fortentwicklung  derselben  zur  Blüte 
in  den  Upanishad's  und  zur  Frucht  in  den  philosophischen 
Systemen  sich  daran  anschliefsen  wird.  Bis  dahin  werden 
indessen  wohl  noch  einige  Jahre  verstreichen,  da  ich  vorher 
meine  seit  langer  Zeit  vorbereitete  deutsche  Übersetzung  der 
Upanishad's  nebst  Einleitungen  zu  veröffentlichen  gedenke. 
Schliefslich  sei  noch  bemerkt,  dafs  das  Buch,  trotz  dem 
hin  und  wieder  unvermeidlichen  Eingehen  auf  philologische 
Dinge,  doch  so  eingerichtet  ist,  dafs  es  (namentlich  mit  Hülfe 
des  am  Schlüsse  des  ersten  Bandes  zu  liefernden  Index)  in 
allem  Wesentlichen  auch  dem  weitern  Kreise  aller  Freunde 
der  Philosophie  verständlich  sein  wird.     Für  die  Mühe  aber, 


Vorrede.  XIII 

über  dieses  und  jenes  Nebensächliche  hinweglesen  zu  müssen, 
werden  dieselben  nicht  unbelohnt  bleiben.  Denn  jeder,  der 
für  die  philosophische  Betrachtungsweise  der  Dinge  Ver- 
ständnis und  Liebe  besitzt,  wird  auch  das  erste  kindliche 
Lallen  des  philosophierenden  Menschengeistes,  wie  es  uns 
aus  den  Mantra's  und  Brähmana's  des  Veda  entgegentritt,  mit 
teilnehmender  Freude  und  nicht  ohne  eigene  Förderung  ver- 
nehmen. 

Kiel,  im  September  1894. 

P.  D. 


AUSSPEAOHE. 


Ia  indischen  Wörtern  ist 

c,   cli    wie    tscli,    tsclili 
j,    jli    wie    clscli,  dsclili 

zu  sprechen;  also:    Pfadschäpati,    Vc'ttsch  u.  s.  w. 

c.  ist  ein  mittlerer  Laut  zwischen  s  (stets  scharf)  und  sli  (  =  seh). 


Die  Betonung  richtet  sich,  wie  im  Lateinischen,  nach  der  Quantität 
der  vorletzten  Silbe;  ist  dieselbe  lang,  so  hat  sie  den  Accent,  ist  sie 
kurz,  so  liegt  er  auf  der  drittletzten  Silbe  (e  und  o  sind  stets  lang). 


Nach  der  von  uns  befolgten  Schreibweise  sind  alle  Wörter  auf  a 
Maskulina,  alle  auf  ä  Feminina,  alle  auf  am  Neutra:  der  Vedänta, 
die  Mimänsä,  das  Särikhyam  (sc.  darganam). 


IMALTSÜBEKSIGHT. 


Seite 

Vorrede V 

EINLEITUNG. 

I.    Begriff  der  Philosophie 1 

IL    Vorläufige  Übersicht  . 6 

III.    Quellen  und  Methode 22 

ERSTER  TEIL:  DIE  PHILOSOPHIE  DER  INDER. 
EINLEITUNG  ZUR  PHILOSOPHIE  DER  INDER. 

I.    Vorbemerkung  über  den  Wert  der  indischen  Philosophie  ...  35 

II.  Land  und  Leute 37 

III.  Perioden  der  indischen  Philosophie 40 

IV.  Die    philosophische    Litteratur    der    Inder.      (Episodisch:     Der 
Prasthäna-bheda  des  Madhusüdana-Sarasvath)   ...          .     .  44 

V.   Der  Veda  und  seine  Teile G4 

ERSTE  PERIODE  DER  INDISCHEN  PHILOSOPHIE. 

DIE  HYMNENZEIT. 

I.    Die  altvedische  Kultur 72 

II.    Die  altvedische  Religion 77 

III.  Der    Verfall    der    altvedischen    Religion    und    die    Anfänge    der 

Philosophie 95 

1.  Zweifel  und  Spott 95 

2.  Aufdämmern  des  Einheitsgedankens 103 

3.  Das  Einheitslied  des  Dirghatamas,  Rigv.  1,164 105 

4.  Der  Schöpfungshymnus,  Rigv.  10,129 119 

IV.  Das  Suchen  nach  dem  „unbekannten  Gotte" 127 

1.  Der  Prajäpati-  Hymnus,  10,121 128 

2.  Die  Hymnen  an  Vigvakarman,  10,81.82 134 

3.  Die  Hymnen  an  Brahmanaspati 141 

Anmerkung.     Die  Hymnen  über  die  Väc,  10.125.71   .     .  14(3 

4.  Der  Hymnus  an  den  Purusha,  Rigv.  10,90 150 


XVI  Inhaltsübersicht. 

ZWEITE  PERIODE  DER  INDISCHEN  PHILOSOPHIE. 
DIE  BRÄHMANAZEIT. 

Seite 

I.  Die  Kultur  der  Brähmanazeit 159 

II.  Die  Brähmana's  als  philosophische  Quellen 172 

III.  Geschichte  des  Prajäpati 181 

1.  Prajäpati  als  Schöpfer 181 

2.  Prajäpati  als  Erhalter  und  Regierer 191 

3.  Versuche,   den  Prajäpati  aus  einem  noch   hohem  Princip 
abzuleiten 194 

4.  Versuche,  den  Prajäpati  durch  Umdeutung  zu  beseitigen   .  204 

5.  Anhang  zur  Geschichte  des  Prajäpati:   Die  Hymnen 

des  Atharvaveda  an  Kala,  Rohita,  Anadvän,    Vacjä.     .     .  209 

IV.  Geschichte  des  Brahman  bis  auf  die  Upanishad's 239 

1.  Die  Bedeutungen  des  Wortes  Brahman 240 

2.  Brahmanaspati  und  Brahman 248 

3.  Brahma  prathamajam,  das  Brahman  als  Erstgebornes  .     .  250 

4.  Brahma  svayambhu,  das  durch  sich  selbst  seiende  Brahman  259 

5.  Anhang  zur  Geschichte  des  Brahman:    Die  Hymnen 

des  Atharvaveda  über  Brahman  und  den  Brahmaeärin  264 

V.    Geschichte  des  Ätman  (und  der  verwandten  Begriffe,  Purusha  und 

Präna)  bis  auf  die  Upanishad's 282 

1.  Etymologie  und  Bedeutung  des  Wortes  ätman 285 

2.  Der  Purusha 288 

3.  Der  Präna 294 

4.  Suchen   nach   einer  noch  schärfern  Fassung  des  Princips: 
Ucchishta  und  Skambha  als  Anzeichen  desselben.     .     .     .  305 

5.  Der  Ätman 324 


EINLEITUNG. 


I.   Begriff  der  Philosophie;  Unmöglichkeit,  eine  andere  als  eine 

Idealdefinition  derselben  aufzustellen.    Sie  ist,  der  Hauptsache 

nach,  das  Suchen  nach  dem  Ding  an  sich. 

Die  Geschichte  der  Philosophie  ist  die  Geschichte  einer 
Reihe  von  Gedanken  über  das  Wesen  der  Dinge, 
welche  im  Laufe  der  Jahrhunderte  im  Oriente  und  Occidente 
in  einer  Anzahl  überlegener  Köpfe  aufgetreten  sind  und,  von 
ihnen  mitgeteilt,  in  engeren  oder  weiteren  Kreisen  Verständnis, 
Beifall  und  Verbreitung  gefunden  haben.  Der  Historiker  hat 
sich  zunächst  mit  diesen  Gedanken  selbst,  dann  aber  auch 
mit  der  Einwirkung  derselben  auf  die  Menschheit  zu  be- 
schäftigen. 

Eine  Definition  der  Philosophie,  welche  das  philo- 
sophische Denken  gegen  die  übrige  Gedankenwelt  abgrenzte 
und  dabei  allen  Erscheinungen,  von  denen  die  Geschichte  der 
Philosophie  zu  reden  hat,  gleichmäfsig  gerecht  würde,  läfst 
sich  nicht  aufstellen,  da  der  Begriff  der  Philosophie  von  den 
verschiedenen  Systemen  verschieden  bestimmt  wird,  indem  oft 
die  einen  ausdrücklich  einschliefsen,  was  von  den  andern  ebenso 
ausdrücklich  ausgeschlossen  wird. 

In  Indien  fehlt  es  für  unsere  Disciplin  sogar  an  einem 
gemeinsamen  Namen;  hingegen  bedeuten  die  Namen  der 
hauptsächlichen  Systeme,  wie  Mimansä  (Forschung),  Sänkhyam 
(Spekulation),  Nyäya  (Analysis),  ein  jeder  für  sich  ungefähr 
das,   was   wir  unter  Philosophie  verstehen,   woraus  zu  folgen 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.    I.  1 


2  Einleitung. 

scheint,  dafs  diese  Systeme  ursprünglich  unabhängig  von 
einander  entstanden  sind  und  nicht,  wie  die  meisten  abend- 
ländischen Systeme,  in  der  historischen  Abfolge  einer  zu- 
sammenhängenden Tradition,  durch  welche  mit  der  Sache 
zugleich  der  Name  von  dem  Vorgänger  auf  den  Nachfolger 
überliefert  wurde. 

Auch  die  ältesten  Systeme  der  griechischen  Philosophie 
sind  ungefähr  gleichzeitig  und  im  wesentlichen  unabhängig 
von  einander  an  verschiedenen  Punkten  der  griechischen  Welt 
aufgetreten.  Auch  sie  entbehren  daher  noch  des  gemeinsamen 
Namens,  indem  das  Wort  Philosophie  (mag  dasselbe  auch 
schon  früher  von  Pythagoras  u.  a.  gelegentlich  gebraucht 
worden  sein)  doch  erst  herrschend  wurde  und  werden  konnte, 
seit  durch  Sokrates  eine  gemeinschaftliche  Grundlage  geschaffen 
worden  war,  von  der  sich  alle  nachfolgenden  Philosophen 
mehr  oder  weniger  abhängig  fühlten. 

Das  seit  Sokrates  und  Piaton  allgemein  gebräuchliche 
Wort  Philosophie,  „Liebe  zur  Weisheit",  befafst  ursprünglich 
alle  Wissenschaften;  ja  noch  etwas  mehr;  denn  Weisheit 
(cocpia)  ist  Wissenschaft  (sTutaT^ix-r])  mit  dem  Nebenbegriffe 
eines  bestimmten  Einflusses  auf  das  allgemeine  Verhalten  des 
Menschen  in  geistiger  und  sittlicher  Hinsicht.  Seitdem  ist 
der  Begriff  der  Philosophie  von  den  einzelnen  Systemen  sehr 
verschieden  bestimmt  worden;  die  einen  waren  geneigt,  alle 
Wissenschaften  unter  der  Philosophie  zu  befassen,  während 
die  andern  einen  Teil  derselben  ausschlössen;  die  einen  be- 
tonten den  rein  theoretischen  Charakter  der  Philosophie, 
während  die  andern  gerade  auf  das  aus  der  Beschäftigung 
mit  der  Philosophie  abfliefsende  praktische  Verhalten  den 
Hauptnachdruck  legten. 

Trotz  dieser  und  anderer  Differenzen,  welche  es  unmöglich 
machen,  eine  für  alle  im  Verlaufe  der  Geschichte  aufgetretenen 
Systeme  gleichmäfsig  gültige  Definition  der  Philosophie  auf- 
zustellen, läfst  sich  doch  gleichwie  ein  roter  Faden  durch  die 
ganze  Geschichte  der  Philosophie  hindurch  eine  gewisse  Über- 
einstimmung in  betreff  der  Aufgaben  und  Ziele  der  Philosophie 
erkennen,  welche  in  den  aus  jeder  Verdunkelung  immer  wieder 
in  den  Vordergrund  tretenden  Sätzen  gipfelt, 


I.    Begriff  der  Philosophie.  3 

1)  elafs  die  Philosophie,  unbeschadet  der  Selbständigkeit 
der  aus  ihr  abgezweigten  empirischen  Wissenschaften,  sich 
nicht  wie  diese  auf  ein  einzelnes  Gebiet  der  Natur  einschränken 
läfst,  sondern,  nach  jedem  Versuche  einer  solchen  Ein- 
schränkung, immer  wieder  das  Gesamtgebiet  alles  seiend 
Vorn"  an  denen  als  ihr  Objekt  in  Anspruch  nimmt;  und 

2)  dafs  sie  den  gesamten,  von  der  äufsern  und  innern 
Erfahrung  dargebotenen  und  von  den  empirischen  Wissen- 
schaften durchgearbeiteten  Stoff,  mithin  die  Gesamtheit  der 
empirischen  Realität,  mag  dieselbe  noch  so  hell  vor  unsern 
Augen  daliegen,  ansieht  als  etwas,  was  noch  der  weitern 
Erklärung  bedarf,  als  ein  Problem,  welches  eine  Lösung 
fordert  und  damit  über  sich  selbst  hinausweist.  Daher  die 
auffallende  und  allen  durchgeführten  philosophischen  Systemen 
gemeinsame  Eigentümlichkeit,  dafs  sie  es  für  nötig  finden, 
ein  Princip  aufzustellen,  aus  dem  sie  dann  in  mannigfacher 
Weise  bemüht  sind,  das  Dasein  der  Welt  und  ihrer  Er- 
scheinungen zu  begreifen.  Als  ein  solches  Princip  der 
Welt  er  klär  ung  erscheint  z.  B.  im  Vedänta  der  Atman,  im 
Sänkhyam  Prakriti  und  Purusha,  bei  Lao-tsee  das  Tao;  bei 
den  altern  Joniern,  wie  auch  bei  Heraklit  und  den  von  ihm 
abhängigen  Stoikern,  ein  materieller  Urstoft,  bei  den  Pytha- 
goreern  die  Zahl,  bei  den  Eleaten  das  Seiende;  bei  Empedokles 
die  vier  Elemente  nebst  yüla.  und  vstxoc,  bei  Anaxagoras  der 
voOr  und  die  6;xo!.o;j.sp'?i,  bei  Demokrit  und  Epikur  die  Atome. 
Sokrates,  als  Analytiker,  hat  kein  System  und  somit  auch 
kein  Princip  aufgestellt.  Bei  Piaton  und  Aristoteles  erscheint 
als  solches  die  Idee,  bei  den  Neuplatonikern  das  sv,  bei  den 
Philosophen  der  christlichen  Zeit  bis  auf  Cartesius  und  Spi- 
noza Gott.  Locke  als  Analytiker  ist  ohne  Princip,  hat  aber 
Anlafs  gegeben  zum  Materialismus,  welcher  als  Princip  die 
Materie  ansieht,  aus  der  er  alle  Erscheinungen  erklären  zu 
können  glaubt.  Das  Princip  der  leibnizischen  Philosophie  ist 
die  Monade.  Kant  stellt  kein  Princip  der  Welterklärung 
auf,  weist  aber  durch  seine  Zerlegung  des  Erfahrungsinhaltes 
in  das  Apriorische  und  Aposteriorische  auf  das  beiden  zu 
Grande  liegende,  wenn  auch  unerkennbare  „Ding  an  sich" 
als  Princip  hin.     Fichte  glaubt  das   ausreichende  Princip   der 

1* 


4  Einleitung. 

Welterklärung  im  Ich  zu  finden;  Schelling  erneuert  in  gewissem 
Sinne  das  Princip  des  Spinoza,  Hegel  das  des  Piaton  und  Ari- 
stoteles, Herbart  das  des  Leibniz,  während  Schopenhauer  das 
kantische  Ding  an  sich  als  Wille  entziffert  und  aus  dessen 
beiden  Polen  die  Welt  und  die  Überwelt  ableitet. 

Alle  diese  Bemühungen,  so  mannigfach  sie  sind,  stimmen 
doch  darin  überein,  dafs  sie  das  Dasein  der  Welt  und  ihres 
Inhaltes  betrachten  als  etwas,  was  sich  nicht  von  selbst  ver- 
steht, sondern,  auch  nach  allen  Aufhellungen  durch  die  empi- 
rischen Wissenschaften,  noch  der  Erklärung  bedarf,  und 
dafs  sie  ein  Princip  aufstellen,  aus  welchem  sie  das  Dasein 
der  Welt  zu  begreifen  bestrebt  sind. 

Hiernach  läfst  sich,  wenn  auch  nicht  eine  historische 
Definition,  die  allen  bisher  aufgetretenen  Systemen  im  ein- 
zelnen konform  wäre,  so  doch  eine  Ideal-Definition  der 
Philosophie  aufstellen,  d.  h.  eine  solche,  welche  das  Ziel  be- 
zeichnet, auf  welches  alle  philosophischen  Bemühungen  aller 
Zeiten  und  Länder  gerichtet  waren,  wenn  auch  ein  klares 
Bewufstsein  über  diese  eigentliche  Aufgabe  der  Philosophie 
erst  im  Verlaufe  ihrer  Geschichte  selbst  sich  herausgebildet 
hat  und  noch  zu  bilden  im  Begriffe  ist.  Diese  Ideal-Definition 
wird  zwar  nicht  so  weit  sein,  um  alle  Irrgänge  der  Philosophen 
der  Vergangenheit  zu  befassen,  wohl  aber  wird  sie  als  Mafs- 
stab  dienen  können,  um  aus  der  Gesamtheit  der  als  Philosophie 
aufgetretenen  Gedanken  diejenigen  hervorzuheben,  welche  als 
die  wahrhaft  wertvollen  und  fruchtbaren  sich  in  der  Folge 
erwiesen  haben  und  noch  weiter  erweisen  werden. 

Somit  begreifen  wir  die  Philosophie  als  eine  Wissen- 
schaft, welche  sich  von  allen  übrigen,  d.  h.  von  allen  empi- 
rischen Wissenschaften  vornehmlich  durch  zwei  Merkmale 
unterscheidet : 

erstlich:  während  alle  empirischen  Wissenschaften  bestrebt 
sind,  einen  bestimmten  Teil  des  Erfahrungskomplexes  zu 
erforschen,  so  bezieht  sich  die  Philosophie  auf  die  Gesamt- 
heit alles  dessen,  was  seiend  vorhanden  ist,  und  wenn 
sie  auch  (aus  Gründen,  die  sogleich  erhellen  werden)  in  erster 
Linie  den  Phänomenen  der  innern  Erfahrung  (von  denen  die 
Psychologie   mit   ihren   Zweigen:    der   Logik,    Aesthetik    und 


I.    Begriff  der  Philosophie.  5 

Ethik,  handelt)  ihre  Aufmerksamkeit  zuwendet,  so  giebt  es 
doch  auch  keinen  Teil  der  äufsern  Natur,  welcher  aufserhalb 
ihres  Bereiches  läge; 

zweitens:  während  alle  empirischen  Wissenschaften  sich 
damit  begnügen,  das  thatsächlich  Vorhandene  zu  beobachten 
und  zii  beschreiben,  zu  ordnen  und  aus  seinen  Ursachen  zu 
erklären,  so  wurzelt  Philosophie  von  je  her  in  dem,  wenn 
auch  zuerst  nur  undeutlichen,  dann  aber  immer  klarer  hervor- 
tretenden Bewufstsein,  dafs  durch  alle  diese  Bemühungen  der 
empirischen  Wissenschaften  nie  etwas  anderes  erkannt  und 
klargelegt  werden  könne  als  die  äufsere  Erscheinungsweise 
der  Dinge,  gleichsam  die  Aufsenseite  der  Natur,  über 
welche  die  Philosophie,  als  solche,  hinausgeht,  indem  sie  ver- 
sucht, in  das  Innere  der  Natur  einzudringen,  um  das 
eigentlichste,  tiefste  und  letzte  Wesen  dessen,  was  uns  in  der 
Gesamtheit  der  Natur  zur  Erscheinung  kommt,  —  um  „das 
Selbst"  (ätman)  der  Welt,  wie  der  Vedänta,  um  „das  Ding 
an  sich",  wie  Kant  sagt,  um,  nach  einem  beides  zusammen- 
fassenden Ausdrucke  Piatons,  das,  was  „selbst  an  sich 
selbst"  (aü)TÖ  xa^  aüxo)  ist,  zu  ergründen. 

Mit  welchem  Rechte  die  Philosophie  von  allen  andern 
Wissenschaften  behauptet,  dafs  sie  nur  an  der  Aufsenfläche 
der  Dinge  kleben,  mit  welchen  Mitteln  sie  es  dann  weiter 
unternimmt,  in  das  innere  Wesen  der  Natur  einzudringen, 
und  inwieweit  dieses  ihr  Vorgehen  eine  wissenschaftliche 
Berechtigung  hat,  das  alles  wird  sich  im  Verlaufe  unserer 
Darstellung  je  weiter  hin  um  so  deutlicher  ergeben;  hier 
zu  Anfang  kann  nur  ausgesprochen  werden,  dafs  Philo- 
sophie zu  allen  empirischen  Wissenschaften  in  einem  ganz 
bestimmten,  wenn  auch  nicht  von  je  her  deutlich  bewufsten, 
Gegensatze  steht:  alle  andern  Wissenschaften  sind  physisch, 
d.  h.  sie  bleiben  bei  Betrachtung  der  Natur  (cpijöt^)  und 
ihres  kausalen  Zusammenhanges  stehen,  die  Philosophie 
allein  ist  metaphysisch,  nicht  sofern  sie  (transscendent) 
über  die  Erfahrung  hinausgeht,  sondern  sofern  sie  (imma- 
nent) durch  dieselbe  hindurchgreift,  um  den  Kern  zu  er- 
fassen, während  alle  physischen  Wissenschaften  bei  der  Schale 
stehen  bleiben. 


6  Einleitung. 

Nach  dieser  Auffassung  ist  alle  Philosophie  von  Hause 
aus  und  wesentlich  Metaphysik,  und  alle  andern  philoso- 
phischen Disciplinen  sind  dieser  nicht  nebenzuordnen  sondern 
als  integrierende  Teile  einzuordnen.  Als  solche  Zweigwissen- 
schaften der  Philosophie  gelten  vornehmlich:  Psychologie, 
Logik,  Aesthetik  und  Ethik,  d.  h.  die  Wissenschaften, 
welche  der  Bearbeitung  der  innern  Erfahrung  dienen,  und 
mit  gutem  Rechte.  Denn  soll  die  Aufgabe  der  Philosophie, 
das  innere  Wesen  der  Natur  aufzuschliefsen,  überhaupt  lösbar 
sein,  so  kann  sie  nur  von  dem  Punkte  aus  unternommen 
werden,  wo  sich  dieses  Innere  der  Natur  für  uns  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  öffnet,  das  heifst  aus  unserm  eigenen 
Innern,  mit  dessen  Erforschung  die  erwähnten  Zweigwissen- 
schaften der  Metaphysik  beschäftigt  sind.  Die  ganze  Aufgabe 
der  Philosophie  läfst  sich  daher  auch  kennzeichnen  als  die 
Bemühung,  aus  der  Erforschung  unseres  eigenen  Innern  die 
Mittel  zu  gewinnen,  um  das  innere  Wesen  aller  andern  Er- 
scheinungen der  Natur  zu  ergründen.  Daher  steht  die  Meta- 
physik in  unmittelbarem  Zusammenhange  mit  den  Wissen- 
schaften der  innern  Erfahrung  (Psychologie,  Logik,  Aesthetik, 
Ethik),  in  mittelbarem,  aber  nicht  weniger  unzerreifsbarem 
Zusammenhange  mit  den  Wissenschaften  der  äufsern  Erfahrung 
(Mathematik  und  Naturwissenschaften);  keine  unter  ihnen  ist, 
deren  ganzes  Rüstzeug  nicht  an  seinein  Orte  der  Philosophie 
dienstbar  würde,  keine,  die  nicht  von  ihr  als  Entgelt  reiche 
Aufschlüsse  empfinge. 

II.   Vorläufige  Übersicht. 

Eine  allgemeine  Geschichte  der  Philosophie  wird  nur 
diejenige  heifsen  können,  welche  unsern  ohnehin  zeitlich  und 
räumlich  so  eingeschränkten  Horizont  nicht  ohne  Not  noch 
weiter  verengert,  sondern  vielmehr  bemüht  ist,  alle  Gedanken 
von  Bedeutung,  welche  den  im  vorigen  Abschnitte  charakte- 
risierten Zwecken  dienen,  mögen  sie  nun  im  Gewände  der 
Philosophie  oder  der  Religion  aufgetreten  sein,  soweit  die- 
selben irgend  erreichbar  sind,  in  den  Kreis  ihrer  Betrachtungen 
zu  ziehen. 


II.    Vorläufige  Übersicht.  7 

—  Ob  auch  auf  den  Sternen  philosophiert  wird,  wissen 
wir  nicht  und  werden  wir  voraussichtlich  nie  erfahren.  Aber 
vielleicht  verlieren  wir  daran  weniger,  als  es  zunächst  scheinen 
mag.  Denn  sollte  wirklich  (wie  durchaus  nicht  unwahr- 
scheinlich ist)  auch  auf  andern  Planeten  unseres  Sonnen- 
systems oder  auf  den  möglicherweise  zahllos  vorhandenen 
Planeten  anderer  Sonnensysteme  (soweit  dieselben  in  der 
verhältnismäfsig  kurzen  Übergangsperiode  sich  befinden,  in 
welcher  allein  sie  zu  Trägern  organischer,  lebender  Wesen  ge- 
eignet sind)  ein  menschliches  oder  menschenartiges  Geschlecht 
bestehen,  welches  eine  Kultur  und  als  höchste  Blüte  derselben 
eine  Philosophie  hervorgebracht  hätte,  so  dürfen  wir  als  sehr 
wahrscheinlich  annehmen,  dafs  diese  Philosophie  anderer 
Welten  in  ihren  wesentlichen  Entwicklungsphasen  und  Resul- 
taten mit  der  Philosophie  unseres  Planeten  eine  weitgehende 
Übereinstimmung  zeigen  würde.  Dafür  spricht  nicht  nur  die 
wohlberechtigte  Annahme,  dafs  dieselbe  Natur  der  Dinge  und 
derselbe  erkennende  und  denkende  Intellekt  dort  wie  hier 
einander  gegenüberstehen  werden,  sondern  auch  gewisser- 
mafsen  ein  empirisches  Datum,  sofern  wir  schon  hier  auf  der 
Erde  zwei  parallele  philosophische  Entwicklungen  antreffen, 
die  indische  und  die  westasiatisch-europäische,  welche  fast  so 
unabhängig  von  einander  sind,  als  gehörten  sie  verschiedenen 
Planeten  an,  und  doch  in  den  Methoden  wie  in  den  Resul- 
taten eine  merkwürdige  Übereinstimmung  zeigen.  Und  so 
dürfen  wir  denn  ähnliches  auch  von  der  möglicherweise  vor- 
handenen Philosophie  anderer  Weltkörper  erwarten :  auch 
dort  wird  der  erkennende  Geist  zunächst  im  ungebrochenen 
Vertrauen  auf  seine  Kraft  ausziehen,  um  die  Welt  zu  erobern, 
bis  er  schliefslich  der  ihm  von  Natur  gesetzten  Schranken 
inne  wird  und  in  dem  völligen  Begreifen  dieser  Schranken 
und  ihrer  Unübersteiglichkeit  Beruhigung  findet,  —  auch  dort 
wird  man  zunächst  sich  viel  zu  thun  machen  mit  einer  Ab- 
wägung der  Mittel,  welche  zur  Befriedigung  des  angebornen 
Triebes  nach  Glückseligkeit  die  dienlichsten  sind,  bis  man 
schliefslich  begreifen  wird ,  dafs  nicht  die  Befriedigung 
dieses  Triebes,  sondern  ein  Hinausgelangen  über  denselben 
und    eine   Erlösuno;   aus   den   von    ihm   sceschmiedeten   Fesseln 


8  Einleitung. 

der  empirischen  Realität  das  höchste  Ziel  des  Menschen 
bildet. 

—  Welches  möchte  wohl  der  Gesamteindruck  sein,  den 
wir  von  der  Kultur  und  dem  Treiben  auf  einem  andern  Pla- 
neten, wäre  uns  dahin  ein  Einblick  vergönnt,  empfangen 
würden?  Vielleicht  ein  ähnlicher  wie  bei  Reisen  in  ferne 
Länder,  wo  wir,  bei  allem  Wechsel  der  Scenerie  und  der 
Kostüme  denselben  Spielern  begegnend,  uns  im  stillen  ver- 
wundern darüber,  dafs  im  Grunde  alles  so  ähnlich  ist  dem, 
was  wir  zu  Hause  verliefsen?  Vielleicht  stehen  die  Menschen 
anderer  Weltkörper  kaum  weiter  von  uns  ab,  als  hier  auf  Erden 
der  Kaukasier,  der  Mongole  und  der  Neger  von  einander  ent- 
fernt sind?  Denn  die  Natur,  wie  wir  sie  kennen,  ist  zwar 
sehr  verschwenderisch  in  Hervorbringung  der  Individuen,  aber 
sehr  sparsam  in  Hervorbringung  der  Typen  der  Gattungen 
und  dürfte  sich  vielleicht  nicht  zweimal  für  alle  Zeiten  und 
Räume  den  Luxus  einer  Schöpfung  der  platonischen  Ideen 
gestattet  haben.  Jedenfalls  würde,  wer  Piatons  Ideen  versteht, 
sich  über  das  Auftreten  gleichartiger,  ja  identischer  Bildungen 
bei  völliger  materieller  Unabhängigkeit  von  einander  nicht 
weiter  wundern.  —  Doch  wir  wollen  es  der  Phantasie  über- 
lassen, für  ihre  hier  auf  Erden  durch  Wissenschaft  immer  mehr 
eingeengten  und  doch  auch  nicht  unberechtigten  Spieltriebe  sich 
einen  Ersatz  zu  schaffen  in  der  Bevölkerung  anderer  Welten,  — 
unsere  Betrachtung  hat  sich  auf  die  Erde  und  ihre  Verhält- 
nisse einzuschränken. 

Aber  auch  hier,  in  dem  engen  Räume  und  in  der  kurzen 
Spanne  Zeit  der  wenigen  Jahrtausende,  zu  welchen  die  histo- 
rische Erinnerung  des  Menschengeschlechts  zurückreicht,  sind 
es  nur  einige  wenige  von  den  zahlreichen  rund  um  den  Erd- 
ball angesiedelten  Völkern,  welche  sich  thätig  und  erfolgreich 
an  der  philosophischen  Arbeit  beteiligt  haben.  Denn  abge- 
sehen etwa  von  den  Aegyptern  und  Chinesen,  welche 
übrigens  in  diesem  Drama  nur  eine  Nebenrolle  zu  spielen 
berufen  waren,  sind  es  nur  zwei  Völkerfamilien,  welche  als 
Träger  aller  höhern  Kultur,  und  so  auch  aller  philosophischen 
Bestrebungen  erscheinen:  die  Semiten  und  die  Indoger- 
manen.     Die   geographische  Lagerung  dieser  beiden  Stämme 


II.    Vorläufige  Übersicht.  9 

gegen  einander  ist,  der  Philosophie  und  ihrer  Entwicklung 
gegenüber,  selbstverständlich  eine  rein  zufällige;  —  und  doch 
ist  dieser  geographische  Zufall  mafsgebend  geworden  für  die 
Entwicklung  der  Philosophie  durch  alle  Zeiten  bis  auf  den 
heutigen  Tag,  und  die  ganze  Geschichte  der  Philosophie  würde 
wesentlich  anders  aussehen,  wäre  die  ursprüngliche  Lagerung 
der  Semiten  und  Indogermanen  gegen  einander  eine  andere 
gewesen.  Wir  müssen  diese  Verhältnisse,  als  grundbestimmend 
für  die  ganze  von  uns  zu  erzählende  Geschichte,  etwas  näher 
beleuchten. 

Die  Semiten,  d.  h.  nach  den  Hauptzweigen:  die  Araber, 
Babylonier  und  Assyrer,  Aramäer  und  Kananäer,  bil- 
deten, wie  die  Vergleichung  der  Sprachen  beweist,  ursprüng- 
lich ein  Volk,  dessen  Wiege  wahrscheinlich  in  den  Steppen- 
ländern Arabiens  zu  suchen  ist.  Nur  die  Araber  blieben  der 
ursprünglichen  Heimat  und  der  durch  sie  gebotenen  noma- 
dischen Lebensweise  bis  in  späte  Zeiten  hinein  treu,  während 
die  übrigen  Stämme,  nach  Norden  gedrängt,  auf  der  Halb- 
insel Sinear  gewisse  fremde  Einflüsse  (wovon  später)  empfingen 
und  dann  als  Babylonier  und  Assyrer  im  Osten,  als  Aramäer 
in  der  Mitte,  als  Kananäer  und  Phönicier  im  Westen  das 
Land  östlich  bis  über  den  Tigris  hinaus,  westlich  bis  zum 
mittelländischen  Meere  hin,  nördlich  bis  in  die  Gebirge 
Armeniens  hinein  in  Besitz  nahmen. 

Als  zweiter  Hauptträger  höherer  menschlicher  Kultur  sind 
zu  nennen  die  Indogermanen,  welche  in  ihren  sieben  Haupt- 
stämmen als  Inder  und  Iranier  im  mittleren  und  südlichen 
Asien,  als  Griechen  und  Italiker  im  Süden,  als  Slaven, 
Germanen  und  Kelten  in  den  nördlichen  Ländern  Europas 
sefshaft  wurden.  Dafs  die  Sprachen  der  Griechen  und  Römer 
in  einem  nähern,  die  sämtlichen  europäischen  Kultursprachen 
in  einem  entferntem  Verwandtschaftsverhältnisse  zu  einander 
stehen,  war  mit  Händen  zu  greifen  und  von  alters  her  bekannt, 
ohne  dafs  man  sich  doch  über  dieses  Verhältnis  eine  befrie- 
digende Rechenschaft  zu  geben  wufste.  Aber  nachdem  gegen 
Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  das  Sanskrit,  die  Sprache  der 
alten  Inder,  in  Europa  bekannt  geworden,  war  es  eine  ebenso 
grofse  und  folgenreiche   wie   naheliegende   und   nicht  zu  ver- 


10  Einleitung. 

fehlende  Entdeckung,  dafs  Inder  und  Perser  in  Asien,  Griechen 
und  Römer,  Kelten,  Germanen  und  Slaven  in  Europa  die 
Abkömmlinge  eines  einheitlichen  Urvolkes  seien,  mit  gemein- 
samer Sprache  und  Religion,  welchem  man  von  den  Indern 
als  östlichstem  und  den  Germanen  als  westlichstem  (bis  zum 
far  west  Amerikas  reichenden)  Stamme  den  ganz  zutreffenden 
Namen  der  Indogermanen  gegeben  hat.  Weniger  ist  es  bis 
jetzt  gelungen,  sich  über  die  ursprünglichen  Wohnsitze  dieses 
Muttervolkes  zu  einigen,  aber  vieles  (und  namentlich  die  mit 
der  zunehmenden  Entfernung  von  den  ursprünglichen  Wohn- 
sitzen gleichen  Schritt  haltende  Entartung  der  Sprache)  läfst 
die  älteste  Annahme  immer  noch  als  die  wahrscheinlichste 
bestehen,  wonach  der  Ursitz  der  Indogermanen  in  Central- 
asien,  etwa  östlich  vom  Aralsee,  zu  suchen  ist.  Von  hier  zogen 
dann  die  Iranier  und  Inder  nach  Süden,  bis  auch  sie,  etwa 
in  Afghanistan,  sich  trennten,  die  Iranier,  um  westlich  bis  zu 
dem  durch  die  semitischen  Stämme  aufgerichteten  Grenzwalle 
sich  auszubreiten,  die  Inder,  um  östlich  durch  das  Kabulthal 
in  das  Stromgebiet  des  Indus  und  weiterhin  in  das  des  Ganges 
vorzudringen  und  dadurch  von  allen  andern  Bruderstämmen 
völlig  isoliert  zu  werden.  Inzwischen  waren  die  westlichen 
Glieder  der  Indogermanen  (vermutlich  durch  Südrufsland)  nach 
Europa  gelangt,  um  als  Griechen  und  Italiker  den  Süden 
Europas  einzunehmen,  während  die  übrigen  Stämme  den  un- 
wirtlicheren Norden  Europas,  im  Osten  als  Slaven,  in  der 
Mitte  (von  Skandinavien  bis  zur  Donau)  als  Germanen,  im 
Westen  als  Kelten  in  Besitz  nahmen. 

Hiermit  und  durch  diese  Zufälligkeiten  war  der  Knoten 
geschürzt,  der  für  die  ganze  weitere  Gestaltung  der  mensch- 
lichen Kultur  und  mit  ihr  für  die  Entwicklung  der  Philosophie 
mafsgebend  geworden  ist. 

Während  die  Inder,  von  allen  verwandten  Stämmen  ab- 
geschnürt und  gegen  die  umwohnenden  niederen  Stämme 
sich  selbst  auf  das  strengste  isolierend,  rein  aus  sich  heraus 
ihre  so  originelle  Kultur,  ihre  so  völlig  ursprüngliche  und 
darum  für  uns  so  wertvolle  religiöse  und  philosophische  Denk- 
weise entfalteten,  bildete  sich  in  Westasien,  wo  alle  Völker- 
stämme,   semitische    wie   indogermanische,    um   die  Halbinsel 


II.    Vorläufige  Übersicht.  11 

Sinear  als  den  gemeinsamen  Anziehungspunkt  gravitierten,  ein 
zweiter  Kulturkreis  aus,  welcher,  von  Iran  bis  Aegypten  rei- 
chend, vorwiegend  unter  semitischem  Einflüsse  stand  und  als 
höchstes  geistiges  Erzeugnis  die  Gedankenwelt  des  Alten  und 
Neuen  Testaments  hervorgebracht  hat.  Der  dritte  und  letzte 
(der  Hauptsache  nach)  ursprüngliche  Kulturkreis  ist  der  der 
griechischen  und  römischen  Welt,  und  die  schönste 
Blüte  desselben  die  Philosophie  der  Griechen,  welche  eine 
Fülle  der  wertvollsten  Gedanken  entfaltete  und  doch  mit  all 
dem  Grofsen,  was  sie  bot  und  noch  heute  bietet,  nicht  im 
Stande  war,  den  Anforderungen  des  Kopfes  wie  des  Herzens 
völlig  zu  genügen.  Daher  geschah  es,  dafs  zu  Anfang  unserer 
Zeitrechnung  ein  Gefühl  der  Leere  und  des  Bedürfnisses  in 
der  antiken  Welt  sich  ausbildete,  welches  im  allgemeinen  in 
der  Hinneigung  der  römischen  Kaiserzeit  zu  den  orientalischen 
Kulten  seinen  Ausdruck  fand.  Und  hier  war  es,  wo  jener 
geographische  Zufall  sich  in  einer  für  alle  Folgezeit  entschei- 
denden Weise  geltend  machte.  Denn  als  die  griechisch-römische 
Welt,  im  Gefühle  der  eigenen  Unzulänglichkeit,  Hülfe  suchend 
(wie  der  macedonische  Mann,  Apostelgesch.  16,9)  ihre  Hände 
gegen  Osten  streckte,  da  verfiel  sie  nicht  auf  die  ihr  urver- 
wandte Weisheit  der  Inder,  sondern  auf  das  Christentum, 
welches,  auf  dem  semitischen  Stamme,  wenn  auch  vielleicht 
nur  als  ein  Pfropfreis,  erwachsen,  von  Jugendkraft  erfüllt, 
sich  eben  anschickte,  seinen  Eroberungszug  in  die  Welt  anzu- 
treten. Jetzt  entstand  jene  grofse  welthistorische  Verknüpfung: 
wie  zwei  Ströme  verschiedenen  Wassers  mischen  sich  die 
biblische  und  die  griechische  Weisheit  und  erzeugen  aus  sich 
die  Weltanschauung  des  Mittelalters,  in  welchem  erst 
spät  und  nach  vieler  Mühe  eine  Verwebung  der  beiden  hete- 
rogenen Elemente  zu  stände  kam.  Aber  das  Bündnis  war  ein 
unnatürliches  und  konnte  nicht  bestehen.  Der  menschliche 
Geist  gegen  Ende  des  Mittelalters  erwacht  zum  Bewufstsein 
seiner  Kraft  und  versucht  es,  die  ihm  vom  Mittelalter  ange- 
legten Fesseln  zu  sprengen.  Dieser  Befreiungskampf  ist  die 
neuere  Philosophie;  zuerst  wird  er  schüchtern,  dann  immer 
kühner  geführt,  bis  endlich  in  der  kantischen  Philosophie  die 
völlige  Auflösung  des  bisher  Bestehenden,  zugleich  aber  auch 


12  Einleitung. 

eine  Neubegründung  auftritt,  welche  verspricht,  dem  mensch- 
lichen Geist  in  wissenschaftlicher  wie  in  religiöser  Hinsicht 
die  lange  und  vergeblich  gesuchte  innere  Versöhnung  und 
völlige  Befriedigung  zu  gewähren. 

Aus  dieser  allgemeinen  Übersicht  ergeben  sich  naturge- 
mäfs  für  unsere  Betrachtung  fünf  Hauptteile: 

I.  Die  indische  Philosophie. 

II.  Die  griechische  Philosophie. 

III.  Die  Philosophie  der  Bibel. 

IV.  Die  Philosophie  des  Mittelalters. 
V.  Die  neuere  Philosophie. 

Wir  wollen  versuchen,  vor  dem  Eintreten  in  unsere  Dar- 
stellung, eine  kurze  Charakteristik  dieser  fünf  Hauptteile  und 
ihrer  Unterabteilungen  zur  vorläufigen  und  allgemeinsten  Orien- 
tierung zu  unternehmen. 

I.   Indische  Philosophie. 

A.  Altvedische  Periode  (ganz  ungefähr  anzusetzen 
von  1500  — 1000  a.  C).  In  den  Hymnen  des  Rigveda,  diesem 
ältesten  Denkmale  indogermanischer  Kultur,  welches  uns  zum 
Teil  noch  einen  Einblick  in  die  Genesis  und  Fortentwicklung 
des  altindischen  Polytheismus  gewährt,  sehen  wir  in  den 
jüngsten  Liedern  das  vedische  Pantheon  seinem  Verfalle  ent- 
gegeneilen. Zweifel  an  der  Realität  der  Götter,  ja  offener 
Spott  über  dieselben  wird  laut,  der  mit  ihnen  ihre  Sänger 
und  Priester  trifft.  Zugleich  aber  regt  sich  das  philosophische 
Bewufstsein:  die  Erkenntnis  bricht  sich  Bahn  und  findet  in 
einigen  Vedaliedern  ihren  wunderbaren  Ausdruck,  dafs  alle 
Vielheit  der  Götter,  der  "Welten  und  der  Wesen  im  tiefsten 
Grunde  auf  einer  unsagbaren,  unerkennbaren  Einheit  beruhe. 

B.  Jungvedische  Periode  (etwa  1000  —  500  a.  C). 
Mancherlei  Versuche  werden  gemacht,  diese  Einheit  näher  zu 
bestimmen,  als  Bralimanaspati,  als  Prajäpati,  als  Purusha 
u.  s.  w.,  bis  man  nach  manchen,  durch  gewisse  Hymnen  des 
Rigveda  und  Atharvaveda  und  durch  einzelne  Texte  der 
Brähmana's  zu  verfolgenden  Versuchen  endlich  diese  Einheit 
da  findet,  wo  sie   allein   zu  finden   ist,  —  in   dem   eigenen 


II.    Vorläufige  Übersicht.  13 

Selbst.  Die  Identität  des  eigenen  Selbstes  (ätmari)  mit  der 
Kraft,  welche  alle  Welten  hervorbringt,  trägt  und  in  sich 
zurückschlingt  (brahma?i),  ist  der  Grundgedanke,  welchen  die 
UpanishacVs,  diese  jüngsten  und  wertvollsten  Erzeugnisse  der 
vedischen  Litteratur,  in  zahlreichen  Variationen  vortragen. 

C./  Nachvedische  Periode  (etwa  von  500  a.  C.  bis 
auf  die  Gegenwart).  Aus  den  in  den  Upanishad's  ausgestreuten 
Keimen  erwächst  nebeneinander  eine  Reihe  von  Systemen, 
von  denen  sechs  als  orthodox,  d.  h.  als  vereinbar  mit  dem 
Veda,  die  übrigen  als  heterodox  und  ketzerisch  gelten.  Die 
ersteren  sind:  1)  die  Mimänsa,  2)  der  Vedanta,  welche  beide 
allein  im  strengsten  Sinne  orthodox  heifsen  können,  da  sie 
nichts  anderes  sind  als  die  philosophische  Systematisierung 
zweier  im  Veda  vorliegender,  in  bestimmtem  Gegensatze 
stehender  Grundanschauungen,  welche  in  merkwürdiger  Ana- 
logie zu  den  beiden  Hauptteilen  der  Bibel,  dem  Alten  und 
dem  Neuen  Testamente  stehen;  3)  der  Nyäya,  ein  System  von 
logischen  Gesichtspunkten  aus,  4)  das  Vaigeshikam,  eine  natur- 
wissenschaftlich gehaltene  Klassifikation  der  Dinge  unter  sechs 
Kategorien,  5)  das  Säfhkhi/am,  eine  originelle,  vom  Veda  und 
Vedänta  vielfach  abweichende  Metaphysik  von  atheistischer 
Grundanschauung,  6)  der  Yoga.,  eine  Umdeutung  des  Sänkhyam 
im  Sinne  des  Theismus,  mit  praktischer  Tendenz.  Neben  diesen 
sechs  orthodoxen  Systemen  steht  eine  Anzahl  heterodoxer 
Systeme  (im  Sarvadarganasamgraha  werden  neun  derselben 
aufgezählt  und  besprochen);  mehrere  sind  nichts  anderes  als 
Zurechtlegungen  der  Vedäntalehre  vom  Standpunkte  des  Civa- 
kultus  und  des  Vishnukultus  aus;  von  den  übrigen  sind  die 
bemerkenswertesten:  1)  die  Cärväka's,  die  indischen  Materia- 
listen, welche  an  Frivolität  und  Cynismus  ihre  Brüder  im 
Abendlande  womöglich  noch  übertreffen,  2)  die  Jaina's,  eine 
religiöse  Sekte,  die  Anhänger  des  Jina,  und  3)  die  Baicddha's 
oder  Buddhisten,  eine  ebensolche,  die  Anhänger  des  Buddha 
befassend.  Die  Darstellung  des  Lebens,  der  Lehre  und  der 
Gemeinde  Buddhas  leitet  dann  von  selbst  hinüber  zur  Be- 
trachtung des  Landes,  wo  der  Buddhismus,  aus  Indien  ver- 
trieben, die  gröfste  Zahl  seiner  Anhänger  fand,  zu  China  und 
dem  nahe  verwandten  Japan. 


14  Einleitung. 

Anbang  des  ersten  Teiles:  die  Philosophie  der 
Chinesen.  In  China  herrschen  drei  religiös-philosophische 
Lehren  in  brüderlicher  Eintracht  neben  einander  (sein  kieio,  i 
kia,  „drei  Lehren,  eine  Familie",  wie  der  Chinese  sagt); 
diese  sind: 

1)  die  tiefsinnige  Lehre  des  Lao-tsee; 

2)  die  etwas  nüchterne  Morallehre  des  Kon-fu-tsee; 

3)  die  Lehre  des  Fo,  d.  i.  Buddha. 

Analoge  Bildungen  finden  sich  in  Japan.  Von  hier,  vom 
fernsten  Osten,  wenden  wir  uns  dann  mit  einem  grofsen 
Sprunge  nach  Westen  zu  den  Anfängen  der  griechischen 
Philosophie. 

II.   Griechische  Philosophie. 

Sie  durchläuft  in  den  zwölf  Jahrhunderten  ihres  Bestehens 
drei  Perioden,  bei  denen  die  räumliche  und  zeitliche  Ausbrei- 
tung mit  der  innern  Bedeutsamkeit  ungefähr  in  umgekehrtem 
Verhältnisse  steht.  Diese  drei,  den  drei  Entwicklungsstadien 
der  griechischen  Sprache  und  Kultur  im  allgemeinen  parallel 
laufenden,  daher  auch  sich  von  selbst  ergebenden  Perioden  sind: 

1)  Die  vorsokratische  Philosophie  oder  die  Philo- 
sophie der  Stämme  (im  VI.  und  V.  Jahrhundert  a.  C). 
Im  VI.  Jahrhundert  vor  Christo  sehen  wir  an  verschiedenen 
Punkten  der  griechischen  Welt  ein  vorwiegend  der  Betrachtung 
der  Aufsenwelt  zugewendetes,  reges  philosophisches  Leben 
sich  entfalten,  welches  jedoch  sehr  bald,  um  500  a.  C,  durch 
Herahlit  und  Parmenides  in  Gegensätze  auseinander  getrieben 
wurde,  an  deren  Versöhnung  die  Philosophie  im  V.  Jahrhundert 
sich  vergebens  abarbeitete,  bis  sie  in  der  Sophistik  einer  Art 
Selbstauflösung  verfiel. 

2)  Die  attische  Philosophie,  vorwiegend  beherrscht 
durch  die  drei  grofsen  Persönlichkeiten  des  Sokrates,  Piaton 
und  Aristoteles.  Sokrates  wendet  sich  mit  aller  Energie  und 
Einseitigkeit  der  Betrachtung  der  innern  Erfahrung  zu  und 
eröffnet  damit  der  Philosophie  dasjenige  Gebiet,  dessen  Be- 
arbeitung (wie  oben,  S.  6,  gezeigt)  ihre  nächste  und  wich- 
tigste Aufgabe  ist.  Piaton  unternimmt  auf  dem  Boden  der 
Sokratik    eine    universelle    Zusammenfassung    der    bisherigen 


IL    Vorläufige  Übersicht.  15 

Philosopheme  und  wird  dadurch  der  Schöpfer  des  ersten  im 
Abendlande  aufgetretenen,  universellen  metaphysischen  Systems, 
in  welchem  namentlich  die  Gegensätze  des  Heraklit  und  Parme- 
nides  in  ihrer  Berechtigung  anerkannt  und  in  einer  höhern  Ein- 
heit aufgehoben  werden.  Aristoteles  endlich  weifs  die  Grund- 
gedanken des  Piaton  (nicht  ohne  Abschwächung)  über  Welt 
und  Leben  zu  verbreiten  und  wird  dadurch  der  Vater  einer 
Reihe  von  Wissenschaften  der  äufsern  und  innern  Erfahrung. 
3)  Die  nacharistotelische  Philosophie  zieht  sich  vom 
Tode  des  Aristoteles  (322  a.  C.)  bis  zur  Auflösung  der  grie- 
chischen Philosophie  (529  p.  C.)  im  weiten  griechisch-römischen 
Kulturkreise  in  immer  breiterer  Entfaltung  hin,  ist  aber  in 
ihren  verschiedenen  Systemen  ( Akademiker, Peripatetiker,  Stoiker, 
Epikureer ,  Skeptiker)  nicht  sowohl  mit  der  Schöpfung  neuer, 
als  mit  der  Zurechtschneidung  und  Zusammenfügung  früherer 
Gedanken  für  die  Bedürfnisse  eines  immer  gröfser  werdenden 
Publikums  bemüht,  welches  dann  endlich  die  Befriedio-uno-  der 
Gemütsbedürfnisse,  die  es  vor  allem  suchte,  in  konkreterer  und 
fafslicherer  Form  als  bei  den  Philosophen  in  der  Annahme  des 
Christentums  fand. 

III.   Die  Philosophie  der  Bibel. 

Die  Entstehung  des  Christentums  ist  einer  der  zusammen- 
gesetztesten und  verschlungensten  Prozesse,  welche  die  Ge- 
schichte der  Philosophie  kennt,  und  nötigt  zu  einer  Betrachtung 
des  ganzen  ägyptisch -westasiatischen  Kulturlebens,  in  dessen 
Schofse  das  Christentum  erwachsen  ist.  Wir  unterscheiden 
dabei  fünf,  teils  neben-  teils  nacheinander  verlaufende  Ent- 
wicklungsphasen. 

1)  Religion  und  Philosophie  der  Aegypter.  Ob  und 
inwieweit  vielleicht  Aegypten  und  seine  vielgerühmte  Weis- 
heit in  früherer  oder  späterer  Zeit  einen  Einflufs  auf  die  bib- 
lische Gedankenwelt  geübt  habe,  das  wird  wohl  noch  länger 
eine  offene  Frage  bleiben  und  mag  jedenfalls  Veranlassung 
geben,  das  Wenige,  was  nach  dem  Stande  der  heutigen  For- 
schung über  das  geistige  Leben  im  alten  Aegypten  mit  Sicher- 
heit gesagt  werden  kann,  vor  dem  Eintreten  in  die  biblische 
Weltanschauuno;  zusammenzufassen. 


16  Einleitung. 

2)  Der  alte  Mosaismus.  Unter  diesem  Kamen  ver- 
stehen wir  die  Weltanschauung  der  Hebräer  wie  sie,  der 
Tradition  nach  auf  Mose  zurückgehend,  zur  Zeit  der  Könige 
und  bei  den  Propheten  die  herrschende  war.  Aus  dem  allge- 
mein-semitischen, bei  Arabern,  Assyrern  und  Kananäern  noch 
in  seinen  Grundzügen  nachweisbaren  Polytheismus  sehen  wir 
in  stufenweisem  Fortschritt  die  Lichtgestalt  des  Jekovah- 
glaubens  sich  entwickeln,  welcher  berufen  war,  eine  so 
grofse  Rolle  im  geistigen  Leben  der  Völker  bis  auf  den  heu- 
tigen Tag  zu  spielen.  Für  die  philosophische  Betrachtung 
erscheint  der  althebräische  (anthropomorphische)  Theismus  als 
eine  sehr  konsequente,  aber  auch  sehr  einseitige  und  mit  der 
Erfahrung  in  unversöhnbarem  Widerspruche  stehende  Welt- 
ansicht. Es  ist  ein  eigenartiges  Schauspiel,  zu  sehen,  wie  die 
edleren  und  lebendigeren  Geister  unter  den  Hebräern  schwer 
an  diesen  Widersprüchen  tragen,  dagegen  ankämpfen  und  so 
das  alte  konsequente  System  an  verschiedenen  Punkten  durch- 
löchern. 

3)  Die  iranische  Weltanschauung.  Eine  Umwand- 
lung im  grofsen  erfuhr  der  alte  Mosaismus,  seit  die  Juden, 
für  zwei  Jahrhunderte  (538 — 332  a.  C.)  zu  Angehörigen  des 
Perserreiches  geworden  und  auch  weiterhin  in  stetiger  Be- 
ziehung zum  Osten  bleibend,  die  iranische  Wreltansicht ,  wie 
sie  an  den  Namen  des  Zoroaster  sich  knüpft,  näher  kennen 
lernten.  Eine  Darstellung  der  Zoroasterlehre  ist  unumo-äno;- 
lieh,  da  ohne  sie  als  Mittelglied-  der  Übergang  der  alttesta- 
mentlichen  in  die  neutestamentliche  Weltanschauung  nicht 
wohl  zu  begreifen  ist. 

4)  Der  Judaismus  ist  die  Weltansicht,  wie  sie,  aus 
dem  alten  Mosaismus  unter  dem  Einflüsse  der  Zoroasterlehre 
sich  durch  die  Zeit  der  Apokryphen  fortentwickelnd,  den 
Glauben  der  palästinischen  Zeitgenossen  Jesu  bildete,  mithin 
auch  von  diesem  selbst  und  seinen  Jüngern  von  Hause  aus 
geteilt  wurde.  Es  wird  sich  zeigen,  dafs  viele  Gedanken  Jesu 
selbst  nur  eine  lebendige  Reproduktion  der  von  Mose  und 
Zoroaster  überkommenen  und  durch  die  vorhergehenden  Jahr- 
hunderte fortgebildeten  Erbstücke  sind. 


II.    Vorläufige  Übersicht.  17 

5)  Das  Christentum.  Von  jener  Jesu  mit  seinen  Jüngern 
und  übrigen  Zeitgenossen  gemeinsamen  Weltansicht  werden 
dann  diejenigen  Gedanken  sich  deutlich  abheben,  in  welchen 
das  eigentlich  Neue  der  Lehre  Jesu  zu  suchen  ist,  das  Senf- 
korn, welches  später  zum  Baume  der  christlichen  Idee  erwachsen 
sollten  Diese  Gedanken  werden  weiterhin  von  Paulus  über- 
nommen und  zu  dem  fortentwickelt,  worin  die  eigentliche 
Grundanschauung  des  Christentums  zu  suchen  ist.  Ein  Ein- 
flufs  von  griechischer  Seite  her  ist  bei  Jesus  und  Paulus  nicht 
zu  spüren.  Um  so  mehr  bei  dem  dritten  Hauptfaktor  des 
Neuen  Testaments,  dem  Evangelium  Johannis.  Dasselbe  weist 
deutlich  zurück  auf  die  jüdisch-alexandrinische  Verschmelzung 
der  alttestamentlichen  Lehren  mit  Elementen  der  platonischen 
und  stoischen  Philosophie,  deren  Hauptdenkmal  heute  für  uns 
die  Schriften  des  Philon  sind.  Erst  nach  Darstellung  des 
Alexandrinismus  wird  es  möglich  sein,  die  universelle  Zu- 
sammenfassung der  Lehren  Jesu  und  Pauli  mit  mosaischen, 
iranischen  und  griechischen  Elementen  zu  verstehen,  wie  sie 
im  vierten  Evangelium,  dieser,  wenn  nicht  wertvollsten,  so 
doch  gereiftesten  und  einflufsreichsten  Urkunde  des  Christen- 
tums, vorliegt. 

IV.   Die  Philosophie  des  Mittelalters. 

Es  folgt  nun  im  geistigen  Leben  der  Menschheit  jener 
merkwürdige  Verschmelzungsprozefs  griechischer  und  bibli- 
scher Weisheit,  oder  genauer  gesagt:  die  Projektion  des 
christlichen  Gedankens  auf  der  bereitstehenden  und  wohl- 
durchgebildeten Fläche  der  griechischen  Philosophie.  Diese 
Verschmelzung  erfolgt  in  zwei  Phasen,  welche  als  Patristik 
und  Scholastik  unterschieden  werden. 

1)  Die  Patristik  und  der  Neuplatonismus.  Die  in 
der  Zeit  der  Patristik  (von  200  bis  800  p.  C.)  erfolgende 
Assimilation  der  christlichen  Idee  durch  die  griechisch-römische 
Welt  erfolgt  in  zwei  Perioden,  welche 

a)  von  200  bis  325  die  Bildung  der   Grunddogmen, 

b)  von  325  bis  800  die  Fortbildung  derselben  zur  Dog- 
niatik  befassen. 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.    I.  2 


13  Einleitung. 

Gleichzeitig  aber  entwickelt  sich  seit  200  p.  C.  von  Alexan- 
clrien  ans  der  Neuplatonismus ,  jene  schöne  Nachblute  helle- 
nischer Weisheit,  in  dem  die  besten  Gedanken  der  griechischen 
Philosophie,  mit  gewissen  Elementen  orientalischer  Denkweise 
verschmolzen,  anf  das  Mittelalter  vererbt  werden,  und  der 
dem  erstarkenden  und  erstarrenden  Kirchenglauben  als  ein 
um  so  gefährlicherer  Gegner  erwuchs,  je  mehr  inneres  Leben 
er  in  sich  trug,  und  je  mehr  auch  er  denselben  Herzensbedürf- 
nissen entgegenkam,  welchen  das  Christentum  seinen  Sieg  ver- 
dankt hatte. 

2)  Die  Scholastik  (800— 1400  p.  C.).  Wie  der  Patristik 
die  erste  Bildung  der  Dogmen  und  die  Fortentwicklung  der- 
selben zur  Dogmatik,  so  fällt  der  Scholastik  als  Aufgabe  die 
Ausbildung  einer  Religionsphilosophie  zu,  welche  gleichmäfsig 
den  Bedürfnissen  des  Denkens  wie  des  Herzens  Genüge  leisten 
soll.  Diese  Ausbildung  erfolgt  nicht  ohne  mannigfache  Wechsel- 
fälle, Kämpfe  und  Schwierigkeiten.  In  der  ersten  Periode 
der  Scholastik  (800 — 1200  p.  C.)  treten  mehrfache  Ver- 
suche auf,  den  christlichen  Gedanken  völlig  zu  begreifen,  in- 
dem man  ihn  auf  Grund  einer  neuplatonischen  Anschauung 
konstruiert,  und  erst  nachdem  diese  Versuche  wiederholt  an 
dem  Widerstände  der  immer  starrer  und  herrischer  auftretenden 
Orthodoxie  gescheitert  sind,  entschliefst  man  sich  in  der 
zweiten  Periode  (1200  — 1400  p.  C),  gewisse  Grundge- 
danken des  Christentums  als  Mysterien  der  Sphäre  der  Er- 
kennbarkeit zu  entrücken,  und  begnügt  sich,  dieselben  mit 
einer  wesentlich  auf  Aristoteles  fufsenden  theologia  naturalis 
zu  umrahmen,  woraus  dann  als  Hauptfrucht  des  mittelalter- 
lichen Denkens  das  grofse  und  durchgebildete  Lehrsystem 
des  Albertus  Magnus  und  Thomas  von  Aquino  hervorgeht. 
Kaum  aber  ist  in  ihnen  das  endliche  Bündnis  zwischen  Glau- 
ben und  Denken,  Bibel  und  Aristoteles  geschlossen,  als  auch 
schon  dessen  Unhaltbarkeit  in  mancherlei  Symptomen  zu  Tage 
tritt;  solche  sind  namentlich:  der  Skepticismus  des  Duns 
Scotus,  das  Wiederaufblühen  des  Neuplatonismus  in  der  My- 
stik des  Meister  Eckhart  und  die  Erneuerung  des  Nominalis- 
mus durch   William  von  Occam. 


IL    Vorläufige  Übersicht.  19 

Y.   Die  neuere  Philosophie. 

Dieselbe  verläuft  in  drei  deutlich  unterschiedenen  Perioden, 
deren  Grenzpunkte  durch  das  Auftreten  des  Descartes  und 
Kants  gebildet  werden. 

1)  Übergangszeit  (1400—1600).  Der  Befreiungskampf 
von  den  Fesseln  der  Scholastik  erfolgt  gleichzeitig  von  Seiten 
der  Reformation,  welche  vom  scholastisch  verstandenen 
Christentum  auf  das  urkundliche  Christentum  der  Bibel  zu- 
rückgreift, und  von  Seiten  der  Philosophie,  welche  zunächst 
vom  scholastischen  auf  den  urkundlichen  Aristoteles,  von  diesem 
aber  wiederum  auf  die  Natur  selbst  und  ihre  Erforschung 
zurückgeht.  Der  Sturz  der  Weltherrschaft  des  Aristoteles, 
vorbereitet  durch  die  Erneuerung  des  Piatonismus,  erfolgt  und 
vollendet  sich  bis  zum  Jahre  1600  durch  eine  Selbstauflösung 
innerhalb  des  eigenen  Lagers  der  Aristoteliker,  während  gleich- 
zeitig Versuche  einer  Neubildung  seit  Nicolaus  Cusanus  immer 
dringlicher  unternommen  werden  und  um  1600  in  den  Lehren 
des  Giordano  Bruno ,  Jacob  Boehme  und  Bacön  von  Verulam 
ihren  genialsten,  aber  auch  unreifen,  vielfach  sich  selbst  über- 
stürzenden Ausdruck  finden. 

2)  Von  Cartesius  bis  auf  Kant  (1641  —  1781).  Car- 
tesius,  an  die  Lehren  des  Mittelalters  über  Gott  und  Seele 
anknüpfend,  versucht  es,  denselben  eine  wissenschaftlich  be- 
gründete, logisch  gegliederte  Form  zu  geben.  Hierdurch  aber 
gerade  kommt  die  innere  Unhaltbarkeit  dieser  Lehren  zu 
Tage,  welche  unaufhaltsam  zu  einer  dem  Pantheismus  zutrei- 
benden Fortbildung  drängt,  die,  von  Geulincx  und  Malebranche 
angebahnt,  in  dem  Systeme  des  Spinoza  zur  Vollendung  ge- 
langt, welcher  die  Gegensätze  zwischen  ausgedehnter  und 
denkender  Substanz,  Leib  und  Seele,  dadurch  aufhebt,  dafs 
er  beide  in  Gott  versenkt  und  als  zwei  parallel  laufende 
Offenbarungsweisen  des  göttlichen  AVesens  auffafst.  Diese 
Lösung  des  Spinoza  war  zu  tief,  um  von  seiner  Zeit  völlig 
verstanden,  zu  heidnisch  (pantheistisch) ,  um  von  ihr  gebilligt 
werden  zu  können.  So  kam  Spinoza  erst  in  der  nachkantischen 
Zeit,  namentlich  durch  Schelling  und  Schleiermacher,  vorüber- 
gehend zu  Ehren,  als  man  schon  Besseres  haben  konnte  und 
seiner  nicht  mehr  bedurft  hätte.    Die  Zeitgenossen  des  Spinoza 

2* 


20  Einleitung. 

hingegen  standen  auch  nach  seinem  Auftreten  immer  noch  vor 
der  ungelösten  Frage,  wie  Leib  und  Geist,  ausgedehnte  und 
denkende  Substanz,  einander  beeinflussen  könnten?  —  Man 
fing  an,  sich  zu  fragen,  ob  es  denn  überhaupt  mit  der  Auf- 
stellung zweier  solcher  Substanzen,  deren  Einwirken  auf  ein- 
ander durch  alle  Bemühungen  nicht  hatte  begreiflich  gemacht 
werden  können,  seine  Richtigkeit  habe,  ob  es  nicht  möglich 
sei,  die  eine  auf  die  andere  zu  reducieren?  Dies  konnte  in 
doppelter  Weise  versucht  werden,  je  nachdem  man  realistisch 
den  Geist  als  eine  Modifikation  der  Materie,  oder  ideali- 
stisch die  Materie  als  ein  Geistiges  begreifen  zu  können 
glaubte.  Beide  Wege  wurden  zwischen  Spinoza  und  Kant 
betreten.  Der  Realismus,  angebahnt  durch  den  Locke'schen 
Empirismus,  führte  hundert  Jahre  später  zum  französischen  Mate- 
rialismus, während  daneben  aus  dem  Schofse  der  Locke'schen 
Philosophie  noch  zwei  sehr  verschiedene  Früchte  erwuchsen, 
der  Idealismus  des  Berkdey  und  der  Skepticismus  des  Hume;  — 
im  Gegensatz  zu  Locke  hatte  gleichzeitig  Leibniz  versucht, 
alles  Körperliche  als  ein  Geistiges  zu  begreifen  und  war  da- 
durch zu  einem  sehr  verstiegenen  Idealismus  gelangt,  dessen 
Verbreitung  in  einer  gewissen  Abschwächung  Wolf  sich  an- 
gelegen sein  liefs. 

So  war  denn  unmittelbar  vor  Kant  die  Philosophie  viel- 
leicht mehr  als  je  zuvor  in  Gegensätze  aus  einander  getrieben 
worden,  zwischen  denen  eine  Versöhnung  nicht  möglich  schien, 
und  eine  verzweifelnde  Stimmung  bemächtigte  sich  des  denken- 
den Geistes,  welche  der  Ausgangspunkt  der  kantischen  Unter- 
suchungen wurde  und  in  der  Vorrede  zur  Kritik  der  reinen 
Vernunft  ihren  schönen  und  beredten  Ausdruck  findet. 

3)  Von  Kant  bis  auf  die  Gegenwart.  Kant  war  es, 
der  nach  so  vielen  Irrgängen  des  menschlichen  Denkens  die 
Frage  aufwarf,  ob  wir  denn  überhaupt  in  der  menschlichen 
Vernunft  das  geeignete  Werkzeug  haben,  um  über  die  Er- 
fahrung hinauszugehen  und  über  solche  transscendente  Objekte 
wie  Seele  und  Gott  etwas  Haltbares  zu  erforschen?  —  Dies 
veranlafste  ihn,  den  ganzen  Apparat  des  Erkennens  einer 
Kritik  und  Prüfung  ohnegleichen  zu  unterwerfen,  deren 
Ergebnis   der    klare    Nachweis    der  Unmöglichkeit,    über    die 


II.    Vorläufige  Übersicht.  21 

Erfahrung  hinauszugehen,  und  zugleich  eine  vernichtende 
Kritik  aller  bisherigen  Spekulationen  über  Seele,  Weltganzes 
und  Gott  war.  Bei  dieser  Untersuchung  des  Erkenntnisver- 
mögens aber  machte  Kant  die  gröfste  aller  Entdeckungen, 
welche  je  in  unserer  Wissenschaft  erfolgt  ist:  diese  nämlich, 
dafs  gewisse  Bestandstücke  der  empirischen  Realität,  welche 
wir  von  Natur  an  ohne  Bedenken  der  Aufsenwelt  zuzählen, 
als  da  sind:  der  Kaum,  die  Zeit  und  die  Kausalität,  in  Wahr- 
heit nichts  anderes  sind  als  angeborene  Formen  unseres  Er- 
kenntnisvermögens selbst.  Als  Folge  ergab  sich,  dafs  die 
Welt,  wie  wir  sie  kennen,  als  eine  in  Raum  und  Zeit  aus- 
gebreitete und  in  ihrem  Verlaufe  durch  die  Kausalität  ge- 
regelte, in  dieser  Form  nur  Erscheinung  ist  und  nicht 
Ding  an  sich,  nur  die  Art  und  Weise  ist,  wie  die  Dinge 
uns  erscheinen,  nicht  wie  sie  ihrem  wahren  und  innern  Wesen 
nach  sind,  womit  die  Grundanschauung,  in  der  alle  Philosophie 
von  je  her  gewurzelt  hatte  (oben,  S.  5  fg.),  zum  erstenmal 
einen  vollkommen  wissenschaftlichen  und  streng  erweislichen 
Ausdruck  fand.  Das  Wesen  des  „Dinges  an  sich"  hielt  Kant 
für  theoretisch  unerkennbar,  eröffnete  aber  gleichwohl  in  dem 
zweiten,  praktischen  Teile  seiner  Philosophie  einen  gewissen 
Ausblick  auf  dasselbe,  indem  er  das  moralische  Handeln 
zurückführte  auf  das  uns  a  priori  eingeborene  Sittengesetz, 
den  „Kategorischen  Imperativ",  diesen  aber  erklärte 
für  das  Gesetz,  welches  der  Mensch  als  Ding  an  sich  dem 
Menschen  als  Erscheinung  giebt. 

Die  Resultate  der  kantischen  Philosophie  waren  zu  neu 
und  tiefgehend,  als  dafs  die  unmittelbaren  Nachfolger  Kants, 
wie  sie  in  rascher  Folge  einander  ablösten,  ihnen  schon  völlig 
hätten  gerecht  werden  können.  Zunächst  sucht  Fichte  den 
dunkeln  Punkt  der  kantischen  Lehre,  das  Ding  an  sich,  zu 
beseitigen,  indem  er  es  für  einen,  in  dem  Innern  des  Bewufst- 
seins  selbst  durch  das  Ich  gesetzten  „Anstofs"  erklärt;  von 
dieser  Grundlage  aus  kehrt  Schelling  zu  einer  dem  Spinoza 
verwandten  Anschauung  zurück,  während  Hegel .  aus  derselben 
heraus  den  Grundgedanken  der  platonisch  -  aristotelischen 
Philosophie  von  der  metaphysischen  Dignität  des  Begriffes 
durchzuführen    versucht.     Einen    andern   Weg    geht   Herbart, 


22  Einleitung. 

indem  er  das  Ding  an  sich  hinter  der  Erscheinung  durch  eine 
ebenso  nüchterne  wie  zügellose  Phantastik  zu  konstruieren 
unternimmt.  Alle  diese  Versuche  haben  das  Gemeinsame, 
dafs  sie  bemüht  sind,  von  Kant  und  den  von  ihm  aufgedeckten 
Schwierigkeiten  leichter  Hand  loszukommen,  ehe  dieselben 
noch  völlig  verstanden  und  gewürdigt  worden  waren.  Im 
Gegensatze  zu  ihnen  ist  Schopenhauer  zunächst  bestrebt,  Kant 
völlig  zu  verstehen  und  das  eigentliche  Fundament  seiner 
Lehre  von  der  Überwucherung  durch  mifsverstandene  Tra- 
ditionen zu  befreien;  dann  aber  führt  er  von  diesem  Funda- 
mente aus  Kants  Gedanken  in  der  von  diesem  selbst  ange- 
deuteten Richtung  weiter  und  zu  Ende,  der  Art,  dafs  Kant 
der  Begründer,  Schopenhauer  der  Vollender  eines  einheitlichen, 
durchaus  auf  der  Erfahrung  gegründeten,  durchaus  mit  sich 
selbst  übereinstimmenden  metaphysischen  Lehrsystemes  ist, 
welches  in  seinem  praktischen  Teile  als  ein  seiner  ganzen  Tiefe 
nach  auf  wissenschaftlicher  Grundlage  erneutes  Christentum 
erscheint  und  für  absehbare  Zeiten  die  Grundlage  alles  wissen- 
schaftlichen und  religiösen  Denkens  der  Menschheit  werden 
und  bleiben  wird. 

III.   Quellen  und  Methode. 

Alle  Beschäftigung  mit  der  Philosophie  soll  den  Zweck 
verfolgen,  uns  tiefer  einzuführen  in  die  Erkenntnis  der  Natur 
der  Dinge.  Dieser  Zweck  kann  auf  zwei  Wegen  gefördert 
werden.  Entweder  man  betrachtet  die  Dinge  selbst,  wie 
sie  in  der  äufsern  und  innern  Erfahrung  uns  gegeben  sind, 
und  sucht  ihren  Zusammenhang  inne  zu  werden,  welcher  sich 
dann,  je  ungesuchter  um  so  besser,  zum  Systeme  gestalten 
wird,  —  oder  man  betrachtet  die  Ansichten  über  die 
Dinge,  wie  sie  von  überragenden  und  tiefer  als  wir  selbst 
in  das  Wesen  der  Natur  blickenden  Geistern  ausgesprochen 
sind,  und  sucht,  von  ihnen  geleitet,  eine  Vertiefung,  durch 
ihre  Widersprüche  angeregt,  eine  Klärung  der  eigenen  An- 
schauungen zu  gewinnen.  Auch  dieser  letztere  Weg,  wenn 
richtig  benutzt,  fördert  zum  Ziele  hin.  Hierzu  aber  ist 
erforderlich,  dafs  wir  uns  nicht  damit  begnügen,  die  Gedanken 
früherer  Philosophen  kennen  zu  lernen;  wir  müssen  weiter 


III.    Quellen  und  Methode.  23 

bemüht  sein,  sollen  dieselben  nicht  wie  ein  totes  und  unbrauch- 
bares Erbstück  übernommen  werden,  sie  im  Grunde  zu  ver- 
stehen. Denn  von  ihnen,  mehr  als  von  allem  andern,  gilt 
das  Wort: 

„Was  du  ererbt  von   deinen  Vätern  hast, 
,  „Erwirb   es,  um  es  zu  besitzen!" 

Also  das  Erste  wird  freilich  sein,  dafs  wir  über  die  Gedanken 
der  Vorzeit  gesicherte  Kunde  erlangen,  das  Zweite  aber, 
dafs  wir  in  dieselben  unmittelbare  Einsicht  zu  gewinnen 
suchen.  Es  mag  von  Nutzen  sein,  uns  vorhergehend  zu  ver- 
ständigen über  die  Methode,  wie  wir  hier  zur  Kunde  und 
dann  weiter  zur  Einsicht  zu  gelangen  hoffen  dürfen. 

A.    Kunde. 

Sie  ist  zu  schöpfen  aus  den  Quellen,  welche  teils  primäre, 
teils  sekundäre  sind. 

1)  Die  primären  Quellen  sind  die  Werke  der  Philo- 
sophen selbst,  wie  sie,  aus  alter  und  neuer  Zeit  überkommen, 
einen  ansehnlichen,  und  doch  wohl  auch  den  wichtigsten  Teil 
der  allgemeinen  Weltlitteratur  bilden.  Und  hier  befinden  wir 
uns  in  einer  aufserordentlich  vorteilhaften  Lage.  Während 
andere  grofse  Persönlichkeiten  der  Vergangenheit,  während 
ein  Perikles  und  Alexander  dahin  sind  und  nur  noch  in  der 
Geschichte  ein  schattenhaftes  Dasein  führen,  so  sind  Piaton 
und  Aristoteles  noch  wirklich  da,  halten  sich  jeden  Augen- 
blick bereit,  auf  einen  Wink  von  uns  vom  Bücherbrette 
gleichsam  leibhaftig  herabzusteigen,  zu  uns  zu  reden  mit 
einer  Frische  und  Lebendigkeit,  wie  sie  gröfser  nicht  während 
ihres  Lebens  gewesen  sein  kann,  und  uns  zu  unterhalten  mit 
dem  Besten,  was  sie  gedacht  haben,  denn  nur  dieses  pflegt 
man  zur  Erinnerung  für  sich  selbst  und  andere  niederzu- 
schreiben. Es  liegt  in  diesem  Verhältnisse  ein  grofser  Reiz, 
aber  auch  eine  gewisse  Gefahr:  diese  nämlich,  dafs  man  sich 
mehr  geben  läfst,  als  man  zu  empfangen  Kraft  hat,  wodurch 
man,  statt  sich  zu  stärken,  sich  nur  schwächen  und  schädigen 
würde.  Non  multa ,  sed  multum!  Die  Durchlesung  eines 
ganzen   Buches    bringt    oft    nicht    so    viel    Gewinn,    wie    das 


24  Einleitung. 

reifliche  Nachdenken  über  einen  einzigen  Satz  desselben.  Man 
kann  ganze  Bände  des  Piaton  durchlesen,  ohne  für  das  Ver- 
ständnis seiner  Grundlehre  so  viel  zu  gewinnen  wie  aus  der 
Vertiefung  in  eine  Stelle  wie  Phaedon  c.  48;  und  viele  haben 
die  ganze  Kritik  der  reinen  Vernunft  durchstudiert,  ohne  dem 
grofsen,  einfachen  Grundgedanken  derselben,  wie  er  schon  auf 
der  ersten  Seite  zu  finden  ist:  „Erfahrung"  (d.  h.  hier: 
Wahrnehmung,  das  Aposteriorische)  „kann  keine  Notwen- 
digkeit geben",  auch  nur  einmal  voll  ins  Auge  geschaut  zu 
haben.  — 

Wir  wollen  die  Quellen,  auf  denen  die  Geschichte  der 
Philosophie  beruht,  hier  in  der  Kürze  durchmustern. 

In  Indien  ist  für  die  erste,  vedische  Periode  der  Veda 
unsere  Quelle,  wie  für  alle  andern  Kulturverhältnisse,  so  auch 
für  die  Philosophie.  Von  besonderer  Wichtigkeit  für  dieselbe 
sind  eine  Anzahl  von  Hymnen  des  Rigveda  und  Atharvaveda, 
einige  Stellen  der  Brdhmand's  und  namentlich  die  meist  den 
Schlufs  derselben  bildenden  Urpanishad''$.  —  Die  Systeme  der 
nachvedischen  Periode  sind  meist  überkommen  in  der  für 
Schulzwecke  berechneten  und  ein  reges  Leben  der  Schulen 
voraussetzenden  Form  der  Sütra's  oder  Lehrsprüche.  So 
bilden  z.  B.  das  Grundwerk  der  Vedäntalehre  die  555  Sütra's 
des  Vedänta,  d.  h.  555  kurze,  abgerissene,  meist  nur  aus  zwei 
oder  drei  Worten  bestehende  Aussprüche,  welche  dazu  in  der 
Regel  nicht  einmal  die  Schlagworte  des  Systems  enthalten, 
sondern  blofse  Stichworte  zur  Stütze  des  Gedächtnisses,  daher 
sie  auch  fast  unverständlich  sein  würden  ohne  die  zugefügten 
Kommentare,  deren  mehrere  vorhanden  sind  und  vielfach  ab- 
weichende Auffassungen  des  Systems  enthalten.  In  ähnlicher 
Form  sind  die  meisten  andern  Systeme  überliefert,  wozu  dann 
noch  andere  Werke  in  Poesie  und  Prosa,  Abschnitte  des 
Mahäbhäratam ,  philosophische  Dramen  u.  s.  w.  sich  gesellen. 
Die  Buddhisten  haben,  wie  die  Jawia's,  ihren  Kanon,  aus  dem 
die  ursprüngliche  Gestalt  ihrer  Lehre  zu  schöpfen  ist. 

In  China  stehen  im  Vordergrunde  die  fünf  heiligen 
Bücher  (hing)  und  die  vier  klassischen  Bücher  (schu)  aus 
der  Schule  des  Konfutsee,  sowie  der  Tao-te-king  des  Lao-tsee, 
worüber  Näheres  weiter  unten. 


III.    Quellen  und  Methode.  25 

In  Griechenland  sind  wir  für  die  erste,  vorsokratische 
Periode,  aus  der  kein  vollständiges  Werk  erhalten  ist,  auf 
Fragmente  angewiesen,  welche  jedoch  meist  hinreichen,  ein 
deutliches  Bild  zu  gewinnen.  Die  Schriften  des  Piaton  sind 
vollständig,  von  denen  des  Aristoteles  die  wichtigsten  auf  uns 
gekommen.  Aus  der  nacharistotelischen  Philosophie  sind  die 
älteren*  Werke  bis  auf  Fragmente  meist  verloren  gegangen. 
Von  den  erhaltenen  sind  die  wichtigsten :  die  Werke  des  Seneca, 
Epiktet  und  Marcus  Aurelius  aus  der  stoischen,  das  Lehrgedicht 
des  Lucretius  aus  der  epikureischen,  die  Schriften  des  Sextus 
Empiricus  aus  der  skeptischen  Schule.  Einen  eklektischen 
Charakter  tragen  die  philosophischen  Schriften  des  Cicero  und 
Plutarch.  Das  Hauptwerk  des  Neuplatonismus  sind  die  En- 
neaden  des  Plotin.  —  Bei  so  vielen  Verlusten  der  Grundwerke 
wird  von  besonderer  Wichtigkeit  die  Schriftstellerei  über  Phi- 
losophen und  deren  Meinungen,  welche  im  Altertum  nach 
zwei  Richtungen  geübt  wurde,  biographisch,  indem  man 
von  jedem  Philosophen  für  sich  über  Leben,  Schriften  und 
Lehren  Bericht  erstattete,  und  doxographisch,  indem  man 
die  Hauptbegriffe  der  Philosophie  nacheinander  vornahm  und 
bei  jedem  derselben  die  Ansichten  der  verschiedenen  Philo- 
sophen verzeichnete.  Nach  der  ersten  Richtung  ist  von  gröfster 
Wichtigkeit  das  Sammelwerk  des  Diogenes  Laertias,  in  der 
zweiten  Richtung  gab  es  ein  grofses  Werk  des  Theophrast, 
aus  welchem  Auszüge  teils  bei  Stobaeus  u.  a.,  teils  und  haupt- 
sächlich in  Gestalt  der  pseudoplutarchischen  Placita  philoso- 
phorum  erhalten  sind.  Eine  wertvolle  Sammlung  der  Haupt- 
stellen, auf  denen  die  Kenntnis  der  klassischen  Philosophie 
beruht,  bietet  die  „Historia  philosophiae  Graecae  et  Romanae 
ex  fontium  locis  contexta"  von  Ritter  und  Preller  (ed.  VII.,  1888, 
von  Schultefs  und  Wellmann). 

Für  Aegypten  liegt  ein  reiches  Material  vor  in  Tempel- 
inschriften, Grabinschriften  und  namentlich  in  den  Papyros- 
rollen,  wie  sie  dem  Toten  mit  ins  Grab  gegeben  zu  werden 
pflegten,  und  von  denen  eine  wichtige  Sammlung,  das  soge- 
nannte „Totenbuch",  schon  vor  dem  Neuen  Reiche  (ca.  1500 
a.  C.)  zu  stände  kam.  —  Das  heilige  Buch  der  Iranier,  der 
Avesta,    ist    nur  stückweise   erhalten,   und  seine  Mitteilungen 


26  Einleitung. 

müssen  aus  spätem  Schriften,  wie  namentlich  dem  Bundehesch, 
und  den  Mitteilungen  der  Griechen  mit  Vorsicht  und  Kritik 
ergänzt  werden.  —  Für  unsere  Kenntnis  der  jüdisch-ale- 
xandrinischen  Philosophie  sind  die  Werke  des  Philo  Judueus 
die  Hauptquelle.  —  Endlich  und  vor  allem  geben  über  den 
Entwicklungsgang  des  jüdischen  und  christlichen  Denkens  die 
Bücher  des  Alten  Testaments,  die  Apokryphen  und  da's  Neue 
Testament  einen  durch  die  assyrischen  Keilschriften,  die  Werke 
des  Josephus  und  die  genannten  Urkunden  zu  ergänzenden 
Aufschlufs. 

Für  die  Lehren  der  patristischen  und  scholastischen 
Periode  sind  die  umfangreichen  Werke  der  Kirchenväter  und 
Scholastiker  ein  schwer  zu  übersehendes  Material,  und  die 
Zusammenstellung  einer  philosophischen  Chrestomathie  aus 
ihnen  würde  eine  sehr  verdienstliche  Arbeit  sein. 

Die  Werke  der  neuern  Philosophie  liegen  vollständig 
vor  und  sind,  wenigstens  für  die  vorkantische  Periode,  nicht 
allzu  umfangreich.  Eine  nützliche  Zusammenstellung  der  Haupt- 
stellen der  neuern  vorkantischen  Philosophen  im  Originale 
bietet  Erdmann  als  Anhang  in  der  gröfsern  „Geschichte  der 
neuern  Philosophie"  (1834 — 1853).  In  der  nachkantischen 
Zeit  ist  die  philosophische  Produktion  so  sehr  in  Polygraphie 
ausgeartet,  dafs  eine  Chrestomathie  aus  den  Werken  Fichtes, 
Schellings,  Hegels,  Herbarts,  Schleiermachers  u.  a.  vielleicht 
der  beste  Dienst  wäre,  den  man  diesen  Schriftstellern  erweisen 
könnte,  während  Schopenhauer  wie  kein  anderer  Selbstzucht 
in  Denken  und  Schreiben  geübt-  hat,  daher  jede  Zeile  von 
ihm  wertvoll  und  für  das  Studium  lohnend  ist. 

2)  Die  sekundären  Quellen  für  unsere  Kenntnis  der 
philosophischen  Lehrmeinungen  sind  die  zahlreich  vorhandenen 
Geschichten  der  Philosophie,  welche  um  so  besser  sein  werden, 
je  treuer  sie  bemüht  sind,  die  wesentlichen  Gedanken  der 
Philosophen,  unter  Absonderung  des  Nebensächlichen,  in  mög- 
lichst urkundlicher  Form  zusammenzustellen.  Zwar  hat  es 
mit  ihnen  allen  sein  Bedenken.  Denn  wohl  zu  beherzigen  ist, 
was  Schopenhauer  sagt  (Parerga  1,35) :  „Statt  der  selbsteigenen 
„Werke  der  Philosophen  allerlei  Darlegungen  ihrer  Lehren, 
„oder  überhaupt  Geschichte  der  Philosophie  zu  lesen,  ist  wie 


III.    Quellen  und  Methode.  27 

„wenn  man  sich  sein  Essen  von  einem  Andern  kauen  lassen 
„wollte.  Würde  man  wohl  Weltgeschichte  lesen,  wenn  es 
„Jedem  freistände,  die  ihn  interessierenden  Begebenheiten  der 
„Vorzeit  mit  eigenen  Augen  zu  schauen?  Hinsichtlich  der 
„Geschichte  der  Philosophie  nun  aber  ist  ihm  eine  solche 
„Autopsie  ihres  Gegenstandes  wirklich  zugänglich,  nämlich  in 
„den  selbsteigenen  Schriften  der  Philosophen;  woselbst  er  dann 
„immerhin,  der  Kürze  halber,  sich  auf  wohlgewählte  Haupt- 
„kapitel  beschränken  mag;  um  so  mehr,  als  sie  alle  von 
„Wiederholungen  strotzen,  die  man  sich  ersparen  kann."  — 
Niemand  wird  sein,  der  nicht  das  Treffende  dieser  Worte 
fühlte,  niemand  aber  auch,  der  nicht  einsähe,  dafs  sie  ein 
einseitiges,  nur  cum  grano  salis  aufzunehmendes  Urteil  ent- 
halten. Hier,  wie  so  oft  bei  Schopenhauer,  scheinen  die  para- 
doxen Aussprüche  nicht  völlig  ernst  gemeint,  sondern  mehr 
darauf  berechnet  zu  sein,  die  hergebrachte  Meinung  gründlich 
zu  erschüttern,  die  ruhende  Wage  ins  Schwanken  zu  bringen, 
bis  sich  aus  der  einseitigen  Tradition  und  der  ebenso  einseitigen 
Paradoxie  im  Geiste  des  Lesers  das  richtige  und  auch  von 
dem  Philosophen  selbst  beabsichtigte  Gleichgewicht  herstellt. 
Wohin  würden  wir  z.  B.  kommen,  wenn  wir  den  obigen  Rat 
Schopenhauers  streng  befolgen  wollten?  Jemand,  der  alle 
Geschichten  der  Philosophie  von  der  Hand  wiese,  um  allein 
die  Werke  der  Philosophen  zu  studieren,  würde  (jenem  histo- 
rischen Bilde  Schopenhauers  ein  geographisches  entgegenzu- 
setzen) vergleichbar  sein  einem  Manne,  der  alle  Karten  und 
Beschreibungen  eines  Landes  wegwirft  und  beschliefst,  das- 
selbe zu  durchwandern,  um  es  aus  eigener  Anschauung  kennen 
zu  lernen.  Gewifs  wird  ein  solcher  die  Thäler  und  Berge, 
die  Flüsse  und  Seen  des  Landes  viel  gründlicher  nach  Form 
und  Bildung  kennen  lernen,  als  es  durch  die  genaueste  Karte 
möglich  ist,  aber  er  wird  spät  oder  nie  dazu  gelangen,  den 
Zusammenhang  der  Flufsthäler,  der  Gebirgszüge  zu  erfassen 
und  eine  Vorstellung  des  Ganzen  zu  gewinnen.  Nun  ist  aber 
ein  philosophisches  System  von  der  Art,  dafs  jeder  einzelne 
Gedanke  erst  durch  die  Beziehung  auf  das  Ganze  seine  volle 
Bedeutung  gewinnt,  und  dieses  Ganze  in  kurzem  Überblick 
zu  geben,   damit  wir  in  stand  gesetzt  werden,   alles  Einzelne 


28  Einleitung. 

beim  Studium  des  Philosophen  gleich  richtig  aufzufassen,  das 
ist  die  erste  und  wesentlichste  Aufgabe  einer  Geschichte  der 
Philosophie.  Aber  noch  mehr.  Der  Historiker  der  Philosophie 
will  den  Philosophen  nicht  nur  verstehen,  er  will  ihn  auch 
besser  verstehen,  als  er  sich  selbst  verstand,  welches  nach 
Kants  Ansicht  (Kritik  der  reinen  Vernunft,  1.  Aufl.,  S.  313)  „gar 
nichts  Ungewöhnliches"  ist,  da  wir  nicht  nur,  wie  ihr  Urheber, 
die  Gedanken  sehen,  sondern  auch  das,  was  aus  ihnen  erfolgt  ist, 
welche  derselben  sich  als  fruchtbar  erwiesen  haben,  und  welche 
als  ein  Irrweg  späterhin  erkannt  und  verlassen  wurden.  Na- 
türlich werden  wir  dem  Geschichtsschreiber  nicht  weiter  trauen, 
als  z.  B.  der  Minister  den  Geheimräten  traut,  die  ihm  Vor- 
trag zu  halten  haben.  Der  Minister  kann  nicht  alle  einzelnen 
Sachen  selbst  bearbeiten;  dazu  würde  weder  Zeit  noch  Kraft 
ausreichen;  er  mufs  sich  auf  die  Augen,  vielfach  auch  auf  das 
Urteil  seiner  Räte  verlassen.  Aber  er  sieht  doch  mehr  als 
die  Räte,  so  genau  sie  informiert  sein  mögen,  denn  er  sieht 
die  Sachen  in  ihrem  Zusammenhange  mit  dem  Ganzen  und 
wird,  durch  die  Menge  verwandter  Erscheinungen  in  der  Be- 
urteilung geübt,  Wert  und  Unwert  des  Einzelfalles  oft  mit 
einem  Blicke  richtiger  erfassen,  als  der,  welcher  sich  ganz  in  den- 
selben eingearbeitet  hat  und  dann  gelegentlich  vor  den  Bäumen 
den  Wald,  vor  den  Einzelheiten  das  Ganze  nicht  mehr  deut- 
lich sieht.  Selbstverständlich  behält  sich  der  Minister  vor, 
überall  und  so  oft  es  ihm  erforderlich  scheint,  bis  ins  Ein- 
zelnste herabzusteigen,  und  so  werden  auch  wir  bei  jeder, 
selbst  der  besten  Geschichte  der  Philosophie  unklare  Punkte 
finden,-  welche  ein  Zurückgehen  auf  die  Worte  des  Philosophen 
selbst  erforderlich  machen.  Aber  auch  ohne  dies  wird  jede 
Gesamtdarstellung  einer  Lehre  das  Verlangen  wecken,  sie  aus 
eigener  Anschauung  kennen  zu  lernen,  bis  schliefslich  beides, 
die  Worte  des  Philosophen  und  die  Zusammenfassung  durch 
seinen  Historiker,  zusammenwirkend  ein  möglichst  deutliches 
Bild  über  das  Allgemeine  und  das  Besondere  des  Systems  in 
uns  hervorbringen  wird. 

Wir  begnügen  uns,  unter  den  Geschichten  der  Philosophie 
nur  die  wichtigsten  zu  nennen.  Die  Philosophie  des  Orients 
entbehrt  noch  einer  genügenden  Darstellung,  da  Coleb rooke 


III.    Quellen  und  Methode.  29 

in  seinen  Abhandlungen  „On  the  phüosophy  of  the  Hindus" 
(Miscellaneous  essays  I,  p.  227  —  419;  2.  Aufl.  mit  Zusätzen 
von  Cowell,  p.  239 — 460)  eigentlich  nur  das  Aufserlichste  ge- 
than  hat,  und  einer  Durcharbeitung  des  Materials,  wie  sie 
für  die  griechische  Philosophie  Brandis  und  Zeller,  für  die 
neuere  Erdmann  und  Fischer  geliefert  haben,  hier  grofse 
Schwierigkeiten  im  Wege  stehen.  Für  die  griechische  Phi- 
losophie ist  das  nicht  leicht  zu  übertreffende  Hauptwerk 
Zellers  Philosophie  der  Griechen,  5  Bände,  (1.  Aufl.,  1844 — 52; 
3.  Aufl.,  1869—82;  1.  u.  2.  Tl.,  4. Aufl.,  1876 fg.);  die  neuere  Phi- 
losophie ist  in  ausführlicher  Darstellung  von  J.  E.  Er d mann 
und  von  K.  Fischer  behandelt  worden.  Jede  der  beiden 
Arbeiten  hat  ihre  Verdienste,  und  auch  die  ältere,  Erdmamrsche 
Darstellung  behält  neben  der  neuern  ihren  Wert,  sofern  sie 
eine  treue  und  dabei  kürzere  Reproduktion  der  Hauptgedanken 
jedes  Philosophen  bietet.  Von  den  zahlreichen  Gesamtdar- 
stellungen erwähnen  wir  nur  das  Kompendium  von  Überweg, 
in  den  neuen  Auflagen  besorgt  von  Heinze,  welches  schon 
wegen  der  nahezu  vollständigen  Litteraturangaben  jedem  For- 
scher unentbehrlich  ist  (7.  Aufl.,  1886 — 88). 

B.    Einsicht. 

Nachdem  wir  die  unmittelbaren  und  mittelbaren  Quellen 
besprochen  haben,  durch  welche  wir  Kunde  von  den  Gedanken 
der  Philosophen  gewinnen  können,  wird  die  weitere  Frage 
sein,  was  geschehen  kann,  um  diese  Gedanken  nicht  blofs 
kennen  zu  lernen,  sondern  von  Grund  aus  zu  verstehen. 

Vere  scire  est  per  causas  scire.  Eine  Einsicht  gewinnen 
wir  in  eine  Sache  dann,  wenn  es  uns  gelingt,  nicht  nur  sie 
selbst,  sondern  auch  die  Ursachen  zu  erkennen,  aus  denen  sie 
erwachsen  ist.  Für  die  Gedanken  eines  Philosophen  aber 
kommen  als  Ursachen  drei  Momente  in  Betracht. 

1)  Wie  die  Blüte  vom  Stengel,  so  werden  die  Gedanken 
jedes  Philosophen  getragen  von  seiner  Individualität  und 
erhalten  durch  dieselbe  eine  gewisse  Färbung,  welche  bei  der 
Abschätzung  ihres  allgemein,  auch  für  alle  andern  Individuen, 
gültigen  Wertes  sehr  in  Betracht  zu  ziehen  ist.  Es  geschieht 
daher   mit   Recht,    dafs    man    der   Darstelmng    der    Gedanken 


30  Einleitung. 

eines  Philosophen  einen  kurzen  Blick  auf  seine  Lebensver- 
hältnisse vorausgehen  läfst.  Auf  diese  Individualität  aber 
wirken  zwei  Momente  ein,  welche  wir  als  das  traditionelle 
und  das  originelle  Element  wohl  auseinander  zu  halten  haben. 

2)  Das  traditionelle  Element  besteht  in  allem  dem, 
wodurch  ein  Philosoph  von  den  Traditionen  und  Meinungen 
seiner  Zeit,  insbesondere  von  seinen  Vorgängern,  beeinflulst 
worden  ist.  Es  ist  vorgekommen,  dafs  ein  Philosoph  die 
Gedanken  seiner  Vorgänger  richtig  aufgefafst  und  weiter  fort- 
gebildet hat.  Als  Hegel  aber  findet  sich,  dafs  er  ihnen  nicht 
vollständig  gerecht  wird;  denn  je  selbständiger  ein  Genius  ist, 
um  so  schwerer  wird  es  ihm,  sich  ganz  in  den  Standpunkt 
eines  andern  zu  versetzen,  als  wozu  eine  gewisse  Passivität 
gehört.  Daher  ist  der  durch  Tradition  bedingte  Teil  eines 
Systems  in  der  Regel  die  wertlosere  Seite,  gleichsam  die  Schale 
desselben. 

3)  Das  originelle  Element  befafst  dasjenige,  was  ein 
Philosoph  unmittelbar  aus  der  Betrachtung  der  äufsern  und 
innern  Natur  geschöpft  hat.  Da  diese  in  allen  Zeiten  und 
Ländern  eine  und  mit  sich  einstimmig  ist,  so  werden  auch 
die  Gedanken  über  sie  sich  nicht  eigentlich  und  im  Grunde 
widersprechen  können,  während  nach  der  traditionellen  Seite 
hin  alle  Philosophen  von  Widersprüchen  gegen  einander  voll 
sind.  Es  wird  sich  zeigen,  wie  viel  wir  z.  B.  bei  Piaton,  bei 
Jesus,  bei  Kant  gewinnen,  wenn  wir  die  Tradition  als  Schale 
abzulösen  wissen,  um  das  originelle  Element  als  Kern  übrig 
zu  behalten.  Dieses  ist  dann  weiter  mit  der  Natur  der  Dinge, 
aus  der  es  stammt ,  zu  konfrontieren ;  d.  h.  wir  werden  die 
Gesichtspunkte  aufzusuchen  haben,  von  denen  aus  ein  Philo- 
soph die  Natur  betrachtete,  um  gerade  zu  seinen  besonderen 
Gedanken  zu  gelangen.  Diese  Gesichtspunkte  sind  mannig- 
fach, aber  die  Natur,  auf  welche  sie  sich  beziehen,  ist  eine; 
und  so  kann  es  nicht  fehlen,  dafs  alle  originellen  Gedanken 
aller  Philosophen,  von  der  traditionellen  Hülle  befreit,  eine 
wundersame  Einstimmigkeit  zeigen,  welche  eine  nicht  geringe 
Gewähr  für  die  Wahrheit  ihrer  Lehren  ist. 

Schon  aus  dem  Gesagten  erhellt,  dafs  wir  weit  davon 
entfernt  sind,    die   Ansicht   derjenigen   zu   teilen,    welche    der 


III.    Quellen  und  Methode.  31 

Geschichte  der  Philosophie  vor  Kant  oder  auch  vor  Spinoza 
nur  noch  ein  sogenanntes  „historisches  Interesse"  zugestehen. 
Diese  Ansicht,  welche  viel  dazu  beigetragen  hat,  zu  verhindern, 
dafs  man  aus  der  Geschichte  der  Philosophie  den  Gewinn 
zog,  der  in  ihr  liegt,  beruht  auf  einer  Verwechselung  der 
empirischen  Forschungsweise  mit  der  philosophischen.  In  den 
empirischen  Wissenschaften,  welche  es  mit  der  Ermittelung 
von  Thatsachen  und  ihres  kausalen  Zusammenhanges  zu  thun 
haben,  kann  die  Arbeit  des  Vorgängers  vom  Nachfolgenden 
so  sehr  aufgesogen  und  assimiliert  werden,  dafs  durch  die 
letzte  Form  einer  Wissenschaft  alle  vorhergehenden  antiquiert 
werden  und  nur  noch  als  Denkmäler  überwundener  Stand- 
punkte dastehen.  Ganz  anders  in  der  Philosophie.  Denn 
diese  ist  nicht  wie  eine  Pyramide,  welche  allmählich  durch 
die  im  Laufe  der  Jahrhunderte  zusammengetragenen  und  auf- 
geschichteten Bausteine  zu  stände  gebracht  worden  ist  oder 
erst  noch  werden  soll  (rusticus  exspectat  dum  defiuat  amnis),  — 
vielmehr  gleicht  die  philosophische  Wahrheit  einer  Pyramide, 
welche  so  alt  ist  wie  die  Welt  selbst,  und  die  man  schon  von 
Anfang  an  voll  und  ganz,  wenn  auch  erst  aus  der  Ferne,  in 
undeutlichen  Umrissen  und  wie  durch  einen  Nebel  gewahrte, 
der  man  dann  immer  näher  kam,  die  man  im  Verlaufe  von 
den  verschiedensten  Seiten  und  immer  deutlicher  erblickte, 
bis  wir  schliefslich  an  sie  heran,  ja  wohl  gar  auf  dieselbe 
hinauf  gelangt  sind,  ohne  dafs  darum  die  Auffassungen  der- 
selben und  ihrer  Teile  durch  Frühere  ihren  Wert  verloren 
hätten.  Wohl  ist  die  genauere  Erkenntnis  der  Natur  und 
ihrer  Einzelheiten  durch  die  Naturwissenschaften  erst  eine 
Errungenschaft  der  neuern  Zeit,  aber  neun  Zehntel  der  Natur, 
alle  ihre  grofsen  Grimdverhältnisse,  der  Raum  und  die  Zeit, 
die  Materie,  die  Naturkräfte,  das  menschliche  Leben  und  die 
Abgründe  unseres  eigenen  Innern  lagen  von  je  her  offen  da, 
ja  sie  wurden  von  den  alten  Philosophen,  „die  den  Göttern 
noch  näher  wohnten"  (Plat.  Phileb.  p.  16  c),  d.  h.  deren  Blick 
noch  nicht  durch  einen  Wust  von  Traditionen  getrübt  war, 
oft  reiner  und  deutlicher  erfafst  als  von  den  späteren.  Wir 
werden  daher  vor  allem  unser  Interesse  der  ersten  Genesis 
der    Ideen    in    der    indischen,    griechischen    und    christlichen 


32  Einleitung. 

Philosophie  bis  zu  ihren  Höhepunkten  in  den  Upanishad's, 
in  Piaton,  im  Neuen  Testamente,  und  wiederum  der  neuen 
Grundlegung  durch  die  kantische  Philosophie  zuwenden,  wo- 
hingegen wir  uns  über  andere  Zeiträume  in  dem  Mafse  kurz 
fassen  können,  in  welchem  in  ihnen  das  Operieren  mit  ererbten 
Traditionen  überwiegt  über  das  Schöpfen  ursprünglicher  Er- 
kenntnisse aus  der  Natur  selbst.  Denn  nur  in  diesen  und 
ihrer  Nachprüfung  an  der  Natur  der  Dinge  liegt  der  eigent- 
lich fruchtbare  und  fördernde  Teil  unserer  Aufgabe,  und  nur 
dann  dürfen  wir  in  der  That  hoffen,  Philosophie  auch  aus 
der  Geschichte  der  Philosophie  zu  lernen,  wenn  wir  es 
uns  zum  Grundsatze  machen,  alle  Gedanken  bis  zu  dem 
Quellpunkte  zu  verfolgen,  an  dem  sie  aus  der  auch  uns  vor- 
liegenden Natur  der  Dinge  entsprungen  sind;  —  und  so  wollen 
wir  zum  Werke  schreiten,  indem  wir  im  übrigen  uns  vorher 
noch  stärken  durch  einen  Weidspruch  aus  dem  Aristoteles 
(de  coelo  1,10,  p.  279  b  11):  xai  yap  5ei  hiauxr^ac,  aXX'  cüx 
dvTt,5ixoi>£  slvat  xobc,  (JLsXXovTa?  xdLkrftkc,  xpiveiv  [xavö£.  Nicht 
Partei  sondern  Kampfrichter  sollen  wir  sein;  aber  ein 
wahrer  Kampfrichter  ist  nur  der,  welcher  selber  gekämpft  hat. 


DER  ALLGEMEINEN  GESCHICHTE  DER  PHILOSOPHIE 
ERSTER  TEIL: 

DIE  PHILOSOPHIE  DER  INDER 


Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.    I. 


Einleitung  zur  Philosophie  der  Inder. 


I.   Vorbemerkung  über  den  Wert  der  indischen  Philosophie. 

„Gesetzt,  es  gäbe  —  was  ja  wohl  möglich  ist  —  auf 
einem  der  andern  Planeten  unseres  Sonnensystems,  vielleicht 
auf  dem  Mars  oder  der  Venus,  Menschen  oder  menschen- 
artige Wesen,  die  es,  wie  wir,  zu  einer  Kultur  und,  als 
höchster  Blüte  derselben,  zu  einer  Philosophie  gebracht  hätten, 
und  es  würde  uns  die  Möglichkeit  gegeben  (etwa,  indem  es 
gelänge,  von  dort  ein  Projektil  bis  in  den  Bereich  der  über- 
wiegenden Erdanziehung  zu  schleudern),  von  dieser  Philosophie 
Kenntnis  zu  nehmen,  so  würden  wir  ohne  Zweifel  den  Er- 
zeugnissen derselben  ein  grofses  Interesse  zuwenden.  Mit 
Aufmerksamkeit  würden  wir  sowohl  Übereinstimmung  als 
Verschiedenheit  jener  translunaren  Weltanschauung  mit  der 
unsrigen  prüfen.  Jede  Abweichung  in  den  Ergebnissen  würde 
zu  einer  Untersuchung  darüber  anregen,  auf  wessen  Seite  die 
Wahrheit  sei,  jede  Zusammenstimmung  würde  uns  daran  er- 
innern, dafs  es  eine  Gewähr  für  die  Richtigkeit  der  Rechnung 
zu  sein  pflegt,  wenn  zwei  Rechner  unabhängig  von  einander 
zu  demselben  Facit  gelangen,  —  wiewohl  auch  hierbei  der 
kantische  Gedanke  von  den  natürlichen  und  unvermeidlichen 
«Sophistikationen,  nicht  der  Menschen,  sondern  der  reinen 
Vernunft  selbst»   in  Erwä<mno'  zu  ziehen  sein  würde." 

„Nicht  ganz,  aber  doch  annähernd  werden  die  Hoffnungen, 
die  wir    an   eine   solche  «vom  Himmel   gefallene»   Philosophie 

3* 


36  Einleitung  zur  Philosophie  der  Inder. 

knüpfen  würden,  erfüllt  durch  dasjenige,  was  die  Philosophie 
der  Inder  uns  thatsächlich   bietet.     Denn  während  alles,   was 
an  philosophischen  Gedanken  diesseits  des  Hindukusch  hervor- 
gebracht worden  ist,  von  Mose  und  Zoroaster,  von  Pythagoras 
und    Xenophanes    an    durch    Piatonismus,    Christentum    und 
Kantianismus  hindurch  bis  auf  die  Gegenwart  herab  in  einem 
einzigen   grofsen  Zusammenhange  steht,   durch  welchen  unser 
Denken  mehr,  als  wir  es  oft  ahnen,  abhängig  ist  von  uralten 
Traditionen,  Einseitigkeiten  der  Auffassung  und  Irrtümern,  — 
so  haben  die  Inder,  indem  sie  von  ihren  Bruderstämmen  schon 
in  vorhistorischer  Zeit  abgetrennt  wurden,  gegen  die  ursprüng- 
lichen Bewohner  aber  des  Industhaies  und  der  Gangesebene 
sich   selbst  auf  das   strengste  absonderten,   bis  zu  den  Zeiten 
der  vollen  Ausgestaltung  ihrer  Weltanschauung  —  so  weit  bis 
jetzt    zu    erkennen  —  keinen  Einflufs   auf   ihr   Glauben    und 
Denken    irgendwoher    empfangen,    und    als    die    Stürme    der 
griechischen,   skythischen  und  mohammedanischen  Invasionen 
über  Indien  hereinbrachen,   trafen  sie,   allem  Anscheine  nach, 
die    indische    Gedankenwelt    schon    in    einer   Erstarrung    und 
schulmäfsigen  Geschlossenheit  an,  in  welcher  sie  dieselbe  nicht 
mehr  erheblich  zu   inquinieren  vermochten,  während  vielmehr 
umgekehrt  die  fremden  Eroberer  zu  dem  geknechteten  Indien 
vielfach    in    eine    fast    ebenso    grofse    geistige    Abhängigkeit 
traten,    wie   das  Römerreich  zu  dem  eroberten  Griechenland." 
An  diesen  Worten   aus   der  Einleitung  zu  unserer  Über- 
setzung  der  Sütra's   des  Vedänta  (1887)   mag   es   genug   sein, 
um  den  Wert  der  indischen  Philosophie  für  uns  zu  charakte- 
risieren.     Man    würde    vielleicht    für    naiv    gehalten    werden, 
wollte  man  unserm,  in  allen  Stücken  „so  herrlich  weit"  fort- 
geschrittenen  Zeitalter   zumuten,   von   den   alten   Indern   noch 
etwas   zu   lernen;   aber   einen  Nutzen  wird   das   allgemeinere 
Bekanntwerden    der    indischen  Weltanschauung    doch    haben: 
diesen  nämlich,  uns  zum  Bewufstsein  zu  bringen,  dafs  wir  mit 
unserm    gesamten    religiösen   und   philosophischen   Denken   in 
einer  kolossalen  Einseitigkeit  stecken,   und   dafs  es  noch  eine 
ganz  andere  Art,  die  Dinge  anzufassen,  geben  kann,  als  die, 
welche  Hegel    als   die    allein    mögliche   und   vernünftige  kon- 
struiert hat. 


II.    Land  und  Leute.  37 

II.   Land  und  Leute. 

Indien  hat  (wie  schon  Sir  William  Jones  bemerkt)  im 
allgemeinen  die  Gestalt  eines  unregelmäfsigen  Vierecks,  dessen 
vier  Winkel  den  vier  Himmelsgegenden  zugekehrt  sind  und 
im  Norden  durch  den  Gebirgsstock  des  Hindukusch,  im 
Westen  und  Osten  durch  die  Mündungen  des  Indus  und 
Ganges,  im  Süden  durch  das  Kap  Komorin  und  die  Insel 
Ceylon  gebildet  werden.  Eine  Diagonale,  von  der  westlichen 
nach  der  östlichen  Spitze  gezogen,  fallt  nahezu  zusammen  mit 
dem  Wendekreise  des  Krebses,  d.  h.  mit  der  nördlichen  Breite, 
bis  zu  welcher  die  Sonne  im  Sommer  senkrecht  zu  stehen 
kommt.  Indien  ist  also  seinem  nördlichen  Teile  nach  ein 
subtrojDisches,  dem  gröfsern  Teile  nach  ein  tropisches  Land. 
Es  bietet  den  einzigen  Fall,  wo  eine  ursprüngliche  Kultur  im 
hohen  Sinne  des  Wortes  unter  den  Tropen  sich  entwickelt 
hat,  und  die  Poesie  der  Inder  spiegelt  in  allen  Gattungen,  in 
Epos,  Lyrik  und  Drama,  den  eigentümlichen  Zauber  der 
Tropenwelt  wider.  Jene  von  der  Mündung  des  Indus  zu  der 
des  Ganges  laufende  Diagonale  teilt  das  Viereck  Indiens  in 
zwei  Dreiecke,  in  das  nördliche,  tiefliegende  und  fast  voll- 
kommen ebene  Hindustan  und  in  das  südliche  Dekhan,  ein 
Hochplateau,  welches  nach  Norden  durch  das  Vindhyagebirge, 
nach  den  übrigen  Seiten  durch  das  im  Südwesten  steil  ab- 
fallende, im  Südosten  sanft  sich  abdachende  Treppengebirge 
der  Ghatta's  abgeschlossen  wird  und  der  brahmanischen  Kultur 
erst  zugänglicher  wurde,  nachdem  dieselbe  in  Hindustan  ihr 
Grundgepräge  empfangen  hatte.  Aber  auch  Hindustan,  das 
nördliche  Dreieck,  zerfällt  in  zwei  von  der  Natur  wohlge- 
schiedene Teile;  fällt  man  nämlich  vom  Hindukusch  als  der 
Nordspitze  ein  Lot  auf  die  Grundlinie  des  Dreiecks,  so  läuft 
dasselbe  durch  die  ca.  300  Kilometer  breite  Wüste  Marusthala, 
welche  das  Indusland  im  Westen  von  der  Gangesebene  im 
Osten  abscheidet  und  nur  im  Norden,  an  den  Abhängen  des 
Himälaya,  einen  bequemern  Durchgang  gestattet.  So  zerfällt 
Indien  von  Natur  in  drei  Teile:  1)  das  Stromgebiet  des  Indus 
und  seiner  Zuflüsse,  2)  die  Gangesebene  zwischen  Himälaya 
und  Vindhya,  und  3)  das  Plateau  des  Dekhan,  welche,  wie  zu 


38  Einleitung  zur  Philosophie  der  Inder. 

zeigen  sein  wird,  den  drei  Entwicklungsperioden  der  indischen 
Kultur  entsprechen.  Nach  aufsen  wird  Indien  abgeschlossen 
im  Nordwesten  durch  das  indisch -persische  Grenzgebirge,  im 
Nordosten  durch  den  Himälaya,  welcher  die  höchsten  Gipfel 
der  Erde  trägt,  im  Südwesten  durch  das  persische  und  im 
Südosten  durch  das  indische  Meer;  es  ist  also,  wie  mit  Recht 
bemerkt  worden  ist,  „eine  eigene  Welt"  (Lassen,  Ind.  Alter- 
tumskunde, I2,  S.  100),  und  wenn  seine  Abgeschlossenheit  auch 
nicht  so  grofs  war,  um  die  Handelsverbindungen  mit  den 
benachbarten  Völkern,  wie  sie  von  je  her  bestanden  haben, 
erheblich  zu  erschweren,  so  genügte  sie  doch,  um  Indien, 
wenigstens  für  die  Zeit  seiner  Entwicklung,  vor  der  Invasion 
und  Eroberung  durch  fremde  Heere,  vor  der  Überflutung  und 
Ertränkung  seiner  Kultur  durch  ausländische  Einflüsse  zu 
schützen.  Nach  innen  aber,  gegen  die  Einwirkungen  der 
eingebornen,  in  jedem  Sinne  tief  unter  den  eingewanderten 
Indogermanen  stehenden  Urbevölkerung  haben  diese  sich  durch 
Mittel,  die  später  zu  besprechen  sein  werden,  im  wesentlichen 
zu  wahren  gewufst,  und  ein  merklicher  Einflufs  von  Seiten 
der  Aboriginer,  wie  er  öfter  behauptet  worden  ist,  scheint 
in  keiner  erheblichen  Hinsicht  stattgefunden  zu  haben. 

Die  in  Indien  einwandernden  Indogermanen,  oder,  wie 
sie  sich  selbst  nennen,  die  Arya's,  d.  h.  „die  zu  den  (der 
Stammesreligion)  Treuen  Gehörigen",  waren  schon  vor  der 
Trennung  von  ihren  europäischen  Brüdern,  wie  die  Ver- 
gleichung  der  Sprachen  beweist,  über  die  ersten  Anfänge  der 
Kultur  hinaus.  Die  Gemeinsamkeit  der  Worte  legt  Zeugnis 
ab  sowohl  für  ein  wohlgeordnetes  Familien wesen  als  auch  für 
die  schon  vorhandenen  Anfänge  einer  staatlichen  Ordnung. 
Gemeinsam  sind  auch  die  Namen  fast  aller  Haustiere,  aber 
nur  einer  Kornfrucht  (yava,  £sa),  was  auf  eine  sehr  entwickelte 
Viehzucht  und  einen  in  den  ersten  Anfängen  stehenden  Acker- 
bau schliefsen  läfst.  Die  notwendigsten  Handwerke  zur  Ver- 
fertigung von  Wohnung,  Kleidung  und  Fahrzeugen  (wie 
Wagen  und  Schiffen)  waren  in  Übung;  auch  der  Begriff  der 
befestigten  Ansiedlung  (pur,  izq\iq)  scheint  in  die  Urzeit 
zu  gehören.  Namentlich  aber  zeigt  die  Sprachvergleichung, 
dafs    die    Götterverehruno;    schon   weit    über    den    überall    als 


II.    Land  und  Leute.  39 

ursprünglich  vorauszusetzenden  Dämonenkultus  vorgeschritten 
war.  Das  allen  indogermanischen  Sprachen  gemeinsame  Wort 
für  Gott  (deva,  da&va,  j~s6^  [?],  dens,  tivar,  diewas,  dia)  be- 
weist, dafs  schon  von  dem  Urvolke  die  Götter  als  „die  lichten, 
die  himmlischen"  verehrt  wurden,  und  die  mit  Recht  so  be- 
nannte grofse  historische  Gleichung:  Dyaus  pitar  =  Zzhc 
7C(XTi]p  =  Jupiter  legt  Zeugnis  dafür  ab,  dafs  die  Grundan- 
schauung über  das  Verhältnis  des  Menschen  zu  Gott  nicht, 
wie  bei  den  Semiten,  die  einer  Knechtschaft,  sondern  einer 
Kindschaft  war.  Erst  spät,  und  vielleicht  unter  indoger- 
manischem Einflüsse,  gelangten  die  Semiten  dazu,  Gott  als 
den  Vater  aufzufassen,  erst  spät  auch  entwickelte  sich  bei 
ihnen  der  Gedanke  der  Unsterblichkeit,  während  er  den 
Indern  wie  den  Iraniern  von  Anfang  eigen  und  wahrscheinlich 
schon  vor  der  Trennung  von  einander  gemeinsam  war,  ja 
vielleicht  bis  in  die  indogermanische  Urzeit  zurückreicht. 
Wir  werden  in  einem  spätem  Teile  unserer  Betrachtung  diese 
verschiedenen  Auffassungen  über  Gott  und  Seele  daraus  abzu- 
leiten versuchen,  dafs  der  Semit  sich  nur  schwer  und  erst 
spät  von  dem  natürlichen,  angebornen  Realismus  loszumachen 
weifs,  während  der  Indogermane  von  Anfang  an  eine  Neigung 
zum  Idealismus  bekundet,  in  welchem,  wie  sich  noch  genauer 
ergeben  wird,  alle  Philosophie  wurzelt. 

Wann  die  Einwanderung  der  Arier  in  Indien  stattge- 
funden hat,  läfst  sich  nicht  bestimmen;  sie  mag  wohl  3000 
oder  4000  Jahre,  wenn  nicht  mehr,  vor  unserer  Zeitrechnung 
zurückliegen  und  erfolgte  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  von 
Westen  her  durch  das  Thal  des  Kabulflusses.  Von  hier  voll- 
zog sich  die  Besetzung  Indiens  durch  die  Arier  in  drei  zeitlich 
aufeinanderfolgenden  Perioden,  welche  den  drei  oben  be- 
sprochenen Teilen  Indiens  (Industhal,  Gangesebene,  Dekhan) 
entsprechen,  indem  die  Entwicklung  der  arischen  Kultur 
1)  ursprünglich  auf  das  Pendschäb  des  Indus  beschränkt  war, 
sodann  2)  das  Thal  des  Ganges  bis  zu  dessen  Mündung  in 
langsamem  Vorrücken  eroberte,  und  endlich  3)  in  allmählichem 
Fortschritte  das  südliche  Plateau  umspann  und  civilisierend 
in  dasselbe  eindrang.  Ein  deutliches  historisches  Bewufstsein 
dieses  Fortschreitens  ist  nicht  vorhanden,  doch  nimmt  man  nicht 


40  Einleitimg  zur  Philosophie  der  luder. 

mit  Unrecht  an,  dafs  von  den  beiden  grofsen  Nationalepen 
das  Mahäbhäratam  eine  Rückerinnerung  an  die  Schiebungen 
und  Kämpfe  der  Arier  untereinander  infolge  der  Eroberung 
des  Gangesthaies,  das  Rämäyanam  eine  symbolische  Indivi- 
dualisierung der  nach  Süden  durch  das  Dekhan  und  bis  nach 
Ceylon  hin  vordringenden  brahmanischen  Kultur  ist.  Jeden- 
falls aber  handelt  es  sich  dabei  nicht  um  einmalige  Ereignisse, 
sondern  um  jahrhundertelange  Prozesse;  Data  lassen  sich  hier, 
wie  zumeist  in  Indien,  nicht  angeben,  und  es  geschieht  nur, 
um  dem  Vorstellungsvermögen  einigen  Anhalt  zu  geben,  wenn 
wir  ganz  ungefähr  und  als  mögliche  Grenzpunkte  der  genannten 
drei  Perioden  die  Jahre  1000  und  500  a.  C.  hinstellen.  In  der 
indischen  Litteratur  mögen  die  drei  Perioden  der  Hymnen- 
zeit, der  Brähmanazeit  und  der  Sanskritzeit  diesen  drei  Ent- 
wicklungsperioden im  ganzen  und  grofsen  parallel  laufen  und 
entsprechen. 

III.   Perioden  der  indischen  Philosophie. 

Eine  eigentliche  Geschichtsschreibung  wie  in  Griechenland 
und  Rom  giebt  es  in  Indien  nicht,  und  die  Historiker  ge- 
wöhnlichen Schlages  (wie  sie  denn  auch  einem  Piaton  nicht 
verzeihen  können,  dafs  er  kein  Demosthenes  wurde)  zucken 
mitleidig  die  Achsel  darüber,  dafs  ein  so  hochbegabtes  Volk 
es  nicht  bis  zu  einem  dauerhaften  Staatsorganismus,  nicht  zu 
einer  öffentlichen  Beredsamkeit,  ja  nicht  einmal  bis  zu  einer 
Aufzeichnung  seiner  Geschichte  gebracht  habe.  Sie  sollten 
lieber  zu  begreifen  suchen,  dafs  die  Inder  zu  hoch  standen, 
um,  nach  der  Weise  der  Aegypter  u.  a.,  an  Königslisten  sich 
zu  ergötzen,  d.  h.,  in  der  Sprache  des  Piaton  ausgedrückt, 
Schatten  zu  zählen;  dafs  der  indische  Genius  (äufserlich  be- 
trachtet sehr  zu  seinem  Schaden)  es  verschmähte,  die  zeitlichen 
Dinge  und  ihre  Ordnung  sehr  ernst  zu  nehmen,  weil  er  mit 
der  ganzen  Energie  seiner  durch  die  Milde  des  Klimas  von 
gemeiner  Sorge  entbundenen  Kräfte  das  Ewige  suchte  und 
dieses  in  einer  überreichen  poetischen  und  religiös-philo- 
sophischen Litteratur  zum  Ausdrucke  gebracht  hat.  Fehlt  es 
dieser  Litteratur  auch  an  äufsern  chronologischen  Daten,  so 
ist  doch  eine  gewisse  innere  Chronologie  vorhanden,  vermöge 


III.    Perioden  der  indischen  Philosophie.  41 

deren  es  mit  der  Zeit  gelingen  wird,  allem  Einzelnen  seine 
richtige  Stelle  in  der  Entwicklung  des  Ganzen  anzuweisen. 
Denn  wir  haben  in  Indien  nicht  wie  in  Griechenland  eine 
durch  das  Mittelalter  unterbrochene,  sondern  eine  von  den 
ältesten  Zeiten  bis  auf  die  Gegenwart  kontinuierliche  Über- 
lieferung, und  so  etwas  wie  die  Fragmente  der  griechischen 
Litteratur  giebt  es  in  Indien  nicht.  Dafür  aber  sind  hier  oft 
nicht  mehr  die  ursprünglichen  Geistesschöpfungen,  sondern 
nur  die  verkürzte  Zusammenfassung  derselben  zum  Gebrauche 
der  Schulen  vorhanden,  und  die  geistige  Arbeit  vieler  Gene- 
rationen, deren  es  bedurfte,  um  zu  den  Sütra's  des  Pdnini 
oder  zur  SäfMujakarikä  zu  gelangen,  läfst  sich  nur  aus  diesen 
mutmafsend  abschätzen.  Zum  Glücke  werden  von  diesem 
Schicksale,  durch  die  Nachfolger  verdrängt  zu  werden,  am 
meisten  nur  die  Schulwissenschaften,  am  wenigsten  die  reli- 
giösen, durch  kanonisches  Ansehen  geschützten  Werke  betroffen, 
sodafs  wir  im  ganzen  und  o-rofsen  in  Indien  eine  ununter- 
brochene  Entwicklung  vor  uns  haben,  welche  von  den  ältesten 
Hymnen  des  Rigveda  bis  auf  die  modernsten  Erzeugnisse  der 
Sanskritlitteratur,  d.  h.  etwa  von  1900  a.  C.  bis  1900  p.  C. 
reicht,  wenn  auch  diese  Produktion  keineswegs  eine  stetige 
gewesen  ist  und  neben  Zeiten  der  Flut  auch  lange  Perioden 
der  Ebbe  aufzuweisen  hat.  Namentlich  fallen  beim  Über- 
blicken des  Ganzen  zwei  Einschnitte  ins  Auge,  welche  sich 
durch  eine  so  grofse,  nachfolgende  Veränderung  der  Sprache, 
der  Denkungsweise  und  der  Interessen  kennzeichnen,  clafs 
wir  in  ihnen  Stagnationen  der  litterarischen  Produktion  viel- 
leicht für  Jahrhunderte  zu  erkennen  und  nach  den  Gründen 
derselben  zu  fragen  alle  Ursache  haben.  Der  erste  Einschnitt 
liegt  zwischen  den  Hymnen  und  Brähmana's,  der  zwreite 
zwischen  den  Brähmana's  und  Sütra's,  mit  denen  die  Sans- 
kritlitteratur im  engern  Sinne  anhebt. 

Zunächst  ist  allbekannt  und  viel  bemerkt  die  Lücke 
zwischen  den  Hymnen  des  Rigveda  und  der  Abfassung  der 
ältesten  Brähmana's,  eine  Lücke,  welche  durch  die,  teilweise 
wenigstens  dieser  Zwischenzeit  zuzuweisenden,  Hymnen  des 
Atharvaveda  notdürftig  überbrückt  wird.  Schon  die  Ver- 
schiedenheit der  Sprache,   mehr  aber  noch  das  abergläubische 


42  Einleitung  zur  Philosophie  der  Inder. 

Ansehen,  welches  die  Hymnen  in  den  Brähmana's  geniefsen, 
weist  darauf  hin,  dafs  zwischen  beiden  eine  Zeit  der  Ver- 
dunkelung liegt,  die  mehrere  Jahrhunderte  gedauert  haben 
mag;  und  nehmen  wir  hinzu,  dafs  der  Horizont,  der  in  den 
Hymnen  fast  durchaus  auf  das  Flufsthal  des  Indus  beschränkt 
ist,  in  den  Brähmana''s  sich  über  die  Ebene  des  Ganges  und 
die  umliegenden  Länder  erweitert  hat,  so  kann  es  keinem 
Zweifel  unterliegen,  dafs  zwischen  beiden  die  Einwanderung 
in  das  Gangesthal  liegen  mufs  nebst  der  Einrichtung  in  den 
neuen  Verhältnissen  und  Wohnsitzen,  und  dafs  der  indische 
Geist,  als  er  sich  endlich  auf  seine  Vergangenheit  besann, 
dieser  so  entfremdet  worden  war,  dafs  er  in  den  Brähmana's 
einen  neuen  Anfang  machen  mufste. 

Ein  zweiter,  nicht  weniger  merklicher  Einschnitt  liegt 
zwischen  den  Brähmana's  und  der  Sanskritzeit,  die  mit  den 
veclischen  Sütra's  beginnt,  welche  zwar  noch  zum  Veda  ge- 
rechnet werden,  nicht  aber,  wie  die  Mantra's  (Hymnen  und 
Sprüche)  und  Brähmana's,  für  inspiriert  gelten  und  der 
Sprache  nach  von  ihren  unmittelbaren  Vorgängern,  den  Bräh- 
manä's,  vielleicht  weiter  abstehen  als  von  allen  Produkten  der 
Sanskritperiode  durch  das  folgende  Jahrtausend  und  weiter 
hin.*  Auch  hier  ist  ein  jäher  Abbruch;  die  Produktion  der 
Brähmanazeit  geriet  in  den  Upanishad's  mitten  in  der  schönsten 
Blüte  ins  Stocken,  als  erst  wenige  Schulen  für  ihr  theoso- 
phisches  Denken  und  Empfinden  einen  mehr  als  rudimentären 
Ausdruck  gefunden  hatten.  Die  Sütra's  aber  fangen  neu  an: 
die  Brähmana's  in  aller  ihrer  Prolixität  erscheinen  als  inspiriert 
und  unantastbar,  man  sucht  sich  diesem  massenhaften  Stoffe 
gegenüber   durch   indexartige   Zusammenstellung   des  AVesent- 


*  „Diese  Schriften  werden,  als  Sütram  des  Baudhäyana,  Sütram 
des  Apastctmba,  nach  dem  Namen  eines  Menschen  benannt.  Man  kann 
aber  nicht  annehmen,  dafs  es  sich  dabei,  wie  in  dem  Falle  der  Benennung 
[der  Brähmana's]  nach  den  KäthaJca's  u.  s.  w.,  blofs  um  ein  Verkündigen 
[der  göttlichen  Offenbarung  durch  Menschenmund]  handle.  Denn  jene 
[Sütra-Verfasser]  wurden  bei  der  Ausarbeitung  ihrer  Werke  von  manchen 
Zeitgenossen  beobachtet.  Und  dies  ist  durch  ununterbrochene  Tra- 
dition bis  auf  die  Gegenwart  überliefert  worden.  Sie  sind  daher,  so  gut 
wie  die  Werke  des  Kälicläsa  u.  s.  w.,  blofses  Menschenwerk."  (Mdähava 
zum  Nydyamälävistara  zu  Jahn.  1,  3,  11  — 14,  ed.  Civadatta,  p.  34.) 


III.    Perioden  der  indischen  Philosophie.  43 

liehen  zu  orientieren,  kurz  man  fühlt  sich  abermals  als  Epigone, 
und  ein  Zwischenraum  mehrerer  Jahrhunderte  ist  unumgäng- 
lich anzunehmen.  Aber  was  kann  den  indischen  Geist  vermocht 
haben,  zum  zweitenmal  seiner  eigenen  Vergangenheit  sich 
zu  entfremden?  Äufsere  Störungen  von  dem  erforderlichen 
Umfange  sind  nicht  nachweisbar,  denn  der  Alexanderzug  und 
das  aus  seinen  Wirren  schliefslich  sich  erhebende,  vom  Indus 
bis  zum  Ganges,  vom  Himälaya  bis  zum  Vindhya  reichende 
Reich  der  Maurya  brachte  zunächst  nur  eine  vorübergehende 
und  äufserliche  Veränderung,  die  als  solche  dem  Fleifse  der 
Brahmanenschulen  keine  Schädigung  brachte.  Aber  wenn  wir 
uns  erinnern,  dafs  der  erste  dieser  Mauryakönige,  Candragupta 
(315  —  291),  ein  Cüdra  gescholten  wird,  und  dafs  sein  Enkel 
ÄQoka  (259 — 222)  den  Buddhismus,  bei  aller  Toleranz  gegen 
Andersgläubige,  zur  Staatsreligion  seines  Weltreiches  von 
Kacmira  bis  zur  Godävari,  von  Gujerat  bis  Orissa  machte,  so 
wird  begreiflich,  dafs  die  frischeren  und  kräftigeren  Geister  jener 
Zeit  sich  von  der  untergehenden  Sonne  des  Brahmanismus  ab 
zur  aufgehenden  des  Buddhismus  wandten,  und  als  einige  Jahr- 
hunderte später  der  Buddhismus  seine  Anziehungskraft  verlor, 
als  man  sich  den  verlassenen  Opferfeuern,  den  vielleicht  damals 
erst,  zur  Zeit  des  Abfalles,  von  den  wenigen  Treugebliebenen, 
um  sie  zu  retten,  aufgezeichneten  Texten  der  Hymnen  und  Bräh- 
mana's  wieder  zuwandte,  da  wurden  Inhaltsübersichten  über 
ihre  weitschichtigen  Materialien  Bedürfnis  (Sütras),  da  sprach 
man  die  Sprache  der  Brähmana's  nicht  mehr  und  mufste  sie  dem 
Prakrit  der  herrschenden  Sprache  gegenüber  als  „Kunstsprache", 
als  Samskritam  künstlich  wieder  auffrischen,  woran  sich  dann 
Mahdbhäratam  und  Manu,  sowie  weiterhin  Kdlidäsa  und  die 
ganze  Litteratur  der  indischen  Renaissance  anschlofs. 

Sonach  unterscheiden  wir,  wie  für  die  gesamte  indische 
Litteratur  so  auch  für  den  philosophischen  Teil  derselben,  drei 
Perioden: 

I.    Hymnenzeit,  das  erste  Aufblühen  philosophischer 
Gedanken  im  Fünfstromlande  befassend. 
IL    Brähmanazeit:     Die  Fortentwicklung    dieser   Ge- 
danken  bis  zu  den  die  Schlufssteine  der  Brähmana- 
periode  bildenden  Upanishad's. 


44  Einleitung  zur  Philosophie  der  Inder. 

III.  Sanskritzeit:  Die  Fortbildung  der  Upanishad- 
Gedanken  zu  den  orthodoxen  und  heterodoxen  Sy- 
stemen, zu  welchen  auch  der  Buddhismus  gerechnet 
wird. 

IV.   Die  philosophische  Litteratur  der  Inder. 

Die  indische  Philosophie  tritt  unserer  ererbten  abendlan- 
dischen Kultur  als  Ganzes  so  fremd  gegenüber,  dafs  es  rätlich 
erscheint,  zur  ersten  Einführung,  wenn  nicht  in  den  Geist,  so 
doch  in  den  äufsern  Bestand  derselben,  sich  der  Leitung  eines 
geeigneten  Eingebornen  anzuvertrauen.  Als  solcher  erscheint 
Mad/msüdana,  mit  dem  Beinamen  Sarasvati,  ein  orthodoxer 
Brahmane  aus  der  Schule  des  Qankara,  nach  1300  p.  C.  und 
vielleicht  nicht  lange  vor  1653  lebend,  aus  welchem  Jahre  die 
Handschrift  des  kleinen  Werkes  stammt,  das  wir  hier  über- 
setzen wollen.  Dasselbe  (von  Colebrooke  vielfach  benutzt, 
von  Weber,  Ind.  Studien  I,  herausgegeben  und  mit  trefflicher 
Paraphrase  des  Inhalts  versehen)  führt  den  Titel  Prasthdna- 
blieda  „Die  Mannigfaltigkeit  der  Methoden",  nämlich  der 
Methoden  oder  Wege,  um  zum  „Ziele  des  Menschen"  (purusha- 
artha)  zu  gelangen,  als  welches  fast  allen  Systemen  der  indi- 
schen Philosophie  die  Erlösung  von  Samsära,  d.  h.  vom  Kreis- 
laufe der  Seelenwanderung,  vorschwebt. 


Episo  disch: 

Der  PrastMna-blieda  des  Madhusüdana-Sarasyati. 

Verehrung  dem  erlauchten  Ganeca! 

Einleitung. 

Da    alle    Lehrsysteme    schliefslich    auf  Gott    (bhagavant)    als 
höchstes  Ziel,  sei  es  unmittelbar  oder  mittelbar,  hinleiten,  so  wollen 
wir   hier   die  Mannigfaltigkeit   ihrer  Wege   zu  diesem  Ziele  in  der 
Kürze  darlegen. 
Es  sind  also : 

I.    die  vier  Veda's:    Rigceda,   Yajurveda,  Santavcda  und 
Aiharvaveda; 


IV.    Die  philosophische  Litteratur  der  Inder.  45 

II.  die  sechs  Vedänga's  (Veda-Glieder),  nämlich:  Cilcshä 
(Lautlehre),  Kalpa  (Ritual),  YyäJmranam  (Grammatik), 
Niruktam  (Wortbedeutung),  Chan  das  (Metrik)  und  Jyo- 
tisham  (astronomische  Kalenderkunde) ; 

III.  die   vier   Upäfiga's    (Nebenglieder),    nämlich:    die  Pu- 
,         räna's  (Erzählungen  aus  der  Vorzeit),   der  Nyäya  (Logik), 

die  Mimänsä  (vedische  Dogmatik)  und  die  Dharmagästrd's 
(Rechtsbücher),  wobei  die  Upajpuränd's  unter  den  Puräna's 
einbegriffen  werden,  ebenso  das  Ya iceshika-System  unter 
dem  Nyäya,  das  Vedänta-System  unter  der  Mimänsä  und 
endlich  Mahäbhäratam  und  Bämäyanam ,  die  SänJchyd's 
und  Pätanjalä's  (Anhänger  des  Patanjali),  die  Pägupata'ä 
•  (Civaiten),  Vaishnava's  (Vishnuiten)  und  andere  unter 
dem  Dharmagästram,  sodafs  alles  in  allem  vierzehn 
Wissenschaften  sich  ergeben.  Daher  heilst  es  (Yäjna- 
valkya  I,  3): 

„Die    Veda^s,  durch  Puräna's  und  den  Nyäya, 
„Durch  die  Mimänsä  und  die  Dharmacästra's, 
„Vervollständigt,  sowie  auch  durch  die  Anga:s, 
„Das  sind  die  vierzehn  Fundstätten  zumal 
„Der  Wissenschaften  und  der  Rechtsgebräuche." 

Rechnet  man  hierzu  noch 

IV.  die  vier  Upaveda's  (Nebenvedas),  nämlich:  Ayurveda 
(Gesundheitslehre),  Dhanurveda  (Waffenkunde),  Gändhar- 
vaveda  (Musiklehre)  und  Arthacästram  (praktische  Unter- 
weisung), 

so  kommen  im  ganzen  achtzehn  Wissenschaften  heraus.  Was  die 
sämtlichen  Denker  von  positiver  Richtung  (ästika)  betrifft, 
so  giebt  es  keine  andern  als  die  genannten  Methoden  der  Lehr- 
systeme, indem  alle  übrigen  als  Specialwissenschaften  unter  ihnen 
enthalten  sind. 

Anmerkung. 

Man  könnte  einwenden ,  dafs  es  doch  noch  weitere  Lehrme- 
thoden der  Denker  von  negativer  Richtung  (nästika)  gebe, 
welche  unter  den  genannten  nicht  einbegriffen  sind  und  daher  be- 
sonders aufzuzählen  wären.  So  giebt  es  zunächst  vier  Richtungen 
«ler  Buddhisten,  nämlich: 

I.  die  Mädhyamika's  (das  Centrum),  welche  den  voll- 
ständigen Nihilismus  (rünya-väda)  vertreten; 


46  Einleitung  zur  Philosophie  der  Inder. 

II.  die  Yogäcära's  (Hingebung  und  Kachfolge  übend), 
welche  nur  den  momentanen  Vorstellungen  Realität  zu- 
gestehen [dogmatischer  Idealismus] ; 

III.  die  Sauträntika's  (sich  an  die  Sütra's  haltend),  welche 
die  Realität  momentaner  Aufsendinge,  doch  nur  sofern 
sie  aus  der  Beschaffenheit  der  Vorstellungen  erschliefsbar 
sind,  annehmen  [problematischer  Idealismus]; 

IV.  die  Vaibhäshika's  (an  den  Kommentar  sich  haltend), 
welche  die  Realität  wahrnehmbarer,  individueller  (1.  sva- 
Idkshcma) ,    momentaner  Aufsendinge    lehren  [Realismus]. 

Zu  diesen  vier  Schulen  der  Buddhisten  kommen  als  eine  weitere 
negative  Richtung 

V.    die    Cärväka's   mit   ihrer   Behauptung,    dafs    der  Leib 

das   Selbst  sei  [Materialisten], 
und  als  eine  zweite  Richtung. 

VI.    die    Digambara's    (Jaina,s),    welche    lehren,    dafs    die 

Seele    den  Leib    überdaure   und    dabei    den    Umfang    des 

Leibes  behalte. 
Es  giebt  somit,  alles  zusammengenommen,  sechs  Arten  der 
Denker  von  negativer  Richtung;  warum  also  werden  nicht 
auch  diese  besprochen?  —  Auf  diese  Einwendung  antworten  wir: 
wohl  giebt  es  diese,  aber  da  dieselben  aufserhalb  der  Veden  stehen 
[und  da  extra  Vedos  nulla  salus],  so  können  sie,  ebenso  wie  die 
Methoden  der  Barbaren  *  u.  s.  w.,  auch  nicht  einmal  mittelbar  zur 
Erreichung  des  Zieles  des  Menschen  beitragen  und  sind  daher 
gänzlich  (eva)  aufser  Betracht  zu  lassen.  Hier  nämlich  haben  wir 
nur  die  Mannigfaltigkeit  der,  sei  es  unmittelbar  oder  mittelbar, 
zur  Erreichung  des  Zieles  des  Menschen  beitragenden  und  somit 
den  Veda  unterstützenden  Methoden  aufgezeigt ;  daher  zu  einem 
Zweifel  an  der  Vollzähligkeit  unserer  Aufstellung  keine  Veran- 
lassung ist.  Nunmehr  wollen  wir,  zur  Belehrung  der  Einfältigen, 
in  der  Kürze  aufzeigen,  wie  die  Mannigfaltigkeit  in  der  Art 
dieser  Methoden  in  der  [unbeschadet  der  Einheit  des  Endzweckes 
(artJia)  möglichen]  Mannigfaltigkeit  der  Absichten  (prayojana)  ihren 
Grund  hat. 


*  Diese  ebenso  kurze  wie  entschiedene  Abfertigung  alles  Ausländi- 
schen mag  denen,  welche  immer  noch  von  einer  Beeinflufsung  der  indischen 
Gedanken  durch  die  griechische  Philosophie  oder  das  Christentum  träumen, 
beweisen,  wie  wenig  diese  für  den  orthodoxen  Brahmanen  bis  in  die  späte 
Zeit  hinein  auch  nur  existieren. 


IV.  Die  philosophische  Litteratur  der  luder.  47 

1.  Die  Yeda's. 

Das  über  die  Pflicht  und  über  das  B  rahm  an  belehrende, 
übermenschliche  Richtschnur-Wort  ist  der  Veda.  Derselbe  besteht 
aus  Mantra's  (Gebeten)  und  Brähmanä's  (auf  das  Gebet  Bezüglichem). 

,  I.   Die  Mantra's. 

Die  Mantra's  offenbaren  die  Gottheit  als  Objekt  dessen,  der 
zu  einem  Vollbringer  der  Verehruug  geworden  ist  (anushfhäna- 
JcäraJca-bhüta-dravya-devatä-praJcägaJcäh).  Dieselben  sind  dreifach, 
nämlich  Ric  (Hymnus),    Yajus  (Opferspruch)   und  Sanum  (Gesang). 

1)  Die  Ric's  fangen  an  mit  Agnim  ile  purohitam  (,,Den 
Priester  Agni  preise  ich",  Rigveda  1,  1,  1)  und  sind  kenntlich  an 
den  in  ihnen  aus  Versteilen  zusammengefügten  Metren,  wie  die 
Gäyatri  u.  s.  w. 

2)  Die  Säman's  sind  dieselben  und  unterscheiden  sich  nur 
darin,   dafs  sie  gesungen  werden. 

3)  Die  Yajus'  sind  in  beiden  Stücken  von  ihnen  verschieden 
[weder  metrisch,  noch  gesungen].  Zu  den  Yajus'  gehören  auch 
die  Nigada  (Anrede)  genannten  Mantra's,  welche  eine  Aufforderung 
enthalten,  wie:  Agnid!  agnin  viharal  („Feueranzünder!  teile  die 
Feuer  auseinander!").      So  viel  von  den  Mantra's. 

2.  Die  Brähmanä's. 

Auch  das  Brähmanam  ist  dreifach,  sofern  es  teils  Vidhi  (Vor- 
schrift), teils  Arthaväda  (Inhaltserklärung),  teils  Jceins  von  beiden  ist. 

A.  Der  Vidhi  wird  von  den  Bhätta's  erklärt  als  „ein  Be- 
wirken durch  Worte",  von  den  Präbhäkara's  als  „eine  Beauftragung", 
von  den  Tärkika's  und  allen  übrigen  als  „das  Verwendetwerden 
als  Mittel  zum  Opfer".  —  Auch  der  Vidhi  (die  Vorschrift)  ist 
wieder  vierfach  und  zerfällt  in  die  Vorschrift  des  Geschehens,  der 
Berechtigung,  der  Verwendung  und  der  Ausführung.  1)  Eine 
Vorschrift  des  Geschehens  ist  eine  solche,  welche  nur  die 
Beschaffenheit  des  Werkes  angiebt,  z.  B.  wenn  es  heifst:  „Der 
[Opferkuchen]  für  den  Agni  wird  in  acht  Schalen  dargebracht" 
(Catap.  5,  5,  1,  1  K.).  2)  Eine  Vorschrift  der  Berechtigung 
ist  die,  welche  in  betreff  der  mit  dem  Befehl  der  Ausführung  vor- 
kommenden Handlung,  wie  Opfer  u.  s.  w. ,  die  Verknüpfung  mit 
ihrem  Lohne  anzeigt,  z.  B.  „bei  Neumond  und  Vollmond  soll  opfern, 
wer  nach  dem  Himmel  begehrt".  3)  Eine  Vorschrift  der  Ver- 
wendung ist  eine  Vorschrift,  welche  eine  Verknüpfung  mit  Neben- 
bestimmungen enthält,  z.B.  „er  lasse  mit  Reiskörnern  opfern",  oder  „er 


48  Einleitung  zur  Philosophie  der  Inder. 

opfert  den  Brennhölzern".  4)  Eine  Vorschrift  der  Ausführung- 
endlich  bezieht  sich  auf  die  Einheit  der  Ausführung  der  Haupt- 
handlung mitsamt  den  Nebenbestimmungen  und  besteht  in  einer 
Zusammenfassung  der  drei  vorher  erwähnten  Vorschriften.  Sie 
wird  von  einigen  für  schriftmäfsig  [in  den  Brähmana's  vorkommend], 
von  andern  für  ritualmäfsig  [nur  in  den  Kalpasütra's  vorkommend] 
erklärt.  —  Auch  das  [von  der  Vorschrift  geforderte]  Werk  (karman) 
ist  seiner  Natur  nach  zweifach,  Begleitwerk  (gunakarman)  oder 
Zweckwerk  (arthakarman).  a.  Das  Begleitwerk  ist  etwas  Ge- 
botenes, was  die  Opferhandlung,  die  Ausführung  oder  den  Aus- 
führenden betrifft.  Dasselbe  ist  vierfach,  sofern  es  ein  Entstehen, 
Erlangen,  Umwandeln  oder  Weihen  ist.  1)  Wenn  es  z.  B.  heifst: 
,,im  Frühling  soll  der  Brahmane  die  Feuer  anlegen"  —  ,,er  behaut 
den  Opferpfosten"  u.  s.  w.,  so  handelt  es  sich  hierbei  für  die  mit 
einer  besondern  Weihe  versehenen  Feuer  oder  Opferpfosten  um 
ein  durch  das  Anlegen  oder  Behauen  bedingtes  Entstehen. 
2)  Heifst  es  hingegen:  „die  heilige  Lektion  ist  zu  studieren"  —  „er 
melkt  die  Milch  aus  der  Kuh"  u.  s.  w.,  so  handelt  es  sich  hierbei 
nur  um  ein  Erlangen  der  schon  vorhandenen  Lektion  oder  Milch 
durch  das  Studieren,  Melken  u.  s.  w.  3)  Wenn  es  hinwiederum 
heifst:  „er  keltert  den  Soma"  —  „er  drischt  die  Reiskörner 
aus"  —  ,,er  zerläfst  die  Butter",  so  ist  dies  ein  an  dem  Soma  u.  s.  w. 
durch  Keltern,  Dreschen  und  Zerlassen  bewirktes  Umwandeln. 
4)  Heifst  es  endlich  z.  B.:  „er  besprengt  die  Reiskörner"  —  „die 
Gattin  beschaut  das  Opfer"  u.  s.  w..  so  ist  dies  ein  an  den  Sub- 
stanzen, wie  Reiskörner  u.  s.  w.,  durch  Besprengen  oder  Be- 
schauen u.  s.  w.  sich  vollziehendes  Weihen.  Alle  vier  Arten  der 
Begleitwerke  sind  natürlich  immer  nur  die  Nebenhandlung  betreffend 
[ängam,  nicht  a/iigam  aufzulösen].  Ebenso  ist  auch  b.  das  Zweck- 
werk etwas  Gebotenes,  was  die  Opferhandlung  oder  den  Ausfüh- 
renden betrifft.  Dasselbe  ist  zweifach:  Nebenwerk  (angani)  oder 
Hauptwerk  (praähänam).  Nebenwerk  ist,  was  um  eines  andern 
willen  geschieht,  Hauptwerk,  was  nicht  um  eines  andern  willen 
geschieht.  Auch  das  Nebenwerk  ist  wieder  zweifach,  beispringend 
helfend  oder  nur  von  ferne  helfend ;  ersteres,  sofern  es  das  Wesen 
der  Haupthandlung  fördert,  letzteres,  sofern  es  auf  den  Lohn  einen 
Einflufs  hat.  —  Eine  Vorschrift,  die  in  dieser  Weise  von  allen 
Nebenhandlungen  begleitet  ist,  heifst  eine  Normalform  (prakriti), 
ist  sie  hingegen  nur  von  vereinzelten  Nebenhandlungen  begleitet, 
so  heifst  sie  eine  Abform  (vikriti) ;  von  beiden  verschieden  ist  die 
[einfache]   Löffelspende.     In    dieser  Weise  [trichotomisch,    als  Teil, 


IV.    Die  philosophische  Litteratur  der  Inder.  49 

Gegenteil  und  von  Leiden  Verschiedenes]  kann  man  sich  auch  das 
Übrige  zurechtlegen.     Damit  ist  der  Vidhi-Teil  charakterisiert. 

B.  Der  Arthaväda  ist  eine  Rede,  welche  als  Empfehlung: 
als  Abmahnung  oder  auf  eine  von  beiden  verschiedene  (anyatara) 
Weise  dem  Vidhi  als  Ergänzung  (1.  gcsha)  dient.  Derselbe  ist 
dreifach  als  Gunaväda  (Urndeutung),  Anuväda  (Wiederholung)  und 
Bhutartliaväda  (Mitteilung).  1)  Der  Gunaväda  sagt  etwas  aus, 
was  mit  andern  Erkenntnisnormen  [z.  B.  der  Wahrnehmung]  in 
Widerspruch  steht,  z.  B.  wenn  es  heifst:  „der  Opferpfosten  ist  die 
Sonne".  2)  Der  Anuväda  sagt  etwas  aus,  was  durch  andere 
Erkenntnisnormen  schon  bekannt  ist,  z.  B.  wenn  es  heifst:  „Heil- 
mittel ist  das  Feuer  für  die  Kälte"  (Väj.  Samh.  23,10).  3)  Der 
Bhüt  arthaväda  sagt  etwas  aus,  was  weder  mit  andern  Erkennt- 
nisnormen in  Widerspruch  steht  noch  auch  durch  sie  schon  bekannt 
ist,  z.  B.  wenn  es  heifst:  „er  zückte  gegen  Vritra  den  Donnerkeil" 
(Taitt.   Samh.   6,5,1,1). 

Darum  heifst  es: 

„Ein  Gunaväda  ist  bei  Widerspruch; 
„Ein  Anuväda,  wo  etwas  schon  feststeht; 
„Wo  beides  fehlt,  ist  ein  Bhutartliaväda; 
„So  wird  der  Arthaväda   dreigeteilt." 

Während  alle  drei  Arten  des  Arthaväda  darin  übereinstimmen,  eine 
Anempfehlung  des  Vidhi  zu  bezwecken,  so  kommt  überdies  dem 
Bhütärthaväda  noch  Autorität  in  der  von  ihm  mitgeteilten  Sache 
zu,  nach  dem  Grundsatze,  der  gelten  mufs,  wo  es  sich  um  die 
Götter  handelt.  Denn  seine  Autorität  besteht  darin,  dafs  er  Un- 
bekanntes, aber  auch  Unwidersprochenes  mitteilt.  Dieses  nun  ist 
beim  Gunaväda,  der  Widersprochenes  betrifft,  und  beim  Anuväda, 
der  schon  Bekanntes  mitteilt,  nicht  der  Fall.  Und  in  betreff  von 
Begebenheiten,  die  ihrem  Inhalte  nach  jenen  [Offenbarungs-]  Zweck 
nicht  verfolgen ,  bleibt  die  natürliche  Erkenntnisautorität  [der 
Wahrnehmung  u.  s.  w.]  dabei  unangetastet.  ■ —  Damit  ist  der  Ar- 
thaväda-Teil  charakterisiert. 

C.  Von  beiden,  Vidhi  und  Arthaväda,  verschieden  sind  end- 
lich die  Texte  des  Vedänta.  Zum  Vidhi  gehört  der  Vedänta 
nicht,  weil  er  zwar  auch,  wie  dieser,  Unbekanntes  kundmacht, 
nicht  aber,  wie  er,  ein  Vollbringen  befiehlt.  [Er  ist  aber  auch 
nicht,  wie  der  Arthaväda,  eine  Ergänzung  des  Vidhi;  denn]  da  er 
an  sich  selbst  in  dem  das  Ziel  des  Menschen  bildenden,  aus 
höchster    Wonne    und    Erkenntnis    bestehenden   Brahman,    welches 

Deüssen,  Geschichte  der  Philosophie.    I.  4 


50  Einleitung  zur  Philosophie  der  Inder. 

sein  Inhalt  ist,  auch,  wie  die  sechs  Kennzeichen  des  Anfangs, 
Schlusses  u.  s.  w.  der  Stellen  beweisen,  seinen  Endzweck  hat,  so 
ist  er  an  sich  selbst  Autorität,  ja,  er  macht  alle  Vidhi's,  sofern 
durch  sie  Reinheit  des  Herzens  bewirkt  wird,  zu  Ergänzungen 
seiner  selbst,  ist  aber  nicht  [wie  der  Arthaväda]  Ergänzung  eines 
andern.  Somit  sind  die  Vedäntatexte  von  beiden  verschieden,  und 
wenn  sie  zuweilen,  nur  weil  auch  sie  Unbekanntes  kundmachen,  als 
Vidhi  bezeichnet,  oder  mitunter,  weil  sie  ein  von  dem  Yidhi  ver- 
schiedenes Richtschnurwort  enthalten ,  ein  Bhütärthaväda  genannt 
werden,  so  thut  das  der  Sache  keinen  Eintrag. 

Hiermit  ist  das  Brähmanam  nach  seinen  drei  Arten  [als  Vidhi, 
Arthaväda  und    Vedänta\   charakterisiert. 

Schluf sbemerkungen  über  den  Yeda. 

Der  in  dieser  Weise  aus  einem  Werkteile  (Manfra,  Vidhi, 
Arthaväda)  und  einem  Brahmanteile  (Vcdänta)  bestehende  Veda 
ist  die  Ursache  des  Guten,  Nützlichen ,  Angenehmen  und  der 
Erlösung. 

Weiter  wird  derselbe,  nach  dem  dreifachen  Gebrauche,  den 
er  bei  Ausführung  der  Opfer  findet,  eingeteilt  in  Bigreda,  Yajur- 
veäa  und  Sämaveda. 

1)  Der  Rigveda  (Veda  der  Verse)  wird  gebraucht  beim 
Dienste  des  Hotar  (der  die  Götter  zu  Anfang    des   Opfers    anruft). 

2)  Der  Yajurveda  (Veda  der  Opfersprüche)  wird  gebraucht 
beim  Dienste  des  Adhvaryu  (der  die  Opferhandlung  ausführt). 

3)  Der  Sämaveda  (Veda  der  Lieder)  wird  gebraucht  beim 
Dienste  des  Udgätar  (der  das  Opfer  mit  seinem  Gesänge  begleitet). 
In  allen  dreien  ist  auch  enthalten,  was  für  den  Dienst  des  Brahmän 
(des  beaufsichtigenden  Priesters)  und  des  Yajamäna  (des  Veran- 
stalters des   Opfers)   erforderlich  ist.      Was   endlich 

4)  den  Atharvaveda  betrifft,  so  wird  derselbe  beim  Opfer 
überhaupt  nicht  gebraucht,  sondern  giebt  nur  Belehrung  über  die 
Werke,  welche  dienlich  sind,  Unheil  abzuwehren,  das  Gedeihen 
zu  befördern  und  jemandem  Unheil  anzuthun;  ist  also  von 
völlig  verschiedener  Art. 

Noch  ist  zu  bemerken,  dafs  für  jeden  Veda,  infolge  der 
Verschiedenheit  der  Darlegung  seines  Inhaltes,  sich  verschiedene 
Qäkha's  (Schulen,  eigentlich:  Zweige)  gebildet  haben.  Wenn  nun 
auch  hierdurch  bei  dem  Werkteile  eine  Verschiedenheit  der  Be- 
handlung   des    Stoffes    durch    die   verschiedenen    Cäkhä's    des    Veda 


IV.    Die  philosophische  Litteratur  der  Inder.  51 

stattfindet,  so  bilden  sie  doch,  was  den  Brahmanteil  betrifft, 
eine  Einheit. 

Somit  erklärt  sich  die  Verschiedenheit  der  vier  Veda's  aus 
der  Verschiedenheit  ihrer  Bestimmung.  —  Nunmehr  von  der  Ver- 
schiedenheit der  Anga's. 

II.   Die  Yedäiiga's. 

I.    Die  Cikshä, 

Zweck  der  Qikshä  (Lautlehre)  ist,  über  die  specielle  Aussprache 
der  Buchstaben,  sowohl  der  nach  Hochton,  Tonlosigkeit  und  Tief- 
ton, nach  Kürze,  Länge  und  Doppellänge  verschiedenen  Vokale 
als  auch'  der  Konsonanten  Belehrung  zu  erteilen,  da  ohne  diese  die 
Mantra's  ihren  Zweck  nicht  erfüllen  können.  Denn  es  heifst 
(Cikshä,  v.  52.     Ind.   Stud.  IV,  p.  367): 

„Ein  Spruch,   der  falsch  an  Ton  ist  oder  Laut, 
„Ist  nutzlos  und  besagt  nicht,  was  er  soll; 
,,Er  trifft  als  Bede -Donnerkeil  den  Opfrer, 
„Wie  indracatru,  weil  er  falsch  betont  war." 

[Tvashtar  wollte  einen  Indracatru  (Indrabezwinger)  schaffen  und 
schuf  durch  ein  Versehen  der  Accentuation  einen  Indracatru  (In- 
clrabezwungenen).]  Eine  für  alle  Veclen  gemeinsame  Cikshä,  an- 
fangend mit  den  Worten:  „Nun  will  die  Cikshä  ich  verkünden" 
und  aus  fünf  Teilen  [heute  nur  noch  in  der  Yajus-Becension  aus 
35,  in  der  Big-Becension  aus  60  Cloka's]  bestehend,  ist  von  Pänini 
veröffentlicht  worden.  Eine  ebensolche,  jedoch  je  nach  den  Veda- 
schulen  verschiedene  ist  unter  dem  Namen  Präticäkhpam  von  andern 
Weisen  ans  Licht  gebracht  worden. 

2.    Das  Vyäkaranam. 

Indem  man  ebenso  weiter  die  Bektion  der  vedischen  Worte 
ins  Auge  fafst,  giebt  ihre  Flexion  u.  s.  w.  Veranlassung  zur  Gram- 
matik (vyäkaranam).  Diese,  anfangend  mit  den  Worten:  Yriddhir 
ad  aic  („Ablaute  sind  ä  ai  auu,  Pän.  1,1,1)  und  aus  acht  Lek- 
tionen bestehend,  ist  durch  die  Gnade  des  Mahecvara  (Civa)  eben- 
falls von  dem  erhabenen  Pänini  veröffentlicht  worden.  Weiter 
wurde  eine  Glosse  (värttikam)  zu  den  Sütra's  des  Pänini  von  dem 
weisen  Kätyäyana  verfafst.  Endlich  wurde  über  diese  Glosse 
der  grofse  Kommentar  (mahäbTiäshyam)  von  dem  erhabenen  Weisen 
Pataiijali  geschaffen.     Dieses  ist  die  Grammatik  der  drei  Weisen, 

4  * 


52  Einleitung  zur  Philosophie  der  Inder. 

welche  ein  Vedäfigam  ist  und  auch  als  „die  von  Mahecvara  (Qiva) 
herstammende"  bezeichnet  wird.  Hingegen  sind  die  Grammatiken 
von  Kuniära  und  andern  keine  Vedäfiga's,  sondern  haben  nur  den 
Zweck,  den  profanen  Sprachgebrauch  kennen  zu  lehren;  so  steht 
es  damit. 

3.  Das  Niruktam. 

Nachdem  in  dieser  Weise  durch  Lautlehre  und  Grammatik 
die  Aussprache  der  Buchstaben  und  die  Rektion  der  Wörter  erkannt 
worden,  so  entsteht  weiter  das  Bedürfnis,  die  Bedeutung  der  in 
den  vedischen  Mantra's  vorkommenden  Wörter  zu  verstehen,  und 
zu  diesem  Zweck  ist  von  dem  verehrungswürdigen  Yaska  das  mit 
den  Worten:  „Die  Zusammenstellung  ist  vollbracht;  selbige  ist  zu 
erklären "  anfangende  und  aus  dreizehn  Lektionen  bestehende 
Niruktam  verfafst  worden.  In  diesem  werden  die  vier  Arten 
der  Wörter,  Nomen,  Verbum,  Partikel  und  Präposition,  betrachtet 
und  dabei  die  Bedeutung  der  in  den  vedischen  Mantra's  enthaltenen 
Begriffe  klargelegt.  Da  nämlich  die  Mantra's  nur  wirksam  sind, 
sofern  sie  die  Sache,  die  man  ausüben  soll,  klar  machen,  da  aber 
die  Erkenntnis  des  Sinnes  der  Sätze  von  der  Erkenntnis  der  Be- 
griffe abhängig  ist,  so  wird,  um  die  in  den  Mantra's  vorkommenden 
Begriffe  zu  erkennen,  das  Niruktam  unumgänglich  erfordert,  denn 
ohne  dasselbe  ist  eine  Ausübung  nicht  möglich,  da  bei  schwer  ver- 
ständlichen Worten  wie:  „sringeva  jarbhari  turpharitü"  (Rigv.  10, 
106,6)  auf  andere  Weise  eine  Erkenntnis  des  Sinnes  nicht  zu 
bewerkstelligen  ist.  So  sind  denn  auch  die  Nighantu's,  welche 
die  synonymen  Worte  für  die  Begriffe  der  vedischen  Gegenstände 
und  Gottheiten  enthalten,  im  Niruktam  mitbefafst,  und  das  in 
ihm  enthaltene,  Nighantu  genannte  und  aus  fünf  Lektionen  be- 
stehende Werk  ist  ebenfalls  von  dem-  verehrungswürdigen  Yaska 
verfafst. 

4.  Das  Chandas. 

Da  ebenso  ferner  die  Vers -Mantra's  durch  specielle,  nach 
Versgliedern  verbundene  Metra  von  einander  verschieden  sind ,  da 
über  deren  Unkenntnis  die  Schrift  ihre  Mifsbilligung  ausdrückt, 
und  da  die  Vorschrift  über  bestimmte  Obliegenheiten  in  bestimmten 
Metren  begründet  ist,  so  entsteht  weiter  ein  Bedürfnis  nach 
Kenntnis  der  Metra  (chandas),  und  um  diese  mitzuteilen,  ist  die 
mit  den  Worten:  dhi-cri-stri  m  („Geist-Glück-Frau  ist  ein  Molossus") 
anfangende  und  aus  acht  Lektionen  bestehende  „Erläuterung  der 
Metra"  [clumdo-vivriü,  fraglich,  ob  Titel]  von  dem  verehrungs- 
würdiffen  Pineala  verfafst  worden.    Hierbei  werden  in  den  ersten 


IV.    Die  philosophische  Litteratur  der  Inder.  53 

drei,  mit  dem  Worte  alaukikam  („[so  weit]  das  nichtweltliche") 
endigenden  Lektionen  die  sieben  Metra:  gäyatri  (8  +  8  -f-  8  Silben), 
usJmih  (8  +  8  +  12),  anushtubli  (8  +  8  +  8  +  8),  brihati  (8  +  8 
+  12  +  8),  panJcti  (8  +  8  +  8  +  8  +  8),  trisHubh  (11  +  11  + 
11  +  11)  und  jagati  (12  +  12  +  12  +  12)  nebst  ihren  Unterarten 
dargestellt.  In  den  übrigen  fünf  Lektionen  werden,  anfangend  mit 
den  Worten:  atha  lavikikam  („nunmehr  das  weltliche"),  bei  dieser 
Gelegenheit  auch  die  weltlichen,  in  den  Puränä'ß,  Itihäsa's  u.  s.  w. 
zur  Verwendung  kommenden  Metra  betrachtet,  wie  ja  auch  in  der 
Grammatik   die  weltlichen  Worte  mit  in  Betracht  gezogen  werden. 

5.    Das  jyotisham. 

Ebenso  ist  weiter  zur  Erkenntnis  der  Zeiten  des  Vollmonds  u.s.w., 
wie  sie  einen  Teil  der  vedischen  Werke  bildet,  das  Jyotisham  (Stern- 
kunde, Kalenderkunde)  von  dem  verehrungswürdigen  Aditya  (dem 
Sonnengotte)  sowie  von  Garga  u.  a.  hervorgebracht  worden  und 
von  vielerlei  Art. 

6.   Der  Kalpa. 

Zur  Erkenntnis  der  speciellen  Reihenfolge  der  vedischen  Kul- 
tushandlungen ,  indem  man  auch  die  Bestimmungen  anderer  Veda- 
schulen  mit  hereinzieht,  dienen  die  Kalpa- sütra's  (rituellen  Sutra's)  ; 
dieselben  sind,  entsprechend  den  drei  Arten  ihrer  Verwendung, 
dreifach : 

1)  die  Gebräuche  beim  Hotar -Dienste  lehren  die  Sütra's 
des  Acualäyana,  Qänkhäyana  u.  a. ; 

2)  die  Gebräuche  beim  A  dhvaryu-Dienste  die  des  Batt- 
dhäyana,  Apastamba,  Kätyäyana  u.  s.  w.; 

3)  die  Gebräuche  beim  Udgätar-Dienste  die  des  Ldtyä- 
yana,  Drähyäyana  u.  a. 

Damit  ist  die  Verschiedenheit  des  Zweckes  der  sechs  Angola 
charakterisiert.     Jetzt  wird  die  der  vier  Upänga's  darzulegen  sein. 

III.    Die  Upänga's. 

I.   Die  Puräna's. 

Die  von  dem  verehrungswürdigen  Bädaräyana  verfafsten 
Pifrimd's  (Erzählungen  aus  der  Vorzeit)  belehren  über  Schöpfung, 
Wiederschöpfung,  Stammbäume  der  Götter,  Manuperioden  und  Ge- 
schichte der  Geschlechter.     Es   sind  ihrer  achtzehn,  nämlich: 


54  Einleitimg  zur  Philosophie  der  Inder. 

1 .  Brahm  a  -  puränam 

2.  Padma- puränam 

3.  Vishnu- purcmam 

4.  Qiva  -puränam 

5.  Bhägav ata -puränam 

6 .  Näradiya  -p  uränam 

7.  MärMndeya  -puränam 

8.  Agni-puränam 

9.  Bliavishya  -puränam 

10.  BraJimavaivarta -puränam 

1 1 .  Linga  -puränam 

12.  Yaräha-puräyiam 

1 3 .  Skanda  -puränam 

14.  Vämana  -puränam 

15.  Kürma  -puränam 

16.  Matsya- puränam 

1 7 .  Garuda  -puränam 

18.  Brahmända- puränam. 

Weiter  giebt  es  noch  mancherlei   üpapuränd's,  wie  zu    ersehen   ist 
aus  den  Versen: 

„Zuerst,   der  Vedakenner  Gröfste!  kommt 
„Das  von  Sanatimmära  dargelegte, 
„Zu  zweit  das,  welches  Närasinliam  heilst; 
„Das  Nändam  drittens,  viertens  (Jicadharinam, 
„Fünftens  JDauruäsam,  sechstens  Näradiyam ; 
„Zusiebent  Käpilam,  zuacht  Mänavam, 
„Sodann  folgt  das  von    Uganas  verfafste; 
„Weiter  Brahmändam,  hierauf  Värunam , 
„Dann  das  Kälipuränam  des  Yasishtha, 
„Von  ihm  das  Lalngam   auch,  dem  Qiva  heilig; 
„Das  Sänibam  dann  und  Sauram,  wunderbar; 
„Dann  das  Päräcaram  und  das  Märlcam, 
„Und  endlich  noch  das  Bhärgavam  genannte, 
„Das  aller  Satzung  Inhalt  ganz   enthält." 

2.    Der  Nyäya. 

Der  Nyäya  (Logik)  ist  die  Denklehre,  wie  sie  in  fünf  Lek- 
tionen von  Gotama  verfafst  ist.  Ihr  Zweck  ist,  durch  Benennung, 
Definition  und  Prüfung  eine  Erkenntnis  des  Wesens  der  sechzehn 
Kategorien  (Grundbegriffe,  padärtha's)  zu  gewinnen,  welche  sind: 


IV.    Die  philosophische  Litteratur  der  Inder.  55 

1.  pramänam  Beweis, 

2.  pranieyam  zu  Beweisendes, 

3.  samgaya  Zweifel, 

4.  prayojanam  Motiv, 

5.  drishtdnta  Erfahrungssatz   (Beispiel), 
,      6.  siddliänta  erwiesener  Satz, 

7.  avayava  Syllogismus, 

8.  tarka  Apagoge, 

9.  nirnaya  Entscheidung, 

10.  väda  Unterredung, 

1 1 .  jalpa  Redestreit , 

12.  vitandä  Chicane, 

13.  Jietväbhäsa  Scheingrund, 

14.  cliala  Verdrehung, 

15.  jäti  Albernheit, 

16.  nigrahasthänam  Abbruchsgrund. 

Weiter  ist  da  noch  das  aus  zehn  Lektionen  bestehende,  von 
Kanada  begründete  Vaigeshika- Lehrbuch.  Sein  Zweck  ist,  die 
sechs  Kategorien 

1.  dravyam  Substanz, 

2.  guna  Eigenschaft, 

3.  Jcarman  Thätigkeit, 

4.  sämänyam  Gemeinsamkeit, 

5.  vigesha  Unterschied, 

6.  samaväya  Inhärenz, 

zu  denen  noch  7.  abhäva  Negation  kommt, 

nach    Gleichartigkeit    und    Verschiedenheit    zu    entwickeln.      Auch 
dieses  System  wird  mit  dem  Worte  Nyäya  bezeichnet. 

3.    Die  MTmänsä. 

Auch  die  Mimänsä  ist  zweifach,  nämlich  A.  Karma-mimänsä 
(Werkforschung)  und  B.  Cäriraka-mimänsä  (Seelenforschung, 
auch  hrahma-mlmänsä,  uttara-mimänsä ,  vedänta  genannt). 

A.   Karma-mimänsä. 

Die  Karma-mimänsä  besteht  aus  zwölf  Lektionen,  fängt  an 
mit  den  Worten:  „Nunmehr  daher  die  Pflichtforschung ",  endigt 
mit  den  Worten:    „und  weil  sie    dieselben    bei    der  Opfergabe    er- 


56  Einleitung  zur  Philosophie  der  Inder. 

erwähnt"  und   ist   von    dem   verehrungswürdigen  Jaimini  hervor- 
gebracht worden.     Folgendes  ist  der  Inhalt    der   zwölf  Lektionen: 

1.  Erkenntnisgrund  der  Pflicht. 

2.  Verschiedenheit  und  Einheit  der  Pflicht. 

3.  Neben-  und  Haupthandlungen. 

4.  Verschiedene  Bethätigung  je  nach  dem  Zwecke  der  Opfer- 
handlung und  dem  Zwecke  des  Menschen. 

5.  Reihenfolged.es  von  der  Schrift  gebotenen  Recitierens  u.  s.w. 

6.  Bestimmung  der  Berechtigung. 

7.  Erweiterung  der  Gebote,  im  allgemeinen. 

8.  Erweiterung  im  besondern. 

9.  Modifikationen. 

10.  Restriktionen. 

11.  Einwirken  auf  mehrere    zugleich    [wie  einer  Lampe,    die 
mehreren  leuchtet]. 

12.  Gelegentliche    Nebenwirkungen    [wie    einer    Lampe,    die 
auch  auf  die  Strafse  leuchtet]. 

Ferner  ist  verfafst  von  Jaimini  auch  das  aus  vier  Lektionen 
bestehende  SanJcarshana-Känäam;  dieses,  welches  auch  unter  dem 
Namen  Devatä-Kcmäam  bekannt  ist,  gehört,  weil  es  die  Verehrung 
als  Werk  behandelt,  mit  zur  Karma-mimänsä. 

B.  Vedanta. 

Die  aus  vier  Lektionen  bestehende  Cäriraka-  mim  an  sä, 
wie  sie  beginnt  mit  den  Worten:  „nunmehr  daher  die  Brahman- 
forschung"  und  endigt  mit  den  Worten:  „keine  Wiederkehr  nach 
der  Schrift",  hat  als  Zweck,  die  Einheit  des  Brahman  und  der 
Seele  vor  Augen  zu  stellen,  sowie  die  Regeln  aufzuzeigen,  welche 
die  Betrachtung  [jener  Einheit]  mittels  Anhörens  des  Schrift- 
wortes u.  s.  w.  [lies  ädyd\  lehren,  und  ist  verfafst  von  dem  ver- 
ehrungswürdigen B  ä  d  a  r  ä y  a  n  a. 

I.  Hierbei  wird  die  Übereinstimmung  (savnanvaya),  mit 
welcher  alle  Vedäntatexte  unmittelbar  oder  mittelbar  auf  das 
innerliche,  unteilbare,  zweitlose  Brahman  abzwecken,  in  der  ersten 
Lektion  nachgewiesen.  1)  Im  ersten  Viertel  derselben  werden 
diejenigen  Stellen  besprochen,  in  welchen  deutliche  Merkmale  des 
Brahman  vorkommen.  2)  Im  zweiten  Viertel  hingegen  diejenigen, 
welche  undeutliche  Merkmale  des  Brahman  enthalten  und  sich  auf 
das  Brahman  als  Gegenstand  der  Verehrung  beziehen.  3)  Im  dritten 
Viertel  solche,  welche  gleichfalls  undeutliche  Merkmale  des  Brahman 


IV.    Die  philosophische  Litteratur  der  Inder.  57 

enthalten,  jedoch  zumeist  sich  auf  Brahman  als  Gegenstand  der 
Erkenntnis  beziehen.  4)  Nachdem  in  dieser  Weise  die  Unter- 
suchung der  Textstellen  durch  die  drei  ersten  Viertel  zum  Ab- 
schlüsse gebracht  ist,  so  werden  hingegen  im  vierten  Viertel  gewisse 
Schriftworte,  bei  denen  es  zweifelhaft  sein  kann,  ob  sie  sich  nicht 
auf  das  Pradliänam  (die  Urmaterie  der  Sähkhya's)  beziehen, 
z.  B.  das  von  dem  avyalitam,  von  der  ajä  u.  s.  w. ,  in  Erwägung 
gezogen, 

IL  Nachdem  in  dieser  Weise  die  Übereinstimmung  der  Vedänta- 
texte  in  betreff  des  zweitlosen  Brahman  erwiesen  worden,  so  wird 
Aveiter,  in  Erwartung  eines  Einspruches  auf  Grund  der  Argumente, 
wie  sie  Von  der  in  Ansehen  stehenden  Smriti  (Tradition) ,  Re- 
flexion u.  s.  w.  vorgebracht  werden,  die  Beseitigung  dieses  Ein- 
spruches unternommen  und  somit  in  der  zweiten  Lektion  die 
Unwidersprechlichkeit  (avirodlia)  dargelegt.  1)  Hierbei  wird 
im  ersten  Viertel  der  Einspruch  gegen  die  Übereinstimmung  des 
Vedänta  widerlegt,  welcher  aus  den  Smriti's  des  Sähkhyam,  des 
Yoga,  der  Kanäda-Schüler  u.  s.  w. ,  sowie  aus  den  von  den  Sän- 
khya's u.  s.  w.  vorgebrachten  Reflexionen  herrührt.  2)  Im  zweiten 
Viertel  wird  die  Verfehltheit  der  Lehrsätze  der  Sänkhya's  u.  s.  w. 
dargelegt,  sodafs  diese  Betrachtung  aus  zweien,  einerseits  der  Be- 
festigung der  eigenen,  anderseits  der  Bestreitung  der  fremden  Lehre 
dienenden  Teilen  besteht.  3)  Im  dritten  Viertel  wird  der  gegen- 
seitige Widerspruch  der  Schriftstellen  in  betreff  der  Schöpfung  u.s.w. 
der  Elemente  im  ersten  Teile  gehoben,  im  zweiten  Teile  hingegen 
der  in  betreff  der  individuellen  Seele.  4)  Im  vierten  Viertel  wird 
der  Widerspruch  der  auf  die  Sinnesorgane  bezüglichen  Schrift- 
stellen gehoben. 

III.  In  der  dritten  Lektion  folgt  die  Erörterung  der  Mittel 
(sudhmam).  1)  Hierbei  wird  im  ersten  Viertel  durch  Betrachtung 
des  Hingehens  der  Seele  in  die  andere  Welt  und  ihres  Wieder- 
kommens die  Entsagung  [als  Mittel,  der  Seelenwanderung  zu  ent- 
gehen] in  Betracht  gezogen.  2)  Im  zweiten  Viertel  wird  in  der 
ersten  Hälfte  der  Begriff  des  „Du"  (der  Seele)  und  in  der  zweiten 
Hälfte  der  Begriff  des  „Das"  (des  Brahman)  ins  reine  gebracht 
[wie  sie  in  der  Formel  tat  tvam  asi  „Das  bist  Du",  Chänd.  6,  8,  7, 
identisch  gesetzt  werden].  3)  Im  dritten  Viertel  wird  in  betreff 
des  attributlosen  Brahman  eine  Zusammenfassung  der  in  den  ver- 
schiedenen Vedaschulen  vorkommenden,  soweit  nicht  tautologischen, 
Aussprüche  vorgenommen,  und  bei  dieser  Gelegenheit  wird  erörtert, 
inwieweit    in    betreff    der    attributhaften    sowohl    als     attributlosen 


58  Einleitung  zur  Philosophie  der  Inder. 

Lehren  die  in  verschiedenen  Vedaschulen  vorkommenden  Attribute 
zusammenzufassen  oder  nicht  zusammenzufassen  sind.  4)  Im  vier- 
ten Viertel  werden  die  Mittel  der  Erkenntnis  des  Brahman,  und 
zwar  sowohl  die  aufsenseitigen  (unwesentlichen)  Mittel,  wie  Lebens- 
stadien, Opfer  u.  s.  w. ,  als  auch  die  innenseitigen  (wesentlichen) 
Mittel,  wie  Beruhigung,  Bezähmung,  Überdenkung  u.  s.  w.,  in  Be- 
tracht gezogen. 

IV.  In  der  vierten  Lektion  erfolgt  die  Darlegung  der  beson- 
deren Frucht  (phalam)  der  attributhaften  und  der  attributloseu 
Wissenschaft.  1)  Im  ersten  Viertel  wird  ausgeführt,  wie,  nachdem 
durch  wiederholtes  Anhören  der  Schrift  u.  s.  w.  das  attributlose 
Brahman  vor  Augen  gestellt  worden,  für  den  noch  Lebenden  schon 
die  durch  Nichtanhaftung  der  bösen  und  guten  Werke  gekennzeich- 
nete Erlösung -bei -Lebzeiten  eintritt.  2)  Im  zweiten  Viertel  wird 
die  Art,  wie  die  Seele  des  Sterbenden  auszieht,  überdacht.  3)  Im 
dritten  Viertel  wird  der  weitere  Weg  des  das  attributhafte  Brahman 
Wissenden  nach  dem  Tode  auseinandergesetzt.  4)  Im  vierten  Viertel 
wird  in  der  ersten  Hälfte  gezeigt,  wie  der  das  attributlose  Brahman 
Wissende  die  körperlose  [erst  mit  dem  Tode  eintretende]  Absolut- 
heit erlangt,  während  die  zweite  Hälfte  zeigt,  wie  der  das  attri- 
buthafte Brahman  Wissende  in  der  Brahmanwelt  seine  bleibende 
Stätte  findet. 

Dieses  Lehrbuch  ist  unter  allen  das  hauptsächlichste;  alle 
andern  Lehrbücher  dienen  nur  zu  seiner  Ergänzung.  Darum  sollen 
es  hochachten  die  nach  Erlösung  verlangen;  und  zwar  in  der  Auf- 
fassung, wie  sie  von  des  erlauchten  Qahkara  verehrungswürdigen 
Füfsen  dargelegt  worden  ist.  —  So  viel  über  die  Gehfimlehre 
[den  Vedänta]. 

4.    Die  Dharmacästra's. 

Es  folgen  dann  weiter  die  DJtarmacdstras  (Lehrbücher  über 
Sitte  und  Recht),  welche  von  Manu,  Yäjnavalkya,  Vishnu,  Yama, 
ATigiras,  Vasishfha,  Dalislia,  Samvarta,  Qätätapa,  Parärara,  Gau- 
tama,  Qankha,  LiJiJäta,  Härita,  Apastamba,  Ucanas,  Yydsa.  Kä- 
tyäyana,  Brihaspati,  Devala,  Närada,  PaitMnasi  und  andern  ver- 
f'afst  sind  und  die  speciellen  Pflichten  der  Kasten  und  Lebensstadien 
[obwohl  sie  schon  im  Veda  vorkommen]  noch  für  sich  besonders 
darlegen. 

Ebenso  gehören  das  Mahäbhäratam  des  Yyäsa  und  das 
Rämäyanam  des  Yälmilü  eigentlich  zu  den  Dharmacastra's,  sind 
aber  auch  unter  ihrem  besondern  Namen  als  Itihäsa's  (epische 
Gedichte)  bekannt. 


IV.    Die  philosophische  Litteratur  der  Inder.  59 

Auch  das  Sänkhya-  System  und  andere  gehören  eigentlich 
unter  die  Dharniacastra's,  sollen  jedoch  hier  unter  eigenem  Namen 
aufgeführt  werden,  daher  ihre  Stellung  zum  Ganzen  noch  besonders 
für  sich  anzugeben  sein  wird. 

Weiter  folgen,  den  vier  Veda's  der  Reihe  nach  entsprechend, 
die  vier  Upa/oeda's  [nämlich:  „Der  Upaveda  des  Rigveda  ist  der 
Ayurveda,  der  des  Yajurveda  der  Dhanurveda ,  der  des  Säma- 
veda  der  Gändharvaveda,  der  des  Atharvaveda  das  Qiljpacästram, 
so  hat  es  der  erhabene  Kätyäyana  gelehrt",  Caranavyüha  §  38, 
Ind.  Stud.  III,   280]. 

IT.    Die  Upayeda's. 

I.    Der  Ayurveda. 

Der  Ayurveda  (Gesundheitslehre)  enthält  acht  Hauptstücke, 
nämlich  [die  Übersetzung  mutmafslich] : 

1.  sütram  Hodegetik 

2.  cariram  Anatomie 

3.  aindriyam  Physiologie 

4.  cikitsq  Therapeutik 

5.  nklänam  Diagnose 

6.  vimänam  Receptierkunst  (?) 

7.  vUcalpa  Toxikologie  (?) 

8.  siddhi  magische  Einwirkung. 

Der  Ayurveda  ist  von  Brahman,  Prajäpati,  den  Agvin's,  Dhan- 
vantari,  Indra,  Bharadväja,  Atreya,  Agniveca  und  andern  gelehrt 
und  von  Caraka  zusammengefafst  worden.  Über  denselben  Gegen- 
stand wurde  von  Sugruta  eine  andere  Methodenlehre,  bestehend 
aus  fünf  Hauptstücken  [1.  sütrasthänam  Hodegetik,  2.  nidänasthä- 
nam  Diagnose,  3.  carirastJumam  Anatomie,  4.  cilätsita-stliänam 
Therapeutik,  5.  Tccdpasthänam  Toxikologie;  nebst  6.  idtaratantram: 
a.  cäläkya-tantram  Auge,  Ohr,  Nase,  Kopf,  b.  gärira-adhyäya 
Kinder-  und  Frauenkrankheiten,  c.  Icäyacildtsä  innere  Krankheiten, 
d.  bhidavidyä  Psychiatrik,  e.  Hygienik  u.  a.],  verfafst.  Ebenso  von 
Vägbhata  und  andern  auf  mancherlei  Weise,  doch  so,  dafs  sie 
dieselbe  Disciplin   enthalten. 

Zum  Ayurveda  gehört  ferner  auch  das  Immacästram  (Lehrbuch 
über  den  Geschlechtsgenufs).  Auch  hierüber  wird  dem  Sugruta 
ein     Yäjikaranam     (Über    Aphrodisiaka)     genanntes     kämacastram 


60  Einleitung  zur  Philosophie  der  Inder. 

zugeschrieben.  Ein  anderes  kämacästram,  bestehend  aus  fünf  Lek- 
tionen, rührt  von  Vätsyäyana  her.  Sein  eigentlicher  Endzweck 
aber  ist,  Enthaltsamkeit  vom  Sinnengenusse  zu  lehren,  da  derselbe, 
auch  wenn  in  der  vom  Lehrbuche  illustrierten  Weise  betrieben, 
doch  als  Endergebnis  blofs  Schmerz  hat. 

Der  Zweck  des  Systemes  der  Heilkunde  ist  Erkenntnis  der 
Krankheiten  und  ihrer  Ursachen,    der  Heilungen  und  ihrer  Mittel. 

2.    Der  Dhanurveda. 

Weiter  folgt  der  Dhanurveda  (Bogenkunde,  Kriegswissen- 
schaft) in  vier  Teilen,  von  Vicvämitra  verfafst.  Der  erste  Teil 
ist  der  Weiheteil,  der  zweite  der  Inbegriffteil,  der  dritte  der  Übungs- 
teil, der  vierte  der  Anwendungsteil.  1)  Der  erste  Teil  enthält  den 
Begriff  des  Bogens  (der  Waffe)  und  die  Bestimmung  des  zu  seiner 
Führung  Berechtigten.  Hierbei  wird  das  Wort  dhanus,  welches 
ursprünglich  den  Bogen  bedeutet,  von  allen  dem  Bogen  verwandten 
Waffen  gebraucht.  Diese  sind  von  vier  Arten:  solche  zum  Werfen, 
nicht  zum  Werfen,  zum  Werfen  und  Nichtwerfen,  zum  Werfen 
mittels  einer  Maschine.  Zum  Werfen  dienen  Wurfscheiben  u.  s.  w.: 
nicht  zum  Werfen  Schwerter  u.  s.  w. ;  zum  Werfen  und  Nichtwerfen 
die  Lanzen  in  ihren  verschiedenen  Arten  u.  s.  w. ;  zum  Werfen 
mittels  einer  Maschine  Pfeile  u.  s.  w.  Die  losgelassene  Waffe  heifst 
astram  (Fernwaffe),  die  nichtlosgelassene  castram  (Nahwaffe);  letztere 
ist  wieder  von  mancherlei  Art,  je  nachdem  sie  dem  Brahman. 
Vishnu,  Civa,  Prajäpati,  Agni  u.  s.  w.  geweiht  ist.  Diejenigen 
nun,  welche  die  Berechtigung  haben,  diese  so  mit  Schutzgottheiten 
versehenen  und  durch  Zaubersprüche  geweihten  viererlei  Waffen 
zu  führen,  also  die  Söhne  der  Ksliatriya's  nebst  ihrem  Gefolge, 
zerfallen  in  vier  Klassen,  je  nachdem  sie  zu  Fufs,  zu  Wagen,  zu 
Elefant  oder  zu  Pferde  sind.  Endlich  wird  noch  alles,  was  die 
Weihe,  die  Salbung,  die  Auspicien  und  [sonstigen]  Vorzeichen  be- 
trifft, im  ersten  Teile  überliefert.  2)  Im  zweiten  Teile  wird  über 
alle  Arten  der  Waffen  und  den,  der  sie  gebrauchen  lehrt,  unter 
vorhergehender  Definition  eine  Art  Inbegriff  gegeben.  3)  Die 
wiederholte  Einübung  in  den  mannigfachen,  unter  Anleitung  des 
Meisters  erlernten  Waffen  sowie  die  Bewirkung  ihrer  Zauberübung 
dadurch,  dafs  man  sie  mit  Sprüchen  bespricht  und  Gottheiten 
weiht,  wird  im  dritten  Teile  behandelt.  4)  Endlich  wird  im  vier- 
ten Teile  davon  gehandelt,  wie  die  durch  Verehrung  der  Gottheiten, 
durch  Übung  u.  s.  w.  wirkungskräftig  gewordenen  Waffenarten  in 
rechter  Weise  zu  gebrauchen  sind. 


IV.    Die  philosophische  Litteratur  der  Inder.  61 

Dafs  die  Kshatriya's  die  ihnen  obliegende  Pflicht  üben,  zu 
kämpfen,  die  Bösen  zu  bestrafen,  die  Unterthanen  vor  Dieben  u.  s.  w. 
zu  schützen,  das  ist  der  Zweck  des  Dhanurveda;  und  diesem  dient 
das  von  Brahman,  Prajäpati  u.  s.  w.  überkommene  und  von  Vigvä- 
mitra  aufgestellte  Lehrbuch  ihrer  Pflichten. 

i  3.    Der  Gändharvaveda. 

Der  Gändharvaveda  ferner  ist  von  dem  verehrungswürdigen 
Bharata  verfafst.  Er  zerfällt  in  die  Lehre  vom  Gesänge,  vom 
Instrumentenspiele  und  vom  Tanze  und  hat  einen  mannigfachen 
Inhalt.  Die  Götter  [der  Sinnesorgane]  zu  befriedigen  und  dadurch 
die  Fähigkeit  zu  einer  unentwegten  Meditation  zu  gewinnen,  das 
ist  der  eigentliche  Zweck  des  Gändharvaveda. 

4.    Das  Arthacästram. 

Auch  das  Arthagästram  (Lehrbuch  für  praktische  Zwecke) 
ist  vielfach;  als  Lehrbuch  der  Lebensklugheit,  Lehrbuch  der  Pferde- 
behandlung, Lehrbuch  der  Künste  und  Handwerke,  Lehrbuch  der 
Kochkunst  und  Lehrbuch  der  vierundsechzig  Künste  ist  es  von 
mancherlei  Weisen  in  seiner  Gesamtheit  hervorgebracht;  und  diese 
Gesamtheit  gliedert  sich  je  nach  den  besondern,  auf  weltliche  Dinge 
bezüglichen  Zwecken. 

Anhang. 

Das  sind  die  achtzehn  Disciplinen,  wie  sie  unter  dem  Worte 
trayi  (die  Dreiheit  der  Veden)  befafst  werden,  wenn  anders  nicht 
eine  Unzulänglichkeit  [der  Veden  für  sämtliche  Zwecke  des  Men- 
schen]  eintreten  soll  [was  a  priori  unmöglich  ist]. 

So  gehört  denn  auch  zu  ihnen  das  Lehrbuch  der  Sänkhya's, 
wie  es  von  dem  verehrungswürdigen  Kapila  verfafst  ist.  Dasselbe 
fängt  an  mit  den  Worten:  „Nunmehr  das  absolute  Aufhören  der 
dreifachen  Schmerzen  als  das  absolute  Endziel  des  Menschen"  und 
besteht  aus  sechs  Lektionen.  In  der  ersten  Lektion  werden  die 
Gegenstände  der  Forschung  in  Betracht  gezogen ;  in  der  zweiten 
Lektion  die  Produkte  der  Grundursache;  in  der  dritten  Lektion 
die  Lossagung  von  den  Sinnendingen;  in  der  vierten  Lektion  folgt 
die  Erzählung  von  Beispielen  solcher,  welche,  wie  Piugalä  (4,11), 
der  Seeadler  (Icurara  4,5)  und  andere,  sich  losgesagt  haben;  in 
der  fünften  Lektion  die  Beseitigung  gegnerischer  Einwürfe;  in  der 
sechsten  Lektion  ein  Resume  des  ganzen  Inhalts.  Der  Zweck 
der  Sänkhyalehre  ist  die  Erkenntnis  der  Verschiedenheit  der  Natur 
und  der  Seele. 


432  Einleitung  zur  Philosophie  der  Inder. 

Ferner  gehört  hierher  das  Lehrbuch  des  Yoga,  wie  es  von 
dem  verehrungswürdigen  Patanjali  verfafst  ist.  Dasselbe  fängt 
an  mit  den  Worten:  „Nunmehr  die  Anweisung  zur  Hingebung 
(yoga)u  und  besteht  aus  vier  Teilen.  1)  Im  ersten  Teile  wird  die 
in  der  Hemmung  der  Gedankengeschäftigkeit  bestehende  Versenkung 
(samädlii)  nebst  Übung  und  Entsagung  als  ihren  Mitteln  dargestellt. 
2)  Der  zweite  Teil  handelt  von  den  acht  Stufen,  durch  welche 
auch  ein  zerstreuter  Geist  zur  Versenkung  gelangen  kann,  nämlich: 
Enthaltung,  Bezähmung,  Körperhaltung,  Coercierung  des  Atems, 
Restriktion,  Fixierung,  Absorption  und  Versenkung.  3)  Der  dritte 
Teil  schildert  die  Machtentfaltungen  des  Yoga;  4)  der  vierte  Teil 
seine  Absolutheit.  —  Der  Zweck  des  Yoga  ist,  durch  Unterdrückung 
entgegenstehender  Vorstellungen  die  hingebende  Meditation  zu  be- 
wirken. 

Ebenso  ist  weiter  die  von  Pagujpati  (dem  Herrn  der  Geschöpfe. 
Qiva)  erdachte  Lehre  der  Päcupata's  zum  Zwecke,  durch  den 
Herrn  der  Geschöpfe  das  Geschöpf  von  seinen  Fesseln  zu  erlösen, 
und  anfangend  mit  den  Worten:  „Nunmehr  daher  wollen  wir  die 
Weise  der  Hingebung  des  Päcupata  erklären"  in  fünf  Lektionen 
abgefafst  worden.  Hierbei  kommen  durch  alle  fünf  Lektionen  zur 
Darstellung:  1)  als  Wirkung:  die  individuelle  Seele,  „das  Ge- 
schöpf" (paeu);  2)  als  Ursache:  „der  Herr"  (pati),  das  heifst 
Gott;  3)  als  die  Hingebung  an  den  Herrn  der  Geschöpfe:  das 
Versenken  der  Gedanken;  4)  als  die  Weise  dieser  Hingebung:  sich 
an  den  drei  Spendezeiten  des  Tages  mit  Asche  zu  waschen  u.  s.  w. 
5)  Der  Zweck  ist  die  „Schmerz-Ende"  benannte  Erlösung.  Das 
sind  die  fünf  Hauptbegriffe :  Wirkung,  Ursache,  Hingebung,  Weise 
und  Schmerz-Ende,  wie  sie  benannt  werden. 

Weiter  ist  da  das  vishnuitische ,  von  Närada  und  andern 
verfafste  Paiicarätram.  In  diesem  werden  Yäsiideva,  Samkarshana, 
Pradyumiui  und  Aniriiddlia  als  die  vier  Grundbegriffe  besprochen. 
Der  verehrungswürdige  Yäsiideva  ist  die  Ursache  von  allem,  der 
höchste  Gott;  aus  ihm  entspringt  die  Sanikar  shana  genannte  indi- 
viduelle Seele;  aus  dieser  Pradyumna ,  das  heifst  das  Manas;  aus 
diesem  Aniruddl/a,  das  heilst  der  Ahamkära.  Alle  diese  aber  sind 
uur  Teile  des  verehrungswürdigen  Väsudeva  und  daher  von  ihm 
ungetrennt;  daher  derjenige,  welcher  den  verehrungswürdigen  Vä- 
sudeva durch  sein  Verhalten  in  Gedanken,  Worten  und  Werken 
zufriedenstellt,  ein  die  Aufgabe  erfüllt  Habender  ist,  wie  es  zu 
Anfansf  der  Darstellung  heifst. 


IV.    Die  philosophische  Litteratur  der  Inder.  63 

Nachwort. 

Damit  wäre  denn  die  Mannigfaltigkeit  der  Methoden  dargelegt. 
Fassen  wir  alles  zusammen,  so  giebt  es  eigentlich  nur  drei  ver- 
schiedene Wege: 

1)  ärambha-väda,  Behauptung  einer  Aggregation  [eines  An- 
fangs  durch  mechanische  Verbindung], 
'2)  parinäma-väda:     Behauptung     einer     qualitativen     Um- 
wandlung, 
3)  vivarta-väda   Behauptung    einer    subjektiven    Täuschung 
[wörtlich:  einer  Entstellung]. 

1)  Die  erste  Theorie  behauptet,  dafs  die  vierfachen,  nämlich 
erdartigen,  wasserartigen,  feuerartigen  und  luftartigen  Atome  im 
Fortschritte  der  Verbindung  zu  Doppelatomen  u.  s.  w.  die  im 
Brahman-Ei  [dessen  Schalen  Himmel  und  Erde  sind,  also  im  Uni- 
versum] sich  vollendende  Welt  hervorbringen.  Hiernach  ist  die 
Wirkung  [d.  h.  die  Welt]  also  zuerst  nichtseiend  und  entsteht  erst 
durch  die  Thätigkeit  eines  Wirkenden.  Dieses  ist  die  Ansicht  der 
Tärkika's  (Nyäya,  Vakeshikam)  und  der  Mimänsaka's  (?). 

2)  Die  zweite  Theorie  behauptet,  dafs  die  aus  den  drei  Be- 
stimmtheiten, Sattvam,  Itajas  und  Tamas,  bestehende  Urmaterie 
selbst  durch  MaJiad,  Ahankära  u.  s.  w.  hindurch  sich  zu  der  Ge- 
stalt der  Welt  umwandelt.  Hiernach  ist  die  Weltwirkung  schon 
vor  ihrem  Entstehen  ein  in  subtiler  Form  Seiendes  und  wird  durch 
die  Thätigkeit  der  Weltursache  nur  offenbar  gemacht  (lies:  ablü- 
vyajyate).  Dieses  ist  die  Ansicht  der  Sänkhya's  und  der  dem 
Yoga  (der  Hingebung)  huldigenden  Pätahjala's  und  Pägupata's, 
während  die  Vaishnava's  die  Welt  für  eine  [gleichfalls  nur  quali- 
tative]  Umwandlung   des  Brahman   erklären. 

3)  Die  dritte  Theorie  lehrt,  dafs  das  durch  sich  selbst  leuch- 
tende, höchster  Wonne  volle,  zweitlose  Brahman  infolge  der  ihm 
einwohnenden  Zauberkraft  (mäyä)  nur  irrtümlich  sich  in  Gestalt 
der  Welt  darstellt.  Dies  ist  die  Ansicht  der  Brahmavädin's  (der 
Vedänta  -  Lehrer). 

Eigentlich  laufen  die  Ansichten  aller  der  Weisen,  welche  diese 
Methoden  geschaffen  haben,  auf  die  Lehre  des  Virarta  (der  sub- 
jektiven Täuschung)  hinaus*  und  bezwecken  somit  am  letzten  Ende, 


*  Diese,  uns  ganz  aus  der  Seele  gesprochenen  Worte  des  wackern 
Madhusüdana  würden,  in  unserer  Sprache  ausgedrückt,  besagen,  dafs  alle 
Philosophen  sich  der  Lehre  dunkel  hewufst  gewesen  sind,  welche  Kant  zu 
wissenschaftlicher  Evidenz  erhob,  dafs  die  Welt  nur  Erscheinung  und  nicht 
Ding  an  sich  ist. 


64  Einleitung  zur  Philosophie  der  Inder. 

den  zweitlosen  höchsten  Gott  kennen  zu  lehren.  Denn  diese  "\\  eisen 
können  doch  nicht  geirrt  haben,  da  sie  ja  allwissend  waren.  Aber 
sie  erkannten,  dafs  solche,  welche  den  Sinnendingen  zugeneigt  sind, 
nicht  mit  einem  Male  zur  Erkenntnis  des  Endzieles  des  Menschen 
gebracht  werden  können ,  und  um  sie  daher  wenigstens  vor  der 
negativen  Richtung  zu  bewahren,  stellten  sie  ihre  mannigfachen 
Lehrmethoden  auf.  Aber  die  Menschen  haben  diese  ihre  Endabsicht 
nicht  erkannt,  halten,  auch  wo  jene  etwas  dem  Veda  "Widerspre- 
chendes lehren,  dieses  für  ihre  Endabsicht,  und  indem  sie  eine 
solche  Meinung  als  ernstgemeint  annehmen,  finden  sie  ihre  Befrie- 
digung auf  diesen  mancherlei  Abwegen.  Als  Ganzes  genommen 
aber  ist  sie  [die  Vedalehre  mit  ihren  Dependenzien]  tadellos. 

Ende 
des  Prasthänahheda  des  Madhusüdana  -  Sarasvati. 


V.  Der  Veda  und  seine  Teile. 

Für  die  beiden  ersten  der  drei  Perioden,  in  die  wir  oben 
(S.  43)  die  indische  Geschichte  eingeteilt  haben,  d.  h.  für  die 
Hymnenzeit  und  die  Brähmanazeit,  bildet  die  einzige 
Quelle,  aus  der  wir  unsere  Kenntnis  des  Kulturlebens  der 
Inder  und  somit  auch  ihrer  Philosophie  zu  schöpfen  haben, 
der  Veda,  unter  dem  wir  nicht  ein  einzelnes  Buch,  wie  den 
Koran,  auch  nicht  eine  irgend  einmal  veranstaltete  Sammlung 
von  Büchern,  wie  die  Bibel,  sondern  die  noch  nie  zu  einer 
Sammlung  vereinigt  gewesene  Gesamtheit  derjenigen  Schrif- 
ten zu  verstehen  haben,  welchen  der  orthodoxe  Inder  über- 
menschlichen Ursprung  und  göttliche  Autorität  zuschreibt, 
und  die  er  demgemäfs  als  die  Richtschnur  für  sein  Denken 
wie  für  sein  Handeln  betrachtet.  Die  Litteratur  der  Inder 
ist  also  in  der  altern  Zeit,  etwa  bis  500  a.  C,  ausschlielslich 
eine  heilige,  aus  welcher  sich  erst  in  der  folgenden  Periode, 
die  wir  die  Sanskritzeit  nannten,  eine  profane  Litteratur 
entwickelt.  Diese  Erscheinung,  welche,  in  etwas  veränderter 
Weise,  bei  den  Chinesen,  Iraniern  und  Hebräern  wiederkehrt, 
ist  eine  leicht  verständliche;  sie  beruht  darauf,  dafs  in  den 
ältesten  Zeiten  eines  Volkes  der  Priesterstand  im  alleinigen 
Besitze   aller  höhern  Bildung  (daher   z.  B.    auch   der  Medizin 


V.   Der  Veda  und  seine  Teile.  65 

und  Astronomie)  zu  sein  pflegt,  dafs  somit  die  Pfleger  der 
Religion  auch  die  einzigen  Pfleger  der  Litteratur  waren.  Erst 
in  einer  spätem  Zeit  dringen  mit  dem  zunehmenden  Wohl- 
stande materielle  Unabhängigkeit  und  geistige  Bildung  in 
weitere  Kreise  ein,  und  es  kommt  zu  einer  zweiten,  profanen 
Periode  der  Litteratur.  So  bei  den  Indern  und  Chinesen; 
und  so  würde  sich  vermutlich  auch  bei  den  Hebräern  an  die 
kanonische  Litteratur  eine  (schon  in  den  Jüngern  Schriften  des 
Kanons  ihrem  Aufkeimen  nach  sehr  wohl  merkliche)  weltliche 
Litteratur  angeschlossen  haben,  wäre  nicht  ihrem  nationalen 
Leben  vor  der  Zeit  ein  jähes  Ende  bereitet  worden. 

Bei  dieser  Lage  der  Sache  werden  wir  für  Indien  vor 
allem  andern  die  Frage  aufzuwerfen  und  in  der  Kürze  zu 
beantworten  haben:  was  ist  eigentlich  jenes  merkwürdige  und 
vielbesprochene  Denkmal  ältester  indischer  Kultur,  was  ist 
der  Veda?  Zur  Beantwortung  wollen  wir  unsere,  als  Ein- 
leitung in  „das  System  des  Veclänta"  S.  5  fg.  gegebene  Dar- 
stellung im  wesentlichen  hier  herübernehmen. 

Der  grofse,  noch  nicht  völlig  zu  übersehende  Schriften- 
komplex,  welcher  den  Namen  Veda,  d.  h.  „das  (theologische, 
in  der  ältesten  Zeit  alles  befassende)  Wissen"  führt,  und  dessen 
Umfang  den  der  Bibel  wohl  mehr  als  sechsmal  übertreffen 
mag,  gliedert  sich  zunächst  in  vier  Abteilungen: 
I.  Rigveda,  der  Veda  der  Verse. 
IL  Sämaveda,  der  Veda  der  Lieder. 

III.  Yajurveda,  der  Veda  der  Opfersprüche. 

IV.  Atharvaveda ,  der  Veda  des  Atharvan. 

Bei  jedem  dieser  vier  Veden  haben  wir  drei,  nach  Inhalt, 
Darstellungsform  und  Zeitalter  verschiedene  Schriftgattungen 
zu  unterscheiden: 

A.  die  Samhitä,  Sammlung, 

B.  das  Brähmanam,  rituelle  Erklärung, 

C.  das  Sütram,  Leitfaden. 

Endlich  sind  die  meisten  dieser  zwölf  Abteilungen,  je  nach 
den  Schulen,  denen  sie  zum  Studium  dienten,  in  verschiedenen, 
mehr  oder  weniger  abweichenden  Redaktionen  vorhanden, 
welche  man  gewöhnlich  als  die  QäTcka's,  d.  h.  als  „die  Zweige" 
des  Vedabaumes,  bezeichnet. 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.    I.  5 


QQ  Einleitung  zur  Philosophie  der  Inder. 

Zum  Verständnisse  dieser  komplizierten  Verhältnisse  wird 
es  förderlich  sein,  fürs  erste  die  Gestalt  zu  betrachten,  in 
welcher  der  Veda  gegenwärtig  vorliegt,  indem  wir  dabei  noch 
absehen  von  dem  mehr  als  tausendjährigen  Entwicklungspro- 
zesse, durch  welchen  er  zu  dieser  Gestalt  erwachsen  ist. 

Zunächst  nun  sind  die  vier  Veden  in  der  Form,  wie  sie 
uns  entgegentreten,  nichts  anderes  als  die  Manuale  der 
brahmanischen  Priester  (ritvij),  welche  diesen  das  zum 
Opferkultus  erforderliche  Material  an  Hymnen  und  Sprüchen 
an  die  Hand  geben,  sowie  den  rechten  Gebrauch  desselben 
lehren  sollen.  Zu  einer  vollständigen  Opferhandlung  nämlich 
gehören  vier,  ihrem  Studiengange  und  Amte  nach  verschiedene 
Hauptpriester : 

I.  Der  Hotar  (Rufer),  welcher  die  Verse  (ric)  der 
Hymnen  recitiert,  um  dadurch  die  Götter  zum  Ge- 
nüsse des  Soma  oder  sonstigen  Opfers  einzuladen; 
II.  der  Udgätar  (Sänger),  der  die  Bereitung  und  Dar- 
bringung des  Soma  mit  seinem  Gesänge  (saman) 
begleitet; 

III.  der  Adhvaryu  (ausübender  Priester),  welcher  die 
heilige  Handlung  vollzieht,  während  er  die  entspre- 
chenden Verse  und  Opfersprüche  (yajus)  hermurmelt ; 

IV.  der  B  rahm  an  (Oberpriester),  dem  die  Beaufsich- 
tigung und  Leitung  des  Ganzen  obliegt. 

Das  kanonische  Buch  für  den  Hotar  ist  der  Rigveda 
(wiewohl  die  Rigveda-samhitä  schon  von  Haus  aus  eine  weiter 
greifende,  nicht  blol's  rituelle,  sondern  litterarische  Bedeutung 
hat),  das  für  den  Udgätar  der  Sämaveda,  das  für  den  Adh- 
varyu der  Yajurveda,  während  hingegen  der  Atharvaveda 
mit  dem  Brahmän,  der  alle  drei  Veden  kennen  mufs,  eigent- 
lich nichts  zu  thun  hat  und  sich  nur  zum  Scheine  in  Beziehung 
zu  demselben  setzt,  um  seiner  Erhebung  zur  Dignität  eines 
vierten  Veda,  die  ihm  lange  Zeit  verweigert  wurde,  Vorschub 
zu  leisten  (so  schon  Gopatha-brälimanam  1,2,24).  Praktische 
Verwendung  findet  derselbe  a.  um  Feinde  und  Widersacher 
durch  Zaubersprüche  zu  schädigen,  b.  um  fremden  Zauber  von 
sich  abzuwehren,  c.  um  das  eigene  Gedeihen  zu  befördern, 
und  zwar  einerseits  im  Privatleben  und  beim  häuslichen  Kultus 


V.   Der  Veda  und  seine  Teile.  67 

(Geburt,  Hochzeit,  Totenbestattung,  Krankheiten,  Erntesegen, 
Viehbesprechungen  u.  s.  w.),  anderseits  bei  gewissen  Staats- 
aktionen (Königsweihe,  Schlachtsegen,  Verwünschung  der 
Feinde  u.  s.  w.);  in  letzterer  Hinsicht  ist  er  der  Veda  der 
Kshatriya- Kaste,  wie  die  drei  andern  Veden  die  der  Brah- 
manen  sind,  und  mag  in  einem  ähnlichen  Verhältnisse  zum 
Purohita  (Hauskaplan  des  Fürsten)  gestanden  haben,  wie  jene 
zu  den  Ritvij''s  (Opferpriestern). 

Jeder  der  genannten  Priester  bedarf  bei  seinen  Verrich- 
tungen zweierlei:  eine  Sammlung  von  Gebetsformeln  (mantra) 
und  eine  Anweisung  zur  richtigen  liturgischen  Und  rituellen 
Verwendung  derselben  (brälimanam).  Beide  finden  wir,  mit 
Ausnahme  des  schwarzen  Yajurveda,  mehr  oder  weniger  streng 
von  einander  gesondert  und  in  zwei  verschiedene  Abteilungen 
(Samlätä  und  Brähmanani)  verwiesen. 

A*  Die  Samhitä  jedes  Veda  ist,  wie  der  Name  besagt, 
eine  „Sammlung"  der  ihm  zugehörigen  Mantra's,  welche  ent- 
weder Verse  (fic)  oder  Gesänge  (säman)  oder  Opfersprüche 
(yajus)  sind.     So  besteht 

I.  die  Rigvecla-samhitä  aus  1017  Hymnen  in  10580 
Versen,  aus  welchen  der  Hotar  den  für  den  jedesmaligen 
Zweck  erforderlichen  Preisruf  (qastram)  zusammenzustellen  hat; 

II.  die  Sämaveda-samhitä  enthält  eine,  wenn  nicht 
aus  der  Rigveda-samhita,  so  doch  aus  dem  dieser  zu  Grunde 
liegenden  Materiale  getroffene  Auswahl  von  1549  (oder,  mit 
den  Wiederholungen,  1810)  Versen,  welche  bis  auf  78  sämt- 
lich auch  im  Rigveda  sich  vorfinden  und  zum  Zwecke  des 
Gesanges  (säman)  weiterhin  in  mannigfacher  Weise  moduliert 
werden; 

III.  die  Samhitä  des  weifsen  Yajurveda  enthält 
teils  Opfersprüche  (yajus)  in  Prosa,  teils  Verse,  welche  letztere 
ebenfalls  gröfstenteils  aus  dem  Materiale  der  Rigvecla-samhitä 
entnommen  sind;  hingegen  besteht 

IV.  die  Atharvaveda- samhitä  wiederum  aus  760 
Hymnen,  von  denen  nur  etwa  ein  Sechstel  ihr  mit  dem  Rig- 
veda  gemeinsam  ist,  während  die  übrigen  eine  selbständige, 
in  vieler  Hinsicht  ganz  eigentümliche  Stellung  in  dem  Ganzen 
der  vedischen  Mantra- Litteratur  einnehmen,  wovon  später. 

5* 


68  Einleitung  zur  Philosophie  der  Inder. 

Jede  dieser  vier  Samhitä's  ist,  je  nach  den  gäk/uVs  oder 
Schulen,  in  denen  sie  studiert  wurden,  in  verschiedenen  Re- 
censionen  vorhanden,  welche  jedoch  in  der  Kegel  nicht  erheb- 
lich von  einander  abweichen.  Anders  ist  es,  wie  sogleich  zu 
zeigen,   mit  der   zweiten  Abteilung   der   vedischen   Litteratur. 

B.  Das  Brälimanani ,  dessen  nächste  Bestimmung  im 
allgemeinen  die  ist,  den  praktischen  Gebrauch  des  in  der  Sain- 
hitä  vorliegenden  Materials  zu  lehren,  geht  in  seiner  meist 
sehr  breiten  Anlage  weit  über  diesen  unmittelbaren  Zweck 
hinaus  und  zieht  mancherlei  in  seinen  Bereich,  was  man  (mit 
Madhusüdana,  oben,  S.  47  fg.)  unter  den  drei  Kategorien  vidhi, 
arthaväda  und  veddnta  unterbringen  kann.  a.  Als  Vidhi 
(d.  h.  Vorschrift)  befiehlt  das  Brähmanam  die  Ceremonie,  er- 
örtert ihre  Veranlassung  sowie  die  Mittel  zu  ihrer  Ausführung 
und  schildert  endlich  den  Gang  der  heiligen  Handlung  selbst, 
b.  Hieran  schliefsen  sich  unter  dem  Namen  Arthaväda  (d.  h. 
Erklärung)  die  mannigfachsten  Erörterungen,  welche  den  In- 
halt der  Vorschrift  exegetisch,  polemisch,  mythologisch,  dog- 
matisch u.  s.  w.  begründen  sollen,  c.  Hierbei  nun  erhebt  sich 
die  Betrachtung  zu  Gedanken  philosophischer  Art,  welche, 
weil  sie  meist  gegen  Ende  der  Brähmana's  vorkommen,  Ve- 
dänta  (d.  h.  Veda-Ende)  heifsen.  Sie  sind  der  wesentlichste 
Inhalt  der  Nachträge  zu  den  Brähmana's,  welche  Arcmyalca's 
heifsen,  und  deren  ursprüngliche  (wiewohl  nicht  streng  durch- 
geführte) Bestimmung  gewesen  zu  sein  scheint,  für  das  Leben 
im  Walde  (aranyam),  welchem  der  Brahmane  im  Greisenalter 
obliegen  soll,  einen  Ersatz  für  den,  wenn  nicht  ganz  weg- 
fallenden, so  doch  wesentlich  beschränkten  Kultus  zu  bieten. 
Wie  dem  auch  sei,  Thatsache  ist,  dafs  wir  in  ihnen  vielfach 
eine  wundersame  Vergeistigung  des  Opferkultus  antreffen:  an 
die  Stelle  der  praktischen  Ausführung  der  Ceremonie  tritt  die 
Meditation  über  dieselbe  und  mit  ihr  eine  symbolische  Um- 
deutung,  welche  dann  weiter  zu  den  erhabensten  Gedanken 
hinüberleitet.  Die  wichtigsten  Stücke  dieser  Aranyaka's  hob 
man  später  unter  dem  Namen  Upanishad  aus  ihnen  heraus 
und  fafste  sie  aus  den  verschiedenen  Veden  zu  einem  Ganzen 
zusammen;  ursprünglich  aber  hat,  wie  wir  annehmen  müssen, 
jede   Vedaschule    ihr   besonderes   rituelles   und   daneben    ein 


V.  Der  Veda  und  seine  Teile.  69 

mehr  oder  weniger  reiches  dogmatisches  Textbuch,  also  ein 
Brähmanam  und  eine  Upanishad  gehabt,  und  wenn  wirklich, 
wie  die  Muktika -Upanishad  (Ind.  St.  III,  324)  behauptet,  in 
den  vier  Veden  21  +  1000  +  109  +  50  =  1180  Cäkhä's  be- 
standen hätten,  so  müfste  es  auch,  wie  sie  daraus  folgert, 
1180  Cpanishads  gegeben  haben.  In  Wirklichkeit  stellt  sich 
jedoch  die  Sache  viel  einfacher,  sofern  die  Anzahl  der  Cäkhä's, 
die  wir  wirklich  kennen,  sich  für  jeden  Veda  auf  einige  wenige 
beschränkt,  deren  Textbücher  den  gemeinsamen  rituellen  und 
dogmatischen  Stoff  in  verschiedener  Anordnung,  Bearbeitung 
und  Ausführung  darbieten.     So  sind  uns 

I.  zum  Rigveda  nur  zwei  Cäkhä's  näher  bekannt,  1)  die 
der  Aitareyin's  und  2)  die  der  Kaushltakin's,  deren  jede 
ein  Brähmanam  und  ein  Aranyakam  besitzt,  welches  letztere 
die    Upanishad  der  Schule  einschliefst. 

II.  Zum  Sämaveda  kennen  wir  für  die  Brähmana- Ab- 
teilung bis  jetzt  genau  und  vollständig  nur  eine  Cäkhä,  näm- 
lich 3)  die  der  Tändin's,  auf  welche  aufser  dem  Pancavinga- 
brähmanam  und  seinem  Nachtrage,  dem  Shadvihga-brähmanam^ 
auch  das  noch  nicht  näher  bekannte  Chdndogya -brähmanam 
sowie  auch  die  Chändogya-  Upanishad  zurückgehen  dürften. 
4)  Ein  zweites,  selbständiges  Ritualbuch  zum  Sämaveda  ist 
möglicherweise  das  Talavakära-brähmanam  der  Jaiminiya- 
$äkhä,  nach  Burneil  in  fünf  Lektionen,  deren  vorletzte 
die  bekannte,  kleine  Kena- Upanishad  enthält,  während  die 
letzte  aus  dem  Arshcyabrähmatiam  besteht.  Dieses,  wie  auch 
die  Tier  übrigen  Brähmana's  des  Sämaveda  (Sämavidhäna, 
Vahqa,    Devatädhyäya ,    Samhitopanishad),    können    auf    den 

Namen    selbständiger    Textbücher    von    Schulen    keinen    An- 
spruch machen. 

III.  Beim  Yajurveda  haben  wir  zwei  Formen  zu  unter- 
scheiden: a.  den  schwarzen  (d.  h.  ungeordneten)  und  ß.  den 
weifsen  (geordneten)  Yajurveda.  a.  Der  schwarze  Yajur- 
veda enthält  den  brähmana -artigen  Stoff  mit  den  Mantra's 
verbunden  bereits  in  der  Samhitä;  in  solcher  Form  haben  uns 
den  Yajurveda  die  drei  Schulen  der  Taittiriyaka's  (deren 
Brähmanam  und  Aranyakam  blofse  Fortsetzungen  der  Samhitä 
sind),    der    Katha's    und    der    Mäiträyaniya's    überliefert. 


70  Einleitung  zur  Philosophie  der  Inder. 

5)  Das  Aranyakäm  der  Taittiriyaka's  enthält  am  Schlüsse 
zwei  Upanishad's,  die  Taittiriya-  (Buch  VII.  VIII.  IX)  und 
die  Nardyamya -Upanishad  (Buch  X).  6)  Zur  Schule  der 
Katha's  gehört  die  Käthaka- Upanishad,  die  heute  nur  noch 
in  einer  Atharva-Iiecension  vorhanden  ist;  7)  unter  dem  Namen 
der  Maitri- Upanishad  ist  uns  ein  spätes  Produkt  von  sehr 
apokryphem  Charakter  erhalten;  8)  den  Namen  einer  vierten 
Cäkhä  des  schwarzen  Yajurveda,  der  Qvetäcvatara's,  trägt 
eine  metrisch  abgefafste  Upanishad  von  civaitischem  Charakter, 
die  indes  von  den  Vedänta-Theologen  vielfach  herangezogen 
wird.  ß.  Im  Gegensatze  zu  den  Cäkhä's  des  schwarzen  Ya- 
jurveda haben  9)  die  Väjasaneyin's,  die  Hauptschule  des 
weifsen  Yajurveda,  nach  Art  der  übrigen  Veden  Mantra's 
und  Brähmana's  gesondert;  erstere  sind  in  der  Vdjasaneyi- 
samhitä  zusammengefafst,  letztere  bilden  den  Inhalt  des  (Jata- 
patha-brälimanam,  dessen  letzter  Teil  (Buch  XIV)  die  gröfste 
und  schönste  aller  Upanishad's,  das  Brihadäranyakam  enthält. 
Ein  ihr  nahe  verwandtes  Stück  ist  (wohl  nur  wegen  seiner 
metrischen  Form)  der  Väjasaneyi-samhitä  als  Buch  XL  ange- 
hängt worden  und  heifst,  nach  dem  Anfangsworte  die  Jcä- 
Upanishad;  im  Kanon  des  Anquetil  Duperron  werden  noch 
vier  andere  Stücke  derselben  SamhitA,  Qaiarudriyam  (B.  XVI), 
Purusha-süktam  (XXXI),  Tadeva  (XXXII)  und  Civasamkalpa 
(XXXIV,  Anfang)  als  Upanishad's  aufgeführt.  Als  eine 
zweite  Schule  des  weifsen  Yajurveda  werden  10)  die  Jäbäla"s 
anzusehen  sein,  deren  Upanishad ,  wie  es  scheint,  in  ver- 
kürzter Form  in  einer  Atharva-Recension  erhalten  ist. 

IV.  Zum  Atharvaveda  gehört  11)  das  Gopatha-brdh- 
manam,  ein  Werk  von  vorwiegend  kompilatorischem  Charakter 
und  ohne  nähere  Beziehungen  zur  Samhitä.  Ebenso  haben 
sich  an  den  Atharvaveda,  der  wohl  nicht  in  dem  Grade  wie 
die  andern  Veden  durch  zünftige  Überwachung  vor  neuen 
Eindringlingen  geschützt  sein  mochte,  eine  lange  lieihe  meist 
kurzer  Upanishad's  angeschlossen,  von  denen  viele  einen  ganz 
apokryphen  Charakter  haben  und  nichts  anderes  als  die  Text- 
bücher späterer  indischer  Sekten  sind.  Von  den  Vedäntatheo- 
logen  werden  nur  einige  von  ihnen,  wie  namentlich  die  Mua- 
daka-,Pracna-  und  Mdndiikya-  Upanishad  anerkannt  und  benutzt. 


V.    Der  Veda  uud  seine  Teile.  71 

C.  Eine  dritte  und  letzte  Stufe  der  vedischen  Litteratur 
bilden  die  gleichfalls  nach  Veden  und  Cäkhä's  (deren  Verhält- 
nisse jedoch  vielfach  verschoben  erscheinen)  verschiedenen 
Sütra's,  welche  den  Inhalt  der  Brähmana's,  auf  denen  sie 
beruhen,  abkürzend,  systematisierend  und  vervollständigend 
zum  Zwecke  des  praktischen  Gebrauches  zusammenfassen,  in 
kompendiösester,  vielfach  index -artiger  Form  und  in  dem 
lapidaren,  ohne  Kommentare  oft  ganz  unverständlichen  Stile, 
zu  welchem  sich  auch  die  grammatische  und,  wie  bereits  er- 
wähnt (S.  24),  die  philosophische  Litteratur  in  Indien  zuge- 
spitzt hat.  Die  vedischen  Sütra's  befassen  drei  Arten:  a.  die 
Crauta- sütra's,  welche  den  öffentlichen  Kultus,  b.  die  Gri- 
hya-sütra's,  welche  die  häuslichen  Gebräuche  (bei  Geburt, 
Hochzeit,  Totenbestattung)  regeln,  und  c.  die  Dharma-sütra's, 
in  denen  die  Pflichten  der  Kasten  und  Lebensstadien  ausein- 
andergesetzt werden  und  aus  denen  die  spätem  Gesetzbücher 
des  Manu  u.  s.  w.  hervorgegangen  sind.  Wie  die  Crauta- 
siitra's  auf  der  Qruti  (d.  h.  der  göttlichen  Offenbarung),  so 
beruhen  die  beiden  andern  Klassen  auf  der  Smriti  (d.  h.  der 
Tradition)  und  dem  Acara  (d.  h.  dem  Usus);  eine  kanonische, 
übermenschliche  Autorität  kommt  den  Sütra's  nicht  zu,  sondern 
nur  den  Mantra's  und  Brähmana's  mit  Einschlufs  der  Upani- 
shad's,  welche  letztere  daher  den  Vedänta,  das  „Ende  des  Veda" 
bilden,  während  die  Sütra's  noch  zu  ihm  gehören,  aber  doch 
schon  (oben  S.  42)  aufserhalb  des  Kanons  stehen. 


Erste  Periode  der  indischen  Philosophie : 
Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda, 

(ca.  1500  —  1000  a.  C.) 


I.   Die  altvedische  Kultur. 

Das  älteste  Denkmal  in  dem  ausgebreiteten  vedischen 
Litteraturkreise  (und  somit  wohl  das  älteste  litterarische 
Denkmal  der  Menschheit  überhaupt)  sind  die  Hymnen  des 
Rigveda,  sofern  sie,  ihrem  Hauptbestande  nach,  in  eine  Zeit 
zurückgehen,  wo  die  Inder  noch  nicht  im  Gangesthaie,  sondern 
im  Stromgebiete  des  Indus  wohnten,  noch  keine  Kasten,  keinen 
privilegierten  Kultus,  keine  brahmanische  Staats-  und  Lebens- 
ordnung kannten,  sondern,  zu  kleinen  Stämmen  (vif)  unter 
meist  erblichen  Königen  vereinigt,  ihre  Götter  ehrend,  ihren 
Acker  bauend,  ihre  Herden  weidend  und  sich  gegenseitig 
befehdend,  ein  einfaches,  naturfrisches  Dasein  genossen.  Über 
alle  diese  Verhältnisse  entrollen  die  Hymnen  des  Rigveda  ein 
anschauliches  Bild:  es  ist  das  Bild  der  ältesten  Kultur,  der 
wir  bei  den  Indogermanen  begegnen,  und  die  von  der  Lebens- 
weise unserer  eigenen  Vorfahren  vor  der  Völkertrennung  sich 
noch  nicht  weit  entfernt  zu  haben  scheint.  Wir  wollen  die 
Hauptzüge  dieses  altvedischen  Kulturbildes  zusammenfassen, 
indem  wir  für  nähere  Einzelheiten  auf  die  vortreffliche  Zu- 
sammenstellung in  Zimmer,  „Altindisches  Leben"  (Berlin  1879) 
verweisen. 


I.    Die  altvedische  Kultur.  73 

Was  zunächst  bei  Betrachtung  der  altvedischen  Kultur 
in  die  Augen  fällt,  ist  die  Beschränktheit  ihres  Horizontes  auf 
das  Stromgebiet  des  Indus  und  die  Abwesenheit  aller  der 
geographischen  Verhältnisse,  die  dem  spätem  indischen  Leben 
ein  so  charakteristisches  Gepräge  geben,  d.  h.  der  Ebene  des 
Ganges  mit  ihrem  tropischen  Klima,  mit  ihrer  eigenartigen 
Flora  und  Fauna.  Die  Gangd  selbst,  ohne  welche  sich  der 
spätere  Inder  die  AVeit  nicht  denken  konnte  (Mahäbh.  13, 
1793),  wird  nur  einmal  beiläufig  erwähnt,  das  Vindhyagebirge 
mit  der  Narmadä  ist  gänzlich  unbekannt.  Wie  bei  uns  „beraubt 
der  Winterfrost  die  Wälder  ihres  Gefieders"  (Rigv.  10,68,10); 
wie  schon  vor  der  Völkertrennung  ist  auch  jetzt  noch  die 
Hauptkulturfrucht  yava,  £sa,  wie  es  scheint,  die  Gerste, 
während  der  Reis,  das  hauptsächliche  Nahrungsmittel  des 
spätem  Indiens,  nirgendwo  erwähnt  wird.  Als  wilde  Tiere 
kommen  Wolf,  Bär,  Eber  u.  a.  vor,  und  namentlich  der  Löwe, 
„das  furchtbare,  schweifende,  in  Bergen  hausende  Wild",  wäh- 
rend der  später  so  hervortretende  Tiger  (der  ja  nirgends  mit 
dem  Löwen  dasselbe  Jagdgebiet  teilt)  im  Rigveda  nicht  einmal 
dem  Namen  nach  bekannt  ist.  Ebenso  fehlt  noch  der  Elefant 
und  wird  nur  ein  paarmal  als  „das  Tier  mit  der  Hand"  mit 
dem  Ausdrucke  des  Befremdens  erwähnt;  auch  der  Affe,  der 
später  die  indischen  Wälder  wie  die  indische  Poesie  belebt, 
fehlt,  bis  auf  ein  späteres  Lied  (10,86),  noch  gänzlich.  Wie 
sich  hieraus  mit  Sicherheit  ergiebt,  hat  der  Inder  zur  Zeit 
des  Rigveda  von  seiner  spätem,  eigentlichen  Heimat  noch 
keine  Kenntnis;  aber  auch  das  Mündungsland  des  Indus  ist 
ihm  kaum  bekannt;  das  Meer  spielt  keine  Rolle,  Fischfang 
kommt  nirgends  vor,  Schiffahrt  scheint,  wohl  nur  zum  Über- 
schreiten der  Ströme,  in  der  primitivsten  Weise  bestanden 
zu  haben.  Aus  diesen  und  manchen  andern  Daten  ergiebt 
sich  als  Wohnsitz  des  altvedischen  Inders  der  obere  Laui 
des  Indus  und  seiner  Zuflüsse,  südlich  bis  zum  Zusammen- 
flüsse, nördlich  bis  in  die  Vorberge  des  Himälaya  hinein 
reichend,  „das  Land  der  vielen  Ströme"  (sapta  sindhavah, 
die  sieben  Ströme,  pancanadam,  persisch  Pendschäb,  das  Fünf- 
stromland, wobei  die  Zahlen  mehr  eine  unbestimmte  Vielheit 
als  bestimmte  einzelne  Flüsse   bedeuten).     In   diesem  ehemals 


74  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

wasserreichen  Lande  mit  seinem  fruchtbaren  Ackerboden,  sei- 
nen grasreichen  Triften*  und  waldbewachsenen  Gebirgen,  etwa 
von  dem  Umfange  des  Königreichs  Preufsen,  finden  wir  zur 
Hymnenzeit  die  eingewanderten  Indogermanen,  oder,  wie  sie 
sich  selbst  nennen,  die  Ärya's  (oben  S.  38)  angesiedelt,  und 
zwar,  da  jede  Erinnerung  an  die  Einwanderung  fehlt,  schon 
seit  geraumer  Zeit  sefshaft.  Hingegen  bemerken  wir  an 
manchen  Stellen  ein  Ankämpfen  und  allmähliches  Vordringen 
gegen  die  dunkelfarbige,  in  die  Berge  zurückweichende  Urbe- 
völkerung, „die  schwarze  Haut",  „die  einer  wie  der  andere 
aussehenden,  schwarzen  Leute",  welche  Gott  Indra  „aus  ihren 
Wohnsitzen  Tag  für  Tag  vertreibt"  (Rigv.  6,47,21);  ihr  ge- 
wöhnlicher Name  ist  Dasyu  oder  Däsa,  und  die  Vorstellung 
von  ihnen  verfliefst  in  eigentümlicher  Weise  mit  den  von 
Indra  im  Luftraum  bekämpften,  dämonischen  Mächten.  Mit 
ihnen  wie  auch  unter  sich  selbst  liegen  die  Stämme  der  Arya's 
in  fortwährenden  Fehden,  d.  h.  man  schlug  sich  um  Weide- 
plätze und  suchte  sich  gegenseitig  die  Rinder  wegzutreiben 
(gavishti  der  Kampf,  eigentlich:  „Verlangen  nach  Rindern"). 
Dem  entsprechend  weht  in  den  Liedern  des  Rigveda  ein 
kriegerischer  Geist;  Indra,  der  Kriegsgott,  ist  neben  Agni, 
dem  Gotte  des  häuslichen  Herdes,  der  am  meisten  gefeierte 
Gott.  Nach  vorherigem  Opfer  unter  Schlachtgesang  und 
kriegerischer  Musik  ziehen  die  Scharen  dem  flatternden  Ban- 
ner nach,  geschützt  von  ehernen  Helmen  und  geflochtenen 
Panzern  (varman,  wohl  auch  Schild),  bewaffnet  mit  Pfeil, 
Bogen,  Schleudersteinen,  mit  Messern,  Äxten  und  Speeren, 
teils  zu  Fufs,  teils  auf  Streitwagen  (ratha)  von  Rossen  gezogen, 
während  das  Reiten  (wie  bei  Homer)  nicht  sicher  nachweisbar 
ist.  Angeführt  wird  der  einzelne  Stamm  (Jana)  von  seinem 
Könige  (rajan),  der  als  Beschützer  des  Stammes  (gopä  janasya) 
das  Opfer  vor  der  Schlacht  vollbringt  und  diese  selbst  leitet, 
während   im   Frieden   weiiis;  von   ihm    die   Rede    ist.      Seinen 


*  Diese  Verhältnisse  haben  sich  im  Laufe  der  Jahrhunderte,  ver- 
mutlieh infolge  der  Abholzung,  gar  sehr  verändert.  Heute  ist  das 
Pendschäb  gröfstenteils  ein  trockenes  Land,  welches  bei  künstlicher  Be- 
wässerimg zwei  jährliche  Ernten,  wo  diese  fehlt,  gar  keine  liefert. 


I.    Die  altvedische  Kultur.  75 

Unterhalt  hat  er,  von  der  Kriegsbeute  abgesehen,  durch  frei- 
willige Beiträge  (ball),  seine  Macht  ist  durch  den  Willen  der 
Stammesversammlungen  (samiti)  und  Gemeindeversammlungen 
(sabhd)  eingeschränkt.  In  wie  viele  solcher  von  Königen 
regierter  Stämme  die  arische  Bevölkerung  zerfiel,  ist  nicht 
zu  .bestimmen;  ein  Zusammenschlufs  der  Stämme  zu  einem 
einheitlichen  Reiche  hat  nie  bestanden;  jeder  einzelne  Stamm 
(Jana)  zerfällt  in  Gaue  (vig)  und  diese  in  Dorfschaften  (gräma); 
doch  scheint  diese  Organisation  eine  lockere,  vorwiegend  nur 
in  Kriegszeiten  wirksame  gewesen  zu  sein.  Auch  die  Rechts- 
pflege scheint  den  zahlreich  erwähnten  Verbrechen,  wie  Raub, 
Diebstahl,  Meineid,  Betrug,  gegenüber  noch  wenig  entwickelt. 
Verbrecher  werden  bis  zur  Aburteilung  an  einen  Holzstamm 
gebunden;  in  schwierigen  Fällen  entscheidet  oft  das  Gottes- 
urteil. Schwere  Verbrecher  werden  verbannt,  Spieler  büfsen, 
wie  bei  den  alten  Deutschen,  Habe  und  Freiheit  ein.  Sklaverei, 
wie  auch  Leibeigenschaft  kommt  vor. 

Städte  kennt  der  Rigveda  noch  nicht,  sondern  nur  Burgen 
(pur,  d.  h.  wohl:  umfriedigte,  mit  Erdwällen  oder  Mauern  ver- 
sehene Anhöhen,  zum  Schutz  für  Familie  und  Eigentum  in 
Kriegszeiten)  und  als  Wohnorte  der  Bevölkerung  Dörfer 
(gräma),  die  darum  doch  umfangreich  sein  mochten,  da  neben 
den  Häusern  auch  Hürden  für  den  zahlreichen  Viehstand 
erforderlich  waren  (Rigv.  10,149,4).  Auch  mögen  sie,  bei  der 
herrschenden  Unsicherheit,  oft  volkreich  gewesen  sein,  eine 
Burg  umschliefsend  und  vielleicht,  wie  heute  noch  im  Gebirge 
nördlich  vom  Pendschäb,  von  einer  nachts  verschliefsbaren 
Dornenhecke  umgeben,  zum  Schutz  gegen  räuberische  Über- 
fälle und  wilde  Tiere.  An  öffentlichen  Gebäuden  wird,  da 
von  Tempeln  keine  Spur  sich  findet,  namentlich  die  Sabhd 
hervorgetreten  sein,  das  Versammlungshaus  der  Gemeinde,  wo 
öffentliche  Angelegenheiten,  wie  Überfälle  und  deren  Abwehr, 
besprochen,  sowie  gesellige  Unterhaltungen  über  die  Kühe, 
die  Ernte  u.  dgl.  gepflegt,  auch  das  Würfelspiel,  wie  zahl- 
reiche Stellen  (und  namentlich  das  Spielerlied  10,34)  beweisen, 
oft  mit  grofser  Leidenschaft  betrieben  wurden. 

Die  Häuser  (griham)  der' Dörfer  werden  mannigfach  ge- 
wesen  sein,    von    der    einfachen   Hütte    aus    lehmbekleidetem 


76  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Kigveda. 

Flechtwerk,  wie  sie  noch  jetzt  im  nordwestlichen  Indien 
üblich,  bis  zum  komplizierteren  Bau  aus  Holz  und  Rohr,  wie 
er  im  Atharvaveda  vorkommt.  Das  Haus  enthielt  in  der  Regel 
vier  Räume:  das  Wohngemach  mit  dem  Herdfeuer,  das  Frauen- 
gemach, die  Vorratskammer  und  den  Schuppen.  Die  Möblie- 
rung dürfen  wir  uns  nicht  zu  einfach  denken;  Bänke  und 
Tragsessel,  auch  Betten  mit  Polster,  Kopfkissen  und  Decke 
kommen  vor. 

Der  Haupterwerbszweig  des  altvedischen  Inders  ist  die 
Viehzucht,  die  sich  vor  allein  auf  die  Kühe,  daneben  auch  auf 
Rosse,  Schafe  und  Ziegen  erstreckt.  In  zweiter  Linie  steht 
der  Ackerbau;  das  Auflockern  des  Bodens  durch  Pflüge,  die 
mit  metallener  Pflugschar  versehen  und  mit  Rindern  bespannt 
sind,  das  Abmähen  des  Getreides  mit  der  Sichel,  das  Dreschen 
und  Worfeln,  das  Zerkleinern  der  Körner  zwischen  zwei  Steinen 
sind  wohlbekannt;  das  Mehl,  mit  Milch  oder  Butter  zu  Brei 
und  Kuchen  verarbeitet,  bildet,  neben  dem  reichlich  wachsen- 
den Obste,  das  Hauptnahrungsmittel  (für  Brot*  hat  das  Sanskrit 
kein  Wort);  Fleischnahrung  ist  selten  und  meist  auf  Fest- 
lichkeiten beschränkt;  als  Getränke  dienen  der  Soma,  welcher, 
durch  Gärung  des  ausgeprefsten  Saftes  der  Somapflanze  mit 
Milchzusatz  gewonnen,  Götter  und  Menschen  begeistert,  und 
die  Surä,  eine  Art  Branntwein,  das  gewöhnliche  Getränk  des 
Inders,  namentlich  später  und  nachdem  die  Priester  den  Soma 
für  sich  allein  usurpiert  hatten. 

An  Gewerben  treten  hervor:  der  Zimmermann  für  den 
Bau  des  Hauses  und  Wagens,  der  Töpfer,  der  Schmied,  der 
mit  einem  Vogelfittich  als  Blasebalg  das  Metall  zu  erweichen 
und  zu  Kesseln,  Waffen  u.  s.  w.  zu  gestalten  weifs,  der  Quack- 
salber, der  mit  seinem  Pflasterkasten  umherzieht  und  seine 
Ware  anpreist  (Rigv.  10,97),  der  Weber,  der  auf  dem  Web- 
stuhle die  aus  Schafwolle  gesponnenen  Fäden  mit  dem  Weber- 
schifflein   zu    Tuch   verarbeitet,    das   dann,    bunt  gefärbt   und 


*  In  Ujjayini,  einer  Stadt  von  34,691  Einwohnern,  in  der  aber  nur 
drei  europäische  Familien  leben,  konnte  ich  (Februar  1893)  nur  durch  die 
Güte  des  Gouverneurs  ein  Brot  erhalten.  Die  Inder  kennen  auch  heute 
noch  anstatt  desselben  nur  täglich  frisch  in  der  Pfanne  gebackene  Fladen. 


I.    Die  altvedische  Kultur.  77 

verziert,  mit  Schere  und  Nadel  zu  mancherlei  Gewändern  der 
Frauen  und  Männer  verarbeitet  wird. 

Das  Familienleben  ist,  wenn  auch  Nebenweiber  gelegent- 
lich vorkommen,  doch  im  wesentlichen  monogamisch.  Die 
Hochzeitsgebräuche,  das  Herumführen  der  Braut  ums  Feuer, 
das  Heimführen  derselben  auf  dem  Brautwagen,  wird  in  den 
Hochzeitsliedern  des  Ria;-  und  Atharvaveda  ausführlich  ge- 
schildert.  Die  Gattin  ist  die  Herrin  des  Hauses,  auch  über 
die  Schwiegereltern;  sie  ist  dem  Gatten  unterthan  (anuvratä) 
und  naht  mit  ihm  gemeinsam  den  Göttern  in  Opfer  und  Gebet. 
Eine  Monopolisierung  des  Kultus  durch  die  Brahmanen,  wie 
in  der  Folgezeit,  besteht  noch  nicht,  wohl  aber  ist  sie  auf  dem 
Wege,  sich  zu  bilden,  daher  die  betreuenden  Angaben  darüber 
vielfach  schwankend  und  streitig  sind.  Zweck  der  Ehe  ist 
die  Fortpflanzung  des  Geschlechts  durch  männliche  Nach- 
kommen; doch  tritt  die  Abneigung  gegen  weibliche  Nach- 
kommenschaft, gelegentlich  bis  zur  Aussetzung  derselben 
gehend,  erst  in  späteren  Texten  hervor.  Auch  die  später  so 
häufige  Verbrennung  der  Witwe  mit  dem  Leichnam  des  Gatten 
kommt  im  Rigveda  noch  nicht  vor,  wurde  jedoch  Rigv.  10,18,7 
durch  die  Biegung  eines  Häkchens  (sET^T  *  statt  ^XJ)  einge- 
fälscht, welche  im  Laufe  der  Jahrhunderte  ungezählten  Frauen 
das  Leben  gekostet  hat;  im  Atharvaveda  wird  sie  18,3,1  schon 
als  „alte  Satzung"  bezeichnet.  Auch  die  Bestattung  der  Toten 
durch  Begraben  oder  Verbrennen,  welche  noch  gleichberechtigt 
nebeneinander  vorkommen,  geschieht  in  feierlicher,  wohlge- 
regelter Weise,  wie  die  Totenlieder  des  Rigveda  10,14  — 18 
beweisen.  Über  die  Vorstellungen  eines  Fortlebens  nach  dem 
Tode   werden    wir  in  einem  spätem  Zusammenhange  handeln. 

II.   Die  altvedische  Religion. 

Die  erste  und  älteste  Philosophie  eines  Volkes  liegt  in 
seiner  Religion.  Denn  diese  enthält  den  ersten  Versuch,  das 
Dasein  und  seine  Phänomene  zu  verstehen  und  zu  deuten. 
Es  bietet  aber  dieses  Dasein  der  Betrachtung  zwei  Seiten: 
A.  die  Aufsennatur  mit  ihren  mannigfachen,  die  Furcht 
erregenden,    die    Hoffnung   nährenden,    die   Wifsbegierde   an- 


78  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

reizenden  Erscheinungen,  auf  die  sich  das  Nachdenken  richten 
mufste,  sobald  es  überhaupt  ein  Nachdenken  gab,  d.  h.  sobald 
der  Mensch  zum  Menschen  geworden  war,  und  B.  die  Innen- 
natur, das  Reich  der  Empfindungen,  die  Phänomene  des  Er- 
kennens  und  Wollens  befassend,  welche  ebenso  ursprünglich  ist, 
ebenso  früh  vorlag  wie  die  Aufsenwelt,  aber  erst  viel  später 
als  diese  anfing,  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  zu  lenken,  da  der 
Intellekt,  wie  das  Auge,  nach  aufsen  gerichtet  und  ein  von  Haus 
aus  für  die  Erkenntnis  der  Aufsenwelt  bestimmtes  Organ  ist. 
A.  Schon  bei  seinem  ersten  Erwachen  zum  menschlichen 
Bewufstsein  sah  sich  der  Mensch  von  einer  Reihe  von  Natur- 
erscheinungen und  Naturkräften  umgeben,  von  denen  er  sein 
eigenes  Dasein  und  Wohlsein  nach  allen  Seiten  hin  abhängig 
fühlte.  Die  nährende  Erde,  der  sie  befruchtende  Himmel,  die 
Sonne  als  Spenderin  von  Licht,  Belebung  und  Gedeihen,  der 
Sternenhimmel  in  seiner  regelmässigen  Umdrehung,  der  Wind, 
der  Regen,  das  Gewitter,  das  lebendige,  hülfreiche  und  ver- 
derbliche Feuer,  —  alle  diese  standen  ihm  gegenüber  als  über- 
legene, unbegriffene  Mächte,  die  bald  segensreich,  bald  unheil- 
voll in  den  Lauf  seines  Lebens  eingriffen.  Ahnlich  wie  der 
Mensch  selbst  nach  Willkür  Einwirkungen  auf  seine  Umo-elumo; 
übte,  so,  und  nur  in  noch  viel  höherem  Mafse,  sah  er  jene 
Naturkräfte  eine  Reihe  von  scheinbar  willkürlichen  Wirkungen 
entfalten.  Es  war  daher  ein  ganz  natürlicher  Schritt,  dafs  er, 
ähnlich  wie  er  sein  eigenes  Thun  von  einem  innern  Wollen 
ausgehen  fühlte,  so  auch  dem  Treiben  jener  Naturmächte  als 
inneres  Princip  einen  Willen  unterlegte.  So  berechtigt  diese 
Interpretation  war  (wie  der  Verlauf  der  Philosophie  zeigen 
wird),  so  unberechtigt  war  die  weitere  Ausgestaltung  derselben: 
da  nämlich  dem  Menschen  die  Vorstellung  des  Wollens  von 
der  einer  wollenden,  individuellen  Persönlichkeit,  wie  er  sie 
an  sich  selbst  fand,  unabtrennbar  war,  so  schrieb  er  nun  auch 
jenen  Kräften  und  Erscheinungen  der  Natur  eine  zuerst  nur 
wenig*,  dann  aber  mit  Hülfe   der   Phantasie  mehr  und   mehr 


*  Auf  der  Stufe  des  Animismus,  eines  mit  Zauberei  verbundenen 
Dämonenglaubens,  welchen  wir,  wie  überall,  so  auch  in  Indien  als  Vor- 
stufe des  Polytheismus  vorauszusetzen  haben,  den  wir  aber  hier  bei  Seite 


IL    Die  altvedische  Religion.  79 

individuell  und  konkret  gestaltete  Persönlichkeit  zu; 
jetzt  ward  die  Sonne  zum  unermüdlichen  Wanderer,  der  seinen 
Weg  kennt  und  findet,  jetzt  ward  der  Wind  zum  wilden  Wagen- 
fahrer oder  zum  Jäger,  der  mit  Pfeil  und  Bogen  die  Wolken 
jagt,  wie  der  Mensch  die  Tiere  des  Waldes,  jetzt  erschien  das 
Gewitter  als  ein  Kampf  feindlicher,  im  Lufträume  einander 
entgegenstehender  Mächte,  und  der  Reichtum  der  Vegetation 
o-ino-  Jahr  für  Jahr  aus  dem  Mutterschofse  der  Erde  infolge 
einer  Befruchtung  desselben  durch  die  Zeugungskräfte  des 
Täters  Himmel  (dyaus  pitar,  Zzbc  7raTT]p,  Jupiter)  hervor;  — 
so  entstanden  durch  eine  natürliche,  halb  unbewufste  Schöpfer- 
thätigkeit  des  menschlichen  Geistes  die  Götter;  sie  sind,  wo 
sie  immer  sich  finden  mögen,  nichts  anderes  als  Personi- 
fikationen der  Naturerscheinungen  und  Naturkräfte, 
mögen  dieselben  nun,  wie  bei  den  Indern,  vorwiegend  der 
äufsern  Natur  angehören,  oder,  wie  bei  den  Griechen,  dem 
fortgeschritteneren  Bewufstsein  des  homerischen  Zeitalters  ge- 
mäfs,  teilweise  schon  (als  Ares  und  Aphrodite,  als  Pallas, 
Hermes  u.  s.  w.)  persönlich  gestaltete  Kräfte  des  menschlichen 
Innern  sein.  So  sind  die  Götter  eine  intellektuelle  Schöpfung, 
mag  dieselbe  auch  ursprünglich  nicht  sowohl  in  dem  reinen 
Triebe  des  Erkennens,  als  vielmehr  in  einem  praktischen  Be- 
dürfnisse wurzeln,  indem  man  diese  so  personifizierten  Natur- 
mächte nach  Art  der  menschlichen  Grofsen  durch  Geschenke 
und  Schmeicheleien  (Opfer  und  Gebete)  in  ihren  Willens- 
bestimmungen beeinflussen  zu  können  wähnte,  sei  es  um  ihren 
Zorn  zu  besänftigen,  sei  es,  um  ihrer  Gnade  sich  zu  versichern. 
Als  solche  Produkte  der  kindlichen  Imagination  würden  nun 
die  Götter  in  einem  gereifteren  Zeitalter  mitsamt  dem  Him- 
mel, welchen  sie  bewohnen,  als  eine  Fiktion  fallen  gelassen 
werden,  Indra  würde  in  die  Lehre  von  der  Elektricität,  Agni 
in  die  von  der  Oxydation,  die  ganze  Religion  in  Wissenschaft 
sich    auflösen   und   verschwinden,   hätte   sie   nicht   noch  ihren 


lassen,  da  er  für  dasjenige  religiöse  Bewufstsein,  aus  dem  sich  die  indische 
Philosophie  entwickelt  hat,  längst  überwunden  war,  so  sehr  er  auch  noch 
in  den  Schichten  des  niedern  Volkes  fortglimmen  mochte  und  in  vielen, 
ihnen  angehörenden,  Liedern  des  Atharvaveda  seinen  Ausdruck  fand. 


80  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

Halt  in  einem  andern  Verhältnisse,  welches  jeder  Zersetzung 
durch  die  physischen  Wissenschaften  widersteht:  dieses  Ver- 
hältnis liegt  auf  dem,  spät  erst  die  Aufmerksamkeit  auf  sich 
lenkenden,  aber  als  wirksam  schon  von  je  her  vorhandenen 
Gebiete  der  innern  Erfahrung,  von  dem  jetzt  zu  reden  sein  wird. 
B.  Die  Begriffe  über  das,  was  „gut"  und  „böse"  sei, 
sind  je  nach  Ort  und  Zeit  sehr  verschiedene  gewesen  und 
zeigen  die  mannigfaltigsten  Abstufungen,  von  dem  brutalen 
Kannibalen  und  dem  wilden  Fanatiker  an,  welche  Gewissens- 
bisse darüber  empfinden,  dafs  sie  ihren  Gegner  nicht  verspeist 
oder  verbrannt  haben,  bis  hinauf  zu  dem  Christlichgesinnten, 
der  Gewissensbisse  darüber  empfindet,  dafs  er  sich  darauf  be- 
trifft, seinen  Feind  nicht  zu  lieben  und  das  Übelwollen  gegen 
ihn  nicht  los  werden  zu  können.  Merkwürdig  aber  ist,  dafs 
dessen  ungeachtet  alle,  vom  Wilden  bis  zum  Heiligen,  darin 
übereinstimmen,  irgend  welche  Handlungen  für  gut,  d.  h. 
unbedingt  löblich,  und  irgend  welche  andere  für  böse,  d.  h. 
unbedingt  tadelnswert,  bei  sich  und  andern  anzusehen.  Man 
hat  sich  viele  Mühe  gegeben,  den  Ursprung  solcher  imperativer 
Vorstellungen  zu  erforschen  und  hat  gemeint,  dafs  die  Begriffe 
gut  und  böse  (beziehungsweise  schlecht)  ursprünglich  so  viel 
bedeuteten  wie  nützlich  und  schädlich,  oder  allgemein-nützlich 
und  allgemein-schädlich,  oder  stark  und  schwach,  oder  aristo- 
kratisch und  gemein,  oder  von  Gott  geboten  und  von  Gott 
verboten  u.  s.  w.,  und  dies  alles  mag  auch  historisch  seine 
Richtigkeit  haben;  die  Frage  ist  nur,  wie  man  dazu  gekommen 
ist,  diese  Begriffe  so  zu  modifizieren,  dafs  nach  Abstreifung 
der  Nebenbestimmungen  des  Nutzens,  der  Abstammung  oder 
des  Gottgebotenseins  die  reinen  Vorstellungen  eines  unbe- 
dingt zu  Thuenden  und  unbedingt  zu  Meidenden  übrig 
blieben.  Ohne  Zweifel  haben  sich  diese  Begriffe  erst  nach 
und  nach  entwickelt,  wie  die  Pflanze  aus  dem  Samenkorn; 
sie  würden  sich  aber  nicht  in  dieser  Richtung  ent- 
wickelt haben,  wenn  sie  nicht  als  Samenkorn,  als  ur- 
sprüngliche Anlage  in  der  menschlichen  Natur  gelegen  hätten. 
Ohne  also  jenen  Entwicklungstheorien  ihr  historisches  Recht 
abzustreiten,  wollen  wir  doch  abwarten,  ob  ihre  Tragweite  so 
weit  geht,  folgende  Erwägungen  zu  entkräften. 


II.   Die  altvedische  Religion.  81 

Dafs  das  hauptsächliche  Triebrad  der  menschlichen  Hand- 
lungen von  je  her  der  Egoismus  gewesen  ist,  wird  niemand 
bezweifeln,  sowie  auch,  dafs  dieser  Egoismus  oft  in  unlieb- 
samer Weise  sich  geltend  machte,  um  den  Mitmenschen,  und 
zwar  nicht  nur  den  Feind,  sondern  auch  den  Verwandten, 
den  Freund,  den  Bruder,  mit  einem  Worte  den  Nächsten  zu 
schädigen.  Dafs  dieser  Einbruch  in  die  Rechte  und  Interessen 
eines  andern  von  je  her  Mifsbilligung  erregte,  nicht  nur  bei 
dem  Betroffenen,  sondern  auch  bei  dem  Unbeteiligten,  —  dafs 
der  Habgierige,  der  Grausame,  der  Feigling,  der  Hinterlistige 
von  je  her  von  der  menschlichen  Gesellschaft  (wie  Kain  von 
Jehovah)  gezeichnet  waren,  ist  völlig  gewifs.  Weiter  aber 
wird  jeder  zugeben,  dafs  es  überall  und  immer  auch  Menschen 
gegeben  hat,  welche  es  über  sich  vermochten,  den  Egoismus, 
den  wir  als  die  eigentliche  „Natur"  bei  jedem  voraussetzen, 
einzuschränken  und  zu  bezwingen,  sofern  sie  das  eigene  Selbst 
und  seine  Interessen  ganz  oder  teilweise  irgend  einem  nicht- 
egoistischen Zwecke  zum  Opfer  brachten,  sei  es,  dafs  diese 
Selbstverleugnung  sich  bethätigte  in  der  brutalen  Form  der 
Tapferkeit,  welche  die  eigene  Gefahr  nicht  scheut,  der  erlit- 
tenen Schmerzen  und  Wunden  lacht,  oder  in  dem  Ertragen 
von  Hunger,  Durst  und  Entbehrung,  oder  in  der  Treue  dem 
gegebenen  Versprechen,  in  der  Gerechtigkeit,  welche  des  andern 
Leid  nicht  will,  und  in  dem  Mitleide,  welches  bereit  ist,  dem 
Nächsten  auch  ohne  Hoffnung  auf  Entgelt  durch  eigene  Opfer 
in  seiner  Not  zu  helfen.  Solche  Menschen  nannte  man  gut,  und 
solche  gute  Menschen  hat  es  zu  jeder  Zeit  gegeben.  Der 
Unterschied  zwischen  guten  und  bösen,  zwischen  selbstsüch- 
tigen und  selbstloseren  Menschen  ist  somit  uralt,  ja  so  alt 
wie  die  Menschheit  selbst.  Viel  später  hingegen  und  bei 
einigen  Völkern  (wie  sogleich  schon  bei  den  Indern)  sehr 
wenig  entwickelt  ist  die  Reflexion  über  diesen  Gegensatz 
und  seinen  Ursprung,  über  die  wunderbare  Thatsache,  dafs 
ein  Mensch  im  stände  ist,  seine  eigenen,  wohlverstandenen 
Interessen  hintanzusetzen  und  um  eines  andern  willen  zu  ver- 
leugnen. Dunkel  fühlte  man,  dafs  hier  eine  höhere  Macht 
über  den  Menschen  kommt,  ein  höherer  Wille,  der  mit  dem 
eigenen,  auf  Selbsterhaltung  gerichteten  Willen  in  Widerspruch 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.    I.  6 


82  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

steht,  mithin  diesem  seine  Bestimmungen  gleichwie  ein  Gesetz 
aufnötigt,  das  ein  anderer  uns  giebt.  Aber  woher  dieser  höhere 
Wille  und  das  Gesetz,  das  von  ihm  ausgeht?  —  Hier  stand 
man  vor  einem  erstaunlichen,  schwer  zu  lösenden  Rätsel. 

Und  hier  vollzieht  sich  nun  jene  merkwürdige  Ver- 
schmelzung zweier  völlig  heterogener  Elemente,  in  welcher 
alle  Religion  besteht,  indem  man  das  sittlich  Gute,  da  es  aus 
der  eigenen  Natur  und  ihren  Interessen  nicht  abzuleiten  war, 
auffafste  als  beruhend  auf  dem  Willen  eben  jener  Persönlich- 
keiten, die  man  durch  Personifikation  der  umgeben  den  Natur- 
erscheinungen gewonnen  hatte.  Ihre  Übermacht,  die  Stetig- 
keit  ihres  Wirkens,  die  Abgelöstheit  derselben  von  den  indi- 
viduellen Interessen  der  Menschen,  alles  dies  führte  dazu, 
auch  das  Sittliche  im  Menschen  für  eine  Manifestation  jener 
durch  die  dichtende  Phantasie  mit  Wille  und  Persönlichkeit 
ausgestatteten  Naturkräfte  zu  halten,  und  so  z.  B.  in  dem  all- 
sehenden Varuna  und  Helios  den  Wächter  über  Gutes  und 
Böses,  in  dem  donnernden  Jehovah  den  Verkündiger  einer 
moralischen  Weltordnung  zu  erkennen. 

Es  beruht  also  die  Religion  auf  einer  Verschmelzung 
zweier,  ursprünglich  völlig  verschiedener  Elemente,  A.  einer 
Personifikation  der  Naturgesetze,  und  B.  einer  solchen  des 
Sittengesetzes,  die  wir  als  das  mythologische  und  das  mo- 
ralische Element  der  Religion  hier  und  in  der  Folge  unter- 
scheiden wollen.  Es  wird  sich  im  Verlaufe  zeigen,  dafs  eine 
jede  Religion  um  so  besser,  um  so  mehr  Religion  ist,  je  reiner 
in  ihr  das  moralische  Element  hervortritt,  und  um  so  schlechter, 
um  so  weniger  ihrem  eigentlichen  Zweck  und  Wesen  entspre- 
chend, je  mehr  das  Moralische  in  ihr  von  mythologischen 
Vorstellungen  überwuchert  und  verdunkelt  wird. 

Wenden  wir  diesen  Mafsstab  zunächst  auf  die  vorliegende 
Aufgabe,  auf  die  Religion  des  Rigveda  an,  so  werden  wir 
derselben,  bei  allem  Interesse  das  sie  einflöfst,  doch  als  Reli- 
gion keine  besonders  hervorragende  Stelle  einräumen  können, 
da  zwar  das  mythologische  Element  in  sehr  hohem  Grade  in 
ihr  entwickelt  ist,  hingegen  das  moralische  Element,  in  dem 
der   eigentliche   Wert   einer  Religion   liegt,    auffallend    in   den 


II.    Die  altvedische  Eeligion.  83 

Schatten  tritt.  Wir  werden  wohl  nicht  fehlgreifen,  wenn  wir 
den  so  unerwartet  frühen  und  raschen  Verfall  der  altvedischen 
Religion  wesentlich  auf  diesen  ihren  Mangel  an  moralischem 
Gehalte  zurückführen.  Doch  zunächst  wollen  wir  beide  Ele- 
mente nach  einander  in  Betracht  ziehen. 

A.  Nach  der  mythologischen  Seite  hin  ist  die  alt- 
vedische Religion  so  interessant  und  reich  an  Aufschlüssen 
wie  keine  andere  der  Welt.  In  dieser  Hinsicht  ist  das  Stu- 
dium des  Rigveda  die  hohe  Schule  der  Religionswissenschaft, 
und  niemand  kann,  ohne  ihn  zu  kennen,  über  diese  Dinge 
mitreden.  Dieser  einzige  Vorzug  beruht  darauf,  dafs  der 
Prozefs,  auf  dem  ursprünglich  alle  Götter,  wie  gezeigt,  be- 
ruhen, dafs  jene  Personifikation  der  Naturphänomene,  während 
sie  in  allen  andern  Religionen  mehr  oder  weniger  verdunkelt 
ist,  im  Rigveda  sich  noch  sozusagen  handgreiflich  vor  unsern 
Augen  vollzieht.  Hiermit  soll  keineswegs  gesagt  sein,  dafs 
die  Religion  im  Rigveda  sich  noch  im  ersten  Stadium  der 
Entwicklung  befinde.  Sie  steht  vielmehr  schon  auf  einer 
ziemlich  fortgeschrittenen  Stufe  und  läfst  uns  nur  hie  und 
da  noch  einen  Blick  in  ihre  eigene  Vergangenheit  thun. 
Ähnlich  nämlich  wie  in  der  griechischen  Mythologie  die  drei 
aufeinanderfolgenden  Dynastien  des  Oupocvcr,  Kpovor  und  Zsur 
ziemlich  deutlich  drei  verschiedenen  Kulturperioden  entspre- 
chen, dem  heroischen  Zeitalter,  in  welchem  Zsix:,  dem  vor- 
hergehenden ackerbauenden  Zeitalter,  in  welchem  Kpcvo?,  und 
dem  noch  altern  Zeitalter  der  Einwanderung,  in  welchem 
Oüpavc?  an  der  Spitze  der  Götterwelt  gestanden  zu  haben 
scheint,  —  ähnlich  und  nur  zum  Teil  umgekehrt  ist  im  Rig- 
veda Dyaus,  der  alte  Vater  Himmel,  nebst  andern  halb  ver- 
schollenen Gottheiten  zurückgedrängt  durch  Varwja;  aber 
auch  dieser  schon  ist,  gerade  in  dem  Augenblicke,  wo  sich 
der  Vorhang  für  uns  hebt,  im  Begriffe,  von  Indra  an  Popu- 
larität überflügelt  zu  werden,  und  ein  sehr  merkwürdiger 
Hymnus  (4,42)  stellt  beide  Götter  in  einer  Art  von  Rang- 
streit gegenüber;  beide  rühmen  ihre  Verdienste,  und  der 
Dichter,  bei  allem  Respekte  vor  Varuna,  neigt  sich  nicht  un- 
deutlich dem  Indra  zu.    Wie  dieses  Beispiel  zeigt,  steht  schon 

6* 


84  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

im  Rigveda  die  Mythologie  keineswegs  mehr  in  der  ersten 
Jugend;  aber  sie  hat  sich,  ähnlich  wie  die  indische  Sprache, 
den  Vorzug  einer  so  grofsen  Durchsichtigkeit  erhalten,  da  ('s 
die  Namen  und  Mythen  der  Götter  fast  überall  gestatten, 
noch  das  ursprüngliche  Verhältnis  der  Natur  zu  erkennen, 
dessen  Personifikation  die  betreffende  Gottheit  ist;  ja,  in  eini- 
gen Fällen  ist  es  zu  einer  durchgeführten  Personifikation  gar 
nicht  gekommen;  wie  denn  z.  B.  bei  Ushas,  der  Morgenröte, 
die  Persönlichkeit  nur  wie  ein  leicht  übergeworfener  Schleier 
erscheint,  und  wenn  der  vedische  Sänger  von  Agni  redet,  bei 
dem  Worte  agni  (Feuer)  die  Vorstellungen  eines  persönlichen 
Wesens  und  des  blofsen  Feuerelementes  fortwährend  inein- 
ander überschweben.  —  Wir  wollen,  zur  Bestätigung  des  Ge- 
sagten, die  hauptsächlichsten  Gestalten  des  vedischen  Pantheons 
in  der  Kürze  überblicken.  Ein  eigentliches  Göttersystem  ist 
den  vedischen  Sängern  noch  unbekannt  (hier  wie  überall  ist 
das  System  nicht  das  Erste,  sondern  das  Letzte),  und  die 
Machtsphären  der  Götter  sind  so  wenig  gegen  einander  abge- 
grenzt, dafs  wir  dieselben  Wunderwerke  der  Schöpfung  u.  s.  w. 
bald  diesem  bald  jenem  Gotte  (wie  es  scheint,  sogar  von 
demselben  Dichter)  zugeschrieben  sehen,  wovon  später;  aber 
althergebracht  und  schon  bei  Yäska  im  Niruktam  zu  Grunde 
gelegt  ist  die  Einteilung  der  Götter  nach  den  drei,  schon  in 
den  Hymnen  unterschiedenen  Gebieten:  a.  Dyaus,  der  Licht- 
himmel, b.  Antariksham ,  der  Luftraum,  c.  Prithivi,  die  Erde; 
wobei  Himmel  und  Erde,  Dyävdprithivi^  als  ein  altheiliges 
Elternpaar  der  Welt  zuweilen  angerufen  werden;  sie  heifsen 
auch  rodasi  ubhe,  angeblich  (für  rodhasi)  „die  beiden  Ufer", 
welche  das  Luftreich  (antariksham)  wie  einen  Strom  einfassen. 
Nach  diesen  drei  Gebieten  verteilen  sich  die  wichtigsten  Gott- 
heiten des  Rigveda  wie  folgt: 

a.  Götter  des  Lichthimmels: 

Varuna  (und  die  übrigen  Aditya's). 

Die  beiden  Agvin's  und    Ushas. 

Stirya,  Savitar,  Mitra,  Püshan,    Vishnu. 

b.  Götter  des  Luftraums: 

Väyu  (Väta),  Rudra,  die  Marut's. 
Indra,  Parjanya,  die  drei  Ribhu's. 


IL   Die  altvedische  Religion.  85 

c.    Götter  der  Erde: 

Agni,  Soma  und  Brihaspati. 

Wir  wollen  diese  Götter  nach  Ursprung  und  Bedeutung 
kurz  charakterisieren. 

a.    Götter  des  Lichthimmels. 

Varuna  (Oupavoc),  von  var  „umgeben",  der  fernste,  die 
Welt  einschliefsende  und  in  unwandelbarer  Drehung  umkrei- 
sende Fixsternhimmel,  persönlich  gedacht  als  der  oberste  Herr 
und  König  des  Weltalls,  nicht  kriegerisch  wie  Indra,  sondern 
in  ruhiger  Majestät  thronend.  Der  Himmel  ist  sein  goldenes 
Prachtgewand,  der  Wind  sein  Odem,  die  Sonne  sein  Auge,  die 
Sterne  sind  seine  schlummerlosen  Späher,  bestallt,  die  Welten 
zu  überschauen.  Allgegenwärtig  ist  er  im  Gröfsten  und  im 
Kleinsten,  im  Weltmeere  und  im  Wassertropfen  vorhanden; 
allwissend,  kennt  er  die  Bahnen  des  Windes,  den  Weg  der 
Vögel  in  der  Luft,  der  Schiffe  auf  dem  Meere,  und  wo  zwei 
sich  heimlich  beraten,  da  ist  er  als  Dritter  zugegen.  Er  ist 
der  Wächter  der  göttlichen  Ordnung  (ffopä  ritasya),  den 
Frommen  schirmend,  heilend,  erleuchtend  und  nach  dem  Tode 
zu  seligem  Leben  hinüberführend,  den  Bösen  aber  ergreifend 
und  mit  seinen  Fesseln  bindend  zu  Leiden  und  Tod.  Uner- 
klärliche Krankheiten,  wie  namentlich  die  Wassersucht,  gelten 
als  eine  Heimsuchung  des  Varuna.  Im  Fortschritte  der  Ab- 
straktion wird  Varuna  zum  Sohne  der  Aditi,  d.  h.  wohl  „der 
Unendlichkeit",  und  es  werden  ihm  sechs  andere  Aditi-Söhne 
(AditycCs)  nebengeordnet,  welche,  wie  die  Namen  Mitra, 
Arycunan,  Bhaga,  Daksha,  A?'iga  zu  verstehen  geben,  Personi- 
fikationen menschlicher  Zustände  (Freundschaft,  Tüchtigkeit 
u.  a.)  nach  Art  mancher  griechischen  Götter  sind.  (Erst  in 
der  spätem  Mythologie,  nachdem  die  Inder  mit  dem  Meere 
näher  bekannt  geworden  waren,  aus  dem  sie  allnächtlich  die 
Sterne  des  Himmels  aufsteigen  sahen,  und  für  welches  der 
liigveda  keine  eigene  Gottheit  hatte,  wurde  Varuna,  der  ur- 
sprüngliche Gott  des  Himmelsoceans,  zu  einem  Gotte  der 
Wasser.) 

Die  Acvin's,  wörtlich  „die  Rossefahrer",  zwei  wunder- 
thätige    Genien,    welche    auf   ihrem    dreisitzigen    Wagen    zur 


86  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

Heilung  von  Krankheiten  und  Gebrechen,  zur  Rettung  aus 
allerlei  Not  herbeieilen;  eine  gröfsere  Reihe  ihrer  Wunder- 
thaten  an  Kranken,  Blinden,  Unfruchtbaren  und  Gefährdeten 
werden  in  stereotyper  Weise  immer  wieder  erwähnt,  ohne 
dafs  man  darüber  Näheres  erführe.  Ihrer  ursprünglichen 
Naturbedeutung  nach  scheinen  sie  eine  Personifikation  des, 
Licht  und  Dunkel  zwillingsartig  verbunden  enthaltenden, 
morgendlichen  Zwielichtes  zu  sein,  welches  den  (in  Sommer 
und  Winter  mehr  gleichmäfsig  als  bei  uns)  anbrechenden  Tag 
verkündet  und  mit  Freuden  begrüfst  wird,  weil  es  der  Nacht 
und  ihren  Schrecknissen  ein  Ende  macht. 

Die  Ushas  ('H(5c,  Aurora)  ist  eine  sehr  durchsichtige 
Personifikation  der  Morgenröte,  welcher  nicht  viele,  aber  viel- 
leicht die  zartesten  und  schönsten  Hymnen  gewidmet  sind. 
Ewig  jung  und  schön,  nicht  alternd  wie  die  Geschlechter 
der  Menschen,  erscheint  sie  als  holdselige  Jungfrau,  die  ihre 
Reize  der  Welt  enthüllt,  indem  sie,  die  Schwester  Nacht 
ablösend,  aus  den  Dünsten  des  Ostens  hoch  und  höher  em- 
porsteigt, um  mit  ihren  Lichtwellen  Himmel  und  Erde  zu 
übergiefsen. 

Sürya,  Savitar,  Püshan,  Vishnu  und  Mitra  sind 
Personifikationen  der  Sonne  und  ihres  Wirkens  nach  den  ver- 
schiedenen Seiten  hin,  welche  sie  der  Betrachtung  bietet;  ur- 
sprünglich also  nur  verschiedene  Namen  derselben  Sache, 
welche  dann  im  Fortschritte  der  Gestaltung  zu  verschiedenen 
Personen  wurden.  (Möglich  auch,  dafs  lokale  Unterschiede 
mit  einwirkten,  indem  z.  B.  Püshan  vorwiegend  von  nomadischen 
Stämmen  verehrt  wurde.)  —  Sürya  (Sol),  „der  Strahlende", 
ist  der  Sonnengott,  wie  er,  der  Ushas  nachgehend  wie  einem 
Mädchen  der  Jüngling,  das  Dunkel  wie  ein  Fell  abschüttelt 
und,  prangend  in  goldenem  Haare,  von  sieben  lichtfarbigen 
Rossen  gezogen,  zu  der  Höhe  des  Himmels  emporsteigt,  das 
Recht  und  Unrecht  der  Menschen  überschauend.  —  AVie  Sürya 
sich  auf  die  äufsere  Erscheinung  der  Sonne,  so  bezieht  sich 
auf  ihre  Wirkungen  der  nächstverwandte  und  oft  synonyme 
Savitar,  „der  Erreger",  welcher  allmorgendlich  die  Wesen 
erweckt,  Menschen  und  Tiere  zur  Thätigkeit  antreibt  und 
wiederum   des   Abends    durch    Abspannen    seiner   Rosse    aller 


II.    Die  altvedische  Religion.  87 

Welt  das  Zeichen  giebt,  zur  Ruhe  zu  eilen.  —  Püshan,  „der 
Ernährer",  ist  die  Sonne,  gedacht  „als  der  kein  Stück  der 
Herde  verlierende  Hirt  der  Welt"  (10,17,3),  der  denn  auch 
speciell  zum  Schutzgotte  der  Herden  und  Hirten,  der  Wanderer 
auf  fernen  Wegen  wird,  auch  als  4>,JX07i:o!-ui:°?  au^  der  Wande- 
rung ins  Jenseits  das  Geleit  giebt.  —  Vishnu,  „der  Voll- 
bringer", der  später  eine  so  grofse  Rolle  zu  spielen  berufen 
war,  tritt  im  Rigveda  nur  hervor  durch  die  Heldenthat  der 
drei  Schritte,  mit  denen  er  den  Weltraum  durchmifst;  sie  sind 
der  Aufgang,  Untergang  und  Kulminationspunkt  der  Sonne; 
letzterer,  „der  höchste  Schritt  des  Vishnu"  (Vishnoh  paramam 
padam),  bezeichnet  den  Aufenthalt  der  Seligen.  —  Mitra,  „der 
Freund",  wird  zu  den  Aditya's  gerechnet  und  fast  immer 
mit  Varuna  zusammen  angerufen,  wobei  Varuna  die  Nacht- 
seite der  Welt,  Mitra  das  menschenfreundliche  Tageslicht 
zu  bedeuten  scheint. 

b.    Götter   des  Luftraums. 

Im  Lufträume  waren  es  namentlich  die  Erscheinungen 
des  Windes,  des  Regens  und  des  Gewitters,  in  denen  man 
ein  göttliches  Wirken  zu  erkennen  glaubte.  Väyu  oder  Väta 
ist  „der  WTind"  als  der  die  Welt  unsichtbar  durchrauschende 
Odem  (atman)  der  Götter,  in  leicht  übergeworfener  Personi- 
fikation; konkreter  erscheint  Rudra,  der  „heulende"  oder 
„funkelnde"  Gott  des  Sturmes  oder  der  Blitze,  der  schönste 
der  Götter,  welcher,  zerstörend  einherbrausend,  mit  seinem 
Bogen  tödliche  Geschosse  auf  die  Erde  schleudert,  aber  auch 
die  Luft  von  Miasmen  reinigt  und  daher  als  heilender,  arznei- 
reicher Gott  gepriesen  wird.  Seine  Aufserungen  werden 
weiter  personifiziert  als  die  Rudra's  oder  Marut's,  die 
„funkelnden"  Söhne  des  Rudra  oder  auch  Väyu,  die  Ge- 
fährten des  Indra,  welche  als  lustige  Kriegerschar  auf  feurigen, 
von  Gazellen  gezogenen,  donnergleich  rollenden  Wagen  heran- 
stürmen, ihre  Pfeile,  die  Blitze,  über  die  Erde  säen,  Wirbel- 
winde anblasen  und  die  Wolkenkühe  freimachen,  damit  sie 
ihre  Milch,  den  Regen,  strömen  lassen.  —  Der  Regen  selbst 
ist  dann  wieder  personifiziert  als  Parjanya  (vielleicht  „der 
Rauschende"),  der,  als  AVagenfahrer  seine  Rosse  anpeitschend, 


88  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

die  Wolkenschätze  heranführt,  um  mit  ihnen  die  lechzenden 
Geschöpfe  zu  erquicken.  —  Die  grofsartigste  Erscheinung  der 
Atmosphäre  aber,  namentlich  in  den  Tropen,"  ist  das  Gewitter, 
und  die  vedischen  Sänger  werden  nicht  müde,  dasselbe  zu 
feiern  als  den  Kampf  des  Gottes  Indra  (vielleicht  „des  Be- 
zwingers") gegen  feindliche  Dämonen  wie  Vritra,  Ahi  u.  a., 
welche  die  Wolkenkühe  in  einer  Felsenbnrg  verschlossen 
halten,  bis  Indra  mit  dem  Donnerkeil  die  Burg  spaltet,  die 
Kühe  herausführt  und  ihre  labende  Regenmilch  auf  die  Erde 
strömen  läfst.  Wie  die  irdischen  Kämpfer,  deren  Vorbild 
und  Anführer  er  ist,  stärkt  sich  auch  Gott  Indra  zu  seinen 
Kämpfen  durch  den  dargebrachten  Somatrank.  Er  liebt  und 
schützt  die  frommen  Verehrer,  die  ihm  reichlich  spenden, 
während  er  den  Kargen,  den  Stolzen,  den  Spötter  nieder- 
schlägt. So  ist  er  der  Lieblingsgott  des  heroischen  Zeitalters, 
und  an  ihn  sind  die  zahlreichsten  Hymnen  des  Rigveda  ge- 
richtet. —  Endlich  gehören  noch  dem  Luftreiche  an  die 
Ribhu's,  „die  Anstelligen",  drei  kunstfertige  Genien,  welche 
den  Wagen  der  Aqvins,  die  Rosse  des  Indra,  die  Wunderknh 
des  Brihaspati  bilden  und  aus  der  einen  Schale  des  Tvashtar 
viere  machen,  worauf  dieser  sich  beschämt  verbirgt.  Sie  ver- 
jüngen ihre  Eltern,  sie  erfüllen  die  Höhen  mit  Kräutern  und 
die  Thäler  mit  Flüssen,  nachdem  sie  zwölf  Tage  im  Hause 
des  Agohi/a  geschlafen  haben.  Agobya,  „der  Unverschwrindbare", 
ist  der  Sonnengott,  die  zwölf  Tage  scheinen  die  des  Winter- 
solstitiums,  die  Ribhu's  aber  ursprünglich  die  im  Laufe  der 
vier  Jahreszeiten  (vier  Schalen)  sich  betätigenden  Bildungs- 
kräfte der  Natur  zu  sein,  durch  welche  der  alte  „Bildner" 
Tvashtar  in  den  Hintergrund  gedrängt  wurde. 

c.    Götter   der   Erde. 

Die  Erde  selbst  ist  eine  Göttin,  ihre  Berge,  Flüsse, 
Quellen,  ihre  Bäume  und  Pflanzen  werden  gelegentlich  ange- 
rufen, ebenso  die  Schlachtrosse  und  Waffen,  die  Kühe  und 
Opfergeräte,  die  Ackerfurche  und  der  Pflug,  kurz  alles,  in 
dem  verborgene,  das  Dasein  des  Menschen  beeinflussende 
Kräfte  sich  regen.  Keine  dieser  Kräfte  aber,  die  den  Men- 
schen unmittelbar  umgeben,  erscheint  so  geheimnisvoll  leben- 


IL    Die  altvedische  Religion.  89 

dig*,  so  segensreich  und  wiederum  unheilvoll  eingreifend  in  das 
Leben  der  Menschen,  wie  das  leuchtende,  wärmende  und  unter 
Umständen  verheerende  Feuer,  der  Gott  Agni,  eigentlich  wohl 
(vgl.  lateinisches  agilis)  „der  bewegliche",  der  die  friedliche 
Seite  des  arischen  Lebens  repräsentiert  wie  Indra  die  kriege- 
rische, und  an  den  denn  auch,  nächst  diesem,  die  meisten 
Hymnen  gerichtet  sind.  Seine  dreifache  Heimat  als  Sonnen- 
feuer, Blitzfeuer,  Erdfeuer,  seine  Zeugung  aus  den  Reibhölzern, 
seitdem  er  durch  Mätaricvan  (eigentlich  wohl  Agni  selbst  als 
„der  in  der  Mutter  [dem  Reibholze]  schwellende")  den  Men- 
schen gebracht  worden,  sein  Wirken  als  Beschützer  der  An- 
siedlung,  Verscheucher  der  Kobolde  und  andern  Mächte  der 
Finsternis,  Verleiher  und  Hüter  der  Schätze,  als  menschen- 
freundlicher (vaigvänara) ,  lieber  Hausfreund  werden  viel  be- 
singen. In  ihm  tritt  die  Gottheit  unmittelbarer  als  irgendwo 
in  Beziehung  zum  Menschen,  daher  er  auch  als  Götterbote 
den  Verkehr  zwischen  Menschen  und  Göttern  vermittelt,  sei 
es,  dafs  er  mit  seinen  Flammenzungen  die  Opferspeise  leckt 
und  auf  ihnen,  wie  auf  wiehernden  (knisternden)  Rossen,  sie 
den  Göttern  nebst  Lied  und  Gebet  zuführt,  sei  es,  dafs  er  die 
Götter  heranfährt,  um  den  Opfertrank  zu  geniefsen.  Die  Art, 
wie  dabei  das  Feuer  und  seine  Erscheinungen  sich  immer 
wieder  und  wieder  zu  einer  sogleich  wieder  zerrinnenden 
Persönlichkeit  gleichsam  unter  den  Händen  des  Dichters  ge- 
stalten, ist  für  die  erste  Genesis  der  vedischen  Religion  ebenso 
lehrreich,  wie  es  für  die  Fortentwicklung  derselben  der  zweite 
auf  Erden  weilende  Hauptgott,  der  König  Soma  ist,  dem 
unter    andern    das    ganze    neunte   Buch    des   Rigveda   gehört. 


*  Schön  schildert  dies  namentlich  der  Vers   Rigv.  1,164,30  (der  frei- 
lich gewöhnlich  ganz  anders  erklärt  wird,  vgl.  unten,  S.  115): 

anac  chaye,  turagätu  jivam, 
ejacl  dhruvam  madhya'  d  pastydndm; 
jivo  mritasya  carati  svadhdbhir , 
amartyo  martyend  sayonih. 

Es  liegt  und  atmet,  schreitet  schnell,  lebendig, 
Regsam  beständig  mitten  in  der  Wohnung; 
Es  lebt  und  regt  sich  nach  des  Menschen  Willen, 
Unsterblich ,  doch  dem  Sterblichen  verbunden. 


90  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

Wie  Agni,  personifiziert  auch  er  sich  noch  vor  unsern  Augen. 
Ursprünglich  ein  aus  Pflanzensaft  gewonnenes,  gegorenes  und 
berauschendes  Getränk,  wird  er  aus  dem  Tranke,  an  dem 
Götter  und  Menschen  sich  laben,  selbst  zu  einem  alle  Götter 
überragenden  Gotte,  welcher  alles  das,  was  die  Götter  ur- 
sprünglich durch  ihn  begeistert  wirken,  selbst  wirkt,  sodai's 
es  keine  Grofsthat  des  Agni,  Indra,  Varuna  und  aller  Götter 
giebt,  die  nicht  gelegentlich  ihm  zugeschrieben  würde.  (Die 
Identifikation  des  Soma  mit  dem  Monde  —  vermittelt  ohne 
Zweifel  durch  die  Ähnlichkeit  seines  Zunehmens  und  Ab- 
nehmens  mit  dem  Austrinken  und  Wiederfüllen  eines  Bechers  — 
ist  sekundär,  im  Rigveda  noch  nicht  sicher  nachweisbar  und 
noch  Atharvaveda  11,6,7  als  neu  erscheinend.)  —  Ahnlich 
,wie  im  Soma  der  den  Göttern  dargebrachte  Opfertrank  zu 
einem  Gotte  wird,  so  wird  weiter  auch  das  Gebet  (brahman) 
aus  einem  Stärkungsmittel  der  Götter  selbst  zu  einem  allen 
Göttern  überlegenen  Gotte,  zuerst  als  Brihaspati  oder 
Brahmanaspati,  der  Gebetesherr,  und  sodann,  nach  Ab- 
werfung der  Personifikation,  als  das  B rahm  an,  von  dem  als 
Princip  der  Welt  und  Grandbegriff  der  Philosophie  noch 
später  zu  handeln  sein  wird. 

Ziehen  wir  die  Summe  aus  dieser  Übersicht,  so  läfst  sich 
als  solche,  sozusagen  als  die  Philosophie  des  Rigveda, 
Folgendes  bezeichnen:  alle  Kräfte  und  Wirkungen  der 
Natur  im  Himmel,  Luftraum  und  auf  Erden  sind  die 
Willensäufserungen  persönlicher,  zwar  unsterblicher 
und  übermächtiger,  aber  doch  menschenähnlicher  We- 
sen, zu  denen  man  reden,  welche  man  beschenken  kann, 
und  die  sich  durch  Gebet  und  Opfer  in  ihren  Ent- 
schliefsungen  beeinflussen  lassen.  Dieser  Gedanke  führt 
uns  auf  die  zweite  Hauptfrage,  welche  die  Beziehung  der  Götter 
zu  den  Menschen,  namentlich  als  moralischer  Mächte,  betrifft. 

B.    Die  moralische  Seite  der   vedisclieii  Religion.  — 

Die  indogermanische  Religionsanschauung  unterscheidet  sich 
von  der  semitischen  namentlich  darin,  dafs  der  Semit  vorzugs- 
weise den  Gegensatz  zwischen  Mensch  und  Gott,  der  Indo- 
germane  die  innere  Wesens-Identität  beider  betont.    Darum 


II.    Die  altvedische  Religion.  91 

ist  bei  den  Semiten  Gott  vor  allem  der  „Herr"  und  der 
Mensch  sein  „Knecht",  während  bei  den  Indogermanen  die 
Vorstellung  Gottes  als  „Vater",  und  der  Menschen  als  seiner 
„Kinder"  vorherrscht.  (In  diesem  Sinne  läfst  sich  das  Christen- 
tum als  ein  Durchbruch  indogermanischer  Religionsanschauung 
bei  xlen  Semiten  bezeichnen.)  Jedoch  soll  damit  nicht  mehr 
gesagt  sein,  als  dafs  bei  den  Semiten  die  Vorstellung  der 
Knechtschaft,  bei  den  Indogermanen  die  der  Kindsehaft 
über  die  andere  überwiegt;  und  wie  gelegentlich  Gott  schon 
im  Alten  Testamente  als  Vater  angerufen  wird  (Jes.  64,7 [8], 
freilich  mit  einem  bedenklichen  Zusätze),  so  heifst  es  hin- 
wiederum z.  B.  Rigv.  7,86,7,  „ich  will  wie  ein  Sklave  dem 
Gabenreichen  (Varuna)  dienen" ;  und  die  Vorstellung  der  Götter 
(namentlich  der  des  Himmels)  als  mächtiger  Könige,  gegen 
deren  Willen  der  Mensch  nichts  vermag,  vor  denen  man 
zittert,  deren  Gnade  man  sich  zu  sichern  sucht,  ist  auch  im 
Rigveda  nicht  selten.  Aber  unendlich  viel  häufiger  als  in 
dieser  despotischen  (für  die  semitische  Welt  bezeichnenden), 
erscheinen  die  vedischen  Götter  in  einer  familiären  Stellung 
dem  Menschen  gegenüber  als  seine  Freunde,  Verwandte,  Brüder 
und  vor  allem  als  seine  vorsorgenden  „Väter",  ein  Ausdruck 
der  von  Agni,  Indra,  Varuna  und  vielen  andern  Göttern  so 
häufig  gebraucht  wird,  dafs  wir  in  diesem  aus  dem  Familien- 
leben entlehnten  Bilde  Gottes  als  eines  Vaters,  von  dessen 
Fürsorge  für  den  Menschen  (pramäti)  und  väterlicher  Leitung 
desselben  (prcmiti)  immer  wieder  und  wieder  die  Rede  ist,  die 
eigentliche  Grundanschauung  des  Ariers  von  seinen  Göttern 
zu  sehen  haben.  Natürlich  wollen  diese  lieben  Väter  und 
Freunde,  wenn  man  ihrer  Gunst  sich  erfreuen  will,  durch 
fleifsiges  Opfern  und  Beten  bei  guter  Laune  gehalten  werden, 
und  ein  moralisches  Verhältnis  liegt  an  sich  in  dieser  fami- 
liären Auffassung  ebensowenig  wie  in  jener  despotischen. 
Vielmehr  erscheint  die  semitische  Anschauung  Gottes  als  eines 
furchtbaren  Herrn  geeigneter  für  die  erste  Aufnahme  mora- 
lischer Vorstellungen  (daher  deren  frühes  Auftreten  im  Alten 
Testamente)  als  die  arische,  welche  sehr  leicht,  und  in  der 
That  schon  im  Rigveda,  zu  einem  allzu  vertraulichen  Verhält- 
nisse zwischen  den  ubhe  janmant,  „den  beiden  Völkern",  näm- 


92  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

lieh  der  Götter  und  der  Menschen,  und  schliefslich  zu  einer 
Art  Handelsvertrag  zwischen  beiden  führt,  kraft  dessen  die 
Götter  Schutz,  Sieg  und  Beute,  Gesundheit,  Leben  und  Nach- 
kommenschaft verleihen  und  dafür  mit  Soma  und  Gebet  bezahlt 
werden,  oder  auch  Vorausbezahlung  fordern,  wie  Gott  Indra, 
wenn  er  Väj.  Samh.  3,50  zu  seinem  Verehrer  sagt:  dehi  me, 
dadämi  te,  „gieb  du  mir,  und  ich  gebe  dir".  Wenn  diese 
Auffassung  der  Götter  als  genufssüchtiger  und  der  Menschen 
bedürfender  Wesen  jede  moralische  Bedeutung  derselben  auf- 
hebt, so  liegt  doch"  auch  in  der  altern  und  edlern  Anschauung 
derselben  als  gnädiger  Herrscher  und  liebevoller  Väter  zunächst 
noch  nichts  Moralisches;  dieses,  und  damit  die  eigentlich  be- 
rechtigte Seite  der  Religion  fängt  erst  da  an,  wo  jene  personi- 
fizierten Naturkräfte  als  Urheber  und  Wächter  des  Sitten- 
gesetzes erscheinen,  welches  der  Mensch  als  eine  unbegreifliche 
Macht  von  Anfang  an,  wenn  auch  noch  unentwickelt,  in  sich 
trägt.  Auch  diese  Anschauung  der  Götter  als  moralischer 
Mächte,  als  der  allwissenden,  den  Menschen  durchschauenden 
Hüter  der  sittlichen  Ordnung  fehlt  im  Rigveda  keineswegs. 
Sie  wird  namentlich  vertreten  durch  den  Begriff  des  ritam 
(des  rechten  Ganges),  welches  einerseits  die  in  den  Göttern 
verkörperte  ewige  Ordnung  der  Natur,  anderseits  die  von 
ihnen  überwachte  sittliche  Ordnung  des  Menschenlebens 
bedeutet;  die  Götter  sind  gopä  ritasya,  „Hüter  der  Wahl- 
ordnung", und  zwar  sowohl  in  physischem  (z.  B.  1,163,5) 
als  auch  in  moralischem  Sinne  (z.  B.  6,51,2  —  3);  sie  heifsen 
daher  ritävan,  „im  Besitze  der  Ordnung",  und  ritävridh,  „an 
der  Ordnung  sich  freuend",  sofern  sie  vom  Menschen  inne- 
gehalten wird,  sie  lieben  und  fördern  den  Redlichen,  den 
Gerechten,  den  Guten,  sie  hassen  und  strafen  den  Unredlichen, 
den  Ubelthäter,  den  Bösen,  —  aber  immer  wieder  verfliefst 
der  Begriff  des  Guten  mit  dem  des  frommen  Verehrers  und 
reichlichen  Spenders,  der  des  Bösen  mit  dem  des  opferlosen 
Nichtariers  und  des  kärglich  spendenden  Geizigen.  Wenn 
somit  auch  das  moralische  Element  den  vedischen  Göttern 
keineswegs  fehlt,  so  tritt  es  doch  dem  so  mächtig  entfalteten 
mythologischen  Elemente  gegenüber  sehr  in  den  Schatten: 
und  im  ganzen  mufs  man  sagen,  dafs  die  vedischen  Götter  zu 


II.    Die  altvedische  Religion.  93 

wenig  ihrer  hohen  Aufgabe,  gopd?  ritasya,  Hüter  des  Mora- 
lischen zn  sein,  sich  bewufst  gewesen  sind,  zu  sehr  als  egois- 
tische Naturwesen  von  kräftiger  Sinnlichkeit  darauf  bedacht 
waren,  in  Gebet  und  Opfer  zu  schwelgen,  mit  Sonia  „ihren 
Bauch  zu  füllen"  (wie  es  so  oft  von  Indra  heifst),  als  dafs 
sie  ^nicht  ihr  Schicksal  verdient  hätten,  welches  darin  bestand, 
sehr  bald  in  den  Hintergrund  gedrängt  zu  werden,  einerseits 
durch  die  Riten  selbst,  mit  deren  pünktlicher  Erfüllung  man 
die  Götter  in  der  Gewalt  hatte,  anderseits  durch  das  philo- 
sophische Denken,  welches  eine  höhere  Einheit  verlangte,  als 
sie  in  dieser  buntfarbigen,  weder  durch  ein  physisches  noch 
durch  ein  moralisches  Princip  zu  einer  souveränen  Einheit 
zusammengeschlossenen  Götterwelt  möglich  war. 

Diese  Unzulänglichkeit  der  vedischen  Götter,  als  Stütze 
der  Moral  zu  dienen  (und  somit  also  ihre  Unzulänglichkeit 
überhaupt),  kann  nicht  lebendiger  illustriert  werden  als  durch 
das  moralische,  zur  Wohlthätigkeit  auffordernde  Lied  Rigv.  10, 
117,  welches  wir  hier  zum  Schlüsse  übersetzen  wollen,  einer- 
seits um  zu  veranschaulichen,  wie  entwickelt  das  moralische 
Gefühl  schon  zu  den  Zeiten  des  Rigveda  war,  anderseits  weil 
es  die  (jedem  europäisch  Denkenden  befremdliche)  Erscheinung 
einer  Moral  zeigt,  welche  gar  keinen  Versuch  macht,  sich  auf 
Theologie  zu  gründen,  vielmehr  die  vedische  Götterwelt,  offen- 
bar im  Gefühle  ihrer  Ungeeignetheit  zu  diesem  Zwecke,  kurz- 
weg beiseite  schiebt.  Ja,  der  erste  Vers  ist  geradezu  gegen 
solche  gerichtet,  welche  in  der  Theologie  das  Mittel  fanden, 
sich  der  Pflicht  des  Wohlthuns  zu  überheben,  indem  sie  das 
Elend  für  eine  göttliche  Strafe  erklärten,  welche  man  nicht 
durch  Linderung  desselben  vereiteln  dürfe. 

Rigveda  10,117. 

1.  Der  Hunger  ist  doch  gottverhängte  Strafe  nicht! 
Denn  Satte  auch  ereilt  der  Tod  in  vieler  Art. 
Armen  zu  spenden,   schmälert  ja  den  Reichtum  nicht; 
Wer  nicht  giebt,  hat  auch  keinen,   der  sich  sein  erbarmt. 

2.  Wer,  wohlversehn  mit  Nahrung,    wenn  der  Dürftige, 
Um  eine  Gabe  bittend,  naht  in  seiner  Not, 

Sein  Herz  verhärtet  dem,  der  Ehre  stets  erwies, 
Der  findet  selbst  auch  keinen,   der  sich  sein  erbarmt. 


94  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

3.  Der  erst  geniefst,   der  auch  dem  Armen  mitteilt, 
Der  hinschleicht,  Nahrung  bittend,  abgemagert; 
Wer  ihm  in  seinem  Hülferuf  Gehör  schenkt, 
Hat  für  die  Zukunft  einen  Freund  gewonnen. 

4.  Der  ist  kein  Freund,   der  nicht  dem  Freunde  mitgiebt, 
Dem  treu  anhänglichen,   von  seiner  Speise. 

Weg  geht  er  von  ihm ,  wo  kein  Trost  zu  finden , 
Hängt  sich   an  einen   Fremden,   der  ihn  sättigt. 

5.  Es  reiche  dar  dem  Flehenden  wer  -Macht  hat, 
Hinblickend  auf  den  weitern  Weg  der  Zukunft! 
Reichtum  rollt  um  wie  Räder  an  dem  Wagen. 
Oft  ging  er  schon  von  dem  auf  jenen  über. 

6.  Vergebens  häuft  für  sich  der  Thor  die  Güter; 
Die  Wahrheit  sag'   ich,   sie  sind  sein   Verderben! 

Er  zieht  sich  keinen  Freund  auf,  noch  Vertrauten,  — 
Einsam  geniefst  er,   einsam  wird  er  leiden. 

7.  Nur  wenn  sie  pflügt,  bringt  uns  die  Pflugschar  Nahrung; 
Der  Weg  nützt  nur,  wenn  man  ihn  pflückt  mit  Füfsen; 
Den  lauten  Redner,  nicht  den  stummen  liebt  man; 

So  gilt  ein  Freund,   der  schenkt,  mehr  als  ein  karger. 

8.  Der  Einfufs  schreitet  schneller  als  der  Zweifufs  wohl, 
Der  Zweifufs  holt  den  Dreifufs  ein  von  hinten; 

Der  Vierfufs  kommt  auf  der  Zweifüfs'gen  Ruf  herbei, 
Schaut  auf  zu  ihnen,  ihre  Schar  umwedelnd. 
[So  ist,  wer  kargt,   oft  ärmer,  als  wer  mitteilt.] 

9.  Die  Hände,   obschou   gleich,   sind  nicht  gleich  wirksam; 
Zwei  Schwesterkühe  sind  an  Milch  oft  ungleich: 
Selbst  Zwillinge  an  Leistung  sind  verschieden,   — 
Selbst  Blutsverwandte   sind  nicht  gleich  mildthätig. 

Mit  diesem  Hinweise  auf  die  grofse,  aus  natürlichen  Grün- 
den nicht  erklärliche,  ethische  Verschiedenheit  der  Charaktere 
endet  das  schöne  Lied. 


Verfall  der  altvecliscken  Religion.  95 

III.   Der  Verfall  der  altvedischen  Religion  und  die  Anfänge 
der  Philosophie. 

1.   Zweifel  und  Spott. 

Die  altvedische  Religion  trug,  wie  gezeigt,  die  Keime 
ihres  Unterganges  in  sich,  und  so  werden  wir  uns  nicht  wun- 
dern, wenn  wir  schon  auf  dem  Boden  des  Rigveda  selbst  den 
Verfall  der  Religion  hereinbrechen  sehen,  indem  in  einigen 
spätem  Hymnen,  so  viel  auch  hier  von  der  priesterlichen 
Überlieferung  ausgetilgt  sein  mag,  doch  deutliche  Spuren  von 
Unglauben,  Verspottung  der  Religion  und  ihrer  Institute,  und 
endlich  gänzlicher  Ablehnung  derselben  wahrzunehmen  sind. 
Wir  wollen  dieselben  in  der  Kürze  nachweisen. 

Zunächst  ist  es  schon  ein  bedenkliches  Zeichen  für  die 
Gläubigkeit  eines  Zeitalters,  wenn  in  ihm  viel  von  Glauben 
die  Rede  ist.  Denn  wenn  auch  Lessings  Behauptung,  dafs 
„man  selten  von  der  Tugend  spreche,  die  man  habe,  aber 
desto  öfter  von  der,  die  uns  fehle",  nur  die  halbe  Wahrheit 
so  vieler  sprichwörtlichen  Redensarten  haben  dürfte,  so  wird 
doch  in  einer  Zeit  völlig  unerschütterten  Glaubens  dieser, 
eben  weil  er  die  einer  solchen  Zeit  völlig  gemäfse  Interpre- 
tation des  Daseins  ist,  so  unbewufst  und  gleichsam  instinktiv 
die  Grundlage  des  ganzen  geistigen  Lebens  bilden,  dafs  von 
ihm  so  wenig  die  Rede  ist  wie  etwa  von  der  Verdauung,  so 
lange  dieselbe  richtig  funktioniert.  Wie  aber  dieser,  sobald 
sie  irgendwie  gestört  ist,  sogleich  die  Aufmerksamkeit,  sich 
zuwendet,  so  auch  der  eigenen  Gläubigkeit,  wenn  man  ihrer 
sich  nicht  mehr  ganz  versichert  fühlt.  In  diesem  Sinne  ist 
es  ein  Zeichen  der  Zeit,  wenn  wir  unter  den  spätem  Liedern 
des  Rigveda  folgende  Anrufung,  nicht  irgend  eines  Gottes, 
sondern  des  Glaubens  finden: 

Bigveda  10,151  (=  Taut.  Br.  2,8,8,6-S). 

1.    Durch  Glauben  Opferfeuer  flammt, 
Durch  Glauben   Opferspende  strömt, 
Den  Glauben  auch  im  Schofs   des  Glücks 
Bekennen  wir  durch  unser  Wort. 


96  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Kigveda. 

2.  Mach',   Glaube,  wert  dem  Spendenden, 
Mach'  wert  dem  spenden  Wollenden, 
Dem  Opfrer  wert,   der  gerne   schenkt, 
Dies  Zeugnis,  von  mir  abgelegt! 

3.  Wie   selbst  den  mächt'gen  Unholden 
Die   Götter  brachten   Glauben  bei , 
Präg'  ein  dem  Opfrer,  der  gern  schenkt, 
Dies  Zeugnis,  von  uns   abgelegt! 

4.  Den  Glauben  schätzt  der  Götter  Schar 
Und  Opfrer,  schützend  Lebenshauch; 
Wer  ernstlich  will,  wird  gläubig  bald, 
Wer  glaubt,  gewinnt  der  Güter  viel. 

5.  Den  Glauben  rufen  morgens  wir, 
Den  Glauben  an  zur  Mittagszeit, 

Den  Glauben,  wenn  die  Sonne  sinkt,  — 
0    Glaube!    mache    gläubig   uns! 

Dieser  Stofsseufzer  einer  frommen,  und  nicht  weniger  begehr- 
lichen, Seele  scheint  zu  beweisen,  dafs  es  zur  Zeit  unseres 
Sängers  mit  der  Gläubigkeit  der  reichen  und  freigebigen  Opfer- 
herren nicht  mehr  recht  voran  wollte. 

Aber  wir  haben  deutlichere  Anzeichen  des  einreifsenden 
Unglaubens,  und  es  ist  merkwürdig,  clafs  derselbe  sich  vor- 
nehmlich an  den  Gott  Indra  wagt,  der  doch  wie  kein  anderer 
zum  Nationalgotte  des  streitbaren  Inders  der  vedischen  Zeit 
geworden  war.  Diese  Erscheinung  mag  zum  Teil  ihren  Grund 
darin  haben,  dafs  Indra  nicht  so  ununterbrochen  wie  Varuna, 
Savitar  oder  Agni,  sondern  nur  hin  und  wieder,  im  Gewitter, 
seine  Wirksamkeit  entfaltete,  zum  Teil  wohl  auch  darin,  dafs 
er  als  Kriegsgott  zu  öfteren  Malen  diejenigen,  welche  auf 
seine  Hülfe  vertrauten,  im  Stiche  gelassen  haben  wird.  So 
heilst  es  in  dem  Sajanäsa-Liede  2,12,  —  so  genannt,  weil  der 
Sänger,  indem  er  die  Grofsthaten  des  Gottes  von  Vers  zu 
Vers  verkündet,  jedesmal  mit  dem  Refrain  schliefst:  sa,jandsa\ 
Indra!,  „das  ist,  ihr  Völker,  Indra!"  —  in  diesem  noch  so 
glaubensmutigen  Liede  heifst  es,  Vers  5: 


Verfall  der  altvedischeu  Religion.  97 

Der  Furchtbare,  von  dem  sie  zweifelnd  fragen: 
„Wo  ist  er?",  ja,  von  dem  sogar  sie  sagen: 
,,Er  ist  nicht!",  und  der  doch  Spielmarken  gleich 
Einstreicht  die  Güter  des,  der  kärglich  spendet, 
Glaubt  nur  an  ihn,  das  ist,  ihr  Völker,  Indra! 

Ähnlichem  Zweifel  begegnen  wir  Rigveda  8,100,3: 

Bringt  schönes  Lob  dem  Indra  um  die  Wette, 
Wahrhaftiges,  wenn   er  wahrhaftig  ist! 
Zwar   sagt  wohl  der  und  jener:    „Indra  ist  nicht! 
Wer  sah  ihn  je?    Wer  ist's,   dafs  man  ihn  priese?"   — 

was  dann  der  Dichter  durch  eine  Art  Theophanie  widerlegt.  — 
Auch  der  humoristische  Ausruf  (wahrscheinlich  eines  Götter- 
bilder verkaufenden  Händlers),  wie  er  4,24,10  in  den  Text 
geraten  ist,  war  in  den  Zeiten  des  lebendigen  Glaubens  wohl 
nicht  möglich: 

Wer  kauft  mir  diesen  Indra  ab? 
Für  zehn  Milchkühe  geb'  ich  ihn. 
Wenn  er  die  Feinde  abgemurkst, 
Nehm'  ich  auch  wieder  ihn  retour!  — 

Schwerer  als  solche  Späfse  eines  rohen  Gesellen  wiegt  es, 
wenn  auch  elegante  Dichter  ihr  Talent  mi fsbrauchen,  um  die 
Götter,  und  namentlich  wieder  Indra,  zu  verspotten. 

Dafs  Gott  Indra  eigentlich,  so  gut  wie  andere  Leute,  ein 
Egoist  ist,  dem  es  vor  allem  darauf  ankommt,  tüchtig  Soma 
zu  trinken,  das  lag  am  Ende  in  seinem  ganzen  Charakter, 
aber  man  durfte  es  doch  nicht  sagen,  es  wäre  denn  in  der 
Weise  des  satirical  ror/ve,  welcher  Rigv.  9,112  launig  schildert, 
wie /alles  in  der  Welt  dem  eigenen  Vorteil  nachstrebt,  und  da- 
bei jedesmal  mit  dem  altheiligen,  auch  sonst  öfter  (z.  B.  9,113. 
9,114.  8,91,3)  vorkommenden  Refrain  schliefst:  indräya  inclo 
pari-srava,  „Du,  o  Soma,  ströme  dem  Indra  zu".  Geldner  und 
Grafsmann  freilich  haben  diesen  Refrain,  in  dem  nach  unserer 
Meinung  die  Pointe  des  Ganzen  liegt,  als  ungehörig  gestrichen. 
Ob  mit  Recht,  mag  die  Betrachtung  des  Liedes  selbst  lehren, 
das  wir  hier  übersetzen. 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.    I.  7 


98  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

Rigveda  9,112. 

1.  Gar  mannigfach  ist  unser  Sinn, 
Verschieden,  was  der  Mensch  sich  wünscht: 
Radbruch  der  Wagner,  Beinbruch  der  Arzt, 
Der  Priester  den,   der  Soma  preist,   — 

„Dem  Indra  ströme  Soma  zu!" 

2.  Der  Schmied  mit  dürrem  Reiserwerk 
Mit  Flederwisch  als  Blasebalg 

Mit  Ambofsstein  und  Feuersglut 
Wünscht  einen,  der  das  Gold  nicht  spart,  — 
„Dem  Indra  ströme  Soma  zu!" 

3.  Ich  bin  Poet,  Papa  ist  Arzt, 
Die  Küchenmühle  dreht  Mama, 
So  jagen  vielfach  wir  nach  Geld, 
Wie  Hirten  hinter  Kühen  her,  — 

„Dem  Indra  ströme  Soma  zu!" 

4.  Das   Streitrofs  wünscht  den  Wagen  leicht, 
Zulächeln,  wer  Anträge  stellt, 
Hirsutam  vulvam  mentula , 

.  Es  wünscht  der  Frosch  den  Wasserpfuhl,   — 
„Dem  Indra  ströme  Soma  zu!"  — 

Eine  ähnliche  Verspottung  Indra's  durch  angehängten 
Refrain  scheint  das  Lied  Rigv.  10,86  zu  bezwecken,  ein  Dia- 
log, in  dem  indessen  die  Verhältnisse  ziemlich  unklar  liegen. 
Vielleicht  ist  die  Situation  die,  dafs  Indra,  da  ihm  die 
Arier  nicht  mehr  opfern  wollen  (v.  1),  wilden  Stämmen  sich 
zuwendet,  welche  symbolisiert  werden  durch  Vrishakapi,  den 
,Mannaffen"  (einen  Vorläufer  des  Hanumant),  bei  dem  Indra 
sich  mit  fetten  Ochsen  den  Bauch  füllen  und  dazu  weidlich 
zechen  kann  (v.  14—15).  Hieran  nimmt  Indräni,  die  Gattin 
des  Indra,  grofsen  Anstofs  (zumal  da  Vrishäkapi  etwas  un- 
säuberlich mit  ihr  umgegangen  ist,  v.  5.  9),  und  es  kommt 
zu  einem  Zwist  des  göttlichen  Ehepaares,  nicht  ohne  derbe 
Zoten,  indefs  der  Dichter,  durch  alles  dieses  unbeirrt,  gleich- 
sam als  Chorus  zur  Seite  steht  und  hinter  jedem  Verse,  auch 
dem  ärgsten,  seinen  Refrain  herbetet,  der  gewifs  wieder  einem 
alten  Liede  entnommen  ist:  vigvasmäd  Indra'  vttarah!,  „Indra 
erhaben  über  allem  ist". 


Verfall  der  altvedischen  Religion.  99 

Die  Krone  dieser  Verspottungen  des  Indra  aber  bildet 
doch  wohl  das  berühmte  Lied.  10,119,  in  welchem  der  Gott 
auftritt,  stark  von  Soma  angetrunken,  in  seligster  Geberlaune, 
zu  den  tollsten  Streichen  aufgelegt  und  mächtig  renommierend, 
wobei  der  schwer  übersetzbare,  rülpsartige  Refrain  den  Schlüssel 
dieser  seltsamen  Situation  liefert: 

Bigveda  10,119. 

1.*  Jetzt  war'  ich  in  der  Laune  wohl, 
Ein  Rofs  zu  schenken,   eine  Kuh! 
0  ha!  kommt  das  vom  Somatrank? 

2.  Wie   Winde  stürmend  ungestüm 
Hat  mich  der  Trunk  gerüttelt  auf. 

0  ha!  kommt  das  vom  Somatrank? 

3.  Der  Trunk  hat  mich  gerüttelt  auf, 
Wie  schnelle  Rosse  einen  Karr'n. 

0  ha!  kommt  das  vom  Somatrank? 

4.  Da  brüllt  ja  ein  Gebet  mich  an 
Wie  eine  Kuh  ihr  liebes  Kind. 

0  ha!  kommt  das  vom  Somatrank? 

5.  Ich  wirble   wie  ein  Drechsler  rund 
In  meinem  Herzen  das  Gebet. 

0  ha!  kommt  das  vom  Somatrank? 

6.  Nicht  wie  ein  Sonnenstäubchen  grofs 
Erscheint  mir  jetzt  das  Menschenvolk. 

0  ha!  kommt  das  vom  Somatrank? 

7.  So  grofs  sind  Erd'   und  Himmel  nicht 
Wie   eine  Schulter  hier  von  mir. 

0  ha!  kommt  das  vom  Somatrank? 

8.  Lang  bin  ich  bis  zum  Himmel  hoch, 
Breit  wie  das  ganze  Erdenrund. 

0  ha!  kommt  das  vom  Somatrank? 


*  Die  Übersetzer  können  es  auch  hier  nicht  lassen,  durch  Um- 
stellungen einen  strophischen  Bau  und  geordneten  Gedankengang  herzu- 
stellen. —  Sie  wissen  am  Ende  nicht,  wie  einem  zu  Mute  ist,  der  Soma 
getrunken  hat. 

7* 

LefC. 


100  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

9.    Jetzt  will  ich  mal  die  Erde  gleich 
Umschmeifsen  linkshin   oder  rechts. 
0  ha!  kommt  das  vom  Somatrank? 

10.  Mich  brennt's,   der  Erde  eins  zu  hau'n, 
Dafs  sie  zerfliegt  nach  links  und  rechts. 

0  ha!  kommt  das  vom  Somatrank'? 

11.  Beug'  ich  mich  halb  zum  Himmel  raus, 
Kann  bis  nach  unten  langen  ich. 

0  ha!  kommt  das  vom  Somatrank? 

12.  Ich  bin  der  Grofse,   Grofse,  ich, 
Bis  in  die  Wolken  rag'  ich  auf. 

0  ha!  kommt  das  vom  Somatrank? 

13.  Ich  geh'  nach  Haus!*    Ich  hab'  genug! 
Den  Göttern  bring'  ich  noch  was  mit! 

0  ha!  kommt  das  vom  Somatrank? 

Wie  die  Religion,  so  werden  in  den  Ausläufern  der 
Rigvedalitteratur  auch  deren  Institute  verspottet.  So  nament- 
lich in  dem  den  Vasishtha-Liedern  (Buch  VII)  angehängten 
Hymnus  an  die  Frösche;  wie  diese  in  der  Batrachomyo- 
machie  dienen,  das  heroische  Epos,  in  den  Fröschen  des 
Aristophanes,  den  tragischen  Chor  zu  parodieren,  so  treten 
die  Frösche  hier  (Rigv.  7,103)  zur  Abwechslung  einmal  für 
die  Götter  ein,  werden,  wie  diese,  in  ihren  Heldenthaten 
besungen  und  zum  Schlüsse  in  der  lächerlichsten  Weise  um 
ihren  Segen  angerufen.  Das  ganze  Jahr  durch  haben  die 
Frösche  geschwiegen  „wie  Priester,  die  ein  Gelübde  bindet" 
(v.  1);  in  der  Regenzeit  erheben  sie  ihr  Gequake,  wobei  der 
eine  dem  andern  nachplärrt  wie  in  der  Brahmanenschule  der 
Schüler  dem  Lehrer  (v.  5).  Sie  lärmen  dabei  wie  die  Priester, 
wenn  sie  beim  übernächtigen  Soma  um  den  vollen  Kessel 
sitzen  und  reden  (v.  7);  und  nochmals:  sie  machen  ein  Ge- 
schrei wie  Priester,  die  vom  Soma  trunken  sind,  und  schwitzen 
dabei  wie   die  Adhvaryu's,   wenn   sie   den   heifsen  Milcht  rank 


Es  wird  grihän  zu  lesen  sein  (vgl.  10,85,26.  10,86,20.  6.54,2). 


Verfall  der  altvedisclien  Religion.  101 

bereiten  (v.  8).  Das  Tollste  aber  ist  der  Schlufs,  wo  die 
Frösche  als  Hüter  der  heiligen  Ordnung  des  Jahres  gefeiert 
(devahitim  jugupur  dvddacasya)  und  um  Schätze,  Kühe  und 
langes  Leben  angefleht  werden,  wie  Geldner  und  Grafsmann 
meinen,  „um  dem  Scherz  das  Ansehen  eines  Gebetliedes  zu 
geben",  wie  wir  glauben,  um  die  zahlreichen  Stellen,  in  denen 
alle  möglichen  Götter  um  diese  Dinge  angerufen  werden, 
dadurch  lächerlich  zu  machen,  dafs  hier  die  verschiedenen 
Frösche,  der  brüllende  wie  der  meckernde,  der  gelbe  wie  der 
bunte,  die  Stelle  der  Götter  einnehmen.  Es  ist  vielleicht 
nicht  zufällig,  dafs  der  Schlufssatz:  gavdni  mandukd  dadatah 
gatäni  sahasrasdve  pra  tiranta?  dyus,  parodierend  aus  einem 
Hymnus  des  Vicvämitra  (3,53,7:  Vicvdmitrdya  dadatah  ma- 
ghdni  sahasrasdve  pra  tiranta-1  dyus)  entnommen  ist,  dem  die 
Schule  des  Vasishtha  feindlich  gegenüberstand. 

Rigveda  7,103. 

1.  Das  Jahr  durch  lagen  sie  so  stumm 
Wie  Priester  unterm  Schweiggebot; 
Doch  nun  der  Regengott  sie  weckt, 
Tönt  laut  der  Frösche  Redeschwall. 

2.  Des  Himmels  Wasser  sind  zu  ihm  gekommen, 
Der  in  dem  Sumpfe  trocken  lag  wie  Leder; 
Da,  wie  von  Kühen,   die  nach  Kälbern  brüllen, 
Bricht  laut  aus  die  Beredsamkeit  der  Frösche. 

3.  Sehnsüchtig  harrend  auf  die  Zeit  des  Regens 
Und  schmachtend  lagen  sie,   da  strömt  es  nieder; 
Xun  grüfsen  sie  sich,  wie  der  Sohn  den  Vater, 
Mit  freudigem  Quaken  zu  einander  redend. 

4.  Sieh'   diese  zwei,   die  freudig  sich  begegnen, 
Wie  ihnen  wohl  ist  heim  Ergufs  der  Wasser! 

Und  hier,  der  Frosch,  wie  hoch  er  hüpft  im  Regen! 
Ein  bunter  dort  tauscht  Worte  mit  dem  gelben. 

5.  Wenn  sie  so  mit  einander  Worte  wechseln, 

Wie  Schüler,   die  nachsprechen  ihrem  Lehrer,   — 
Ihr  müfst  die  Lektion  wohl  trefflich  können, 
Wenn  man  im   Wasser  euch  so  wohlberedt  hört! 


102  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

6.  Das  brüllt  wie  Ochsen,  meckert  wie   die  Böcke, 
Gesprenkelte  und  gelbe  durcheinander; 

„"Viel  sind  der  Formen ,  aber  nur  ein  Name ", 
Vielfach  verziert  sind  ihrer  Rede  Worte. 

7.  Wie  Priester  über   Nacht  beim  Soma  sitzen 
Rings  um  das  volle  Fafs  und  Reden  halten, 
So  feiert  ihr  wohl  auch,   o  Frösche,  heute 
Den  Tag,  mit  dem   die  Regenzeit  begonnen! 

8.  Ja,  Priester  sind  es,  die  des  süfsen  Soma  voll 
Das  grofse  Jahrgebet  mit  Lärm  begehen, 

Geistliche  Herrn,  beim  Milchtrank  weidlich  schwitzend, 
Recht  öffentlich,   denn  jeder  will  sich  zeigen. 

9.  Die  gottgesetzte  Jahresordnung  hütend, 
Nicht  brechen  ihre  Zeit  die  Götterhelden;  — 
Da  kommt  die  Regenzeit,  und  nun  ergiefsen 
Die  heifsen  Opferkessel  ihren  Milchtrank. 

10.    Der  Brüllochs  schenkt,   es  schenkt  der  Meckerbock  uns, 
Der  bunte  und  der  gelbe  reiche  Güter! 
Die  Frösche  „schenken  uns  ein  Hundert  Kühe 
Und  langes  Leben  bei  dem  Tausendopfer!"  — 

Wo  solche  Parodien  möglich  waren,  da  hatte  der  Un- 
glaube schon  weit  um  sich  gegriffen;  und  es  ist  nicht  zum 
Verwundern,  wenn  es  Männer  gab,  die  sich  in  offener  Oppo- 
sition von  der  bestehenden  Religion  und  ihrer  Ordnung  los- 
sagten. Der  kühne  Ausspruch  eines  solchen  ist  uns  erhalten 
in  dem  Verse,  Rigveda  10,82,7: 

Ihr  kennt  ihn  nicht,   der  diese  Welt  gemacht  hat: 
Ein  andres   schob   sich  zwischen  ihn  und  euch  ein: 
Gehüllt  in  Nebel  und  Geschwätz  umherziehn 
Die  Hymnensänger,  ihren  Leib   zu  pflegen. 

Diese  Kraftstelle  besagt,  dafs  die  Recitierer  der  vedischen 
Hymnen  (ukthaqäs),  also  die  Träger  der  heiligen  Überlieferung 
1)  selbst  im  Unklaren  (im  Nebel)  sich  befinden,  2)  andere 
durch  blofses  Geschwätz  (jalpi)  bethören,  3)  als  asutripak 
(„Leben  sättigend",  oder  „nicht  leicht  zu  ersättigen"  —  beides 
kommt  schliefslich  auf  dasselbe  hinaus)  nicht  nach  Wahrheit, 


Die  Anlange  der  Philosophie.  103 

sondern  nach  ihrem  Lebensunterhalte  streben,  ein  Vorwurf, 
welcher  seitdem  sehr  oft  gegen  die  Brahmanen  erhoben 
worden  ist. 

2.   Aufdämmern  des  Einheitsgedankens. 

^  Ein  Zeitalter,  in  dem  so  deutliche  Anzeichen  des  Unglau- 
bens, der  Verspottung  und  der  offenen  Ablehnung  der  Religion 
sich  zeigen,  war  reif  für  die  philosophische  Betrachtung 
der  Dinge,  und  eine  solche  sehen  wir  denn  auch,  Hand  in 
Hand  mit  den  geschilderten  Symptomen  des  verfallenden 
Glaubens,  in  den  jüngsten  Hymnen  des  Rigveda  klar  und 
immer  klarer  hervortreten. 

Und  zwar  thun  hier  die  philosophischen  Dichter  des  Rig- 
veda als  ersten  und  wichtigsten  Schritt  denselben,  durch  welchen 
in  Griechenland  Xenophanes  die  Philosophie  begründete,  und 
der  der  Natur  der  Sache  nach  den  Anfang  der  Philosophie 
bedeutet:  er  besteht  in  der  Erkenntnis,  dafs  aller  der  bunt- 
gestaltigen  Vielheit  der  Götter  und  der  Wesen  in  der  Welt 
zu  Grunde  liegt  eine  von  ihnen  allen  verschiedene,  ewige 
Einheit.  Die  Art,  wie  durch  diesen  Gedanken  der  Einheit 
der  Welt  in  Indien  und  in  Griechenland  die  Philosophie  zum 
Durchbruche  kommt,  ist  eine  charakteristisch  verschiedene. 
Xenophanes  lehnt  sich  in  offenem  Kampfe  gegen  die  homerische 
Götterwelt  auf;  er  konnte  dies  thun,  weil  ihm  keine  ge- 
schlossene Priestergilde  gegenüberstand,  und  er  mufste  es 
thun,  weil  die  griechischen  Götter  unter  den  Händen  der 
homerischen  Poesie  und  ihrer  plastischen  Gestaltungskraft  zu 
sehr  zu  festen  Individuen  krystallisiert  waren,  um  vom  philo- 
sophischen Denken  aufgelöst  zu  werden,  es  wäre  denn  in  der 
künstlichen  Weise  einer  allegorischen  Umdeutung,  wie  sie 
später  von  den  Stoikern  versucht  wurde.  Anders  in  Indien: 
hier  war  eine  offene  Bekämpfung  angesichts  des  mehr  und 
mehr  sich  konsolidierenden  Priesterstandes  ohne  Aussicht  auf 
Erfolg;  es  bedurfte  aber  auch  derselben  nicht,  denn  die  Personi- 
fikation der  indischen  Götter  war  so  wenig  durchgeführt,  die 
Gestalten  derselben  waren  noch  so  nebelhaft  durchsichtig  und 
leicht  in  die  entsprechende  Naturerscheinung  auflösbar,  dafs 
man  es  unternehmen  konnte,  die  Götter  stehen  zu  lassen  und 


10-4  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

durch  sie  hindurch  die  Einheit  zu  ergreiten,  welche  allen 
Göttern  und  allen  entsprechenden  Naturkräften  zu  Grunde 
liegt.  Dementsprechend  gewahren  wir  in  den  spätem  Teilen 
des  Rigveda  ein  eigentümliches  Suchen  und  Fragen  nach  der 
Einheit,  auf  der  alle  Vielheit  der  Götter  und  der  Dinge  beruht, 
wobei  die  Frage  immer  dringlicher  gestellt  wird  und  die 
Lösung  in  schrittweise  zunehmender  Deutlichkeit  hervortritt, 
wie  wir  jetzt  im  einzelnen  nachweisen  wollen. 

Zunächst  ist  hier  von  einer  Eigentümlichkeit  der  vedischen 
Götterverehrung  zu  reden,  die  derselben  eine  Mittelstellung 
zwischen  Polytheismus  und  Monotheismus  zuweist,  und  die 
man  (mit  Max  Müller)  füglich  als  Henotheismus  bezeichnen 
kann.  Der  vedische  Glaube  ist  nicht  ein  Polytheismus  wie 
der  der  Griechen,  wo  jeder  Gott  dem  andern  Gott  in  ge- 
schlossener Individualität  gegenübersteht  und  in  seiner  AVir- 
kungssphäre  durch  die  der  andern  eingeschränkt  wird;  die 
Götter  des  Veda  bewohnen  nicht  in  familiärer  Gemeinschaft 
ihren  Olympus,  sondern  jeder  steht  auf  seiner  eigenen  Höhe, 
und  wenn  man  sich  ihm  naht,  so  treten  alle  andern  Götter 
in  den  Hintergrund,  ja  sie  verschwinden  mitunter  in  dem 
Mafse,  als  wenn  der  gerade  angerufene  Gott,  sei  es  Agni, 
Indra,  Varuna  oder  sonst  einer,  der  allein  vorhandene  wärt. 
Daher  die  auffallende  Erscheinung,  dafs  dieselben  Grofsthaten, 
wie  Festgründung  der  Erde,  Stützung  des  Himmelsgewölbes, 
Heraufführen  der  Sonne  u.  s.  w.,  bald  dem  Varuna,  bald  dem 
Indra  oder  Agni,  oder  auch  andern  Göttern  beigelegt  und 
schliefslich  sämtlich  auf  Soma  oder  Brahmanaspati  vereinigt 
werden.  Es  ist  hierbei,  als  wenn  im  tiefsten  Grunde  des 
Gemütes  schon  das  Bewufstsein  von  der  Einheit  des  Gött- 
lichen vorhanden  wäre,  und  als  wenn  dieses  Gottesbewufst- 
sein  die  verschiedenen  Götter  nur  als  Schemata  benutzte,  an 
denen  es  sich  zum  Ausdrucke  bringt.  Hierbei  werden  häufig 
zwei  Götter  im  Dual  zusammengefafst,  wie  Mitra  -  Varuna, 
Agni- Soma,  Indra -Väyu  u.  s.  w. ,  und  als  Einheit  angerufen; 
oder  der  Dichter  wendet  sich  an  die  Vigve  deväh,  ursprünglich 
„alle  Götter",  welche  dann  später  bei  zunehmender  Systema- 
tisierung als  eine  besondere  Götterklasse  neben  den  andern 
erscheinen.    An  sie,  unter  spezieller  Anrufung  einzelner  Götter, 


Die  Anfänge  der  Philosophie.  105 

ist  auch  der  mystisch  dunkel  gehaltene  Hymnus  3,55  gerichtet, 
der  in  allen  22  Versen  mit  dem  merkwürdigen  Refrain  schliefst: 
mahad  devänäm  asuratvam  ekam,  d.  h.  (wenn  wir  richtig  über- 
setzen): „grofs  ist  der  Götter  Lebenskraft,  ist  eine".  —  Deut- 
licher noch  tritt  der  Versuch,  zur  Einheit  vorzudringen,  hervor 
in  der  Aditi,  die  mythologisch  zur  Mutter  der  Aditycts,  der 
höchsten  Himmelsgötter,  wurde,  etymologisch  aber  „die  Un- 
endlichkeit" zu  bedeuten  scheint.    Von  ihr  heifst  es  1,89,10: 

Die  Aditi  ist  Himmel,  ist  der  Luftraum, 

Die  Aditi  ist  Mutter,  Vater,   Sohn. 

Die  Aditi  ist  alle   Götter  und  Menschen , 

Ist  was  geboren  ward  und  was  da  sein  wird. 

Was  hier  noch  schüchtern  in  mythologischer  Verhüllung  er- 
seheint, der  Gedanke  von  der  Einheit  des  Universums, 
findet  seine  grofsartige  Durchführung  in  zwei  Hymnen,  die 
den  eigentlichen  Kern  der  Philosophie  des  Rigveda  ausmachen, 
das  dem  Dirghatamas  zugeschriebene  Lied  1,164  und  der 
Schöpfungshymnus  10,129.  Mit  ihnen  haben  wir  uns  jetzt 
zunächst  zu  beschäftigen. 

3.   Das  Einheitslied  des  Dirghatamas,  Rigv.  1,164. 

Dieser  gewaltige  Hymnus  steht  an  der  Spitze  der  ganzen 
Entwicklung  der  indischen  Philosophie,  ein  Vorrang,  der  ihm 
nur  durch  den  Schöpfungshymnus  10,129  streitig  gemacht 
werden  könnte.  Das  Thema  bei  beiden  ist  das  gleiche:  die 
Einheit  in  der  Vielheit  der  Welterscheinungen,  nur 
dafs  dieser  aller  weitern  Philosophie  als  Ausgangspunkt  die- 
nende Gedanke  1,164  mehr  analytisch,  10,129  mehr  synthetisch 
behandelt  wird.  Der  Dichter  von  1,164  geht  aus  von  der 
Vielheit  und  sucht  durch  sie  zur  Einheit  vorzudringen,  wobei 
er  sich  vielfach  noch  in  rituellen  Vorstellungen  befangen  zeigt, 
während  der  Dichter  des  Schöpfungsliedes  sich  ganz  frei  von 
rituellen  und  dogmatischen  Vorurteilen  gemacht  hat,  die  ewige 
Einheit  direkt  ins  Auge  fafst  und  aus  ihr  die  Dinge  abzu- 
leiten  sucht.  Es  ist  damit  ähnlich  wie  mit  dem  Grundge- 
danken des  Christentums,  der  Wiedergeburt,  welche  bei  Paulus 
noch    in    ihrer    Entstehung    und    Loswindung    von    ererbten 


106  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

Vorurteilen  beobachtet  werden  kann,  während  sie  bei  Johannes 
abgeklärt  und  als  fertiges  Resultat  auftritt.  So  wie  wir  nun 
hieraus  auf  die  Priorität  des  paulinischen  vor  dem  johanneischen 
Gedankenkreise  schliefsen  müssen,  so  werden  wir  auch  dem 
dunkeln  Suchen  in  1,164  die  Priorität  vor  den  abgeklärten 
Anschauungen  von  10,129  einräumen.  Hierbei  braucht  10,129 
nicht  direkt  von  1,164  abzuhängen,  sondern  nur  eine  ähnliche 
Gedankenarbeit  vorauszusetzen,  wie  wir  sie  in  dem  Einheits- 
liede  des  Dirghatamas  noch  vor  Augen  haben. 

Eine  Disposition  dieses  letztern  ist  schwer  zu  geben,  da 
sich  in  ihm  drei  Gedanken: 

a.  die  Rätsel  des  Universums, 

b.  die  Einheit  als  Lösung  derselben, 

c.  die  Identität    der    Weltordnung    und    Opfer- 
ordnung 

fast  unentwirrbar  durcheinander  schlingen.  Nachdem  gleich 
in  v.  1  durch  die  Koordination  der  drei  Brüder,  des  Him- 
melsfeuers (Sonne  und  Sterne),  des  Wolkenfeuers  (Blitz) 
und  des  Opferfeuers,  auf  die  Einheit  der  himmlischen,  atmo- 
sphärischen und  irdischen  Phänomene  hingedeutet  und  somit 
gleichsam  der  Dreiklang  angeschlagen  worden,  welcher  als 
Grundaceord   das   ganze  Lied   durchklingt,   so   werden   weiter 

a.  die  Rätsel  des  Universums  entwickelt,  und  zwar 
speciell  des  Sternenhimmels  als  physischen  Vertreters  der 
Zeit  (v.  2.  13—16.  19—20.  48),  der  Sonne  (v.  5.  7.  8—9.  17. 
31—33.  47.  52)  und  des  irdischen  Feuers  (v.  1.  30). 

b.  Hierbei  kommt  wieder  und  wieder  der  Gedanke  der 
Einheit  in  all  dieser  Mannigfaltigkeit  zum  Durchbruche 
(v.  4.  6.  10  —  12.  18.  21.  22.),  bis  dann  endlich  (v.  46)  die 
grofse  Wahrheit  unverhüllt  und  in  offener  Opposition  gegen 
die  Orthodoxie  ausgesprochen  wird:  ekam  sad  viprä  bahudhd 
vadanti,  „vielfach  benennen,  was  nur  eins,  die  Dichter".  (Bis 
zum  tat  tvam  asi  der  Chändogya-Upanishad  hin  ist  kein  so 
epochemachendes  Wort  mehr   in   Indien   gesprochen   worden.) 

c.  Begründet  wird  diese  .  Einheit  durch  einen  durch- 
gängigen Parallelismus  der  Weltordnung  und  Opferord- 
nung, indem  sowohl  die  Funktionen   des  Hotar  (7  Hotar's, 


Das  Einheitslied  des  Dirghatamas,  Kigv.  1,164.  107 

seine  Rede,  deren  Metra)  als  auch  die  des  Adhvaryn  (Pra- 
vargya,  Somaopfer,  Tieropfer)  mit  entsprechenden  kosmischen 
Verhältnissen  parallelisiert,  ja  identifiziert  werden.  So  werden 
namentlich  gleichgesetzt: 

die   7  irdischen  Hotar's  —  7  himmlische  Hotar's,  v.  2 — 3.   36. 

die  irdische  Väc  (Rede)  —  die  himmlische,  v.  37 — 39.40  —  42.45.49. 

die  irdischen  Metra  —  die  himmlischen,  v.  23 — 25. 

der  irdische  Pravargya  —  der  himmlische  (Gewitter),  v.  26 — 29. 

das  Tieropfer  —  Stieropfer  der  Götter,  v.  43 — 44.  50.  51. 

Opferbett  —  Ende  der  Erde, 

Opfer  —  Nabel  der  Welt, 

Soma  —  Sonne  und  Regen,     [Rede, 

Beter  (brahmän)  —  höchster  Himmelsraum  der 


v.  34—35. 


In  diesen  Parallelisierungen  tritt  schon  deutlich  die  Methode 
der  Brähmana's  zu  Tage,  welche  unermüdlich  darin  sind, 
die  Bestandteile  des  Opfers  in  die  Bestandteile  der  Welt 
symbolisch  umzudeuten;  zugleich  aber  schimmert  auch  das 
schon  durch,  dessen  praktische  Seite  diese  Symbolisierungen 
sind,  der  grofse  philosophische  Gedanke  der  Upanishad's, 
dafs  das  Princip  der  Dinge  identisch  ist  mit  dem  Brähman 
(Gebet),  d.  h.  mit  derjenigen  Erhebung  des  Willens  über  die 
eigene  Individualität,  deren  wir  in  der  religiösen  Andacht  uns 
bewufst  werden. 

Noch  ist  vorauszubemerken,  dafs  der  Hymnus  sich  von 
selbst  in  zwei  Teile  zerlegt,  v.  1—22,  welche  die  Einheit  des 
Universums,  und  v.  23—46,  welche  die  Einheit  der  Welt- 
ordnung und  Opferordnung  nachweisen  (v.  47  —  52  ist  offen- 
bar ein  Nachtrag).  Die  Atharva-Recension  hat  diese  beiden 
Teile  als  besondere  Hymnen  9,9  und  9,10  (mit  einigen  Um- 
stellungen), aber  da  der  Grundgedanke  beider  übereinstimmend 
ist,  da  die  Betrachtungen  des  ersten  Teils  dem  zweiten  schon 
vorgreifen  (namentlich  in  v.  3.  21)  und  dafür  wiederum  in 
diesem  nachklingen,  so  ziehen  wir  es  vor,  an  der  einheitlichen 
Form  des  Rigveda  festzuhalten.  Eine  Zerlegung  des  Hymnus 
in  kleinere  Stücke,  wie  sie  von  den  Neuerern  wohl  noch  oft 
versucht  werden  wird,  mag  eine  nützliche  Übung  des  philo- 
logischen Scharfsinnes  sein,   hat  aber  für  die  philosophischen 


108  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

Gedanken,    um    die    es   uns   hier   zu   thun   ist,    keine   weitere 
Bedeutung.  * 

A.    Erste  Hälfte,  v.  1-22. 

Vers  1—3.  Das  Himmelsfeuer  (Sonne  und  Sterne),  das  Blitz- 
feuer und  das  Opferfeuer  bilden  eine  Einheit  (sind  Brüder), 
welche  der  Dichter  in  dem  Opferfeuer  anschaut  als  einen 
Stammherrn  (vigpati)  mit  sieben  Söhnen,  d.  h.  den  sieben 
Hotar's.  Diesen  sieben  irdischen  Hotar's  (die  öfter  erwähnt 
werden,  z.  B.  3,10,4.  8,60,16.  10,63,7)  entsprechen  für  das 
Firmamentfeuer  sieben  himmlische  Hotar's  und  für  das  atmo- 
sphärische Feuer  sieben  Schwestern  (vielleicht  sieben  Blitz- 
flammen). Das  Firmament  ist  ein  Wagen,  bestehend  nur  aus 
einem  Ungeheuern,  sich  drehenden  JRade,  das  von  der  durch 
die  sieben  Hotar's  angeschirrten  Sonne  gezogen  wird.  Erde, 
Luftraum  und  Himmel  sind  drei  ineinander  steckende  Naben 
des  Sternenrades. 

1.  Dort  jener  schöne  Priester,  grau  vor  Alter1! 
Verzehrend  ist  sein  Bruder  in  der  Mitte 2 ; 
Schmalz   auf  dem  Rücken  trägt  der  dritte  Bruder3; 
Als  Stammherrn  sah  ich  ihn  mit  sieben  Söhnen4. 

1.  Das  Firmament  mit  Sonne    und  Sternen.      2  •  Der  Blitz.      3.   Das  Opt'er- 
feuer.     4.  Den  sieben  Hotar's. 

2.  Einrädrig  ist  der  Wagen x ,  den  die  sieben 2 
Anschirr'n;  ihn  zieht  ein  Rofs  mit  sieben  Namen3; 
Dreinabig  ist  es,  ewig,  unaufhaltsam, 

Das  Rad 4 ,  auf  welchem  alle  Wesen  fufsen. 
1.    Des  Firmamentes.     2.    Die   sieben    himmlischen  Hotar's.     3.    Die    Sonne, 
später  Aditya   genannt;    hier   sind   die  sieben  Aditya's    ihre  Namen,     4.  Des 
Firmamentes. 


*  Weder  was  die  indischen  Exegeten  in  diesen  Hymnus  hineingeheim- 
nifst,  noch  was  die  europäischen  daraus  herausgesponnen  haben,  durfte  uns 
bei  der  Erklärung  desselben  leiten,  sondern  nur  der  anhaltend  und  ernstlich 
durchdachte  Wortlaut  des  Liedes  selbst  in  seinem  Zusammenhange  mit 
den  übrigen  Erzeugnissen  der  vedischen  Philosophie.  Haug's  Erklärung 
desselben  als  „Vedische  Rätselfragen  und  Rätselsprüche"  (Sitzungsberichte 
der  Münchener  Akademie  1875,  II,  S.  457—515),  die  wir  hinterher  verglichen 
haben,  enthält  im  einzelnen  neben  vielem  Verfehlten  auch  manches  Gute, 
fufst  aber  im  ganzen  auf  der  Voraussetzung,  dafs  sich  in  dem  Hymnus 
nirgends  ein  wirklicher  Zusammenhang  nachweisen  lasse.  Unsere 
Darlegung  unternimmt  es,  diese  Voraussetzung  zu  entkräften.  Im  einzelnen 
freilich  ist  vieles  problematisch  und  wird  es  wohl  für  immer  bleiben. 


Das  Einheitslied  des  Dirghatamas,  Rigv.  1,164.  109 

3.  Es  sind  die  [selben]   sieben,  die  dem  Wagen  hier1 
Vorstelm  mit  sieben  Rädern2,  sieben  Rossen3; 
Und  sieben  Schwestern4  jauchzen  ihnen   zu, 

Da  wo  gesetzt  der  Kühe  sieben  Namen 5. 

1.  Dem  Opfer.  2.  Den  sieben  Teilen  des  jährlichen  Opfercyklus.  3.  Den 
sieben  Opferflammen,  Mund.  1,2,4.  4.  Sieben  Blitzflammen  mit  ihren  sieben, 
der  Tonleiter  entsprechenden  Donnerstimmen  (den  sapta  vuiuh,  Rigv.  3,1,6). 
5.  Sieben  AVolkenarten  oder  Wolkenströme  (die  sapta  yahvih,  ibidem  v.  3.  6).  — 
Möglich  ist  es  auch,  (mit  Hang)  unter  den  Rossen  Metra,  unter  den  Schwe- 
stern Stoma's  und  unter  den  in  ihnen  ruhenden  Kühen  die  Töne  der  Skala 
zu  verstehen. 

Vers  4—6.  Der  schon  v.  1  erwähnte  Stammherr,  d.  h.  die 
Einheit,  welche  jener  Vielheit  der  Erscheinungen  des  Uni- 
versums zu  Grunde  liegt,  ist  zu  erforschen. 

4.  Wer  hat  gesehn,  wie  den  zuerst  Entstandnen, 
Den  Knochenhaften1  trägt  der  Knochenlose2? 

Wo  war  der  [Lebens-]Hauch,   das  Blut,  das  Selbst  der 

Erde? 
Wer  ging,   den  der  es  weifs  darnach  zu  fragen? 
1.  Das   gestaltete  Sein   (vyaktam).     2.  Das  gestaltlose  Urprincip  (avyaktam). 

5.  Als  Thor,  im   Geist  nichtwissend,  frag'  ich  jenen 
Verborgnen  Wohnstätten  der  Götter  nach, 

Wo  am  einjährigen  Kalb  1  die  Weisen  spannten 
Die  sieben  Fäden2,  um  sie   auszuweben. 
1.   An  der  Sonne  als  Vertreterin  des  Jahres.     2.  Die  sieben  Jahresopfer. 

6.  Unkundig  frag'  ich  die  hier  etwa  kundig, 

Die  Weisen ,  zu  erforschen ,  was  ich  nicht  weifs : 
Wer  wohl  gestützt  hat  die  sechs  Weltenräume 
Als  Ungeborner;  wer  war  wohl  dies  Eine?  — 

Vers  7—22.  Der  Dichter  fährt  fort,  die  rätselhaften  Phä- 
nomene des  Universums  zu  schildern,  und  immer  wieder  wird 
diese  Schilderung  unterbrochen  durch  die  Frage  nach  dem 
Einen;  der  Eine  ist  v.  10  der  Träger  der  drei  Weltenväter 
und  Weltenmütter,  v.  12  der  Vater,  v.  13  die  Weltachse, 
v.  18  der  göttliche  Geist,  v.  22  der  Vater. 

Vers  7 — 10.  Der  Eine  als  Weltträger.  Woher  stammt 
die   Sonne   (v.  7)?     Sie   ist   das   vom    Vater   Himmel  mit   der 


HO  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

Erdkuh  gezeugte  Kalb  (v.  8 — 9).  Aber  der  Himmel  und  die 
Erde  (beide  aus  drei  Schichten  übereinander  bestehend)  werden 
getragen  von  dem  Einen,  was  wohl  im  Himmel,  aber  nicht 
überall  auf  Erden  bekannt  ist  (v.  10). 

7.  Es  sage  an  hier,  wer  es  weifs  zu  sagen, 

Wo   der  verborgne  Stand  des  schönen  Vogels1? 
Aus  seinem  Haupte  melken  Milch  die  Kühe 2 , 
Gewandverhüllt,  mit  [seinem]   Fufse  Wasser  trinkend3. 
1.    Der    Ursprungsort    der    Sonne.     2.    Die   Wolken    nähren    sich    von    der 
Sonne.     3.  Mittels  des  Fufses  der  Sonne  (der  über  die  Erde  hinwandelnden 
Sonnenstrahlen)  trinken  die  Wolken  das  Erdenwasser. 

8.  Die  Mutter  liefs  dem  Vater  zu  was  recht  ist, 

Mit  Sinn  ihm  paarend  sich  und  Wunsch  zu  Anfang. 
Unwillig  ward,  durchbohrt,  sie  keimesschwanger, 
Da  brachen  aus  in  Preis  die  Jubelscharen. 

9.  Die  Mutter  war  geschirrt  ans  Joch  der  Wackern1; 
Noch  stand  das  Kind  umfriedigt  von  der  Hürde  - ;   — 
Da  blockt  das  Kalb  und  schaut  zur  Kuh  hernieder, 
Zur  allgestaltigen ,  drei  Meilen   abwärts  3. 

1.  dakshinäyäh,  vielleicht  der  Morgenröte :  eben  hatte  die  Erde  den  Wagen 
der  Morgenröte  (ratho  dakshinäyäh,  1,123,1)  her  aufgeführt,  2.  noch  war  die 
Sonne  nicht  aufgegangen ;  3.  da  erhebt  sie  sich  und  schaut  hoch  vom 
Himmel  auf  die  Erde  herab. 

10.    Drei  Mütter  sind,   drei  Väter  auch;   sie  trägt 
Aufrecht  der  Eine,  nimmer  wird  er  müde. 
Dort,   auf  des  Himmels  Rücken,  wird  verkündet 
Die  Rede,  alles  wissend,   doch' nicht  jedem  kund. 

Vers  11  —  12.  Der  Eine  als  Vater  im  Sternhimmel 
und  Opferfeuer  gegenwärtig.  Der  Fixsternhimmel  ist 
ein  Rad,  welches  sich  um  Erde  und  Luftraum  als  die  feste 
Achse  unermüdlich  dreht.  Diese  Umdrehung,  wenn  auch 
allnächtlich  erfolgend,  vollendet  sich  doch  erst  im  Laufe  des 
Jahres.  Daher  der  Dichter,  die  tägliche  und  jährliche  Drehung 
nicht  unterscheidend,  die  zwölf  Monate  (die  zwölf  Bildner  des 
Jahres)  als  Speichen  des  Rades  bezeichnet,  auf  welchem  die 
720  Tage  und  Nächte  des  Jahres,  zu  Zwillingspaaren  ver- 
bunden, befestigt  sind.  Der  Vater,  das  feurige  Lebensprincip 
des  Weltganzen,  ist  einerseits  verkörpert  (purishin)  in  diesem 


Das  Einheitslied  des  Dirghatamas,  Rigv.  1,164.  Hl 

Fixsternrade,  anderseits  aber  auch  der  Welt  hienieden  als  das 
Opferfeuer  eingefügt. 

11.  Mit  zwölf  der  Speichen1  —   denn  sie  altern  nimmer2    — 
Dreht  um  den  Himmel  sich  das  Rad  der  Ordnung3; 
Auf  ihm ,   o  Agni !  stehn  als  Zwillingspaare 

Der  Zahl  nach  siebenhundertzwanzig  Söhne 4. 

1.  Die  zwölf  Monate.  2.  Sie  kehren  alljährlich  unverändert  wieder. 
3.  cakrarii  ritasya,  der  regelmäfsige  Kreislauf  des  Jahres.  4.  Die  720  Tage 
und  Nächte  des  Jahres. 

12.  Der  Vater,  fünffüfsig1,  zwölffacher  Bildung2, 
Sei  leibhaft,  heifst  es,  in   des  Himmels  Jenseits; 
Doch  sei  er  auch  weitleuchtend 3  eingefügt 

Dem  Untern  mit  sechs  Speichen 4,  sieben  Rädern 5. 

1.  Vielleicht  die  fünf  Planeten,  über  deren  Vorkommen  im  Rigveda  vgl. 
Zimmer  AJL  S.  353 — 355.  2.  dvädaqa-äkriti;  vgl.  Rigv.  10,85,5:  samänäm 
musa  äkritih,  „der  Monat  (nicht  gen.)  ist  die  Bildung  der  Jahre,  das  die 
Jahre  Bildende".  3.  Als  Opferfeuer.  4.  Sechs  Jahreszeiten.  5.  Den  sieben 
Teilen  des  Opfercyklus,  wie  v.  3. 

Vers  13 — 16.  Der  Eine  als  Weltachse.  Die  Vorstel- 
lungen von  dem  Rade  des  Fixsternhimmels  und  von  den  durch 
seine  Jahresdrehung  herbeigeführten  zwölf  Monaten  nebst  dem 
Schaltmonat  als  dreizehnten  werden  hier  weiter  ausgemalt. 

13.  Das  Rad,  fünfspeichenhaft 1,  rollt  um  im  Kreise; 
In  ihm  gewurzelt  sind  die  Wesen  alle ; 

Schwer  ist  die  Last,   doch   wird  nicht  heifs  die  Achse, 
Bricht  nicht  in  Ewigkeit,  noch  auch  die  Nabe. 

1.  Oben  waren  es  zwölf  Speichen  (v.  11),  hier  fünf,  vielleicht  wieder 
die  fünf  Planeten.  Der  Dichter  folgt  den  augenblicklichen  Eingebungen 
seiner  Phantasie. 

14.  Das  Rad  nebst  Radkranz   wälzt  sich  um,  nicht  altert  es, 
An  langer  Deichsel  ziehn  zehn  Angeschirrte1; 
Umhüllt  vom  Luftkreis  rollt  sein  Sonnenauge; 

Auf  ihm  befestigt  sind  die  Wesen   alle. 
I.  Die  zehn  Pole  (digah). 

15.  Paarweis  erzeugt,   —   allein  erzeugt  der  siebente,   — 
Sechs  Zwillingspaare,  Weise,   Gottentsprossene, 
Verleihen  das  Erwünschte  sie  je  nach  der  Art, 
Unstäten  Standorts ,  an  Gestalten  wandelbar. 


112  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Bigveda. 

16.  Man  nennt  sie  Männer1,  aber  Weiber  sind  sie2, 
Das  sieht,  wer  Augen  hat,  nur  Blinde  nicht,  — 
Ein  Weiser,  wenn  auch  jung,  wird  es  bemerken, 
Wer  dies  begreift,  ist  seines  Vaters  Vater3. 

1.  mus  Monat  ist  Masculinum.  2.  Denn  sie  gebären  ja  ihre  Gaben. 
3.  Den  Wechsel  der  Jahreszeiten  und  die  Dauer  in  diesem  Wechsel  begreift 
nur,  wer  in  das  Wesen  der  Gottheit  eingedrungen  und  dadurch  zu  ihr, 
zum  Vater  aller  Dinge,  zum  Vater  seines  eigenen  Vaters  geworden  i>r. 
Dieselbe  Wendung  Atharvav.  2,1,2  =  Väj.  Samh.  32,9  =  (entstellt)  Taitt. 
Ar.  10,1,4. 

Vers  17 — 19.  Der  Eine  als  der  göttliche  Geist  (devani 
manas),  welcher  der  Vater  des  Sonnenkalbes  ist  (v.  18).  Seine 
Mutter  ist  hier,  im  Wechsel  der  Anschauung,  nicht  die  Erde 
wie  v.  8  —  9,  sondern  die  Morgenröte  (v.  17),  vor  der  die 
Sterne  fliehen,  um  sodann  wiederzukehren  (v.  19). 

17.  Abwärts  vom  Jenseits,  aufwärts  doch  vom  Diesseits 
Die  Kuh  emporklimmt1,  mit  dem  Kalbe  schwanger.  — 
Wohin  gewandt,  nach  welcher  Gegend  zog  sie? 

Wo  nur  gebiert  sie?  doch  nicht  in  der  Herde2! 

1.  padd  udasthut.  2.  Die  Herde  der  Sterne  ist  bereits  verscheucht,  wenn 
die  Morgenröte,  selbst  verschwindend,  aus  sich  in  unbegreiflicher  Weife 
die  Sonne  gebiert. 

18.  Abwärts  vom  Jenseits  wer  des  Kalbes  Vater 
Begriffen  hat  und  aufwärts  doch  vom  Diesseits, 
Wer  ist  so  weise,  der  ihn  hier  verkünde, 

Den  Gottesgeist,  woher  er  ist  entsprungen? 

19.  Die  herwärts  sind,  die  sind  auch  wieder  hinwärts, 
Die  hinwärts  sind,   die  sind  auch  wieder  herwärts1; 
Die  Indra,  und  du  Soma!  ihr  gemacht  habt, 

Wie  angeschirrt  ziehn  an   des  Luftraums   Deichsel2. 

1.  Die  sich  drehenden  Sterne.  2.  Die  Pole  wie  v.  14,  oder  auch  die  Sterne 
selbst,  welche  das  Fixsternrad  ziehen. 

Vers  20— 22.  Der  Eine  als  Weltvater.  (Eine  wichtige 
Stelle,  namentlich  durch  die  Umdeutung  derselben  im  Vedanta. 
Die  ursprüngliche  Bedeutung  ist  wohl  folgende:)  Tag  und 
Nacht,  zuerst  im  Dual,  wie  sie  den  Weltbaum  umschlungen 
halten,  dann  im  Plural  die  aufeinanderfolgende  (auf  dem  Welt- 
baum nistende  und  sich   fortpflanzende)  Reihe   der  Tage   und 


Das  Eiuheitslied  des  Dirghatamas,  Rigv.  1,164.  113 

Nachte;  die  Nacht  schaut  still  herab,  während  der  Tag  an 
der  Frucht  des  Weltlebens  zehrt,  welche  als  höchstes  Resultat 
des  Weltbaumes  an  dessen  Gipfel  hängt  (vielleicht  änanda, 
die  Wonne).  Nur  wer  den  Weltvater  kennt,  überschaut  das 
Weltganze  und  geniefst  seine  Frucht  (v.  22).  Beim  Opfer  der 
Festversammlung,  an  dem  mit  den  übrigen  Göttern  auch  Tag 
und  Nacht  froh  teilnehmen  (ahorätrcbhyah  svähä!  Väj.  Samh. 
22,28)  und  ihre  Unsterblichkeit  nähren  (denn  die  Götter  nähren 
sich  von  Opfer  und  Gebet,  brahmanä  vävridhänäh,  wie  es  so 
oft  heifst),  ist  der  Weise,  der  Weltgeist,  in  den  mit  religiöser 
Andacht  (brahman)  erfüllten  Dichter  eingegangen  (v.  21). 

20.  Zwei  schönbeflügelte  verbundene  Freunde 
Umarmen  einen  und  denselben  Baum; 
Einer  von  ihnen  speist  die  süfse  Beere, 
Der  andre  schaut,  nicht  essend,  nur  herab. 

21.  Wo,  teilzuhaben  am  Unsterblichen, 

Die  Vögel  schlummerlos  dem  Fest  zujauchzen , 
Da  ist  der  Fürst  des  Alls,  der  Welten  Hüter, 
Der  Weise  in  mich  Thoren  eingegangen. 

22.  Der  Baum,   auf  dem,   an  seiner  Süfse  zehrend, 
Die  Vögel  alle  Nester  bau'n  und  brüten, 

An  dessen  Wipfel  hängt  die  süfse  Beere,  — 
Niemand  erreicht  sie,  der  den  Vater  nicht  weifs. 

D.   Zioeite  Hälfte,  v.  23-  46. 

Vers  23 — 25.  Die  irdischen  Versmafse,  Gäyatri,  Tri- 
shtubh, Jagati  (aus  denen  Preislied,  Singlied  und  Spruchlied 
bestehen,  und  durch  welche  die  Melodie  gegliedert  wird,  v.  24) 
beruhen  auf  himmlischen  Urmafsen,  welche  das  Universum 
regeln,  wie  jene  die  Rede.  Sie  beherrschen  den  Himmels- 
strom (vielleicht  die  Milchstrafse)  und  haben  die  Sonne  herauf- 
geführt; ihre  höchste  Wirkung  aber  bleibt  die  Begründung 
des  Opfers  (v.  25),  zunächst  des  himmlischen  (v.  43.  50). 

23.  Die  Gäyatri  beruht  auf  einer  Gäyatri, 

Die  Trishtubh  zimmerten  aus  einer  Trishtubh  sie; 

Das  Mafs   der  Jagati  ruht  auf  der  Jagati; 

Wer  das  versteht,  der  hat  erlangt  Unsterblichkeit. 

Deussen,   Geschichte  der  Philosophie.    I.  8 


114  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

2-1.    Durch  Gäyatri  mifst  man  das  Preislied  ab ; 

Singlied   durch  Preislied,   Spruchlied  durch   die  Trishtubli: 
Zweifüfsig  Spruchlied  mifst  vierfüfsig  Spruchlied  J : 
Durch  Silhentakt  mifst  man  die   sieben  Töne. 
1.  catushpadam  (mit  Ludwig). 

25.  Den  Strom  am  Himmel  stützte  er  durch  Jagati: 
Die  Sonne  spähte  im  Kathantaram  er  aus; 

Die  drei  Brennhölzer  schreibt  der  Gäyatri  man  zu. 
Daher  durch  Macht  sie  überragt  und  Grröfse. 

Vers  26 — 29.    Der  himmlische  Pravargya.     Der  Pra- 

vargya  ist  „eine  Einleitungsceremonie  zum  Soma- Opfer,  bei 
welcher  frischgemolkene  Milch  in  einen  glühend  gemachten 
Topf  gegossen  wird"  (Petersb.  Wb.).  Diese  Verhältnisse 
werden,  ähnlich  wie  vorher  die  Metra,  auf  das  kosmische  Ge- 
biet übertragen.  Der  glühende  Topf  ist,  wie  es  scheint,  die 
in  der  Sommerhitze  verschmachtende  Erde,  die  Kuli  die  Wolke, 
die  Milch  der  Regen,  das  Kalb  die  Welt  der  Lebendigen. 

26.  Ich  rufe  an  die  spendereiche  Milchkuh, 

Mit  sanfter  Hand  soll  sie  der  Melker1  melken; 
Uns  keltere  Savitar  die  beste  Kelt'rung; 
Es  glüht  der  Topf2,   das  möchte  schön  ich  preisen. 
1.    Die  Sonne  oder  der  Wind  (Säyana).     2.    Die  Erde. 

27.  „Hin"   schnaubt  die  Kuh,    die  Herrin  aller  Schätze, 
Verlangend  kam  sie  her  nach  ihrem  Kalbe 1 ; 
Milch  geben  soll  die  glänzende  den  Acvin's, 
Gedeihen  möge  sie  zu  grofsem  Wohlsein. 

1.    Nach  der  Lebewelt. 

28.  Mattschlummernd   ist  ihr  Kalb  x,    nach  dem  die  Kuh  brüllt '-, 
Sie  brüllt  ihr  „Hin",   sein  Haupt   frisch  aufzurichten; 

Dem  heifsen  Mund  schnaubt  brüllend  sie  entgegen, 
Laut  tönt  ihr  Schall,  mit  Labung  es  zu  tränken. 
1.    Die  lechzende  Natur.     2.    Der  Donner. 

29.  Auch  er1   erklingt,    der  in  sich  auf  die  Kuh2  nimmt, 
Laut  brüllt  sie,  auf  den  sprühenden1  sich  senkend; 
Bei  ihrem  Knistern  fühlt  sich  klein  der  Sterbliche,   — 
Zum  Blitz  geworden  wirft  sie  ihren  Schleier  ab. 

1.    Der  Topf,  die  Erde.     2.    Die  Milch,  den  Eegen. 


Das  Einheitslied  des  Dirghatamas ,  Rigv.  1,164.  115 

Vers  30.  An  das  Blitzfeuer  schliefst  sich  wieder  eine  Be- 
trachtung seines  Bruders,  des  irdischen  Agni. 

30.  Es  liegt  und  atmet,   schreitet  schnell,  lehendig, 
Regsam  beständig  mitten  in  der  Wohnung; 

Es  lebt  und  regt  sich    nach  des  Menschen1  Willen, 
Unsterblich,  doch  dem  Sterblichen  verbunden. 

1.  mrita  mortuus,    liier    mortalis,    wie    amrita    immortalis ;    vgl.   auch  Rigv. 
1,113,8:   usliä  mritam  kancana  bodhayantu 

Vers  31 — 33.  Vom  Blitz  und  Feuer  wendet  sich  der  Dichter 
wieder  der  Sonne  zu.     (v.  31=  Rigv.  10,177,3.) 

31.  Den  Hüter  sah  ich,  nimmer  untergehend, 
Herwärts  und  wegwärts  wandelnd  seine  Bahnen; 
Gehüllt  in  Strahlen,   die  zusammenschiefsen 
Und  auseinander,  wirkt  er  in  den  Wesen. 

32.  Wer  ihn  gemacht,  weifs  nicht,  wo   er  geblieben: 
Wer  ihn  noch  schaute,  fort  ist  jetzt  von  dem  er, 
Im  Schofs  der  Mutter  eingehüllt  entschwand  er; 
Viel  zeugend  ist  er  dem  Vergang  verfallen. 

(Die  Sonne  spricht:) 

33.  „Der  Himmel  ist  mir  Vater,  Zeuger,  Nabel, 
Die  grofse  Erde  Mutter  und  Gefährtin, 

Mein  Schofs  der  weiten  Weltenschalen  Inn'res, 
Dort  senkt  den  Keim  der  Tochter  ein  der  Vater." 

Vers  34—35.  Kühn  geworden  durch  die  glückliche  Lösung 
der  Frage  nach  dem  Ursprünge  der  Sonne,  erhebt  sich  der 
Dichter  mit  Nachdruck  zu  schwereren  Problemen  und  findet 
ihre  Lösung  in  einer  Identifikation  der  Kultusordnung  mit  der 
ewigen  Weltordnung,  wobei: 

■paro  antah  prithivyäh  =  veclih 
bhuvanasya  näblffli  =  yajnah 
vrishno  agvasya  reta(i==  somah  - 
väcah  paramam  vyoma  =.  bralimä  (in.) 

erscheint,     vrishd   agva/j    ist   nach   einer    von   Säyana    citierten 
Stelle  des  Taittiriyakam  Adityah. 


11(3  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Kigveda. 

34.  Ich  frag'   dich  nach  der  Erde  letztem  Ende, 
Ich  frage,  wo   der  Nabel  ist  des  "Weltalls, 

Ich  frag'  dich  nach  dem  Samenstrom  des  Hengstes, 
Ich  frage  nach  der  Rede  höchstem  Räume  ! 

35.  Die  Vedi  (das  Opferbett)  ist  der  Erde  letztes  Ende, 
Das  Opfer  auf  ihr  ist  des  "Weltalls  Nabel, 

Der  Sonia  hier  der  Samenstrom  des  Hengstes, 
Der  Beter  hier  der  höchste  Raum  der  Rede. 

Vers  36.  Die  Identifikation  des  Weltalls  mit  dem  Opfer- 
raum (v.  34 — 35)  führt  auf  die  sieben  Hotar's,  denen  sieben 
himmlische  Hotar's  entsprechen  (v.  3).  Diese  sind  „halb- 
entsprossene" (ardhagarbha),  vielleicht  sofern  die  andere  Hälfte 
der  entsprechende  irdische  Hotar  ist.  Wie  dieser  den  Soma 
in  sich  aufnimmt,  der  nach  v.  35  der  Samenstrom  der  Sonne 
ist,  so  sind  die  himmlischen  Hotar's  bhuvanasya  retah ,  der 
Samen  der  Welt,  welche  auf  Vishnu's  (der  Sonne)  Befehl  die 
ganze  Welt  umgeben,  wie  die  irdischen  Hotar's  den  der  Welt 
entsprechenden  Opferraum. 

36.  Sieben  Halbentsprossene,  des  Weltalls   Samen, 
Stehn  auf  Befehl  des  Vishnu  am  Weltumfange; 
Und  sie,  die  Weisen  durch  Verstand  und  Einsicht, 
Umfassen  rings  das  Weltall,   es  umgebend. 

Vers  37 — 39.  Der  himmlische  Hotar  als  Hüter  der 
himmlischen  "Rede  und  der  von  ihm  inspirierte  irdische  Hotar 
(der  Dichter). 

37.  Ich  weifs  es  selbst  nicht,  was  ich  so   wohl  bin, 
Doch  wandl'  ich  hin  in  mir  bereit  im  Geiste: 
Wenn  mich  erfafst  der  Wahrheit  Erstgeborner  \ 
Dann  wird  ein  Anteil  mir  an  jener  Rede2. 

1.    Der  himmlische  Hotnr.     2.    An  der  himmlischen  Vdc. 

38.  Er  geht,  er  kommt,   wird  frei  von  mir  ergriffen, 
Unsterblich  er  dem  Sterblichen  verbunden; 

Und  beide  ewig  streben  in  die  Weite; 

Den  einen  sieht  man,  nicht  sieht  man   den  andern. 

39.  Des  Hymnus  Laut  im  höchsten  Himmelsraume , 
Auf  dem  gestützt  die  Götter  alle  thronen, 


Das  Einheitslied  des  Dirghatamas,  Rigv.  1,1G4.  117 

Wenn  man  den  nicht  kennt,  wozu  hilft  der  Hymnus  dann'?  — 
Wir,   die  ihn  kennen,  haben  uns  versammelt  hier. 

Vers  40 — 42.  Wie  den  irdischen  Hotar's  die  himmlischen, 
so  entspricht  der  irdischen  Väc  (der  heiligen  Rede  des 
Veda)  die  himmlische  Väc,  welche  im  Folgenden  als  himm- 
lische Kuh  erscheint,  deren  metrisch  gegliedertes  Gebrüll  der 
Donner  ist,  und  deren  Milch  als  Regen  alles  Gedeihen  befördert. 

40.  Auf  guter  Weide  grasend  sei  glückselig ! 
Glückselig  möchten  dann  auch  wir  allhier  sein. 
Dein  Gras,   o  Unverletzliche,  ifs   ewig 

Und  trinke  reines  Wasser  herwärts  wandelnd. 

41.  Es  brüllt  die  Kuh  und  schafft  des  Wassers  Fülle, 
Einfüfsig  und  zweifüfsig  und  vierfüfsig; 
Achtfüfsig  dann  geworden  und  neunfüfsig 

Und  tausendsilbig  in   dem  höchsten»  Räume. 

42.  Aus  ihr  herab   ergiefsen  sich  die  Meere, 
Den  vier  Weltgegenden  das  Leben  gebend; 
Von  dort  strömt  Unversiegliches , 

Davon  das  ganze  Weltall  lebt. 

Vers  43 — 44.  Der  himmlischen  Rede  entspricht  ein  himm- 
lisches Opfer  als  Vorbild  des  irdischen  (v.  43).  Unter 
den  Helden,  die  es  darbringen,  d.  h.  den  Göttern,  treten  drei 
namentlich  hervor,  Agni,  Sürya,  Vayu  (v.  44). 

43.  Des  Düngers  Rauch  von  fern  aufsteigen  sah  ich, 
Jenseits  von  diesem  niedern  in  der  Mitte  x ; 

Die  Helden  brieten  einen  bunten  Stier  sich, 
Und  dieses  war  der  Opferwerke  erstes. 
1.    Von  dem  irdischen  Opferfeuer. 

44.  Drei,   schönbehaart,   erscheinen  nach   der  Ordnung, 
Der  eine  schert  im  Jahreslauf  [das  Laub]   ab; 
Herab  schaut  auf  die  Welt  mit  Macht  der  zweite ; 
Unsichtbar,  doch  vernehmbar,  braust  der  dritte1. 

1.  dhrajir  ekasya  dadrife,   na  rupam;   vgl.  von  Väyu  Rigv.  10,168,4:  ghosha 
id  asya  prinvire  na  rupam, 

Vers  45 — 46.  Was  später  vom  Purusha  (Rigv.  10,90,3),  das 
wird  hier  von  der  heiligen  Rede  gesagt;  drei  Viertel  von  ihr 


118  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

bleiben  verborgen  im  Himmel;  ein  Viertel  von  ihr  ist  die 
Rede  des  Veda  (v.  45).  Dieser  vierte  Teil  oftenbart  nicht 
die  volle  Wahrheit,  denn  er  beschreibt  als  eine  Vielheit,  was 
nur  Eines  ist  (v.  46). 

45.  In  vier  der  Viertel  ist  geteilt  die  Rede : 

Sie  kennen  nur  die  Priester,  welche  wissend  sind; 

Drei  bleiben  im  Verborgnen  unbewegt, 

Der  vierte  Teil  ist,  was  die  Menseben  reden. 

46.  Man  nennt  es  Indra,   Varnna  und  Mitra, 
Agni,  den  schönbeschwingten  Himmelsvogel; 
Vielfach  benennen,  was  nur  eins,   die  Dichter;* 
Man  nennt  es  Agni,  Yama,  Mätaricvan. 

Mit  diesem  grofsen  Gedanken  würde  das  Lied  am  besten 
schliefsen  (wie  auch  im  Atharvaveda  der  Fall  ist);  das  Fol- 
gende enthält  weitere  Ausmalungen,  vielleicht  spätere  Zusätze. 

C.    Nachtrag,  v.47—52. 
Vers  47.     Der  Nachtpfad  der  Sonne  (zu  v.  31—32). 

47.  Beschwingte  Rosse  ziehn  auf  dunklem  Wege 
Im  Wasserkleide  neu  empor  zum  Himmel; 

Sie  kehren  wieder  her  vom  Thron  der  Ordnung , 
Da  strömt  von  Nahrungssaft  die  Erde  über. 


*   Ein  Nachklang    dieser  Stimmung   ist  das  Välakhilya-Lied,   Rigv. 

8,58,1—2: 

1.  Den  selbst  die  Priester  als  vielfältig  anselm, 
(Die  weise  doch,  sind!)  wenn  sie  Opfer  bringen, 
(Der  angestellte,  schriftkund'ge  Brahmane!) 

Wie  soll  den  kennen,  wer  nur  zahlt  ihr  Opfern? 

2.  Eins  ist  das  Feuer,  das  so  vielfach  aufflammt, 
Eins  ist  die  Sonne,  strahlend  auf  das  Weltall, 
Die  eine  Morgenröte  überglänzt  das  Ganze,  — 
Eins  ist  auch  dieses  und  zum  All  geworden. 

Die  letzte  Zeile:  ekam  vä  idam  vi  babMiva  sarvam  entspricht  fast  wört- 
lich dem  griechischen  Losungsworte  des  Pantheismus:  ev  tq  ov  ■/.%'.  rcav 
Hsvocpavrp  wÖTÖeffSai  q>i\ov>  o  0£O9paatoc  (Simplic.  Phys.  6  r  22). 


Das  Einlieitsliecl  des  Dirghatamas,  Rigv.  1,164.  119 

Vers  48.     Das  Rad  der  Zeit  (der  Kreislauf  des  Jahres; 
zu  v.  2.  11). 

48.  Zwölf  Felgen l  sind  an  einem  Ead  befestigt ; 
Drei  Naben  auch2;  wer  weifs  das  zu  verstehen? 
Auf  ihm  zumal,  wie  Zapfen,  sind  dreihundert 
Und  sechzig3  wohlbefestigt,   ewig  regsam. 

1.    12  Monate.     2.    Sommer,  Regenzeit,  Winter  (oder,  wie  oben  v.  2,  Erde, 
Luftraum  ,  Himmel).     3.    360  Tage. 

Vers  49-      Anruf  an   Sarasvati,   die   Göttin   der   Rede 
(zu  v.  40-42). 

49.  Oh,  deine  Brust,   die  labend,  nie  versiegend, 
Durch  die  du  alles  Herrliche  erblühn  machst , 
Die  schätzereich,  freigebig,   Gut  verleihend, 
Die  reich'  uns  dar,  Sarasvati,   zum  Trinken! 

Vers  50.   Die  Götter  als  Stifter  des  Opferkultus  (zu 
v.  43 — 44).   Auch  10,90,16  erscheint  dieser  Vers  als  Nachtrag. 

50.  Die  Götter,   opfernd,  huldigten  dem  Opfer, 
Und  dieses  war  der  Opferwerke  erstes ; 

Sie  drangen  mächt' gen  Wesens  auf  zum  Himmel , 
Da,  wo   die   alten,  sel'gen  Götter  weilen. 

Vers  51.    Götter  und  Menschen  fördern  sich  gegen- 
seitig. 

51.  Es  ist  das  gleiche  Wasser  hier, 

Das   auf-  und  absteigt  nach  der  Zeit; 
Die  Erde  fördern  Regnende, 
Den  Himmel  fördern  Opferfeuer. 

Vers  52.     Schlufsgebet  an  die  Sonne. 

52.  Den  wohlbeschwingten,  grofsen  Himmelsvogel, 
Der  Wasser  schönen  Ursprung  und  der  Pflanzen , 
Rechtzeitig  durch  den  Regen  uns  erquickend, 
Den  flutenreichen  ruf  ich  her  zur  Hülfe. 

4.    Der  Schöpfnngshyinnns,  Rigv.  10,129. 

Dieser  berühmte,  nach  den  Eingangsworten  das  Näsadäsiya- 
Lied  genannte  Hymnus  ist  in  seiner  edlen  Einfachheit,  in  der 


* 


120  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

Hoheit  und  Reinheit  seiner  philosophischen  Anschauungen 
vielleicht  das  bewunderungswürdigste  Stück  Philosophie,  wel- 
ches aus  alter  Zeit  uns  überkommen  ist. 

Schon  der  äufsere  Bau  des  Hymnus  ist  ein  höchst  kunst- 
voller, indem  in  den  sieben  Versen  des  Liedes,  gleichwie  in 
sieben  Akten  eines  Dramas,  die  Stimmung  von  Vers  zu  Vers 
bis  zum  Höhepunkte  in  v.  4  stetig  ansteigt,  um  sodann  nach 
dem  Ende  zu  bis  zu  dem  wunderbaren  Schlüsse  in  v.  7  ffleich- 
mäfsig  wieder  zu  fallen.  Das  Ansteigen  der  vier  ersten  Verse 
besteht  darin,  dafs  der  Dichter  in  philosophischer  Inbrunst 
von  Vers  zu  Vers  immer  tiefer  eindringt  in  das  Geheimnis 
des  Daseins,  wobei  in  jedem  Verse  die  erste  und  zweite  Hälfte 
wie  Chor  und  Gegenchor  einander  gegenüberstehen,  der  Chor 
um  zu  sagen,  was  nicht  war,  der  Gegen chor,  um  ihm  das 
Positive,  was  trotzdem  war,  entgegenzuhalten,  bis  im  vierton 
Verse  die  letzte  Hülle  fällt  und  mit  dem  Worte  Käma,  die 
Liebe,  die  tiefste  Erkenntnis  von  der  Natur  der  Dinge  zum 
Ausdrucke  kommt,  zu  der  der  Dichter  sich  durchgerungen 
hat.  Von  diesem  Höhepunkt  bis  zum  Schlüsse  v.  7  senkt 
sich  die  Rede  höchst  kunstvoll,  indem  den  Dichter  stufen- 
weise zunehmender,  kalter  Zweifel  ergreift,  ob  er  nicht  doch 
zu  viel  gesagt,  ob  er  nicht  in  der  Glut  seines  Dranges  nach 
Wahrheit    die    Grenzen   des  Erkennbaren   überschritten   habe. 

Dieser  künstlerischen  Form  entspricht  würdig  die  philo- 
sophische Tiefe  des  Inhalts.  Zunächst  ist  unzweifelhaft,  dafs 
sich  unser  Dichter  von  aller  Mythologie  völlig  frei  gemacht 
hat;  die  Götter  werden  v.  6  kurzweg  beiseite  geschoben: 
sie  sind  erst  später  (arväk)  im  Laufe  der  Weltentwicklung 
entstanden,  können  also  nichts  über  den  Weltanfang  aussagen; 
und  der  es  aussagen  könnte,  wer  weifs,  ob  der  überhaupt  ein 
erkennendes,  mit  Bewufstsein  ausgestattetes  Wesen,  oder  nicht 
vielmehr  seiner  Natur  nach  ein  Unbewufstes  ist  (v.  7).  Und 
wie  hier,  so  zeigt  sich  überall  der  Dichter  von  hoher  philo- 
sophischer Besonnenheit  erfüllt,  indem  er  auf  Schritt  und 
Tritt  seine  Aussagen  limitiert,  in  der  Befürchtung,  schon  zu 
viel  gesagt  zu  haben.  So,  wenn  er  v.  1  den  Urzustand  be- 
zeichnet als  einen  solchen,  der  nicht  ein  Nichtseiendes  (asad), 
aber    auch    nicht    ein    im    empirischen    Sinne    Seiendes    (sad) 


Der  Schöpfungshymnus,  Rigv.  10,129.  121 

gewesen  sei;  —  oder  wenn  er  v.  2  das  Urwesen  nicht  anders 
zu  benennen  wagt  als  tacl  „dieses"  und  ekam  „das  Eine",  und, 
um  das  eigentümliche  Schlummerleben  desselben  zu  kenn- 
zeichnen, von  ihm  sagt  „es  atmete",  aber  sogleich  hinzufügt, 
dafs  dieses  Atmen  kein  gewöhnliches,  sondern  ein  „hauchloses" 
gewesen  sei;  —  oder  endlich,  wenn  er  v.  7  es  zweifelhaft 
läfst,  ob  diese  Welt  überhaupt  geschaffen  sei  oder  auf  eine 
andere,  uns  unfafsbare  Art  sich  aus  dem  Urwesen  entwickelt 
habe,  und  ob  dieses  Urwesen  ein  bewufstes  oder  nicht  viel- 
leicht (wie  später  die  Prakriti  der  Sänkhya's)  ein  unbewufstes 
Princip  gewesen  sei.  Wenn  endlich  unser  Dichter  da,  wo  er 
sich  am  weitesten  wagt,  v.  4,  als  erstes  aus  dem  Urwesen 
Geborenes  käma  „die  Liebe"  (epwc)  bezeichnet,  so  stimmt  er 
darin  nicht  nur  mit  Hesiodos  (Theog.  v.  120)  und  Parmenides 
(Arist.  met.  1,4,  p.  984  b  25)  sondern  am  Ende  wohl  auch  mit 
der  Wahrheit  der  Sache  überein;  denn  jenes  geheimnisvolle 
metaphysische  Wesen,  welches  in  allen  Kräften  der  Natur 
wirkt,  in  der  Pflanze  als  Triebleben,  in  Tier  und  Mensch  als 
Wille  regiert,  jene  ursprünglich  unbewufste  und  instinktartig 
treibende  und  schaffende  Urkraft  der  Natur  tritt  in  keiner 
ihrer  Erscheinungen  so  deutlich  hervor,  wie  in  dem,  was  wir 
in  uns  als  den  Geschlechtstrieb  (käma,  s'p'wc)  unmittelbar 
empfinden. 

Bei  der  Wichtigkeit  dieses  Hymnus  wollen  wir  der  me- 
trischen Übersetzung  desselben,  welche  notwendig  etwas  frei 
sein  mufs,  eine  wörtliche  Prosaübersetzuno;  mit  begleitenden 
Erklärungen  vorausschicken,  welche  über  unsere  Auffassungen 
alles  einzelnen  keinen  Zweifel  lassen  wird.  Wiederholt  findet 
sich  v.  4  Taitt.  Ar.  1,23,1;  v.  5  Väj.  Samh.  33,74;  und  das  ganze 
Lied  Taitt.  Br.  2,8,9,3-6. 

1.  Nicht  das  Nichtseiende  noch  auch  das  Seiende 
war  damals;  nicht  war  der  Luftraum  noch  auch  der  Him- 
melsraum, welcher  jenseits  (desselben  ist);  —  was  hüllte 
(dieses  alles  so)  mächtig  ein?  Wo  (war  es),  in  wessen  Obhut? 
Was  war  das  Wasser  (des  Oceans),   der  Abgrund,  der  tiefe? 

Der  Dichter  versetzt  sich  in  die  Zeit  vor  der  Weltsehöpfüng. 
Damals    war    nicht    das   Nichtseiende,    denn    dies   ist  niemals 


122  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

gewesen,  noch  auch  das  im  empirischen  Sinne  Seiende  (das 
ndmarüpam  der  jetzigen  Welt,  wie  der  Komm,  richtig  erklärt), 
nicht  der  Luftraum  noch  der  darüber  hinausliegende  Himmels- 
raum. Aber  sofort  wirft  sich  der  Dichter  ein:  wo  war  denn 
dies  alles,  der  Luftraum,  der  Himmelsraum  und  das  uner- 
gründlich tiefe  Meer?  Irgendwo  mufs  es  doch  gewesen  sein! 
Wer  hielt  es  in  sieh  verborgen,  hüllte  es  mächtig  (intens.) 
ein?  ävarivar  von  war,  nicht  von  vart,  da  die  Frage  nach  dem 
ersten  Beweger  ebenso  verfrüht,  wie  die  nach  dem  Verhüller 
passend  und  durch  das  Vorhergehende  gefordert  ist. 

2.  Nicht  Tod  war  dazumal,  nicht  Unsterblichkeit, 
nicht  war  der  Nacht,  des  Tages  Lichtglanz.  —  Es  atmete 
hauchlos  durch  Selbstsetzung  jenes  (tad)  Eine  (eJcam); 
denn  ein  Anderes  aufser  ihm,  welcher  Art  es  auch  sei, 
war  nicht  vorhanden. 

Wieder  sagt  die  Strophe,  was  nicht  war:  Tod  und  Un- 
sterblichkeit (d.  h.  die  Menschenwelt  und  Götterwelt,  wie 
ßigv.  10,121,2),  Nacht  und  Tag,  diese  Urgegensätze  des  Da- 
seins waren  noch  nicht.  Und  wieder  hebt  die  Gegenstrophe 
hervor,  was  doch  schon  war,  aber  ohne  es  anders  zu  be- 
nennen als  durch  das  pronomen  clemonstrativum:  das  Tad 
(späterer  Name  des  Brahman),  das  Eine;  dieses  war  svadhayä 
durch  Selbstsetzung,  durch  sich  selbst  (vgl.  svayambhü ,  xaT' 
ai>To,  causa  sui,  Ding  an  sich);  es  atmete  (lebte),  aber  dies 
war  kein  Atmen  in  unserm  Sinne,  es  atmete  hauchlos. 

3.  Finsternis  war;  von  Finsternis  umhüllt  zu  Anfang 
ein  lichtloses  Grewoge  war  (äs  —  äsid,  wenn  nicht  besser  ä 
zur  Verstärkung  von  sarvam)  dieses  Ganze  (die  ganze  Welt);  — 
das  Lebenskräftige  (äNiu),  welches  von  der  Hülse  einge- 
schlossen war,  jenes  (tad)  Eine  (ekam)  wurde  durch  die 
Macht  des  Tapas  geboren. 

Mit  wenigen  majestätischen  Pinselstrichen  zeichnet  die 
Strophe  den  chaotischen  Urzustand:  Finsternis  um  und  um, 
ein  Ocean  ohne  Licht  war  diese  ganze  Welt!  —  Wieder  führt 
die  Antistrophe  das  Positive  der  Sache  weiter.  Unsere  Auf- 
fassung weicht  von  der  gewöhnlichen  ab;  aber  wir  zweifeln 
nicht,   dafs    man    uns    zustimmen   wird.     Es   ist  die   später  so 


Der  Schöpfungshymuus,  Eigv.  10,129.  123 

übliche  Vorstellung  von  dem  Weltei,  welche  hier  wohl  zum 
erstenmal  und  noch  unentwickelt  auftritt;  tucchya  (Taitt. 
Br.  2,8,9,4  titccha,  beides  verwandt  und  hier  wohl  gleichbe- 
deutend mit  tusha)  ist  die  Hülse  oder  Schale,  in  der  das  7W, 
Ekam  aus  v.  2  »verborgen  steckt  als  lebenskräftiger  Keim, 
d-bliu  (ß  =  samantäd)  bhavati  —  udpadyate ,  wie  schon  richtig 
der  Komm,  hat),  und  durch  die  Macht  des  Tapas  ausgebrütet 
wird.  Tapas  (1.  Hitze,  2.  Anstrengung,  3.  Askese,  4.  Zurück- 
ziehung von  den  Aufsendingen  und  Vertiefung  in  das  eigene 
Selbst)  kann  hier  noch  in  der  ursprünglichen  Bedeutung  ge- 
fafst  werden,  doch  so,  dafs  die  abgeleiteten  Bedeutungen  mit 
hineinspielen  und  somit  durch  unsere  Stelle  das  später  so  oft 
vorkommende  tapas  taptvä  des  Weltschöpfers  vorbereitet  wird. 

4.  Da  entwickelte  sich  (adhi-samavartqta)  aus  ihm  (fad, 
der  Accus,  abhängig  von  adlii ,  entwickelte  sich  über  dasselbe 
hinaus)  zu  Anfang  Käma  (s'ptoc,  die  Liebe),  welcher  des  Manas 
erster  Same  war.  —  Die  Wurzelung  (ban dhu ,  w örtlich  die 
Einbindung,  das  potentiell -Vorhandensein;  vgl.  badclhamüla)  des 
Seienden  in  dem  Nichts  eienden  fanden  die  Weisen,  indem 
sie  mit  Einsicht  forschten,  im  Herzen! 

Dies  ist  der  Höhepunkt  des  Hymnus.  Man  beachte  die 
Steigerung,  welche  darin  liegt,  dafs  das  Urwesen  v.  1  als 
das  Verhüllende,  v.  2  als  atmend,  lebend,  v.  3  als  lebens- 
kräftiger, auszubrütender  Keim  erscheint,  bis  es  v.  4  als 
Erstgeborenes  den  Käma  (den  l'pwc,  die  trishnä,  die  Im^rujjiia, 
den  Willen  zum  Leben)  hervorbringt,  manaso  retah  prathamani 
yad  äsit.  Diese  Worte  sind  zweideutig,  und  es  fragt  sich,  ob 
das  Manas  den  Käma,  oder  der  Käma  das  Manas  erzeugt. 
Ersteres  ist  die  Auffassung  der  ältesten  Auslegung;  denn  als 
solche  ist  schon  zu  betrachten  die  Stelle  Taitt.  Ar.  1,23,1,  wo 
erzählt  wird,  dafs  „in  Prajäpati's  Gemüte  (manas)  sich  ein 
Verlangen  (Käma)  entwickelte",  wozu  als  Beleg  unser  Vers 
angeführt  wird:  „dies  Verlangen,  welches  der  erste  Samen- 
ergufs  (das  erste  Erzeugnis)  des  Gemütes  war".  Hierfür  spricht 
auch  der  Wortlaut,  namentlich  das  Wort  rctas,  für  welches 
man  sonst  vijam  erwarten  würde.  Doch  ist  es  nicht  ganz  ohne 
Bedenken,   dafs   in   dem  Urwesen,   in  dessen  Schilderung  der 


124  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

Dichter  bisher  so  behutsam  war,  hier  plötzlich  ein  intellek- 
tuelles Vermögen,  Manas,  vorausgesetzt  wird,  um  v.  7  wieder 
bezweifelt  zn  werden.  Auch  ist  Koma  hier  nicht  ein  einzelnes 
Verlangen,  wie  Takt.  Ar.  1,23,1,  welches  ein  Gemüt  voraus- 
setzt, sondern  das  Princip  des  Verlangens,  welches  vom  Ge- 
müt vorausgesetzt  wird.  Es  ist  daher  möglicherweise  manaso 
retali  doch  nicht  gen.  subjectivus  sondern  gen.  objectivus,  und 
zu  übersetzen:  „Käma,  welcher  (yat)  der  erste  Same  (retoh  = 
vijam),  der  erste  Ursprung  des  Gemütes  war";  also  der  unbe- 
wufste  Wille  (Käma)  als  Grund  des  bewufsten  Willens 
(manas),  ähnlich  wie  in  der  Sänkhya-Lehre,  die  vielleicht  in 
dieser  Auffassung  fufst,  die  unbewufste  Prcdjiti  der  Grund 
des  (Mahad,  Buddlii  und  gelegentlich  auch  Manas  genannten) 
Weltintellektes  ist.  Hierzu  stimmt  auch  der  Schlufs  des 
Verses,  welcher  (mag  man  hridi  mit  pratishya  oder  mit  nira- 
vindan  verbinden)  eine  Bestätigung  der  grofsen  Willenslehre 
Schopenhauers  (1818)  ist,  ganz  ebenso  wie  das  Göthe'sche 
Wort  (zuerst  1827): 

„Ihr  folget  falscher  Spur, 
„Denkt  nicht,  wir  scherzen! 
„  Ist  nicht  der  Kern  der  Natur 
„Menschen  im  Herzen?"  — 

5.  Der  fünfte  Vers  ist  bei  der  grofsen  Kürze  des  Aus- 
drucks dunkel  und  wird  verschieden  erklärt.  Der  Komm,  zu 
Väj.  Samh.  33,74  liefert  sogar  drei  Erklärungen,  eine  rituelle, 
eine  mythologische  und  eine  psychologische,  welche  jedoch  alle 
drei  unbrauchbar  sind.  Besseres  bietet  der  Komm,  zu  Taitt. 
Br.  2,8,9,5,  welcher  eshäm  auf  die  Dinge  bezieht  und  den 
racmi  als  den  geistigen,  die  Welt  durchleuchtenden  Licht- 
strahl des  Brahman  auffafst.  Ohne  die  Möglichkeit  dieser 
Erklärung  zu  bestreiten,  ziehen  wir  es  doch  vor,  eshäm  auf 
die  unmittelbar  vorhergehenden  kavayah  zu  beziehen  und  in 
dem  Verse,  in  Fortsetzung  von  v.  4,  eine  Verherrlichung  des 
in  die  Tiefen  dringenden,  forschenden  Menschengeistes  zu 
finden,  wie  solche  im  Veda  öfter  vorkommen;  vgl.  namentlich 
d:is  schöne  Lied  Atharvav.  4,1.  So  bildet  der  Vers  auch  einen 
passenden    Übergang    zu    dem    folgenden,    welcher    in    edler 


Der  Schöpfimgshymnus,  Rigv.  10,129.  125 

Selbstbescheidung  die  Zulänglichkeit  des  Menschengeistes  zur 
Lösung  des  Weltproblems  bezweifelt.  Sonach  wäre  der  mut- 
mafsliche  Sinn  von  v.  5  folgender: 

Quer  hindurch  ist  ihre  (der  Weisen)  Mefsschnur  aus- 
gespannt: was  war  darunter,  was  war  darüber?  (wörtlich: 
war  es  darunter,  oder  war  es  darüber?).  Da  waren  Samen- 
träger,  war en  Machtentfaltungen,  (nämlich)  Selbstsetzung 
(v.  2)  unterhalb,  Anspannung  oberhalb. 

Die  Forscher  spannen  ihre  Mefsschnur  aus  und  ziehen  sie 
quer,  in  wagerechter  Richtung  durch  das  ganze  Gebiet  des 
Seienden  hindurch,  welches  dadurch  in  zwei  Hälften,  eine 
untere  und  eine  obere  (vergleichbar  den  unterirdischen  und 
oberirdischen  Teilen  einer  wachsenden  Pflanze),  geschieden 
wird;  es  ist  die  Unterscheidung  zwischen  dem  Ding  an 
sich  und  seiner  Erscheinung,  welche  unter  den  Namen 
Avyaktam  und  Vyaktam  (Unoffenbares  und  Offenbares)  dem 
spätem  Inder  sehr  geläufig  ist.  Auf  welche  Seite  fällt  bei 
diesem  Querschnitt  durch  die  Natur  der  Dinge  das  Urwesen? 
„war  es  unterhalb,  oder  war  es  oberhalb?"  Es  war  auf  beiden 
Seiten,  antwortet  der  Dichter,  unterhalb  als  Samenträger 
(natura  ?iaturans),  oberhalb  als  Machtentfaltungen  (natura 
naturata);  —  unterhalb  als  Selbstsetzung  (Ding  an  sich), 
oberhalb  als  Anspannung  (Erscheinungswelt). 

6.  Aber  wie  ist  die  offenbare  Welt  aus  der  unoffenbaren 
abzuleiten  ? 

Aber  doch  (addhä)l  wer  weifs  es,  wer  hier  (unter  euch 
Versammelten,  vgl.  1,164,6,  oben  S.  109)  möchte  es  verkündigen, 
woher  sie  ursprünglich  (ä)  geworden,  woher  (sie  stammt), 
diese  Umschaffung?  Die  Götter  (können  es  nicht  wissen, 
denn  sie)  sind  diesseits  (arväg)  von  der  Schöpfung  (visarja- 
nena)  dieser  Welt  (asyd);  also  (wenn  nicht  einmal  sie  es  wissen) 
wer  weifs    es,    woher   sie    ursprünglich  (ä)  geworden  ist? 

Arväk  mit  instr.  statt  des  gewöhnlichen  abl.  wie  (an- 
scheinend) auch  Atharvav.  5,11,6.  Will  man  dies  nicht,  so  mufs 
übersetzt  werden:  diesseits  (später,  und  erst)  durch  die 
Schöpfung  dieser  Welt  (geworden);  asya  auf  den  adhyaksha 
v.  7  zu  beziehen,  scheint  mir  unthunlich. 


126  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

7.  (Derjenige),  von  welchem  her  ursprünglich  diese 
Schöpfung  (welche  keine  srishti,  sondern  nur  msrishti  üm- 
schöpfung  ist;  Er  ist  auch  upädänam,  causa  materialis)  geworden 
ist,  mag  Er  sie  nun  geschaffen  oder  nicht  geschaffen 
(sondern  auf  eine  andere  Weise  hervorgebracht)  haben  (lies:  yadi 
vä  dadhe  yadi  vä  na  dadhe),  Er,  der  als  der  Aufseher  dieser 
Welt  (das  Auge  über  ihr  hat)  im  höchsten  Himmels  räume, 
der  fürwahr!    weifs  es,   —  oder   weif s    auch  Er    es    nicht? 

Für  einen  Augenblick  personifiziert  sich  dem  Dichter  das 
Schöpferwesen,  aber  sogleich  fühlt  er,  dafs  er  zu  weit  gegangen 
ist,  und  anticipiert  die  Lehre  der  Upanishad,  nach  der  eine 
Erkenntnis  nur  ist,  „wo  eine  Zweiheit  gleichsam  ist",  nicht 
aber  bei  dem  Einen,  welches  zugleich  Alles  ist.  — 

Wir  versuchen  zum  Schlüsse  eine  metrische  Übertragung, 
bemerken  aber,  dafs  keine  Übersetzung  der  Schönheit  des 
Originals  je  genugthun  wird. 

Bigveda  10,129. 

1.  Damals  war  nicht  das  Nichtsein,  noch  das  Sein, 
Kein  Luftraum  war,  kein  Himmel  drüber  her.   — 
Wer  hielt  in  Hut  die  Welt;  wer  schlofs  sie  ein? 
Wo  war  der  tiefe  Abgrund,  wo   das  Meer? 

2.  Nicht  Tod  war  damals  noch  Unsterblichkeit, 
Nicht  war  die  Nacht,   der  Tag  nicht  offenbar.  — 
Es  hauchte  windlos  in  Ursprünglichkeit 

Das  Eine,  aufser.dem  kein  andres  war. 

3.  Von  Dunkel  war  die  ganze  Welt  bedeckt, 
Ein  Ocean  ohne  Licht,  in  Nacht  verloren;   — 
Da  ward,  was  in  der  Schale  war  versteckt, 
Das  Eine  durch  der  Glutpein  Kraft  geboren. 

4.  Aus   diesem  ging  hervor  zuerst  entstanden, 
Als  der  Erkenntnis  Samenkeim,   die  Liebe;   — 
Des  Daseins  Wurzelung  im  Nichtsein  fanden 
Die  Weisen,  forschend,  in  des  Herzens  Triebe. 

5.  Als  quer  hindurch  sie  ihre  Mefsschnur  legten, 
Was  war  da  unterhalb?  und  was  war  oben?   — 
Keimträger  waren,  Kräfte,  die  sich  regten, 
Selbstsetzung  drunten,  Angespanntheit  drohen. 


Der  Schöpfuiigskymnus,  Rigv.  10,129.  127 

C.    Doch,  wem  ist  auszuforschen  es  gelungen, 

Wer  hat,  woher  die  Schöpfung  stammt,  vernommen? 
Die  Götter  sind  diesseits  von  ihr  entsprungen! 
Wer  sagt  es   also,   wo   sie  hergekommen?    — 

7.    Er,  der  die  Schöpfung  hat  hervorgebracht, 
i         Der  auf  sie   schaut  im  höchsten  Himmelslicht, 
Der  sie  gemacht  hat  oder  nicht  gemacht, 
Der  weifs  es!  —  oder  weifs  auch  er  es  nicht? 

IV.  Das  Suchen  nach  dem  „unbekannten  Gotte". 

Nachdem  die  Erkenntnis  zum  Durchbruche  gekommen 
war,  dafs  alle  Götter  und  alle  Welten  zurückgehen  auf  eine 
ewige,  unwandelbare  Einheit,  so  mufste  das  Streben  der 
denkenden  Geister  dahin  gerichtet  sein,  diese,  in  den  be- 
sprochenen Hymnen  1,164  und  10,129  noch  ganz  unbestimmt 
auftretende  Einheit  näher  zu  bestimmen.  Dieses  Be- 
streben ist  der  Grundzug  der  ganzen  folgenden  Entwicklung 
bis  zu  den  Upanishad's  hin,  in  denen  es  einen  gewissen  Ab- 
schlufs  findet;  die  Anfänge  desselben  liegen  aber  noch  auf 
dem  Boden  des  Rigveda  und  finden  ihren  Ausdruck  namentlich 
in  den  Hymnen   über 

Prajäpati,  10,121. 

Vigvakarman ,  10,81.  82. 

Brahmanaspati,   10,72  u.  a. 

Ptiruslia,  10,90. 

Diese  Hymnen  setzen  vielleicht  nicht  die  Einheitslieder 
1,164  und  10,129,  jedenfalls  aber  den  in  ihnen  auftretenden 
Einheitsgedanken  voraus;  dafs  die  Welt  auf  einer  von 
allen  altvedischen  Göttern  verschiedenen  und  über  sie  er- 
habenen Einheit  beruht,  steht  ihnen  von  vornherein  fest: 
denn  sie  sind  bemüht,  diese  Einheit  zu  bestimmen  als  ein 
allen  Göttern  überlegenes  göttliches  Wesen,  dessen  Namen, 
Prajäpati  (Herr  der  Geschöpfe),  Vigvakarman  (Allschöpfer), 
Brahmanaspati  (Gebetesherr)  und  Purvsha  (Mann,  Geist),  schon 
beweisen,  dafs  sie  nicht,  wie  die  frühern  Götter,  im  Yolks- 
bewufstsein  wurzeln,  sondern  Gebilde  der  denkenden  Ab- 
straktion sind. 


128  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

Typisch  für  das  ihnen  allen  eigene  Streben,  für  die  in 
abstracto  erkannte  Einheit  einen  konkreteren  Ausdruck  zu 
gewinnen,  ist  vor  allen  der  Hymnus  an  Prajäpati  10,121,  den 
wir,  aus  diesem  Grunde  und  ohne  im  übrigen  über  seine 
chronologische  Stelle  etwas  auszusagen,  hier  an  die  Spitze 
stellen.  Nicht  unwahrscheinlich  ist  uns  indessen,  dafs  dieser 
Hymnus  geradezu  an  den  eben  besprochenen  Schöpfungs- 
hymnus 10,129  anknüpft,  um  die  in  ihm  vorliegenden  Gedanken 
weiterzuführen,  wie  noch  zu  zeigen  sein  wird. 

1.   Der  Prajäpati- Hymnas,  10,121. 

Der  Form  nach  ist,  wie  uns  unzweifelhaft  scheint,  dieses 
Lied  eine  Nachbildung  des  berühmten  Sajanäsa- Hymnus  an 
Indra  2,12  (vgl.  oben,  S.  96).  Hierfür  spricht  zunächst  schon 
der  ganz  analoge  Bau.  Dort  wie  hier  werden  eine  Reihe 
von  Grofsthaten  aufgezählt,  worauf  am  Schlüsse  jedes  Verses 
durch  den  gleichmäfsig  wiederkehrenden  Refrain  auf  den  Gott 
als  ihren  Urheber  hingewiesen  wird.  Aber  während  in  dem 
altern  Liede  der  Refrain  lautet:  sa,  jandsa'!  Inclrah,  „das  ist, 
ihr  Leute,  Indra!",  so  ist  10,121  an  seine  Stelle  ein  unbe- 
kannter, erst  noch  zu  suchender  Gott  getreten,  und  der  Re- 
frain der  ersten  neun  Verse  lautet:  Kasmai  devaya  havishd 
vidhemaf  —  „wer  ist  der  Gott,  dafs  wir  ihm  opfernd  dienen?" 
(die  auf  diesem  Refrain  beruhende  Eruierung  eines  Gottes  Ka 
ist  eine  Erfindung  der  Brähmana's,  schon  von  Qatap.  Br.  1,1,1,13 
an,  welche  keine  weitere  Beachtung  verdient),  bis  endlich  im 
Schlufsverse  Prajäpati  als  dieser  gesuchte,  grofse  Unbekannte 
hervortritt.  Weiter  aber  machen  viele  Einzelheiten  es  un- 
zweifelhaft, dafs  hier  eine  bewufste  Nachbildung  vorliegt.  Man 
vero-leiche: 


Im  Indra-Liede  2,12: 
v.  1.  yo  jäta'  eva  prathamo  manasvän 
devo  clevän  Jcratunä parya- 
bhushat 
v.  2.  yah    prithivhn     vyathamandm 

adrihhat 
v.  9.  yo    vigvasya    pratimänam    ba- 
bhüca 


Im  Prajäpati-Liede  10,121: 
v.  1.  bhutasya  jätah  patir  ekcC  äsit 
v.  8.  yo  deveshu  adhi  deva'  eka' 

äsit 
v.  1.  sa  dädhdra  pritMvim 

v.  2.  yasya    chayä    amritam,    yasya 
mrityuh 


Der  Prajäpati-Hymnus,  Pugv.  10,121. 


129 


v.7.  yasya  agvdsah  pradigi,  yasya 
gdvo 
yasya  grätnä,  yasya  vigve  ra- 
thdsah 
v.  2.  yah  p  r  i  tili  vi  m  vyathamdn  dm 
arfrinhat 
i  yall  parvatdn  prakupitdn  aratn- 
ndt, 
yo     antariksha  m    v  i  m  a  m  e 

variyo 
yo  dydm  astabhnät,  sajanä- 
sa"1  Inclrah! 
v.  8.  yam  krandasi  samyati  vihva- 

yete 
v.  9.  yam    yiidhyamdnd   avase   7ia- 

■vante 
v.  7.  yali  süryam,  ya?  ushasam  ja- 
jäva. 


v.  3.  ya'  ige  asya  dvipadag  eatushpa- 
dah 


v.  5.  yeva  dyaur  ugrd  prithivi  ca 
drilhd 
yena  svah  stabhitam,  yera 

näkah, 
yo  antarikshe  rajaso  vimd- 

nah, 
kasmai  devdya  havühd  vidhema  ? 

v.  6.  yam  krandasi  avasd  tasta- 
bhdne 

abhyaikshetdm ,  manasd  reja- 
mdne, 

yatra  adln  süra'  udito  vi- 
blidti. 


Da  diese  Nachbildung  des  altern  Dichters  durch  den  Jüngern 
nicht  aus  poetischer  Dürftigkeit  des  letztern  zu  erklären  ist 
(denn  er  zeigt  sich  im  übrigen  reich  an  eigentümlichen  Worten, 
Bildern  und  Gednnken),  so  ist  die  Vermutung  vielleicht  nicht 
zu  kühn,  dafs  der  jüngere  Dichter  absichtlich  in  Bau  und  Aus- 
drucksweise an  den  altern  Dichter  sich  anschliefst,  um  damit 
zu  sagen:  „nicht  Indra,  sondern  mein  unbekannter  Gott  ist  der 
Urheber  aller  dieser  grofsen  Werke".  Ist  diese  Auffassung 
richtig,  so  gewinnt  das  Verfahren  unseres  Dichters  eine  gewisse 
Analogie  mit  dem  des  ägyptischen  Königs  Amenhotep  IV. 
(um  1500  a.  C),  welcher  an  den  Monumenten  soweit  wie  mög- 
lich den  Namen  des  bis  auf  ihn  zuhöchst  verehrten  Gottes 
Ammon  ausmeifseln  und  dafür  den  Namen  des  von  ihm  neu 
eingeführten  Gottes  Aten  (die  Sonnenscheibe)  einschreiben  liefs. 
Wie  unser  Dichter  der  Form  nach  mit  versteckter  Polemik 
das  Indralied  2,12  nachbildet,  so  knüpft  er,  wie  uns  scheint, 
der  Sache  nach  geradezu  an  den  Schöpfungshymnus  10,129 
an,  um  die  dort  auftretenden  Gedanken  weiter  fortzubilden. 
Hierauf  weist  schon  die  zweimalige  Wendung,  10,121,1  sama- 
vartata  agre,  10,121,7  samavartata,  verglichen  mit  10,129,-i  agre 
samavartata,  hin;  noch  mehr  aber  der  Inhalt.  Wie  wir  uns 
erinnern  (S.  122),  war  10,129,3  der  chaotische  Urzustand  der 
Welt  geschildert  worden  als   „ein    lichtloses  Gewoge"   (apra- 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.   I.  " 


130  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

Jcetam  salilam),  aus  dem  das  schon  vorher  vorhandene  „Eine" 
als  ein  „lebenskräftiges,  von  der  Hülse  eingeschlossenes"  durch 
die  Macht  des  Tapas  geboren  wurde.  Dies  ist  ganz  der 
Ausgangspunkt  unseres  Dichters,  nur  dal's  er  das  „lichtlose 
Gewoge",  welches  doch  wohl  nur  bildlich  gemeint  war,  in 
eigentlichem  Sinne  auffafst  und  so  den  ersten  Grund  giebt  zu 
der  später  so  häufigen  Theorie  von  den  Urwassern,  aus 
denen  das  ewige,  schon  vorher  bestehende  Eine,  nachdem  es 
als  Keim,  oder  später  als  Weltei,  sich  in  dieselben  versenkt, 
zum  empirischen  Dasein  als  Beherrscher  der  Welt  sich  fort- 
entwickelt. Dieses  letztursprüngliche  „Eine"  erscheint  unserm 
Dichter  als  der  unbekannte  Gott,  nach  dem  er  in  den  neun 
ersten  Versen  forscht,  und  den  er  verehren  will  (Jcasmai  devaya 
havishä  vidhemaf),  bis  er  ihn  endlich  im  zehnten  Verse  mit 
einem  (nicht  der  Form,  wohl  aber  der  Sache  nach)  neuen 
Namen  ganz  abstrakt  als  Prajäpaii  (d.  h.  Herr  der  Geschöpfe) 
bezeichnet.  Die  weitere  Geschichte  dieses  hier  10,121,10  zum 
erstenmal  auftretenden  obersten  Gottes  Prajdpati  wird  uns 
später  beschäftigen.  Für  unsern  Dichter  ist  er  der  letzte  Ur- 
grund der  Dinge.  Er  hat  (wie?  wird  nicht  gesagt)  die  grofsen, 
glänzenden  Wasser  erzeugt  (v.  9  yag  ca  apay  canclrä  brihd- 
tir  jajänd)  und  überschaut  sie  mit  Majestät  (v.  8  moihinä 
paryapaqyaf),  die  Wasser,  welche  alle  Keime  (v.  7  vigvam 
garhham  dadliänäli)  und  alle  Kräfte  (v.  8  daksham  dadhänali) 
in  sich  enthielten,  und  unter  ihnen  keimartig  auch  das  sie 
erzeugt  habende  Urwesen  selbst,  welches  aus  diesen  Urwassern 
„zu  Anfang  (der  Weltentwicklung)  als  ein  goldener  Keim 
hervorging"  (v.  1  hiranyagarbhah  samavartata  agre),  um  so- 
fort, nachdem  es  „aus  ihnen  als  einziger  Lebenshauch  der 
Götter  hervorgegangen"  (v.  7  tato  devänäm  samavartata 
asiir  ekaJi),  zum  einzigen  Herrn  des  Gewordenen  (v.  1  bhüta- 
sya  patir,  in  diesem  Ausdrucke  sehen  wir  schon  den  prajd-pati 
des  v.  10  durchschimmern)  zu  werden.  Dieser  in  die  Ur- 
wasser,  die  er  selbst  erzeugt,  eingegangene  und  als  goldener 
Keim  (liiranyagarhha ,  hier  natürlich  noch  nicht  nomen  pro- 
prium wie  in  der  spätem  Zeit;  „golden",  weil  Gold  das 
edelste  der  Dinge)  weiterhin  aus  ihnen  hervorgegangene 
„einzige  Herr  des  Gewordenen"   wird   dann   im  weitern  Ver- 


Der  Prajäpati-Hymnus,  Rigv.  10,121.  131 

laufe    des   Liedes    als   Schöpfer,    Erhalter   und   Regierer 
der  Welt  gefeiert.     1)  Als   Schöpfer   erzeugt  er  die  grofsen, 
glänzenden  Urwasser  (v.  9),    erzeugt  er  den  Himmel  und  die 
Erde   (v.  9,    nach    späterer  Vorstellung,  indem  er  sie  aus  den 
beiden  Schalen  des  goldenen  Welteis,  d.  i.  des  liiraiiyagarbha 
unseres  Gedichtes,  bildete,  z.  B.  Manu  1,8  fg.);  weiter  befestigt 
er   den    Himmel  und   die   Erde  (v.  1   dadlxära  prithivim  dyäm 
uta  imdm ,  v.  5  yena  dyaur  xigrä  prithivi  ca  drilhä),  stützt  das 
Himmelsgewölbe   (naka)  und  die  Sonne  (svar,  v.  5),   mifst  in 
dem   Räume    zwischen   Himmel    und   Erde    das   Luftreich    ab 
(v.  5    yo   antarikshe    rajaso    vimänah),    indem    er    durch   Aus- 
strecken  der  Arme    die   Himmelspole   als  Weltgrenzen   fixiert 
(v.  4  yasya  ima  pradigo,  yasya  bälni)  und  den  Erde  und  Luft 
umfliefsenden    Strom   Rasa    schafft,    den    jedoch    der    Dichter 
mit   einem   leisen   Anfluge   des   Zweifels   zu   erwähnen   scheint 
(ahuh    v.  4).      Ferner    schafft   er  (v.  4)    den   Ocean   und  „jene 
schneebedeckten    Berge"     des    Himalaja,    an    dessen    Fufse, 
vermutlich  noch  im  Pendschäb,  der  Dichter  zu  leben  scheint. 
Endlich    bevölkert    er    diese    so    Geschaffene    und    geordnete 
Welt,    indem    er    (v.  2)    als    sein    Abbild    (chäyä)    amritam 
und    mrityu,    d.  h.    wohl    die    unsterblichen    Götter    und    die 
sterblichen  Wesen  (Menschen,  Tiere,  Pflanzen)  erschafft  (vgl. 
10,129,2,   oben,    S.  122).     2)   Weiter  aber  ist  der   eine  Gott 
auch  der  Erhalter  der  Welt;   er  „umgiebt  alles  dieses  Ent- 
standene" (v.  10),  welches  somit  in  ihm,  nicht  aufser  ihm  ist; 
aus  ihm  geht  die  Sonne  auf,  um  zu  leuchten  (v.  6),  er  ist  der 
einzige   Lebenshauch    der    Götter   (v.  7),    verleiht   ihnen   und 
allem    andern  Odem   und  Kraft  (v.  2  ätmadä,  balada)  und  ist 
durch    seine  Majestät   der   einzige  Fürst   der  Lebewelt,   wenn 
sie  atmet,  und  wenn  sie  (im  Tode)  die  Augen  schliefst  (v.  3). 
Endlich    ist    er    3)   auch    (wie    früher  Varuna)    der    Regierer 
(räjä,  v.  3)  der  Welt;  er  überschaut  mit  Majestät  sogar  (cid) 
die  Urwasser,   aus   denen    alles   andere,   selbst   das  belebende 
Feuer  (v.  7)  und  das  götternährende  Opfer  (v.  8)  hervorging; 
alle,  auch  die  Götter,  ehren  seine  Befehle  (v.  2),   er  herrscht 
über   Zweifüfsiges    und   Vierfüfsiges    (v.  3);    zu    ihm   blicken 
zitternd   und   auf  seine  Hülfe   hoffend   die  Schlachtreihen   auf 
(v.   6),    denn    er    kann    ebensowohl    schaden    (v.  9)    wie    alle 

9* 


132  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

Wünsche  und  alle  Schätze  gewähren  (v.  10).  Ihm  will  der 
Dichter  daher  liavis  spenden  (v.  1 — 9),  will  ihm  opfern,  um 
seine  Gunst  zu  erbetteln  (v.  10),  wodurch  er  allerdings  von 
der  philosophischen  Höhe  der  vorher  besprochenen  Hymnen 
wieder  in  die  alte  Superstition  zurückfällt. 

1.  Als  goldner  Keim  ging  er  hervor  zu  Anfang; 
Geboren  kaum,  war  einziger  Herr  der  Welt  er; 
Er  festigte  die  Erde  und  den  Himmel,  — 

Wer  ist  der  Gott,   dafs  wir  ihm  opfernd  dienen? 

2.  Der  Odem  giebt  und  Kraft  giebt,   er,   dem  alle, 
Wenn  er  befiehlt,  gehorchen,   auch  die  Götter, 
Des  Abglanz   das  Unsterbliche,   der  Tod  ist,   — 
Wer  ist  der  Gott,  dafs  wir  ihm  opfernd  dienen? 

3.  Der,  wenn  sie  atmet,  wenn  sie  schliefst  die  Augen, 
Die  Lebewelt  regiert  als  einz'ger  König, 
Zweifüfsler  hier  beherrschend  und  Vierfüfsler,   — 
Wer  ist  der  Gott,   dafs  wir  ihm  opfernd   dienen? 

4.  Durch  dessen  Macht  dort  die  beschneiten  Berge, 
Das  Meer,   der  Weltstrom  ist,  von  dem  sie  fabeln, 
Des  Arme  dort  die  Himmelspole  sind,  — 

Wer  ist  der  Gott,  dafs  wir  ihm  opfernd  dienen? 

5.  Durch  den  der  Himmelsraum,   der  Erde  Festen, 
Der  Sonne  Glanz,   das  Firmament  gestützt  sind, 
Und  der  im  Mittelreich  den  Luftraum  ausmifst,  — 
Wer  ist  der  Gott,   dafs  wir  ihm  opfernd  dienen? 

6.  Zu  dem  aufschau'n  die  Kämpfer  beider  Heere, 
Auf  Hülfe  bauend,  sorgenvollen  Herzens, 

Aus  dem  aufgeht  und  fernhin  strahlt  die   Sonne,   — 
Wer  ist  der  Gott,   dafs  wir  ihm  opfernd  dienen? 

7.  Als  ehemals  die  grofsen  Wasser  kamen, 

Die  allkeimschwangern ,   die  das  Feuer  zeugten, 

Ging  er  daraus  hervor  als  Lebenshauch  der  Götter,  — 

Wer  ist  der  Gott,   dafs  wir  ihm  opfernd  dienen? 

8.  Der  machtvoll  selbst  die  Wasser  überschaute, 
Die  kräfteschwangern,   die  das  Opfer  zeugten, 

Er,   der  der  einzige  Gott  war  von   den  Göttern,  — 
Wer  ist  der  Gott,  dafs  wir  ihm   opfernd  dienen? 


Prajäpati  als  Jahr.  133 

9.    Nicht   schäd'ge  er  uns,   der  der  Erde  Schöpfer, 
Der  auch  den  Himmel  schuf,  wahrhaft  an  Satzung, 
Der  auch  erschuf  die  glanzreich  grofsen  Wasser,  — 
Wer  ist  der  Gott,  dafs  wir  ihm  opfernd  dienen'? 

10.    Prajäpati!    Du  bist  es  und  kein  andrer, 
/  Der  alles  dies  Entstandene  umfafst  hält! 

Zu  teil  werd'  uns,  was  wir,  dir  opfernd,   wünschen; 
-Uns,   die  dich  kennen,  mach    zu  Herrn  der  Güter! 

Schlufsbemerkung.  Die  weitere  Geschichte  des  Prajä- 
pati und  die  Umdeutungen,  denen  er  dabei  unterworfen  wird, 
gehören  der  Brähmanazeit  an  und  werden  uns  weiter  unten 
beschäftigen.  Nur  einer  dieser  Umdeutungen  wollen  wir, 
vorgreifend,  schon  hier  Erwähnung  thun,  weil  sie  vielleicht 
als  Schlüssel  gebraucht  werden  kann  für  das  sonst  isoliert 
dastehende  kurze  Lied  Rigvecla  10,190.  —  Prajäpati  (der 
Herr  der  Geschöpfe)  ist  eine  Personifikation  der  zeugenden 
Kraft  der  Natur.  Diese  zeugende  Kraft  offenbart  sich  im 
Kreislaufe  des  Jahres,  und  es  lag,  namentlich  nach  den  An- 
schauungen, die  wir  Rigv.  1,164,11  — 16  (oben,  S.  110—112) 
kennen  gelernt  haben,  nahe,  die  Zeugekraft  der  Natur  auf 
das  Jahr,  im  Verlaufe  dessen  sie  zur  Erscheinung  kommt, 
zu  übertragen,  d.  h.  Prajäpati  mit  dem  Jahre  (samvatsara), 
oder  abstrakter  gesprochen  mit  der  Zeit,  zu  identifizieren. 
Hieraus  erklären  sich  nicht  nur  die  beiden  Hymnen  des 
Atharvaveda  19,53  und  54,  welche  die  Zeit  als  Princip  der 
Dinge  feiern,  sowie  wohl  auch  Atharvav.  13,1 — 3,  in  denen 
die  Sonne  (rohita)  an  ihre  Stelle  tritt,  sondern  auch  die 
so  oft  im  (patapathabrähmanam  vorkommende  Wendung,  dafs 
Prajäpati  das  Jahr,  samvatsara,  sei  (vgl.  Catap.  1,5,1,16.  — 
1,5,3,2.  —  1,9,2,34.  —  1,6,3,35.  —  5,1,2,9.  —  5,4,5,20—21.  — 
8,4,3,20.  —  10,4,1,16.  —  10,4,2,2  —  und  namentlich  11,1,6,13: 
„Prajäpati  erwog:  Dieses  fürwahr  habe  ich  als  ein  Ebenbild 
meiner  selbst  erschaffen,  was  das  Jahr  ist;  darum  sagen  sie: 
«Prajäpati  ist  das  Jahr»;  denn  als  ein  Ebenbild  seiner  selbst 
hat  er  dasselbe  erschaffen u).  Diese  Anschauung  nun  scheint 
schon  Rigv.  10,190  durchzublicken,  wenn  wir  den  Schöpfer  in 
v.  3   auf  das  vorher   v.  2  genannte  Jahr   beziehen   dürfen.   — 


134  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Bigveda. 

Als  erstes  Princip  bezeichnet  der  Dichter,  wohl  in  Anlehnung 
an  Rigv.  10,129,3  (oben,  S.  122)  das  Tapas  (indem  clieThätigkeit 
des  Subjektes  zum  Subjekte  selbst  hypostasiert  wird,  ähnlich 
wie  bei  brahman).  Ans  dem  Tapas  entstehen  aufsei*  ritam 
(Ordnung),  satyam  (Wahrheit)  und  rätri  (Nacht)  die  Urwasser, 
,,der  wogende  Ocean"  wie  unser  Dichter  sagt.  Aus  diesem 
entsteht  (analog  dem  Goldkeime  10,121,1)  samvatsara ,  das 
Jahr,  welches  Tage  und  Nächte  ordnet  und  (wiederum  wie 
hiranyagarbha  10,121,3)  „Gebieter  ist  über  alles,  was  die 
Augen  aufschlägt"  (v.  2).  Nach  dieser  Wendung  wird  es 
berechtigt  sein,  das  Jahr  als  den  Schöpfer  v.  3  anzusehen 
(dhdtd  v.  3  kann  doch  wohl  kein  andrer  sein  als  vidadhad 
v.  2;  vgl.  auch  Taitt.  Br.  1,7,2,1  samvatsaro  vai  dhäta),  welcher 
der  Reihe  nach  (yathäpürvam,  der  spätere  Vedänta  übersetzt 
„wie  vordem"  und  findet  hier  eine  Bestätigung  seiner  Kalpa- 
Theorie)  Sonne  und  Mond,  den  Himmel,  die  Erde,  den  Luft- 
raum und  das  Sonnenlicht  schafft. 

Bigveda  10,190. 

1.  Aus  Tapas,   da  es  glühend  ward, 
Entstand  die  Wahrheit  und  das  Recht; 
Aus  ihm  geboren  ward  die  Nacht, 
Aus  ihm  des  Meeres  Wogenschwall. 

2.  Und  aus  des  Meeres  Wogenschwall 
Geboren  wieder  ward  das  Jahr, 

Das,  Tag'  und  Nächte  ordnend,  herrscht 
Ob  allem,  was  aus  Augen  blickt; 

3.  Das  auch  die  Sonne  und  den  Mond 
Der  Reihe  nach  als  Schöpfer  schuf, 
Den  Himmel  und  die  Erde  auch, 
Den  Luftraum  und  das  Sonnenlicht. 

2.    Die  Hymnen  an  Yicjakarman ,  10,81.  82. 

Wenn  schon  Projäpati,  der  Herr  der  Geschöpfe,  eigent- 
lich nur  eine  Personifikation  des  abstrakten  Begriffes  der 
Schöpferthätigkeit  ist,  so  gilt  dasselbe,  nur  noch  in  höherm 
Grade,  von  Vi$vakarman,  dem  Allschaffer,  unter  welchem  Namen 
das   Urwesen   in   den   beiden   Hymnen    10,81    und   82  gefeiert 


Die  Hymnen  an  Vi^vakarman,  Rigv.  10,81.  82.-  135 

wird,  die  an  poetischer  Schönheit  den  Prajapatihyinnus  nicht 
erreichen,  hingegen  an  philosophischem  Tiefsinne  und  an  Frei- 
heit von  theologischen  Voraussetzungen  demselben  überlegen 
sind.  Dem  Inhalte  nach  knüpfen  diese  beiden  Hymnen  (die 
allem  Anscheine  nach  von  einer  Hand  sind)  ziemlich  deutlich 
an  10,121  an,  so  wie  dieses  Lied  an  10,129,  wobei  sich  be- 
obachten läfst,  wie  jedesmal  der  folgende  Dichter  die  Gedanken 
seines  Vorgängers  weiter  fortbildet.  Am  unentwickeltsten  ist 
der  Schöpfungshymnus  10,129,  nach  welchem  1)  das  Urwesen 
ganz  allein  „windlos  atmend"  vorhanden  ist  (v.  2),  und  2)  eben 
dieses  Urwesen  aus  dem  „lichtlosen  Gewoge"  (welches  doch 
nichts  von  ihm  Verschiedenes  sein  kann)  sich  ?ils  lebenskräf- 
tiger Keim  (äbhu,  tucchyena  apihitam)  entwickelt.  —  Deut- 
licher erscheinen  diese  Vorstellungen  im  Prajäpatiliede  10,121, 
nach  welchem,  wie  gezeigt,  1)  das  Urwesen  die  Urwasser 
erzeugt,  2)  als  goldner  Keim  aus  diesen  Urwassern  hervor- 
geht. —  Diese  beiden  Seiten  des  Urwesens  als  All  schaffen- 
des und  wiederum  als  Ersterschaffenes  erscheinen  in  den 
Vicvakarman-Liedern  in  bedeutender  Fortbildung,  wobei  sich 
10,81  vorwiegend  mit  der  ersten,  10,82  mehr  mit  der  zweiten 
Seite  beschäftigt. 

Rigvecla  10,81. 

Wenn  schon  10,129,2  lehrte,  dafs  aufser  dem  Urwesen 
nichts  andres  vorhanden  war,  wenn  dementsprechend  10,121,9 
erklärte,  dafs  Prajäpati  auch  die  Urwasser  erzeugt  habe,  so 
versichert  unser  Hymnus  noch  bestimmter,  dafs  Vigvakarman 
sich  selbst  in  die  Welt  umgewandelt  habe,  und  zieht  daraus 
zwei  Folgerungen:  1)  dafs  durchaus  kein  Fundament  gewesen 
sei,  auf  das  sich  der  Weltschöpfer  gestützt  habe  (v.  2 — 3), 
und  dafs  er  ebensowenig  eine  Materie  aufser  sich  gehabt  habe, 
als  er  die  Welt  bildete  (v.  4 — 5)  [in  späterer  Sprache:  Gott 
ist  causa  sui  (svayambhü)  und  ist  ebenso  causa  materialis 
(upädänam)  wie  causa  efficiens  (nimittam)  der  Welt];  2)  dafs, 
wenn  wir  Gott  opfern,  es  eigentlich  Gott  selbst  ist,  der  sich 
dabei  selbst  ein  Opfer  darbringt  (v.  1.  6 — 7),  ja,  dafs  der 
Wunsch,  dieses  Opfer  zu  geniefsen,  dns  eigentliche  Motiv  der 
Weltschöpfung  gewesen  sei  (v.  1).    Die  Schärfe,  mit  der  dabei 


136  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

der  altvedische  Polytheismus  verurteilt  wird  (v.  6  muhyantu 
anye  abhito  janäsali),  wird  nur  noch  überboten  durch  die  ana- 
loge Aufserung  in  dem  folgenden  Hymnus  10,82,7.  —  Be- 
merkenswert ist  endlich  noch,  dafs  schon  in  unsern  beiden 
Hymnen  die  Weltschöpfung  als  eine  Opferhandlung  erscheint 
(10,81,1  juhvacl,  10,82,1  die  Urwasser  als  ghritam).  Es  ist 
dies  analog  dem  Tapas,  aus  dem  nach  10,129,3  (oben,  S.  122) 
und  10,190,1  (oben,  S.  134)  die  Welt  entstanden  ist:  Tapas 
und  Opfer,  diese  beiden  höchsten  Betätigungen  menschlicher 
Kraft,  haben  ihr  Vorbild  in  dem  Verhalten  Gottes  bei  der 
Weltschöpfung. 

1.  Der,   opfernd,  sich  in  alle  diese  Wesen 
Als  weiser  Opfrer  senkte,  unser  Vater, 

Der  ging,  nach  Gütern  durch  Gebet  verlangend, 
Ursprung  verhüllend  l  in  die  niedre  Welt  ein. 

1.  Gott  steckt  selbst  in  der  Welt.  Was  er  vorher  war,  ist  dadurch  verhüllt 
worden  (prathamachad) . 

2.  Doch  was  hat  wohl  als  Standort  ihm  .  .  . , 
Was  hat  und  wie   als  Stützepunkt  gedient  ihm, 
Auf  dem  die  Erde  er  erschuf,  allschaffend, 

Mit  Macht  den  Himmel  deckte  auf,  allschauend?  — 

Die  Antwort  auf  diese  Frage  liegt  in  dem  folgenden  Verse,  nach  welchem 
er  keine  andre  Stütze  hatte  als  sich  selbst. 

3.  Allseitig  Auge  und  allseitig  Antlitz, 
Allseitig  Arme  und  allseitig  Fufs, 

Schweifst  schaffend  er  mit  Armen,  schweifst  mit  Flügeln1 
Zusammen  Erd'   und  Himmel,   Gott,   der  Eine. 

1.  Mit  Flügeln,  die  dem  Schmied  als  Blasebalg  dienen  (9,112,2,  oben  S.  98). 
Dafs  das  Bild  des  Schmiedes  vorschwebt,  lehrt  die  älteste  Interpretation 
unseres  Verses,  welche  in  10,72,2  vorliegt  (unten,  S.  145). 

4.  Was  ist  das  Holz,  was  ist  der  Baum  gewesen, 
Aus  dem  sie  Erd'  und  Himmel  ausgehauen? 

Ihr  Weise,  forscht  im  Geiste  diesem  nach,  worauf 
Er  sich  gestützt  hat,  wenn  er  trägt  das  Weltenall! 

Auch  auf  diese  Frage  müssen  wir  als  Antwort  die  folgenden  Verse  an- 
sehen, nach  denen  Gott  alles  in  allem  ist,  sodafs  keine  Materie,  keine 
Stütze  aufser  ihm  möglich  ist,  daher  auch  beim  Opfer  er  allein  es  ist,  der 
das  Opfer  sowohl  darbringt  als  empfängt. 


Die  Hymnen  au  Vicvakarman ,  Rigv.  10,81.  82.  137 

5.  Was   deine  höchsten  Wohnstätten  und  tiefsten, 
Und   die  hier  in  der  Mitte  sind,  Allschaffer, 
Lehr'   deine  Freunde!    Und,   o  Herr,  beim   Opfer 
Du  opfre  selbst,  dein  Selbst  dadurch  zu  laben! 

6.  Am  Opfer  dich,   o  Allschaffer,   zu  laben, 

;        Du  opfre  selbst  als  Erde  dir  und  Himmel! 

Und  wenn  die  andern  Menschen  ringsum  irrgehn, 
Uns  hier  sei  Er  der  Opferherr,  der  Reiche. 

7.  So  ruft  denn  an  als  Herrn  der  Rede  heute 

Beim  Opfermahl  den  Allherrn,   schnell  A\de  Denken, 
Er  freue   sich  an  allen  unsern  Spenden, 
Der  hülfreich,  gütig  allen  hilft  zum  Heile. 

Rigveda  10,82. 

Während  der  vorige  Hymnus  überwiegend  die  Wesens- 
identität Gottes  und  der  Welt  betonte,  so  wendet  der  gegen- 
wärtige mehr  seine  Aufmerksamkeit  der  Art  und  Weise  zu, 
wie  die  Welt  aus  dem  göttlichen  Wesen  hervorgegangen  ist. 
Aus  dem  Opferschmalz  (ghritam)  der  Urwasser,  in  welchem 
die  beiden  WTelten  (Himmel  und  Erde)  eingetaucht  waren, 
erzeugt  dieselben  durch  göttlichen  Iiatschlufs  (manas)  der 
Schöpfer,  indem  er  zuerst  die  äufsersten  Enden  des  Welt- 
gewebes befestigt,  wTorauf  Erde  und  Himmel  zwischen  ihnen  ein- 
gewroben  werden  (v.  1).  Die  weitere  Ausführung  des  Schöpfungs- 
werkes  fällt  den  Gehülfen  des  Schöpfers  zu,  welche  hier 
zum  erstenmal  auftreten  und  als  rishayah  pürve  „vorwelt- 
liche Weisen"  bezeichnet  werden.  Nachdem  dieselben  den 
Urschöpfer  gebührend  verehrt,  schaffen  sie  die  Wesen  in  dem 
halb  dunkeln,  halb  hellen  Luftraum*,  der  „sich  setzt",  d.  h. 
wohl**,  die  in  ihm  schwebenden  Keime  ablagert  (v.  4);  rajas, 
der  Luftraum,  scheint  hier  mit  den  v.  5  und  6  genannten  Ur- 
wassern  identisch  zu  sein.    In  diesen  alle  Keime  enthaltenden 


*  Vgl.  die  Lehre  des  Empedokles:  etvai  81  y.jy.Xtp  rcepl  ty}v  yr^  cpepo- 
(j.£va  S\jo  T)[jua9aipt.c,  to  f^kv  xaiJoXo'j  Ttupb;,  tö  <5s  (juxtov  i%  depo;  X7.l  öXiyou 
itupb?,  oiz-p  oliTOLi  rr,v  vuxra  elvat  (Euseb.  praep.  ev.  1,8). 

**  Wie  bei  Anaxagoras:    tov  &£pu  uöcvtwv  cpao-y.wv  ityeiM  o-Tr.epiJ.a-ra,    xou 
TauTa  o"U7xaTaq>£p(J(ji£va  tw  uScm  yEwax  ra  cp'jxa  (Theopbr.  hist.  plant.  3,1,4). 


138  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

(10,121,7)  Urwassern  befindet  sich  als  Keim,  garbha  (der 
hiranyagarbha  10,121,1),  auch  das  Urwesen  selbst,  und  dieser 
Keim  hielt  alle  Götter  beschlossen  (v.  6),  die  in  ihm  sichtbar 
waren  (v.  5).  Eben  dieser  Keim  wird  zur  Weltachse  (ekam 
adhi  nabhau  arpitam  kann  nur  die  1,164,13,  oben  S.  111,  ge- 
nannte Achse  sein)  und  ist  von  der  Weltnabe  umgeben,  auf 
deren  Rad  (in  wörtlicher  Wiederholung  von  1,164,13)  „alle 
Wesen  stehen"  (v.  6).  Wie  aber  schon  10,129,7  ein  Anlauf 
genommen  wurde,  das  in  der  Welt  verwirklichte  Princip  als 
über  der  Welt  schwebendes  ewiges  Weltauge  (asya  adhy- 
akshah  parame  ryoman)  aufzufassen,  so  lehrt  unser  Dichter  be- 
stimmter, dafs  der  als  Weltachse  fungierende  Allschöpfer 
zugleich  (uta  v.  2)  jenseits  von  Himmel  und  Erde,  von  Göttern 
und  Dämonen  (v.  5),  als  „höchster  Anblick"  (paramä  samdrig) 
thront,  dort,  wo  die  sieben  Rishi's  (wohl  die  Gehülfen  des 
Weltschöpfers,  v.  4)  als  das  Siebengestirn  zu  schauen  sind 
und  über  ihnen  nur  noch  „der  Eine"  sich  befindet  (v.  2). 
Als  solchem  jauchzen  ihm  Opfer  und  Wünsche  der  Menschen 
entgegen  (v.  2),  als  solcher  ist  er  „der  Vater  des  Auges"  (v.  1) 
und  der  Urquell  aller  Erkenntnis  und  Offenbarung  (v.  3). 

1.  Des  Auges  Vater,  treu  dem   eignen  Eatschlufs, 
Schuf  die  im  Urschlammschmalz  versunknen  Welten ; 
Als  erst  zuäufserst  Avar  der  Saum  befestigt, 

Da  woben  zwischenein  sich  Erd'  und  Himmel. 

2.  Der  Allschaffer,  kraftvoll  an  Geist  und  Werken, 
Der  Schöpfer,   Ordner  ward  dann  höchster  Anblick; 
Mit  Opfer  jauchzt  ihm  zu  der  Menschen  Wünschen , 
Wo  jenseits  der  Sternscharen  thront  die  Einheit. 

3.  Er,  unser  Vater,   Schöpfer,   er,   der  Ordner, 
Kennt  die  Wohnstätten  und  die  Wesen  alle; 
Er  gab   allein  den  Göttern  ihre  Namen, 
Von  ihm  erfragten   sie  die  andern  Wesen. 

4.  Ihm  brachten,  gleichwie  Beter,   Opfergaben 
Aus  ihrer  Fülle  dar  die  Erstlingsweisen, 

Als  aus  dem  Niederschlag  des  Weltenraumes, 
Dem  dunkeln,  hellen.,   sie  die  Wesen  schufen. 


Der  Hymnus,  Rigv.  10,31.  139 

5.  Der  hoch  erhaben  über  Erd'  und  Himmel, 
Erhaben  über  Götter  und  Dämonen,  — 

Wer  war  der  Urkeim,   den  die  Wasser  bargen, 
In  dem  die  Götter  all  zu  sehen  waren? 

6.  Er  war  der  Urkeim,   den  die  Wasser  bargen, 
'      In  dem  die  Götter  all  versammelt  waren, 

Der  Eine,  eingefügt  der  ew'gen  Nabe, 
In  der  die  Wesen  alle  sind  gewurzelt. 

7.  Ihr  kennt  ihn  nicht,  der  diese  Welt  gemacht  hat, 
Ein  andres  schob  sich  zwischen  euch  und  ihn  ein; 
Gehüllt  in  Nebel  und  Geschwätz  umherziehn 

Die  Hymnensänger,   ihren  Leib   zu  pflegen. 

Anmerkung.  Als  Anhang  zu  den  Vicvakarman-Liedern 
wollen  wir  hier  den  Hymnus  10,31  einschalten,  dessen  Dunkel- 
heit der  Deutung  weiten  Spielraum  lafst,  und  bei  dem  unsere 
Auffassung  zu  sehr  von  dem  Herkömmlichen  sich  entfernt, 
als  dafs  wir  so  bald  auf  Zustimmung  hoffen  dürften.  —  Sicher 
ist  nur,  dafs  unser  Hymnus  in  v.  7  sich  auf  10,81,4  bezieht, 
indem  er  die  dort  gestellte  und  scheinbar  unbeantwortet  blei- 
bende Frage  nach  dem  Urstoffe  wiederholt,  sehr  wahrschein- 
lich ferner,  dafs  in  den  Worten  v.  10  gamyärn  gaur  jagäro, 
yad  clha  pricchdn  die  Antwort  auf  10,81,4  gegeben  werden 
soll:  „Die  Kuh  (d.  h.  die  schaffende  Natur)  verschlang  das 
Holz,  nach  dem  man  etwa  fragen  könnte",  der  Urstoff  wurde 
durch  die  Weltschöpfung  verbraucht,  daher  er  nicht  mehr  zu 
linden  ist. 

Merkwürdig  als  Vorspiel  zur  Lehre  vom  Brahman  ist 
der  erste  Teil  des  Gedichtes  (v.  1 — 5),  welcher  die  Abhängig- 
keit der  Götter  vom  Gebete  oder  Liede  des  Sängers 
(v.  1  gansa,  v.  3  d/dti,  v.  5  stuti,  v.  6  sumati)  zu  lehren  scheint, 
worauf  dann  im  zweiten  Teile  (v.  6 — 10)  eben  dieses 
Gebet  als  vorweltliches,  weltschaffendes  Princip  ge- 
feiert wird.  Dieses  Princip  zerlegt  sich  weiter  in  eine  Kuh 
und  einen  Stier  (die  empfangende  und  zeugende  Kraft  der 
Natur),  aus  deren  Begattung  die  Welt  hervorgeht,  „der  Sohn, 
welcher  schon  vor  den  Eltern",  nämlich  als  das  zu  ihnen  sich 
gestaltende  Gebet,   da  war   (v.  10).      Der   Schlufsvers   scheint 


140  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

den  Gedanken  auszusprechen,  dafs  auch  das  scheinbar  Unbe- 
deutende (hier  das  Gebet)  sehr  bedeutend  (weltschaffende 
Kraft)  sein  kann.  Dies  hat  vor  unserin  Dichter  noch  nie  je- 
mand erkannt:  ritam  atra  nakir  asmai  apipet  „keiner  hat  dein. 
wovon  wir  hier  reden,  noch  sein  volles  Recht  strömen  lassen-*. 

Rigveda  10,31. 

1.  Loblied  der  Götter  eile  zu  uns  herwärts, 
Durch  alle  Götter  Hülfe  bringend,  heilig; 
Dann  werden  wir  gut  Freund  mit  ihnen  bleiben 
Und  siegreich  alles  Unheil  überwinden. 

2.  Mag  immerhin  der  Mensch  nach  Reichtum  trachten, 
Durch  Götterdienst  verehrend  ihn   erstreben  !   — 
Doch  dann  besprech'   er  sich  mit  seinem  Herzen, 
Im  eignen  Geiste  Bess'res  zu   ergreifen! 

3.  Geschaffen  ward  das  Lied ,  Trankspenden  rinnen , 
Zum  Soma  eilen,  wie  zur  Tränke,   Götter,  — 

Laut  braust  uns  der  Gesang,  zur  Wohlfahrt  führend  , 
Aufspürer  sind  der  Götter  wir  geworden. 

4.  Jetzt  freue  Agni  sich,   der  stete  Hausherr, 
Und  wem  erregend  Savitar  die  Lust  gab; 
Mit  Rindern  schmücke  Bhaga,  Aryaman  uns. 
Hold  scheine  er  dem  Beter,   —   sei  es  wirklich. 

5.  Der  Sitz  hier  sei  wie  Thron  der  Morgenröte, 
Zu  dem  sie,  Nahrung  bringend,  kraftvoll  eilen, 
Verlangend  alle  nach  des  Sängers  Betlied, 
Herströmen  mögen  ihre  Helferkräfte! 

G.    Und  dies  Gebet  des  Sängers,   aus  sich  breitend, 
Ward  eine  Kuh ,   die  vor  der  Welt  schon  da  war ; 
In  dieses  Gottes  Schofs  zusammen  wohnend, 
Pfleglinge  gleicher  Hegung  sind  die  Götter. 

7.  Was  ist  das  Holz,  was  ist  der  Baum  gewesen, 
Aus  dem  sie  Erd'   und  Himmel  ausgehauen, 
Die  beiden ,   alternd  nicht  und  ewig  hülfreich , 
Wenn  Tage  schwinden  und  Vor  -  Morgenröten  V   — 

8.  So  grofs  ist  aufser  ihm  nichts  mehr  vorhanden. 
Er  ist  der  Stier,  der  Erde  trägt  und  Himmel, 
Das  Wolkensieb  umgürtet  wie  ein  Fell  er, 

Der  Herr,  wenn  er,  wie  Sürya,  fährt  mit  Falben. 


Die  Hymnen  an  Brakmanaspati.  141 

9.    Als  Sonnenpfeil  bestrahlt  er  weit  die  Erde, 

Durchbraust  die  Wesen,  wie  der  Wind  den   Nebel; 
Wo   er  als  Mitra,  Varuna  sich  umtreibt, 
Zerteilt  er  Glutschein ,   wie  im   Walde  Agni. 

10.    Als,  zugetrieben  ihm,  die  Kuh  gebar, 

1   Schuf  sie,  bewegt,  frei  weidend,  Unbewegtes, 
Gebar  den  Sohn,  der  älter  als   die  Eltern, 
Und  schlang  hinab   das  Holz,  nach   dem  sie  fragen. 


11.    Ja,  Kanva  selbst  war  nur  des  Nrishad  Sohn, 

Im  Wettkampf  siegt  wohl  auch  ein  dunkler  Renner, 
Für  Schwarze  auch  strotzt  glänzend  hell  das  Euter.   — 
Dem,  den  ich  meine,  gab   sein  Recht  noch  keiner. 

3.    Die  Hymnen  an  Brahiuanasuati. 

Noch  ehe  die  Erkenntnis  der  Einheit  (1,164-  10,129)  zum 
Durchbräche  kam,  aber  im  Zusammenhange  mit  den  Gedanken, 
die  sie  veranlafsten,  sehen  wir  in  einer  Reihe  späterer  Hymnen 
des  Rigveda  eine  Gottheit  auftauchen  und  immer  gröfsere 
Bedeutung  gewinnen,  welche,  wie  der  Name  Brittas  pdti  und 
(völlig  identisch  damit  gebraucht)  Brähmanas  pdti  besagt,  den 
Herrn  Q)ati)  des  Gebetes  (brohman,  während  brih  als  Nomen 
nicht  vorkommt)  bedeutet.  Ursprünglich  ist  dieser  Gott  (ähn- 
lich wie  västosh-pati,  kshetrasya  pati  u.  a.)  nichts  weiter  als 
eine  jener  Personifikationen  menschlicher  Verhältnisse  und 
Bestrebungen,  wie  sie,  zahlreicher  in  der  griechischen.  Mytho- 
logie, doch  auch  im  Veda  nicht  selten  auftreten.  Als  solcher, 
als  der  Genius  des  Gebetes,  wird  denn  Brahmanasputi  (oder, 
nach  Bedarf  des  Metrums  mit  ihm  wechselnd,  Brihaspati)  öfter 
neben  Indra,  Soma,  Agni  genannt  als  an  ihren  Thaten  teil- 
nehmend, verfliefst  auch  gelegentlich  mit  ihnen  (z.  B.  mit 
Agni  1,18,9),  und  manche  mochten  geneigt  sein,  sich  nicht 
sonderlich  viel  aus  ihm  zu  machen  (1,190,5  usrikam  manya- 
mdnäK)i  Aber  dieser  Gott,  dem  unter  allen  vedischen  Göttern 
die  gröfste  Zukunft  vorbehalten  blieb,  kündigt  seine  innere 
Bedeutsamkeit  schon  auf  dem  Boden  des  Rigveda  an.  Das 
Gebet,  dessen  leicht  durchsichtige  Personifikation  er  ist,  gilt 


142  L)ie  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

schon  im  Rigveda  als  ein  Stärkungsmittel  der  Götter,  durch 
welches  ihre  Kräfte  wachsen,  und  das  sie  ebensowenig  ent- 
behren können  wie  die  Menschen  die  Gaben  der  Götter,  die 
sie  dafür  eintauschen.  Sehr  häufig  wird  daher  von  den  Göttern 
gesagt,  dafs  sie  „sich  durch  das  Gebet  stärken"  (brahmanä 
vävridhänah) ,  oder  vom  Gebete,  dafs  es  „ein  Stärkungsmittel 
der  Götter"  sei  (brahma  devdndm  vardlianam).  In  dem  Mafse, 
wie  dieser  Gedanke  einer  Abhängigkeit  der  Götter  vom 
Gebete  heranwuchs,  mufste  auch  die  Bedeutung  des  Brah- 
manaspati  steigen,  und  so  sehen  wir  ihn  in  einigen  spätem 
Hymnen  (an  ihn  speciell  gerichtet  sind  Buch  I,  18.  40.  190; 
Buch  II,  23.  24,  25.  26;  Buch  III,  62,4-6;  Buch  IV,  50; 
Buch  VI,  73;  Buch  X,  67.  68)  aus  seiner  ursprünglich  be- 
scheidenen Stellung  mächtig  emporwachsen  und  unter  den 
Händen  der  Sänger  zum  „Vater  der  Götter"  (2,26,3.  4,50,6) 
werden,  dem  alle  ihre  Grofsthaten,  und  namentlich  die  des 
Indra,  zugeschrieben  werden;  jetzt  ist  er  es,  der  die  Enden 
der  Erde  mit  Macht  gestützt  hat  (4,50,1),  der,  was  ihm  nie- 
mand nachmacht,  Sonne  und  Mond  in  regelmäfsigem  Wechsel 
aufgehen  liefs  (10,68,10),  der  die  Wolkenburg  des  Vritra,  wie 
früher  Indra,  brach  (10,68,6),  der  Sieg  in  Schlachten,  Schutz 
gegen  böse  Geister  verleiht,  u.  s.  w.  Waren  es  früher  die 
Götter,  welche,  durch  das  Gebet  getrieben,  diese  Werke 
verrichteten,  so  werden  jetzt  die  Götter  zu  einem  unterge- 
ordneten Faktor  oder  auch  ganz  beiseite  gelassen,  und  es  ist 
das  Gebet  selbst,  in  seiner  Personifikation  als  Brahmanas- 
pati,  welches,  sei  es  durch  die  Götter,  sei  es  direkt,  die 
Wunderwerke  der  Schöpfung  und  die  Beschützung  der  From- 
men vollbringt.  Dabei  ist  die  ursprüngliche  Bedeutung  des 
Brahmanaspati  keineswegs  vergessen:  ihn  zeugte  der  weise 
Tvashtar  „aus  allen  Wesen  und  allen  Liedern"  d.  h.  aus  den 
Liedern  der  Menschen  (2,23,17),  ihn  „lassen  die  Menschen 
wachsen"  (vardhayantas)  durch  fromme  Gebete  (10,67,9 — 10): 
er  ist  der  Herr  (igäno)  durch  das  Gebet  (2,24,15),  und  wie 
Savitar  seine  Strahlenarme,  so  streckt  er  die  Preislieder  und 
Lobgesänge  aus  (1,190,3),  aus  denen  er  besteht.  Merkwürdig 
ist  hier  vor  allen  andern  der  Vers  2,24,11,  in  dem  wir  den 
Gott  in  seinem  allmählichen  Heranwachsen  verfolgen  können: 


Die  Hymnen  au  Brahinanaspati.  143 

i/o  avare  vrijane  vigvathä  viblmr 
mahäm  u  ranvah  cavasä  vavaksMtha,  — 
sa  devo  devän  prati  paprathe  prithu, 
vicvjx  iä  u  tä  paribhür  Brähmanaspatih . 

„Der  du,  in  der  niedern  Enge  [des  Opferraumes  oder  des 
Herzens]  nach  allen  Seiten  dich  entfaltend,  mächtig  herange- 
wachsen bist  zu  einem  Erfreuer  der  grofsen  Götter,  —  als 
Gott  zu  den  Göttern  hin  breitet  er  weit  sich  aus,  diese  ganze 
Welt  umfassend,  Brahmanaspati."  Hier  sehen  wir  Brahina- 
naspati, wie  er  1)  im  niedern  Raum  des  Herzens  oder  der 
Opferstätte  entsteht  und  hinausstrebt,  die  Götter  zu  ercpiicken, 
wie  er  dann  2)  immer  mehr  wachsend  zu  einem  Gott  unter 
den  Göttern  wird,  bis  er  3)  dasteht,  die  ganze  Welt  umfas- 
send als  das  höchste  göttliche  Wesen. 

Die  weitere  Geschichte  des  Brahmanaspati,  wie  er,  nach 
Abstreifung  der  Persönlichkeit,  zum  brahman  (neutr.)  und  als 
dieses  zum  Princip  aller  Dinge  wird,  gehört  der  Brähmana- 
zeit  an  und  wird  uns  weiter  unten  beschäftigen. 

Hier,  auf  dem  Boden  des  Rigveda,  haben  wir  nur  noch 
den  Hymnus  10,72  zu  behandeln,  welcher  aus  einem  ähnlichen 
Vorstellungskreise  heraus,  wie  wir  ihn  in  den  Liedern  an 
Prajäpati  und  Vicvakarman  kennen  gelernt  haben,  die  Ent- 
stehung der  Welt  und  der  Götter  aus  Brahmanaspati  schildert. 

Rigveda  10,72. 

Der  Dichter  will  (v.  1)  die  Entstehung  der  Götter  schil- 
dern, so  dafs  noch  späte  Geschlechter  es  bewundern  sollen.  — 
Quid  dignum  tanto  feret  hie  promissor  hiatirf  Nichts  weiter 
als  eine  Umdeutung  gewisser  mythologischer  Vorstellungen 
von  Aditi  und  ihren  Kindern  im  Sinne  des  neuen  kosmogo- 
nischen  Schema's,  wie  wir  es  aus  den  Hymnen  10,129.  10,121. 
10,81.  82  kennen  gelernt  haben.  Nach  diesem  Schema  hatten 
wir  1)  das  Urprincip,  2)  aus  ihm  hervorgehend  die  Urmaterie, 
3)  ans  dieser  die  erschaffene  Welt  und  als  Erstgebornen  und 
Beherrscher  derselben,  sich  aus  einein  Keime  in  den  Urwassern 
entwickelnd,  das  Urprincip  selbst.  Dies  ist  auch  die  Grund- 
anschauung unseres  Dichters,  nur  dafs  er  sie  mythologisch  zu 
verbrämen   weifs.     1)   Das  Urprincip   ist    ihm  Brahmanaspati, 


144  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

welcher  (in  deutlicher  Anlehnung  an  10,81,3,  oben  S.  136) 
die  Welten  wie  ein  Grobschmied  zusammensch weifst.  Wie 
10,81  hat  er  keinen  Urstoff  neben  sich:  asatah  seid  ajäyatet,  das 
Seiende  entstand  aus  dem  Nicht  sei  enden.  2)  Dieses  erst- 
entstandene Seiende  (seid,  v.  2.  3)  mufs  nun  identisch  sein  mit 
der  Weltgebärerin  (uttänapad,  v.  3.  4),  mit  Aditi  (v.  4.  5)  und 
mit  dem  Wogenschwall  (salilam,  v.  6),  in  welchem  (wieder 
in  Anlehnung  an  10,82,6,  oben  S.  139)  alle  Götter  herumtanzen 
(v.  6).  3)  Aus  der  Urtnaterie  (sael  =  uttelnapad  =  Aditi  =s 
salilam)  entstehen  die  Welt  und  die  Welträume,  und  mit 
ihnen  DaJcsha  (der  Iliranyagarblia  10,121,1),  welcher  aus  der 
Aditi  (Urmaterie)  sich  entwickelt,  jedoch  (als  Urprincip,  dessen 
Tochter  Aditi  ist)  schon  vorher  da  war;  so  löst  sich  das  Rätsel 
in  v.  4:  Aditer  Daksho  'jäyetta,  Dakshäd  u  Aditih  i^eiri  „Aus 
Aditi  (der  Urmaterie)  ist  Daksha  (als  Erstgeborner,  Hiranya- 
garbha)  entstanden,  aber  Aditi  selbst  war  wiederum  (vorher) 
aus  Daksha  (als  dem  Urprincip,  dem  Brahmanaspati  in  v.  2) 
entstanden".  Einer  ähnlichen  Aufserung  werden  wir  in  dem 
weiterhin  zu  besprechenden  Hymnus  10,90,5  begegnen.  — 
Diese  (wie  die  Übereinstimmung  der  bisher  besprochenen 
Hymnen  zu  beweisen  scheint)  ziemlich  allgemein  in  damaliger 
Zeit  angenommene  kosmogonische  Reihenfolge*  von  1)  Ur- 
princip, 2)  Urmaterie,  3)  Erstgeborner  wird  nun  von  unserm 
Dichter  mythologisch  umgedeutet.  Schon  früher  (oben,  S.  105) 
hatte  man  versucht,  die  obersten  Himmelsgötter  auf  einen 
gemeinsamen  Urgrund  zurückzuführen,  indem  man  sie  als 
Söhne  der  Aditi  (Unendlichkeit,  axsipcv)  auffafste.  Solcher 
Söhne  zählte  man  in  der  Regel  sieben:  Vevrunei,  Mitra,  Arya- 
man,  Ane-a,  Bhaga,  Daksha  und  einen  ungenannten  siebenten, 
auf  den  Savitar  am  meisten  Anspruch  hat.  Unser  Dichter 
fügt  als  achten  Sürya,  den  Sonnenvogel,  hinzu,  welcher,  auf- 
und  untergehend,  bald  geboren  wird,  bald  stirbt,  indes  die 
übrio;en    sieben    unsterblich    sind.     Es  lag   nahe,    diese   Aditi 


*  Es  scheint  derselben  eine  allgemein  menschliche  Anschauung  zu 
Grunde  zu  liegen,  da  man  eine  Analogie  dazu  auch  in  den  Anfangsworten. 
der  Genesis  finden  kann,  sofern  sich  dort  1)  s-nSs  2)  o^sn  3)  aww  -vi 
von  einander  unterscheiden  lassen. 


Die  Hymnen  an  Brahmanaspati.  145 

(axsipov)  auf  die  Urmaterie  oder  Urwasser  zu  beziehen.  We- 
niger deutlich  ist,  warum  unser  Dichter  unter  ihren  Söhnen 
gerade  den  Daksha  als  Erstgebornen  (=  IRranyagarbha)  und 
folglich  wieder  auch  als  Urprincip  (=  Prajäpati,  Vigvakarman, 
Brahmanaspati)  an  die  Spitze  stellt.  Aber  Varuna,  Mitra, 
Aryaman,  wie  auch  Savitar,  waren  schon  zu  sehr  mythologisch 
verbraucht,  Anca  und  Bhaga  (Verteiler)  beziehen  sich  mehr 
auf  die  administrative  Thätigkeit  Gottes,  sodafs  für  die 
schöpferische  Thätigkeit  Daksha  (die  Tüchtigkeit)  am  meisten 
sich  empfahl;  daher  Prajäpati  als  Weltschöpfer  Qatap.  Br.  2,4,4,2 
mit  Daksha  identifiziert  wird  (sa  vai  daksho  näma),  und  in 
spätem  Aufzählungen  (vgl.  Muir  V,  55)  Daksha  geradezu  als 
der  Dliatar  (Schöpfer)  sich  bezeichnet  findet.  Vorangegangen 
war  in  dieser  Hervorhebung  des  Daksha  vielleicht  schon  10,5,7 
(asac  ca  sac  ca  parame  vyoman  Dakshasya  janman,  Aditer 
upasthe),  und  auch  mit  dem  Dhätar-Samvatsara  in  10,190, 
oben  S.  133,  ist  sie  nicht  schwer  zu  vereinigen. 

Somit  erscheint  unser  Hymnus  als  ein  erster  Versuch,  den 
neuen  Wein  in  die  alten  Schläuche  zu  fassen,  die  neue  Kosmo- 
gonie  mit  der  alten  Mythologie  synkretistiseh  zu  vereinigen. 
Philosophisch  steht  sein  Dichter  daher  bedeutend  unter  den 
Urhebern  der  Vicvakarman- Lieder;  er  verhält  sich  zu  ihnen 
etwa  wie  Anaximenes  zu  Anaximander,  wie  Leibniz  zu  Spinoza, 
wie  Hartmann  zu  Schopenhauer.  Den  Mangel  an  Originalität 
sucht  er  dann  hinter  Ruhmredigkeit  zu  verstecken  (v.  1)  und 
für  denselben  durch  pikante  Zuthaten  zu  entschädigen:  in  dem, 
was  er  über  die  Götter  sagt,  klingt  ein  leichtfertiger,  fast 
spöttischer  Ton  durch,  und  die  Ausmalung  der  Weltgebärerin 
als  uttdnapad  scheint  ein  Wohlgefallen  an  derartigen  Vorstel- 
lungen zu   bekunden. 

1.  Der  Götter  Ursprung  wollen  jetzt 
Wir  melden ,  zur  Verwunderung 
Des,   der  im  späteren  Geschlecht 
Das  Lied  vernimmt,  wenn  es  ertönt. 

2.  Zusammen  schweifste  diese  Welt 
Als  Grobschmied  Brahmanaspati; 
Da  ward,  noch  vor  der  Götter  Zeit, 
Aus  dem  Nichtseienden  was  ist. 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.    I.  10 


146  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

3.  Noch  vor  der  Götter  Ursprung  ward 
Aus  dem  Nichtseienden  was  ist , 

Da  bildeten   die  Räume   sich, 
Da,  —  aus  der  Weltgebärerin. 

4.  Die  Welt  aus  der  Gebärerin, 

Und  aus  der  Welt  die  Räume  sind, 
Aus  Aditi  Daksha  entstand, 
Jedoch  aus  Daksha  Aditi. 

5.  Auch  Aditi  entstand  ja  erst, 
Die,  Daksha!  deine  Tochter  war, 
Aus  ihr  die  Götter  wurden  dann, 
Selig ,   unsterblichkeitbeschenkt. 

6.  Als,   Götter!  ihr  im  Wogenschwall 
Euch  alle  fafstet  an  der  Hand, 
Da,  wie  von  Tanzenden,  von  euch 
Staubwolken  wirbelten  empor. 

7.  Als,  Götter!  ihr  mit  Strebekraft 
Heraus   die  Welten  quellen  liefs't. 
Da,   der  im  Meer  verborgen  lag, 
Hobt  ihr  den  Sonnenball  empor. 

8.  Acht  Söhne  hatte  Aditi, 

Die  sie  aus  ihrem  Leib  gebar, 
Zu  Göttern  ging  mit  sieben  sie, 
Indes  den  Vogel  sie  verstiefs. 

9.  Mit  sieben  Söhnen  Aditi 

Stieg  auf  zum  alten  Götterstamm, 
Indes  sie  bald  Geburt,  bald  Tod 
Über  den  Vogel  walten  liefs. 

Anmerkung.  Die  Umwandlung  des  Brahmcuiaspati  in 
das  Brähman  und  die  Erhebung  desselben,  d.  h.  der  im  Ge- 
bete zu  Tage  tretenden  religiösen  Inbrunst,  zum  schöpferischen 
Princip  aller  Dinge  gehört,  wie  bereits  bemerkt,  der  folgenden 
Periode  an.  Doch  treffen  wir  noch  auf  dem  Boden  des  Rig- 
veda  einen  verwandten  Versuch  an,  sofern  an  mehreren  Stellen 
die  Väc,  d.  h.  die  heilige,  im  Vedaworte  verkörperte  Rede,  als 
die  schaffende,  alle  Götter  tragende  Urkraft  gepriesen  wird. 
Wir  sahen  bereits  (oben,   S.  116  fg.)   wie  Rigv.  1,164,87  —  45 


Die  Hymnen  über  die  Väc,  Rigv.  10,125.  71.  147 

die  irdische  Rede  des  Sängers  als  ein  Ausflufs  der  göttlichen 
Rede  betrachtet  wurde,  die  im  höchsten  Himmelsraume  thront, 
auf  die  alle  Götter  sich  stützen,  die  als  weltnährende  Kuh  die 
wilde  Rhythmik  des  Donners  ausbrüllt  und  von  der  nur  ein 
Viertel  den  Menschen  als  Rede  gegeben  ist,  während  drei 
Viertel  (ähnlich  wie  bei  dem  im  nächsten  Abschnitte  zu 
besprechenden  Purusha  10,90,3)  im  Verborgnen  unbewegt 
bleiben. 

Diesen  Gedanken  schliefst  sich  der  Hymnus  der  Vdo 
10,125  an,  sofern  in  ihm  die  Rede  als  das  Princip  gefeiert 
wird,  welches  alle  Götter  trägt  (v.  1 — 2),  welches  auch  am  An- 
fange (mürdhan)  die  treibende  Kraft  in  dem  Vater  des  Welt- 
alls war,  um  sodann  (ähnlich  wie  der  liiranyagarblia  10,121,1) 
in  den  Wassern  geboren  zu  werden  und  sich  über  alle  Wesen 
zu  verteilen  (v.  7).  Es  bedarf  keiner  Ausführung,  dafs  die 
Väc,  d.  h.  die  heilige  Rede  des  Veda,  ein  dem  spätem  Brahman 
nahe  verwandtes  Princip  ist. 

Rigveda  10,125. 

1.  Ich  wandle  hin  mit  Rudra's  und  mit  Vasu's, 
Mit  den  Aditya's  und  den  Vigve  deväs, 

Ich  trage  beide,  Varuna  und  Mitra, 
Ich  Indra,  Agni,  ich  die  beiden  Agvin's. 

2.  Ich  trage  die  vollsaftige  Somapflanze, 

Ich  den  Tvashtar,  den  Püshan  und  den  Bhaga, 
Ich  bin's,  die  Güter  schenkt  dem  Spendefrohen, 
Der  gerne  hilft,  gern  opfert,  gerne  keltert. 

3.  Ich  hin  die  Fürstin,  der  der  Reichtum  zuströmt, 
Bin  weise,  hin  als  erste  zu  verehren, 

Die   Götter  haben  mannigfach  zerteilt  mich, 

An  vielen  Orten  vielfach  mich  verbreitend  (-tas1  Atharvav.). 

4.  Durch  mich  ifst  Speise,  wer  nur  schaut  aus  Augen, 
Wer  Atem  holt,  wer  das   Gesprochne  höret; 
Unmerkend  sind  auf  mir  sie  doch  gegründet; 

Du  aber,  selbst  Gehörter!   hör'  und  glaube! 

5.  Was  einer  spricht,  ich  selbst  bin's,   die  es  redet, 
Was  lieblich  ist  für  Götter  und  für  Menschen; 
Den,  dem  ich  hold  bin,  mache  ich  gewaltig, 
Den  zum  Brahmanen,  Weisen,  Einsichtsvollen. 

10* 


148  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

6.  Ich  bin  es,  die  dem  Rudra  spannt   den  Bogen 
Für  seinen  Pfeil,  den  Brahrnanfeind  zu  treffen; 
Ich  flöfse   ein  die  Kampfeslust  den  Menschen, 
Und  ich  durchdringe  Himmel  und  die  Erde. 

7.  Des  Weltalls  Vater  trieb  ich  an  am  Anfang, 
Doch  meine  Wiege  ist  in  Meeres  Wassern; 
Von  da  verteil'  ich  mich  auf  alle  Wesen 

Und  reiche,  mächtig  wachsend,   auf  zum  Himmel. 

8.  Ich  bin  es,   die  dem  Winde  gleich  dahinbraust, 
Anpackend  und  erschütternd  alle  Wesen, 
Hinaus  streb'  über  Himmel  ich  und  Erde, 

So  grofs  bin  ich  durch  meine  Macht  geworden. 

Während  dieses  Lied,  im  Anschlufs  an  1,164,  die  Väc 
als  metaphysisches  Princip  feiert,  so  ist  hingegen  ihre 
Bedeutung  für  das  praktische  Leben  (die  unser  Lied 
nur  vorübergehend  streift)  das  Thema  eines  andern,  nahe 
verwandten  Hymnus,  des  sogenannten  Weisheitsliedes  10,71, 
welches  wir  zum  Vergleiche  und  um  seines  besondern  kultur- 
geschichtlichen Interesses  willen  hier  folgen  lassen.  Aus 
v.  11  ersehen  wir,  dafs  das  Verkündigen  der  jätavidyd  „der 
Lehre  vom  Ursprung  der  Dinge"  schon  in  den  letzten  Zeiten 
des  Rigveda  ein  beliebter  Gegenstand  war,  an  dem  die  Brah- 
manen  in  Festversammlungen  ihre  Kunst  zeigten,  und  von 
der  die  erhaltenen  und  von  uns  besprochenen  Hymnen  gewifs 
nur  einzelne  Proben,  aber  doch  vielleicht  das  Beste,  was  in 
dieser  Art  geleistet  worden,  darbieten. 

Das  Weisheitslied,  Rigveda  10,71. 

1.  Als,  o   Brihaspati,   den  ersten  Anfang 
Der  Rede  sie  vorbrachten,  Namen  gebend, 
Da  ward,  was   sie  als  Bestes,  Unbeflecktes 
Verborgen  hielten,  liebreich  offenbaret. 

2.  Wie  durch  ein  Sieb  man  das   Gedroschne  sichtet, 
So   schufen  Weise  durch  den  Geist  die  Rede; 

Nun  kann  der  Freund  erkennen,  wer  ihm  freund  ist, 
Sein  holdes  Glück  im  Wort  zum  Ausdruck  bringen. 


Das  Weisheitslied,  Rigv.  10,71.  149 

3.  Im  Opferdienst  der  Rede   Spur  verfolgend, 
Fand  man  sie  in  die  Dichter  eingegangen; 
Dort  schöpfend  hat  man  mannigfach  zerteilt  sie, 
Nun  jauchzen  sieben  Sänger  sie  im   Chore. 

4.  Wohl  mancher  sieht  sie  und  erkennt  sie  nicht, 
Wohl  mancher  hört  sie  und  vernimmt  sie  nicht,   — 
Und  wieder  andern  strömt  sie  voll  entgegen , 
Gern,  wie   dem  Mann  die  schöngeschmückte  Gattin. 

5.  Gar  mancher  ist  so  ihrer  Freundschaft  sicher, 

Dafs  man  nicht  leicht  im  Sängerkrieg  ihn  fordert,   — 
Doch  der  geht  hin,  melkt  statt  der  Kuh  ein  Trugbild, 
So  fruchtlos,  blütelos  hört  er  die  Rede. 

6.  Wer  den  ihm  gleichgesinnten  Freund  im  Stich  läfst, 
Der  hat  auch  keinen  Anteil  an  der  Rede; 

Hört  er  sie  gleich,  so  hört  er  doch  vergebens, 

Weil  er  nicht  weifs ,  was  wohl  sich  schickt  im  Handeln. 

7.  Ja,  Augen  haben  alle,   Ohren  alle, 

Doch  an  Gedankenschnelle  sind  sie  ungleich: 

Der  eine  wogt  wie  Strom  um  Haupt  und  Schultern, 

Der  andre  ist  ein  seichtes  Badewasser. 

8.  Und  wenn  mit  herzentsprofsner  Geistesschnelle 
Zum  Opfer  sich  anschicken  Beter,  Freunde, 
Von  manchem  laufen  sie  davon  wohlweislich, 
Als  weise  Beter  schreiten  andre  stattlich. 

9.  Die  dann  nicht  vorwärts  und  nicht  rückwärts  können, 
Sind  keine  Beter,  keine   Somapresser, 

Sie  thaten  übel,  da  das  Wort  sie  nahmen, 
Handhaben  ungeschickt  ihr  Weberschifflein.   — 

10.  Doch  alle  jubeln ,  wenn  er  herrlich  auftritt , 
Dem  redemächt'gen  Freunde  zu,   die  Freunde, 
Sein  Lied  tilgt  ihre  Schuld,  mehrt  ihre  Nahrung, 
Er  ist  zum  Sängerkriege  wohlgerüstet. 

11.  Dann  läfst  der  eine  blühen  seine  Hymnen, 
Der  andre  singt  ein  Lied  in  mächt'gen  Tönen, 
Und  dieser  Weise  lehrt  der  Dinge  Ursprung, 
Und  jener  mifst  der  heil'gen  Handlung  Mafse. 


150  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

4.   Der  Hymnus  an  den  Pnrnsha,  Rigv.  10,90. 

Den  Abschlufs  der  Philosophie  des  Rigveda  bildet  das 
Purasha-Ijied*  10,90,  einer  der  spätesten  Hymnen  des  Rigveda, 
da  er,  allein  unter  allen,  das  Bestehen  der  vier  Kasten  und 
somit  wohl  schon  die  dauernde  Ansiedlung  im  Gangesthaie 
voraussetzt,  sodafs  man  sich  wundern  mag,  wie  er  wohl  noch 
in  der  Rigveda-samhitä  Aufnahme  fand.  Er  verdankt  dieselbe 
wahrscheinlich  der  Bedeutung  seines  Inhaltes,  um  deren  willen 
er  auch  in  die  meisten  übrigen  Samhitä's  aufgenommen  wurde, 
sodafs  sein  Fehlen  in  der  Sämasamhitä  (mit  Ausnahme  der 
Aranyakasamhitä  der  Naigeyaschule),  im  Käthakam  und  in  der 
Maiträyani  vielleicht  ein  Anzeichen  ist,  dafs  diese  Sammlungen 
(deren  erste  Ansätze  wenigstens  v.  9  als  ric,  säman,  yajus, 
chandas  als  bestehend  vorausgesetzt  werden)  schon  vor  dem 
Entstehen  oder  wenigstens  allgemeinen  Bekanntwerden  unseres 
Hymnus  zum  Abschlüsse  gekommen  waren.  Aufser  im  Rig- 
veda findet  er  sich,  mit  mancherlei  Zusätzen,  Versetzungen 
und  Varianten:  Taitt.  Ar.  3,12,  Väj.  Samh.  31,  Atharvav.  19,6. 
Völlig  überein  stimmt  mit  der  Rig-Recension  die  im  Taitt. 
Ar.,  nur  dafs  sie  v.  15  nicht  unpassend  zwischen  v.  6  und  7 
stellt.  Auch  die  Väj.  Samh.  bietet,  aufser  einigen  Umstellungen, 
nur  wenig  erhebliche  Abweichungen,  während  die  Atharva- 
Recension  allerlei  rationalisierende  Varianten  enthält:  so  be- 
seitigt sie  v.  1  die  tausend  Häupter,  weil  zu  tausend  Augen 
nur  fünfhundert  gehören  würden*,  ferner  die  Schwierigkeit 
in  v.  2,  den  Widerspruch  in  v.  5.  und  die  bei  der  Schöpfung 
mitwirkenden  Rishi's  v.  7,  wo  sie  zugleich  die  Besprengung 
des  Opfers  auf  die  Regenzeit  umdeutet.  Alle  diese  Änderungen 
scheinen  willkürlich,  gröfstenteils  nur  zur  Erleichterung  des 
Verständnisses  ersonnen  zu  sein,  während  die  wesentliche 
Zusammenstimmung  der  Taittiriyaka's  und  Väjasaneyin's  mit 
der  Rig-Recension  für  deren  Ursprünglichkeit  Zeugnis  ablegt; 
daher  wir  an  sie  im  Folgenden  uns  halten  werden. 

Der  bedeutendste  Fortschritt  dieses  Hymnus  über  die 
bisher   behandelten  hinaus  besteht  darin,   dafs  hier  an  Stelle 


*  Aus  demselben  Grunde  wird  in  der  Nachbildung  des  Purushaliedes 
Taitt.  Ar.  10,11,1  sahasräksha  in  vigvälcsha  verändert. 


Das  Purushalied,  Rigv.  10,90.  151 

der  personifizierten  Abstracta  Prajdpati,  Vigvakannan,  Brah- 
manaspati  ein  konkretes  Wesen  tritt,  nämlich  Purusha,  das 
heifst  der  Mensch.  Denn  dieses  Wort,  nebst  seinen  Ab- 
leitungen und  dem  verwandten  pürn,  bedeutet  überall  im 
Rigveda  (mit  Ausnahme  der  Stelle  10,51,8,  mit  der  nichts 
anzufangen  ist;  vielleicht  ist  dort  parusham  zu  lesen)  nur  den 
Menschen,  und  es  ist  ein  merkwürdiger  Gedanke,  den  Men- 
schen, dieses  höchste  Produkt  der  Schöpfung,  zugleich  als 
ersten  Ausgangspunkt  derselben  zu  betrachten.  (Vergleichbar, 
aber  nicht  historisch  verwandt,  ist  die  Gestalt  des  Riesen  Ymir 
in  der  Edda.) 

Menschenartig  waren  schon  die  alten  vedischen  Götter 
gewesen,  menschenartig  sind  auch  die  Götter  der  Griechen 
und  der  Gott  des  Alten  Testaments.  Aber*  während  sie  alle 
eine  Welt  aufser  sich  haben  und  neben  ihr  oder  als  ein  Teil 
derselben  bestehen,  so  war  schon  in  den  Liedern  1,164  und 
10,129  die  Einheit  des  Universums  erkannt  und  demgemäfs, 
namentlich  in  den  Vicvakarman-Liedern,  gelehrt  worden,  dafs 
das  Urwesen  sich  selbst  in  diese  Welt  verwandelt  hat.  Und 
auf  Grund  dieser  philosophischen  Errungenschaften  vollzieht 
sich  in  unserrn  Liede  noch  einmal  der  Prozefs  der  mytholo- 
gischen anthropomorphischen  Personifikation,  den  wir  oben 
(S.  78 — 79)  als  Genesis  des  Götterglaubens  nachwiesen. 
Aber  während  es  dort  einzelne  Kräfte  und  Seiten  des  Natur- 
lebens waren,  welche  als  Varuna,  Indra,  Agni  u.  s.  w.  personi- 
fiziert wurden,  so  ist  es  jetzt  die  ganze  Natur,  der  ganze 
lebensvolle  Zusammenhang  der  Welt,  welcher  als  ein  Orga- 
nismus, ähnlich  dem  menschlichen,  erscheint  und  als  solcher, 
als  der  lebendige  Leib  eines  Purusha,  eines  Urmenschen,  be- 
griffen wird,  dessen  Haupt  der  Himmel,  dessen  Auge  die 
Sonne,  dessen  Odem  der  Wind  ist,  und  der  (ohne  dafs  an  der 
InkonsecpLienz  dieser  gigantischen  Plastik  Anstofs  genommen 
würde)  aus  allen  den  tausend  Augen  schaut,  in  allen  den 
tausend  Köpfen  die  Welt,  sein  eigenes  Selbst  erkennt,  in  allen 
Gliedern  alles  Lebendigen  lebt  und  sich  bewegt.  Der  grofse 
Schritt  unseres  Liedes  (mag  man  ihn  nun  Fortschritt  oder 
Rückschritt  nennen)  besteht  also  darin,  dafs  die  alten  Götter 
nur  Personifikationen    von  Naturteilen,   hingegen    der 


152  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

neue  Gott,  der  Purusha,  nachdem  die  Einheit  des  Weltganzen 
festgestellt  und  immer  deutlicher  entwickelt  worden  war,  eine 
Personifikation  der  ganzen  Natur,  ja  diese  selbst,  nur 
als  organisches,  lebendiges,  persönliches  Wesen  angeschaut, 
ist.  Im  übrigen  ist  unser  Dichter  von  den  philosophischen 
Anschauungen  seiner  Vorgänger  abhängig,  wie  dies  eine  kurze 
Übersicht  des  Einzelnen  mehrfach  zeigen  wird. 

Das  Lied  zerlegt  sich  deutlich  in  drei  Teile:  v.  1 — 5:  die 
Welt  ist  der  Purusha;  v.  6 — 10  und  v.  15  (von  den  Taitti- 
riyaka's  zwischen  v.  6  und  7  eingefügt):  die  Welt  ist  durch 
eine  Opferung  des  Purusha  entstanden;  v.  11 — 14:  die 
Weltteile  sind  die  Organe  seines  Leibes.  Vers  16  ist,  als 
Erläuterung  zu  v.  7,  vielleicht  auch  zu  v.  4,  aus  Rigv.  1,164,50 
hinzugefügt,  wie  wir  meinen,  unzweifelhaft  von  späterer  Hand. 
(Die  Heranziehung  dieses  Verses  Qatap.  Br.  10,2,2,2  könnte  sich 
auch  auf  1,164,50  beziehen,  während  Qatap.  Br.  13,6,2,12  aller- 
dings schon  einen  sechzehnten  Vers,  und  zwar,  wie  die  entspre- 
chende Samhitä  zeigt,  unsern  Vers  als  sechzehnten  zu  kennen 
scheint.    Der  Atharvaveda  hat  ihn  durch  einen  andern  ersetzt.) 

Inhaltsangabe.  Vers  1.  Der  Purusha,  tausendäugig, 
tausendköpfig,  tausendfüfsig,  überdeckt,  umfafst  die  Welt 
von  allen  Seiten  (vritvä  viel  besser  als  Väj.  Samh.  spritva)  und 
ragt  noch  zehn  Finger  breit  über  dieselbe  hinaus.  Der  Ausdruck 
dagängulam  ist  nicht  weiter  auszudeuten,  weder  auf  die  Gröfse 
des  Herzens,  noch  auf  die  Distance  zwischen  Nabel  und  Herz 
(wie  schon  Taitt.  Ar.  10,11,7),  sondern  bedeutet  nur  soviel 
wie  v,  5:  sa  jdto  atyaricyata  pagcdd  bhumim  atlio  purah,  er 
überragt  die  Welt  noch  bedeutend,  ähnlich  wie  bei  Piaton, 
Tim.  p.  34  b :  v^xV  ^  £^  T°  [J^007  auxoij  ^stc  hia.  TtavTcr  ts 
I'tslvs  xal  s'-u  K^o^rsv  tö  öö;j.a  aurf)  TispuxaXu'j's  tociity),  „er 
spannte  die  Weltseele  durch  das  Ganze  und  umhüllte  auch 
noch  von  aufsen  den  Weltleib  durch  die  Weltseele".  —  Vers  2. 
Der  Purusha  ist  diese  ganze  Welt,  ist  Vergangenes  und  Zu- 
künftiges; er  ist  auch  der  Beherrscher  derjenigen  Unsterblich- 
keit, welche  (im  Gegensatze  zur  Unsterblichkeit  des  Purusha) 
der  Opferspeise  bedarf,  um  sich  zu  erhalten,  d.  h.  der  Unsterb- 
lichkeit der  Götter,  die  somit  (hier  zum  erstenmal)  für  eine 
blofs   relative  erklärt  wird,  wie  im  spätem  Vedänta  (mein 


Das  Purushalied,  Kigv.  10,90.  153 

„System  des  Vedänta"  S.  71).  Der  Purusha  hingegen  bedarf 
dieser  Unterhaltung  seiner  Unsterblichkeit  nicht,  und  während 
noch  Prajdpati  (10,121,10)  und  Vi$vakarman  (10,81,7)  Opfer 
und  Gebet  nicht  verschmähen,  so  enthält  unser  Hymnus  keine 
Spur  davon,  dafs  der  Purusha  angerufen  oder  durch  Opfer 
geneigt  gemacht  werden  könnte.  —  Vers  3 — 4.  So  grofs  ist 
seine  Gröfse,  dafs  sie  alles  Seiende  (Göttliches  und  Irdisches) 
umfafst,  aber  sie  ist  noch  gröfser;  denn  alle  Wesen,  die  Götter 
einbegriffen,  sind  nur  ein  Viertel  von  ihm;  dasjenige  hingegen, 
was  von  ihm  unsterblich  (nicht  wie  die  Götter,  sondern  im 
absoluten  Sinne)  ist,  ist  noch  dreimal  so  grofs,  bildet  drei 
Viertel  von  ihm  (tripdd  Neutrum,  prädikativ).  Mit  diesen 
drei  Vierteln  ist  er  emporgestiegen  (der  Sphäre  des  Werden- 
den entrückt),  während  das  übrige  Viertel  hienieden  als  die 
Gesamtheit  der  Wesen  entstand  (abhavat,  den  Gedanken  in 
v.  5  vorbereitend).  Mit  diesem  Viertel  hat  er  sich  über  alles 
verbreitet,  was  sich  nährt  und  nicht  nährt  (über  die  organische 
und  unorganische  Natur).  — ■  Vers  5  zeigt  auch  unsern  Dichter 
abhängig  von  der  Vorstellung,  der  wir  schon  so  oft  begegneten; 
und  wenn  es  z.  B.  10,72,4  hiefs,  dafs  aus  Daksha  Aditi  und  aus 
Aditi  weiterhin  wieder  Daksha  geboren  worden  sei  (vgl.  oben, 
S.  144),  so  sagt  unser  Dichter:  „aus  ihm  (dem  Purusha')  wurde 
Viräj  geboren,  und  aus  Virdj  wieder  der  Purusha;  dieser, 
nachdem  er  geboren  war,  überragte  die  Erde  von  hinten  und 
vorne  (von  allen  Seiten)".  Purusha  ist  das  erste  Mal  das  Ur- 
wesen  (Adipurusha,  wie  Säy.  richtig  erklärt),  das  zweite  Mal 
der  Erstgeborne  (dem  Hiranyagarbha  10,121,1,  sowie  dem 
spätem  Ndrdyana*  entsprechend).  Das  Zwischenglied,  die 
Urmaterie,  erscheint  hier  als  Virdj  (nach  Säy.  „der  Leib  des 
Brahman-Eis",  während  der  aus  der  Viräj  geborne  Purusha 
von  ihm  als  die  dasselbe  regierende,  individuelle  Seele  auf- 
gefafst  wird).  Virdj  (bisher  nur  in  der  Bedeutung  „glänzend", 
„herrschend"  sowie  als  Name  eines  Metrums  vorkommend) 
wird  hier   zur   mythologischen  Personifikation    der   Urwasser, 


*  Näräyana  ist  der  Purusha  als  Erstgeborner,  mag  man  es 
nun  mit  den  Indern  als  „auf  den  Wassern  (d.  h.  der  Viräj)  gehend-'  oder 
wohl  richtiger  als  „Sohn  des  Menschen  (nara,  purusha)11  erklären. 


154  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

welche  schon  10,121,9  „die  grofsen,  glänzenden"  hiefsen  und 
(wohl  im  Anschlufs  daran)  hier  als  Viräj  „die  nach  allen 
Seiten  Strahlende"  bezeichnet  werden. 

Der  zweite  und  dritte  Teil  des  Gedichts  (v.  6 — 10.  11  — 15) 
zeigen,  wie  die  Welt  aus  dem  „vorher  (v.  5)  gebornen  Puru- 
sha" (jpurusham  jdtcmi  agratas,  v.  7)  gebildet  wird,  indem  die 
Götter  denselben  opfern.  Das  Opfer,  diese  höchste  mensch- 
liche Thätigkeit,  wird  zum  Symbole,  zum  Vorstellungsbilde 
der  Art,  wie  die  Welt  entstand.  Im  übrigen  darf  man  keine 
Konsequenz  der  Anschauungen  erwarten ;  die  Götter,  Sädhya's 
und  Rishi's  opfern  den  Purusha,  während  doch  Sürya,  Indra, 
Agni  und  Väyu  erst  durch  diese  Opferung  entstehen  (v.  13); 
nach  v.  8 — 9  wird  das  Opfertier  ganz  verbrannt,  während  es 
nach  v.  11  fg.  vielmehr  zerstückelt  wird;  nach  v.  11 — 12  ent- 
stehen aus  Mund,  Armen,  Schenkeln  und  Füfsen  des  Purusha 
die  vier  Kasten,  während  nach  v.  14  vielmehr  aus  Haupt, 
Nabelgegend  und  Füfsen  Himmel,  Luftraum  und  Erde  ent- 
stehen. Man  wird  daher  weder  das  Bild  der  Opferhandlung 
noch  die  Einzelheiten  zu  sehr  pressen  dürfen  und  sich  mit 
dem  allgemeinen  Gedanken  begnügen  müssen,  dafs  die  Welt 
eine  Umwandlung  des  Purusha  ist,  wobei  die  edelsten 
Teile  desselben  zu  den  edelsten  Elementen  der  Welt  werden. 

Vers  6.  Als  mit  dem  Purusha  als  Dargebrachtem  (havis, 
hier  allgemein)  die  Götter  ein  Opfer  anrichteten,  da  war  der 
Frühling  das  Opferschmalz  (die  erste  Jahreszeit  entspricht  den 
ö/ya-Spenden  des  Voropfers,  vgl.  Ind.  Stud.  10,344.  332),  der 
Sommer  das  Brennholz  (wegen  der  Hitze),  der  Herbst  das 
havis  (hier  speciell:  Opferkuchen,  der  nebenbei  auch  beim  Tier- 
opfer dargebracht  wird,  Ind.  Stud.  10,346);  der  Herbst  zeitigt 
die  Gaben  der  Natur.  So  sind  Frühling,  Sommer  und  Herbst 
die  begleitenden  Verhältnisse,  unter  denen  der  Purusha  geopfert 
wird,  d.  h.  die  Naturkraft  sich  entfaltet.  —  Hier  würde  mit 
den  Taittiriyaka's  passend  v.  15  einzuschieben  sein,  der  das 
Opferfeuer  beschreibt  (es  hat  7  Einschlufshölzer  und  21  Brenn- 
hölzer, entweder  wegen  der  besondern  Bedeutsamkeit  der  Drei- 
zahl und  Siebenzahl  [wie  v.  1  der  Zehnzahl]  oder  aus  einem 
besondern,  mir  unbekannten  Grunde)  und  die  Bindung  des 
Opfertiers   (an    den   Opferpfosten)    erwähnt,    welche    der  Be- 


Das  Purushalied,  Rigv.  10,90.  155 

Sprengung  desselben  (v.  7)  vorhergeht  (Ind.  Stud.  10,344).  — 
Vers  7  folgt  sodann  die  Besprengung  des  Opfertiers  (in  der 
Atharva-Recension  im  Anschlufs  an  die  v.  4  erwähnten  Jahres- 
zeiten auf  die  Regenzeit,  prävris/i,  bezogen)  und,  wie  wir  hin- 
zudenken müssen,  die  Schlachtung  des  Purusha.  —  Vers  8:  Er 
ist  ein  yajna  sarvahut,  wird  ganz  verbrannt;  alle  Teile  seines 
Leibes  werden  zur  Weltbildung  in  Anspruch  genommen.  In- 
dem er  verbrennt,  mischt  sich  der  beim  Braten  ausfliefsende 
Saft  mit  dem  vorher  (v.  6)  ins  Feuer  geschütteten  Opfer- 
schmalze zu  prishad-äjyam,  und  aus  diesem,  gleichsam  aus 
den  Abfällen  des  Purusha,  werden  Lufttiere,  Waldtiere  und 
Haustiere  gebildet  (cakre  „man  machte",  gemeint  sind  die 
Götter  u.  s.  w.  in  v.  7).  —  Vers  9.  Hingegen  aus  dem  Leibe  des 
Purusha  selbst  werden  die  Ric,  Säman,  Chandas  und  Yajus 
gebildet;  hier  haben  wir  bereits  die  Unterscheidung  der  drei 
Veden,  ja,  wie  es  scheint,  schon  den  Ansatz  zu  einem  vierten 
Veda.  Dafs  der  Veda  das  erste  Produkt  der  Schöpfung  ist, 
entspricht  ganz  den  späteren  Anschauungen  darüber;  denn 
der  Veda  ist  der  vorweltliche  Kanon,  nach  dessen  Begriffen 
sich  die  Schöpfung  der  Dinge  richtet.  —  Vers  10  folgt  die 
Schöpfung  der  fünf  obersten  Tiere,  derer,  die  oben  und  unten 
Schneidezähne  haben  (iibhayädantas ,  Pferde  und  Esel,  wenn 
nicht  der  Mensch  zu  verstehen  ist),  und  derer,  die  nur  in  der 
untern  Kinnlade  Schneidezähne  haben  (anyatodantas ,  Rinder, 
Ziegen  und  Schafe).  —  Nicht  ganz  zum  Bilde  des  yajna 
sarvahut  v.  8 — 9  will  es  stimmen,  wenn  v.  11 — 12  von  einer 
Zerstückelung  des  Purusha  (vyadadhuh)  und  einer  Umbildung 
seiner  Teile  (vyakalpayan)  zu  den  vier  Kasten  die  Rede  ist. 
Wie  der  Organismus  des  Leibes  von  dem  Munde,  kraft  der 
ihm  entströmenden  Rede,  geistig  geleitet,  von  den  Armen 
geschützt,  von  den  Schenkeln  gestützt  und  von  den  Füfsen 
getragen  wird,  so  der  Organismus  des  brahmanischen  Staates 
von  den  Brahmanen,  Kshatriya's  (rdjanya),  Vaicya's  und 
Qüdra's,  welche  hier  zuerst,  und  einzig  im  Rigveda,  erwähnt 
werden.  —  Mit  Verlassung  dieses  Bildes  lassen  v.  13 — 14  aus 
dem  Leibe  des  Purusha  die  Götter  und  die  Teile  des  Uni- 
versums hervorgehen;  dafs  dabei  sein  Auge  zur  Sonne,  sein 
Odem  zum  Winde  wird,  ist  verständlich,  ja  eigentlich  selbst- 


156  L>ie  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

verständlich;  auch  der  Mund  als  Ursprung  des  Indra  und  Agni 
(an  welche  beiden  die  meisten  Hymnen  des  Rigveda  gerichtet 
sind)  läfst  sich  leicht  deuten;  dafs  endlich  sein  Manas  zum 
Monde  wird,  hat  vielleicht  seinen  Grund  darin,  dafs  die  ruhige 
Klarheit  des  Mondlichts  (welches  ja  auch  nach  Goethe  „die 
Seele  löst")  als  Symbol  des  Intellektuellen  erschien.  Weiter 
werden  in  v.  14  das  Haupt  zum  Himmel  und  die  Füfse  zur 
Erde,  während  der  Zwischenraum  naturgemäfs  aus  den  zwischen- 
liegenden, sich  um  den  Nabel  gruppierenden  Teilen  (der  hier 
für  sie  alle  steht)  gebildet  ist.  Dafs  die  Ohren  zu  den  Him- 
melsgegenden werden,  begreift  sich,  wenn  wir  uns  erinnern, 
dafs  bei  den  Indern  der  Träger  des  Schalles  der  nach  allen 
Seiten  sich  ins  Unendliche  erstreckende  Akdga  ist.  Mit  den 
Worten  v.  14:  „so  bildeten  sie  die  Welträume"  gewinnen  wir 
einen  passenden  Sehlufs  des  Liedes,  wenn  wir  v.  15  zwischen 
v.  G  und  7  einschieben  und  v.  16  als  spätem,  erläuternden 
Zusatz  zu  v.  6 — 7  aus  Rigv.  1,1()4,50  betrachten. 

Eigveda  10,90. 

1 .  Der  Purusha  mit  tausendfachen  Häuptern , 
Mit  tausendfachen  Augen,  tausend  Füfsen 
Bedeckt  ringsum  die  Erde  allerorten , 

Zehn  Finger  hoch  noch  drüber  hin  zu  fliefsen. 

2.  Nur  Purusha  ist  diese  ganze  Welt, 

Und  was  da  war,  und  was  zukünftig  währt, 
Herr  ist  er  über  die  Unsterblichkeit,   — 
Diejenige,   die  sich  durch  Speise  nährt. 

3.  So  grofs  ist  diese,  seine  Majestät, 

Doch  ist  er  gröfser  noch  als  sie  erhoben  ; 

Ein   Viertel  von  ihm  alle  Wesen  sind, 

Drei  Viertel  von  ihm  sind  unsterblich  droben. 

4.  Drei  Viertel  von  ihm  schwangen  sieh   empor, 
Ein  Viertel  wuchs  heran  in  dieser  Welt, 

Um  auszubreiten  sich  als  alles,  was  * 

Durch  Nahrung  sich  und  ohne  sie  erhält. 

5.  Aus  ihm,  dem  Purusha,  ist  die  Viräj, 
Aus  der  Viräj  der  Purusha  geworden; 
Geboren  überragte  er  die  Welt 

Nach  vorn,  nach  hinten  und  an  allen  Orten. 


Das  Purushalied,  EUgv.  10,90.  157 

6.  Als  mit  dem  Purusha  als  Darbringung 
Ein  Opfer  Götter  angerichtet  haben, 

Da  ward  der  Frühling  Opferschmalz,  der  Sommer 
Zum   Brennholz  und  der   Herbst  zu   Opfergaben. 

7.  Als  Opfertier  ward  auf  der  Streu  geweiht 
Der  Purusha,  der  vorher  war  entstanden, 
Den  opferten  da  Götter,  Selige 

Und  Weise,  die  sich  dort  zusammenfanden. 

8.  Aus  ihm  als  ganz   verbranntem  Opfertier 
Flofs   ab   mit  Schmalz   gemischter  Opferseim, 
Daraus  schuf  man  die  Tiere  in  der  Luft 
Und  die  im  Walde  leben  und  daheim. 

9.  Aus  ihm  als  ganz  verbranntem  Opfertier 
Die  Hymnen  und  Gesänge  sind  entstanden, 
Aus  ihm  auch  die  Prunklieder  allesamt, 
Und  was  an  Opfersprüchen  ist  vorhanden. 

10.  Aus  ihm  entstammt  das  Hofs,  und  was  noch  sonst 
Mit  Schneidezähnen  ist  auf  beiden  Seiten, 

Aus  ihm  entstanden  sind  die  Kubgeschlechter, 
Der  Ziegen  und  der  Schafe  Sonderheiten. 

11.  In  wie  viel  Teile  ward  er  umgewandelt, 
Als  sie  zerstückelten  den  Purusha? 

Was  ward  sein  Mund,  was  wurden  seine  Arme, 
Was  seine  Schenkel,   seine  Füfse  da? 

12.  Zum  Brähmana  ist  da  sein  Mund  geworden, 
Die  Arme  zum  Räjanya  sind  gemacht, 

Der  Vaicya  aus  den  Schenkeln ,  aus  den  Füfsen 
Der  (jüdra  damals  ward  hervorgebracht. 

13.  Aus  seinem  Manas  ist  der  Mond  geworden, 
Das  Auge  ist  als  Sonne  jetzt  zu  sehn, 

Aus   seinem  Mund  entstand  Indra  und  Agni, 
Vayu,   der  Wind,   aus  seines   Odems  Wehn. 

14.  Das  Reich  des   Luftraums  ward  aus  seinem  Nabel, 
Der  Himmel  aus  dem  Haupt  hervorgebracht, 

Die  Erde  aus  den  Füfsen,  aus  dem  Ohre 
Die  Pole,  so  die  Welten  sind  gemacht. 


158  Die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda. 

15.    Als  Einschlufshölzer  dienten  ihnen  sieben, 
Und  dreimal  sieben  als  Brennhölzer  da, 
Als,  jenes  Opfer  zurüstend,  die  Götter 
Banden  als  Opfertier  den  Purusha. 


16.    Die  Götter,   opfernd,  huldigten  dem   Opfer, 
Und  dieses  war  der  Opferwerke  erstes; 
Sie  drangen  mächt'gen  Wesens  auf  zum  Himmel , 
Da  wo  die  alten,  seligen  Götter  weilen. 


Zweite  Periode  der  indischen  Philosophie: 
Die  Brähmanazeit. 

(ca.  1000  —  500  a,  C.) 


I.    Die  Kultur  der  Brähmanazeit. 

Den  Hymnen  des  Rigveda  verdanken  wir  das  helle  Licht, 
in  welchem  der  erste  Akt  der  indischen  Geschichte  —  das 
Leben  der  Arya's  im  Pendschäb  —  und  die  altvedische  Kultur 
in  allen  ihren  Zweigen  vor  uns  liegt.  Es  folgt  jetzt  eine 
dunkle  Periode;  der  Vorhang  über  der  indischen  Geschichte 
fällt,  und  nachdem  er  sich  geraume  Zeit,  vielleicht  ein  paar 
Jahrhunderte  später,  wieder  gehoben  hat,  gewahren  wir  das 
indische  Volk  in  neuen  Wohnsitzen  und  unter  wesentlich  ver- 
änderten Lebensverhältnissen.  Ähnlich  wie  in  der  altdeutschen 
Kultur,  die  man  treffend  verglichen  hat,  auf  das  helle  Bild 
der  Germania  des  Tacitus  das  Dunkel  der  Völkerwanderung 
und  nach  derselben  eine  Gruppierung  der  germanischen  Stämme 
zu  neuen  Reichen  mit  veränderten  Namen  und  Wohnsitzen 
folgt,  so  findet  die  Zeit  der  Hymnen  des  Rigveda  ihren  Ab- 
schlufs  durch  eine  grofse,  vielleicht  Jahrhunderte  dauernde 
Wanderung  und  Schiebung  der  indischen  Stämme  nach  Osten, 
welche  ohne  Zweifel  unter  fortwährenden  Kämpfen  nicht  nur 
gegen  die  zu  vertreibenden  Urbewohner,  sondern  auch  gegen 
die  nachrückenden  arischen  Bruderstämme  erfolgt  ist;  auf  einer 
sagenhaften  Rückerinnerung  an  diese  Zeit  beruht  wahrschein- 


160  Die  Brähmanazeit. 

lieh  die  Erzählung  von  dem  Vernichtungskampfe  zweier  ari- 
scher Stämme  gegeneinander,  der  Kuru's  und  Pdndava\  welche 
das  Grundgewebe  des  Mahäbhäratam  bildet.  Die  endliche 
Folge  dieser  Wanderungen  und  Kämpfe  ist  die  Verlegung 
des  Schwerpunktes  der  arischen  Nation  von  dem  Fünfstrom- 
lande des  Indus  in  die  grofse,  fruchtbare,  schon  teilweise  der 
Tropen  weit  angehörige  Ebene  der  Gangä  und  ihrer  Neben- 
flüsse. Hier  finden  wir  in  der  Brähmanazeit  die  Hauptmasse 
der  arischen  Bevölkerung  teils  schon  sefshaft,  teils  noch  in 
fortgesetztem  Fortrücken  nach  der  Gangesmündung  zu  be- 
griffen, während  gleichzeitig  die  indische  Kultur  anfängt,  das 
Hochplateau  von  Dekhan  bis  nach  Ceylon  hin  zu  umspannen 
und  in  das  Innere  desselben  allmählich  einzudringen.  Die 
alten  kleinen  Königreiche,  von  denen  die  Hymnen  des  Rigveda 
erzählten,  sind  verschollen,  und  an  Stelle  derselben  finden 
wir  neue,  meist  gröfsere  Völkerkomplexe,  welche,  von  mäch- 
tigen Oberkönigen  (samräj)  und  ihren  Vasallen  despotisch 
beherrscht,  unter  dem  Namen  der  Kuru  und  Pancäla  im 
Westen,  der  Kofala  und  Videha  im  Nordosten,  der  Matsya, 
Kä$i,  Magadha  und  Anga  im  Südosten  um  den  Ganges  und 
seine  Zuflüsse  gelagert  erscheinen.  Aber  auch  die  innern  Ver- 
hältnisse sind  gegen  die  Vorzeit  wesentlich  verändert,  und 
während  das  Kulturbild,  wie  wir  es  aus  den  Hymnen  des 
Rigveda  gewannen  (S.  72 — 77),  nicht  erheblich  von  dem  ur- 
sprünglichen Leben  der  übrigen  indogermanischen  Völker  ab- 
stach, so  entwickelt  sich,  freilich  aus  den  schon  vorher  vor- 
handenen und  nachweisbaren  Keimen,  in  der  Brähmanazeit 
und  in  Hindostan  jenes  so  originelle  Gebilde  der  brahmanischen 
Kultur  und  Lebensordnung,  dessen  Hauptzug  das  Kasten- 
wesen und,  auf  Grund  desselben,  die  Monopolisierung 
des  Kultus  und  der  Erziehung  durch  die  Brahmanen  so- 
wie die  Regelung  des  Lebens  durch  die  Acrama's  oder 
Lebens  Stadien  ist.  Wir  wollen  versuchen,  diese  die  ganze 
spätere  Entwicklung  der  Inder  beherrschenden  Verhältnisse 
in  der  Kürze  zu  charakterisieren.  (Vgl.  zum  Folgenden  be- 
sonders die  wertvolle  Zusammenstellung  von  Weber  „Collec- 
tanea  über  die  Kastenverhältnisse  in  den  Brähmana  und  Sütra", 
Ind.  Stud.  X,  1—160.) 


I.    Die  Kultur  der  ßrähmanazeit.  161 

Der  eigentümlichste  und  am  meisten  in  die  Augen  springende 
Zug  der  spätem  indischen  Kultur  ist  die  Einteilung  der  ge- 
samten Bevölkerung  in  die  vier  Kasten  der  BrähmanaV, 
Kshatriya's,  Vaicya's  und  Qüdra's.  An  sie  schliefsen 
sich  eine  Anzahl  von  Zwischenkasten,  welche,  teils  durch  das 
nie-'  ganz  auszurottende  Connubium,  teils  wohl  auch  durch 
Vererbung  der  Berufsarten  entstanden,  mit  der  Zeit  immer 
zahlreicher  geworden  sind,  im  Altertume  jedoch  noch  keine 
grofse  Rolle  spielen,  daher  wir  hier  von  ihnen  absehen  können. 
Jene  vier  Hauptkasten  also  unterscheiden  sich  von  den  bei 
allen  Kulturvölkern  und  so  auch  schon  in  der  rigvedischen 
Zeit  vorkommenden  Ständen  dadurch,  dafs  sie  nicht  durch 
Wahl  zu  ergreifen,  nicht  durch  Willkür  oder  Verdienst  ab- 
zuändern, sondern  durch  die  Geburt  gesetzte  und  für  das 
ganze  Leben  unübersteigliche  Schranken  sind,  oder  vielmehr 
sein  sollen,  denn  auch  hier  kommen  Ausnahmen  vor,  wie  denn 
z.  B.  Vigvämitra,  freilich  nur  infolge  unerhörter  asketischer 
Leistungen,  aus  einem  Kshatriya  zu  einem  Brähmana  wurde. 
Im  übrigen  gilt  als  Gesetz,  dafs  nur  auf  dem  Wege  der  Seelen- 
wanderung durch  besondere  Verdienste  die  Erhebung  in  eine 
höhere  Kaste,  durch  Schuld  das  Herabsinken  zu  einer  niedern 
Kaste  erfolgt.  Hierauf  deutet  auch  das  Wort  jdti  „Kaste", 
eigentlich  „Geburt"  hin  (das  Wort  casta  ist  portugiesisch  und 
soll  die  „keusche",  der  Vermischung  mit  andern  sich  enthal- 
tende Lebensstellung  bedeuten),  während  der  gewöhnlichste 
und  älteste  Sanskritname  für  Kaste,  varna  „die  Farbe",  eine 
Bestätigung  der  auch  auf  andern  Gründen  beruhenden  Ver- 
mutung enthält,  dafs  der  Ursprung  des  Kastenwesens  in  einer 
ursprünglichen  Verschiedenheit  der  Volksrasse  begründet  ist. 
Als  nämlich  die  Arier  erobernd  im  Gangesthaie  vordrangen, 
fanden  sie  dort  eine  dunkelfarbige  (noch  heute  in  den  Ge- 
birgen des  Dekhan  erhaltene)  Urbevölkerung  vor  von  barba- 
rischer Sprache  und  fremdartiger  Religion,  und  mutmafslich 
ist  der  Name  Qudra,  welcher  aus  dem  Sanskrit  nicht  erklär- 
bar ist,  der  einheimische  Name  eines  einzelnen  Stammes  oder 
auch  der  Gesamtheit  dieser  Aboriginer,  welche,  durch  die 
Eroberer  ihres  Grundbesitzes  beraubt,  soweit  sie  nicht  in  die 
Gebirge   flüchteten,    den   arischen  Staaten   teils  als   wirkliehe 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.    I.  11 


162  Die  Brähmanazeit. 

Sklaven,  teils  als  besitzlose  Tagelöhner  einverleibt  wurden. 
Je  gröfser  unter  diesen  Umständen  die  Gefahr  einer  allmäh- 
lichen Vermischung  der  Arya's  mit  den  in  dienender  Stellung 
unter  ihnen  wohnenden  Cüdra's  war,  um  so  mehr  drang  die 
Sitte  und  das  Gesetz  auf  eine  strenge  Sonderung  beider  Rassen, 
und  so  richtete  sich  zunächst  zwischen  Arya's  und  Qüdrds 
eine  Scheidewand  auf,  welche  der  Theorie  nach  für  unüber- 
steiglich  galt,  wenn  sie  auch  in  der  Praxis  oft  genug  über- 
stiegen worden  sein  mag.  Und  selbst  die  Theorie  hat  sich 
erst  nach  und  nach  gebildet  und  zeigt  hier,  wie  auch  in 
manchen  andern  Punkten,  ein  vielfaches  Auseinandergehen  der 
Ansichten;  und  während  eine  ältere,  mildere  Fassung  jedem 
Arya  gestattet,  zu  dem  Weibe  der  eigenen  Kaste  noch  je 
eines  aus  jeder  der  tiefer  stehenden  Kasten  und  so  auch  eine 
Cüdra  hinzuzunehmen,  wobei  die  Kinder  einfach  der  Kaste 
des  Vaters  zugerechnet  worden  sein  mögen,  so  verbietet  die 
spätere,  strengere  Fassung  mehr  und  mehr  jedes  Connubiuin 
der  Kasten  untereinander  und  weist  die  Kinder  aus  gemischten 
Ehen  den  mit  einem  Makel  behafteten  Mischkasten  zu.  Im 
übrigen  war  die  strenge  Scheidung  der  Arya's  und  Qüdfa's 
durch  den  ursprünglichen  Unterschied  der  Rasse,  der  Sprache 
und  der  Religion  schon  von  Anfang  an  gegeben;  die  Scheide- 
wand brauchte  nicht  aufgerichtet,  sondern  nur  erhalten  zu 
werden,  und  dies  geschah,  indem  man  die  Cüdra's  von  jeder 
höhern  Lebensgemeinschaft  und  namentlich  auch  von  der  Re- 
ligion ausschlofs.  Qüdro  yajne  ''navaMiptah,  „der  Qüdra  ist  zum 
Opfer  nicht  berechtigt",  lautet  die  viel  citierte  Gesetzesformel. 
Es  ist  verboten,  den  Cüdra's  den  Veda  mitzuteilen,  nur  die 
epischen  Gedichte  sind  auch  ihnen  zugänglich.  Auch  der 
rechtliche  Schutz  des  Cüdra  scheint  ein  sehr  mangelhafter 
gewesen  zu  sein;  er  ist,  wie  das  Aitareya-brähmanam  (7,29) 
erklärt:  „einem  andern  dienend,  nach  Belieben  fortzujagen 
und  nach  Belieben  zu  töten",  und  auch  in  Manu's  Gesetzbuch 
steht  die  Strenge,  mit  der  jedes  Vergehen  des  Cüdra  gegen 
den  Arya  geahndet  wird,  in  auffallendem  Gegensatze  zu  der 
Milde  der  Sühnungen,  mit  welchen  der  Arya  ein  gegen  den 
Cüdra  begangenes  Verbrechen  zu  büfsen  hat.  Diese  systema- 
tische Unterdrückung  der  Cüdrakaste  hat  nicht  hindern  können, 


I.    Die  Kultur  der  Brähmanazeit.  163 

dai's  in  den  indischen  Staaten  das  Qüdra-Element  immer  zahl- 
reicher und  mit  der  Zeit  immer  mächtiger  wurde,  einerseits, 
weil  die  eingeborne  Rasse  in  Indien  eine  gröfsere  Wider- 
standskraft besitzen  mochte,  als  sie  z.  B.  die  etwa  auf  gleicher 
Kulturstufe  stehenden  Rothäute  in  Amerika  dem  Eindringen 
der  Weifsen  gegenüber  bewährt  haben,  anderseits,  weil  die 
zunehmende  Kolonisation  und  Brahmanisierung  Indiens  dazu 
führte,  grofse  und  immer  gröfsere  Bevölkerungskomplexe  der 
Cüdrakaste  einzureihen.  Wir  werden  uns  daher  nicht  wundern, 
wenn  wir  von  Cüdra's  hören,  die  zu  grofsem  Wohlstande  ge- 
langten, und  wenn  zuletzt  sogar  Könige,  wie  Candragupta 
(315 — 291  a.  C),  aus  ihrer  Mitte  hervorgehen.  Mittlerweile 
war  auch  von  innen  heraus,  durch  den  Fortschritt  der  Phi- 
losophie, das  Kastenwesen  im  Princip  überwunden  worden. 
Die  Upanishad's  lehren,  dals  jeder  Mensch,  mithin  auch  jeder 
Cüdra,  eine  Verkörperung  des  Atman  ist  und  durch  Inne- 
werdung dieser  Wahrheit  der  Erlösung  teilhaftig  wird,  und 
es  war  eine  blofse  Umsetzung  dieser  Gedanken  in  die  Praxis, 
wenn  Buddha  sich  mit  seiner  Predigt  an  alle,  auch  die  Cüdra's, 
wandte,  woraus  zum  Teil  sich  die  rasche  Ausbreitung  des 
Buddhismus  erklärt,  bis  nach  dem  Verfall  desselben  und  der 
Neuerstarkung  des  Brahmanismus  auch  die  Kastenunterschiede 
in  verschärfter  Form  wieder  geltend  gemacht  wurden. 

So  verständlich  die  ursprüngliche  Scheidung  der  Bevöl- 
kerung in  Arya's  und  Cüdra's  ist,  so  auffallend  und  merk- 
würdig ist  es,  dafs  das  Princip  der  kastenmäfsigen  Absonderung 
weiter  auch  innerhalb  der  Arya's  selbst  Platz  griff,  indem  über 
die  Gesamtmasse  der  Vaigya  genannten  arischen  Nation  sich 
weiter  die  Kshatriya's,  und  Brdhmana's  erhoben  und  sich  von 
ihnen  wie  auch  von  einander  in  ähnlicher  Weise  sonderten,  wenn 
auch  lange  nicht  so  schroff,  wie  die  Vaicya's  von  den  Cüdra's. 
Dafs  die  Krieger  und  Priester  sich  der  Masse  des  Volkes 
gegenüber  als  besondere,  privilegierte  Stände  betrachteten,  ist 
natürlich  und  findet  bei  allen  Kulturvölkern  sein  Analogon; 
aber  dafs  diese  Stände  sich  zu  Kasten  (varna)  verhärteten, 
ist  nur  aus  einem  Übergreifen  des  bei  der  Absonderung  der 
Cüdra's  leitenden  Princips  zu  erklären.  Daher  unterscheidet 
die  brahmanische  Staatsordnung  nicht  zwei,  sondern  vier  värna'&i 

11* 


164  Die  Brähmanazeit. 

vier  Farben,  gleich  als  wäre  die  indische  Nation  aus  vier  von 
Haus  aus  verschiedenen  Rassen  zusammengesetzt,  und  schon 
das  Purusha-Lied  lehrt  für  Brahmanen,  Krieger,  Vaicya's 
und  Cüdra's  einen  völlig  verschiedenen  Ursprung,  wenn  es 
dieselben  aus  dem  Haupte,  den  Armen,  den  Schenkeln  und 
den  Füfsen  des  Purusha  entspringen  läfst  (oben  S.  155), 
während  spätere  Texte  (offenbar  nur  in  Ausdeutung  des 
Wortes  varna)  den  vier  Kasten  sogar  vier  verschiedene  Haut- 
farben beilegen.  Jedoch  ging  über  dieser  Sucht,  Klassenunter- 
schiede zu  setzen,  niemals  das  Bewufstsein  einer  engern  Zu- 
sammengehörigkeit der  drei  obern  Kasten  verloren;  sie  alle 
drei  sind  dvija,  „Zweimalgeborne",  d.  h.  durch  die  bei  Auf- 
nahme in  die  brahmanische  Gemeinde  stattfindende  Umgürtung 
mit  der  Opferschnur  (yajna-upavitam)  gleichsam  Wiedergeborne, 
gehören  also  zur  selben  Religionsgemeinschaft  und  fahren  auch 
in  dieser  Zeit  fort,  den  alten  (oben  S.  38.  74)  Volksnamen  Arya 
(arya  fromm,  arya  zu  den  Frommen  gehörig,  also  ursprüng- 
lich in  religiösem  Sinne  gebraucht)  zu  führen:  „der  Arya  ist 
entweder  Brähmana,  oder  Kshatriya  oder  Vaicya"  (Catap.  Br. 
4,1,6  K.,  Ind.  Stud.  10,4). 

Von  diesen  befassen  die  Vaicya's  (d.  h.  coloni,  Ansiedler) 
die  Hauptmasse  der  arischen  Bevölkerung,  wie  sie,  mit  Weib 
und  Kind,  mit  Herden  und  Gütern  einwandernd,  das  von  ihr 
selbst  unter  Führung  der  Könige  und  Heerführer  eroberte 
Land  in  Besitz  nahm  und  durch  Ackerbau  und  Viehzucht, 
durch  Gewerbe  und  Handel  bald  zu  grofsem  Wohlstande  ge- 
langen mochte,  freilich  auch  in  eine  ebenso  grofse  Abhängig- 
keit von  den  leitenden  Mächten,  denen  sie  den  Schutz  gegen 
die  Cüdra's  nach  innen,  o;effen  die  feindlichen  Stämme  nach 
aufsen,  sowie  auch  die  Gunst  der  Götter  zu  verdanken  hatte, 
durch  die  alles  irdische  Gedeihen  bedingt  erschien.  Die  Auf- 
gaben der  Kolonisation  einerseits,  der  fortgesetzt  notwendigen 
Verteidigung  des  Errungenen  anderseits  veranlasste  eine  be- 
rufsmäfsige  Scheidung  des  Nährstandes  vom  Wehrstande  und 
damit  eine  völlige  Herrschaft  des  letztern  über  die  Vaicya"s, 
welche,  durch  friedliche  Aufgaben  und  zunehmende  Gemäch- 
lichkeit des  Lebens  dem  Dienste  der  Waffen  entfremdet,  ihre 
Beschützunff    und   Vertretung    bei    den    Göttern    teuer   genug 


I.    Die  Kultur  der  Brähmanazeit.  165 

bezahlen  uiufsten  und  bald  nur  noch  da  zu  sein  schienen,  um 
von  den  beiden  höhern  Ständen  ausgebeutet  zu  werden,  oder, 
wie  ein  übermütiges  Brahmanenwort  (Ait.  Br.  7,29)  es  aus- 
drückt, „andern  Steuern  zu  zahlen,  von  andern  verzehrt  und 
nach  Belieben  geschunden  zu  werden".  Einen  bestimmten 
Teil  ihres  Einkommens,  später  in  der  Regel  ein  Sechstel, 
mufsten  sie  dem  Könige  abgeben;  zu  höhern  Stellen  im 
Staate  konnten  sie,  wie  es  scheint,  nicht  gelangen;  ein  Vaicya 
ist  „auf  dem  Gipfel  des  Glückes  angelangt"  (gatacri),  wenn 
er  es  zum  Dorfschulzen  (grämani)  gebracht  hat  (Taitt.  Samh. 
2,5,4,4). 

Während  in  den  Zeiten  des  Rigveda  alle  freien  Männer, 
Stamm  neben  Stamm,  Dorfschaft  neben  Dorfschaft,  in  den 
Kampf  zogen,  und  die  Hand,  welche  heute  den  Pflug  führte, 
morgen  zu  Bogen  und  Schwert  griff,  so  vollzog  sich,  mit  und 
nach  der  Eroberung  von  Hindustan  und  in  dem  Mafse,  wie 
die  Kolonisation  des  Landes  einerseits,  der  Kriegsdienst  ander- 
seits kompliziertere  Aufgaben  stellte,  eine  Scheidung  der  Be- 
völkerung: Ackerbau,  Viehzucht  und  Handel  blieb  denVaicya's 
überlassen,  während  die  Kriegführung  das  Privilegium  eines 
besondern  Standes  und,  nach  Erblichwerdung  der  Berufsarten, 
einer  besondern  Kaste,  der  Kshatriya's  oder,  wie  der  ältere 
Name  lautet,  Räjanya' s  wurde.  Beide  Namen  (imperiales, 
von  kshi,  kshatram  und  regii  von  räjan)  sind  gleichbedeutend 
und  deuten  auf  eine  nähere  Beziehung  zum  Könige  hin,  wel- 
cher, selbst  ein  Kshatriya,  die  natürliche  Spitze  bildet,  in 
welche  die  Kriegerkaste  ausläuft.  An  ihn  schliefsen  sich  die 
Prinzen  des  königlichen  Hauses,  die  zahlreichen  depossedierten 
Fürsten  und  ihre  Familien,  die  höhern  und  niedern  Offiziere 
des  Heeres  und  endlich  auch  die  Gemeinen,  mögen  sie  zu 
Wagen,  zu  Elefant,  zu  Rofs  oder  auch  zu  Fufs  kämpfen; 
denn  die  Vaicya' s  müssen,  wenigstens  für  die  spätere  Zeit, 
vom  Kriegsdienste  ausgeschlossen  gewesen  sein,  da  schon  Manu 
ihnen  denselben  ausdrücklich  verbietet  (10,96;  vgl.  auch  oben 
S.  60),  während  er  die  Brahmanen  unter  gewissen  Umständen 
zu  demselben  zuläfst.  So  hatte  sich,  nicht  unähnlich  dem 
Ritterstande  des  abendländischen  Mittelalters,  ein  privilegierter 
und   erblicher   Kriegsadel  ausgebildet,    welcher,    vom   Könige 


166  Die  Brähmanazeit. 

mit  Sold,  Kriegsbeute,  Ländereien  u.  s.  w.  reichlich  bedacht, 
auf  die  Vaicya's  mit  Geringschätzung  herabsehen  und  sie  die 
materielle  Übermacht  wohl  oft  genug  fühlen  lassen  mochte. 
Ihre  natürlichen  Sammelpunkte  hatten  diese  Kshatriya's  an 
den  Höfen  der  Könige  und  kleinern  Fürsten,  und  in  fried- 
lichen Zeiten  werden  sie  nicht  nur  der  Jagd  und  anderm 
Sport,  sondern  auch  geistigern  Bestrebungen  gehuldigt  haben. 
Namentlich  scheint  die  geistige  Revolution  gegen  den  brah- 
manischen  Ceremonialkultus,  welche  zu  den  Upanishad's  führte, 
ursprünglich  in  Kshatriyakreisen  entstanden  und  genährt  wor- 
den zu  sein;  denn  immer  wieder  kommt  in  den  Upanishad's  das 
Motiv  vor,  dafs  ein  Brahmane  einen  Kshatriya  um  Belehrung 
angeht,  welche  dieser  dann,  nach  einigem  Sträuben  und  Hin- 
weis auf  die  Ungehörigkeit  der  Sache,  zu  erteilen  pflegt. 
Hingegen  hat  sicherlich  die  Fortbildung  der  Upanishadlehre, 
wie  überhaupt  alle  höhere  wissenschaftliche  Thätigkeit,  in  den 
Händen  der  Brahmanen  gelegen. 

Die  Brähmana's,  welche  den  Rang  der  obersten  Kaste 
nicht  nur  beanspruchten,  sondern  auch  Fürsten  und  Völkern 
gegenüber  viele  Jahrhunderte  hindurch  zu  behaupten  wufsten, 
sind  vielleicht  das  stärkste  Beispiel  in  der  Geschichte  dafür, 
wie  sehr  der  Mensch  durch  metaphysische  Vorstellungen,  wenn 
sie  ihm  nur  glaubhaft  beigebracht  werden,  in  allem  seinem 
Wollen  und  Thun  beeinflufst  und  regiert  werden  kann.  Von 
seinem  abendländischen  Analogon,  von  der  päpstlichen  Hier- 
archie im  Mittelalter,  unterscheidet  sich  das  Brahmanentum 
dadurch,  dafs  es  nie  eine  weltliche  Herrschaft  besessen  oder 
auch  nur  angestrebt  hat,  ja  auch  nie  eine  geschlossene  Orga- 
nisation, wie  die  römische  Kirche,  bildete,  und  doch,  von 
Anfang  an  ohne  materielle  Macht  und  ohne  eine  andere  Ein- 
heit als  die  der  von  ihm  vertretenen  Idee,  eine  Rolle  im  in- 
dischen Kulturleben  zu  spielen  gewufst  hat,  neben  der  die 
des  Papsttums  im  Mittelalter  zahm  und  bescheiden  erscheint. 
Woher  diese  Idee,  woher  diese  Übermacht  der  Brahmanen? 
Ursprünglich  sind  dieselben,  wie  der  Name  brälimana,  d.  h. 
„Beter",  besagt,  gewifs  nichts  andres,  als  wofür  sie  sich 
selbst  halten,  nämlich  die  wirklichen  oder  vermeintlichen  Nach- 
kommen  der   alten  Rishi's,   welche  vordem  im  Pendschäb  die 


I.    Die  Kultur  der  Brähmanazeit.  167 

Hymnen  des  Rigveda  gesungen  hatten.  Diese  Hymnen,  welche 
niemals  Gemeingut  des  Volkes  wurden,  sondern  (wie  die 
Sammlung  derselben  noch  heute  beweist)  in  den  Familien  der 
Sänger  als  Erbgut  fortgepflanzt  und  erst  später  durch  Aus- 
tausch zu  gröfsern  Komplexen  vereinigt  wurden,  gewannen 
um  so  mehr  an  Ansehen,  je  weiter  man  sich  zeitlich  und 
räumlich  von  ihrem  Ursprung  entfernt  hatte,  je  dunkler  ihre 
Sprache  und  der  ganze  Vorstellungskreis,  aus  dem  sie  ent- 
sprungen waren,  dem  Volke  wurde;  und  als  im  Gewühl  der 
Auswanderungsperiode  der  Quell,  aus  dem  sie  entsprungen 
waren,  nach  und  nach  versiegte,  da  bildete  sich  im  Volke  die 
von  den  Brahmanen,  den  Inhabern  jenes  geistigen  Schatzes, 
gewifs  auf  alle  Weise  genährte  Vorstellung  aus,  dafs  nur  durch 
jene  alten  Lieder  und  die  mit  ihnen  verknüpften  Opferhand- 
lungen der  rechte  Verkehr  mit  den  Göttern  möglich  sei,  von 
deren  Gunst  wiederum  alles  irdische  Glück,  der  Sieg  über 
die  Feinde,  das  Gedeihen  der  Kinder  und  Herden,  die  Er- 
langung von  Reichtum,  Ansehen  und  langem  Leben  abzuhängen 
schien.  Wenn  man  erwägt,  dafs  es  zu  jener  Zeit  im  arischen 
Gemeinwesen  keine  geistige  Macht  aufser  dem  Priesterstande 
gab,  dafs  derselbe  nur  eine  unwissende,  durch  das  Kriegshand- 
werk und  die  Aufgaben  der  Kolonisation  vollauf  in  Anspruch 
genommene  Menge  sich  gegenüber  sah,  so  wird  verständlich, 
wie  die  Brahmanen,  durch  geeignete  Interpretation  aller  glück- 
lichen und  unglücklichen  Wechselfälle  des  Lebens,  den  Glau- 
ben an  die  Unentbehrlichkeit  ihrer  Lieder,  Sprüche  und 
Ceremonien  bei  Fürsten  und  Unterthanen,  bei  Kshatriya's 
und  Vaicya's  in  dem  Mafse  zu  befestigen  wufsten,  dafs  ihr 
Monopol  der  richtigen  Götterverehrung  zur  stärksten  Macht 
des  arischen  Staates  sich  gestaltete.  Keine  kriegerische  Unter- 
nehmung, keine  Königsweihe  oder  sonstige  Haupt-  und  Staats- 
aktion konnte  ohne  ihre  Mitwirkung  vollzogen  werden,  ja 
auch  bei  allen  wichtigern  Akten  des  Familienlebens  bean- 
spruchten sie,  in  gröfserer  oder  kleinerer  Zahl  zugezogen,  ge- 
speist und  beschenkt  zu  werden.  Sie  sind  die  Vertreter  der 
Götter  auf  Erden,  die  deväh  pratyakshani,  sie  sind  die  Ver- 
körperung des  brahman,  und  in  dem  Mafse  wie  dieses  über 
alle  Götter  hinaus  wuchs  (wovon  später),  wurden  alle  Götter 


1(58  Die  Br&hmanazeit. 

zu  blofsen  Werkzeugen  in  der  Hand  dos  Brahmanen.  „Der 
Brahmane,  der  solches  weifs,  in  dessen  Gewall  sind  die 
Götter"  (f-ani/a  <lcr<i  axan  uapg,  Yaj.  Sarah.  31,21),  lautet  ein 
Ausspruch,  Über  den  sich  nur  der  aufregen  kann,  welcher  iinsern 
abendländischen,  ethischen  Gottesbegriff  auf  die  indischen 
Götter  überträgt.    Aber  die  Götter  waren  schon  im  Rievedn, 

O  ~  7 

wie  wir  sahen,  nicht  sowohl  ethische  Mächte,  als  vielmehr 
reine  Naturpotenzen,  welche  in  weiterm  Verlaufe  unter  den 
Händen  di'r  Brahmanen  zu  einem  ganz  mechanischen  Wirken 
erstarrten  und  daher  völlig  in  der  Hand  des  kundigen  Brah- 
manen waren,  wie  ja  auch  eine  sein'  grofse  und  starke  Ma- 
schine einem  einzelnen  Manne  gehorcht,  wenn  er  sie  kennt 
und  riohtig  zu  behandeln  versteht.  Früher  waren  die  Götter 
menschenartige  Persönlichkeiten  gewesen,    deren   Gunst  man 

durch    Opfer    und    Gebet    zu     erlangen    suchte,    jetzt    sind    sie 

blofse  Werkzeuge,  vermittelst  derer  der  Brahmane  einen  ge- 
wollten Erfolg  oder  auch  dessen  Gegenteil  je  nach  Belieben 
mit  Sicherheit  herbeizuführen  vermag;  will  er  daher  seinen 
Auftraggeber,  den  Yajamdna,  schädigen,  so  genügl  hierzu  eine 
geringe,  dem  Laien  unmerkliche  Änderung  der  Ceremonie,  und 
die  Brahmanaschriften  enthalten  geradezu  Anweisungen  für 
den   Fall,  dals  i\w  opfernde  Brahmane,  aus  Rache  oder  wegen 

zu  kärglicher  Bezahlung,  den  Schaden  dessen,  ilrv  durch  ihn 
opfern  läfst,  herbeizufuhren  wünscht;  wohingegen  dieser  wie- 
derum sich  durch  eine  besondere  Schwurhandlung,  das  Tänü- 
naptrami)  zu  sichern  sucht,  bei  welchem  i\c\-  Brahmane  (unter 
Anrufung  des  Agni  Tanünapäf)  gelobt,  das  Interesse  des 
Yajamaua.  redlich  zu  vertreten.  Auch  ein  beseholtener  Brah- 
mane kann  durch  richtige  Handhabung  des  Ceremoniells  die 
gewünschte  Wirkung  erzielen;  hingegen  wird  dasselbe  in  An 

Hand    eines  N  ieht  brahmanen    unwirksam,   da    nur  ein  Brahmane 

den  Opferlohn  (dakshina)  annehmen  darf,  ohne  dessen  Spen- 
dung das  Opfer  seine  Kraft  verliert;  auch  sind  die  Brahmanen 
allein  im  stände,  den  Soma  zu  trinken  und  den  Opferresl 
(ucchishtam)  zu  verzehren,  daher  nur  sie  die  Stellung  eines 
Ritvij  (gedungenen  Opferpriesters)  einnehmen  können,  in  wel- 
cher dieses  erforderlich  ist.  Durch  diese  und  andere  Bestim- 
mungen   wufsten   die   Brahmanen   alle  Opferhandlungen,    mit 


I.    Die  Kultur  der  Brödrmanazeit,  |r>(,l 

Ausnahme  der  einfachsten,  an  ihre  Mitwirkung  zu  knüpfen 
und  somit  zu  ihrem  ausschliefslichen  Monopol  zu  gestalten, 
von  dem  sie  ihren  (nach  <len  Angaben  über  die  dahehit^ä^ 
Opfergabe,  zu  schliefsen)  sein-  reichlichen  Unterhalt  hatten, 
mochten  sie  nun  als  Purohita ,  d.  h.  angestellte  Hauspriester 
der'Fürsten,  oder  als  Ritvij,  d.  h.  Opferpriester,  celebrieren, 
welche  von  den  begüterten  Yajamäna's^  d.  h.  Veranstaltern 
der  Opfer,  je  nach  Art  derselben,  in  gröfserer  oder  geringerer 

An/.;ilil    zu    engagieren  und  durch  Itinder,  (»old,  Kleider  u.  S.  W. 

zu  belohnen  waren.  So  gehören  (oben  S.  50.  ('>('>)  zu  einem 
feierlichen  Somaopfer,  von  den  untergeordneten  Oriizianten 
abgesehen,  vier  Riivij,  I)  der  Hotar  (Rufer),  welcher  bei  Be- 
ginn  des  Opfers  die  Götter   zum  Genüsse  desselben  durch  eine 

längere  Recitation  einladet,  2)  der  Udgätar  (Sänger),  welcher 
die  heilige  Handlung  mit  seinem  Gesänge  begleitet,  3)  der 
Adhva/ryUi  welcher  die  Opferhandlung  vollzieht,  indem  er  da- 
bei allerlei  Sprüche  und  Verse  murmelt,  und  I)  (\cr  Bralnndn 
oder  Oberpriester,  welcher  schweigend  dasitzt,  dem  Gange 
i\c,v  Handlung  folgt  und  um-  eingreift,  wo  es  etwas  zu  be- 
richtigen giebt. 

-Je  komplizierter  auf  diese  Weise  der  Gottesdienst  wurde, 

um     SO    mein-    erforderte    er    (wie     wir    System     des     Vedänta 

S.  II  fg.  auseinandergesetzt  haben  und  hier  herübernehmen 
wollen)  eine  spezielle  Vorbildung,  und  dieses  praktische  Be- 
dürfnis wurde  mafsgebend  für  die  Gestaltung  der  vedischen 
Litteratur,  —  wenn  man  anders  dieses  Wort  gebrauchen  will 
von  einem  Zustande,  wo  an  irgendwelche  schriftliche  Aul- 
zeichnung allerdings  noch  nicht  zu  denken  ist.  Nach  und 
nach  bildete  sich  eine  feste  Tradition  über  die  Verse  und 
Sprüche,  mit  denen  der  Adhvaryu  seine  Manipulationen  zu 
begleiten  hatte  (Yajumeda),  sowie  über  die  Gesänge,  die  der 
[Jdgätar   bei   (\n-  heiligen   Handlung  anstimmte  (Sdmaveda) ; 

endlich  durfte  auch  der  Hotar  sich  nicht  mein'  milder  Kennt- 
nis der  in  seiner  Familie  erblichen  Lieder  begnügen;  die  ein- 
zelnen Liederschätze  schlössen  sich  zu  Kreisen  (mandalam), 
die  Kreise  zu  einem  Ganzen  zusammen  (Rigveda),  welches 
dann  noch  eine  gewisse  Zeil   hindurch  für  neu  hinzukommende 

Produktionen    offen     blieb.   —   Nicht    alle    alten    Lieder    landen 


170  Die  Brähmauazeit. 

in  diesem  Kanon  Eingang;  manche  mochten  ausgeschlossen 
bleiben,  weil  man  ihren  Inhalt  anstöfsig  oder  sonstwie  nicht 
geeignet  fand,  andere,  weil  sie,  aus  dem  Volke  entsprungen, 
durch  keine  Autorität  eines  berühmten  Sängergeschlechtes 
empfohlen  wurden.  Zu  ihnen  gesellten  sich  immer  noch  neue 
Blüten,  welche  der  alte  Stamm  vedischer  Lyrik  in  der  Bräh- 
mana-Periode  trieb  und  die  von  dem  veränderten  Bewul'stsein 
der  Zeit  deutlich  Kunde  geben.  Aus  diesen  Materialien,  die 
sich  längere  Zeit  aufserhalb  der  Schulen  durch  den  Volksmund 
fortpflanzen  mochten  (worauf  ihre  vielfache,  besonders  me- 
trische, Verwahrlosung  hindeutet),  kam  im  weitern  Verlaufe 
eine  vierte  Sammlung  (Atharvaveda)  zu  stände,  welche  lange 
zu  kämpfen  hatte,  ehe  sie  eine,  immer  noch  bedingte,  Aner- 
kennung errang. 

Inzwischen  waren  jene  altern  Sammlungen  die  Grundlage 
eines  gewissen  Schulunterrichts  geworden,  der  mit  der  Zeit 
immer  fester  geregelte  Formen  annahm.  Ursprünglich  war 
es  der  Vater,  welcher  seinen  Sohn  in  dem  von  der  Familie 
überlieferten  heiligen  Wissen  unterwies,  so  gut  er  es  vermochte 
(Brih.  Up.  6,2,4.  Chänd.  Up.  5,3,5.  Kaush.  Up.  1,1),  bald  aber 
mochte  dies  der  zunehmenden  Schwierigkeit  des  Verständ- 
nisses der  alten  Texte,  dem  immer  verwickelter  sich  gestal- 
tenden Ritual,  dem  mehr  und  mehr  sich  erweiternden  Studien- 
kreise gegenüber  nicht  mehr  genügen;  man  mufste  die  für 
irgend  eine  der  zu  erlernenden  Theorien  (vidya)  bewährten 
Autoritäten  aufsuchen,  fahrende  Schüler  (caraka)  reisten  weit 
umher  (Brih.  Up.  3,3,1),  berühmte  Wanderlehrer  zogen  von 
Ort  zu  Ort  (Kaush.  Up.  4,1),  und  zu  manchem  Lehrer  mochten 
die  Schüler  strömen  „wie  die  Wasser  zu  der  Tiefe"  (Taitt. 
Up.  1,4,3).  In  der  Folge  erforderte  es  die  Sitte,  dafs  jeder 
Arya  eine  Reihe  von  (nach  Apastamba,  clharmasütra  1,1,2,16, 
mindestens  zwölf)  Jahren  im  Hause  eines  Lehrers  weilte,  die 
Brähmana's,  um  sich  auf  ihren  künftigen  Beruf  vorzubereiten, 
die  Kshatriya's  und  Vaicya's,  um  die  für  ihr  späteres  Denken 
und  Leben  mafsgebenden  Einflüsse  zu  empfangen.  Wir  müssen 
annehmen  (vgl.  Manu  2,241.  Cank.  ad  Brih.  Up.  p.  345,13), 
dafs  das  Erteilen  dieses  Unterrichts  mit  der  Zeit  ausschliefs- 
liches  Vorrecht  der  Brahmanen  wurde:  nur  so  erklärt  sich  der 


I.    Die  Kultur  der  Brähmanazeit.  171 

Einflufs  ohnegleichen,  welchen  die  Brahmanen  auf  das  in- 
dische Volksleben  zu  gewinnen  und  zu  erhalten  wufsten.  Wie 
die  äufsere  Tracht,  so  mag  auch  der  Unterricht  für  die  Schüler 
aus  den  verschiedenen  Kasten  ein  verschiedener  gewesen  sein 
(vgl.  Ait.  Ar.  3,2,6,9,  wo  vorgeschrieben  wird,  eine  gewisse 
Lelire  na  apravaktre,  keinem  der  nicht  selbst  Lehrer  werden 
will,  mitzuteilen).  Als  Entgelt  für  diesen  Unterricht  ver- 
richteten die  Schüler  die  Haus-  und  Feldarbeit  des  Lehrers; 
sie  bedienten  die  heiligen  Feuer  (Chänd.  Up.  4,10,1),  hüteten 
das  Vieh  des  Lehrers  (Chänd.  Up.  4,4,5),  sammelten  für  ihn 
im  Dorfe  die  üblichen  Liebesgaben  ein  und  brachten  ihm  am 
Schlüsse  des  Kursus  Geschenke  dar.  In  der  Zeit,  die  diese 
mannigfachen  Obliegenheiten  ihnen  frei  liefsen  (guroh  karma- 
atiqeshena,  Chänd.  Up.  8,15),  wurde  der  Veda  studiert,  d.  h. 
versweise  vom  Lehrer  vorgesagt  und  von  den  Schülern  nach- 
gesprochen, bis  sie  das  Lehrpensum  auswendig  wufsten  (vgl. 
oben  S.  101).  Im  Ganzen  mochte  es  weniger  eine  Lehrzeit 
als,  wie  der  Name  Agrama  zu  verstehen  giebt,  eine  „Übungs- 
zeit"  sein,  bestimmt  zur  Übung  im  Gehorsam  gegen  den 
Lehrer  (wovon  exorbitante  Beispiele  überliefert  werden,  Ma- 
häbh.  I,  684  fg.)  und  in  angestrengter,  selbstverleugnender 
Thätigkeit.  Es  lag  in  der  Tendenz  des  Brahmanismus,  das 
ganze  Leben  der  Brähmana's  und  womöglich  aller  Ärya's  zu 
einem  solchen  Acrama  zu  gestalten.  Nicht  alle  gingen  nach 
Absolvierung  der  Lehrzeit  dazu  über,  eine  Familie  zu  gründen : 
manche  blieben  im  Hause  des  Lehrers  bis  an  ihr  Lebensende 
(haishthika) ;  andere  zogen  in  den  Wald,  um  sich  Entbehrungen 
und  Kasteiungen  hinzugeben;  noch  andere  verschmähten  auch 
diese  Form  einer  geregelten  Existenz  und  warfen  alles  von 
sich  (samnyäsin) ,  um  als  Bettler  (bhikshu)  umherzuschweifen 
(parivräjaka).  Weiterhin  Schlots  man  die  verschiedenen  Arten 
des  „Agrama"  oder  der  „religiösen  Kasteiung"  zu  einem  Gan- 
zen zusammen,  in  welchem  dasjenige,  was  Ev.  Matth.  19,21 
als  abrupte  Forderung  auftritt,  zu  einem  grofsartigen,  das 
ganze  Leben  umspannenden  Systeme  ausgebreitet  erscheint. 
Darnach  sollte  das  Leben  jedes  Brähmana,  ja  eigentlich  das 
eines  jeden  Dvija  (denn  eine  Beschränkung  auf  die  Brähmana' s 
ist  aus  Manu  VI  nicht  mit  Sicherheit  zu  entnehmen),  in  vier 


172  Diß  Brähmanazeit. 

Übungsstadien  oder  Agrama's  verlaufen;  er  sollte  1)  als  Bra/i- 
macdrin  im  Hause  eines  Lehrers  leben,  sodann  2)  als  Grihastlia 
der  Pflicht,  eine  Familie  zu  gründen,  Folge  leisten,  hierauf 
3)  im  Greisenalter  dieselbe  verlassen,  um  als  Vdnaprastha 
(Einsiedler  im  Walde)  mehr  und  mehr  zu  steigernden  Ka- 
steiungen obzuliegen,  und  endlich  4)  gegen  Ende  seines  Lebens 
als  Samnyäsin  (Bhikshu,  Parivräjaka)  aller  Erdenbande  ledig 
umherzuwandern  und  von  Almosen  zu  leben.  —  Wir  wissen 
freilich  nicht,  inwieweit  die  Wirklichkeit  diesen  idealen  An- 
forderungen entsprochen  hat. 

81.    Die  Brähmana  s  als  philosophische  Quellen. 
Übertreibungen  und  Verschweigungen  in  denselben. 

Die  Philosophie,  welche  wir  in  den  Hymnen  des  Rigveda 
aufkeimen  sahen  und  an  der  Hand  der  Begriffe  Prajäpati, 
Vigvakarman ,  Brahmanaspati  und  Purusha  eine  Strecke  weit 
verfolgen  konnten  (oben  S.  103 — 158),  hat  einige  Jahrhunderte 
später  zu  dem  grofsen  und  ausgeführten  Zusammenhange  theo- 
logisch-philosophischer Gedanken  geführt,  welcher  in  den 
altern  Upanishad's  vor  Augen  liegt.  Zwischen  den  Hymnen 
des  Rigveda  aber  und  den  Upanishad's  liegt  ein  Stück  der 
Entwicklung,  für  welches  wir,  in  Ermangelung  eigentlich  philo- 
sophischer Schriften,  auf  die  Samhitä's  des  Yajurveda  und 
Atharvaveda  (die  des  Sämaveda  ist  ohne  Belang  für  uns,  oben 
S.  67)  sowie  namentlich  auf  die.  Brähmana's  und  damit  auf 
ein  Material  angewiesen  sind,  welches  unserer  Aufgabe  grofse 
Schwierigkeiten  in  den  Wes;  legt. 

Die  Brähmana's  sind  (von  den  Upanishad's,  in  welche 
sie  als  Schlufskapitel  vielfach  auslaufen,  abgesehen)  keine  phi- 
losophischen Urkunden;  sie  haben  nicht  eigentlich  den  Zweck, 
über  Gott,  Welt  und  Seele  Belehrung  zu  erteilen.  Ihre  Auf- 
gabe ist  es,  den  Gang  der  Opferhandlung  in  allen  seinen 
Einzelheiten  zu  lehren  und  die  Bedeutung  derselben  zu  erklären, 
indem  sie  alle  Materialien  und  Verrichtungen,  die  beim  Opfer 
vorkommen,  symbolisch  zu  deuten  bemüht  sind,  wobei  dann 
die  Opfergeräte  und  Handlungen  in  mannigfache  Beziehung 
zu  Himmel  und  Erde,  zu  göttlichen  und  menschlichen  Dingen 


IL    Die  Brährnana's  als  philosophische  Quellen.  173 

gesetzt  werden.  Hierdurch  wird  der  Inhalt  dieser  umfang- 
reichen Werke  für  uns  allerdings  sehr  wenig  ansprechend, 
aber  gewifs  wären  sie  nicht  die  geistige  Nahrung  langer  Zeit- 
alter gewesen,  mit  diesem  Eifer  gepflegt,  mit  dieser  Sorgfalt 
zuerst  mündlich,  dann  schriftlich  von  Geschlecht  zu  Geschlecht 
überliefert  worden,  wenn  nicht  mehr  in  ihnen  läge,  als  unsere 
einseitige  Stellung  denselben  abzugewinnen  vermag.  Wer 
würde  wohl  über  die  Bedeutung,  die  Schönheit  und  den 
ästhetischen  Wert  einer  Oper  abzuurteilen  sich  getrauen,  von 
der  ihm  nichts  als  das  Textbuch  bekannt  wäre?  Ein  solcher 
ästhetischer  und  das  Gemüt  erbauender  Wert  war  aber  ohne 
Zweifel  auch  dem  Kultus  der  Brahmanen  eigen,  und  wir 
können  uns  von  dem  Gepränge  der  Aufzüge,  der  Priester- 
kleidungen und  Geräte,  von  der  Schönheit  der  Recitation  und 
des  Gesanges,  von  der  Feierlichkeit  und  Weihe  der  Handlung 
keinen  ausreichenden  Begriff  mehr  machen.  Was  aber  die 
symbolischen  Ausdeutungen  und  Identifikationen  betrifft,  die 
freilich  für  unser  Gefühl  in  das  Spielende  ausarten  und  oft 
alles  Mafs  zu  überschreiten  scheinen,  so  ist  doch  nicht  zu  ver- 
gessen, dafs  dies  alles  nur  die  Kehrseite  und  praktische  Um- 
setzung eines  Gedankens  ist,  dessen  philosophische  Bedeutung 
uns  noch  beschäftigen  wird,  des  Gedankens,  dafs  das,  was  der 
Inder  in  dem  Worte  brahman  zusammenfafst  und  in  Opfer 
und  Gebet  praktisch  bethätigt,  das  Höchste  und  Edelste  auf 
der  Welt,  der  Mittelpunkt  alles  Seins,  ja  das  Princip  aller  Dinge 
ist.  So  wenig  wir  somit  geneigt  sind,  über  der  Litteratur  der 
Brährnana's  als  einem  „theologischen  Gefasel"  und  über  dem 
sie  erzeugenden  Zeitalter  als  einem  geistlosen  und  in  Formel- 
kram erstarrten  den  Stab  zu  brechen,  so  sehr  müssen  wir 
doch  in  der  philosophischen  Verwertung  ihrer  Angaben  vor- 
sichtig sein.  Denn  die  Sucht,  alles  dabei  symbolisch  umzu- 
deuten und  auszudeuten,  kennt,  wie  gesagt,  keine  Grenzen, 
und  wir  dürfen  nicht  alles,  wozu  sich  der  Verfasser  fortreifsen 
läfst,  als  ernst  gemeint  und  den  Ausdruck  einer  philosophischen 
Überzeugung  nehmen.  So  klingt  es  sehr  philosophisch  und 
wie  ein  erstes  Aufdämmern  des  Upanishadgedankens ,  wenn 
wir  (^atap.  Br.  4,5,9,2  lesen:  „Prajapäti  ist  das  Selbst  (ätmä 
vai  Prajäpatih)",  und  Catap.  Br.  4,5,9,8  sogar:    „diese   ganze 


174  Die  Brahmanazeit. 

Welt  ist  das  Selbst  (sarvam  vä  idam  dtmä  jagat)'-'-;  aber  diese 
Äufserungen  verlieren  sehr  an  Gewicht,  wenn  wir  sie  in  dem 
Zusammenhange  auffassen,  in  dem  sie  stehen.  Nämlich  das 
Catapatha-Brähmanam  handelt  im  vierten  Buche  (dem  soge- 
nannten graha-kända)  von  den  verschiedenen  Schöpfungen 
(graha),  mittels  deren  der  gekelterte  und  abfliefsende  Soma- 
trank  in  Gefäfsen  aufgefangen  wird,  und  deren  jede  ihre 
mystische  Bedeutung  hat.  Hierbei  heifst  es  von  der  am  vierten 
Tage  der  zwölftägigen  Somapressung  zuerst  vorzunehmenden, 
ägrayana  genannten  Libation,  4,5,9,2:  „dann  schöpft  er  die 
Spenden,  indem  er  mit  dem  Ägrayana  beginnt;  denn  dieser 
vierte  Tag  gehört  dem  Prajäpati;  nun  ist  die  Ag  raya/ia-Spende 
das  Selbst  (ätman),  das  Selbst  aber  ist  Prajäpati;  darum 
schöpft  er  die  Spenden,  indem  er  mit  dem  Ägrayana  beginnt". 
Ebenso  heifst  es  beim  neunten  Tage,  4,5,9,8:  „dann  schöpft 
er  die  Spenden,  indem  er  mit  dem  Ägrayana  beginnt;  denn 
dieser  neunte  Tag  gehört  der  jagati  (dem  Metrum  dieses 
Namens);  nun  ist  die  Ägrayana- Spende  das  Selbst  (ätman), 
das  Selbst  aber  ist  diese  ganze  Welt  (jagat,  Wortspiel  mit 
jagati)',  darum  schöpft  er  die  Spenden,  indem  er  mit  dem 
Ägrayana  beginnt".  Es  ist  klar,  dafs  die  hier  vorkommende 
Identifikation  des  Prajäpati  und  der  Welt  mit  dem  Ätman 
keinen  gröfsern  Wert  hat,  als  die  danebenstehende  des  Ätman 
mit  dem  Ägrayana;  dafs  wir  es  mithin  hier  nur  mit  symbolischen 
Spielereien  und  nicht  mit  philosophischen  Erkenntnissen  zu 
thun  haben.  In  ähnlicher  Weise  wird  in  den  Brähmana's 
gelegentlich  alles  Mögliche  mit  allem  Möglichen  gleichgesetzt: 
so  ist  allein  im  Catapathabrähmanam  Prajäpati  der  Reihe 
nach:  das  Weltall  (1,3,5,10),  der  Ätman  (4,5,9,2),  die  Soma- 
pflanze  (angu^  4,6,1,1),  der  Mond  (6,1,3,16),  Hiranyagarbha 
(6,2,2,5),  der  Präna  (7,5,1,21),  das  Jahr  und  zugleich  das  Opfer 
(11,1,1,1),  das  Jahr  (11,1,6,13),  das  Opfer  (11,1,8,3),  Savitar 
(12,3,5,1),  das  brahman  (13,6,2,8).  Diese  Gleichsetzungen 
können  unmöglich  alle  ihre  philosophische  Bedeutung  haben, 
und  doch  können  sie  wiederum  auch  nicht  alle  unbeachtet 
bleiben;  darin  liegt  die  Schwierigkeit.  So  klingt  es,  um  nur 
noch  ein  Beispiel  anzuführen,  höchst  bedeutsam,  wenn  Qatap. 
Br.  11,2.3,6   gesagt   wird,   dafs   die   Götter,   anfangs    sterblich, 


II.    Die  Brähmana's  als  philosophische  Quellen.  175 

•es  durch  das  Brahmän  erlangt  hätten,  dafs  sie  unsterblich 
geworden;  aber  dieser  schöne,  auf  die  Upanishadlehre  hin- 
deutende Gedanke  verliert  sehr,  wenn  wir  uns  erinnern,  dafs 
zehn  Seiten  früher  11,1,2,12  mit  denselben  Worten  gelehrt 
wird,  dafs  die  Götter,  anfangs  sterblich,  es  durch  das  Jahr 
(samvatsara)  erlangt  hätten,  dafs  sie  unsterblich  geworden. 
Nun  kann  man  sich  zwar  helfen,  indem  man  samvatsara  == 
Prajäpati  =  braliman  setzt,  aber  eine  besonnene  Kritik  wird 
sich  nicht  wohl  zu  solchen  luftigen,  wiewohl  durch  die  Bräh- 
mana's selbst  überall  vorgenommenen  Kombinationen  ver- 
stehen. 

Bieten  nach  dieser  Seite  hin  die  Brähmana's  für  unsern 
Zweck  zu  viel,  so  enthalten  sie  in  anderer  Hinsicht  wieder 
zu  wenig,  denn  gewifs  war  das  sie  hervorbringende  Zeit- 
alter nicht  ohne  Philosophie,  nur  dafs  diese  in  den  Brähmana's, 
ihrem  Zwecke  gemäfs,  keine  Aufnahme  fand  und  nur  in  ge- 
legentlichen und  unsichern  Aulserungen  durchblickt;  ja,  wir 
glauben  nachweisen  zu  können,  wie  wirkliche  philosophische 
Gedankenvoll  denBrähmana's  aufgenommen,  aber  im  Sinne  ihrer 
Opfersymbolik  umgeändert  und  entstellt  worden  sind.  Ein 
schlagendes  Beispiel  bietet  die  aus  der  Käthaka-Upanishad 
bekannte  Geschichte  des  Naciketas,  welche  schon  in  einem 
altern  Texte,  Taittiriya-Brähmanam  3,11,8  erzählt  wird,  und 
zwar,  wie  wir  glauben,  in  liturgischem  Sinne  entstellt,  worüber 
wir  dem  Leser  selbst  ein  Urteil  ermöglichen  wollen,  indem 
wir  diese  uns  ohnehin  für  einen  spätem  Zusammenhang  not- 
wendige Erzählung  zunächst  hier  aus  Taitt.  Br.  3,11,8  wort- 
getreu übersetzen. 

Taittiriya-  brähmanam  3,11,8,1 — -6. 

„Freiwillig  gab  Yäjagravasa  seine  ganze  Habe  [den  Bralimanen 
als  Opferlohn]  dahin.  Ihm  war  ein  Sohn,  mit  Namen  Naciketas. 
Ihn,  der  noch  ein  Knabe  war,  überkam,  da  die  Opferlohnkühe 
fortgeführt  wurden,  der  Glaube  [an  die  durch  Opfer  nicht  erreich- 
bare Erlösung,  wie  in  der  Käthaka-Upanishad?  oder  nur  an  die 
Wirksamkeit  des  Allhabe-Opfers?],  und  er  sprach  [der  vergeblichen 
Bemühung  des  Vaters  spottend?  oder,  um  das  Allhabe-Opfer  voll- 
ständig zu  machen?]:  «Vater!  wem  wirst  du  mich  geben?»  —  so 
.sprach    er   zum    zweiten-,    zum    drittenmal.     Ihm    antwortete    [vom 


X76  Diß  Brähmauazeit. 

Zorn]  ergriffen  der  Vater:  «Dem  Tode  gebe  ich  dich.»  —  Zu 
diesem,  nachdem  er  [vom  Opfer]  aufgestanden,  spricht  eine  Stimme: 
«Gautama!  den  Knaben!»  —  Da  sprach  er:  «Gehe  hin  zu  den 
Wohnstätten  des  Todes;  denn  dem  Tode  habe  ich  dich  gegeben. 
Er  wird  aber,  wenn  du  zu  ihm  kommst,  verreist  sein»,  fuhr  er 
fort,  «und  dann  sollst  du  drei  Nächte,  ohne  zu  essen,  in  seinem 
Hause  weilen.  Wenn  er  dich  darauf  fragt:  'Knabe,  wie  viele 
Nächte  hast  du  geweilt?'  so  sollst  du  antworten:  'drei!'  Fragt  er, 
was  du  die  erste  Nacht  gegessen?  so  antworte  ihm:  'deine  Nach- 
kommenschaft'; was  die  zweite?  'deine  Herden';  was  die  dritte? 
'dein  gutes  Werk'.»  —  Als  er  nun  zu  ihm  kam,  war  der  Tod  ver- 
reist; er  aber  weilte  drei  Nächte,  ohne  zu  essen,  in  seinem  Hause. 
Da  traf  ihn  der  Tod  an  und  fragte:  «Knabe,  wie  viele  Nächte  hast 
du  geweilt?»  —  Er  antwortete:  «drei!»  —  «Was  hast  du  die  erste 
Nacht  gegessen?»  —  «Deine  Nachkommenschaft»,  sprach  er.  — 
«Was  die  zweite?»  —  «Deine  Herden.»  —  «Was  die  dritte?»  — 
«Dein  gutes  Werk.»  —  Da  sprach  der  Tod:  «Verehrung  sei  dir, 
ehrwürdiger  [Brahmane] !  Wähle  ein  Geschenk!»  —  «So  lafs  mich 
lebend  zum  Vater  wiederkommen.»  —  «Wähle  noch  ein  Geschenk!»  — 
Er  sprach :  « so  lehre  mich  die  Unzerstörbarkeit  [durch  den  Tod] 
der  Opfer  und  frommen  Werke!»  —  Da  lehrte  er  ihm  jenes  Naci- 
ketas- Feuer;  dadurch  wurden  seine  Opfer  und  frommen  Werke 
nicht  [durch  den  Tod]  zerstört  [ahsMyete  falsche  Form  für  aksM- 
yetäm\.  Dessen  Opfer  und  fromme  Werke  werden  nicht  [durch  den 
Tod]  zerstört,  der  das  Naciketas-Feuer  schichtet,  und  auch  dessen, 
welcher  es  also  weifs.  —  «Wähle  noch  ein  drittes  Geschenk!»  — 
Da  sprach  er:  «so  lehre  mich  die  Abwehr  des  Wiedersterbens!»  — 
Da  lehrte  er  ihm  jenes  Naciketas-Feuer;  damit,  fürwahr,  wehrte 
er  das  Wiedersterben  ab.  Der  wehrt  das  Wiedersterben  ab, 
der  das  Naciketas-Feuer  schichtet,  und  auch  der,  welcher  es  also 
weifs !"   — 

Diese  Form  der  Erzählung  unterscheidet  sich  von  der  in 
der  Käthaka-Upanisbad  hauptsächlich  dadurch,  dafs  dort  als 
Erfüllung  des  dritten  Wunsches  die  Einheit  der  Seele  mit 
Brahman  gelehrt  wird,  indem,  wer  diese  kennt,  von  dem 
Wiedersterben  entbunden  und  der  ewigen  Erlösung  teilhaft 
wird.  Hier  hat  die  spätere  Form  der  Käth.  Up.  den  ur- 
sprünglichen Sinn  der  Erzählung  bewahrt ,  während  die 
ältere  Form  im  Taitt.  Br.  dieselbe  im  liturgischen  Interesse 
entstellt  hat.     Denn   offenbar   mufs   ursprünglich   in   den   drei 


IL    Die  Brähmana's  als  philosophische  Quellen.  177 

Wünschen  eine  Steigerung  gelegen  haben.  Der  erste  bezieht 
sich  auf  irdisches  Wohlergehen.  Der  zweite  auf  die  Ver- 
geltung der  guten  Werke  nach  dem  Tode;  ist  sie  erfolgt,  ist 
der  Schatz  der  guten  Werke  verbraucht,  so  mufs  die  Seele 
zu  einem  neuen  Le.ben  und  neuen  Sterben  auf  die  Erde 
zurückkehren  [akshiti  ist  daher  nicht  absolute  Unvergänglich- 
keit,  sondern  nur  Fortbestehen  über  den  Tod  hinaus,  da  sie 
das  „Wiedersterben"  nicht  zu  hindern  vermag].  Dieser  Wunsch 
wird  erfüllt  durch  Schichtung  und  Kenntnis  des  Naciketas- 
Feuers,  d.  h.  durch  die  richtige  Ausführung  des  Opferdienstes. 
Nun  folgt  der  dritte  Wunsch,  welcher,  mit  der  jenseitigen 
Vergeltung  und  Wiederkehr  zum  Erdendasein  nicht  zufrieden, 
nach  dem  Mittel  fragt,  das  Wiedersterben  abzuwehren.  Dieses 
Mittel  aber  kann  nicht  wiederum  das  Naciketas-Feuer  sein, 
eben  weil  es  das  Mittel  zu  dem  zweiten  Zwecke  war,  —  ganz 
abgesehen  von  der  Sinnlosigkeit,  die  darin  liegt,  nochmals  zu 
lehren,  was  eben  erst  gelehrt  worden  —  es  mufs  also  wohl 
hier  schon  in  der  ursprünglichen  Erzählung  die  Lehre  von 
der  ewigen  Erlösung  im  Sinne  der  Upanishad's  gestanden 
haben,  welche  jedoch  von  dem  Verfasser  des  Taitt.  Br.  als 
zu  seinen  Zwecken  nicht  passend  beseitigt  und  (plump  genug) 
durch  die  nochmalige  Erwähnung  des  Naciketas-Feuers  ersetzt 
wurde.  Wer  aus  der  vorliegenden  Gestalt  einer  Erzählung, 
auch  wo  sie  entstellt  wurde,  den  ursprünglichen  Sinn  herauszu- 
fühlen vermag,  für  den  dürfte  der  Beweis  erbracht  sein,  dafs 
hier  die  philosophische  Wendung  die  ursprüngliche  war,  die 
vorliegende  liturgische  hingegen  die  sekundäre,  im  Geiste  der 
Brähmanatheorie,  welche  nichts  Höheres  als  Werke  und 
Werklohn  kennt,  umgeänderte.  —  Ja,  man  kann  in  dieser 
Umänderung  eine  bewufste  Polemik  gegen  die  aufkommende 
Theorie  der  Erlösung  durch  das  blofse  Wissen  finden.  Der 
Opferkultus  genügt,  um  die  Vergeltung  der  Werke  im  Jen- 
seits zu  sichern,  der  Opferkultus  mufs  auch  für  alle  weiteren 
Ziele  des  Menschen,  dafern  es  solche  giebt,  genügen.  Dies 
ist  der  gegen  den  Upanishadstandpunkt  polemisierende  Stand- 
punkt der  Brähmana's. 

Als    ein    anderes    Beispiel    für    das    Vorhandensein    und 
Durchschimmern  philosophischer  Gedanken  in  den  Brähmana's, 

Deüssen,  Geschichte  der  Philosophie.    I.  12 


178  Die  Brähinanazeit 

so  jedoch,  dafs  sie,  dem  Zwecke  dieser  Texte  gemäfs,  zurück- 
gedrängt werden  nnd  halb  latent  bleiben,  mag  folgendes  dienen. 
Der  Grundgedanke  der  spätem  Upanishadlehre,  die  Identität 
der  Seele  mit  Gott,  des  individuellen  Ätman  (Selbstes)  mit 
dem  höchsten  Ätman,  zerlegt  sich  in  folgende  drei  Momente: 
1)  Von  allen  Gliedern,  aus  denen  der  Leib  besteht,  wird 
unterschieden  der  Ätman  (das  Selbst,  die  Seele).  2)  Von 
allen  Erscheinungen  und  Kräften,  aus  denen  das  Universum 
besteht,  wird  in  analoger  Weise  unterschieden  der  Ätman,  das 
Selbst  der  Welt.  3)  Die  Glieder  des  Universums  werden 
mit  den  Gliedern  des  Leibes  parallelisiert  und  identifiziert: 
und  ebenso  wird  der  höchste  Ätman  mit  dem  individuellen 
Ätman  als  identisch  gesetzt  und  als  in  ihm  gegenwärtig  er- 
kannt. —  Über  die  Durchführung  und  den  philosophischen 
Wert  dieses  Gedankens  werden  wir  später  handeln.  Hier 
wollen  wir  nur  konstatieren,  dafs  eine  der  ältesten,  möglicher- 
weise die  älteste  Stelle,  in  der  er  uns  entgegentritt,  keine 
philosophische,  sondern  eine  rituelle  ist.  Nämlich  Taitt. 
Br.  3,10,8  ist  von  einer  dem  Todesgotte  (Mrityu),  um  ihn 
fern  zu  halten,  darzubringenden  Libation  die  Rede,  deren 
Rest  der  Priester  trinkt  und  dabei  unter  andern  folgende 
Worte  spricht:  „Agni  ist  in  meiner  Rede  beruhend,  die  Rede 
im  Herzen,  das  Herz  in  mir,  ich  im  Unsterblichen,  das  Un- 
sterbliche in  dem  Brahman."  Ebenso  heifst  es  weiter,  indem 
jedesmal  der  hervorgehobene  Refrain  wiederkehrt:  „Väyu  ist 
in  meinem  Odem  beruhend  etc.,  Surya  in  meinem  Äuge,  der 
Mond  in  meinem  Manas,  die  Himmelsgegenden  in  meinem 
Ohre,  die  Wasser  in  meinem  Samen,  die  Erde  in  meinem 
Leibe,  die  Kräuter  und  Bäume  in  meinen  Haaren,  Indra  in 
meiner  Kraft,  Parjanya  in  meinem  Haupte,  der  Herr  (icäna, 
piva  ==  Rudra)  in  meiner  Zornmütigkeit,  der  Ätman  in 
meinem  Ätman,  der  Ätman  im  Herzen,  das  Herz  in  mir,  ich 
im   Unsterblichen,  das    Unsterbliche  in  dem  Brahman. 

Zurück  soll  mir  der  Leib,  das  Leben  kommen, 
Zurück  der  Odem  und  zurück  Bewufstseiu; 
Vaicvänara,   durch  seine   Strahlen   schwellend, 
Bleib'   in  mir  des  Unsterblichen  Berniter!"   — 


II.    Die  Brähmana's  als  philosophische  Quellen.  179 

Hier  tritt  der  Gedanke  auf,  dafs,  wie  die  Naturgötter  in 
meinen  Gliedern,  so  der  Atman  in  meinem  Atman,  die 
Weltseele  in  meiner  individuellen  Seele*  beruhend 
sei,  —  aber  gewifs  haben  wir  hier  nicht  das  erste  Auftauchen, 
sondern  nur  eine  rituelle  Verwendung  dieses  schon  vorher 
vorhandenen,  hochbedeutsamen  Gedankens  vor  uns. 

Wir  kommen  zum  Schlüsse.  Die  Brähmana's  enthalten, 
wie  die  angeführten  Proben  zeigen,  für  unsern  Zweck  teils 
zu  viel,  teils  zu  wenig.  Einerseits  bemerken  wir  in  ihnen 
mafslose  Übertreibungen,  anderseits  Verkümmerungen,  Ent- 
stellungen, ja  Verschweigungen  philosophischer  Gedanken, 
und  unter  diesen  Umständen  wird  es  allerdings  eine  sehr 
problematische  Aufgabe  sein  und  noch  lange  bleiben,  aus 
diesen  Urkunden  die  philosophische  Weltanschauung  des  Zeit- 
alters herauszuschälen  und  so  die  Brücke  zu  schlagen  zwischen 
der  klar  vorliegenden  Philosophie  des  Rigveda  und  der  ebenso 
klar  ausgebreiteten  Upanishadlehre,  selbst  wenn  man  die 
philosophischen  Hymnen  des  Atharvaveda,  bei  denen  ähnliche 
Schwierigkeiten  bestehen  (unten  S.  209  fg.),  gebührend  mit  ver- 
wendet. Vielleicht  gelingt  es  noch  einmal  einem  Specialforscher, 
der  in  das  weitschichtige  Material  tiefer  eingedrungen  ist,  als 
es  uns  bis  jetzt  möglich  war,  hier  bestimmtere  Aufschlüsse  zu 
gewinnen.  Wir  müssen  uns  mit  allgemeinen  Umrissen  be- 
gnügen, indem  wir,  anknüpfend  an  die  Philosophie  des  Rig- 
veda und  die  aus  ihr  hervorgegangenen  Grundbegriffe  Präjäpati, 
Vigvakarman,  Brahmanaspati  und  Purusha,  die  Entwicklung 
dieser  Begriffe  zu  verfolgen  suchen  bis  zu  dem  Punkte,  wo 
sie  in  der  Ätmanlehre  der  Upanishad's  absorbiert  werden. 
Unter  ihnen  ist  am  wenigsten  zu  sagen  von  Vigvakarman,  der 
nur  sporadisch  auftritt  und  zumeist  mit  Prajäpati  oder  Brah- 
manaspati zerfliefst;  seine  Gestalt  war  zu  abstrakt,  der  Begriff 
des  „Allschöpfers"  pafste  zu  sehr  auf  jedes  andere  schöpferische 
Princip,  um  sich  nicht  mit  Leichtigkeit  in  dasselbe  aufzulösen, 
und  die  Hymnen  Rigv.  10,81.  82  waren  zu  dunkel  und  un- 
populär,  als  dafs  eine   greifbare  Gestalt  auf  ihnen  sich  hätte 


*  atman   kann    hier    nicht  wohl  den  Rumpf  bedeuten,    da   gariram 
„Leib"  schon  vorher  da  war. 

12* 


180  Die  Brähmanazeit. 

aufbauen  können.  Wir  beschränken  uns  daher  darauf,  die 
Geschichte  des  Prajäpati,  Brahmanaspati  und  Purusha  (an  den 
sich  die  verwandten  Begriffe  des  Präna  und  Atman  anschließen) 
ihren  allgemeinen  Umrissen  nach  aus  den  Brähmana's  und  dem 
Atharvaveda  in  der  Kürze  zu  skizzieren.  Als  allgemeines 
Schema  und  als  Typus  dieses  Entwicklungsganges  können  drei 
Worte  aus  dem  Qatapathabrähmanam  dienen: 

1)  Prajäpatir  vcC  idam  agrcC  äsit  (11,5,8,1). 

2)  Brahma  va1  idam  agrcC  äsit  (11,2,3,1). 

3)  Atmä  eva  idam  agraü  äsit  (14,4,2,1). 

Wie  diese  Worte  andeuten,  durchläuft  die  Entwicklung  der 
Brähmanazeit  drei  in  einander  übergreifende  Perioden,  in  deren 
erster  Prajäpati  als  Princip  aller  Dinge  an  der  Spitze  steht, 
während  er  in  der  zweiten  in  den  Hintergrund  tritt  vor  dem 
aus  Brahmanaspati  hervorgegangenen  Begriff  des  Brahman, 
bis  in  der  dritten  der  aus  dem  Purusha  abzuleitende  Begriff 
des  Atman  die  Hegemonie  übernimmt.  Hiermit  ist  der  Upani- 
shadstandpunkt  erreicht,  für  welchen  Brahman  und  Atman 
durchaus  Synonyma  sind,  während  Prajäpati  nur  noch  gelegent- 
lich und  nebenbei  vorkommt  und  in  den  Upanishad's  eine 
ähnliche  Rolle  spielt,  wie  ^&6<z  und  ^sol  bei  Piaton.  Wir 
nehmen  also,  ganz  im  allgemeinen  betrachtet,  ein  zeitliches 
Fortschreiten  von  dem  Mythologischen  (Prajäpati)  zum  Ri- 
tuellen (Brahman),  und  von  diesem  zum  Philosophischen 
(Atman)  an,  und  wenn  von  den  •  genannten  drei  Stellen  die 
über  Prajäpati  zufällig  später  als  die  über  Brahman  steht,  so 
ändert  dies  an  der  Sache  nichts  und  mag  nur  dienen,  uns  zu 
erinnern,  clafs  auf  dem  Gebiete  der  religiösen  Entwicklung 
das  Alte  in  der  Regel  nicht  beseitigt  wird,  sondern  als  ein 
Unantastbares,  wiewohl  Abgestorbenes,  neben  dem  Neuen  sich 
erhält;  daher,  wie  das  Neue  Testament  nicht  mit  dem  Alten 
aufräumt,  so  auch  die  Upanishad's  nicht  mit  den  Brähmana's, 
wodurch  dann  die  Jüngern  und  gereiftem  Religionsurkunden 
so  viel  des  innerlich  Widersprechenden  und  philosophisch 
Unverdaulichen  neben  dem  Grofsen  und  Neuen,  welches  sie 
bieten,  zu  enthalten  pflegen. 


III.    Geschichte  des  Prajäpati.  181 

III.   Geschichte  des  Prajäpati. 

Der  unbekannte  Gott,  der  nach  Rigv.  10,121  die  Urwasser 
schuf  und  selbst  als  goldner  Keim  aus  ihnen  hervorging,  um 
die  Dinge  zu  schaffen,  zu  beseelen  und  zu  regieren,  dieser  im 
Schlufsverse  mit  dem  Namen  Prajäpati  „Herr  der  Geschöpfe", 
bezeichnete  Gott,  ist  (auf  Grund  dieses  Hymnus,  wie  wir 
annehmen  müssen)  in  der  Brähmanazeit  zum  Princip  aller 
Dinge  und  zum  obersten  Gotte  des  vedischen  Pantheons  ge- 
worden, welcher  alle  Wesen  erschaffen  hat,  nicht  sowohl  in- 
dem er  sie  aus  sich  heraussetzte,  als  vielmehr  indem  er  sich 
(oder  einen  Teil  von  sich)  in  dieselben  umwandelte,  und  der 
dann  weiter  die  von  ihm  geschaffene,  unsterbliche  und  sterb- 
liche Welt  innerlich  beseelt  und  regiert.  Weiter  aber  sehen 
wir  in  den  Brahma  na' s  mannigfache  Versuche  auftreten,  über 
Prajäpati  hinauszukommen,  teils  indem  man  ihn  aus  einem 
noch  ursprünglichem  Princip  ableitet,  teils  indem  man  sein 
Wesen  im  einen  oder  andern  Sinne  umzudeuten  bemüht  ist. 
Wir  wollen  versuchen,  diesen  Entwicklungsgang,  so  weit  wie 
möglich,  im  einzelnen  klar  zu  legen. 

1.  Prajäpati  als  Schöpfer. 

„Prajäpatir  akämayata:  «.prajäyeyaj  bhuyän  syäm»  iti.  Sa 
tapo  Hapyata;  sa  tapas  taptvä  imän  lokän  asrijata."  „Prajäpati 
begehrte:  «ich  will  mich  fortpflanzen,  will  vielfach  sein».  Er 
übte  Tapas;  nachdem  er  Tapas  geübt,  schuf  er  diese  Wel- 
ten." —  Mit  dieser  oder  ähnlichen  Formeln  wird  an  zahlreichen 
Stellen  der  verschiedenen  Brähmana's  ein  Hervorgehen  der 
Welt  aus  Prajäpati  in  immer  neuen  Variationen  geschildert. 
Und  doch  kommt  es  nirgendwo  zu  einer  wirklich  durchge- 
führten Schöpfungstheorie,  sondern  die  Sache  läuft  gewöhnlich 
auf  die  Verherrlichung  irgend  eines  Ritus  hinaus,  den  Prajä- 
pati geschaffen,  oder  dessen  er  sich  gar  zur  Schöpfung  der 
Welt  bedient  haben  soll.  Um  dies  zu  verstehen,  müssen  wir 
uns  erinnern,  dafs  die  Brähmana's,  so  wenig  sie  philosophische, 
ebensowenig  auch  mythologische,  sondern  vielmehr  liturgische 
Urkunden  sind,  welche  eine  Mythologie  nicht  sowohl  lehren 
als  vielmehr   voraussetzen  und   für   ihre  jedesmaligen  Zwecke 


182  III.   Geschichte  des  Prajäpati. 

mit  grofser  Freiheit  dienstbar  machen.  Zur  Veranschaulichung 
dieses  Verfahrens  wollen  wir  einige  Stellen  aus  den  ver- 
schiedenen Brähmana's  mitteilen  und  nur  vorher  noch  die 
Frage  zu  beantworten  suchen:  was  heilst  jenes  so  oft  vor- 
kommende: sa  tapo  atapyata,  was  ist  jenes  tapas,  durch  dessen 
Ausübung  der  Schöpfer  sich  zur  Weltschöpfüng  anschickt?  — 
Die  älteste  Philosophie  denkt  in  Bildern  und  Symbolen.  Nun 
giebt  es  für  die  erste  Schöpfung  der  Dinge,  für  das  Hervor- 
gehen der  Mannigfaltigkeit  der  Dinge  aus  einem  einheitlichen, 
homogenen  Urgründe  kein  so  nahe  liegendes  Beispiel  und 
Symbol  in  der  Natur  wie  das  Hervorgehen  des  mannigfach 
gegliederten  Vogels  aus  dem  scheinbar  ganz  homogenen  Ei 
unter  dem  blofsen  Einflüsse  der  Bruthitze.  Daher  die  schon 
Rigv.  10,129,3  von  uns  nachgewiesene  und  in  der  Folgezeit 
unzähligemal  wiederholte  Vorstellung  von  dem  Weltei,  dessen 
beide  Schalen  zu  Himmel  und  Erde  werden;  und  daher 
die  im  Zusammenhang  mit  ihm  auftretende  Vorstellung  (zu 
Rigv.  10,129,3,  oben  S.  122)  von  der  Thätigkeit  des  Schöpfers 
als  einer  Ausbrütung  dieses  Welteies,  welches  er  als  Hiran- 
yagarbha  (oben  S.  130)  selbst  ist.  Ist  dieser  Gesichtspunkt 
der  richtige,  so  wird  die  genaueste  Übersetzung  des  tapo 
atapyata  heifsen  müssen:  „er  erhitzte  sich  in  Erhitzung"  in 
dem  Sinne  von  „er  brütete  Brütung",  nur  dafs  hier  Brütendes 
und  Gebrütetes  nicht  zwei,  sondern  ein  und  dasselbe  Wesen 
sind,  welches  die  Hitze  (tapas),  die  zu  seiner  Ausbrütung  er- 
forderlich ist,  nicht  von  aufsen  empfängt,  sondern  aus  sich 
selbst  erzeugt.  Nun  aber  in  dem  Mafse,  wie  der  Begriff  tapas 
(Hitze)  im  heifsen  Indien  zum  Symbol  der  Anstrengung  und 
Qual  wurde,  spielte  auch  jenes  tapo  atapyata  über  in  den  Be- 
griff der  Selbstkasteiung  und  trat  dadurch  in  Zusammenhang 
mit  der  Vorstellung,  der  wir  noch  begegnen  werden,  dafs  die 
Schöpfung  von  seifen  des  Schöpfers  ein  Akt  der  Selbstent- 
äufserung  ist.  Beide  Vorstellungen  also,  die  der  Bebrütung 
und  die  der  Selbstkasteiung,  werden  wir  immer  gegenwärtig 
halten  müssen,  wo  von  dem  tapas  die  Rede  ist  in  den  Stellen, 
die  wir  als  Proben  der  brahmanischen  Kosmogonie  aus  den 
verschiedenen  Brähmana's  hier  mitteilen  wollen. 


1.  Prajäpati  als  Schöpfer,  Ait.  Br.  5,32.  183 

Aitareya-brähmanam  5,32. 

„Prajäpati  begehrte:  «ich  will  mich  fortpflanzen,  ich  will 
mehrfach  sein».  Er  erhitzte  sich  (tapo  'tapyata);  nachdem  er  sich 
erhitzt,  schuf  er  diese  Welten:  die  Erde,  den  Luftraum,  den  Himmel. 
Diese  Welten  überbrütete  er  (abhyatapat);  aus  ihnen,  nachdem  sie 
überbrütet,  entstanden  die  drei  Lichter:  nämlich  Agni  aus  der 
Erde,  Yäyu  [der  Wind  als  Vertreter  des  hellen  Luftraums]  aus 
dem  Luftraum,  Aditya  aus  dem  Himmel.  Diese  Lichter  überbrütete 
er;  aus  ihnen,  nachdem  sie  überbrütet,  entstanden  die  drei  Veden, 
nämlich  der  Rigveda  aus  Agni,  der  Yayurveda  aus  Väyu,  der  Säma- 
veda  aus  Aditya.  Diese  Veden  überbrütete  er;  aus  ihnen,  nach- 
dem sie  überbrütet,  entstanden  die  drei  Klarheiten,  nämlich  bhür 
aus  dem  Rigveda,  Wmvar  aus  dem  Yajurveda,  svar  aus  dem  Säma- 
veda.  Diese  Klarheiten  überbrütete  er;  aus  ihnen,  nachdem  sie 
überbrütet,  entstanden  die  drei  Buchstaben  (varna),  nämlich  a,  u, 
m.  Diese  fafste  er  in  eins  zusammen,  das  war  das  Wort  Om. 
Darum  summt  [der  Priester]  Om!  Om!  Denn  Om  ist  die  Himmels- 
welt, Om  ist  er,  der  dort  glüht  [die  Sonne].  Dann  breitete  Pra- 
jäpati das  Opfer  aus;  das  ergriff  er  und  opferte  es.  Mit  dem 
Rigveda  vollzog  er  den  Hotardienst,  mit  dem  Yajurveda  den 
Adhvaryudienst,  mit  dem  Sämaveda  den  Udgätardienst;  was  an 
dieser  dreifachen  Wissenschaft  die  Klarheit  ist,  daraus  machte  er 
den  Brahmändienst"  u.  s.  w.  [Es  folgt  dann  Weiteres  über  den 
Gebrauch  von  bliur,  bhuvar,  svar,  um  Mifsgriffe  beim  Opfer  wieder 
gxxt  zu  machen.] 

Pancavinga  -  brähmanam  6, 1. 

„Prajäpati  begehrte:  «ich  will  vieles  sein,  will  mich  fort- 
pflanzen». Da  erschaute  er  diesen  Agnishtoma  [eine  liturgische 
Handlung];  den  ergriff  er,  mit  dem  schuf  er  diese  Geschöpfe. 
Nämlich  mit  dem  elften  Lobgesange,  der  beim  Agnishtoma  vor- 
kommt, schuf  er  sie  und  mit  dem  elften  Monate  des  Jahres,  und 
ebendieselben  nahm  er  in  Pflege  durch  den  zwölften  Lobgesang 
des  Agnishtoma  und  durch  den  zwölften  Monat  des  Jahres.  Daher 
die  Geschöpfe,  nachdem  sie  zehn  Monate  die  Leibesfrucht  getragen, 
gebären  sie  um  den  elften;  darum  halten  sie  es  den  zwölften  nicht 
durch ;  denn  im  zwölften  wurden  sie  in  Pflege  genommen.  Darum, 
wer  solches  weifs,  der  nimmt  die  gebornen  Geschöpfe  in  Pflege 
und  zeugt  der  gebornen  noch  weitere.  Von  diesen,  da  er  sie  in 
Pflege  nahm,  entlief  ihm  die  Mauleselin;  er  sprang  ihr  nach  und 
nahm    ihren    Samen    weg;    den    verpflanzte    er   in    die  Stute,    daher 


184  -HI-    Geschichte  des  Prajäpati. 

die  Stute  zweisamig  ist.  Daruni  ist  die  Mauleselin  unfruchtbar; 
denn  der  Same  ist  ihr  weggenommen.  Darum  eben  ist  sie  auch 
nicht  als  Opferlohn  zu  geben.  Denn  weil  sie  bei  dem  Opfer  [des 
Prajäpati]  überschofs,  darf  sie  nur  bei  dem  Überschüssigen  Opfer- 
gabe sein,  gemäfs  der  Entsprechung,  und  bei  dem  [letzten]  Lob- 
gesang des  sechzehnteiligen  Opfers  gegeben  werden;  denn  das 
sechzehnteilige  Opfer  ist  [um  eins]  überschüssig;  beim  überschüssigen 
also  mag  man  die  Überschüssige  spenden.  —  Da  begehrte  er:  «ich 
will  das  Opfer  schaffen!»  Da  schuf  er  aus  seinem  Munde  das 
dreigeflochtene  [aus  Rigv.  9,11  durch  Verflechtung  der  Verse  1.  4. 
7.  2.  5.  8.  3.  6.  9.  gebildete]  Loblied;  ihm  nach  wurde  geschaffen 
die  Gäyatri  als  Metrum,  Agni  als  Gottheit,  der  Brahmane  als  Mensch, 
der  Frühling  als  Jahreszeit.  Darum  ist  das  dreigeflochtene  der 
Mund  [das  Erste]  unter  den  Loblieder-n,  die  Gäyatri  unter  den 
Metren,  Agni  unter  den  Göttern,  der  Brahmane  unter  den  Menschen, 
der  Frühling  unter  den  Jahreszeiten.  Darum  übt  der  Brahmane 
seine  Wirksamkeit  durch  den  Mund;  denn  aus  dem  Munde  ist  er 
geschaffen.  Der  übt  Wirksamkeit  durch  den  Mund,  wer  solches 
weifs.  —  Da  schuf  er  aus  seiner  Brust,  nämlich  seinen  Armen,  das 
fünfzehnfache  Loblied;  ihm  nach  wurde  geschaffen  die  Trishtubh 
als  Metrum,  Indra  als  Gottheit,  der  Räjanya  als  Mensch,  der 
Sommer  als  Jahreszeit.  Darum  gehört  dem  Räjanya  das  fünfzehn- 
fache Loblied,  die  Trishtubh  als  Metrum,  Indra  als  Gottheit,  der 
Sommer  als  Jahreszeit.  Darum  auch  übt  er  seine  Wirksamkeit 
durch  die  Arme;  denn  aus  den  Armen  ist  er  geschaffen.  Der  übt 
Wirksamkeit  durch  die  Arme,  wer  solches  weifs.  —  Da  schuf  er 
aus  seiner  Mitte,  nämlich  seinem  Zeugungsgliede,  das  siebzehnfache 
Loblied ;  ihm  nach  wurde  geschaffen  die  Jagati  als  Metrum ,  die 
Vicve  Deväs  als  Gottheit,  der  Vaicya  als  Mensch,  die  Regenzeit 
als  Jahreszeit.  Darum  vergeht  der  Vaicya  nicht,  soviel  auch  an 
ihm  gezehrt  wird;  denn  er  ist  aus  dem  Zeugungsgliede  geschaffen. 
Darum  ist  er  auch  reich  an  Vieh;  denn  er  gehört  den  Vicve  Deväs 
an  und  der  Jagati,  und  die  Regenzeit  ist  seine  Jahreszeit.  Darum 
sollen  Brahmanen  und  Räjanya's  an  ihm  zehren,  denn  zum  Unter- 
than  ist  er  erschaffen.  —  Da  schuf  er  aus  seinen  Füfsen,  nämlich 
aus  seinem  Untergestell,  das  einundzwanzigfache  Loblied;  ihm  nach 
wurde  geschaffen  die  Anushtubh  als  Metrum,  gar  keine  als  Gott- 
heit, der  Cüdra  als  Mensch;  daher  der  Cüdra,  auch  wenn  er  viel 
Vieh  hat,  doch  nicht  opferfähig  ist,  denn  er  ist  ohne  Gottheit, 
denn  ihm  nach  wurde  gar  keine  Gottheit  geschaffen.  Darum  kann 
er  nicht  höher  als  bis  zum  Füfsewaschen    befördert    werden .    denn 


1.  Prajäpati  als  Schöpfer,  Taitt.  Br.  2,1,6.  185 

aus  den  Füfsen  ist  er  geschaffen.  Darum  ist  das  einundzwanzig- 
fache unter  den  Lobliedern  das  Untergestell;  denn  aus  dem  Unter- 
gestelle ist  es  geschaffen;  darum  darf  die  Anushtubh  mit  den 
übrigen  Metren  ihren  Platz  nicht  tauschen;  damit  auseinanderge- 
halten bleibe  das  Schlechte  und  das  Bessere.  Dem  wird  zu  teil 
Auseinanderhaltung  des  Schlechten  und  des  Bessern,  der  solches 
weifs." 

Taittiriy  a  -  brähmanam ,  2,1,G. 

„Prajäpati  begehrte:  «möge  mir  ein  Selbsthaftes  werden!)) 
Da  opferte  er,  und  es  wurde  ihm  ein  Selbsthaftes,  nämlich  Agni, 
Väyu  und  Äditya.  Die  sprachen:  «Prajäpati  hat  geopfert,  damit 
ihm  ein  Selbsthaftes  werden  möge,  und  wir  sind  ihm  geworden. 
Möge  denn  auch  uns  ein  Selbsthaftes  werden!»  so  sprachen  sie 
und  opferten  für  die  Lebenshauche  Agni,  für  den  Leib  Väyu,  für 
das  Auge  Aditya.  Da  entstand  aus  ihrem  Geopferten  eine  Kuh. 
Um  deren  Milch  gerieten  sie  in  Streit,  denn  sie  sprachen:  «aus 
meinem  Geopferten  ist  sie  entstanden,  —  nein,  aus  meinem ! »  Sie 
gingen,  den  Prajäpati  zu  befragen.  Und  Aditya  sprach  zu  Agni: 
«wenn  einer  von  uns  beiden  obsiegt,  so  soll  sie  uns  beiden  ge- 
meinsam gehören.»  Prajäpati  sprach:  «wofür  hat  der  eine,  wofür 
der  andere  geopfert?»  —  «Ich  für  die  Lebenshauche»,  sprach 
Agni.  «Ich  für  den  Leib»,  sprach  Väyu.  «Ich  für  das  Auge», 
sprach  Aditya.  —  Er  sprach:  «wer  für  die  Lebenshauche  geopfert 
hat,  aus  dessen  Geopfertem  ist  sie  entstanden;  sie  ist  aus  dem 
Geopferten  des  Agni  entstanden».  —  Das  ist  das  Agnihotrasein 
(das  Wesen)  des  Agnihotram.  Eine  Kuh  ist  das  Agnihotram.  Wer 
solches  weifs,  dafs  das  Agnihotram  eine  Kuh  ist,  der  macht  für 
seinen  Einhauch  und  Aushauch  den  Agni  gedeihen.  Nicht  unge- 
deihend  ist  an  Einhaucb  und  Aushauch,  wer  solches  weifs.  —  Zu 
den  beiden  sprach  Väyu:  «lafst  mich  teilnehmen!»  —  Sie  sprachen: 
«was  [von  der  Milch],  wenn  man  sie  auf  dem  Gärhapatyafeuer 
aufgesetzt  hat,  zu  dem  Ahavaniyafeuer  hinläuft  (lies:  abhyuddrtivat), 
damit  erfreut  man  dich».  —  Darum,  wenn  man  sie  auf  dem  Gär- 
hapatyafeuer aufgesetzt  hat,  so  läuft  sie  zu  dem  Ahavaniyafeuer 
hin;  damit  erfreut  man  den  Väyu.  —  Prajäpati  also,  da  er  die 
Götter  schuf,  hat  den  Agni  als  erste  der  Gottheiten  geschaffen. 
Dieser,  da  er  kein  anderes  Opfertier  zum  Schlachten  fand ,  kehrte 
sich  gegen  den  Prajäpati.  Der  fürchtete  sich  vor  dem  Tode. 
Darum  schuf  er  aus  seinem  Selbst  (Leibe)  jene  Sonne.  Die 
opferte  jener  und  liefs  von  ihm  ab.  So  wehrte  Prajäpati  den  Tod 
ab.  —  Der  wehrt  den  Tod  ab,    wer    solches    weifs.     Darum   auch, 


186  III.    Geschichte  des  Prajapati. 

wenn  sie  für  einen,  der  solches  weifs,  sei  es  einen  Tag,  sei  es  zwei 
Tage,  nicht  opfern,  so  ist  von  ihm  doch  geopfert;  denn  jene  Sonne 
ist  sein  Agnihotram." 

Taittiriya-brahmanam  2,2 ,7. 
„Prajapati  schuf  die  Geschöpfe;  diese,  nachdem  sie  geschaffen, 
klumpten  zusammen.  Da  ging  er  in  sie  ein  mit  der  Gestalt  (rnpam); 
darum  sagt  man:  fürwahr,  Prajapati  ist  die  Gestalt.  Da  ging  er 
in  sie  ein  mit  dem  Namen  (tmman);  darum  sagt  man:  fürwahr, 
Prajapati  ist  der  Name.  [Vgl.  das  spätere  nämarüpam,  Erschei- 
nungswelt.] Darum  auch  zwei  Feinde,  die  zusammentreffen,  wenn 
sie  sich  mit  dem  Namen  anrufen,  so  werden  sie  Freunde  [sie  erinnern 
sich,  dafs  sie  gleichen  Wesens,  dafs  sie  beide  Menschen  sind].  — 
Prajapati  hatte  die  Götter  und  Dämonen  erschaffen;  den  Indra 
aber  hatte  er  noch  nicht  erschaffen.  Da  sprachen  die  Götter  zu 
ihm:  «schaffe  uns  den  Indra!»  Da  erschaute  er  in  seinem  Selbst 
(Leibe)  den  Indra.  Den  schuf  er,  und  in  den  ging  die  Trishtubh 
als  Tapferkeit  ein,  und  der  fünfzehnspitzige  Donnerkeil  kam  in 
seine  Hand;  mit  diesem  bewaffnet  streckte  er  sie  aus  und  über- 
wältigte die  Dämonen.  Wer  solches  weifs,  der  überwältigt  seine 
Nebenbuhler.  Die  Götter,  nachdem  sie  [im  Kampfe]  mit  den 
Dämonen  gesiegt  hatten,  gingen  ein  in  die  Himmelswelt.  Aber 
sie  litten  Hunger  in  jener  Welt  und  sprachen:  «von  dort  her 
kommt  die  Opfergabe;  wie  (als  welche)  sollen  wir  [ohne  sie  hier] 
leben!»  Da  schufen  sie  das  Opfer  mit  sieben  Priestern  und  sandten 
den  Ayäsya  Angirasa  aus,  damit  er  es  dort  unten  für  sie  ein- 
richtete. Fürwahr,  dieses  hier  ist  seine  Einrichtung.  Alles  was 
in  der  Welt  ist,  wer  solches  weifs,  dem  fällt  es  zu.  Dieses,  für- 
wahr, ist  unter  den  Menschen  das  Opfer  mit  sieben  Priestern;  und 
den  Göttern,  welche  in  jener  Welt  sind,  führt  es  die  Opfergabe 
zu.  Wer  solches  weifs,  dem  neigt  das  Opfer  sich  zu.  Er  aber 
[Ayäspct]  erwog:  «gewifs  werden  die  Menschen  nun  sich  aus  dieser 
Welt  nach  jener  Welt  hinsehnen».  Da  sprach  er  den  Spruch : 
Väcaspate,  hricl(vidhe  näman),  «o,  Redeherr,  Herz(-ordnender  ge- 
nannt», anders  Maitr.  Käth.).  Darum  ist  der  Sohn  das  Herz. 
Darum  sehnen  sie  sich  nicht  aus  dieser  Welt  nach  jener  Welt  hin. 
Denn  der  Sohn  ist  das  Herz"  [Polemik  der  Brähmana's  gegen  die 
aufkommende  Weltfluchtlehre  der  Upanishad's]. 

Qatapatha  -  brdhmanam ,  2,2,4. 

„Prajapati  war  diese  Welt  zu  Anfang  nur  allein;   der  erwog: 
«wie   kann   ich   mich    fortpflanzen?»    Er   mühte    sich    ab,    er   übte 


1.  Frajäpati  als  Schöpfer,  Qatap.  Br.  2,2,4.  187 

Tapas;  da  erzeugte  er  aus  seinem  Munde  Agni  (das  Feuer);  weil 
er  ihn  aus  seinem  Munde  erzeugte,  darum  ist  Agni  Speiseverzehrer. 
Wer  also  diesen  Agni  als  Speiseverzehrer  weifs,  der  wird  selbst 
ein  Speiseverzehrer."  -Es  folgt  eine  etymologische  Erklärung  des 
"Wortes  agni.  —  „Prajäpati  erwog:  «als  Speiseverzehrer  habe  ich 
diesen  Agni  aus  mir  erzeugt;  aber  es  ist  hier  nichts  andres  aufser 
mir  vorhanden,  was  er  essen  könnte  [na  pleonastisch] » ;  denn  die 
Erde  war  damals  ganz  kahl  beschaffen;  es  gab  keine  Kräuter  und 
keine  Bäume;  das  war  ihm  in  Gedanken.  Da  kehrte  sich  Agni 
mit  aufgerissenem  Rachen  gegen  ihn.  Von  ihm,  da  er  sich  fürchtete, 
entwich  die  ihm  eigene  Gröfse;  die  Rede  (väc)  nämlich  ist  an  ihm 
die  ihm  eigene  Gröfse;  die  Rede  also  entwich  von  ihm."  (Er- 
klärung ,  warum  die  Handflächen  ohne  Haare  sind.  Etymologie 
von  osliadM  Pflanze;  sodann  von  dem  Opferrufe  scähä:)  „Da  sprach 
zu  ihm  die  ihm  eigene  Gröfse:  «opfere!»  und  Prajäpati  erkannte: 
«die  mir  eigene  (sva)  Gröfse  hat  zu  mir  gesprochen  (äha)y>;  und 
er  opferte  mit  dem  Rufe  svähä;  darum  wird  mit  dem  Rufe  svähä 
geopfert.  Darauf  stieg  Er  empor,  der  dort  glüht  (die  Sonne); 
darauf  erhob  sich  Er,  der  hier  läutert  (der  Wind).  Da  wandte 
sich  Agni  von  Prajäpati  weg.  So  hat  also  Prajäpati  dadurch,  dafs 
er  opferte,  sich  fortgepflanzt  und  zugleich  vor  dem  Tode,  der  als 
Agni  ihn  fressen  wollte,  sich  selbst  gerettet;  wer  das  Agnihotram 
opfert,  indem  er  es  also  weifs  [nämlich  als  Agni-ho-tram,  „Rettung 
vor  dem  Feuer  durch  Opfern"],  der  pflanzt  sich  mit  derselben 
Nachkommenschaft  fort,  mit  der  Prajäpati  sich  fortpflanzte,  und 
rettet  ebenso  wie  er  sich  selbst  vor  dem  Tode,  wenn  er  als  Agni 
ihn  fressen  will.  Wenn  nun  einer  stirbt,  und  wenn  sie  ihn  auf 
das  Feuer  legen,  dann  wird  er  aus  dem  Feuer  wieder  geboren; 
denn  nur  seinen  Leib  verbrennt  das  Feuer,  aber  wie  man  von 
einem  Vater  oder  einer  Mutter  geboren  wird,  also  wird  er  aus  dem 
Feuer  wieder  geboren;  aber  durchaus  nicht  wieder  ersteht*,  wer 
das  Agnihotram  nicht  opfert;  darum  ist  das  Agnihotram  zu  opfern." 
[Weiter  von  der  Entstehung  der  Kuh  und  dem  Streit  um  ihre 
Milch,   ähnlich  wie  Taitt..  Br.   2,1,6,   oben  S.  185.] 

Qatapatha  -  brähmanam  2,5, 1, 1. 

„Prajäpati  war  diese  Welt  zu  Anfang  nur  allein.     Er  erwog: 
«wie   kann   ich   mich   fortpflanzen?»     Er   mühte    sich   ab,    er   übte 


*  Hier  ist  noch  keine  Seelenwanderung,  wohl  aber  ein  erster  Ansatz 
zu  dieser  Lehre. 


188  HI-    Geschichte  des  Prajäpati. 

Tapas,  da  schuf  er  Geschöpfe.  Diese  Geschöpfe,  die  er  geschaffen, 
gingen  zu  Grunde;  es  waren  so  Vögel;  nämlich  der  Mensch  steht 
dem  Prajäpati  am  nächsten,  der  Mensch  aber  ist  zweifüfsig,  darum 
sind  die  Vögel  zweifüfsig.  Da  erwog  Prajäpati:  «so  wie  ich  vor- 
her allein  war,  so  bin  ich  auch  jetzt  noch  allein)).  Und  er  schuf 
abermals  Geschöpfe;  und  auch  die  gingen  ihm  zu  Grunde;  es  war 
so  kleines  Kriechzeug,  ohne  die  Schlangen.  Und  er  schuf  zum 
drittenmal  Geschöpfe,  so  sagen  sie;  und  auch  die  gingen  ihm 
zu  Grunde;  es  waren  so  Schlangen.  Diese  [erstgeschaffenen]  hat 
allerdings  Yäjnavalkya  für  zweifach  erklärt,  für  dreifach  hingegen 
erklärt  sie  [der  Rishi]  durch  einen  Vers  [Rigv.  8,101,14,  s.  u.]. 
Prajäpati,  lobsingend  und  sich  abmühend,  erwog:  «wie  kommt  es, 
dafs  mir  diese  Geschöpfe,  nachdem  sie  geschaffen,  zu  Grunde 
gehen?»  Da  erkannte  er  dieses:  «weil  sie  nichts  zu  essen  haben, 
gehen  die  Geschöpfe  mir  zu  Grunde».  Da  liefs  er  aus  sich  zuvor 
in  den  Brüsten  Milch  quellen;  und  dann  schuf  er  Geschöpfe;  diese 
Geschöpfe,  nachdem  er  sie  geschaffen,  indem  sie  zu  seinen  Brüsten 
gelangten,  so  blieben  dieselben  weiterhin  bestehen,  und  diese 
gingen  nicht  zu  Grunde.  Darum  ist  dieses  von  dem  Rishi  (Rigv. 
8,101,14)  gesprochen  worden:  «Vorüber  gingen  dreimal  die  Ge- 
schöpfe», nämlich  die,  welche  zu  Grunde  gingen,  von  denen  ist 
dieses  gesagt;  «doch  andre  lagerten  rings  um  den  Glanz  sich»; 
nämlich  der  Glanz  ist  Agni,  und  jene  Geschöpfe,  welche  nicht 
wieder  zu  Grunde  gingen,  die  lagerten  sich  rings  um  den  Agni, 
auf  sie  bezieht  sich  dieses;  « grofsmächtig  stand  er  in  der  Wesen 
Mitte»,  dies  bezieht  sich  auf  Prajäpati ;  «ein  ging  er,  der  da  läutert, 
in  die  Falben»;  die  Falben  sind  die  Himmelsgegenden;  in  sie  ging 
er,  der  da  läutert,  nämlich  der  Wind,  ein.  Von  ihnen  also  ist 
dieser  Vers  gesprochen  worden.  Und  nun  werden  die  Geschöpfe 
hier  in  derselben  Weise  geboren,  wie  Prajäpati  sie  geschaffen  hat. 
Denn  so  ist  es:  wenn  einem  Weibe  die  Brüste  schwellen  oder  den 
Tieren  das  Euter,  dann  wird  geboren,  was  geboren  wird;  und  in- 
dem sie  sodann  an  die  Brüste  gelangen,  bleiben  sie  bestehen. 
Darum  ist  die  Nahrung  die  Milch;  denn  diese  hat  zu  Anfang 
Prajäpati  als  Nahrung  hervorgebracht;  und  darum  sind  die  Ge- 
schöpfe Nahrung,  denn  durch  Nahrung  bestehen  sie;  nämlich  bei 
denen,  welche  Milch  haben,  gelangen  sie  an  die  Brüste,  und  davon 
bestehen  sie;  die  aber,  welche  keine  Milch  haben,  die  ätzen  die 
Gebornen,  darum  bestehen  dieselben  aus  Nahrung,  darum  sind  die 
Geschöpfe  Nahrung." 


1.  Prajäpati  als  Schöpfer,  Qatap.  Br.  7,5,2,6.  189 

Qatapatha  -  brähmanam  7,5,2}6  fg. 

„Prajäpati  war  diese  Welt  zu  Anfang  nur  allein.  Er  be- 
gehrte: «ich  will  Nahrung  schaffen,  will  mich  fortpflanzen».  Da 
schuf  er  aus  seinen  Lebenshauchen  die  Tiere,  nämlich  aus  dem 
Manas  den  Menschen,  aus  dem  Auge  das  Pferd,  aus  dem  Odem 
die  Kuh,  aus  dem  Ohre  das  Schaf,  aus  der  Rede  die  Ziege.  Weil 
er  sie  aus  den  Lebenshauchen  geschaffen  hat,  darum  sagt  man: 
die  Tiere  sind  die  Lebenshauche.  Das  Manas  nun  ist  der  erste 
unter  den  Lebenshauchen.  Weil  er  aus  dem  Manas  den  Menschen 
geschaffen  hat,  darum  sagt  man,  der  Mensch  ist  das  erste  unter 
den  Tieren,  nämlich  das  stärkste;  ja,  alle  Lebenshauche  sind  Manas, 
denn  in  dem  Manas  sind  alle  Lebenshauche  gegründet.  Weil  er 
aus  dem  Manas  den  Menschen  gebildet  hat,  darum  sagt  man :  alle 
Tiere  sind  der  Mensch;   denn  dem  Menschen  gehören  sie  alle  an." 

Qatapatha -brähmanam  11,5, 8,  t  fg. 

„Prajäpati  war  diese  Welt  zu  Anfang  nur  allein.  Er  begehrte: 
«ich  will  [vieles]  sein,  will  mich  fortpflanzen».  Er  mühte  sich  ab, 
er  übte  Tapas.  Aus  ihm,  da  er  sich  abmühte  und  Tapas  übte, 
wurden  die  drei  Welten  geschaffen,  die  Erde,  der  Luftraum  und 
der  Himmel.  Er  bebrütete  diese  drei  Welten.  Aus  ihnen,  da  er 
sie  bebrütete ,  •  entstanden  die  drei  Lichter,  nämlich  Agni,  der  da 
reinigt,  und  die  Sonne";  u.  s.w.   wie  Ait.  Br.  5,32,   oben  S.  183. 


Diese  Proben  aus  den  drei  altern  Veden  mögen  genügen, 
um  eine  Anschauung  zu  geben  über  die  Art,  wie  die  Schöpfung 
der  Welt  durch  Prajäpati  von  den  Brähmana's  nicht  sowohl 
gelehrt,  als  vielmehr  vorausgesetzt  und  ihren  liturgischen  Inter- 
essen gemäfs  verwertet  wird.  Im  Atharvaveda  erscheint  der 
Standpunkt  der  Weltschöpfung  durch  Prajäpati  bereits  als 
veraltet,  und  die  Samhitä  wie  das  Brähmanam  erwähnen  (von 
einzelnen  mythologischen  Floskeln  abgesehen,  die  für  sich 
nichts  bedeuten)  den  Prajäpati  nur,  um  ihn  umzudeuten  oder  auf 
ein  anderes  Princip  zurückzuführen;  so  Atharvav.  10,7  und  10,8 
auf  den  Skambha,  11,4  auf  den  Präna,  11,5  auf  den  Brah- 
macärin,  11,7  auf  den  Ucclnshta  (masc),  19,53  auf  den  Kala, 
von  denen  später  zu  handeln  sein  wird.  Eine  förmliche  Ab- 
setzung des  Prajäpati  kann  man  darin  finden,  dafs  Atharvav.  4,2 


190  III.    Geschichte  des  Prajäpati. 

sein  Hymnus  Rigv.  10,121  wiederholt  wird  mit  Auslassung  des 
letzten  Verses,  in  dem  allein  sein  Name  vorkommt,  und  hierzu 
stimmt,  dafs  das  zum  Atharvaveda  gehörige  Gopathabrähmanam 
in  dem  nicht  mehr  von  Prajäpati,  sondern  von  dem  Brahman 
(neutr.)  ausgehenden  Schöpfungsmythus  1,1  den  Atharvan  für 
Prajäpati  erklärt:  „Zu  diesem  Atharvan  sprach  Brahman:  «o 
Herr  der  Geschöpfe  (Prajapate,  so  zu  lesen),  schaffe  Geschöpfe 
und  behüte  sie!»  Weil  er  sprach:  «o  Herr  der  Geschöpfe, 
schaffe  Geschöpfe  und  behüte  sie»,  darum  ward  er  (Atharvan) 
zu  Prajäpati:  dies  ist  das  Prajäpatisein  des  Prajäpati;  für- 
wahr, der  Atharvan  ist  Prajäpati.  Der  glänzt  wie  ein  Prajäpati 
in  allen  Welten,  der  solches  weifs."  —  Diese  Erscheinungen 
weisen  darauf  hin,  dafs  die  Atharvasamhitä  ihrem  Haupt- 
bestande  nach  jünger  als  die  ältesten  Teile  der  Brähmana's  ist. 
Ehe  wir  Prajäpati  als  Weltschöpfer  verlassen,  müssen  wir 
noch  der  wunderlichen,  oft  vorkommenden  Vorstellung  seiner 
durch  das  Weltschaffen  bewirkten  Erschöpfung  gedenken. 
Wie  er,  um  die  Welt  zu  schaffen,  sich  anstrengt  und  Tapas 
übt,  so  ist  er  nach  der  Weltschöpfung  „aufser  Atem"  (atamyat, 
Pancav.  Br.  10,2,1),  „fühlt  sich  ausgemolken,  ausgeleert"  (dug- 
dho  riricdno  'manyata,  Pancav.  Br.  9,6,7.  Qatap.  Br.  3,9,1,2)  und 
„mager"  (rüksha,  Pancav.  Br.  24,13,2);  seine  Glieder  lösen  sich 
auf  (Qatap.  Br.  1,6,3,35.  4,6,4,1.  10,1,1,1 — 3),  die  Lebensodem 
entweichen  aus  ihm  (Qatap.  Br.  8,1,1,3),  sein  Leib  schwillt  an 
(Qatap.  Br.  13,4,4,6),  —  worauf  dann  die  Sache  in  der  Regel  auf 
die  Empfehlung  irgend  eines  Opfergebrauches  hinausläuft,  durch 
den  Prajäpati  sich  wieder  gestärkt  haben  soll,  oder  durch  den 
ihm  die  Menschen  wieder  aufhelfen;  so  Pancav.  Br.  21,4,2:  „Das 
Auge  des  Prajäpati  schwoll  (agvayat),  es  fiel  heraus,  es  ward 
ein  Rofs  (agva);  das  ist  die  Rofsheit  des  Rosses;  die  Götter 
setzten  durch  ein  Rofsopfer  sein  Auge  wieder  ein.  Fürwahr, 
der  macht  den  Prajäpati  wieder  ganz,  welcher  das  Rofsopfer 
darbringt."  —  Aber  diesem  Mythus  dürfen  wir  vielleicht  doch 
eine  tiefere  Bedeutung  zuschreiben,  wenn  wir  lesen  (z.  B. 
Qatap.  Br.  10,1,1,1 — 3),  dafs  Prajäpati  das  Jahr  (wovon  Weiteres 
später),  und  dafs  seine  zerfallenden  Glieder  die  Tage  und 
Nächte  des  Jahres  seien.  Das  Jahr  ist,  hier  wie  oft,  die  Zeit 
als   die    allgemeine   Form    des  Weltlebens.     Die   Einheit    des 


Die  Erschöpfung  des  Schöpfers.  191 

schöpferischen  Princips  ist  in  die  Vielheit  der  Welterscheinungen 
zerfallen,  und  auf  dem  Wege  der  religiösen  Andacht  (Opfer 
u.  s.  w.)  erheben  wir  uns  von  dieser  Vielheit  zur  ewigen  Ein- 
heit und  stellen  sie  wieder  her.  Hieran  schliefst  sich  der 
Gedanke,  dafs,  wie  später  das  Brahman  (Taitt.  Up.  2,6.  Brih. 
Up.  2,3),  so  auch  schon  Prajäpati  zwei  Seiten  hat,  die  eine 
als  Welt,  die  andere  an  sich,  welche  daher  unfafsbar  und  un- 
aussprechlich ist,  Catap.  Br.  14,1,2,18:  „Fürwahr,  dieses  Opfer 
ist  Prajäpati;  denn  Prajäpati  ist  beides,  ausgesprochen  und 
unausgesprochen,  ermessen  und  unermessen.  Darum,  was  der 
Priester  mit  dem  Opferspruche  vollbringt,  damit  weiht  er,  was 
an  jenem  die  ausgesprochene  und  ermessene  Form  ist;  und 
was  er  schweigend  vollbringt,  damit  weiht  er,  was  an  jenem 
die  unausgesprochene,  unermessene  Form  ist." 

2.    Prajäpati  als  Erhalter  und  Eegierer. 

Der  indische  Schöpfungsbegriff  unterscheidet  sich  von  dem 
im  Abendlande  üblichen  unter  anderm  dadurch,  dafs  Gott  (wie 
schon  Rigv.  1,90.  121.  129)  nicht  sowohl  eine  Welt  aufser  sich 
setzt,  als  vielmehr  sich  selbst  ganz  oder  teilweise  (d.  h.  un- 
beschadet seines  selbständigen  Fortbestehens)  in  die  Natur 
und  ihre  Erscheinungen  umwandelt.  Dies  gilt,  trotz  seiner 
persönlichen  Fassung,  auch  schon  von  Prajäpati,  von  dem  es 
z.  B.  heifst  (Väj.  Samh.  8,36): 

Er,  über  dem  nichts  Höh'res  ist  vorhanden, 
Der  eingegangen  in  die  Wesen  alle, 
Prajäpati,  mit  Kindern  sich  beschenkend, 
Durchdringt  die  drei  Weltlichter  sechzehnteilig. 

Die  drei  Weltlichter  sind  Agni,  Väyu  und  Sürya,  welche  in 
der  Brähmanazeit  die  drei  Regenten  der  Erde,  des  Luftraums 
und  des  Himmels  sind;  sechzehnteilig  durchdringt  sie  Prajä- 
pati als  die  Einheit  des  sechzehnteiligen  psychischen  Organs; 
nach  andern  Stellen  ist  er  das  über  die  Körperteile  hinaus 
als  siebzehntes  bestehende  Lebensprincip  (Catap.  Br.  10,4,1,16).' 
„Er  hat  die  Kreaturen,  nachdem  er  sie  erschaffen,  mit  Liebe 
durchdrungen"  (Taitt.  Samh.  5,5,2,1),  wie  er  denn  noch  in 
späterer   Zeit    speciell    derjenige    ist,    welcher    den    Keim    im 


192  HI.    Geschichte  des  Prajäpati. 

Mutterleibe  ausbildet  (Väj.  Samh.  31,19.  £atap.  Br.  14,9,4,20). 
Er  hat  alles  erschaffen,  was  vorhanden  ist  (Catap.  Br.  6,1,2,11), 
er  hat  die  Götter  aus  seinem  Selbst  geformt  (atmano  nira- 
■mimtta,  Taitt.  Br.  1,7,1,5);  aber  neben  den  unsterblichen  Göt- 
tern sind  auch  die  sterblichen  Menschen  aus  ihm  entsprungen; 
„von  diesem  Prajäpati  ward  die  Hälfte  sterblich,  die  Hälfte 
unsterblich;  das  was  an  ihm  sterblich  war,  damit  fürchtete  er 
sich  vor  dem  Tode",  den  er  vorher  selbst  als  den  Fresser 
erschaffen  hat  (Catap.  Br.  10,1,3,1).  Als  dritte  aufser  Göttern 
und  Menschen  (Catap.  Br.  14,8,2,1)  hat  er  die  Asura's,  d.  h.  die 
Dämonen  erschaffen;  ihr  Name  „der  Lebendige"  bedeutet  im 
Rigveda  noch  den  Gott,  erst  in  einigen  spätem  Hymnen  den 
Dämon;  in  den  Brähmana's  ist  viel  von  den  Asura's  die  Rede, 
und  ihr  Wettstreit  mit  den  Göttern,  aus  dem  diese  als  Sieger 
hervorgehen,  ist  eines  der  beliebtesten  Themata.  Ihre  Bösheit 
scheint  ihnen  ursprünglich  von  Prajäpati  anerschaffen  zu  sein, 
und  eine  merkwürdige  Stelle  erzählt,  wie  Prajäpati  den  Göttern, 
Vätern  (Manen),  Menschen  und  Dämonen  ihre  Bestimmung 
zuteilt,  in  folgender  Weise: 

Qatapatha-brähmanam  2,4,2, 1—6. 

„Zu  Prajäpati  nahten  sich  die  Wesen,  denn  [seine]  Geschöpfe 
sind  die  Wesen,  und  sprachen:  «Verordne  uns,  wie  wir  leben 
sollen!»  Da  geschah  es,  dafs  [zuerst]  die  Götter,  mit  der  Opfer- 
schnur bekleidet  und  das  rechte  Knie  beugend,  sich  ihm  nahten. 
Zu  denen  sprach  er:  «Das  Opfer  sei  eure  Speise,  eure  Unsterblichkeit 
sei  eure  Lebenskraft,  die  Sonne  sei  euer  Licht!»  —  Da  geschah  es, 
dafs  die  Väter,  mit  der  Opferschnur  über  der  rechten  Schulter  [wie 
sie  beim  Manenopfer  getragen  wird]  und  das  linke  Knie  beugend,  sich 
ihm  nahten.  Zu  denen  sprach  er:  «Monatlich  sei  euer  Essen,  euer 
Labetrank  sei  eure  Gedankenschnelle,  der  Mond  sei  euer  Licht!»  — 
Da  geschah  es,  dafs  die  Menschen,  bekleidet  und  einen  Schofs  machend 
[mit  beiden  Knien  einknickend]  sich  ihm  nahten.  Zu  denen  sprach 
er:  «Abends  und  morgens  sei  euer  Essen,  eure  Nachkommenschaft 
sei  euer  Tod  [ihr  sollt  in  euren  Nachkommen  fortleben],  das  Feuer 
sei  euer  Licht!»  —  Da  geschah  es,  dafs  die  Tiere  sich  ihm  nahten. 
Denen  liefs  er  freie  Wahl  und  sprach:  «Wann  irgend  ihr  etwas  finden 
mögt,  sei  es  zur  Zeit,  sei  es  zur  Unzeit,  dann  mögt  ihr  essen!» 
Daher  kommt  es,  dafs   diese,  wann  irgend  sie  etwas  finden,  sei  es 


2.  Prajäpati  als  Erhalter  und  Regierer,  £atap.  Br.  2,4,2,1—6.     193 

zur  Zeit,  sei  es  zur  Unzeit,  so  essen  sie  es.  —  Da  geschah  es,  so 
sagen  sie,  dafs  sich  ihm  sogar  (gacvat)  die  Dämonen  nahten.  Denen 
verlieh  er  Finsternis  (tamas)  und  bösen  Zauber  (mäyä);  denn 
freilich  giebt  es  so  etwas,  was  man  dämonischen  Zauber  nennt. 
Und  freilich  sind  jene  Geschöpfe  umgekommen;  aber  diese  Ge- 
schöpfe hier  leben  so,  wie  es  jenen  Prajäpati  verordnet  hat.  Die 
Götter  übertreten  sein  Gebot  nicht,  noch  auch  die  Väter,  noch 
auch  die  Tiere;  die  Menschen  sind  die  einzigen,  welche  es  über- 
treten. Darum  wenn  ein  Mensch  sich  mästet,  das  ist  nicht  schön, 
dafs  er  sich  mästet;  denn  er  watschelt  und  ist  nicht  im  stände  zu 
gehen;  denn  er  hat  Unrecht  gethan,  dafs  er  sich  mästete.  Darum 
soll  man  nur  abends  und  morgens  essen.  Wer  solches  wissend 
abends  und  morgens  ifst,  der  kommt  zu  vollem  Alter,  und  alles 
was  er  durch  die  Rede  äufsert,  das  trifft  zu;  denn  er  beobachtet 
die  Wahrheit  des  Gottes  [Prajäpati];  und  das  ist  es,  was  man  den 
brahmanischen  Glanz  nennt,  dafs  einer  der  Satzung  desselben 
nachzuleben  vermag." 

Nach  dieser  Stelle  scheint  den  Dämonen  die  Finsternis 
(tamas)  als  ihr  Gebiet,  die  arglistige  Zauberkunst  (mäyä)  als 
ihre  natürliche  Thätigkeit  anerschaffen  zu  sein,  und  eben  darauf 
läuft  es  hinaus,  wenn  an  andern  Stellen  z.  B.  als  das  vom 
Vater  Prajäpati  erhaltene  Erbe  der  Götter  und  Dämonen  die 
helle  und  die  dunkle  Monatshälfte  bezeichnet  wird  (Qatap. 
Br.  1,7,2,22),  oder  wenn  Prajäpati  (Catap.  Br.  11,1,6,7)  die 
Götter  aus  dem  Hauche  seines  Mundes  und  die  Dämonen  aus 
dem  entgegengesetzten  avdn  pränah  schafft,  wobei  es  ihm 
dunkel  wird,  und  er  begreift:  „gewifs  habe  ich  ein  Übel  er- 
schaffen, da  es  mir  beim  Schaffen  dunkel  wurde"-.  —  Wir  be- 
finden uns  eben  in  einer  Periode,  wo  der  Menschheit  die 
grofse  Frage:  ttg^sv  tö  xaxov,  noch  nicht  aufgegangen  war.  — 
Sind  nun  so  auch  alle  Wesen,  Götter,  Menschen  und  Dämonen, 
von  Prajäpati  erschaffen,  so  ist  er  doch  speciell  der  Vater  und 
Helfer  der  Götter;  er  ist  zu  den  dreiunddreifsig  Göttern  der 
vierunddreifsigste  (Qatap.  Br.  5,1,2,13)  und  thront  über  den 
drei  Welten,  Erde,  Luftraum  und  Himmel,  als  der  vierte 
(Catap.  Br.  4,6,1,4).  [In  späterer  Zeit,  wo  er  seinen  Platz  an 
das  Brahman  hat  abtreten  müssen,  befindet  sich  seine  Welt 
(loka)  zwischen  Brahmaloka  und  Gandharvaloka  (Catap.  Br. 
14,6,6,1).]     Er  ist  der  Hausherr  (grihapati)  der  Götter  (Ait. 

Detjssen,  Geschichte  der  Philosophie.   I.  13 


194  III.    Geschichte  des  Prajäpati. 

Br.  5,25),  die  oftmals  in  ihren  Nöten,  z.  B.  wenn  sie  von  den 
Dämonen  bedrängt  werden  (Pancav.  Br.  18,1,2),  oder  wenn  sie 
sich  vor  dem  Tode  fürchten  (Pancav.  Br.  22,12,1),  sich  an 
Prajäpati  wenden,  der  ihnen  dann  in  der  Regel  durch  Mit- 
teilung eines  rituellen  Spruches  oder  Gebrauches,  der  gerade 
empfohlen  werden  soll,  zu  helfen  pflegt,  übrigens  aber,  wie 
ein  Vater  seinen  Söhnen,  sich  den  Göttern  hilfreich  erweist, 
ohne  von  ihnen  einen  Gegenlohn  zu  fordern  (Catap.  Br.  8,4,1,4). 
Speciell  unterstützt  er,  durch  Mitteilung  gewisser  Sprüche,  den 
Indra  in  seinem  Kampfe  gegen  die  Dämonen  (Pancav.  Br. 
12,13,4  u.  ö.);  ihm  hat  er  die  Siegessprüche  (jaya)  verliehen 
(Taitt.  Sarnh.  3,4,4,1),  ihm  auch  die  Krone  (sraj)  als  Symbol 
seiner  Herrschaft  über  die  Götter  gereicht  (Pancav.  Br.  16,4,3). 
Aber  auch  den  Agni  nimmt  er  „als  seinen  lieben  Sohn" 
an  die  Brust  (Catap.  Br.  9,2,3,50),  und  die  Ribhu's  haben 
„seine  Liebe  gewonnen"  (Cänkh.  Br.  16,1).  Bei  Streitigkeiten 
zwischen  den  Göttern  entscheidet  er;  so  zwischen  Indra  und 
Väyu  (Catap.  Br.  4,1,3,14)  und  zwischen  Agni,  Väyu  und 
Äditya  (Taitt.  Br.  2,1,6,  oben  S.  185);  so  auch  in  dem  Rang- 
streite zwischen  Monas  (Verstand)  und  Väc  (Rede),  den  wir 
aus  Qatap.  Br.  1,4,5,8 — 11  hier  übersetzen: 

„Es  geschah  einmal,  dafs  der  Verstand  und  die  Rede  sich  um 
den  Vorrang  stritten.  Der  Verstand  sprach:  «Ich  bin  besser  als 
du;  denn  du  sprichst  nichts,  was  ich  nicht  vorher  erkannt  hätte. 
Dieweil  du  nun  so  nachmachst,  was  ich  thue,  und  in  meinem  Geleise 
läufst,  so  bin  ich  besser  als  du».  Da  sprach  die  Rede:  «Ich  bin 
besser  als  du;  denn  was  du  erkannt  hast,  das  thue  ich  kund,  das 
mache  ich  bekannt».  Sie  gingen  den  Prajäpati  um  Fragent- 
scheidung an.  Prajäpati  stimmte  dem  Verstände  bei  und  sprach: 
«Allerdings  ist  der  Verstand  besser  als  du;  denn  was  der  Verstand 
fhut,  das  machst  du  nach  und  läufst  in  seinem  Geleise;  es  pflegt 
aber  der  Schlechtere  nachzumachen,  was  der  Bessere  thut,  und  in 
seinem  Geleise  zu  laufen»." 

3*   Versuche,  den  Prajäpati  aus  einem  noch  höhern  Princip 
abzuleiten« 

Der  Prajäpatihymnus,  Rigv.  10,121,  lehrte,  wie  wir  sahen 
(oben  S.  128 — 133),  dafs  Prajäpati  auch  schon  die  Urwasser 
aus  sich  hervorbrachte,   um  dann  als  goldner  Keim  (liiranya- 


3.    Versuche,  den  Prajäpati  abzuleiten:  Äpas  —  Prajäpati.        195 

garbha)  selbst  in  ihnen  zu  entstehen.  Hiernach  ist  Prajäpati 
das  schlechthin  oberste  Princip,  und  in  diesem  Sinne  behandeln 
ihn  auch  die  bisher  mitgeteilten  Brähmanastellen.  Aber  schon 
in  jenem  Schöpfungshymnus  war  das  Hervorgehen  der  Ur- 
wasser  aus  Prajäpati  nur  nebenbei  erwähnt,  und  im  übrigen 
die  Entstehung  des  Prajäpati  aus  den  Urwassern  so  sehr  in 
den  Vordergrund  gestellt  worden,  dafs  eine  zu  einem  mate- 
riellen Urprincip  hinneigende  Richtung  sehr  wohl  hieran  an- 
knüpfen konnte,  um  mit  allem  andern  auch  den  Prajäpati  aus 
den  Wassern  als  letztem  Princip  abzuleiten. 

Apas  —  Prajäpati. 

Dieses  Streben  zeigt  sich  schon  in  einigen  Stellen  der 
Taittiriya-samhitä.  So  in  dem  Schöpfungsmythus,  Taitt.  Samh. 
5,6,4,2: 

„Wasser  fürwahr  war  diese  Welt  zu  Anfang,  ein  Gewoge 
(salüam,  Rigv.  10,129,3);  Prajäpati  aber  als  Wind  (vgl.  änul  avä- 
tam,  Rigv.  10,129,2)  wiegte  sich  auf  einem  Lotosblatte;  er  fand 
keinen  Standort;  da  erblickte  er  dieses  Nestwerk  der  Wasser,  auf 
dem  schichtete  er  das  Feuer,  das  ward  zu  dieser  Erde;  da  stützte 
er  sich  darauf"  u.  s.  w. 

Ebenso   Taitt.  Samh.  7,1,5,1: 

„Wasser  fürwahr  war  diese  Welt  zu  Anfang,  ein  Gewoge;  auf 
diesem  fuhr  Prajäpati  als  Wind  dahin;  da  sah  er  diese  Erde;  die 
holte  er  als  Eber  [in  dem  Grunde  der  Wasser  wühlend]  herauf,  die 
rieb  er  als  Vicvakarman  (Rigv.  10,82,1  oben  S.  138),  dafs  sie  trocken 
wurde;  dadurch  ward  sie  breit,  ward  zur  Erde  (prithivi,  eigentlich 
„die  breite");  das  ist  der  Erde  Erdesein.  Dabei  mühte  sich  Prajä- 
pati ab;   da  schuf  er  die  Götter"  u.  s.  w. 

Deutlicher  tritt  das  Oppositionelle,  ja  Polemische  dieses 
Standpunktes  hervor,  wo  den  weltschaffenden  Wassern  die- 
selben asketischen  Bemühungen  zugeschrieben  werden  wie 
früher  dem  Prajäpati,  wiewohl  sie  nur  bei  diesem,  als  einem 
persönlichen  Wesen,  einigen  Sinn  haben.    So  Qaiap.  Br.  11,1,6,1: 

„Wasser  fürwahr  war  diese  Welt  zu  Anfang,  ein  Gewoge. 
Diese  Wasser  begehrten:  «wie  könnten  wir  uns  wohl  fortpflanzen?» 
Sie  mühten  sich  ab,  sie  übten  Tapas.  In  ihnen,  da  sie  Tapas 
übten,  entstand  ein  goldnes  Ei.  Nämlich  das  Jahr  [die  Zeit]  war 
damals    noch    nicht    entstanden.      Dieses    goldene   Ei,    solange    die 

13* 


196  III.    Geschichte  des  Prajäpati. 

Dauer  eines  Jahres  ist,  solange  schwamm  es  umher.  Darauf  wäh- 
rend des  Jahres  entstand  [in  dem  Ei]  ein  Mann  (purusha),  der  ist 
Prajäpati.  Daher  auch  erst  in  einem  Jahre  eine  Frau  oder  Kuli 
oder  Stute  gebiert,  denn  in  einem  Jahre  wurde  Prajäpati  geboren. 
Da  zerbrach  er  jenes  goldene  Ei ,  nämlich  damals  gab  es  noch 
keinen  Standort;  daher  jenes  goldene  Ei,  solange  wie  die  Dauer 
eines  Jahres  ist,  ihn  tragend  umherschwamm.  Nach  einem  Jahr 
verlangte  er  zu  sprechen,  und  er  sprach:  bhür,  da  ward  die  Erde; 
bhuvar,  da  ward  der  Luftraum;  svar,  da  ward  der  Himmel.  Darum 
auch  ein  Knabe  nach  einem  Jahre  zu  sprechen  verlangt,  denn  nach 
einem  Jahre  hat  Prajäpati  gesprochen." 

Dasselbe  Motiv  wird  in  charakteristischer  Weise  in  der 
zugehörigen  Upanishad  variiert,   Qatap.  Br.  14,8,6,1: 

„Wasser  nur  war  diese  Welt  zu  Anfang;  diese  Wasser  schufen 
die  Wahrheit,  die  Wahrheit  schuf  das  Brahman,  d.  i.  den  Prajäpati, 
Prajäpati  die  Götter." 

Hier  wird,  dem  Upaniskadstandpimkte  entsprechend,  das 
goldne  Ei  mit  der  Wahrheit,  Prajäpati  mit  Brahman  identi- 
fiziert. —  Gleichfalls  einem  viel  fortgeschrittenern  Standpunkte 
gehört  der  Schöpfungsmythus  im  Taittiriya- ärany  akam  1,23 
(p.  141 — 149)  an;  doch  schliefst  er  sich,  wenigstens  der  Form 
nach,  an  die  vorherigen  Stellen  an,  da  auch  er  aus  den 
Wassern  Prajäpati,  aus  Prajäpati  alles  andere  hervorgehen 
läfst;  daher  wir  ihn  hier  übersetzen  wollen,  um  so  mehr,  als 
er  eine  passende  Vorbereitung  auf  das  Folgende  bildet,  das 
er  vielfach  anticipiert  oder  vielmehr  voraussetzt,  seiner  spä- 
tem Stellung  in  einem  Aranyakam  entsprechend. 

Taittiriy  a  -  ärany  altani  1, 23. 

„Wasser  fürwahr  war  diese  Welt,  ein  Gewoge,  da  entstand 
Prajäpati  allein  auf  einem  Lotosblatte.  In  dessen  Geiste  (manas) 
ging  hervor  ein  Verlangen  (käma):  «ich  will  diese  Welt  schaffen!» 
Darum,  was  ein  Mann  mit  seinem  Geiste  erstrebt,  das  spricht  er 
aus  durch  die  Rede,  das  vollbringt  er  durch  die  That.  Darüber 
ist  dieser  Vers  [Rigv.  10,129,4;  eine  abweichende  Auffassung  oben 
S.  123  fg.]: 

«Da  ging  aus  ihm  zuerst  hervor  Verlangen, 
« Des  Geistes  erster  Samengufs  war  dieses.   — 
« Des  Daseins  Wurzelung  im  Nichtsein  fanden 
« Die  Weisen  forschend  in  des  Herzens   Triebe. » 


Äpas  —  Prajäpati,  Taitt.  Ar.  1,23.  197 

Dem  neigt  sich  zu,  wonach  er  Verlangen  trägt,  wer  solches  weifs !  — 
Er  (Prajäpati)  übte  Tapas;  nachdem  er  Tapas  geübt,  schüttelte  er 
seinen  Leib  von  sich  ab.  Was  das  Fleisch  war,  daraus  entstanden 
die  Arunaketu's,  die  windumgürteten  (vätaragana)  Eishi's;  aus  seinen 
Nägeln  (naMia)  die  Vaik7iänasa''s,  aus  seinen  Haaren  (väla)  die 
VälakMlya's;  und  was  sein  Saft  war,  der  blieb  im  Wasser;  aus 
dem  entstand  eine  Schildkröte;  zu  dieser,  da  sie  umherkroch, 
sprach  er:  «Du  bist  ja  doch  aus  meinem  Fleisch  entstanden!» 
(lies:  mama  vai  tvam  mänsät  samabhüh).  —  «0  nein»,  sprach  sie, 
« sondern  ich  war  schon  vorher  (pürvam)  hier! »  Daher  kommt 
der  Name  PurusJia.     Dieser  (Rigv.  10,90,1), 

«Der  Purusha  mit  tausendfachen  Häuptern, 
«Mit  tausendfachen  Augen,  tausend  Füfsen», 

entstand  und  erhob  sich.  Zu  ihm  sprach  er:  «Ja  wirklich,  du 
bist  vorher  gewesen ;  so  mache  als  Vorheriger  diese  Welt.»  [Prio- 
rität des  Purusha  vor  Prajäpati.]  Da  nahm  derselbe  von  hier  Wasser 
mit  den  [als  Zeichen  der  Verehrung]  zusammengehaltenen  hohlen 
Händen  und  schüttete  davon  nach  vorne  mit  den  Worten :  evä  lii 
eva  (Taitt.  Ar.  1,20,1.  1,25,3);  daraus  entstand  die  Sonne;  das 
war  die  östliche  Himmelsgegend.  Darauf  schüttete  Arunaketu  da- 
von nach  rechts  mit  den  Worten:  evä  lii  agne;  daraus  entstand 
das  Feuer;  das  war  die  südliche  Himmelsgegend.  Darauf  schüttete 
Arunaketu  davon  nach  hinten  mit  den  Worten:  evä  lii  väyo\  daraus 
entstand  der  Wind;  das  war  die  westliche  Himmelsgegend.  Darauf 
schüttete  Arunaketu  davon  nach  links  mit  den  Worten:  evä  M  indra; 
daraus  entstand  Indra;  das  war  die  nördliche  Himmelsgegend. 
Darauf  schüttete  Arunaketu  davon  in  die  Mitte  mit  den  Worten: 
evä  lii  püslian;  daraus  entstand  Püshan;  das  war  hier  diese  Himmels- 
gegend. Darauf  schüttete  Arunaketu  davon  nach  oben  mit  den 
Worten:  evä  lii  deväh;  daraus  entstanden  die  Götter,  Menschen, 
Väter,  Gandharva's  und  Apsaras';  das  war  die  Himmelsgegend  nach 
oben.  Die  Tropfen,  die  dabei  wegspritzten,  aus  denen  entstanden 
die  Dämonen,  Kobolde  und  Gespenster;  darum  gingen  diese  ver- 
loren, weil  sie  aus  den  Tropfen  entstanden  sind.  Darum  heifst  es 
(Rigv.  10,121,7,  verändert): 

«Als  ehemals  die  grofsen  Wasser  kamen, 

«Keimschwanger,  Dakslia  -  schwanger,  zeugend  den  Svayambliü, 

«Da  sind  aus  ihm  die  Schöpfungen  entstanden, 

«  Denn  aus  dem  Wasser  ist  dies  All  geworden. 

«  Darum  ist  dieses  All  Brahma  Svayambliu. » 


198  III.    Geschichte  des  Prajäpati. 

Darum  war  dieses  All  gleichsam  flüssig,  gleichsam  unfest.  Aber 
wahrlich,  diese  Welt  ist  Prajäpati;  sich  selbst  durch  sich  selbst 
bauend,  ging  er  in  dieselbe  ein.     Darum  heilst  es: 

«Die  Welten  bauend,  die  Wesen  bauend,   . 

«Die  Zwischenpole  bauend  und  die  Pole, 

«Prajäpati,   der  Ordnung  Erstgeborner, 

«Ging  durch  sich  selber  (ätmanä)  in  sich  selber  (ätmänam)  ein.» 

Der  durchdringt  diese  ganze  Welt,  der  umschliefst  sie  und  geht 
in  dieselbe  ein,  wer  solches  weifs." 

—  Die  weltschaff  enden  Mächte  sind  nach  diesem  Mythus 
der  Purusha  in  Gestalt  der  Schildkröte  und  der  Eishi  Aruna- 
ketu.  Beide  aber  sind  aus  dem  Saft  und  Fleisch  des  Prajä- 
pati entsprungen,  der  daher  auch  am  Schlüsse  als  Weltschöpfer 
gefeiert  wird,  nur  dafs  er  hier  die  Priorität  den  Wassern  ein- 
geräumt hat,  aus  denen  Prajäpati  als  das  Brahma  Svayambhu 
(„das  durch  sich  selbst  seiende  Brahman",  —  freilich  eine 
harte  contradictio  in  adjecto:  „zeugend  den  durch  sich  selbst 
Seienden",  janayantih  svayambhuvam!}  entstanden  ist;  auch 
scheint  Prajäpati  demjenigen  Teile  von  sich  selbst,  welcher 
als  Purusha  auftritt,  die  Priorität  vor  allem  übrigen  zuzu- 
gestehen. Wir  sehen  also  hier  die  beiden  Principien,  Brahman 
und  Purusha  (Atman),  die  uns  weiter  unten  beschäftigen 
werden,  gleichsam  aus  dem  Prajäpati  herauswachsen. 

Asad  —  Prajäpati  (—  Purusha)  —  Brahman. 

Einen  weitern  Schritt  in  der  Depossedierung  des  Prajä- 
pati bezeichnen  zwei  Mythen,  in  denen  er  aus  dem  Nicht- 
seienden  (asad)  als  oberstem  Princip  abgeleitet  wird,.  Catap. 
Br.  6,1,1  und  Taitt.  Br.  2,2,9.  Wir  stellen  den  erstem  voran, 
weil  er  noch  aus  dem  Prajäpati  das  Brahman  entspringen  läfst, 
während  der  letztere,  einen  Schritt  weiter  gehend,  dem  mit 
Manas  identifizierten  Brahman  die  Priorität  vor  Prajäpati  zu- 
erkennt, womit  dessen  Schicksal,  nur  noch  als  mythologischer 
Zierat  (gleichsam  als  mediatisierter  Fürst  mit  allen  Ehren 
aber  ohne  Einflufs)  fortzubestehen,  besiegelt  wird. 


Asad  —  Prajäpati  —  Brahman,  Qatap.  Br.  6,1,1.  199 

Qatapatha-brähmanam  6,1,1. 

„Oin !  Nichtseiend  (asad)  fürwahr  war  diese  Welt  am  Alifang. 
Da  sagen  sie:  was  war  dieses  Nichtseiende  ?  Nun,  das  Nichtseiende 
am  Anfang  waren  diese  Rishi's.  Und  wer  sind  die  Rishi's?  Die 
Lebenshauche  (pränäh)  sind  die  Rishi's.  Weil  sie  vor  dieser  ganzen 
Welt,  dieselbe  wünschend,  durch  Abmühung  und  Tapas  litten 
(arishan),  darum  heifsen  sie  Rishi's.  Der  Lebenshauch  hier  in  der 
Mitte,  der  ist  Indra;  der  hat  diese  Lebenshauche  von  der  Mitte 
her  durch  Kraft  (indriya)  entzündet.  Weil  er  sie  entzündete 
(ainddha),  darum  heifst  er  Indhq;  denn  eigentlich  heifst  er  Indhd, 
aber  sie  nennen  ihn  Indra  um  des  Geheimnisvollen  willen,  denn 
die  Götter  lieben  das  Geheimnisvolle.  Jene  Lebenshauche  also, 
nachdem  sie  entzündet,  liefsen  aus  sich  sieben  verschiedene  Purusha's 
hervorgehen.  Und  sie  sprachen:  « Gewifs  werden  wir,  so  seiend, 
uns  nicht  fortpflanzen  können;  lafst  uns  aus  diesen  sieben  Purusha's 
einen  Purusha  machen ! »  Da  machten  sie  aus  diesen  sieben 
Purusha's  einen  Purusha;  was  [der  Rumpf]  oberhalb  des  Nabels 
ist,  dazu  drückten  sie  zwei  zusammen,  was  unterhalb  des  Nabels, 
dazu  wieder  zwei;  die  eine  [Arm-]Seite  ein  Purusha,  die  andre 
ein  Purusha,  und  das  Untergestell  noch  einer.  Was  aber  von 
jenen  sieben  Purusha's  die  Schönheit  (gri),  was  ihr  Saft  (rasa) 
war,  den  schoben  sie  nach  oben  zusammen,  das  ward  sein  Haupt 
(gi-ras).  Weil  sie  die  Schönheit  zusammenschoben,  darum  heifst 
es  giras;  in  ihm  lagerten  sich  (agrayanta)  die  Lebenshauche,  und 
auch  darum  heifst  es  giras;  und  weil  sich  die  Lebenshauche  in  ihm 
lagerten,  darum  heifsen  auch  die  Lebenshauche  griyali  (Schönheiten); 
aber  weil  sie  sich  auch  in  dem  Ganzen  lagerten,  darum  heifst  das- 
selbe gariram  (der  Leib).  Dieser  Purusha  war  Prajäpati.  Und 
was  jener  Purusha  Prajäpati  war,  das  ist  eben  dieser,  der  [beim 
Agnicayanam]  als  dieses  Feuer  geschichtet  wird.  Denn  dieser  be- 
steht aus  sieben  Purusha's;  und  aus  sieben  Purusha's  [nämlich 
sieben  Mannslängen  im  Quadrat]  besteht  dieser  Purusha  [der  in 
Vogelgestalt  zu  schichtende  Backsteinaltar  des  Agnicayanam],  sofern 
vier  seinen  Rumpf,  drei  seine  Flügel  und  den  Schwanz  bilden; 
denn  vier  [quadratische  Mannslängen]  bilden  ja  den  Rumpf  dieses 
Purusha  [des  vogelgestalti'gen  Altars] ,  und  drei  seine  Flügel  und 
den  Schwanz  [siehe  die  Abbildung  bei  Weber,  Ind.  Stud.  XIII,  235]. 
Nämlich  wenn  man  den  Rumpf  um  einen  Purusha  [eine  Mannsqua- 
dratlänge] gröfser  macht,  so  geschieht  es,  weil  mittels  dieser  Ver- 
stärkung der  Rumpf  die  Flügel  und  den  Schwanz  ausstreckt  (regiert). 
Das  Feuer    aber,   welches    auf   dem  [so]  geschichteten  [Altar]  auf- 


200  IH-    Geschichte  des  Prajäpati. 

gelegt  wird,  in  dem  schieben  sie  von  jenen  sieben  Purusha's  die 
Schönheit  und  den  Saft  nach  oben  zusammen ;  darum  bildet  es  sein 
[des  vogelgestaltigen  Altars]  Haupt  (giras),  in  diesem  haben  alle 
Götter  sich  gelagert  (grita),  denn  in  ihm  opfert  man  allen  Göttern, 
darum  ist  es  das  Haupt.  —  Dieser  Purusha  Prajäpati  begehrte: 
«ich  will  vielfach  sein,  will  mich  fortpflanzen!»  Er  mühte  sich 
ab,  er  übte  Tapas;  nachdem  er  sich  abgemüht  und  Tapas  geübt, 
.schuf  er  als  Erstgebornes  das  Brahman,  d.  h.  die  dreifache  Wissen- 
schaft \trayi  vidgä,  nämlich  des  Rig-  Säma-  und  Yajur-Yeda]: 
die  ward  ihm  zur  Grundlage;  darum  sagt  man:  das  Brahman  ist 
die  Grundlage  dieser  ganzen  Welt.  Darum,  wer  [den  Veda]  stu- 
diert hat,  der  ist  wohlgegründet;  denn  das  Brahman  ist  seine 
Grundlage.  Auf  dieser  Grundlage  gegründet,  übte  [Prajäpati] 
Tapas;  da  schuf  er  das  Wasser,  und  zwar  aus  seiner  Rede  als  Ort; 
nämlich  diese  seine  Rede  ergofs  sich  und  erfüllte  diese  ganze  Welt, 
was  immer  vorhanden  ist.  Weil  sie  sie  erfüllte  (apnot) ,  darum 
heifst  es  äpas  (Wasser) ;  weil  sie  sie  bedeckte  (avrinot),  darum  vär 
(Wasser).  —  Er  begehrte :  « aus  diesen  Wassern  heraus  will  ich 
geboren  werden».  Da  ging  er  mitsamt  dieser  dreifachen  Wissen- 
schaft in  das  Wasser  ein;  daraus  entstand  ein  Ei.  Das  betastete 
[zerklopfte]  er:  «es  sei!»  so  sprach  er,  «es  sei!  es  sei  mehr!» 
Also  sprach  er,  da  ergofs  sich  als  erstes  das  Brahman,  nämlich 
die  dreifache  Wissenschaft;  darum  sagt  man:  das  Brahman  ist  das 
Erstgeborne  dieser  Welt;  denn  auch  vor  diesem  Purusha  vorher 
ist  das  Brahman  [aus  dem  Ei,  in  welches  beide  eingegangen  waren] 
erschaffen  worden;  denn  als  sein  Mund  wurde  es  erschaffen;  darum 
sagt  man  von  einem,  der  den  Veda  studiert  hat,  er  sei  gleich  wie 
Feuer,  denn  das  Brahman  ist  der  Mund  des  Feuers  [des  als  Feuer 
hervortretenden  Purusha].  Nämlich  der  Keim,  der  in  [dem  Ei] 
war,  der  wurde  geboren  als  Agri ;  weil  er  als  der  Anfang  (agram) 
dieser  ganzen  Welt  geboren  wurde,  darum  heifst  er  agr-i  [etwa: 
«der  Vorangehende»];  nämlich  dieser  Agri  ist  es,  den  sie  Agni 
(Feuer)  nennen  um  des  Geheimnisvollen  willen,  denn  die  Götter 
lieben  das  Geheimnisvolle.  Aber  die  Thränen  (acru),  die  [von 
dem  weinenden  Neugebornen ?]  zusammenflössen,  die  wurden  zu 
agru  (masc);  nämlich  dieser  Agni  ist  es,  den  sie  Agva  [das  Rofs, 
als  höchstes  Opfertier]  nennen  um  des  Geheimnisvollen  willen,  denn 
die  Götter  lieben  das  Geheimnisvolle.  Und  was  es  gleichsam 
schrie  [arasat,  oder  etwa:  sabberte,  wegen  des  folgenden  rasa 
Saft],  das  ward  zum  JRäsahha  (Eselhengst);  aber  der  Saft,  der  an 
der  Schale    klebte,    der    ward   zur   Ziege    (aja ,    auch  Ungeborner): 


Asad  —  Prajäpati  —  Brahman,  Qatap.  Br.  6,1,1.  201 

was  aber  die  Schale  selbst  war,  die  ward  zur  Erde.  Da  begehrte 
er  [Prajäpati] :  « aus  diesen  Wassern  will  ich  diese  [Erde]  heraus- 
wachsen lassen».  Da  quetschte  er  sie  in  den  Wassern  zusammen 
lind  trieb  sie  empor.  Der  Saft  von  ihr,  der  dabei  nach  unten 
ausquoll,  wurde  zur  Schildkröte;  aber  was  nach  oben  ausspritzte, 
das  ist  dies,  was  oberhalb  aus  den  Wassern  sich  bildet  [Wolken, 
Regen];  aber  diese  ganze  Erde  hat  sich  erst  nachträglich  aus  den 
Wassern  ausgeschieden,  denn  diese  Welt  zeigte  sich  [ursprünglich] 
nur  als  eine  Gestalt,  nämlich  als  Wasser.  Da  begehrte  er:  «sie 
soll  mehreres  sein,  soll  sich  fortentwickeln!  »  Und  er  mühte  sich 
ab  und  übte  Tapas ;  und  indem  er  sich  abmühte  und  Tapas  übte, 
schuf  er  den  Schaum.  Da  erkannte  er:  «das  ist  schon  eine  andere 
Gestalt,  eine  weitere;  ich  will  mich  noch  mehr  abmühen!»  Da 
schuf  er,  indem  er  sich  abmühte  und  Tapas  übte,  den  Lehm,  den 
Schlamm,  die  Salzsteppe,  das  Geröll,  das  Gestein,  das  Erz,  das 
Gold,  die  Kräuter  und  Bäume;  mit  denen  überdeckte  er  diese  Erde, 
das  sind  zusammen  neun  Schöpfungen.  Diese  Erde  war  geschaffen 
worden  [und  sie  ist  dreifach,  tisro  va1  imäli  prithivyah,  Catap.  Br. 
5,1,5,21];  darum  sagt  man,  das  Feuer  ist  dreifach  [Gärhapatya, 
Dakshina,  Ahavaniya];  denn  das  Feuer  ist  diese  Erde;  denn  auf 
ihr  wird  alles  Feuer  geschichtet.  Weil  sie  zum  Standort  ward 
(abhüt),  darum  ward  sie  zur  bhümi  (Erde),  weil  er  sie  breit 
machte  (apratliayat) ,  darum  zur  prithivi  (Erde).  Dieselbe,  indem 
sie  sich  ganz  und  vollständig  fühlte,  so  sang  sie;  weil  sie  sang 
(agäyat),  darum  ist  sie  die  Gäyatri  (das  Metrum);  —  oder  auch 
sie  sagen:  Agni,  der  auf  ihrem  Rücken  ist,  da  er  sich  ganz  und 
vollständig  fühlte,  so  sang  er;  weil  er  sang,  darum  ist  er  Agni 
Gäyatra.  Daher  kommt  es  auch,  dafs  wer  sich  ganz  und  voll- 
ständig fühlt,  der  singt  entweder  oder  er  freut  sich  am  Gesänge."  — 

Weiter  wird  erzählt,  wie  Prajäpati  als  Agni  mit  der  Erde 
unter  andern  Nebenprodukten  den  Väyu  und  den  Luftraum 
zeugt,  sodann  als  Väyu  mit  dem  Lufträume  den  Aditya  und 
den  Himmel,  endlich  als  Äditya  mit  dem  Himmel  den  Mond 
und  die  Himmelsgegenden.  Hierauf  zeugt  er  ebenso  als  Manas 
mit  der  Väc  (sa  manasä  eva  väcam  mithunam  samabhavat,  6,1, 
2,7)  die  acht  Fasw's,  elf  Rudra's,  zwölf  Aditya 's  und  die 
Vigve  deväh. 

„Ferner  sagt  man:  Prajäpati,  nachdem  er  diese  Welten  ge- 
schaffen, gründete  sich  auf  die  Erde;  da  wurden  ihm  die  Kräuter 
hier  als  Speise  reifen  gelassen;    die  afs  er;    da  ward  er   schwanger 


202  III-    Geschichte  des  Prajäpati. 

und  schuf  aus  den  obern  Lebenshauchen  die  Götter  und  aus  den 
untern  die  sterblichen  Geschöpfe.  Nun,  auf  welche  dieser  Arten 
er  sie  erschaffen  hat,  so  hat  er  sie  erschaffen;  jedenfalls  hat  Prajä- 
pati allein  alles  dieses  erschaffen,  was  irgend  vorhanden  ist." 

—  Weiter  folgt  die  Erzählung,  wie  Prajäpati  infolge  der 
grofsen  Anstrengung  (sarvam  äjim  itvä)  zerfallen  sei,  worüber 
wir  oben  (S.  190  fg.)  gesprochen  haben. 

Nach  diesem  Mythus  ist  zwar  auch  Prajäpati  geworden, 
hat  aber  noch  die  Priorität  vor  dem  Brahman,  welches  er 
schafft,  um  sodann  mit  demselben  in  das  Weltei  einzugehen. 
Aus  demselben  aber  ergiefst  sich  zuerst  das  Brahman,  und  erst 
nach  ihm  tritt  Prajäpati  in  Gestalt  des  Agni  hervor.  Diese 
empirische  Priorität  des  Brahman  über  Prajäpati  wird  in  der 
folgenden  Erzählung  zur  absoluten,  welche  daher  das  Ende 
der  Herrschaft  des  Prajäpati  bezeichnet. 

Asad  —  Manas  (==■  Brahman)  —  Prajäpati. 
Taütiriya-brälimanam  2,2}9. 

„Diese  Welt  fürwahr  war  zu  Anfang  gar  nichts.  Kein  Himmel 
war,  keine  Erde,  kein  Luftraum.  Dieses  nur  nichtseiend  Seiende 
that  einen  Wunsch  [manas  =  brahman,  s.  u.]:  «ich  möge  sein!» 
Es  übte  Tapas;  aus  dieser  Tapasübung  entstand  Rauch.  Es  übte 
weiter  Tapas;  aus  dieser  Tapasübung  entstand  Feuer.  Es  übte 
weiter  Tapas;  aus  dieser  Tapasübung  entstand  Licht.  Es  übte 
Weiter  Tapas;  aus  dieser  Tapasübung  entstand  Flamme.  Es  übte 
weiter  Tapas;  aus  dieser  Tapasübung  entstanden  die  Lichtwellen. 
Es  übte  weiter  Tapas;  aus  dieser  Tapasübung  entstanden  die  Nebel- 
dünste. Es  übte  weiter  Tapas;  da  wurde  es  wie  ein  Gewölk  zu- 
sammengetrieben. Da  zerrifs  es  die  Eihaut  (vasti,  hier  dfj.vicv, 
nicht  xÜGTir) ;  daraus  entstand  der  Ocean.  Darum  trinken  sie  nicht 
-von  dem  Ocean;  denn  sie  betrachten  ihn  als  eine  Ausgeburt  [pra- 
jananam,  ein  Gebärungsprodukt] ;  darum,  wenn  ein  Tier  geboren 
wird,  so  fliefsen  zuvor  die  [Frucht-]Wasser  ab.  Darauf  wurde  so- 
dann der  Dagahotar  [ein  liturgischer  Abschnitt,  dessen  Verherr- 
lichung die  ganze  Stelle  bezweckt;  ein  neuer  Beleg  zu  dem  S.  172  fg., 
181  Gesagten]  geboren;  denn  der  Dagahotar  ist  Prajäpati.  —  Wer, 
also  die  Macht  des  Tapas  wissend,  dasselbe  übt,  der  bleibt  be- 
stehen. —  Die  Welt  also  war  Wasser,  ein  Gewoge.  Da  weinte 
Prajäpati    und   sprach:     «wozu   bin   ich    geboren,  .wenn    zu    dieser 


Asad  —  Manas  —  Prajäpati,  Taitt.  Br.  2,2,9.  203 

Stanclortlosigkeit ! »  Da  ward,  [von  seinen  Thränen]  was  ins  Wasser 
fiel,  zur  Erde,  was  er  wegwischte  zum  Luftraum,  was  er  nach  oben 
wischte,  zum  Himmel.  Weil  er  geweint  hat  (arodtt),  darum  heifsen 
sie  rodasi  (oben  S.  84).  —  Wer  solches  weifs,  in  dessen  Hause 
weint  man  nicht.  —  Dieses  also  ist  die  Entstehung  dieser  Welten.  — 
Wer  also  die  Entstehung  dieser  Welten  weifs,  der  gerät  in  diesen 
Welten  nicht  in  Bedrängnis.  —  So  hatte  er  [Prajäpati]  also  diese 
Erde  als  Standort  gewonnen.  Nachdem  er  sie  als  Standort  ge- 
wonnen, so  begehrte  er:  «ich  will  mich  fortpflanzen!»  und  übte 
Tapas.  Da  ward  er  trächtig.  Da  gebar  er  aus  seinem  Hinterteil 
die  Dämonen.  Denen  molk  er  in  einem  thönernen  Gefäfse  Nahrung. 
Was  aber  dieser  Teil  seines  Leibes  gewesen  war,  den  stiefs  er  von 
sich  ab,  der  ward  zur  dunkeln  Nacht.  —  Da  begehrte  er:  «ich 
will  mich  fortpflanzen!»  und  übte  Tapas.  Da  ward  er  trächtig. 
Da  gebar  er  aus  seinem  Zeugungsgliede  die  [irdischen]  Geschöpfe; 
.darum  sind  deren  am  meisten;  denn  aus  seinem  Zeugungsgliede 
sind  sie  entstanden.  Denen  molk  er  in  einem  hölzernen  Gefäfse 
Milch.  Was  aber  dieser  Teil  seines  Leibes  gewesen  war,  den  stiefs 
er  von  sich  ab,  der  ward  zum  Mondlichte.  —  Da  begehrte  er: 
«ich  will  mich  fortpflanzen!»  und  übte  Tapas.  Da  ward  er  trächtig. 
Da  gebar  er  aus  seinen  Achselgruben  die  Jahreszeiten.  Denen 
molk  er  in  einem  silbernen  Gefäfse  Schmelzbutter.  Was  aber  dieser 
Teil  seines  Leibes  gewesen  war,  den  stiefs  er  von  sich  ab,  der 
ward  zur  Dämmerung.  —  Da  begehrte  er:  «ich  will  mich  fort- 
pflanzen!» und  übte  Tapas.  Da  ward  er  trächtig.  Da  gebar  er 
aus  seinem  Munde  die  Götter.  Denen  molk  er  in  einem  gelben 
[goldnen]  Gefäfse  den  Soma.  Was  aber  dieser  Teil  seines  Leibes- 
gewesen war,  den  stiefs  er  von  sich  ab,  der  ward  zum  Tage.  — 
Dieses  fürwahr  sind  die  Melkungen  des  Prajäpati;  wer  solches, 
weifs,  der  melkt  die  Geschöpfe.  [Die  Götter  sprachen:]  «Fürwahr, 
unsere  [Schöpfung]  war  am  Tage  (divä)» ;  daher  das  Göttersein  der 
Götter  (deväh).  Wer  also  das  Göttersein  der  Götter  weifs,  der 
wird  götterhaft.  Dieses  fürwahr  ist  auch  die  Entstehung  des- 
Tages und  der  Nacht.  Wer  also  die  Entstehung  des  Tages  und  der 
Nacht  weifs,  der  gerät  nicht  in  Bedrängnis  bei  Tage  und  bei 
Nacht.  —  [Zum  Schlüsse  folgende  Rekapitulation:]  Aus  dem  Nicht- 
seienden  wurde  das  Manas  erschaffen.  Das  Manas  hat  den 
Prajäpati  erschaffen.  Prajäpati  hat  die  Geschöpfe  erschaffen. 
Darum  fürwahr  ist  diese  Welt  im  Manas  zuhöchst  gegründet,  was- 
auch  immer  vorhanden  ist.  Und  eben  dieses  [Manas]  ist  das 
Brahman,    genannt    das   Zukunf  ts -Besserung-bringende.  — 


204  HI-   Geschichte  des  Prajäpati. 

Dem  bringt  jeder  neu  aufleuchtende  Morgen  Besseres  und  immer 
Besseres,  der  pflanzt  sich  fort  an  Nachkommenschaft  und  Herden, 
der  erlangt  das  volle  Mafs  des  Allerhöchsten  (paramcshthin  =  Pra- 
jäpati, Schol.),  wer  solches  weifs!" 

4;   Versuche,  den  Prajäpati  durch  Umdeutung  zu  beseitigreu. 

Weiter  gehend  als  diese  Herabrückungen  des  Prajäpati 
in  zweite  Linie  und  daher  später  als  sie  zu  besprechen  sind 
die  Versuche,  den  Prajäpati  dadurch  zu  beseitigen,  dafs  man 
ihn  in  einen  fafslichern  Begriff  umdeutete.  Solche  Umdeu- 
tungen  des  Prajäpati  (unbeschadet  seines  Fortbestehens  als 
mythologische  Figur)  sind  in  späterer  Zeit  ganz  gewöhnlich. 
Die  Atharva-Samhitä  versäumt  bei  keinem  der  von  ihr  auf- 
gestellten philosophischen  Principien  (käla,  rohita,  skambha, 
brahmacärin,  präna,  uccliishta  u.  a.),  zu  versichern,  dafs  dieses 
Prajäpati  sei  (vgl.  oben  S.  189  fg.);  ebenso  wrird  er  in  den  Upani- 
shad's  umgedeutet,  worüber  es  genügt  zu  verweisen  aufBrih. 
Up.  3,9,6,  wo  Indra  als  Donner  und  Donnerkeil,  Prajäpati  als 
Opfer  und  Opfertier  erklärt  wird,  oder  auf  Ait.  Up.  3,3  (p.  241), 
wo  es  heifst,  der  Atman  sei  Brahman,  Indra,  Prajäpati  und 
alle  Götter;  und  diesem  Kreise  der  abgeschlossenen  Brahman- 
Atman-Lehre  mag  es  auch  schon  angehören,  wenn  Catap.  Br. 
13,6,2,7 — 8  erklärt  wird,  Brahman  sei  das  Höchste  in  dieser 
ganzen  Welt,  und  sogleich  darauf:  „Prajäpati  ist  Brahman, 
denn  Prajäpati  ist  von  Brahman-Art". 

Interessanter  wäre  es,  die  Vorstufen  dieser  Wegerklärung 
des  Prajäpati  in  den  Brähmana's  aufzusuchen;  aber  hier  be- 
wegen wir  uns,  bei  der  in  diesen  Texten  herrschenden  Iden- 
tifikationslust, auf  sehr  unsicherem  Boden,  und  ein  Blick  auf 
die  Zusammenstellung  oben  S.  174,  die  sich  leicht  vermehren 
liefse,  zeigt,  dafs  wir  hier  nicht  jede  gelegentliche  Gleichung 
für  eine  philosophische  halten  dürfen.  So  taucht  z.  B.  in  dieser 
Periode  neben  Prajäpati  ein  anderes,  durch  den  Namen  als 
Höchstes  gekennzeichnetes  Princip  auf,  der  Parameshthin  (noch 
nicht  im  Rigveda,  aber  vielleicht  angelehnt  an  Rigv.  10,129,7 
yo  asya  adhyakshah  parame  vyonian,  oben  S.  126),  welcher  bald 
mit  Prajäpati  identifiziert,  bald  ihm  über-  oder  untergeordnet 
wird,  sodafs  eine  klare  Vorstelluno:  sich  nicht  gewinnen  läfst. 


4.  Versuche,  den  Prajäpati  umzudeuten:    Pr.  =  Manas,  Väc.     205 

Unter  diesen  Umständen  wollen  wir  uns  auf  die  wichtigsten 
Umdeutungen  des  Prajäpati  als  Manas  und  Väc  und  als  Sam- 
vatsara  und   Yajna  beschränken. 

T,     . ,        .         \  Manas 
Prajäpati  =       y^ 

Ursprünglich  sind  Marias  (Verstand,  Wille)  und  Väc  (Rede) 
psychische  Organe  (karmäni)  und  als  solche,  wie  alles  andere,, 
von  Prajäpati  erschaffen  (Catap.  Br.  14,4,3,30).  Wir  sahen 
oben  (S.  194),  wie  Manas  und  Väc  als  solche  Organe  um  den 
A^orrang  stritten,  und  wie  dieser  Streit  von  Prajäpati  ais- 
oberstem Schiedsrichter  zu  Gunsten  des  Manas  entschieden 
wurde.  Ahnlich  nun  aber,  wie  der  \byoc,  svoidfösTOS  (manas) 
und  Aoyo£  zpcocpixc?  (väc)  der  Stoiker  später  eine  metaphysische 
Bedeutung  erhalten,  indem  sie  von  Philo  Alexandrinus  auf  die 
Ideenwelt  und  die  Erscheinungswelt  als  Ausdruck  derselben 
bezogen  werden,  ähnlich  erwachsen  auch  Manas  und  Väc  aus 
psychischen  zu  metaphysischen,  das  Weltganze  konstituierenden 
Faktoren;  und  diese  Umwandlung  war  durch  Stellen  wie 
Rigv.  1,164,18  devam  manas  und  10,129,4  manaso  retah  (oben 
S.  112.  123)  einerseits,  durch  den  Hymnus  der  Väc  (Rigv.  10, 
125,  vgl.  1,164,37  —  45,  oben  S.  146  fg.,  116  fg.)  anderseits 
genugsam  vorbereitet.  Zunächst  noch  erscheinen  Manas  und 
Väc  als  zwei  innerhalb  des  Prajäpati  wirkende,  schöpferische 
Kräfte.     So  Pancav.  Br.  7,6: 

„Prajäpati  begehrte:  «ich  will  vieles  sein,  will  mich  fort- 
pflanzen!» Da  meditierte  er  schweigend  in  seinem  Manas;  was  in 
seinem  Manas  war,  das  bildete  sich  zum  Brihat  [Marne  eines 
Säman];  da  bedachte  er:  «dies  liegt  als  eine  Leibesfrucht  in  mir, 
die  will  ich  durch  die  Väc  gebären».  Da  schuf  er  die  Väc,  sie 
folgte  hinter  dem  [zugleich  erschaffenen]  Bathantaram  [Name  eines 
andern  Säman]  her.  Weil  dieses,  o  Menschen,  schnell  sich  auf 
den  Wagen  (ratha)  schwang  (atärit)  [nämlich  auf  den  Götterwagen 
Väc],  darum  heifst  es  Bathantaram.  Ihm  nach  wurde  das  Brihat 
geboren.  Weil  dieses,  o  Menschen,  eine  grofse  (brihat)  Zeit  lang 
in  ihm  verblieb,  darum  heifst  es  Brihat.  Gleichwie  ein  ältester 
Sohn,   so  steht  das  Brihat  zu  Prajäpati."   — 

Klarer  als  in  dieser  Stelle,  welche  den  sich  in  dem  Manas 
des  Prajäpati   entwickelnden    und   durch   die  Hebammenhülfe 


;206  III.    Geschichte  des  Prajäpati. 

der  Väc  zur  Geburt  gelangenden  Keim  auf  liturgische  Ver- 
hältnisse bezieht,  tritt  die  Verselbständigung  von  Manas  und 
Väc  hervor  in  der  (S.  201  besprochenen)  Stelle  Qatap.  Br.  6,1, 
2,7,  wonach  Prajäpati  als  Manas  mit  der  Väc  den  Zeugung s- 
akt  vollzieht  (sa  manasä  eva  vavaw  mitliumun  samabhacat)*  aus 
dem  die  verschiedenen  Götter  entspringen.  Manas  und  Väc 
sind  zwei  Ausdrucksformen  für  den  göttlichen  Willen,  und  es 
hätte  nahe  gelegen,  durch  Hypostasierung  der  einen  oder  andern 
die  Mythologie  in  Philosophie  zu  verwandeln,  indem  man  an 
die  Stelle  des  wollenden  Weltschöpfers  den  weltschaf- 
fenden Willen  setzte.  Dieses  Ziel  wird  jedoch  nicht  erreicht, 
und  nur  einige  demselben  zustrebende  Stufen  sind  noch  er- 
kennbar; erstlich  von  Seiten  des  Manas,  indem  dieses  über 
Prajäpati  erhoben  und  als  erstes  Produkt  des  Asad  betrachtet, 
zugleich  jedoch  mit  dem  Brahman  identifiziert  wird  (oben 
S.  202),  endlich  auch,  jedoch  nur  vorübergehend,  mit  Prajäpati 
(Qankh.  Br.  26,3),  oder  auch  mit  dem  weder  Nichtseienden 
noch  Seienden  des  Sehöpfungshymnus  liigv.  10,129,1  identisch 
erklärt  wird  (Qatap.  Br.  10,5,3,1);  zweitens  von  Seiten  der 
Väc,  indem  diese  in  einigen  Stellen  eine  zunehmende  und 
schliefslich  dem  Prajäpati  gefährliche  Selbständigkeit  anzu- 
nehmen droht.     So  heifst  es  Pancav.  Br.  20,14,2: 

„Prajäpati  war  diese  Welt  allein;  die  Väc  war  sein  Selbst 
(svam),  die  Väc  sein  Zweites  [sein  alter  ego];  er  erwog:  «ich  will 
diese  Väc  hervorgehen  lassen,  und  sie  soll  hingehen,  dieses  All  zu 
durchdringen»;  da  liefs  er  die  Väc  hervorgehen,  und  sie  ging  hin, 
indem  sie  dieses  All  erfüllte." 

Ahnlich  drückt  sich  eine  von  Weber  (Ind.  Stud.  9,477) 
mitgeteilte  Stelle  aus  dem  Käthakam  (12,5)  aus: 

„Prajäpati  fürwahr  war  diese  Welt;  ihm  war  die  Väc  sein 
Zweites  [sein  alter  ego]:  mit  ihr  pflog  er  Begattung;  sie  wurde 
schwanger;  da  ging  sie  von  ihm  aus,  da  schuf  sie  diese  Geschöpfe, 
und  dann  ging  sie  wieder  in  Prajäpati  zurück." 

—  In  ähnlichem  Sinne  heifst  Prajäpati  Qatap.  Br.  5,1,1,16 
Väcas  pati  (der  Herr  oder  Gatte  der  Väc),  ja  Qatap.  Br.  5,1, 
3,11  wird  der,  allerdings  vom  Verfasser  nicht  gutgeheifsene, 
Gedanke  geäufsert:   „wenn  es  noch  etwas  Höheres  als  Prajä- 


Prajäpati  =  Samvatsara,  Yajna.  207 

pati  giebt,  so  ist  es  die  Väc";  und  eben  diese  wird  Qatap. 
Br.  8,1,2,9  mit  Vicvakarman ,  dem  AUschöpfer ,  gleichgesetzt: 
„die  Vac  fürwahr  ist  der  weise  Vicvakarman,  denn  durch  die 
Väc  ist  diese  ganze  Welt  gemacht";  hierzu  stimmt  Qatap.  Br. 
11,1,0,18,  wo  Indra,  um  zum  All  zu  werden,  zur  Vac  wird: 
„denn  die  Väc  ist  diese  ganze  "Welt". 

—  Wenn  man  bedenkt,  dafs  Manas  (Entschlufs)  und  Vac 
(Rede)  nichts  andres  als  der  sich  zum  Ausdruck  bringende 
Wille  sind,  dafs  somit  der  Versuch,  eines  oder  das  andre 
von  Prajäpati  zu  emancipieren  und  als  selbständiges  Princip 
der  Welt  hinzustellen,  im  Grunde,  wie  schon  oben  bemerkt, 
darauf  hinausläuft,  an  Stelle  des  wollenden  Wcltschöpfers  den 
weltschöpferischen  Willen  zu  setzen,  so  mag  man  es  wohl  be- 
dauern, dafs  dieser  so  fruchtbare  philosophische  Gedanke  in 
Indien  so  bald  nach  seinem  Auftreten  wieder  in  den  Hinter- 
grund gedrängt  wurde.  Aber  das  Zeitalter  war  zu  sehr  von 
liturgischen  Interessen  beherrscht,  als  dafs  der  philosophische 
Gedanke  sich  dem  hätte  entziehen  können;  und  ein  ursprüng- 
lich liturgischer  Begriff,  das  Brahman,  ist  es,  um  welchen  sich, 
so  gut  und  so  schlecht  dies  gehen  mochte,  alles  konzentrieren 
sollte,  was  das  vedische  Zeitalter  an  philosophischen  Gedanken 
hervorgebracht  hat. 

r.     .  A       .         \  Samvatsara 
Fraianatt  =    {    T^  . 
J  l  I    Yajna. 

Wiederholt  schon  sahen  wir,  dafs  der  aus  Rigv.  10,121 
entsprungene  Prajäpati  auch  diejenigen  Bestimmungen  an  sich 
trägt,  welche  die  übrigen  philosophischen  Hymnen  des  Rig- 
veda  der  Weltursache  beilegen.  Prajäpati  ist  der  „hauchlos 
Atmende"  Rigv.  10,129,2  (oben  S.  195),  der  Purusha  Rigv. 
10,90  (oben  S.  197.  199),  der  Vicvakarman  Rigv.  10,81.  82 
(Qatap.  Br.  7,4,2,5  „fürwahr,  Prajäpati  ist  Vicvakarman"),  und 
so  ist  er  denn  auch  der  Weltenvater,  welchen  wir  schon  in 
dem  Einheitsliede  des  Dirghatamas  Rigv.  1,104  auftreten  sehen. 
Von  diesem  Vater  hiefs  es  Rigv.  1,104,11 — 12,  er  sei  einerseits 
verkörpert  (purtshin)  in  des  Himmels  jenseitiger  Hälfte  als 
das  Rad  der  Weltordnung,  auf  dem  die  Tage  und  Nächte  als 
720  Söhne   stehen,    anderseits  aber  sei  er   auch    der    niedern 


208  HI.    Geschichte  des  Prajäpati. 

Sphäre  als  weitleuehtendes  Opferfeuer  eingefügt  (oben  8.  llOfg). 
Auf  Anschauungen,  wie  sie  in  diesem  Liede  hervortreten, 
welches  in  der  Opferordnung  das  Abbild  der  Weltordnung 
sieht,  beruht  es,  dafs  Prajäpati  (nachdem  er  schon  Rigv.  10,190 
dem  Jahre  mit  seinen  Tagen  und  Nächten  gleichgesetzt  worden 
war,  oben  S.  133 — 134),  in  den  Brähmana's  einerseits  als  das 
Jahr  (samvatsara) ,  anderseits  als  das  Opfer  (yajna),  noch 
öfter  aber  als  Jahr  und  Opfer  zugleich  bezeichnet  wird. 
Der  ursprüngliche  Sinn  dieser  Gleichsetzung  mufs  gewesen 
sein,  dafs  man  in  den  Jahresprodukten  sowie  auch  in  der  pro- 
duktiven Thätigkeit  des  Opferns  ein  Ebenbild  der  Schöpfer- 
thätigkeit  des  Prajäpati  sah;  Qatap.  Br.  11,1,6,13:  „Prajä- 
pati erwog:  «fürwahr,  dieses  habe  ich  als  ein  Ebenbild 
meiner  selbst  erschaffen,  was  das  Jahr  ist»;  darum 
sagen  sie:  Prajäpati  ist  das  Jahr,  denn  als  ein  Ebenbild  seiner 
selbst  hat  er  es  erschaffen";  und  ganz  analog  heilst  es  Qatap. 
Br.  11,1,8,3,  Prajäpati  habe  sein  Selbst  den  Göttern  zum  Opfer 
hingegeben;  „und  indem  er  den  Göttern  sein  Selbst  dahingab, 
schuf  er  dieses  als  Ebenbild  seiner  selbst,  was  das 
Opfer  ist;  darum  sagen  sie:  Prajäpati  ist  das  Opfer,  denn 
als  ein  Ebenbild  seiner  selbst  hat  er  es  erschaffen".  Weiter 
aber  wird  Prajäpati  geradezu  identifiziert  mit  dem  Jahre 
(Catap.  Br.  1,5,1,16.  1,6,3,35.  5,1,2,9.  8,4,3,20. 10,4,2,2.  10,4,1,16), 
mit  dem  Opfer  (Qatap.  Br.  1,1,1,13.  1,5,2,17.  1,6,1,20.  2,5,1,7. 
4,3,4,3.  4,5,5,1.  5,1,1,2.  5,1,2,11.  5,1,2,12.  5,1,4,1.  11,5,2,1.  Paü- 
cav.  Br.  7,2,1),  mit  dem  Jahre  und  dem  Opfer  zugleich 
(patap.  Br.  1,5,3,2.  1,9,2,34.  5,4,5,20.  5,4,5,21);  vgl.  gänkh. 
Br.  6,15: 

„Dieses,  der  Pi'ajäpati  seiende,  vierundzwanzigteilige  [in  24 
Halbmonate  eingeteilte]  Jahr  ist ,  was  die  Viermonatsopfer  sind ; 
Prajäpati  ist  das  All,  und  die  Viermonatsopfer  sind  das  All; 
darum  erlangt  das  All  durch  das  All,  wer  [die  Viermonatsopfer 
bringend]   solches  weifs." 

Das  Motiv  dieser  Identifikationen  liegt  nicht  fern;  Prajä- 
pati, der  Herr  der  Geschöpfe,  ist  eine  Personifikation  der 
Schöpferkraft  der  Natur,  wie  sie  im  Verlaufe  des  Jahres  durch 
die  Produkte  der  Jahreszeiten  zum  Ausdrucke  kommt.  Wie 
aber   die  Menschen   von  den   Erzeugnissen   des  Jahres  leben, 


Prajäpati  =  Samvatsara,  Yajna.  209 

so  leben  die  Götter  von  den  im  Kreislaufe  des  Jahres  sich 
wiederholenden  Opfern  (Manu  4,25  —  26:  dem  agnihotram, 
dargapürnarnäsau,  nava-sasya-ishti,  cdturmäsyäni,  dem  halbjähr- 
lichen pagu,  dem  jährlichen  soma).  Nun  ist  Prajäpati  nicht 
nur  der  Erhalter  der  Menschen,  sondern  auch  der  der  Götter. 
Wie  er  daher  das  Jah  r  und  seine  Produkte  für  die  Menschen, 
so  schuf  er  für  die  Götter  das  Opfer,  bis  er  schliefslich  sich 
in  diese  seine  Schöpfungen  auflöst  und  so  (nachdem  schon  im 
Purusha-Hymnus  Rigv.  10,90  und  in  den  Vicvakarman-Liedern 
die  Weltschöpfung  als  Opfer  erschienen  war)  in  strengem 
Parallelismus  selbst  zu  dem  Jahre  und  zugleich  zu  dem 
Opfer  wird. 

5.   Anhang  zur  Geschichte  des  Prajäpati: 
Die  Hymnen  des  Atharvaveda  an  Kala,  Rohita,  Anadvän,  Vacä* 

Die  philosophischen  Hymnen  des  Atharvaveda  nehmen 
den  Rigveda-Hymnen,  Brähmana's  und  Upanishad's  gegenüber 
vielfach  eine  isolierte  Stellung  ein,  die  es  nicht  immer  möglich 
macht,  sie  an  Vorhergehendes  mit  Sicherheit  anzuknüpfen; 
und  noch  weniger  gelingt  es,  das  Nachfolgende,  die  Upani- 
shadlehre  aus  ihnen  abzuleiten.  Sie  stehen  nicht  sowohl  inner- 
halb des  grofsen  Entwicklungsganges,  als  vielmehr  ihm  zur 
Seite,  und  auch  hier  macht  es  den  Eindruck,  als  wenn  die 
Atharvandichter  in  Indien  nicht  ganz  „zur  guten  Gesellschaft" 
gezählt  worden  seien.  Sie  rächen  sich,  wie  die  Exkludierten 
sich  zu  rächen  pflegen:  sie  lassen  es  an  Ehrerbietung  gegen  das 
Hergebrachte  fehlen,  zeigen  sich  skeptisch,  rationalistisch  und 
fortschrittlich,  und  ihre  philosophischen  Anschauungen  werden 
dadurch  oft  excentrisch,  bizarr  und  malslos,  was  in  Indien 
gewifs  viel  heifsen  will.  Um  ihres  absonderlichen  Charakters 
willen  verdienen  sie  eine  monographische  Behandlung;  wir 
wollen  uns  hier  auf  das  Wichtigste  beschränken  und  dasselbe, 
so  gut  es  gehen  will,  an  das  Grundgewebe  anschliefsen.  Zur 
Lehre  von  Prajäpati  stellen  wir  die  Hymnen  über  Kala,  Rohita, 
Anadvän  und  Vagä,  wozu  sie  schon  selbst  auffordern,  sofern 
von  jedem  dieser  Principien  versichert  wird,  dasselbe  sei 
selbst  Prajäpati,  oder  auch,   es  habe  diesen  hervorge- 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.    I.  14 


210  III.   Geschichte  des  Prajäpati,  Anhang. 

bracht:  so  von  Kala  19,53,8.  10;  von  Rohita  13,2,39.  13,3,5; 
vom  Anadvän  4,11,-7.  11,  von  der  Vagd  10,10,30.  Aber  auch 
innere  Gründe  treten  für  diese  Anschliefsung  ein,  sofern  Pra- 
jäpati als  Samvatsara  (Jahr)  und  Yajna  (Opfer),  wie  wir  sahen, 
auch  den  Brähmana's  geläufig  ist.  Samvatsara  aber  ist  in 
abstrakterer  Fassung  Kala  (die  Zeit),  an  den  Atharvav.  19,53.  54 
gerichtet  sind,  während  der  Rohita  Atharvav.  13,1.  2.  3.  im 
Texte  selbst  für  Kala  erklärt  wird  (13,2,39),  somit  viel- 
leicht die  Sonne  als  konkreter  Repräsentant  der  Zeit  ist. 
Anderseits  lassen  sich  an  Prajäpati  als  Yajna  die  Hymnen  an 
Anadvän  (Ochse)  4,11  und  Vagä  (Kuh)  10,10  insofern  an- 
knüpfen, als  diese  Tiere  hier  als  symbolische  Vertreter  der 
in  der  Natur  wie  im  Opfer  verwirklichten  zeugenden  und 
erhaltenden  Kraft  zu  figurieren  scheinen. 

Zwei  Hymnen  an  Kala,    die  Zeit. 
Atharvav  eäa  19,53. 

1.  Die  Zeit  fährt  hin,  ein  Rofs  mit  sieben  Zügeln1, 
Mit  tausend  Augen2,  ewig,  reich  an  Samen; 
Auf  ihn  [den  Wagen]   steigen  weise  Seher 3, 
Und  seine  Räder  sind  die  Wesen  alle. 

1.  Die  sieben  Planeten  (oben  S.  111)  oder  die  sieben  Aditya's  (oben  S.  108)? 

2.  Der  durch  seine  Umdrehung  die  Zeit  regelnde  Sternenhimmel.  3.  Nur 
die  Weisen  sind  Wagenlenker,  alle  andern  Wesen  sind  die  passiven  Räder. 

2.  Es  fährt  dies  Rofs  der  Zeit  der  Räder  sieben  * 
Mit  sieben  Naben,  ewig  ist  die  Achse; 
Herwärts 2  kommt  sie  zu  allen  diesen  Wesen , 
So   eilt  die  Zeit  hin  als  der  Götter  erster. 

1.  Vielleicht  eine  der  Rigv.  1,164,1 — 5  genannten  Siebenheiten,  oder  blofse 
Zahlenspielerei?  Jedenfalls  ist  die  Anschauung  von  v.  1,  nach  dem  alle 
Wesen  die  Räder  sind,  hier  verlassen,  vgl.  die  Anmerkung  zu  Rigv.  1,164,13 
(oben  S.  111).     2.  Als  Zukunft. 

3.  Es  kommt  die  Zeit  mit  vollem  Krug  beladen1, 
Wir  seh'n  ja ,  wie  sie  ihn  ausschüttet  vielfach  2 ; 
Und  wegwärts 3  geht  sie  dann  von  allen  Wesen ; 
Man  rühmt  die  Zeit  im  höchsten  Himmelsraume. 

1.    Das  Füllhorn  der  Zeit,   wie  wir  sagen   würden.     2.    In    der  Gegenwart. 

3.  Als  Vergangenheit. 


Prajäpati  als  Kala,  Atharvav.  19,53.  211 

4.  Sie  hat  hervorgebracht 1  die  Wesen  sämtlich 
Und  überdauert2  auch  die  Wesen  sämtlich; 
Ihr  Vater  ist  sie  und  zugleich  ihr  Sohn  3, 
Darum  ist  keine  höh're  Macht  als  diese. 

1.  Eigentlich  herbeigebracht.  2.  Eigentlich  unischritt,  überging.  3.  Sie  ist 
vor  ihnen  und  wird  nach  ihnen  sein. 

5.  Die  Zeit  schuf  einst  den  Himmel  dort, 
Die  Zeit  die  Erdenwelten  hier; 

Was  war,  was  sein  wird,  durch  die  Zeit 
Getrieben,  mufs  entfalten  sich. 

6.  Die  Zeit  erschuf  das  Erdenrund; 
Es  glüht  die  Sonne  in  der  Zeit; 
Die  Wesen  all  sind  in  der  Zeit, 
In  ihr,  was  nur  das  Auge  schaut. 

7.  Manas  und  Präna  sind  in  ihr, 
In  ihr  befafst  der  Käme  ist1; 
Und  alle  Wesen  freuen  sich, 
Wenn  ihre  Zeit  gekommen  ist. 

1.  Bewufstsein  (manas),  Leben  (präna)  und  Sprache  (numan)  sind  in  der  Zeit 
beschlossen,  kommen  nur  in  ihr  zur  Entwicklung. 

8.  Das  Tapas  auch  beschlossen  ist, 
Brahman,   das  Höchste,  in  der  Zeit; 
Sie  ist  des  Weltalls  Herrscherin, 
War  Mutter  des  Prajäpati 1. 

1.    Wörtlich:    Herrscher  und  Vater,  da  Kala,  die  Zeit,  masculinum  ist. 

9.  Durch  sie  erregt,  hervorgebracht, 
Bestellt  in  ihr  allein  die  Welt ; 

Die  Zeit,  Brahman  geworden,  trägt 

In  sich  den  Parameshthin  (oben  S.  204)  selbst. 

10.  Die  Zeit  schuf  der  Geschöpfe  Heer, 
Schuf  anfangs  den  Prajäpati; 
Svayambhü'1  sowie  Kacyapa2 

Und  Tapas 3  wurden  durch  die  Zeit. 

1.  Svayambhü  „der  durch  sich  selbst  Seiende",  später  als  Neutruni  Beiwort 
des  Brahman,  eine  Abstraktion,  ähnlich  der  des  Parameshthin,  nicht  so.wohl 
an  Rigv.  10,83,4,  als  vielmehr  an  die  svadhä  „Selbstsetzung"  Rigv.  10,129,2.  5 
anzuschliefsen.  2.  Name  eines  vedischen  Sängers,  wie  auch  alter  Name 
für  Schildkröte  (kacchapa).  Vielleicht  auf  letzterer  Bedeutung  beruht  (in 
dem  Sinne  wie  oben  S.  197)  die  Vorstellung  des  Kacyapa  als   eines    letzten 

14* 


212  HI-    Geschichte  des  Prajäpati,  Anhang. 

Trägers  der  Welt,  analog  dem  Svayambhü  und  Parameshthin,  und  wie  diese 
vielfach  mit  andern  Principien  identisch  gesetzt.  3.  Tapas  als  Urprincip 
erschien  schon  Rigv.  10,190  (oben  S.  134).  —  Der  Dichter  erhebt  sein 
Princip  zum  höchsten,  indem  er  alle  früher  aufgestellten,  für  welche  die  ge- 
nannten nur  als  Beispiele  dienen,  von  ihm  abhängig  macht.  —  Ebenso  im 
folgenden  Hymnus. 

Atharvaveda  19,54. 

1.  Die  Wasser  aus  der  Zeit  wurden, 
Brahman,  Tapas,  der  Weltenraum ; 
Durch  sie  geschieht  der  Sonn -Aufgang, 
In  ihr  der  Sonne  Untergang. 

2.  Durch  sie  fährt  hin  der  Wind   läuternd, 
Durch  sie  streckt  sich  die  Erde  breit, 
In  ihr  der  weite  Himmel  ruht. 

3.  In  ihr,  was  war  und  was  sein  wird, 
Schuf  ehedem  das  heilige  Wort1; 
Die  Hymnen  aus  der  Zeit  wurden, 
Die  Opfersprüche  aus  der  Zeit. 

1.  mantra,  d.  h.  das  brahman,  die  trayi  vidyä  als  schöpferisches  Princip  in 
der  Zeit. 

4.  In  ihr  Opfer  man  aufbrachte, 
Der  Götter  unvergänglich  Teil ; 
In  ihr  Gandharva's ,  Apsaras', 
Die  Welten  selbst  gegründet  sind. 

5.  In  ihr  vom  Himmel  her  auftrat 
Angiras  und  Atliarvan  hier; 

Sie  schuf  die  Erdenwelt,   die  höchste  Welt   auch, 
Schuf  reine  Welten ,  reiner  Welt  Ausspannung. 

6.  Die  Zeit  gewann  durch  Brahman  alle  Welten; 
So   eilt  die  Zeit  hin  als  der  Götter  höchster. 

Die   Hymnen  an   Rohita. 

Taitt.  Br.  2,5,2,1—8.    Atharvav.  13,1—3. 

Als  eine  andre  Umformung  des  Prajäpati,  oder  wenigstens 
als  eine  Gestalt,  welche  wesentliche  Züge  von  ihm  entlehnt 
hat,  ist  zu  betrachten  Rohita,  „der  Rote"  oder  (nach  der  in 
seinen  Hymnen   beliebten  Etymologie)   „der  [am  Firmament] 


Prajäpati  als  Rohita.  213 

Emporgeführte",  das  heifst  ursprünglich  die  Sonne,  dann 
aber,  mit  Unterscheidung  der  körperlichen  Erscheinung  und 
der  in  ihr  wirkenden  Kräfte,  die  schöpferische  Sonnenkraft, 
der  Genius  der  Sonne,  welcher  mit  der  Sonne  selbst  bald 
als  identisch  betrachtet,  bald  wieder  von  ihr  unterschieden 
wird  (Taitt.  Br.  2,5,2,7  tasmin  gigriye  aja1  ekapäd  =  Atharvav. 
13,1,6;  vgl.  Atharvav.  13,1,22  rohita  neben  rohini  =  süri,  und 
v.  25,  wo  Rohita  als  die  strahlende  Kraft  erscheint,  welche 
der  Sonne  wie  dem  Feuer  gemeinsam  ist).  —  Schon  in  einer 
wichtigen,  auch  in  dem  Rohita-Liede  Atharvav.  13,2,35  reprodu- 
zierten Stelle  des  Rigv.  1,115,1  heifst  es  von  Sürya,  der 
Sonne: 

Es  stieg  empor  der  Götter  glänzend  Antlitz, 

Das  Auge  Mitra's,  Yaruna's  und  Agni's, 

Und  überstrahlte  Himmel,  Erd'  und  Luftraum, 

Siirya,  das  Selbst  (äfman)  des,  was  sich  regt  und  feststeht. 

Aus  Stellen  wie  dieser,  welche  die  Sonne  als  das  Selbst,  die 
Seele  der  belebten  und  leblosen  Natur  feiert,  mochte  die 
Richtung  erwachsen,  welche  den  Rohita,  die  Sonne  oder  den 
Genius  der  Sonne,  für  das  schöpferische  Princip  der  Dinge 
erklärte  und  ihn  demgemäfs  mit  den  wesentlichen  Zügen  des 
Prajäpati  ausstattete,  sodafs  es  in  den  letzten  Ausläufern  dieser 
Entwicklung  von  ihm  heifst,  Atharvav.  13,2,39 — 41: 

Rohita  ward  zur  Zeit  (Kala)  anfangs,  Rohita  zu  Prajäpati, 
Er  ist  der  Opfer  Uranfang,  Rohita  brachte  uns  das  Licht. 

Rohita  ist  zur  Welt  worden,   er  überstrahlt  den  Himmelsglanz, 
Rohita  ist's,  der  durchwandert  mit  seinen  Strahlen  Erd'  und  Meer. 

Durchstreifend  jede  Weltgegend  ist  er  des  Himmels  Oberherr, 
Himmel,   Ocean  und  Meere,  alles,  was  ist,  behütet  er. 

Hier  werden  auf  Rohita  nicht  nur  die  Namen  Kala  und  Prajä- 
pati übertragen,  sondern  auch  die  beiden  Grundfunktionen 
des  letztern,  die  Schöpfung  und  Erhaltung  der  Welt,  und 
wenn  es  in  scheinbarem  Widerspruch  dagegen  Atharvav. 
13,3,23   heifst,   die  Götter  hätten  den  Rohita  erzeugt,   so   ist 


214  HI.    Geschichte  des  Prajäpati,  Anhang. 

daran  so  wenig  (mit  Muir  5,396)  Anstofs  zu  nehmen,  wie  an 
der  analogen  Äufserung  Rigv.  10,90,  die  Götter  hätten  durch 
Opferung  des  Purusha  die  "Welt,  zu  der  sie  selbst  mit  gehören, 
hervorgebracht  (oben  S.  154);  an  beiden  Stellen  sind  die 
Götter  nur  mythologischer  Zierat  und  nichts  andres. 

—  Leider  ist  uns  diese  so  naturwahre  Lehre  von  Rohita, 
der  Sonnenkraft  als  dem  schöpferischen  und  belebenden  Princip 
der  Dinge,  nicht  mehr  in  ihrer  ursprünglichen  Gestalt  erhalten, 
sondern  nur  in  zusammengestoppelten  und  für  fremde  Zwecke 
dienstbar  gemachten  Fragmenten,  nämlich  in  den  beiden 
Stücken  Taitt.  Br.  2,5,2,1—8  und  in  den  Atharvaliedern  13,1—3. 

Das  Taittiriya-brahmanam  2,5,2,1 — 8  verwendet  acht 
Verse  des  Rohitaliedes  in  liturgischem  Sinne;  der  aus  dem 
Meere  aufsteigende  und  die  Welt  schaffende  und  erhaltende 
Rohita  soll  nach  Angabe  des  Scholiasten  der  Prajäpatirüpo 
"'qvah  (p.  600)  oder  agvarüpah  Prajäpatih  (p.  602)  sein,  das 
heifst  Prajäpati  in  Gestalt  des  aus  dem  Wasser,  in  dem  es 
gebadet  wurde,  herausgeführten,  beim  Acvamedha  zu  opfern- 
den Rosses,  nachdem  schon  Taitt.  Samh.  7,5,25  (sowie  später 
Brih.  Up.  1,1)  das  Opferrofs  mit  dem  Weltall  symbolisch 
identifiziert  wurde.  In  dieser  Auffassung  des  Rohita  als 
Opferrofs,  von  deren  Ursprünglichkeit  nach  dem  ganzen 
Charakter  des  Textes  keine  Rede  sein  kann,  haben  wir  einen 
neuen  und  handgreiflichen  Beleg  für  die  (oben  S.  175  fg. 
nachgewiesene)  Art,  wie  die  Brähmana's  philosophische  Texte 
für  liturgische  Zwecke  zurechtschneiden  und  entstellen.  Den 
besten  Beweis  werden  die  Verse  selbst  bieten,  die  wir  hier 
übersetzen: 

Taittmya-hrälimavam  2,5,2,1 — 8. 

1.  Empor,  Kraftvoller,  der  du  weilst  in  Wassern! 
Und  dieses  Reich  betritt,  das  wonnevolle! 

Ja,  Rohita,  der  diese  Welt  erschaffen, 
Mach'  uns  in  unsern  Reichen  wohlbehalten! 

2.  Der  Steigende  (rohita)  hat  Stieg'  um  Stieg'   erstiegen 
Wachstum  durch  Kinder,   der  Geschöpfe  Heimort, 
Er,  als  ihr  Inbegriff,  fand  die  sechs  Weiten, 

Hat,   ausschauend  nach  Bahn,   dies  Reich  erobert. 


Rohita,  Taitt.  Br.  2,5,2.  215 

3.    Erobert  hat  sich  Eohita  das  Reich  hier, 

Zerstreut  die  Feinde,  Freiheit  sei  von  Furcht  uns! 
Mit  mächt'gen  Tönen  mögt  ihr,  Erd'  und  Himmel, 
Mit  reichen  Klängen  uns  dies  Reich  ermelken. 

-4.    Rohita  überstreicht  die  Welt  allformig, 

"Wenn  Anstieg  ihm  und  Aufstieg  sich  vollenden; 

Zum  Himmel  dringend  mit  gewalt'ger  Gröfse, 

Mög*  er  benetzen  uns  *das  Reich*  mit  seinem  Labtrank. 

5.  Die  Völker,  die  durch  deine  Glut  getreten 
Nach  deinem  Kalb,  der  Gäyatri,  ins  Dasein, 
Nimm  in  dich  auf  mit  ihrer  ganzen  Fülle, 
Zärtlich,  wie  Sohn  und  Mutter,  komme  zu  xxns! 

6.  Und  ihr,   o  Marut's,  mächt'ge  Pricni- Söhne, 
Mit  Indra's  Hilfe  rafft  hinweg  die  Feinde; 
Gern  hört  euch  Rohita,  ihr  Himmelstürmende , 
Ihr  dreimal  sieben  Marut's,   Süfstranklustige ! 

7.  Rohita  schuf  den  Himmel  und  die  Erde, 

In  ihm  der   Höchste  spannt  des   Opfers  Faden, 

Auf  ihn  stützt  sich  der  ewige  Einfüfser  (die  Sonne), 

Er  hat  mit  Kraft  befestigt  Erd'  und  Himmel. 

8.  Rohita  hat  befestigt  Erd'  und  Himmel, 

Er  hat  gestützt  des  Himmels  Licht  und  Feste, 

Im  Mittelreich  den   Luftraum  ausgemessen, 

Des  Himmels  Licht  fanden  durch  ihn  die  Götter. 

Noch  weniger  als  das  eben  mitgeteilte  Brähmanastück 
können  die  Rohita-Hymnen  des  Atharvaveda  13,1.  2.  3 
darauf  Anspruch  machen,  die  ursprünglichen  Texte  der  Rohita- 
Lehre  zu  sein.  Vielmehr  sind  es  Verwendungen  gewisser  auf 
Rohita  bezüglicher  Bruchstücke  zu  Zwecken,  welche  dieser 
Lehre  ganz  fremd  sind.  —  Zunächst  nun  bedarf  es  kaum  des 
Hinweises  auf  die  Verschiedenheit  der  Versmafse,  die  Zu- 
sammenhanglosigkeit  des  Inhalts,  vielleicht  auch  die  Inkonse- 
quenz der  Anschauungen,  um  jedem  deutlich  zu  machen,  dafs 
alle  drei  Lieder  bunt  zusammengewürfelte  Fragmente  sind. 
So  unzweifelhaft  aber  dies  ist,  so  wenig  können  wir  uns  die 
Schnellfertigkeit  mancher  Vedaphilologen  in  Ausscheidung, 
Umstellung,  Zerlegung  solcher  überlieferter  Trümmer  zu  eigen 


216  HI.    Geschichte  des  Prajäpati,  Anhang. 

machen,  wenn  wir  uns  den  Prozefs  vergegenwärtigen,  dessen 
letzte  Ergebnisse  sie  sind.  Es  wurden,  so  dürfen  wir  an- 
nehmen, ursprünglich  Lieder  gesungen,  welche  den  Rohita, 
die  im  rötlichen  Schimmer  der  Sonne  wie  auch  des  Feuers 
sich  offenbarende  Kraft,  zum  Princip  der  Dinge  erhoben  und 
demgemäfs  mit  den  Zügen  des  Einheitsliedes  Rigv.  1,164,  der 
Vicvakarmanlieder  10,81.  82  und  namentlich  des  Prajäpati- 
Hymnus  10,121  ausstatteten.  Die  Verschiedenheit  der  Metra 
wie  der  Anschauungen  weist  darauf  hin,  dafs  es  manche  dieser 
Lieder  gegeben  hat.  Sie  wurden  gesungen  und  wieder  ge- 
sungen, —  von  einer  schriftlichen  Aufzeichnung  kann  für  diese 
Zeit  keine  Rede  sein,  —  und  soweit  sie  Anklang  und  Ver- 
ständnis fanden,  prägten  sie  sich  dem  Gedächtnisse  ein. 
Manches  ging  hierbei  verloren,  in  der  Regel  wohl  das  Un- 
bedeutendere, mitunter  vielleicht  auch  das  Tiefste  und  Beste, 
weil  man  es  nicht  verstand.  Die  in  Gedächtnis  behaltenen 
Verse  der  verschiedenen  Lieder  klumpten  dann  nach  und  nach 
zu  gröfsern  Ganzen  zusammen,  wurden  mit  andern,  wirklich 
oder  nur  scheinbar  verwandten  Reminiscenzen  zu  Komplexen 
verbunden,  mit  deren  Zusammenstimmung  man  es  nicht  sehr 
genau  nahm,  und  diese  Komplexe  verdanken  ihre  Erhaltung 
oft  nur  dem  Umstände,  dafs  sie  in  den  Dienst  praktischer, 
oft  ganz  anderartiger  Zwecke  gestellt  wurden,  denen  dann  die 
Lieder  durch  ungehörige  Einschiebungen  und  Abänderungen, 
so  gut  es  gehen  wollte,  angepafst  wurden.  So  verdanken 
wir  die  Erhaltung  des  besprochenen  Fragmentes  Taitt.  Br. 
2,5,2  seiner  Verwendung  beim  Rofsopfer,  und  ganz  ebenso 
stehen  die  im  Atharvaveda  erhaltenen  Bruchstücke  im  Dienste 
der  diesem  Veda  eigentümlichen  Zwecke.  —  Am  deutlichsten 
ist  dies  bei  dem  dritten  Liede,  Atharvav.  13,3,  welches  in 
schwungvollen,  aber  sehr  unzusammenstimmenden  Rhythmen 
und  mit  mannigfacher,  teils  wörtlicher,  Rückbeziehung  auf  die 
philosophischen  Hymnen  des  Rigveda  den  Rohita  feiert,  — 
nur  um,  wie  der  allen  Versen  angehängte  Refrain  sagt,  diesem 
zornmütigen  Gotte  als  ägas,  als  Objekt  des  Ärgernisses  und 
der  Rache,  als  &vdfos[j.a  denjenigen  zu  weihen,  der  einen  Brah- 
manen  schindet  und  plagt.  Hier  kann  an  der  Verwendung 
älterer,    zum  Teil  auch   anderweit   wiederkehrender  Verse   zu 


Rohita,  Atharvav.  13,1.  217 

einem  ihnen  ganz  fremden  Zwecke  gar  kein  Zweifel  sein.  — 
Weniger  deutlich  ist  der  Zweck  des  zweiten  Liedes, 
Atharvav.  13,2.  Dasselbe  ist  seinem  Hauptbestande  nach  ein 
aus  vielen  Bruchstücken  zusammengesetzter  und  namentlich 
auch  reichlich  mit  Rigvedaversen  durchflochtener  Hymnus  an 
die  Sonne,  der  seine  Aufnahme  unter  die  Rohita-Lieder  wohl 
nur  der  Einschiebung  einiger  Rohita-Verse  13,2,25 — 26  und 
39 — 41  verdankt,  in  denen  allein  von  Rohita  die  Rede  ist.  — 
Am  rätselhaftesten  und  interessantesten  liegen  die  Verhältnisse 
bei  dem  ersten  Liede,  Atharvav.  13,1,  welches  aus  60  Versen 
besteht  und  sehr  heterogene  Bestandteile  enthält.  Wir  fangen 
bei  der  Analysis  am  besten  von  hinten  an.  Hier  lösen  sich 
zunächst  die  beiden  Gäyatristrophen  v.  59  —  60  ab,  welche 
um  Beharrlichkeit  im  sittlichen  und  rituellen  Wandel  den 
Indra  anflehen,  zu  Rohita  keine  nähere  Beziehung  haben  und 
hier  vielleicht  nur  gleichsam  als  Fufsnote  zur  Erklärung  des 
zwischen  Göttern  und  Menschen  ausgespannten  Opferfadens 
in  v.  6  dienen  sollen.  —  Vorhergehen  die  Verse  56 — 58,  ein 
Fluchlied  in  der  Manier  des  Atharvaveda  gegen  den,  welcher 
eine  Kuh  tritt,  lyratyan  süryam  mehati  (welches  auch  Hesiod 
schon  verbietet,  erga  v.  727  [x-qh'  dvr"  tjsXiou  TSTpa,u.[ji.svo<;  opj'oc 
fyj.r/stv),  Feuer  und  Sonne  durch  Zwischentreten  abschneidet, 
ohne  weitere  Beziehung  auf  Rohita.  —  Das  vorhergehende  Stück 
v.  45  —  55  ist  ein  zusammenhängender,  nur  wenig  verderbter 
Hymnus,  in  welchem  der  mit  Sonne  und  Feuer  identisch  ge- 
setzte Rohita  als  Rishi  erscheint,  der  durch  sein  Gebet  die 
beiden  Opferfeuer,  Winter  und  Sommer,  anfacht,  auf  denen 
das  Leben  der  Natur  beruht.  —  Davor  steht  v.  36 — 44  ein 
Abschnitt,  welcher,  übrigens  selbst  ein  Aggregat  von  Frag- 
menten, das  Geheimnisvolle,  nur  dem  Weisen  Verständliche 
an  dem  wechselweisen  Erscheinen  und  Verschwinden  der  Sonne, 
des  Rohita,  mit  mehrfacher  Anlehnung  an  Rigv.  1,164,17.  19. 
41.  42  feiert.,  —  Endlich  bleibt  übrig  als  Hauptbestand  des 
Liedes  der  Teil  v.  1 — 35,  der  zwar  keine  ursprüngliche  Ein- 
heit bildet,  aber  in  sekundärer  Weise  zu  einem  einheitlichen 
Zwecke  verschmolzen  ist;  er  bezieht  sich  nämlich  auf  einen 
König,  welcher  wiederholt  (v.  1.  5.  8.  34.  35)  angeredet  wird, 
dann  auch  wieder  selbst   zu   reden  scheint  (v.  12.  13.  14.  28. 


518  HI.    Geschichte  des  Prajäpati,  Anhang. 

30.  32),  und  welchem  Rohita,  der  König  der  Welt,  sein  Reich 
verleihen,  oder  erhalten,  oder  auch  wiederherstellen  soll. 
Hierbei  werden  auch  die  acht  Verse  Taitt.  Br.  2,5,2,1 — 8, 
denen  eine  solche  Beziehung  gänzlich  fehlt,  verwendet,  teil- 
weise in  anderer,  durch  die  Beziehung  auf  den  König  bedingter 
Form,  ohne  dafs  sich  mit  Sicherheit  entscheiden  liefse,  ob 
für  diese  ersten  Verse  die  Beziehung  auf  den  König  vom 
Atharvaveda  später  hineingetragen  worden,  oder  ob  sie  ur- 
sprünglich gewesen  ist  und  vom  Taittiriya-brähmanam  beseitigt 
wurde.  —  Wir  übersetzen  die  Lieder,  indem  wir  versuchen, 
die  Teile  und  Unterteile,  so  gut  dies  möglich  ist,  von  einander 
zu  sondern.  Die  mit  einem  Kreuz  bezeichneten  Verse  sind 
die  mit  dem  Taitt.  Br.  gemeinsamen;  die  hervorgehobenen 
Stellen  beziehen  sich  auf  den  König. 

Atharvaveda  13,1. 
A.  Vers  1  —  35. 

•}•    1.    Empor,  Kraftvoller,   der  du  weilst  in  Wassern, 
Und  dieses  Reich  betritt,   das  wonnevolle! 
Ja,  Rohita,  der  diese  Welt  gemacht  hat, 
Soll  wohlbehalten  Dich  dem  Reich  erhalten. 

2.    Die  Kraft  erschien,  die  in  den  Wassern  weilte; 
Steig'  über   Völkern  auf,  die  dir  entsprungen! 
Soma  enthaltend,  Wasser,  Kräuter,  Rinder, 
Vierfüfsiges  und  Zweifüfsiges ,  bring'  es  her  uns! 

■\    3-    Und  ihr,  o  Marut's,  mächt'ge  Pricni- Söhne, 
Zei'malmt  mit  Indra's  Hülfe  unsre  Feinde! 
Gern  hör'   euch  Rohita,  ihr  Überquellende, 
Ihr  dreimal  sieben  Marut's,  Süfstranklustige ! 

f    4.    Die  Stiege  auf,   empor  stieg  Rohita, 

Das  Ammenkind1,  zu  der  Geschöpfe  Heimort; 

In  Windeln  ihn  auffanden  die  sechs  Weiten, 

Er  hat,  nach  Bahn  schauend,  dies  Reich  erobert. 

1.  Die  Ammen  sind  die  Stiege,  Anstiege  und  Aufstiege;  Tgl.  v.  9. 

•f    5.    Für  Dich  hat  Rohita  dies  Reich  erobert, 

Zerstreut  die  Feinde;  Freiheit  ward  von  Furcht  Dir; 
Mit  mächt'gen  Tönen  mögen  Erd'  und  Himmel, 
Mit  reichen  Klängen  Dir  den  Wunsch  ermelk en. 


Koliita,  Atharvav.  13,1.  219 

*j"    6.    Rohita  schuf  den  Himmel  und   die  Erde, 

In  ihm  der  Höchste  spannt  des  Opfers  Faden, 

Auf  ihn  stützt  sich  der  ewige  Einfüfser  (die  Sonne), 

Er  hat  mit  Kraft  befestigt  Erd'  und  Himmel. 

•\  /l.    Rohita  hat  befestigt  Erd'  und  Himmel, 

Er  hat  gestützt  des  Himmels  Licht  und  Feste, 
Das  Mittelreich,   den  Luftraum  ausgemessen, 
Unsterblichkeit  fanden  durch  ihn  die  Götter. 

•j*    8.    Rohita  überstrich  die  Welt  der  Formen, 

Wenn  Anstieg  sich  und  Aufstieg  ihm  vollenden; 

Zum  Himmel  steigend  mit  gewalt'ger  Gröfse, 

So  möge  er  Dein  Reich  mit  Milch,  mit  Butter  salben» 

9.    Auf  deinen  Stiegen,  Anstiegen,  Aufstiegen 

Gehst  du  und  füllst  den  Himmel  und  den  Luftraum, 

Genährt  durch  ihr  Gebet,  durch  ihre  Milch,  sei 

Ein  Wächter  über  Volk  und  Reich  für  diesen!1 

1.  Lies:  rohita,  asya. 

•f"  10.    Die  Völker,  die  durch  deine  Glut  getreten 

Nach  deinem  Kalb,  der  Gäyatri,  ins  Dasein, 
Nimm  in  dich  auf  mit  mildgesinntem  Geiste, 
Zärtlich,  wie  Kalb  und  Mutter,  komme  zu  uns! 

11.    Hoch  steht  nun  Rohita  am  Firmamente, 

Jung  und  doch  weise,  schafft  er  alle  Formen, 
Mit  scharfem  Lichte  glänzt  herab  sein  Feuer, 
Im  dritten  Himmelsraum  schafft  er  uns  Freuden. 


(Die  folgenden  Verse  scheint  der  König  zu  sprechen.) 

12.  Der  Stier  mit  tausend  Hörnern,  Wesenkenner, 
Besprengt  mit  Opferbutter,  Soma,  mannhaft, 

Verlasse  nicht  mich!    Nicht  lass'  ich   dich,    dein  Schützling,. 
Gieb  mir  Gedeihen  an  Rindern  und  an  Helden. 

13.  Rohita  ist  des   Opfers  Mund  und  Zeuger, 

Ihm  bring'  ich  opfernd  Rede,   Ohr  und  Herz  dar, 
Zu  Rohita  geh'n  Götter,  freudigen  Gemütes, 
Ansehen  geb'   er  in  der  Ratsversammlune  mir! 


220  UI.    Geschichte  des  Prajäpati,  Anhang. 

14.  Rohita  setzte  Vigvakarman's  Opfer  ein1, 
Daher  mich  diese  Kräfte  überkamen;  — 
So  weit  die  Welt  ist,  deine  Nabe2  möcht'  ich  rühmen! 

1.  Das  Selbst-Opfer  des  Vifvakarman,  als  welches  Rigv.  10,81.  82  die  Welt- 
schöpfung  erschien.  2.  Die  Weltnabe,  auf  deren  Rad  nach  Rigv.  1,164,13. 
10,82,6  alle  Wesen  stehen. 


15.    Dich  hat  bestiegen  Brihati  und  Pankti, 

Und  Kakubh  voller  Glanz,   o  Wesenkenner! 

Dich,  mit  der  Ushnihä  und  heil'gem  Laut,  der  Yashat-Ruf, 

Dich  hat  bestiegen  Rohita  mit  seinem  Samen  l. 

1.  Wie  oben  v.  10  die  Gäyatri  das  Erstgeborne  des  Rohita  war  (vgl.  S.  227. 
v.  5),  so  werden  hier  die  Metra  Brikett?,  Pankti,  Kakubh,  Ushnihä,  der  heilige 
Laut  Om  und  der  Opferruf  Vashat  sein  Same  genannt,  mit  dem  er  den  Jäta- 
vedas,  d.  h.  wohl  das  (Opfer-)Feuer  besteigt.  Dürfte  man  ändern  (oder  Jäta- 
vedas  auf  den  Königsthron  beziehen),  so  könnte  es  eine  Anrede  an  den 
Thron  des  Königs  sein,  den  nach  Ait.  Br.  8,6  bei  der  Königsweihe  die 
'Götter  mit  den  Metren  besteigen,  indem  der  König  zum  Throne  spricht:  Agnish 
tvä  Gäyatryä  sayvk  chandasä  ärohatu ,  Savitä  Ushnihä,  Somo  Anushtubhä, 
Brihaspatir  Brihatyä,  Miträ-Varunau  Panktyä,  Indras  Trishtubhü,  Vipve 
devä  Jagatyä.  Tän  aham  artu  räjyuya,  sämräjyäya,  bhaujyuya,  svärujyäyo, 
vairujyäya,  pärameshthyäya,  räjyuya,  mähäräjyäya,  udhipatyuya,  srävafyäya 
•atishthäya  ärohämi.  Vgl.  Ait.  Br.  8,12,  wonach  der  Thron  des  Indra  aus 
Metren  besteht. 


16.    Er  hüllt  sich  in  den  Schofs   der  Erde, 
In  Himmel  sich  und  Luftraum  sich, 
Und  er  durchdringt  die  Himmelswelten 
Nach  jenseits  vom  Lichtrosse  aus 1. 
Ein  isoliertes  Fragment  eines  Rohita- Liedes. 


Vers  17 — 20.  Anrede  des  Priesters  an  den  König:  Väcas- 
pati,  der  Genius  des  Lebens,  soll  alle  segnen,  besonders  aber 
soll  das  überhaupt  (parameshthin,  hier  der  König)  von  Agni, 
Rohita  und  dem  Priester  mit  Kraft  und  Glanz  umkleidet 
werden.  (Die  Verwendung  dieser  Verse  beim  godanam  ist 
wohl  erst  ganz  sekundär.) 


Roliita,  Atharvav.  13,1.  221 

17.  0  Lebensherr!  gelincl  sei  uns  die  Erde, 
Gelind  die  Heimstätte,  das  Lager  lieblich, 

Das  Leben  auch  weil'  hier  in  unsrer  Freundschaft,  — 
Und  Dich,  o   Oberhaupt,  soll  Agni 
Mit  Lebenskraft  und  Lebensglanz  umgeben! 

18.  0  Lebensherr!  unsre  fünf  Jahreszeiten, 
Die  Vigvakarman  schuf,  uns  zu  umblühen, 

Das  Leben  auch  weil'  hier  in  unsrer  Freundschaft,  — 
Und  Dich,  o   Oberhaupt,  soll  Kohita 
Mit  Lebenskraft  und  Lebensglanz  umgeben. 

19.  0  Lebensherr!    Frohsinn  und  Geist  verleih'  uns, 
Im  Kuhstall  Rinder,  in  den  Schöfsen  Kinder, 

Das  Leben  auch  weil'  hier  in  unsrer  Fi-eundschaft,  — 
Und  Dich,  o  Oberhaupt,  will  selbst  ich  hier 
Mit  Lebenskraft  und  Lebensglanz  umgeben. 

20.  Um  Dich  sei  Savitar,   der  Gott,  und  Agni, 
Auf  Dir  Mitra  mit  Glanz  und  Varuna, 
Alle  Unholde  niedertretend,  nahe, 

Du  hast  dies  Reich  Dir  wonnevoll  bereitet. 


Vers  21 — 27  folgt  ein  Fragment,  welches  keine  erkennbare 
Beziehung  zur  Königsweihe  zeigt,  und  in  dem  neben  Roliita 
als  folgsame  Gattin  Roliini  oder  Süri,  d.  h.  wohl  der  farben- 
schillernde (prishati)  Sonnenkörper,  tritt.  Rohita  ist  der 
zeugungskräftige  Stier,  Roliini  die  milchreiche,  willig  gewäh- 
rende Kuh  der  Götter.  —  Voran  steht,  gleichsam  als  Thema, 
der  stark  veränderte  Vers  Rigv.  8,7,28. 

21.  Wenn  dich  im  Wagen,  Rohita! 
Als  Vorspannrofs  die  Bunte  fährt, 
Wandelst  du  schön,  strömst  Wasser  aus. 

22.  Dem  Rohita  zeigt  Rohini  sich  folgsam, 

Die  Sonnin,  kraftvoll,  grofs  und  schön  von  Farbe, 
Mit  ihr  lafst  uns  in  allen  Kämpfen  siegen, 
Mit  ihr  bewältigen  alle  Feindesheere. 


222  HI.    Geschichte  des  Prajäpati,  Anhang. 

23.  Dem  Rohita  dient  Rohini  zum  Wohnsitz, 

Dort  ist  sein  Pfad,  wo  sie,  die  Bunte,  wandelt, 
Sie  ziehn  Gandharva's,  Kagyapa's  nach  oben, 
Und  sie  behüten  Weise  unablässig. 

24.  Der  Sonne  gelbe,   strahlenreiche  Rosse 

Ziehn  ihren  leichten  Wagen  stets,  unsterblich, 

Und  Rohita,  von  Opferbutter  glänzend, 

Steigt  auf  zum  Himmel,  steigt  empor  zur  Bunten. 

25.  Rohita  ist  der  Stier  mit  scharfen  Hörnern, 
Die  um  das  Feuer,  um  die  Sonne  strahlen, 

Von  ihm,  der  Erd'  und  Himmel  festgestützt  hält, 
Von  ihm  her  schaffen  Schöpfungen  die  Götter. 

26.  Rohita  stieg  zum  Himmel  auf 
Dort  aus  dem  grofsen  Ocean, 
Alle  Aufstiege  Rohita  erklomm. 

27.  Der  Milch-  und  Butterreichen  brüll'   entgegen, 
Sie  ist  der  Götter  Milchkuh,  unversagend; 
Nun  trinkt  den  Soma  Indra,  Friede  walte, 
Agni  lobsinge,  Du  treib'  weg  die  Feinde!  — 


Vers  28  —  32.  Diese  Verwünschungen  der  Nebenbuhler 
können  wechselweise  dem  Könige  (v.  28.  30.  32)  und  einem 
«einfallenden  Chore  (v.  29.  31)  zugeteilt  werden. 

28.  Nun  ist  entzündet,  flammt  empor 
Agni,  mit  Butter  reich  besprengt; 
Bewältigend,  allbewältigend 
Treff'  meine  Nebenbuhler  er! 

29.  Er  treffe  sie,  versenge  den, 

Der  noch  als  Feind  uns  widersteht ! 
Mit  Agni,   dem  fleischfressenden, 
Sengen  die  Nebenbuhler  wir. 

30.  Schlag'  nieder ,  schlag'  zu  Boden  sie , 
Indra,  mit  deinem  Blitz  im  Arm, 
Durch  Agni's  Kraft  gebunden  sind 
Jetzt  meine  Nebenbuhler  mir. 


Rohita,  Atharvav.  13,1,  223 

31.  Wirf,  Agni,   seine  Nebenbuhler  uns  zu  Füfsen, 
Stürz'  um,  Brihaspati,   den  stolzen  Blutsverwandten, 
Hinab  lafst  fahren  sie,  Indra  und  Agni, 

Mitra  und  Varuna!   ohnmächtig  sei  ihr  Zürnen. 

32.  Gott^Sürya,   der  du  steigst  empor, 
Schlag'  meine  Nebenbuhler  ab, 
Mit  einem  Steinwurf  stürze   sie 
Hinab  in  tiefste  Finsternis!   — 


Vers  33  —  35   scheint  das  Königslied  mit   einem  Schlufs- 
segen  zu  Ende  zu  gehen. 

33.  Als  Kalb   der  Viräj l  und  als  Stier  der  Lieder 
Bestieg  mit  lichtem  Rücken  er  den  Luftraum; 
Lobsingt  dem  Kalb   das  Lob  mit  Butterspende, 
Brahman  (Gebet)  ist  es,  durch  Brahman  macht  es  wachsen! 

1.  Rohita  ist  das  Kalb  der  Viräj  (Urmaterie)  in  dem  Sinne,  den  wir  oben 
S.  153  besprachen.  (Eine  andre  Auffassung  wäre,  dafs  Rohita,  wie  sogleich 
durch  das  Gebet,  so  hier  durch  das  Metrum   Viräj  genährt  würde.) 

34.  Zum  Himmel  steige  und  zur  Erde  steige, 
Zum  Reiche  steige  und  zum  Reichtum  steige, 
Steig'  zu  Nachkommen,  zur  Unsterblichkeit  auf, 

Mit  Rohita  mög'st  Du  Dein  Selbst  verschmelzen1! 

1.  Der  Angeredete  mufs  der  König  sein,  so  schlecht  die  erste  Vershälfte 
auf  ihn  pafst.  Vielleicht  hiefs  es  ursprünglich,  in  einem  Gebete  an  Rohita: 
rohita  nah  tanvam  samsprigasva,  „o  Rohita,  mit  uns  dein  Selbst  verschmelze!" 

35.  Die  Götter,  reichserhaltende,  die  um  die  Sonne  kreisen, 
Mit  diesen  im  Vereine  möge  Dir 

Wohlwollend  Rohita  das  Reich  gewähren!  — 

B.  Vers  36  —  44. 
Das  Sonnengeheimnis;  in  Fragmenten. 

36.  Dich  führen  Opfer,   durch  Gebet  geläutert, 
Empor,  als  Rosse  wandernd  ihre  Wege; 

Über  das  Meer  hin  überstrahlst  du  seine  Flut. 


224  HI-   Geschichte  des  Prajäpati,  Anhang. 

37.  Auf  Rohita  beruhen  ErcV  und.  Himmel, 

Auf  ihm,  der  Güter,  Rinder  schafft  und  Beute; 
Du,  des  Nachkommen  tausend  sind  und  sieben1, 
So  weit  die  Welt  ist,   deine  Nabe  möcht'  ich  rühmen2! 
1.    Vielleicht  die  tausend  Fixsterne  und  die  sieben  Planeten.    2.  Vgl.  v.  14. 

38.  Herrlich  durchläufst  du  Pole,  Zwischenpole, 
Herrlich  der  Tiere  "Welt  und  regen  Menschen; 
Herrlich  im  Schofs  der  Aditi,  der  Erde, 

0,  möchte  schön  wie  Savitar  ich  werden. 


39.  Wenn  drüben  du,  weifst  du  was  hier, 
Wenn  hier,  schaust  du  was  drüben  ist; 
Weit  schaut  von  hier  den  Himmel  man, 
An  ihm  den  weisen  Sonnengott. 

40.  Als  Gott  sengst  du  die  Götter  selbst, 
Und  dennoch  wandelst  du  im  Meer; 
Ja,   alle  zünden  Agni  an, 

Doch  nur  sehr  Weise  kennen  ihn. 

41.  Abwärts  vom  Jenseits,  aufwärts  doch  vom  Diesseits 
Die  Kuh  emporklimmt  mit  dem  Kalbe  schwanger.  — 
Wohin  gewandt,  nach  welcher  Gegend  zog  sie? 

Wo  nur  gebiert  sie?  doch  nicht  in  der  Herde!1 
1.  =  Rigv.  1,164,17.     Die  Erklärung  oben  S.  112. 

42.  Einfüfsig  und  zweifüfsig  und  vierfüfsig, 
Achtfüfsig   dann  geworden  und  neunfüfsig 
Und  tausendsilbig  als  des  Weltalls  Metrum, 
Von  dem  herab   die  Meere  sich  ergiefsen 1. 

1.    Vgl.  Rigv.  1,164,41—42,  oben  S.  117. 

43.  Zum  Himmel  steigend  f ordre,  Gott,  die  Rede  mir! 
Dich  führen  Opfer,  durch  Gebet  geläutert, 
Empor  als  Rosse,  wandernd  ihre  Wege. 

44.  Ich  weifs  es,  o  Unsterblicher, 
Was  dein  Aufstieg  am  Himmel  ist, 

Und  was   dein  Wohnsitz  ist  im  höchsten  Räume ! 


Rohita,  Atharvav.  13,1.  225 

C.  Vers  45 — 55. 

Rohita  schafft  die  Welt  durch  Opferung;  ein  zusammen- 
hängendes Lied,  nachgebildet  dem  Purusha-Liede  Rigv.  10,90, 
doch  mit  bedeutsamer  Hervorhebung  des  Brahmanbegriffes. 

45.  Die  Sonne  überschaut  Erde  und  Himmel  und  die  Wasserflut, 
Die  Sonne  als  der  Welt  Auge  empor  zum  hohen  Himmel  stieg. 

46.  Die  Pole  waren  Grenzhölzer,  die  Erde  ward  zum   Opferbett, 
Wo  als  zwei  Feuer  anfachte  Kälte  und  Hitze  Rohita. 

47.  Als  Kalt'  und  Hitz'   er  anfachte,  zu  Opferpfosten  Berge  schuf, 
Als  Schmalz  Regen  gofs  lichtkundig  in   beide  Feuer  Rohita. 

48.  Durch  Rohita's,  des  lichtkund'gen,  Gebet  flammt  da  das  Feuer  auf, 
Durch  ihn  Hitze,  durch  ihn  Kälte,  durch  ihn  dies  Opfer  ward 

vollbracht. 

49.  Durch  sein  Gebet  die  zwei  Feuer  wuchsen,  beopfert  durch  Gebet; 
Durch  Rohita's  Gebet  flammten,  des  lichtkund'gen,  der  Feuer  zwei. 

50.  Im  Satyam x  angelegt  eines,    in  Wassern  bricht  das  andre  auf, 
Durch  Rohita's  Gebet  flammten,  des  lichtkund'gen,  der  Feuer  zwei. 

1.  Ob  Satyam  und  Wasser  sich  hier  verhalten  wie  das  Höchste  (vgl.  das 
spätere  satyaloka)  und  Tiefste,  oder  etwa  wie  causa  efficiens  und  materialis, 
lassen  wir  dahingestellt. 

51.  Er,  den  der  Windgott  umschönert,    Indra  und  Brahmanaspati, 
Durch  Rohita's  Gebet  flammten,  des  lichtkund'gen,  der  Feuer  zwei. 

52.  Er,  der  als  Opferbett  Erde,   als  Opfergabe  Himmel  schuf, 
Als  Opferfeuer  schuf  Hitze,  Rohita,  Regen -Schmalz  schaffend, 

hat  alles  ätman -haft  gemacht. 

53.  Regen  ward  Schmalz,  Hitze  Feuer,  die  Erde  ward  zum  Opferbett, 
Dann  hob  die  Berge  hier  Agni  durch  Lobgesänge  hoch  empor. 

54.  Durch  Loblieder  sie  hochhebend,  sprach  dann  zur  Erde  Rohita: 
„Auf  dir  soll  alles  dies  werden,  was  ward,  und  was  in  Zukunft  ist." 

55.  Und  so  geschah  dies  Erst-Opfer,  es  war  und  wird  fortwährend  sein, 
Durch  ihn  erzeugt  ist  dies  Weltall,  und  alles  was  hienieden  glänzt, 

durch  den  allweisen  Rohita. 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.    I.  15 


226  IU-    Geschichte  des  Prajäpati,  Anhang. 

D.  Vers  56—58. 

Angehängte  Verfluchungsformeln. 

56.  Wer  eine  Kuh  tritt  mit  Füfsen,  Wasser  abschlägt  zur  Sonne  hin, 
Dir  hau'  ich  deine  Wurzel  ah,  wirf  künftig  keinen  Schatten  mehr. 

57.  Der  du,  beschattend  mich,  vortrittst  zwischen  das  Feuer  ein  und 

mich, 
Dir  hau'  ich  deine  Wurzel  ab,  wirf  künftig  keinen  Schatten  mehr. 

58.  Wenn  einer  heut',   o  Gott  Sürya,  sich  eindrängt  zwischen  dich 

und  mich, 
An  dem  wischen  wir  Angstträume  und  Unrat  ab  und  Ungemach. 

E.  Vers  59—60. 
Schlufsgebet,  an  Indra. 

59.  Nicht  lafs  vom  Weg  uns  weichen  ab,  vom  Somaopfer,  Indra,  nicht, 

lafs  nicht  Unholde  trennen  uns! 

60.  Der  Faden,   der  als  Opfer  geht  bis  zu  den  Göttern  ausgespannt, 

den  lafs  uns  opfernd  fassen  an! 

Atharvaveda  13,2. 

Dieses  an  die  Sonne  gerichtete  Lied  (vgl.  oben  S.  217) 
enthält  nur  zwei  auf  Rohita  bezügliche  Stellen,  von  denen  die 
eine  schon  oben  S.  213  mitgeteilt  wurde,  die  andre,  v.  25 — 26, 
welche  einen  Vicvakarman-Vers  (Rigv.  10,81,3)  frei  benutzt, 
hier  noch  folgen  mag. 

25.  Rohita  ist,  an  Tapas  reich,  zum  Himmel  aufgestiegen, 
Und  er,  im  Mutterschofs  geboren  abermals, 

Ist  zu  der  Götter  Oberherrn  geworden. 

26.  Der  allerregend,  von  allen  Seiten  Antlitz  ist, 
Yon  allen  Seiten  Hand,  Handfläche  allseits, 
Er  trägt  auf  seinen  Armen,  trägt  auf  Flügeln, 
Der  eine  Gott,  schaffend,  Himmel  und  Erde. 

Atharvaveda  13,3. 

Obgleich  dies  Lied  eine  Anzahl  von  Rohita -Versen  nur 
benutzt,    um    daraus    eine    Verfluchungsformel    zu    schmieden 


Rohita,  Atharvav.  13,3.  227 

gegen  den,  welcher  einen  Brahmanen  bedrängt,  so  sind  doch 
jene  Verse,  die  unzweifelhaft  älteren  Liedern  entnommen  sind, 
zu  reich  an  poetischer  Schönheit  und  philosophischer  Be- 
deutung, als  dafs  wir  sie  hier  entbehren  möchten. 

1.  Der  Himmel  hier  und  Erde  hat  erschaffen, 
Der  in  die  Dinge  sich  wie  in  ein  Kleid  hüllt, 
In  dem  die  Pole,  die  sechs  Weiten  ruhen, 

Durch  die  er  wie  ein  Vogel  hoch  hindurchblickt,  — 

ihm,  dem  zornmüt'gen  Gott,  sei  der  ein  Greuel, 
wer  den  dies  wissenden  Brahmanen  schindet; 
erschüttre  ihn,   o  Rohita,  zermalm'  ihn, 
leg'  ihn  in  Fesseln ,  den  Brahmanenschinder ! 

2.  Durch  den  zu  ihrer  Zeit  die  Winde  brausen, 
Von  dem  herab   die  Meere  sich  ergiefsen,  — 

ihm,   dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 

3.  Der  sterben  läfst  und  leben  läfst,  von  dem 
Ihr  Leben  die   Geschöpfe  alle  haben,   — 

ihm,  dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 

4.  Der,  wenn  er  einhaucht,  Erd'  und  Himmel  sättigt, 
Durch  seinen  Aushauch  füllt  den  Bauch  des  Meeres,  — 

ihm,  dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 

5.  In  dem  Viräj,  Parameshthin ,  Prajäpati, 
Agni  Vaigvänara  und  die  Pankti  ruhen, 

Der  des  Höchsten  Odem,  des  Allhöchsten  Kraft  besitzt,   — 
ihm,  dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 

6.  In  dem  beruh'n  sechs  Weltweiten,  fünf  Pole, 
Vier  Meere  und  des  Opfers  heil'ger  Dreilaut  (om), 
Des  Auge  Zorn  blickt  zwischen  Erd'  und  Himmel,  — 

ihm,  dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 

7.  Der  Nahrung  nimmt  und  Herr  ist  aller  Nahrung, 
Der  Brahmanaspati  selbst  ist,   ... 

Der  war,  was  erst  noch  werden  wird,  der  Herr  der  Welt,  — 
ihm,  dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 

8.  Der  mifst  durch  Tag  und  Nacht  den  dreifsigteiligen  (Monat), 
Der  auch  den  dreizehnten  Schaltmonat  ausmifst,   — 

ihm ,  dem  zornmüt'gen  Gott ,  u.  s.  w. 

15* 


228  HI.    Geschichte  des  Prajäpati,  Anhang. 

9.'  Beschwingte  Rosse  ziehn  auf  dunklem  Wege 
Im  Wasserkleide  neu  empor  zum  Himmel, 
Sie  kehren  wieder  her  vom  Thron  der  Ordnung,   — 
ihm,  dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 

1.  =  Rigv.  1,164,47  (oben  S.  118). 

10.  0  Kagyapa!    Das  Schimmernde,  Glanzvolle 
Prunkhafte,  reich  an  Licht,  das  du  gezimmert, 
Und  an  es  setztest  alle  sieben  Sonnen,  — 

ihm,  dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 

11.  Das  Brihat-Säman  kleidet  ihn  von  Osten, 
Es  hegt  ihn  das  Rathantaram  von  Westen, 
In  Licht  ihn  kleidend  ewig,  unablässig,  — 

ihm,  dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 

12.  Sein  einer  Flügel  Brihat  war,  sein  andrer 
Rathantaram,  kraftvoll  zusammenschiefsend, 
Als  Götter  einst  den  Rohita  erzeugten,  — 

ihm,  dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 

13.  Er  ist  allnächtlich  Varuna,   ist  Agni, 

Und  er  ist  Mitra,  wenn  er  morgens  aufgeht, 
Als  Savitar  durchwandelt  er  den  Luftraum, 
Als  Indra  glüht  er  mitten  durch  den  Himmel,  — 
ihm,   dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 

14.  Er  spannt  die  Flügel  tausend  Tagesweiten, 
Wenn  er  als  goldner  Vogel  fliegt  am  Himmel, 
An  seinem  Busen  hält  er  alle  Götter, 

So  wandelt  er,   die  Wesen  überschauend,  — 
ihm,  dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 

15.  Ja,  dieser  Gott,  wenn  er  im  Wasser  weilt,  ist 
Atri,1  mit  tausend  Wurzeln,  vielen  Kräften2, 
Er,  welcher  diese  ganze  Welt  geschaffen,  — 

ihm,  dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 

1.  Schon  hier  also  Deutung  des  Atri-My  thus  auf  die  Sonne.  2.  Henry  (les 
hymnes  Rohitas  p.  48)  will  puruqäkho  lesen;  aber  solange  die  Sonne  im 
Wasser  weilt,  kann  wohl  von  ihren  Wurzeln  und  Kräften,  nicht  aber  von 
ihren  Zweigen  die  Rede  sein. 


Roliita,  Atharvav.  13,3.  229 

16.  Den  lichten  Gott  hinführen   rasche  Rosse, 
Wenn  er  mit  Herrlichkeit  am  Himmel  strahlet; 
Sein  Leib   glüht  hoch  am  Himmel,  und  derselbe 
Scheint  bis  hierher  mit  goldnen   Strahlenstreifen,   — 

ihm,  dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 

17.  Auf  des  Geheifs  die  Falben  die  Aditya's  fahren, 
Durch  dessen  Opf'rung  viele  mit  Bewufstsein  wandeln, 
Das  eine  Licht  nach  vielen  Seiten  glänzend,   — 

ihm,   dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 

18. x  Einrädrig  ist  der  Wagen,  den  die  sieben 

Anschirr'n,  ihn  zieht  ein  Rofs  mit  sieben  Namen; 
Dreinabig  ist  es,   ewig,  unaufhaltsam, 
Das  Rad,  auf  welchem  alle  Wesen  fufsen,  — 
ihm,   dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 
1.  =  Rigv.  1,164,2.  Die  Erklärung  oben  S.  108. 

19.  Achtfach  geschürt  zieht  ein  gewalt'ger  Renner, 
Der  Götter  Vater,   der  Gebete  Zeuger, 

Des  Opfers  Faden  ausmessend  im  Geiste, 
Durchläutert  er  die  Welt  als  Mätarigvan,  — 
ihm,  dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 

20.  Derselbe  Faden  läuft  durch  alle  Weiten 

In  die  Gäyatri,   die   des  Ew'gen  Schofs   ist,   — 
ihm,  dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 

21.  Drei  Sonnenuntergänge,  drei  Aufgänge, 

Drei  Luftreiche  und  auch   drei  Himmel  giebt  es, 
Wir  kennen ,  Agni ,  deine  drei  Geburten , 
Wir  kennen  die   drei  Ursprünge  der  Götter,  — 
ihm,   dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 

22.  Der,  als  geboren  er,   die  Erde  aufschlofs, 

Ein  Wellenmeer  [von  Licht]  im  Luftraum  setzte,  — 
ihm,   dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 

23.  Du,  Agni,   angelegt  durch  Kraft,   durch  Lichtglanz, 
Entflammt  als  Sonne,  glänzest  hoch  am  Himmel; 
Wie  jauchzten  da  die  Marut's,  Pricni- Söhne, 

Als  Götter  einst  den  Rohita  erzeugten,  — 
ihm,  dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 


230  III.   Geschichte  des  Prajäpati,  Anhang. 

24. l  Der  Odem  giebt  und  Kraft  giebt,  er,    dem   alle, 
Wenn   er  befiehlt,  gehorchen,  selbst  die  Götter, 
Der  hier  beherrscht  Zweifüfsler  und   Vierfüfsler, 
ihm,  dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 

1.    Ans  Rigv.  10,121,  v.  2  und  3  (ol.cn  S.  132). 

25. *  Der  Einfufs  schreitet  schneller  als  der  Zweifufs  wohl, 
Der  Zweifufs  holt  den  Dreifufs  ein  von  hinten, 
Der  Vierfufs  kommt  auf  der  Zweifüfs'gen  Ruf  herbei , 
Schaut  auf  zu  ihnen ,  ihre  Schar  umwedelnd ,  — 
ihm,  dem  zornmüt'gen  Gott,  u.  s.  w. 

1.  =  Rigv.  10,117,8  (oben  S.  94).  Der  Einfufs,  welcher  schneller  ist  als  der 
Mann,  der  Greis  am  Stabe  und  der  Hund,  ist  (wie  Atharvav,  13,1,6,  oben 
S.  -219)  die  Sonne. 

2G.    Aus  schwarzer  Nacht  ward  hellglänzend  ein  junges  Kalb  ge- 
hören uns, 
Und  hoch  am   Himmel   aufsteigend   erstieg    die   Stiege  Rohita. 


Die   Hymnen    an   an  ad  van   und   vapä. 

Atharvaveda  4,11.  10,10. 

Das  philosophische  Denken  bewegt  sich  in  Abstraktionen, 
und  um  so  mehr,  je  allgemeinere  Verhältnisse  es  umspannt. 
Das  Volk  hingegen  hat  nur  für  das  Konkrete  Verständnis; 
ihm  müssen  daher  jene  abstrakten  Vorstellungen  in  Symbole 
umgesetzt  werden.  Prajäpati  ist,  rein  abstrakt  gefafst,  die 
zeugende  und  gebärende  Kraft  der  Natur.  Ein  naheliegendes 
Symbol  für  dieselbe  ist  der  zeugende  Stier,  die  gebärende 
Kuh.  Wir  werden  daher  die  beiden  Hymnen  Atharvav.  4,11, 
welcher  anadvän,  den  Ochsen,  und  Atharvav.  10,10,  welcher 
wf«,  die  Kuh,  als  Princip  der  Welt  feiert,  am  passendsten 
der  Prajäpati -Lehre  anschliefsen,  um  so  mehr,  als  beide  in 
den  Hymnen  ausdrücklich  mit  Prajäpati  identifiziert  werden 
(Atharvav.  4,11,7.  11.  10,10,30),  Einen  Vorgang  hat  diese  Sym- 
bolik in  dem  Hymnus  Rigv.  10,31,  den  wir  oben  S.  139 — 141 
mitteilten,  und  in  welchem  die  zeugende  und  gebärende  Kraft 
der  Natur  als  Stier  und  Kuli  auseinandertraten.    Dort  hiefs  es, 


Prajäpati  als  ana<Jvan,  Atliarvav.  4,11.  231 

Rigv.  10,31,8:  ickshä  sa  dyäväprithivt  bibharti,  während  der  so- 
gleich mitzuteilende  Hymnus  Atharvav.  4,11,1  mit  den  Worten 
beginnt:  anadvän  dädhdra  prithivim  uta  dydm.  Hiernach  ist, 
eine  bewufste  Bezugnahme  des  Jüngern  Dichters  auf  den 
altern  wohl  möglich. 

/'rajäpati  =  anadvän. 
Atharvaveda  4, 1 1 . 

Von  einem  Stieropfer  (wie  wohl  behauptet  worden)  ist 
in  diesem  Hymnus  keine  Bede;  vielmehr  heilst  es  ausdrücklich 
v.  3,  dafs  der  von  keinem  Ochsen  essen  wird,  welcher  weifs, 
was  dieser  Hymnus  lehrt,  dafs  Prajäpati  als  Ochse  Erde, 
Himmel  und  Luftraum  trägt  (v.  1),  dafs  die  sieben  Jahres- 
zeiten seine  Melkungen  sind  (v.  9),  und  dafs  <lns  vratam  (die 
Observanz)  des  Prajäpati,  vermöge  dessen  ihm  zwölf  Nächte 
des  Jahres  heilig  sind,  ein  anaduho  vratam,  ein  diesem  Welt- 
ochsen geltendes  Gelübde,  ist.  Durch  diesen  welttragenden 
und  welterhaltenden  Ochsen  sind  denn  auch  (wie  vormals 
durch  Prajäpati,  oben  S.  102.  104)  die  Götter  zur  Unsterblich- 
keit gelangt  (v.  6);  unter  ihnen  ist  Indra  seine  besondere 
Erscheinungsform  (v.  7  fnd.ro  rüpend),  „als  Indra  aber  ist  er 
unter  den  Menschen  gegenwärtig  als  der  heifse  Kessel  Gharma" 
(vielleicht  der  beim  Pravargya  gebrauchte),  „welcher  glüht", 
d.  h.  dessen  Glühen  mit  dem  Hervorleuchten  der  Blitze  Indra's 
aus  den  Wolken  verglichen  wurde,  v.  3.  Weiter  erinnert 
dieser  Gharma  durch  seine  vier  Füfse  (die  er  gehabt  haben 
mufs,  v.  5)  an  die  vier  Füfse  des  Weltochsen,  den  er  vorstellt. 
Anderseits  entspricht  wiederum  Agni,  das  Opferfeuer,  dieser 
Mittelpunkt  der  Welt,  dem  valta  des  Ochsen,  welcher  von 
vorn  und  hinten  gleich  weit  entfernt  ist  (v.  8),  somit  hier 
nicht  das  Schulterblatt,  sondern  etwa  das  llückenkreuz  oder 
den  auf  ihm,  wie  Agni  auf  der-  Erde,  ruhenden  Teil  des 
Geschirrs  bedeuten  mag.  Was  endlich  v.  10  betrifft,  so  mufs 
(falls  er  nicht  ans  einem  Ackerliede  zufällig  hierher  gelangt 
ist)  seine  Bedeutung  sein,  da  ('s  der  Weltochse  mit  sich  zugleich 
den  Pflüger,  d.  h.  den  Verehrer,  zur  höchsten  Seligkeit  empor- 
führt. 


232  HI.    Geschichte  des  Prajäpati,  Anhang. 

Atharvaveäa  4,11. 

1.  Der  Ochse  trägt  die  Erde  und  den  Himmel, 
Der  Ochse  trägt  dazu  den  weiten  Luftraum. 
Der  Ochse  trägt  die  Pole,  die  sechs  Weiten, 
Er  in  die  ganze  Welt  ist  eingegangen. 

2.  Der  Ochs  ist  Indra,  ist  des  Vieh's  Behüter l, 
Durchmifst  als  mächfger  Gott2  dreifache  Wege, 
Was  war,  was  sein  wird  und  was   ist3,  ermelkt  er, 
Die  Satzungen  vollbringend  aller  Götter. 

1.  Wohl  Pdshan.     2.  Vielleicht   Vishnu.     3.  Prajäpati  als  Kala  (Zeit). 

3.  Als  Indra  weilt  er  in  der  Menschen  Mitte, 
Erhitzt  als  Kessel  und   [wie  Indra]  glühend;   — 
Der  wird  nachkommenreich,  geht  nicht  im  Nebel, 
Wer,  weil  er  solches  weifs,   nicht  ifst  vom   Ochsen! 

4.  Der  Ochse  melkt  im  Jenseits  die  Vergeltung; 

Der  Wind,  von  Osten  brausend,  macht  ihn  schwellen, 
Der  Regen  ist  sein  Milchstrom,  Sturm  sein  Euter, 
Opfer  die  Milch,   die  Melkung  Opfergabe. 

5.  Er,  welchen  Opfrer  nicht,  noch  Opfer  meistert1, 
Nicht  wer  die  Gabe  giebt,  noch  wer  sie  annimmt, 
Allsieger  er,  Allträger  und  Allschöpfer  (Vigvakarma))),   — 
Sagt,  kennt  ihr  des  vierfüfs'gen  Kessels  Wesen? 

1.  Die  Bedeutung  des  Kessels  wird  damit,  dafs  er  beim  Opfer  dient,  nicht 
erschöpft,  da  er  Vertreter  des  Indra  und,  durch  diesen,  des  Weltoclisen 
(Prajäpati,    Vigvakarmän)  ist. 

6.  Durch  den  die  Götter  auf  zum  Himmel  stiegen, 
Des  Leibes  ledig,  zu  des  Ew'gen  Nabe  (S.  220), 
Der  führe  uns  zu  der  Vergeltung  Welt  auf, 
Ruhmreich  durch  Tapas,  treu  des  Kessels  Satzung1. 

1.  gharmasya  vratam  =  anadulio  vratam  =  Prajapater  vratam. 

7.  Indra  an  Form,  an  Kreuz  des  Rückens  Agni, 
Prajäpati,  Parameshthin  und  Viräj,   — 

Vigvänara  (Indra)  habt  erstiegen  ihr, 

Vaigvänara  (Agni)  habt  erstiegen  ihr, 

Den  Ochsen  habt  erstiegen  ihr, 

Er  ward  [der  Welt]  Befestiger,   er  der  Träger. 


Prajäpati  als  anadväu,  Atharvav.  4,11.  233 

8.  Das  ist  des  Ochsen  Mittelpunkt,  wo  hier  ihm  liegt  des  Rückens 

Kreuz , 
Von   hier  liegt   ihm  so  viel  rückwärts,    wie  von   ihm  vorwärts 

liegt  von  hier. 

9.  Wer  kennt  des  Ochsen  Melkungen,  die  sieben  unversieglichen, 
Erlangt  Kinder,  erlangt  Himmel;  die  sieben  Bishi's  kannten  sie. 

10.  Was    er   zertritt,    ist  Entkräftung,   Erquickung   was   sein  Bein 

wirft  auf, 
Zum  Himmelstranke  durch  Mühe  geh'n  beide,   Ochs  und  Pflüger, 

ein. 

11.  Man   sagt  ja,    diese    zwölf  Nächte    sei'n   heilig    dem  Prajäpati, 
Doch  wer  den  Spruch  auf  sie  kennt,  weifs,  dafs  sie  dem  Ochsen 

heilig  sind. 

12.  Er   melkt   abends,    er    melkt   morgens,    er  melkt   auch  um  die 

Mittagszeit, 
Und  seine  Melkungen  alle  kennen  als  unversieglich  wir. 

Prajäpati  =  vagä. 

Atharvaveda  10,10. 

Dafs  unter  der  Kuli  (vagä)  dieses  Hymnus,  nicht  in  den 
Anfangsversen,  wohl  aber  von  v.  4  an,  das  schaffende  und 
tragende  Princip  aller  Dinge  zu  verstehen  ist,  ergiebt  sich  im 
allgemeinen  aus  den  ihr  beigelegten  Prädikaten.  Anderseits 
aber  sind  die  Aussagen  unseres  Dichters  über  die  Vagä,  über 
ihr  Verhältnis  zu  dem  Opfer,  zu  den  Göttern,  zu  den  Dingen 
so  wenig  zusammenstimmend,  und  die  über  dieselben  vorge- 
brachten Mythen  tragen  so  sehr  das  Gepräge  des  Geheimnis- 
vollen, ohne  doch  eigentlich  tiefsinnig  zu  sein,  dafs  wir  nicht 
an  den  philosophischen  Ernst  des  Verfassers  glauben  können, 
vielmehr  in  seinem  Gedichte  ein  Stück  Philosophie  und  Ge- 
heimnisthuerei  im  Dienste  äufserer,  materieller  Zwecke  zu 
erkennen  meinen.  Welches  diese  Zwecke  sind,  darüber  giebt 
Anfang  und  Schlufs  des  Ganzen  Aufschlufs.  —  Die  Kuh  ist 
die  gewöhnliche  Opfergabe  (dakshinä),  und  sie  als  solche 
anzunehmen,  war  ein  Privilegium  der  Brahmanen,  welches 
diese  auf  alle   Weise  zu   schützen   suchten.     Diesem  Zwecke 


234  HI.    Geschichte  des  Prajäpati,  Anhang. 

dient  auch  unser  Hymnus,  denn  sein  Grundgedanke  ist,  dafs 
nicht  jeder  würdig  ist,  die  Kuh  als  Opfergabe  entgegen- 
zunehmen, sondern  nur  derjenige,  welcher  die  schon  im  Eigveda 
(z.  B.  1,164.  10,31)  angedeuteten  geheimnisvollen  Beziehungen 
der  Kuh  zum  Universum  versteht.  Und  nun  ergeht  sich  der 
Verfasser  in  philosophischen  Betrachtungen,  die  zwar  dem 
Uneingeweihten  sehr  tief  erscheinen  mögen,  in  Wahrheit  aber 
keinen  innern  Zusammenhang  besitzen  und  nur  darauf  berechnet 
sind,  zu  imponieren.  —  Wenn  es  der  allgemeine  Charakter 
der  Sophistik  ist,  die  Philosophie  oder  was  ihr  ähnlich  sieht, 
im  Dienste  nicht  der  Erkenntnis  sondern  äufserer  Zwecke  zu 
betreiben,  so  können  wir  vielleicht  unsern  Hymnus  als  ein 
Stück  indischer  Sophistik  betrachten.  Wir  übersetzen  ihn 
hier,  indem  wir  versuchen,  die  Teile  zu  sondern  und  ihren 
Grundgedanken  zu  bestimmen. 

Vers  1 — 3.  Nur  der  darf  eine  Kuh  als  Opfergabe  annehmen, 
welcher  in  ihre  Geheimnisse  eingeweiht  ist. 

1.  Ehre  sei  dir,  wenn  du  entstehst,  Ehre,  wenn  du  entstanden  bist, 
Den   Hufen    und   den    Schweifhaaren    sei   Ehre,    Kuh,    und    der 

Gestalt ! 

2.  Nur  wer  die  sieben  Höhen  kennt  und  auch  die  sieben  Fernen  weifs, 
Und    wer    des  Opfers  Haupt   wohl  weifs ,    soll  nehmen  zum  Ge- 
schenk die  Kuh. 

3.  Die  sieben  Höhen  kenne  ich,  die  sieben  Fernen  weifs  ich  auch, 
Auch  weifs  des  Opfers  Haupt  wohl  ich,  und  Soma,  sichtbar  in 

der  Kuh. 

Vers  4—8.  Metaphysik  der  Vaca,  ohne  innere  Zusammen- 
stimmung;  v.  6  ist  sie  die  Gattin  des  Parjanya,  v.  7  ist  der- 
selbe ihr  Euter;  v.  5  atmen  die  Götter  in  der  Kuh,  v.  6 
geht  sie  erst  durch  die  Macht  des  Gebetes  zu  den  Göttern  ein. 

4.  Durch  sie  sind  Himmel  und  Erde  behütet  und  die  Wasser  hier, 
Die  Kuh  mit  tausend  Milchströmen  begrüfsen  wir  durch  unsern 

Spruch. 

5.  Hundert  Eimer,  hundert  sind  Melker, 
Hundert  Behüter  sind  in  ihrem  Rücken, 

Die  Götter,  die  in  ihr  atmen,  die  kennen  allzumal  die  Kuh. 


Die  va^ä,  Atharvav.  10,10.  235 

6.  Opfer  als  Fufs,  als  Milch  Labung,  Freiheit  als  Odem  hat  die  Kuh, 
Sie  geht  als  Gattin  Parjanya's  ein  zu  den  Göttern  durch  Gehet. 

7.  In  dich  ging  ein  der  Gott  Agni,  in  dich  Soina,   o  Büffelin, 
Euter  an  dir  ist  Parjanya,  Zitzen,   o  Hehre,  Blitze  sind. 

8.  Wasser  war  deine  Erstmelkung,  o  Kuh,  die  zweite  Ackerland, 
Als  dritte  hast  du  Reich,  Nahrung  und  Milch,  o  Kuh  gemolken  uns. 

Vers  9 — 12.  Mythologie  der  Kuh:  Indra  tränkt  sie  mit 
Soma,  sie  aber  wendet  sich  dem  Stier  (etwa  dem  Vritra)  zu, 
worauf  Indra  erzürnt  ihr  die  Milch  raubt  und  sie  in  drei 
Schalen  an  den  Himmel  versetzt;  hingegen  raubt  die  Kuh 
wiederum  vom  himmlischen  Opfersitze  des  Atharvan  in  drei 
Schalen  den  Soma.  —  Eine  zu  Grunde  liegende  Naturan- 
schauung,  und  damit  eine  Existenzberechtigung  des  Mythus,, 
ist  nicht  erkennbar. 

9.  Als   du,  von  Aditi's  Kindern  gerufen,  nahtest,  Heilige, 

Da  reichte  dir  als  Trank  Indra  in  tausend  Schalen  Soma  dar. 

10.  Als  Indra  du  genaht  willig,   da  rief,   o  Kuh,   der  Stier  dich  an; 
Darum  hat  dir  der  Feind  Vritra's  zürnend  den  Trank,  die  Milch, 

geraubt. 

11.  Die  Milch,    die    zürnend    dir    damals  der  Schätzeherr,    o  Kuh, 

geraubt, 
Die  hält  noch  heut'  in  drei  Schalen  das  Firmament  in  seiner  Hut. 

12.  Dafür  hast  du  in  drei  Schalen  den  Soma,   Göttin  Kuh,  geraubt,. 
Dort  oben  wo  Atharvan  safs,  geweiht  auf  goldner  Opferstreu. 

Vers  13  — 17.  Alle  Götter  der  drei  Weltgebiete,  von 
Soma,  Väta  und  Sürya  geführt  und  von  den  entsprechenden 
Geschöpfen  begleitet,  sollen  Zeugen  der  Vermählung  der  Kuh 
mit  dem  Ocean,  d.  h.  wohl  des  Eingiefsens  der  Milch  (vaga) 
in  die  Soma -Kufe  (samudra)  sein,  woraus  unser  Dichter  ein 
grofses  Mysterium  macht. 

13.  Nun  kommt  herbei  mit  Gott  Soma  und  allem,  was  da  Füfse  hat; 
Die  Kuh  dem  Ocean  nahte,  geführt  von  Hochzeitsgenien. 

14.  Xun  kommt  herbei  mit  Gott  Väta  und  allem,   was  da  Flügel  hat; 
Die  Kuh  dem  Ocean  zutanzt,  indem  sie  Vers'  und  Lieder  trägt. 


236  HI.    Geschichte  des  Prajäpati,  Anhang. 

15.  Nun  kommt  herbei  mit  Gott  Sürya  und  allem,  was  da  Augen  hat: 
Die  Kuh  den  Ocean  anschaut,  indem  die  Holde  Sterne  trägt. 

16.  Als  so  umstrahlt  von  Goldglanze  du  standest  da,   o  Heilige, 
Zum  Hengst  der  Ocean  da  ward,  der  dich,  o  holde  Kuh,  besprang. 

17.  Ha  scharten  sich  zur  Kuh  selig  die  Freiheit  und  die  Lehrerin, 
Dort  oben,  wo  Atharvan  safs,   geweiht  auf  goldner  Opferstreu. 

Vers  18 — 26.  Die  Kuh,  die  selbst  aus  einem  dem  Gebet 
entsteigenden  Tropfen  entstanden  ist,  wird  hier  als  die  Mutter 
aller  möglichen  Dinge  und  Verhältnisse  gefeiert,  wobei  der 
Dichter  seinen  andächtigen  Zuhörern  wieder  einigen  mystischen 
und  mythologischen  Sand  in  die  Augen  streut.  Hingegen 
nimmt  er  es  mit  der  Konsequenz  der  Anschauungen  nicht 
sehr  genau;  so  war  v.  6  das  Opfer  der  Fufs  der  Kuh;  hier 
ist  dasselbe  zur  Abwechslung  v.  18  ihre  Waffe;  hingegen  ist 
v.  24  die  Kuh  des  Opfers  Auge;  v.  20  wiederum  entsteht  das 
Opfer  aus  den  Weichen  der  Kuh,  während  v.  25  die  Kuh 
selbst  das  Opfer  empfängt. 

18.  Die  Kuh  ist  Mutter  des  Kriegers,  ist,  Freiheit,  deine  Mutter  auch, 
Das  Opfer   ist  der  Kuh  Waffe;    aus  ihr  entstand  das  Geistige. 

19.  Empor  aus  des  Gebets  Gipfel  ein  kleiner  Tropfe  stieg  hinauf, 
Daraus  bist  du,   o  Kuh,  worden,   daraus  der  Opferpriester  auch. 

20.  Aus  deinem  Mund  quollen  Lieder,    aus    deinem  Nacken,    Kuh, 

die  Kraft, 
Das  Opfer  aus  der  Bauchgegend,  aus  deinen  Zitzeu  Strahlen  aus. 

21.  Aus    deinen    Schultern   und    Schenkeln,    o    Kuh,    entstand    der 

Sonnengang; 
Aus  deinen  Därmen  Frefsgeister,  aus  deinem  Bauch  die  Pflanzen- 
welt. 

22.  Als  in  Varuna's  Bauchhöhle,  o  Kuh,  du  eingegangen  warst, 
Heraus  der  Beter  dich  führte,   denn  dein  Leitseil  entdeckte  er. 

23.  Und  alle  vor  dem  Kind  bebten,  das  der  Nichtzeuger  zeugte  da,  — 
Er  zeugte  sie ,  da  nannte  Kuh  auch  ihn  man  * , 

Durch  die  Gebete  ward  er  ihr  Verwandter. 

1.  Bizarre  Verschleierung  des  häufigen  Gedankens,  dafs  der  Weise  (der  Beter) 
•durch  Erkenntnis  des  Princips  der  Dinge  zu  diesem  selbst  wird. 


Die  vaca,  Atharvav.  10,10.  237 

24.  Der  wird  allein  im  Kampf  siegen,  der  ihrer  sich  bemächtigt  hat; 
Die  Opfer  sind  die  Obsieger,  Obsieger -Auge  ist  die  Kuh. 

25.  Sie  nimmt  die  Opfer  entgegen,   sie  hält  im  Lauf  die  Sonne  hoch, 
Ja,  in   die  Kuh  geht  ein  selber  der  Beter  mit  dem  Opferbrei. 

26.  Die  Kuh  ehrt  als  die  Gottwelt  man,  sie  als  die  Welt  der  Sterb- 

lichen , 
Die  Kuh  allein  ward  dies  Weltall,   — 
Ward  Götter,  Menschen,  Geister,  Manen  und  Rishi's. 

Vers  27 — 34.  Schlufsbetrachtung.  Nur  der  "Wissende  darf 
eine  Kuh  als  Opfergabe  annehmen;  den  übrigen  kann  dies 
sehr  gefährlich  werden  (v.  27 — 28).  Wer  aber  den  Brahmanen 
eine  Kuh  schenkt,  dem  werden  als  Lohn  dafür  kurzer  Hand 
alle  Welten  versprochen  (v.  32 — 33).  Untermischt  sind  diese 
Ermahnungen  mit  fortgesetzten  Lobpreisungen  der  Kuh  und 
ihrer  metaphysischen  Herrlichkeit. 

27.  Wer  solches  weifs,   der  darf  die  Kuh  annehmen, 

So  wird  das  Opfer  vollständig  und  willig  melkend  dem,  der  giebt. 

28.  Aber  blinkend  hat  drei  Zungen  in  seinem  Rachen  Varuna, 
Zwischen  ihnen  die  Kuh  schimmert,  als  Gabe  leicht  verhängnisvoll !. 

29.  Vierfach  erstreckt  der  Kuh  Nachkommenschaft  sich, 
Ein  Viertel  Wasser  und  ein  Viertel  Götter, 

Ein  Viertel  Opfer  und  das  Vieh  ein  Viertel. 

30.  Die  Kuh  ist  Himmel,  ist  Erde,  ist  Vishnu  und  Prajäpati, 
Der  Kuh  Gemolkenes  tranken  die  Seligen  und  Götter  all. 

31.  Der  Kuh  Gemolkenes  trinkend  die  Seligen  und  Götter  all, 
Verehren  in   dem  Jenseits  dort  vom  Himmelsrosse  ihren  Trank. 

32.  Manche  melken  aus  ihr  Soma,  manche  schätzen  die  Butter  hoch, 
Wer  eine  Kuh  giebt  dem,  der  dies  versteht,  geht  zur  Dreiwelt 

des  Himmels   ein. 

33.  Den  Brahmanen  die  Kuh  gebend,  erwirbt  man  alle  Welten  sich, 
Denn  in  ihr  ist  Ritam,  Brahman  beschlossen  und  das  Tapas  auch. 

34.  Die  Götter  von  der  Kuh  leben,  die  Menschen  leben  von  der  Kuh,. 
Die  Kuh  ward  dieses  Weltganze,  soweit  die  Sonne  niederschaut. 


238  HI.    Geschichte  des  Prajäpati,  Anhang. 

Schlufswort. 

Haben  wir  schon  in  dem  letzten  Hymnus  die  Grenze  des 
zur  Philosophie  Gehörigen  überschritten,  so  würde  dies  noch 
viel  mehr  der  Fall  sein,  wollten  wir  alle  die  Stellen  des 
Atharvaveda  herbeiziehen,  in  welchen  irgend  einem  Gegen- 
stande zu  dessen  augenblicklicher  Verherrlichung  allerlei  philo- 
sophische Bestimmungen  zugeschrieben  werden.  Aber  hier, 
wie  überall,  müssen  wir  wohl  unterscheiden  die  echte  und 
die  unechte  Philosophie;  die  eine  steht  erkenntnisdurstig 
vor  den  Rätseln  des  Daseins  und  sucht  sich  dieselben  zu 
deuten  so  gut  und  so  schlecht  sie  es  vermag;  die  andre  hat 
praktische  Zwecke  im  Auge  und  bedient  sich  der  ererbten 
philosophischen  Begriffe  und  Formeln  nur,  um  diesen  zu 
dienen,  und  an  Beispielen  dafür  ist  schon  im  Atharvaveda 
kein  Mangel.  So  wird  Atharvav.  9,4  ein  Stier  (rishabha) 
aufs  höchste  gefeiert:  er  trägt  alle  Gestalten  in  seinen  Weichen, 
er  war  zu  Anfang  ein  Abbild  der  Wasser  u.  s.  w.  Aber  für 
die  Philosophie  ist  dabei  nichts  zu  gewinnen,  denn  es  handelt 
sich  hier,  wie  der  Zusammenhang  beweist,  wirklich  um  einen 
Stier,  der  geopfert  werden  soll,  und  um  dessen  Verherrlichung. 
•So  wird  Atharvav.  7,20  die  Anumati,  eine  Genie  der  göttlichen 
und  zugleich  der  geschlechtlichen  Liebe  besungen  und  am 
Schlüsse  die  philosophische  Floskel  angehängt,  dafs  Anumati 
„zu  dieser  ganzen  Welt  geworden  ist,  zu  allem  was  steht  und 
geht  und  sich  bewegt".  An  andern  Stellen  werden  Ingre- 
dientien  des  Kultus  mit  mafslosen  Übertreibungen  erhoben; 
so  die  drei  Opferlöffel,  von  denen  es  Atharvav.  18,4,5  heilst: 
„die  Jnhü  trägt  den  Himmel,  die  Upabhrit  den  Luftraum  und 
die  Dhruvd  die  Erde";  so  das  Opfergras  (darb/ta),  welchem 
Atharvav.  19,32,9,  mit  Reminiscenzen  aus  dem  Rigveda,  die 
Befestigung  der  Erde,  die  Stützung  des  Luftraums  und 
Himmels  zugeschrieben  werden;  endlich  gehört  hierher  auch 
Atharvav.  4,35,  wo  jemand  durch  einen  für  die  Brahmanen 
gekochten  Reisbrei  (brahmaudanam)  der  Todesgefahr  zu  ent- 
rinnen hofft  und  dabei  in  empörender  Weise  diesem  Reisbrei 
alle  die  Bestimmungen  beilegt,  denen  wir  nun  schon  so  oft 
in  den  philosophischen  Hymnen  des  Veda  begegnet  sind. 


Prajäpati  im  Atharveda,  Schlufswort.  239 

Zu  dieser  Pseuclophilosophie  müfsten  wir  auch  den  Hym- 
nus an  Ucchishta,  Atharvav.  11,7,  rechnen,  könnten  wir  uns 
entschliefsen ,  der  allgemeinen  Annahme  zu  folgen  und  unter 
ucchishta  den  „Opferrest"  zu  verstehen.  Wir  glauben  aber, 
diesem  Hymnus  doch  einen  würdigern  und  mehr  philoso- 
phischen Sinn  beilegen  zu  dürfen,  und  werden  demgemäfs  in 
dem  Kapitel  über  Purusha,  Präna  und  Atman  noch  auf  den- 
selben zurückkommen. 


IV.    Geschichte  des  Brahman  bis  auf  die  Upanishad's. 

Die  drei  Begriffe,  in  denen  sich  nach  S.  180  das  philo- 
sophische Denken  der  Brähmanazeit  zwischen  Rigveda  und 
Upanishad's  zusammenfassen  läfst,  waren  Prajäpati,  Brah- 
man, Atman.  Bei  denselben  ist  das  Vorrücken  vom  ersten 
zum  letzten,  von  Prajäpati  zu  Atman,  ein  nach  der  Analogie 
anderer  philosophiegeschichtlicher  Entwicklungen  leicht  ver- 
ständlicher Prozess.  Denn  er  bedeutet  ein  Fortschreiten  des 
Denkens  vom  Mythologischen  zum  Philosophischen  hin,  wie 
es  überall  die  Regel  ist.  So  bezeichnet  Xenophanes  in  pole- 
mischem Anschlüsse  an  die  griechische  Volksreligion  sein 
Princip  als  ^sc<;,  während  von  seinen  Nachfolgern,  Pannenides 
und  Piaton,  ebendasselbe  tö  cv,  tö  Svtgxj  5v  benannt  wird. 
So  schliefsen  sich  Descartes  und  Spinoza  der  mittelalterlichen 
Anschauung  insoweit  an,  als  auch  sie  ihr  Princip  Dens 
nennen,  während  in  der  kantischen  Philosophie  dafür  der 
bescheidenere  und  unserm  Erkenntnisgrade  geziemendere  Name 
Ding  an  sich  eintritt.  Ebenso  verhalten  sich  die  Begriffe  Pra- 
jäpati und  Atman.  Aber  das  ist  bezeichnend  für  Indien  und 
seine  Kultur,  dafs  zwischen  den  mythologischen  und  philo- 
sophischen Begriff  sich  ein  dritter  schiebt,  welcher  von  Haus 
aus  weder  das  eine  noch  das  andre,  sondern  ein  rein  ri- 
tueller ist.  Es  ist  charakteristisch  für  die  Zeit,  welche  die 
gröfsten  Ritualwerke  der  Welt,  die  gigantischen  Lehrgebäude 
der  Brähmana's,  errichtete,  dafs  auch  das  philosophische  Denken 
sich  um  das  Brahman,  einen  ursprünglich  rituellen  Begriff', 
konzentrierte  und  denselben  so  fest  erfafste,  dafs  er  auch  später, 
in    der    Upanishadzeit    und    darüber    hinaus,    ja    bis    auf   die 


240  IV.    Geschichte  des  Brahman. 

Gegenwart  hin,  freilich  unter  Abstreifung  des  ursprünglichen 
rituellen  Sinnes,  beibehalten  wurde,  um,  als  völliges  Synonymem 
von  Ätman,  dasjenige  zu  bezeichnen,  was  dem  Inder  als  der 
letzte  Urgrund  der  Welt  und  zugleich  als  das  höchste  Ziel 
alles  menschlichen  Denkens  und  Trachtens  gilt.  Die  eigentliche 
Geschichte  des  Brahman  liegt,  wie  die  des  Atman,  auf  dem 
Gebiete  der  Upanishadlehre  nebst  ihren  Fortsetzungen,  welches 
wir  erst  in  einem  spätem  Abschnitte  betreten  werden;  hier 
liegt  es  uns  ob,  nur  die  Vorgeschichte  des  Brahman-Begriffes 
zu  liefern,  indem  wir  versuchen,  aus  Brähmana,s  und  Atharva- 
veda  die  Stufen  aufzuzeigen,  auf  denen  er  zur  Dignität  eines 
Weltprincips  emporgestiegen  ist.  Vorher  aber  werden  wir 
über  das  Wort  brähman  (neutr.)  zu  handeln  haben,  während 
seiner  Personifikation  als  brahman  (masc.)  erst  in  einem  spätem 
Zusammenhange  zu  gedenken  sein  wird,  daher  wir  hier  die- 
selbe noch  ganz  aufser  Augen  lassen. 

1.   Die  Bedeutungen  des  Wortes  Brahman. 

Schlagen  wir  das  Petersburger  Wörterbuch  nach,  so  finden 
wir  unter  dem  Worte  Brähman  (Neutrum,  Nominativ  Brahma) 
in  sorgfältiger  Sonderung  nicht  weniger  als  sieben  Bedeutungen, 
die  wir  verkürzt  wiedergeben  können  als:  1)  Gebet,  2)  Zauber- 
spruch, 3)  heilige  Rede,  4)  heiliges  Wissen  (Veda),  5)  heiliger 
Wandel  (Keuschheit),  6)  das  Absolutum,  7)  der  heilige  Stand 
(die  Brahmanen).  —  Hier  möchten  wir  die  Frage  aufwerfen: 
ist  es  möglich,  dafs  ein  Wort  so  viele  Bedeutungen  hat?  dafs 
es  überhaupt  mehr  als  eine  Bedeutung  hat?  Eigentlich  wohl 
nicht!  Denn  wenn  wir  von  den  Homonymen  absehen,  bei 
denen  ein  zufälliges,  durch  die  Armut  der  Laute  bedingtes 
Zusammenfallen  des  Lautwertes  für  verschiedene  Begriffe  statt- 
findet, so  hat  eine  jede  Sprache  von  Rechts  wegen,  und  von 
besondern,  nicht  ohne  weiteres  zuzugestehenden  Umständen 
abgesehen,  für  jeden  Begriff  nur  ein  Wort  und  für  jedes  Wort 
nur  einen  Begriff,  und  wenn  wir  beim  Übersetzen  aus  einer 
fremden  Sprache  für  dasselbe  Wort  abwechselnd  verschiedene 
Ausdrücke  wählen  müssen,  so  beruht  dies  darauf,  dafs  sich  die 
Sphären  der  Begriffe  in  den  verschiedenen  Sprachen  nicht 
völlig   decken,   dafs   vielmehr  ein   Wort   und   sein  Begriff'  oft 


Bedeutungen  des  Wortes  brahman.  241 

vielerlei  Merkmale  oder,  populär  gesprochen,  Nebenvorstel- 
lungen  enthält,  von  denen  bald  die  eine,  bald  die  andre  in 
den  Vordergrund  tritt  und  dadurch  den  Übersetzer  jedesmal 
zur  Wahl  eines  andern  Ausdruckes  nötigt.  Hierbei  wird  aber 
oft  die  Hauptvorstellung  der  Nebenvorstellung  zuliebe  unter- 
drückt, während  in  der  Ursprache  auch  bei  dem  Hervortreten 
der  Nebenvorstellung  die  Hauptvorstellung,  ja  Gesamtvor- 
stellung im  Hintergrunde  des  Bewufstseins  stehen  bleibt  und 
von  dort  das  Denken  des  Redenden  oder  Hörenden  beeinflufst. 
Wir  wollen  davon  die  Anwendung  auf  das  Wort  Brahman 
machen  und  versuchen,  die  Einheit  zu  gewinnen,  in  der  seine 
sieben  Bedeutungen  wurzeln. 

Zunächst  scheidet  die  Bedeutung  5)  heiliger  Wandel, 
Keuschheit,  aus,  da  sie  vergleichsweise  selten  und  spät  ist  und, 
wie  wir  mutmafsen,  sich  erst  aus  den  Begriffen  des  brahma- 
cärin  und  bramacaryam,  des  Brahmanenschülers  und  seines 
Wandels,  abgesetzt  hat,  welchem  unter  andern  Pflichten  die 
der  völligen  Keuschheit  auferlegt  wurde.  —  Von  den  übrigen 
Bedeutungen  fallen  dann  weiter  die  drei  ersten :  1)  Gebet,  2) 
Zauberspruch,  3)  heilige  Rede  zu  einem  Begriffe  zusammen, 
der  hier  in  einer  für  die  Religionsentwicklung  Indiens  sehr 
charakteristischen  Weise  nach  verschiedenen  Seiten  schillert, 
und  diesen  einheitlichen  Begriff,  der  zugleich  die  einzige  Be- 
deutung des  Wortes  brahman  im  Rigveda  an  den  mehr  als 
zweihundert  Stellen,  in  denen  es  vorkommt,  ist,  können  wir 
annähernd,  wiewohl  unzulänglich,  wiedergeben  durch  unser 
Wort  „Gebet".  Unzulänglich,  weil  das  Wort  brahman,  wie  die 
Etymologie  ergiebt,  von  einer  andern  Grundanschauung  aus- 
geht als  seine  Äquivalente  in  den  abendländischen  Sprachen; 
„ursprünglich  nämlich  bedeutet  das  Wort  brahman  (nicht,  wie 
die  Vedäntin's  etymologisieren,  «das  Losgelöste»,  «das  Ab- 
solutum»  von  barh,  vettere,  sondern  vielmehr)  von  barh,  farcire, 
«die  Anschwellung»,  d.  h.  «das  Gebet»,  aufgefafst  nicht  als  ein 
Wünschen  (evyßc'^a.i)  oder  Wortemachen  (orare,  precari)  oder 
Fordern  (bidjan)  oder  Erweichen  (MOMTbca)  oder  gar  Beräuchern 
(iny),  sondern  als  der  zum  Heiligen,  Göttlichen  empor- 
strebende Wille  des  Menschen"  (System  des  Vedänta 
S.  128),  wiewohl  auch  in  Indien  die  Auffassung  des  brahman, 

Detjssen,  Geschichte  der  Philosophie.    I.  16 


242  I^  •    Geschichte  des  Brahman. 

Gebetes,  keineswegs  jener  hohen  Intention  treu  geblieben  ist, 
die  sich  in  seiner  Etymologie  ausspricht.  Der  Begriff  des 
Gebetes  hat  ja  überall,  und  so  auch  hier,  zwei  Seiten,  eine 
hohe  und  edle,  und  eine  niedrige  und  gemeine;  die  hohe  liegt 
darin,  dafs  wir  im  Gebete  uns  zu  unserm  göttlichen  Ursprung 
erheben,  vorübergehend  mit  ihm  eins  werden,  wobei  wir  alle 
Sünde  und  alle  Not  dieser  individuellen  Existenz  hinter  uns 
lassen,  um  sodann,  gestärkt  und  geläutert  durch  das  Geljet, 
zu  derselben  zurückzukehren;  die  niedrige  Seite  besteht  darin, 
dafs  wir  zu  Gott  mitbringen  was  wir  dahinten  lassen  sollten, 
unsere  individuellen  Interessen,  um  für  dieselben  von  ihm, 
gleich  als  wäre  er  ein  Mensch,  gewisse  Vorteile  für  uns  zu 
erbitten,  zu  erschmeicheln,  oder,  wie  in  Indien,  zu  erzwingen. 
Es  gereicht  dem  Vaterunser  zu  einer  nicht  geringen  Empfehlung, 
dafs  jene  hohe  Seite  durch  sechs  Bitten,  die  niedrige  nur  durch 
eine  (die  vierte)  vertreten  ist.  In  Indien  laufen  beide  Seiten 
nebeneinander  her  und  spiegeln  sich  in  jenen  beiden  Neben- 
bedeutungen wider,  welche  brahman  als  heilige  Rede  (3)  und 
als  Zauberspruch  (2)  hervorkehrt.  Wir  wollen  jene  beiden 
Seiten  des  Gebetes,  welche  beide  für  das  Verständnis  der 
indischen  Religionsentwicklung  im  Auge  zu  behalten  sind,  als 
die  überindividuelle  und  individuelle  etwas  näher  aus- 
einanderlegen. In  gewissem  Sinne  schliefsen  sie  sich  an  die 
beiden  Elemente  an,  aus  denen  wir  oben  (S.  77 —  82)  die 
Religion  selbst  erwachsen  sahen,  und  die  wir  als  das  mora- 
lische und  mythologische  unterschieden. 

Die  überindividuelle  Seite  des  Gebetes  kündigt 
sich  deutlich  in  dem  Ursprünge  des  Wortes  brahman  an.  Denn 
brahman  ist  ursprünglich,  wie  gezeigt,  die  Anschwellung  des 
Gemütes,  die  Erhebung  und  das  Erhabensein  über  den  Indivi- 
dualstand,  welche  wir  erleben,  wenn  wir  auf  den  Schwingen 
der  Andacht  zu  einer  vorübergehenden  Einswerdung  mit  dem 
Göttlichen  gelangen.  Die  Worte  des  Gebetes  sind  nur  der 
Ausdruck  dieses  Gefühls  der  Vereinigung  mit  Gott,  sie  ge- 
hören nicht  dem  Menschen  als  solchen  an,  sondern  Gott  ist 
es,  der  sie  in  uns  und  durch  uns  redet.  Dieses  Gefühl  der 
Inspiration  des  Betenden  ist  schon  im  Rigveda  sehr 
lebendig    entwickelt,    wie    folgende,    aus    allen    Büchern    des 


Bedeutungen  des  Wortes  brahman.  243 

Rigveda  ausgewählte  Beispiele  zeigen.  Rigv.  1,37,4:  „singet  ein 
.von  Gott  gegebenes  Gebet";  1,105,15:  „Varuna  wirket  die 
Gebete;  ihn,  den  Pfadfinder,  flehen  wir  an,  dafs  er  das  heilige 
Lied  durch  unser  Herz  offenbare"  (vyürnotu  hridä  mathn).  — 
2,9,4:  „du  bist  (o  Agni)  der  Ersinner  des  glänzenden  Lob- 
liedes". —  3,34,5:  „(Indra)  machte  diese  Lieder  dem  Sänger 
kund".  —  4,11,3:  „von  dir,  o  Agni,  kommen  die  Dichtergaben, 
von  dir  die  Andachtslieder,  von  dir  die  Lobgesänge,  wenn  sie 
gelingen  sollen".  —  5,42,4:  „begäbe  uns,  o  Indra,  mit  dem 
Gebete,  welches  gottverliehen  ist".  —  6,1,1 :  „denn  du,  o  Agni, 
warst  der  erste  Ersinner  dieser  Andacht".  —  7,97,3:  „(Indra), 
welcher  der  König  des  gottgeschaffenen  Gebetes  (brahmano 
devakritasya)  ist".  —  8,42,3:  „o  Gott  Varuna,  schärfe  diese 
Andacht,  schärfe  die  Einsicht,  die  Tüchtigkeit  des  Lern- 
begierigen". —  9,95,2:  „(Soma)  als  Gott  offenbart  der  Götter 
geheimnisvolle  Namen  (Wesenheiten)  auf  der  Opferstreu,  sie 
zu  verkünden".  —  10,98,7:  „Brihaspati  hat  ihm  (dem  Dichter) 
die  Rede  dargereicht".  —  Diese  Aufsenmgen,  welche  ihr  Ana- 
logon  in  allen  Regionen  der  Religion,  Kunst  und  Philosophie 
finden,  beweisen,  dafs  schon  die  vedischen  Sänger  sich  vielfach 
bewufst  sind,  nicht  als  Individuen,  sondern  im  Dienste  einer 
höhern  Macht  zu  reden;  und  wir  lernten  in  Rigv.  1,164,37 — 39 
bereits  oben  S.  116  eine  Stelle  kennen,  in  welcher  der  Sänger 
seiner  Ergriffenheit  von  dem  Göttlichen  einen  fast  wunder- 
baren Ausdruck  giebt.  Und  weil  das  Gebet  göttlicher  Natur 
ist,  darum  ist  es  auch  nicht  blofs  auf  das  beschränkt,  was  der 
betende  Sänger  äufsert;  nur  ein  Viertel  der  heiligen  Rede  weilt 
unter  den  Menschen,  drei  Viertel  bleiben  im  Himmel  verborgen 
(Rigv.  1,164,45,  oben  S.  118)  als  die  heilige  Rede,  welche 
Rigv.  10,125  personifiziert  auftritt  (oben  S.  147 — 148).  Sie  ist 
die  Sprache  der  Himmlischen  und  zugleich  der  Gegenstand 
ihrer  Unterhaltung:  „die  Götter  unterredeten  sich  über  das 
Brahman"  (Taitt.  Samh.  3,5,7,2);  —  „das  Brahman  redeten 
die  Gandharven,  sangen  die  Götter"  (Taitt.  Samh.  6,1,6,6),  und 
nur  ein  beschränkter  Teil  dieses  Brahman  bildet  den  Veda: 
„beschränkt  sind  die  Ric,  beschränkt  die  Säman,  beschränkt 
die  Yajus,  aber  dessen  ist  kein  Ende,  was  das  Brahman  ist" 
(Taitt.  Samh.  7,3,1,4).     Vgl.   auch   die  schöne  Erzählung   von 

16* 


244  IV.    Geschichte  des  Brahmau. 

der  Unendlichkeit  des  Veda  Taitt.  Br.  3,10,11,3.  Und  diese 
unendliche  Wesenheit  fühlte  der  Betende  in  sich  erwachen, 
trug  er  in  sich;  „in  den  geheimnisvollen  Tiefen  der  eigenen 
Brust  gewahrte  der  durch  die  Andacht  des  Gebetes  (braliman) 
über  seine  eigene  Individualität  hinausgehobene  Beschauer  eine 
Macht,  welche  er  allen  andern  Mächten  der  Schöpfung  über- 
legen fühlte,  eine  göttliche  Kraft,  die,  wie  er  empfand,  allem 
irdischen  und  überirdischen  Sein  als  innerlich  regierendes 
Princip  (antaryämin)  einwohnt,  auf  der  alle  A\Telten  und  alle 
Götter  beruhen,  aus  Furcht  vor  der  das  Feuer  brennt,  die 
Sonne  leuchtet,  das  Gewitter,  der  Sturmwind  und  der  Tod  ihr 
Werk  verrichten  (Käth.  Up.  6,3),  und  ohne  welche  kein  Stroh- 
halm von  Agni  verbrannt,  von  Väyu  fortgeführt  werden  kann 
(Kena  Up.  3,19.  23).  Dieselbe  poetische  Gestaltungskraft  nun, 
welche  Agni,  Indra  und  Väyu  mit  Persönlichkeit  umkleidet 
hatte,  eben  dieselbe  war  es,  welche  dann  weiter  jene  o  in 
niederer  Enge  nach  allen  Seiten  sich  entfaltende,  als  Erfreuer 
der  grofsen  [Götter]  mit  Macht  wachsende,  als  Gott  zu  den 
Göttern  weithin  sich  ausbreitende  und  dieses  Weltall  um- 
fassende» (Rigv.  2,24,11)  Kraft  der  Andacht  zunächst  noch  in 
leicht  durchsichtiger  Personifikation  (als  Brihaspati,  Brah- 
manaspati),  dann  aber  wahrer,  kühner,  philosophischer  als  das 
Brähman  (Gebet),  den  Atman  (Selbst)  über  alle  Götter  erhob 
und  diese  mit  der  ganzen  übrigen  Welt  in  zahllos  variierten 
Phantasiespielen  aus  ihm  hervorgehen  liefs."  —  Ehe  wir  den 
durch  diese  Worte  (aus  Syst.  des  Vedänta  S.  18)  vorge- 
zeichneten Weg  weiter  verfolgen,  müssen  wir  auf  eine  andre 
Seite  der  Sache  unser  Augenmerk  richten,  welche  für  die 
Entwicklung  des  Brahmanbegriffes  nicht  weniger  von  Einflufs 
gewesen  ist. 

Die  individuelle  Seite  des  Gebetes  reicht  gerade  so 
weit  wie  das  mythologische  Element  der  Religion  (S.  78  fg.), 
mit  dem  sie,  wie  gesagt  (S.  242),  ebenso  eng  verwachsen  ist 
wie  die  überindividuelle  mit  dem  moralischen  Elemente,  sofern 
alles  Moralische  schliefslich  auf  Entselbstigung,  mithin  auf 
den  in  der  religiösen  Andacht  vorübergehend  erreichten  Zu- 
stand hinzielt.  Im  Gegensatze  dazu  macht  die  mythologische 
Seite  der  Religion,   statt  über   alle   Individualität  hinaus   und 


Bedeutungen  des  Wortes  brahman.  245 

mit  Gott  zusammenzuwachsen,  diesen  selbst  zu  einem 
Individuum  nach  Menschenart,  welchem  nun  der  Mensch  als 
ein  anderes  Individuum,  dem  Grofsen  als  Kleiner,  dem  Mäch- 
tigen als  Schwacher  und  Bedürftiger,  gegenübertritt.  Er 
trägt  ihm  seine  Wünsche  vor  und  sucht  ihre  Gewährung  zu 
erreichen,  indem  er  sein  Gesuch  durch  allerlei  Mittel,  wie 
Opfergaben,  Schmeicheleien  (Lob  und  Dank)  u.  dgl.,  unter- 
stützt. Zu  diesen  Mitteln  gehört  denn  auch  das  wohlgesetzte 
Gebet,  das  brahman  selbst,  wie  es  als  „wohlgezimmertes  Lob- 
lied" (2,35,2  mantra  sutashtji)  von  dem  vedischen  Dichter  ge- 
baut lind  recitiert  oder  gesungen  wird.  In  der  individuellen 
Sphäre,  mit  der  wir  es  hier  zu  thun  haben,  ist  das  Gebet 
(entsprechend  seinem  Etymon  in  den  abendländischen  Sprachen, 
oben  S.  241)  einerseits  der  Träger  der  menschlichen  Wünsche, 
anderseits  der  notwendige  Begleiter  der  Opfergabe,  um  die 
Götter  auf  diese  aufmerksam  zu  machen  und  zu  ihrem  Genüsse 
einzuladen.  Dafs  die  Götter  am  Somatranke  sich  laben  und 
aus  ihm  Begeisterung  und  Kraft  für  ihre  Thaten  gewinnen, 
beruht  auf  ihrer  anthropomorphischen  Natur  und  ist  voll- 
kommen verständlich.  Nun  aber,  wie  eine  Sache,  die  immer 
mit  einer  andern  zusammenliegt,  zuletzt  auch  deren  Geruch 
annimmt,  so  erstreckt  sich  das  Wohlgefallen  der  Götter  von 
der  Opfergabe  aus  zugleich  auf  das  sie  begleitende  Gebet,  an 
dessen  kunstvollem  metrischen  Gefüge  sie  eine  Art  ästhetischer 
Freude  empfinden.  Wie  am  Soma,  so  erquicken  und  stärken 
sie  sich  auch  an  dem  Gebete  (brahnanä  vävridhänäh) ,  wie 
Soma  und  Butter,  so  ist  auch  das  Gebet  der  Frommen  für  sie 
ein  Stärkungsmittel  (yasya  brahma  vardhanam,  yasya  somo, 
hiefs  es  in  dem  Sajanäsa-Hymnus  an  Indra  2,12,14,  vgl.  oben 
S.  96),  „durch  welches  Indra  seine  Kraft  erhält"  (jjena  Indrah 
qushmam  id  dadhe,  8,6,11);  —  „dann  erst  hast  du  (o  Indra) 
deine  grofse  Heldenthat  verrichtet,  nachdem  du  vor  derselben 
(asya  agre)  dein  Ungestüm  durch  das  Gebet  aufgeregt  hast" 
(2,17,3);  —  „möge  unser  Gebet  in  den  Kämpfen  obsiegen" 
(1,152,7);  —  hier  sehen  wir  schon  das  Gebet  von  der  ästhe- 
tischen Einwirkung  auf  die  Götter  zu  einer  magischen 
Kraftwirkung  aufsteigen,  und  diese  wird  noch  deutlicher  in 
den  Hymnen  an  Brahmanaspati,  der  ja  selbst  eine  Verkörperung 


246  IV.    Geschichte, des  Brahmau. 

dieser  magischen  Kraft  ist,  und  von  dem  es  daher  z.  B.  2,24,3 
heilst:  „er  trieb  die  (Wolken -)Kühe  aus,  indem  er  die  Höhle 
durch  das  Gebet  spaltete";  —  noch  weiter  geht  ein  später 
Hymnus,  10,162,1  —  2,  in  welchem  das  Gebet  nicht  mehr  an 
Agni  gerichtet,  sondern  vielmehr  gewünscht  wird,  dafs  Agni 
mit  dem  Gebete  sich  verbünden  soll,  um  eine  Krank- 
heit auszutreiben.  Hier  ist  die  ursprüngliche  Bedeutung  des 
Gebetes  schon  völlig  verschoben.  Früher  waren  es  die  Götter, 
welche  durch  das  Gebet  angetrieben  wirkten,  jetzt  wird  das 
Gebet  das  eigentliche  Agens,  welches  vermittelst  der  Götter 
die  gewollte  Wirkung  übt  oder  auch  sie  ganz  beiseite  läfst, 
in  dem  einen  wie  dem  andern  Falle  aber  nicht  mehr  an  den 
guten  Willen  der  Götter  gebunden  ist,  sondern,  durch  sie 
oder  ohne  sie,  mit  magischer  Kraft,  als  Zauberformel  ge- 
sprochen, den  gewollten  Zweck  unfehlbar  bewirkt.  Dies  ist 
der  Standpunkt  des  Atharvaveda,  der  von  Beispielen  davon 
voll  ist,  wie  durch  das  Gebet  (brahmanä)  eine  Krankheit  ge- 
heilt oder  eine  sonstige  Wirkung  erzielt  wird;  aber  auch 
aufserhalb  desselben  ist  diese  Auffassung  zu  finden;  Väj. 
Samh.  11,82:  „ich  vernichte  die  Feinde  durch  das  Gebet"; 
Catap.  Br.  5,2,4,18:  „durch  das  Gebet  tötet  er  die  Unholdinnen, 
die  Kobolde";  und  wenn  dieses  Gebet  ohne  Götter  von 
Ric,  Säman  und  Yajus  unterschieden  und  ihnen  als  Brahman 
(Zauberspruch)  koordiniert  wird,  so  nehmen  doch  alle  Gebete 
des  Veda  in  dieser  Periode  den  Charakter  von  Zauberformeln 
an;  die  Götter  sind  nur  der  Durchgangspunkt  ihrer  Wirkung, 
sie  haben  keinen  andern  Willen  als  denjenigen  des  das  Gebet 
sprechenden  Priesters:  „der  Brahmane,  der  solches  weifs,  in 
dessen  Gewalt  sind  die  Götter",  wie  der  schon  oben 
S.  168  aus  Väj.  Samh.  31,21  citierte  Ausspruch  lautet,  in  dem 
diese  Subordination  der  Götter  unter  das  brahman,  das  Gebet, 
zum  schärfsten  Ausdruck  kommt. 

—  Wir  haben  gesehen,  wie  in  den  drei  ersten  Bedeutungen 
von  brahman  als  1)  Gebet,  2)  Zauberspruch,  3)  heilige  Pede 
nicht  sowohl  drei  verschiedene  Begriffe,  als  vielmehr  ein  Stück 
Entwicklungsgeschichte  des  einen  und  einheitlichen  Begriffs 
des  Gebetes  vorliegt,  welches  sich  einerseits  nach  der  über- 
individuellen Seite  hin  entwickelt  zu  dem  unendlichen  Gottes- 


Bedeutungen  des  Wortes  brahman.  247 

worte,  von  dem  der  Veda  nur  ein  Teil  ist,  mit  welchem  der 
Betende  verschmilzt  und  welches  im  Grunde  nur  der  Aus- 
druck des  göttlichen  Willens  ist,  und  anderseits  nach  der 
individuellen  Seite  hin  aus  einem  blofsen  Ausdrucke  der 
menschlichen  Wünsche  zu  der  diese  Wünsche  mit  oder  ohne 
Vermittlung  der  Götter  verwirklichenden  Kraft  wird. 

Ein  weiteres  Stück  Entwicklungsgeschichte  liegt  in  zwei 
andern  Bedeutungen  von  brahman  als  4)  heiliges  Wissen 
(Veda),  7)  heiliger  Stand  (Brahmanen).  Wir  besprachen  oben 
S.  159  fg.  die  Einwanderung  der  Arya's  in  die  Gangesebene 
und  sahen,  wie  infolge  dieser  Völkerwanderung  nicht  nur 
ein  Versiegen  der  Liederdichtung,  sondern  auch  das  Aufkommen 
der  Vorstellung  bedingt  war,  dafs  nur  durch  jene  alten,  aus 
dem  Pendschäb  mitgebrachten  und  im  Besitze  bestimmter 
Familien  befindlichen  Gebete  und  die  zugehörigen  Ceremonien 
eine  richtige  und  wirksame  Verehrung  der  Götter  möglich 
sei;  wir  zeigten  auch,  wie  jene  Liederschätze  durch  Austausch 
zu  Samhitä's,  d.  h.  gröfsern  Ganzen,  verschmolzen,  wie  an  sie, 
als  das  brahman,  sich  anschlofs  das  brahniänam,  d.  h.  die  theo- 
logische Auslegung  und  Gebrauchsanweisung  für  jene  Gebete, 
und  wie  Samhitä  und  Brdhmanam,  nach  Bic,  Säman  und  Yajus 
gegliedert,  sich  zur  trayi  vidyä,  der  „dreifachen  Wissenschaft", 
d.  h.  dem  Veda,  zusammenschlofs,  dessen  Besitz  und  Anwendung 
in  den  Angelegenheiten  der  Fürsten  und  Völker  das  Privi- 
legium eines  bestimmten  Standes,  der  brähmana's,  d.  h.  der 
Verwalter  des  brahman,  „der  Beter",  wurde.  Es  ist  sehr  be- 
deutungsvoll für  die  Keligionsentwicklung  Indiens,  dafs  die 
Brahmanen  den  Gesamtkomplex  der  kanonischen  Urkunden 
(samhita's  und  brälimanah)  mit  jenem  alten  Ausdrucke  als 
brahman,  d.  h.  Gebet,  bezeichneten  und  wie  jenes  durchaus  für 
inspiriert  erklärten,  sich  selbst  aber  so  sehr  als  Träger  dieser 
göttlichen  Offenbarung  betrachteten,  dafs  sie  den  Namen 
brahman  auch  auf  die  Brahmanenkaste,  als  den  Vertreter  des 
Göttlichen  auf  Erden,  ja  als  die  Personifikation  desselben, 
ausdehnten,  so  sehr,  dafs  sie  sich  als  die  deväh  pratyaksham, 
als  die  offenbar  gewordenen  Götter  betrachteten.  —  Nunmehr 
bedeutet  brahman  nicht  nur  das  Gebet,  sondern  auch  zugleich 
den   Veda    als  Inbegriff   des   Gebetes    und    die  Brahmanen 


248  IV.    Geschichte  des  Brahman. 

als  Träger  desselben,  und  wenn  auch  bald  die  eine  oder  andre 
Bedeutung  in  den  Vordergrund  tritt,  so  ist  doch  an  hundert 
Stellen  nicht  zu  entscheiden,  ob  die  wirkungskräftige,  zauber- 
kräftige Gebetsformel,  oder  das  ganze  corpus  canonicum,  oder 
die  es  handhabenden  canonici  gemeint  sind,  und  es  liegt  in 
dem  gemeinsamen  Namen  brahman  gleichsam  die  Aufforderung, 
überall,  wo  dasselbe  in  der  Brähmanalitteratur  vorkommt,  an 
alle  drei  zu  denken  und  in  den  Begriff  des  Brahman  als  Geljet 
den  des  Veda  und  den  der  Brahmanen  so  viel  wie  möglich 
mit  einzuschliefsen. 

—  Noch  bleibt  uns  eine  Bedeutung  des  Wortes  brahman 
übrig,  welche  nicht,  wie  die  bisher  besprochenen,  nur  ver- 
schiedene Seiten  eines  einheitlichen  Begriffes  ausdrückt,  sondern 
dieses  seiner  bisher  besprochenen  Entwicklung  nach  so  durch- 
sichtige Wort  in  einem  neuen  und  auf  den  ersten  Blick  höchst 
befremdlichen  Sinne  gebraucht.  —  Denn  wie  kommt  das  Wort 
brahman,  welches  das  Gebet,  einerseits  als  Zaubermittel, 
anderseits  als  göttliche  Offenbarung,  ferner  den  Veda  als 
Inbegriff  und  endlich  die  Brahmanen  käste  als  Verkör- 
perung des  Gebetes  und  der  göttlichen  Offenbarung  bedeutet,  — 
wie  kommt  dieses  Wort  nun  weiter  dazu,  den  göttlichen  Ur- 
grund aller  Dinge,  das  schaffende  und  erhaltende  Princip  der 
Welt,  das  Ab solu tum  zu  bezeichnen?  — 

Um  dies  zu  verstehen,  müssen  wir  auf  die  Philosophie  des 
Rio'veda  zurückgehen. 

2*   Brahmanaspati  und  Brahman* 

Wir  sahen  S.  141 — 143,  wie  schon  in  einer  Reihe  späterer 
Hymnen  des  Rigveda  unter  dem  Namen  Brihaspati  und  (damit 
wechselnd)  Brahmanaspati  eine  Gottheit  auftaucht,  welche, 
ursprünglich  ein  blofser  Genius  des  Gebetes,  in  dem  Mafse, 
wie  dessen  Bedeutung  als  Stärkungsmittel  der  Götter  sich 
steigerte,  immer  höher  wuchs  bis  zu  einem  Vater  der  Götter, 
welchem  nunmehr  deren  Grofsthaten,  namentlich  die  des  Indra, 
mit  Vorliebe  zugeschrieben  werden,  ohne  dafs  doch  seine  ur- 
sprüngliche Bedeutung  vergessen  wird  (S.  142),  wie  ja  auch 
die  Namen  Brihaspati  und  Brahmanaspati  nur  lockere  Kompo- 
sita  bilden,   da  jedes   derselben   zwei  Accente   trägt.      In   der 


Brahmanaspati  und  brahman.  249 

That  ist  dieser  neue  Gott  blofs  eine  ganz  durchsichtige  Per- 
sonifikation des  brahman  oder  Gebetes,  und  kaum  hat  in  der 
Brähmanazeit  die  Interpretation  der  Hymnendenkmäler  be- 
gonnen, als  auch  von  allen  Seiten  die  Behauptung  auftritt, 
Brihaspati  sei  in  Wahrheit  das  Gebet.  So  Ait.  Br.  1,19,1 
brahma  vai  Brihaspatih;  Ait.  Br.  1,30,6  brahma  vai  Brihaspatih; 
Taitt.  Samh.  3,1,1,4  brahma  vai  devänäm  Brihaspatih',  Catap. 
Br.  13,5,4,25  brahma  vai  Brihaspatih;  Catap.  Br.  3,9,1  findet 
sich  in  §  11.  12.  14  dreimal  diese  Formel  hintereinander,  und 
zum  Schlüsse  heifst  es:  „das  Brahman  wahrlich  ist  Brihaspati, 
ist  dieses  Weltall,  ist  alle  Götter,  das  Brahman  [nicht  «the 
priesthood»,  die  ja  sogleich  erst  folgt]  macht  er  zum  Haupte 
dieses  Weltalls;  darum  ist  der  Brahmane  das  Haupt  dieses 
Weltalls";  während  in  Catap.  Br.  11,4,3,13  Brihaspatir,  Brahma, 
Brahmapatih  eine  Interpretation  vorzuliegen  scheint:  „Brihaspati, 
welcher  Brahman,  nämlich  Brahma- pati  ist".  Hand  in  Hand 
mit  dieser  Identifikation  von  Brahman  und  Brihaspati  geht 
die  Erhebung  des  Brahman  zum  obersten  göttlichen  Princip: 
Catap.  Br.  2,3,2,9 — 13  erscheint  es  als  ebenbürtig  in  einer  Reihe 
neben  Rudra,  Varuna,  Indra  undMitra;  nach  Catap.  Br.  3,3,4,17 
„treibt  das  Brahman  die  Götter  vorwärts"  (wenn  nicht  mehr, 
pracyävayati);  und  Catap.  Br.  12,8,3,29  erscheint  es,  weil  iden- 
tisch mit  Brihaspati,  als  Hauspriester  (purohita)  der  dreiund- 
dreifsig  Götter:  „es  heifst:  die  dreiunddreifsig  Götter  haben 
Brihaspati  als  Purohita;  aber  Brihaspati  ist  Brahman;  also  be- 
deutet es:  sie  haben  das  Brahman  als  Purohita".  Nach  Ca- 
tap. Br.  2,1,4,10  wird  beim  Agnyädhänam  das  Feuer  durch  das 
Brahman  angelegt;  „denn  Brahman  ist  die  Rede  (väc,  vgl.  oben 
S.  146  fg.),  und  die  Wahrheit  (satyam ,  die  metaphysische  Reali- 
tät) dieser  Rede  ist  das  Brahman";  und  nach  Catap.  Br.  4,1,4,10 
wird  es  mit  dem  ritam,  mit  der  ewigen  Weltordnung  gleich- 
gesetzt, welche  auch  über  den  Göttern  steht  (oben  S.  92). 

Auch  an  andern  Gleichsetzungen  ist  kein  Mangel.  So 
ist  im  brahmanah  parimarah  Ait.  Br.  8,28  das  Brahman  der 
Wind,  in  welchem  die  fünf  Gottheiten,  Blitz,  Regen,  Mond, 
Sonne,  Feuer,  ersterben,  um  wieder  aus  ihm  hervorzugehen; 
nach  Qatap.  Br.  8,4,1,3  sind  die  Präna's  Brahman,  während 
dieselben  in  der  Upanishad  Catap.  Br.  14,9,2,7  zum  Brahman 


250  IV-    Geschichte  des  Brahman. 

als  Schiedsrichter  ihres  Rangstreites  gehen,  wie  vordem  zu 
Prajäpati  (oben  S.  194).  —  Am  häufigsten  aber  ist  in  dieser 
Periode,  wo  man  noch  nicht  fähig  war,  den  Begriff  des 
Brahman  in  seiner  Abstraktheit  festzuhalten,  die  Gleich- 
setzung  des  Brahman  mit  der  Sonne  (vgl.  Praiäpati  und 
Rohita,  oben  S.  212  fg.).  Catap.  Br.  7,4,1,14:  „wenn  es  heifst 
«Brahman  zuerst  im  Osten  ward  geboren»,  so  wird  als  jene 
Sonne  das  Brahman  Tag  für  Tag  im  Osten  geboren";  —  Catap. 
Br.  8,5,3,7:  „was  dieses  Brahman  ist,  das  ist  eben  das,  was 
als  jene  Sonnenscheibe  glüht";  Taitt.  Samh.  5,3,4,4:  „das  Brah- 
man ist  der  Gott  Savitar";  —  Väj.  Samh.  23,48:  „das  Brahman 
ist  ein  sonnengleiches  Licht";  —  Shadv.  Br.  1,2:  „jenseits  des 
Luftraums  ist  der  Ort  des  Brahman";  —  Cänkh.  Br.  8,3:  „jener 
Mann  (piirasha),  den  sie  in  der  Sonne  zeigen,  der  ist  Indra,  ist 
Prajäpati,  ist  Brahman";  und  so  noch  später,  Taitt.  Ar.  10,63,15: 
„jener  Mann  in  der  Sonne  ist  Parameshthin,  Brahman,  Atman". — 
Catap.  Br.  14,1,3,3  (und  fast  gleichlautend  Cänkh.  Br.  8,4): 
„Wenn  es  heilst:  «Brahman  zuerst  im  Osten  ward  ge- 
boren», so  wird  als  jene  Sonne  das  Brahman  Tag  für  Tag 
im  Osten  geboren."  Hier  werden  die  Anfangsworte  eines  viel 
erwähnten  Liedes  citiert,  das  wir  im  Folgenden  mitteilen  wollen; 
dasselbe  scheint  also  auch  von  der  Anschauung  des  Brahman 
als  Sonne  auszugehen,  doch  wohl  mehr  symbolisch,  indem  das 
Erstgeborne  des  Tages  nur  als  sinnlicher  Vertreter  für 
das  Erstgeborne  der  Schöpfung  auftritt,  als  welches  das 
Brahman  in  den  nunmehr  zu  besprechenden  Stellen  erscheint. 

3.    Brahma  prathamajam, 
das  Brahman  als  Erstgebornes. 

Dafs  die  älteste  Philosophie  in  Bildern  denkt,  haben  wir 
schon  oben  S.  182  fg.  an  den  mannigfachen  Versuchen  kennen 
gelernt,  die  Weltentwicklung  als  die  Bebrütung  eines  vor- 
weltlichen Eies  anzuschauen.  Ein  weiterer  Beleg  dazu  ist  es, 
wenn  die  Entstehung  der  Welt  aus  dem  chaotischen  Urzustand 
gleichnis weise  als  der  Anbruch  des  Tages,  als  der  Aufgang 
der  Sonne  geschildert  wird,  welche  aus  dem  unterschiedslosen 
Dunkel  der  Nacht  die  Gestalten  zu  schaffen  scheint,  indem 
sie  dieselben  sichtbar  macht.    Diese  Anschauuno;  blickt  schon 


Irahma  prathccmajam.  251 

in  dem  Schöpfungsliede  Rigv.  1,129  durch,  wenn  daselbst  V.  3 
der  Urzustand  als  Finsternis,  als  ein  von  Finsternis  bedecktes,, 
lichtloses  Gewoge  geschildert  wird  (oben  S.  122);  und  dieselbe 
Anschauung  liegt,  nach  den  S.  250  erwähnten  Stellen  Catap. 
Br.  14,1,3,3  und  Cänkh.  Br.  8,4,  einem  alten,  nur  in  Trümmern 
erhaltenen  Liede  mit  den  Anfangsworten:  „braltma  jajnänam 
prathamam  purastäd"  zu  Grunde,  welches  ursprünglich  nur 
das  B rahm  an  als  Sonne  zu  feiern  scheint,  während  in 
spätem  Verwendungen  desselben  unter  dem  Tage,  welchen 
das  Brahman  durch  seinen  Aufgang  herbeiführt,  der  grofse 
Welttag  mit  seiner  Ofi'enbarmachung  aller  Namen  und  Ge- 
stalten zu  verstehen  ist,  wie  denn  auch  purastät  sowohl  „im 
Osten"  als  auch  „vormals,  vor  Zeiten"  bedeutet.  Dieses  Lied 
wird,  teils  nur  nach  den  Anfangsworten,  teils  in  mannigfacher 
Verbindung  mit  verschiedenen  Versen  der  philosophischen 
Hymnen  des  Eigveda,  vielfach  citiert;  so  in  den  angeführten 
Stellen:  Catap.  Br.  7,4,1,14.  14,1,3,3.  Cänkh.  Br.  8,4;  ferner: 
Ait.  Br.  1,19,1.  Taitt.  Samh.  4,2,8,2.  5,2,7,1;  Taitt.  Br.  2,8,8,8. 
3,12,1,1.  Taitt.  Ar.  1,13,3.  10,1,10.  Atharvav.  4,1.  Äcval.  Cr. 
4,6,3;  Cänkh.  Cr.  5,9,9.  Längere  Stücke  daraus  geben  die 
beiden  letzterwähnten  Sütrastellen,  sowie  Taitt.  Br.  2,8,8,8  und 
Atharvav.  4,1.  Wir  beschränken  uns  darauf,  diese  beiden 
letztern  Stellen  wiederzugeben. 

Taittiriya  - brähmanam  2}8,8,8 — 10. 

Die  Stelle  zerfällt,  wie  sie  vorliegt,  in  zwei  schon  durch 
das  Metrum  geschiedene  Teile,  indem  in  den  beiden  ersten 
Trishtubh -Versen  Brahman  als  Sonne,  in  den  drei  ange- 
hängten Anushtubh -Versen  Brahman  als  Princip  der  Welt 
besungen  wird. 

1.  Brahman  zuerst  im   Osten  ward  geboren; 

Vom  Horizont  deckt  auf  den  Glanz  der  Holde; 
Die  Formen  dieser  Welt,  die  tiefsten,  höchsten, 
Zeigt  er,  die  Wiege  des,  was  ist  und  nicht  ist. 

2.  Vater  der  glänzenden,   der  Schätze  Zeuger, 
Ging  ein  er  in  den  Luftraum  allgestaltig ; 
Ihn  preisen  sie  durch  Lohgesang;  das  Junge, 

Das  Brahman  ist,   durch  Brahman  (Gebet)  wachsen  machend. 


252  IV-    Geschichte  des  Brahman. 

3.  Das    Brahman    hat    die   Gottheiten,    Brahman    die  Welt    hervor- 

gebracht; 
Die  Kshatriya's  brahman-erzeugt  sind,  Brahman  Brahmanen  durch 

ihr  Selbst. 

4.  In  ihm  sind  diese  Welträume,  in  ihm  die  ganze  Lebewelt, 
Der  Wesen  Erstling  ist  Brahman;  wer  wagt,  ihm  zu  vergleichen 

sich? 

5.  In  ihm  die  dreimal  zehn  Götter,  in  ihm  Indra,  Prajäpati, 

In  Brahman  sind  die  Weltwesen  beschlossen  wie  in  einem  Schiff'. 


Einen  etwas  andern  Sinn  als  in  diesem  Fragment  zeigen 
•die  Verse  des  Liedes  bralima  jajnänam  in  ihrer  Verwendung 
Atharvav.  4,1,  wo  unter  dem  vena  „dem  Holden"  nicht  mehr 
die  Sonne,  auch  nicht  mehr  Brahman  als  das  geistige, 
die  Welt  offenbarende  Licht,  sondern  vielmehr  der 
Seher  als  Träger  dieser  göttlichen  Offenbarung  zu 
verstehen  ist,  dessen  Verherrlichung  hier  (wie  schon  Rigv. 
10,129,5)  der  Zweck  ist.  Diese  Entwicklung  hat  eine  Vor- 
geschichte, deren  Hauptmomente  in  den  Liedern  Rigv.  10.123 
(nebst  dem  verwandten  Stücke  Rigv.  10,139,4 — 6)  und  Atharvav. 
2,1  liegen  und,  als  zum  Verständnis  unentbehrlich,  hier  kurz 
zu  skizzieren  sind. 

Venas  (von  van,  veix),  d.  h.  der  Liebende,  der  Holde,  ist 
Rigv.  1,83,5  ein  Beiwort  der  Sonne,  ward  aber  dann  Rigv. 
10,123  als  Bezeichnung  des  Gandharva  gebraucht,  unter  dem 
wir  in  diesem  Liede  und  Rigv.  10,139,4 — 6  (nicht  sowohl 
nach  Cäükh.  Br.  8,5  Indra,  als  vielmehr)  nach  Roths  und 
Grafsmanns  sehr  annehmbarer  Vermutung  den  Regenbogen 
„gleichsam  als  Sohn  der  Sonne"  (sitryasya  qigum  na)  zu  verstehen 
haben  werden.  So  passend  nun  die  Sonne,  schon  in  der 
Gäyatrl  (clhiyo  yo  nah  pracodayat),  namentlich  aber  seit  ihrer 
Identifikation  mit  dem  Brahman,  als  Quelle  der  göttlichen 
Offenbarung  erschien  (oben  S.  250),  ebenso  passend  würde 
der  von  der  Sonne  abhängige  und  vom  Himmel  zur  Erde 
sich  spannende  Regenbogen  (Vena,  Gandharva)  als  Ver- 
mittler dieser  Offenbarung  an   die  Menschen   erscheinen,   und 


bralima  prathamajam;  der   Vena,  Atharvav.  2,1.  253- 

diese  Rolle  spielt  der  Gandharva  in  der  That  schon  im  Rig- 
veda  in  den  genannten  Liedern  und  auch  anderweit;  10,123,4: 
„der  Gandharva  fand  Unsterbliches";  10,123,7:  „er  erzeugte 
was  lieblich  wie  das  Sonnenlicht  ist";  10,139,6:  „der  Gan- 
dharva möge  das  Unsterbliche  jener  (Ströme)  verkünden";. 
10,139,5:  „mit  allem,  was  wahr  ist,  und  was  wir  nicht  wissen, 
damit  möge  er  (der  Gandharva),  der  die  Einsicht  fördert,  uns- 
zar  Einsicht  helfen";  10,177,2:  „der  (Sonnen-) Vogel  trägt  die 
Rede  in  seinem  Geiste;  der  Gandharva  hat  sie  verkündet 
schon  im  Mutterleibe"  (nämlich  des  Sehers,  —  wenn  es  nicht 
zu  kühn  ist,  die  auf  Rigv.  4,26,1.  27,1  beruhende  spätere 
Vorstellung,  Cankara  ad  Brahmas.  3,4,51  p.  1044,10:  garbha- 
stha*  eva  ca  Vämadevah  pratipede  brahma-bhävam ,  schon  hier 
zu  finden). 

An  das  Gandharva-Lied  Rigv.  10,123  knüpft  zunächst  an 
Atharvav.  2,1,  wie  nicht  nur  durch  den  gemeinsamen  Gebrauch 
mehrerer  Ausdrücke  (Prigni,  samänam  yonim,  abhyanüshata 
vrah)  wahrscheinlich  wird,  sondern  mehr  noch  dadurch,  dafs 
in  beiden  Stücken  Vena  und  Gandharva  als  identisch  er- 
scheinen; nur  dafs  in  dem  Jüngern  Texte  die  physische  Be- 
deutung des  Vena,  Gandharva  verschwunden  ist,  sodafs  er 
nur  noch  als  derjenige  erscheint,  welcher  die  himmlischen 
Geheimnisse  schaut  und  sie  dem  Sänger  offenbart,  der  daher 
als  der  Sohn  des  Gandharva ,  als  sein  natürlicher  Vertreter 
auf  Erden  erscheint. 

Atharvaveda  2,1. 

1.    Der  Vena  schaut  das  Höchste,   das  verborgen, 
In  dem   die  ganze  Welt  ist  eingestaltig  *; 
Prigni2  ermolk  die  Welt,  und  die  gebornen, 
Des  Lichts  teilhaftig,  jauchzten  auf,   die  Scharen3. 

1.  Die  Einheit,  von  der  die  Einheitslieder  Rigv.  1,164.  10,129  reden.  2.  Wie 
beim  Gandharva,  so  ist  auch  bei  der  Prigni  die  ursprüngliche  Bedeutung 
als  bunte  Wolke  (Rigv.  10,123)  verlassen;  sie  ist  das  Princip  der  Vielheit, 
ähnlich  wie  sonst  die  Urwasser,  und  so  mag  sie  allerdings  (mit  Weber, 
Ind.  Stud.  13,130)  als  Vorläuferin  der  Mulaprakriti  angesehen  werden. 
3.  In  einem  Optimismus ,  wie  er  der  unerfahrnen  Menschheit  eigen  ist, 
preisen  hier  (vgl.  auch  Rigv.  1,164,8,  oben  S.  110)  die  Geschöpfe  ihre  eigene 
Erschaffung,  ähnlich  wie  Hiob  38,7:  ,,da  mich  die  Morgensterne  mit  einander 
lobeten,  und  jauchzeten  alle  Kinder  Gottes". 


254  IV-    Geschichte  des  Brahman. 

2.  Uns  soll,   des  Ew'gen  kundig1,   der  Gandharva 
Kund  thun   das  Reich,  das  höchste,  das  verborgen: 
Drei  Viertel  davon  bleiben  im   Geheimen2; 

Wer  diese  weifs,  wäre  des  Vaters  Vater3! 

1.  amritasya    vidvän,   wie  Bigv.   10,123,4    vidad   Gandharvo   amritäni   ndma. 

2.  Die  Erklärung  liegt  in  Stellen  wie  Bigv.  1,164,45  und  10,90,3,  oben 
'S.  118.  153.  3.  Dafs  der  Vater  des  Sängers  der  Gandharva  ist,  sagt  ja 
der  folgende  Vers;  des  Vaters  Vater  mufs  also  der  schon  Bigv.  1,164,22 
genannte  Weltvater  sein,  welcher  alle  Geheimnisse  kennt  (so  anga  veda, 
Bigv.  10,129,7),  während  auch  das  Wissen  des  Gandharva  ein  beschränktes 
ist.  Innerhalb  dieser  Schranken  aber  weifs  der  Gandharva  alles,  wie  der 
folgende  aus  dem  Vicvakarmanlied  10,82,3  (oben  S.  138)  entlehnte  und 
-etwas  adaptierte  Vers  besagt. 

3.  Er  unser  Vater,  Zeuger  und  Verwandter1 
Kennt  die  Wohnstätten  und  die  Wesen  alle; 
Er  gab   allein  den  Göttern  ihre  Namen2, 
Von  ihm   erfragten  sie  die  Wesen  alle. 

1.  Der  Gandharva  ist  das  himmlische  Urbild  des  Dichters.  2.  Diese  ursprüng- 
lich Rigv.  10,82,3  von  Vigvakarman  gesagten  Worte  konnten  um  so  leichter 
auf  den  Gandharva  bezogen  werden,  als  man  in  seinem  Liede  Bigv.  10,123,4 
und  7  die  Worte:  vidad  Gandharvo  amritäni  »«ma  und  svar  na  näma  janata 
priyäni,  wenn  man  von  dem  Zusammenhang  absieht,  auch  übersetzen  konnte: 
„der  Gandharva  erfand  die  unsterblichen  Namen",  und:  „er  erzeugte  die 
wie  das  Sonnenlicht  lieblichen  Namen".  —  Die  Verherrlichung  des  Gan- 
dharva geht  in  den  folgenden  Versen  in  eine  solche  des  Dichters  über,  welcher, 
von  ihm  ergriffen,  sich  durch  die  ganze  Welt  und  unmittelbar  zu  dem  pra- 
thamajä  ritasya  geführt  fühlt,  d.  h.  wohl  zu  dem  Brahman  als  Erstgebornem 
des  Ewig-Einen  und  als  gemeinsamem  Mutterschofse  der  Götter. 

4.  Mit  eins  umwandelt  hab'  ich  Erd'  und  Himmel, 
Mich  der  Weltordnung  Erstgebornem  naht'  ich, 
Wie  einer  Stimme  des,   der  spricht;  —  der  durstig 
In  allem  Sein  weilt,  —  ist's  der  hier?  ist's  Agni?1 

1.  Wie  oben  S.  199 — 201  Prajäpati  als  Agni  (Agri)  aus  dem  Weltei  hervor- 
trat, so  wandelt  es  hier  den  Dichter  an,  den  Erstgebornen  der  Weltordnung, 
d.  h.  das  Brahman,  als  unmittelbar  gegenwärtig  in  dem  trinklustigen  (dhusyu) 
öpferfeuer  anzuschauen. 

5.  Umwandelt  hab'  ich  alle  Wesen,  ob   ich 
Gespannt  den  Faden  der  Weltordnung  sähe, 
Da  wo  die  Götter,  Ewigkeit  erlangend, 
Entsprangen  aus  dem  allgemeinen  Schofse. 

Die   Fortbildungen  unseres  Liedes,  Vaj.  Sainh.  32,8 — 12 
und  Taitt.  Ar.  10,1,1,  welche  schon  ganz  auf  dem  Upanishad- 


brahma  prathamajam)  der  Vena,  Atharvav.  4,1.  255 

Standpunkte  stellen,  werden  wir  später  besprechen.  Ihnen 
gegenüber  erscheint  die  Fassung  Atharvav.  2,1  ursprünglicher, 
wie  sie  denn  auch  die  Voraussetzung  des  schwer  zu  beur- 
teilenden  Liedes  Atharvav.  4,1  zu  sein  scheint.  Dasselbe  ist 
zum  gröfsten  Teil  aus  Fragmenten  des  Liedes  brahma  jajnänam 
und  vielleicht  noch  anderer  zusammengesetzt  (v.  1 — -2  =  Acv. 
Qr.  4,6,3  und  Cänkh.  Cr.  5,9,9;  v.  3  =  Taitt.  Samh.  2,3,14,6; 
v.  4a  ist  Einschiebsel,  den  Übergang  zu  gewinnen;  v.  4b  5a  — 
Taitt.  Samh.  2,3,14,6  und  Acv.  Cr.  4,6,3),  welche  jedoch  der 
Form  wie  dem  Sinne  nach  unter  dem  Einflüsse  von  Atharvav.  2,1 
zu  stehen  scheinen;  der  Form  nach,  sofern  die  Abänderungen 
vorwiegend  als  von  dort  herübergenommen  erscheinen  (bhuva- 
neshthäh,  dhäsyave,  bandhur),  dem  Sinne  nach,  sofern  auch  hier 
der  Zweck  eine  Verherrlichung  der  göttlichen  Offen- 
barung an  die  Menschen  ist;  aber  während  Atharvav.  2,1 
diese  Offenbarung  des  Brahman  an  den  Sänger  durch  Ver- 
mittlung des  Gandharva  geschieht,  so  scheint  Atharvav.  4,1 
dieser  Mittler  zu  fehlen  und  die  Offenbarung  direkt  an  den 
Sänger  zu  ergehen,  der  unter  dem  kävya  v.  6,  dem  deva  kavi 
v.  7,  dem  asya  (brahmano)  bandhuh  v.  3  und  so  wohl  auch  schon 
unter  dem  vena  v.  1  zu  verstehen  ist.  Die  pitryd  räshtri,  nach 
Ait.  Br.  1,19  die  Fac,  scheint  diese  als  Trägerin  der  Offen- 
barung zu  sein,  sofern  sie,  ganz  ähnlich  wie  Atharvav.  2,1,4 
(oben  S.  254)  und  nur  noch  bestimmter,  als  in  dem  Opferfeuer 
verkörpert  und  gegenwärtig  vorgestellt  wird.  —  Der  ver- 
änderten Beziehung  entsprechend  wird  auch  die  Übersetzung 
von  v.  1  eine  andre  als  oben  S.  251  sein  müssen. 

Atharvaveda  4,1. 

1.  Brahman  zuerst  vor  Zeiten  ward  geboren; 

Und  später  deckt'   es  auf  der  Seher,  glanzvoll1, 
Indem  er  seine  tiefsten,  höchsten  Formen, 
Den  Schofs  des,  was  da  ist  und  nicht  ist,  aufschlofs. 
1.  vena,  purastät,  srm  atah  und  suruco  (nom.  sing.)  zeigen  hier  veränderten  Sinn. 

2.  Die  Fürstin  hier,  des  Vaters  Kind,   voran  geh' 
Zur  Erstgeburt  als  der  In- Wesen- Weiler  x; 

Für  ihn  spornt'  an  ich  diese  Schlange,   funkelnd, 
Ihm  kocht  zuerst,   dem  Durstigen,   den   Gluttrank. 
1.  Die   Vue   erscheint   zuerst   in   der  Form   als  Agni,   dem   dann,    als    ihrer 


256  IV.    Geschichte  des  Brahman. 

Erscheinungsform,    die   leuchtende  Schlange   des  Feuers    entzündet   und    der 
Milchtrank  gekocht  (oder  gemischt)  wird. 

3.  Der  Wissende  entstand,  der  Ihm  Verwandte, 
Alle  Geburten  kund  zu  thun  der  Götter; 

Er  rifs  heraus  das  Brahman  aus  dem  Brahman, 
Tief,  hoch,  zu  seinen   Satzungen  drang  durch  er. 

4.  Denn  Er,   als  Ruhesitz,   der  Heil'ge  stützte 
Des  Himmels  und  der  Erde  grofse  Ufer; 

Als  grofser  stützt  die  grofsen  Er,   sich  wandelnd 
Zur  Himmels wohnung,  zu  der  Erde  Bäumen. 

5.  Vom  Urgrund  auf  bis  zu  der  Wesen   Spitze 
Reicht  Gott  Brihaspati,   der  Fürst  des  Weltalls;  — 
Drum,  wie  der  lichte  Tag  aus  Licht  entstanden, 
So   sollen  glanzumstrahlt  die  Weisen  leuchten. 

6.  Und  jetzo  wirbelt  sie  der  Weise  auf, 

Des  grofsen,  vorgewes'nen  Gottes  Schöpfung, 

Wiewohl  er  mit  den  Vielen  ward  geboren, 

Noch  schlummernd,  als  sie  vormals  ward  entbunden. 

7.  Er,  der  den  Vater,   Götterfreund  Atharvan, 
In  Ehrfurcht,   den  Brihaspati  erkannt  hat,  — 
So  wahr  du  dieses  Weltalls  Vater  bist ,    . 
Lafs  leiden  nicht  den  göttlich  Weisen,   Treuen! 


Ein  Vergleich  der  beiden  von  uns  mitgeteilten  Verwen- 
dungen des  Liedes  brahma  jajnänam  (S.  251  fg.,  255  fg.)  wird 
lehren,  dafs  dasselbe  ursprünglich  in  der  Anschauung  des 
Brahman  unter  dem  Symbol  der  Sonne  (S.  250)  wurzelt,  dafs 
aber  in  der  weitern  Geschichte  dieses  Liedes  mehr  und  mehr 
unter  dem  von  der  Brahmansonne  heraufgeführten  Tage 
der  grofse  Welttag,  unter  dem  Brahman  aber  nicht  mehr  das 
Erstgeborne  des  Tages,  sondern  das  Erstgeborne  der  ganzen 
Schöpfung  verstanden  wurde,  von  welchem  die  ganze  Welt 
abhängt,  während  es  selbst  doch  noch  nicht  svayambhu  (durch 
sich  selbst  seiend)  sondern  nur  prathamajam  (zuerst  geboren), 
d.  h.    noch   von   einem   höhern   Princip   abhängig  ist.     Dieser 


Brahma  prathamajam,  £atap.  Br.  10,3,5,10  u.  s.  w.  257 

Standpunkt  wird  auch  von  vielen  Stellen  der  Brähmana's 
vertreten.  So  wenn  es  heifst,  Qatap.  Br.  10,3,5,10:  „dieses 
Brahman  ist  das  Vornehmste  (Alteste);  denn  nicht  giebt  es 
ein  Vornehmeres  als  dieses;  —  dieses  Brahman  ist  ohne 
Früheres  und  ohne  Höheres";  —  Catap.  Br.  8,-6,1,5:  „dieses 
Brahman  ist  das  Erstgeborne";  —  Catap.  Br.  13,6,2,7:  „darum 
sagen  sie:  das  Brahman  ist  das  Oberste  dieser  ganzen  Welt";  — 
Catap.  Br.  8,4,1,3:  „darum  sagen  sie:  durch  das  Brahman  sind 
Erde  und  Himmel  gestützt  worden";  —  Catap.  Br.  7,3,1,42: 
„die  ganze  Welt  ist  Brahman".  —  In  Stellen  wie  diesen  sehen 
wir  das  Brahman  mehr  und  mehr  zum  alleinigen  Princip  aller 
Dinge  erwachsen,  und  doch  bleibt  es  dabei  immer  noch  das, 
was  es  ursprünglich  war,  das  Gebet  und  der  Veda  als  der 
Inbegriff  alles  Gebetes.  Das  Brahman  ist  also  in  den  vorher- 
gehenden wie  in  den  nachfolgenden  Stellen  stets  zu  denken 
nicht  als  eine  transscendente ,  schwer  erreichbare  Abstraktion, 
sondern  als  jenes  konkrete,  allem  übermächtige  Wunderding 
(yaksham,  Kena  Up.  15),  welches  der  Betende  in  sich  trägt 
und  fühlt,  und  dessen  Edukt  der  Veda  oder  auch  die  Silbe 
Om  als  Inbegriff  des  Veda  ist;  Catap.  Br.  10,2,4,6 :  „(jene  Sonne) 
ist  gegründet  in  dem  siebensilbigen  Brahman;  denn  das  Brah- 
man ist  siebensilbig;  nämlich  Ric  ist  eine  Silbe,  Yajus  zwei 
Silben,  Säman  zwei  Silben,  und  was  aufser  diesen  noch  an 
Brahman  vorhanden,  das  ist  als  Brahman  zweisilbig;  darum 
ist  das  ganze  Brahman  siebensilbig,  und  in  ihm  ist  jener  (die 
Sonne)  gegründet";  —  Catap.  Br.  10,4,1,9:  „Dieses  erkennend 
hat  der  Rishi  gesprochen: 

Was  war  und  sein  wird,  das  preis'  ich,  Brahman,  das  eine  Silbe  nur, 
So  grofs,  und  eine  Silbe  nur! 

denn  in  diese  Silbe  gehen  alle  Götter  und  alle  Wesen  ein." 
Unter  der  einen  Silbe  ist  nach  dem  Brähmanam  die  Silbe 
Vauk  für  Väc  (die  heilige  Rede),  vielleicht  aber  schon  die 
Silbe  Om  zu  verstehen;  vgl.  Taitt.  Ar.  7,8:  „Die  Silbe  Om  ist 
das  Brahman,  die  Silbe  Om  ist  diese  ganze  Welt";  ib.  10,33 
(A.),  p.  914:  „diese  eine  Silbe  Om  ist  das  Brahman". 


Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.  J.  17 


258  IV.    Geschichte  des  Brahmaii. 

Der  weitere  Übergang  von  Brahman  als  dem  Erstgebornen 
(prathamaja)  zu  Brahman  als  dem  Absolutum  (svayambhu) 
läfst  sich  schrittweise  verfolgen  in  den  Schöpfungsberichten, 
in  denen  zuerst  das  Brahman  unter  Prajäpati  steht,  dann  ihm 
gleichgesetzt  wird,  dann  über  ihn  tritt  und  endlich  als  das 
schlechthin  oberste  Urprincip  erscheint. 

1)  Brahman  von  Prajäpati  abhängig.  Wir  teilten 
oben  S.  199  —  202  den  Schöpfungsbericht  aus  Qatap.  Br.  6,1,1 
mit,  in  dem  es  von  Prajäpati  hiefs  (S.  200):  „nachdem  er  sich 
abgemüht  und  Tapas  geübt,  schuf  er  als  Erstgebornes  (pra- 
ihamajam)  das  Brahman,  das  heifst  die  dreifache  Wissenschaft 
\trayi  vidyä,  die  drei  Veden];  die  ward  ihm  zur  Grundlage; 
darum  sagt  man:  das  Brahman  ist  die  Grundlage  dieser 
ganzen  Welt".  Hier  sehen  wir  recht  deutlich,  wie  zwischen 
dem  Schöpfer  und  der  Welt  als  Mittelglied  das  Brahman, 
d.  h.  der  Veda,  steht.  Das  Brahman  dient  weiter  dem 
Schöpfer  als  Grundlage,  auf  der  er  steht,  indem  er  aus  der 
Väc  als  Ort,  d.  h.  wiederum  aus  dem  Brahman,  dem  Veda, 
die  Wasser  schafft,  in  sie  mitsamt  dem  Veda  als  Weltei  ein- 
geht, worauf  sich  abermals  aus  dem  Weltei  als  (empirisch) 
Erstgebornes  das  Brahman  ergiefst  und  nach  ihm  erst  Prajä- 
pati selbst  als  Agni  (S.  200),  worin  wir  schon  oben  (S.  202) 
eine  erste  Anwandlung  erkannten,  dem  Brahman  die  Priorität 
vor  Prajäpati  zu  geben. 

2)  Brahman  identisch  mit  Prajäpati.  Diese  An- 
schauung ist  vertreten  durch  den  Schöpfungsmythus  Taitt. 
Ar.  1,23  (oben  S.  196  — 198),  nach  welchem  Prajäpati  als 
Brahma  svayambhu  die  Welt  schafft  (oben  S.  197  fg.);  und 
demselben  Standpunkte  entsprechen  die  Stellen,  in  welchen 
Prajäpati  dem  Brahman  gleichgesetzt,  oder  auch  beide  im  Dual 
koordiniert  werden.  So  Catap.  Br.  13,6,2,8:  „wahrlich  Prajä- 
pati ist  Brahman,  denn  Prajäpati  ist  von  Brahmanart";  — 
Taitt.  Ar.  10,31:  „du  bist  Brahman  (hier  personifiziert),  du 
bist  Prajäpati";  —  Taitt.  Ar.  4,1,1,3:  „Schutz  seien  mir 
Brahma -Prajäpati". 

3)  Prajäpati  von  Brahman  abhängig.  Auch  diese 
Stufe   lernten  wir   bereits    kennen  in   dem   Schöpfungsmythus 


Brahma  svayambhu,  Qatap.  Br.  11,2,3.  259 

Tai tt.  Br.  2,2,9  (oben  S.  202  —  204),  nach  welchem  (vgl.  die 
Rekapitulation  am  Schlüsse,  oben  S.  203)  das  Manas  den 
Prajäpati  schafft;  das  Manas  aber  ist  das  Qvovasyasam  ndma 
Brahma,  d.  h.  „das  für  die  Zukunft  das  Bessere  bringende 
Gebeti'.  (Dieser  Unterordnung  entspricht  es,  wenn  Catap. 
Br.  10,6,5,9  das  Brahman  zum  Lehrer  des  Prajäpati  gemacht 
wird,  während  in  den  Listen  Catap.  Br.  14,5,5,22  und  14,7,3,28 
Prajäpati  ganz  beseitigt  und  durch  Parameshthin  ersetzt  ist.)  — 
Aber  auch  in  dem  erwähnten  Schöpfungsmythus  ist  das  Brah- 
man-Manas  zwar  Schöpfer  des  Prajäpati,  selbst  aber  noch 
von  dem  Asad  hervorgebracht  worden.  Nach  Übersteigung 
dieser  letzten  Schranke  wird  es  zu  dem,  was  es  in  der  Folge 
immer  geblieben  ist,  zum  brahma  svayambhu. 

4.   Brahma  svayambhu, 
das  dnrch  sich  selbst  seiende  Brahman. 

4)  Das  Brahman  als  höchstes  schöpferisches 
Princip.  Welche  grofse  Veränderung  hier  vor  sich  gegangen 
ist  (unbeschadet  dessen,  dafs  das  Alte,  Abgestorbene  als  Schale 
und  Schlacke  daneben  fortbesteht,  worüber  oben  S.  180),  das 
wird  fühlbar,  wenn  man  mit  dem  alten:  „Prajäpati  war  allein 
zu  Anfang;  er  begehrte"  u.  s.  w.,  folgende  beiden  Kosmogonien 
aus  den  letzten  Büchern  des  Catapatha-brähmanam  vergleicht. 

Qatapatha  -  brähmanam  11,2,3 : 

„Brahman  fürwahr  war  diese  Welt  zu  Anfang.  Dasselbe  schuf 
die  Götter.  Nachdem  es  die  Götter  geschaffen,  setzte  es  sie  über 
diese  Welten:  den  Agni  über  diese  AVeit,  den  Väyu  über  den  Luft- 
raum, den  Sürya  über  den  Himmel.  Was  aber  die  Welten  betrifft, 
die  noch  höher  als  diese  sind,  so  geschah  es,  dafs  es  die  Götter, 
welche  noch  höher  als  diese  sind,  diese  über  jene  Welten  setzte; 
und  so  wie  diese  Welten  hier  offenbar  sind  und  diese  Gottheiten, 
so  sind  auch  jene  Welten  offenbar  und  jene  Gottheiten,  welche  es 
über  dieselben  setzte.  —  Es  selbst  aber,  das  Brahman,  ging  ein 
in  die  jenseitige  Hälfte  [die  nicht  wie  alle  jene  Welten  und 
Götter  „offenbar",  d.  h.  zur  empirischen  Realität  gehörig  ist;  — 
welcher  Tief  blick  in  diesen  Worten!].  Nachdem  es  in  die  jenseitige 
Hälfte  eingegangen,  erwog  es:  «wie  kann  ich  nun  in  diese  AVeiten 
hineinreichen?»     Und  es  reichte  in  diese  Welten  hinein  durch  zwei, 

17* 


260  IV.    Geschichte  des  Brahman. 

durch  die  Gestalt  (rüpam)  und  durch  den  Namen  (ndman):  darum, 
was  immer  eines  Dinges  Name  ist,  das  ist  sein  Name;  und  welches 
Ding  keinen  Namen  hat,  und  das  man  an  der  Gestalt  erkennt 
und  spricht:  «so  ist  seine  Gestalt»,  das  ist  seine  Gestalt.  Denn 
diese  Welt  reicht  so  weit,  wie  die  Gestalt  und  der  Name  reicht. 
Diese  beiden  sind  die  beiden  grofsen  Ungetüme  (abliva) 
des  B  rahm  an;  wer  diese  beiden  grofsen  Ungetüme  des  Brahman 
weifs,  der  wird  zum  grofsen  Ungetüm;  diese  beiden  sind  die 
beiden  grofsen  Erscheinungen  (i/aJcsha)  des  Brahman; 
wer  diese  beiden  grofsen  Erscheinungen  des  Brahman  weifs,  der 
wird  zur  grofsen  Erscheinung.  [Man  vergleiche  den  Dens  des  Spinoza 
mit  seinen  beiden  unendlichen  Attributen  der  Extensio  und  Cogitatio.] 
Von  diesen  beiden  ist  das  Edlere  von  beiden  die  Gestalt;  denn 
auch  was  Name  ist,  das  ist  Gestalt.  Wer  das  Edlere  der  beiden 
weifs,  der  wird  edler  als  der,  edler  als  welcher  er  zu  sein  wünscht.  — 
Denn  sterblich  waren  zu  Anfang  auch  die  Götter;  und  erst  als  sie 
es  durch  das  Brahman  erlangten,  da  wurden  sie  unsterblich.  Wer 
nun  aus  dem  Manas  (Verstand)  sprengopfert,  —  denn  Manas  ist 
die  Gestalt,  denn  durch  das  Manas  weifs  man,  dafs  es  diese  Gestalt 
ist,  —  der  erlangt  dadurch  die  Gestalt;  und  wer  aus  der  Väc 
(Rede)  sprengopfert,  —  denn  die  Väc  ist  der  Name,  denn  durch  die 
Väc  greift  man  den  Namen,  - —  der  erlangt  dadurch  den  Namen;  es 
erstreckt  sich  aber  diese  ganze  Welt  nur  so  weit,  wie  sich  Gestalt 
und  Name  erstreckt;  somit  erlangt  er  das  Ganze;  das  Ganze  aber 
ist  unvergänglich;  dadurch  behält  er  unvergänglich  sein  gutes  Werk, 
unvergänglich   seine  Welt." 

(Jatapatha-brähmanam  13,7,1,1: 

„Brahman,  das  durch  sich  selbst  Seiende  (brahma  svayambhu), 
übte  Tapas.  Da  erwog  es:  «fürwahr,  in  dem  Tapas  ist  die  Un- 
endlichkeit nicht!  Wohlan,  so  will  ich  in  den  Wesen  mein  Selbst 
opfern  und  die  Wesen  in  meinem  Selbst».  Da  opferte  es  in  allen 
den  Wesen  sein  Selbst  und  die  Wesen  in  seinem  Selbst.  Dadurch 
erwarb  es  den  Vorrang,  die  Alleinherrschaft,  die  Oberherrlichkeit 
über  alle  Wesen." 

An  Stellen  wie  dieser  sehen  wir  die  spätere  Lehre,  wonach 
durch  Brahman  der  Ursprung,  der  Bestand  und  der  Ver- 
gang  der  Wesen  ist,  keimartig  sich  entwickeln.  1)  Brahman 
opfert  sein  Selbst  in  den  Wesen,  d.  h.  es  schafft  sie,  jedoch 
nicht   als   äufseres   Machwerk,   sondern    indem    es   sich   in   sie 


Brahma  svayamblm,  Qatap.  Br.  13,7,1,1  u.  s.  w.  261 

verwandelt.  Daher  auch  alle  Wesen  2)  durch  Brahman  und 
in  Brahman  ihren  Bestand  haben.  Als  eine  andre  Stelle,  die 
dies  in  ihrer  Weise  lehrt,  haben  wir  schon  oben  (S.  178 — 179) 
die  Libationsformel  Taitt.  Br.  3,10,8  kennen  gelernt,  nach 
welcher  alle  Kräfte  der  Natur,  oder,  indisch  zu  reden,  alle 
Götter  (Agni,  Väyu,  Süryo,  Candramäs,  Digos,  Apas,  Prithivi, 
Oshadhi-vanaspatayas,  Jndra,  Parjanya,  Igäna  und  der  kosmische 
Atman)  in  den  entsprechenden  menschlichen  Kräften  (Rede, 
Odem,  Auge,  Manas,  Ohr,  Samen,  Leib,  Haare,  Kraft,  Haupt, 
Zornmütigkeit  und  dem  psychischen  Atman),  diese  aber  wieder 
im  Herzen,  durch  dieses  im  Ich  und  durch  dieses  im  Brahman 
beruhen  (brahnani  grita).  Endlich  3)  wenn  es  in  obiger 
Stelle  hiefs,  dafs  das  Brahman  alle  Wesen  in  seinem  Selbst 
opfert,  so  ist  damit  seine  dritte  spätere  Eigentümlichkeit  be- 
zeichnet, wonach  alle  Wesen  mit  dem  Tode  wieder  in  Brahman 
vergehen;  und  ebenso  heifst  es  Catap. Br.  11,3,3,1 :  „das  Brahman 
überlieferte  die  Geschöpfe  dem  Tode". 

Aber  diese  völlige  Abhängigkeit  der  Wesen,  nach  Ent- 
stehen, Bestehen  und  Vergehen,  von  Brahman  erweckte  auch 
die  Hoffnung,  nach  dem  Tode  in  Lebensgemeinschaft  mit  dem 
Brahman  einzugehen.  So  sind  nach  Catap.  Br.  11,4,4  Agni, 
Väyu,  Apas,  Candramäs,  Vidyut,  Aditya  die  sechs  Pforten 
des  Brahman,  durch  welche  man,  bei  richtigem  Opfern,  „ein- 
gehend, Lebensgemeinschaft,  (Himmels-)Weltgemeinschaft  mit 
dem  Brahman  erwirbt"  (vgl.  Pancav.  Br.  25,18,6),  und  Catap. 
Br.  11,5,6,9  wird  dem,  welcher  richtig  den  Veda  studiert,  ver- 
heifsen,  dafs  er  „von  dem  Wiedersterben  (punarmrityu)  erlöst 
werden  und  mit  Brahman  in  Wesensgemeinschaft  (sätmatä) 
eingehen"  soll.  Ob  dieses  „Wiedersterben"  schon  die  Theorie 
von  der  Seelenwanderung  voraussetzt  oder  nur  eine  unbestimmte 
Furcht  vor  einem  möglichen  abermaligen  Sterben  im  Jenseits 
ist,  wird  später  zu  untersuchen  sein. 

Nachdem  das  Brahman  in  dieser  Weise  zum  absoluten 
Princip  der  Welt  erhoben  war,  wurden  auf  dasselbe  natur- 
gemäfs  die  Gedanken  der  Schöpfungshymnen  des  Rigveda 
übertragen.  Die  Hauptstelle  hierfür  ist  Taitt.  Br.  2,8,9,3 — 7, 
wo  zunächst  das  Ndsaddsrya-'Lied  Rigv.  10,129  recitiert  wird 
(die   Abweichungen    sind   wohl   nur  Druckfehler)   und,    sofort 


262  IV.    Geschichte  des  Brahman. 

daran  anknüpfend,  in  den  Worten  des  Vigoaharfndn- Liedes 
Rigv.  10,81,4  die  grofse  Frage  gestellt  wird: 

Was  ist  das  Holz,  was  ist  der  Baum  gewesen, 
Aus  dem  sie  Erd'  und  Himmel  ausgeliauen? 
Ihr  Weise,  forscht  im  Geiste  diesem  nach,  worauf 
Er  sich  gestützt  hat,  wenn  er  trägt  das  Weltenall! 

Im  Rigveda  bleibt  diese  Frage,  wenigstens  scheinbar,  unbe- 
antwortet (oben  S.  136).  Jetzt  aber,  im  Brähmanam,  nach- 
dem man  die  lange  gesuchte  ewige  Einheit  endlich  da  gefunden 
hat,  wo  sie  allein  zu  finden  ist,  im  eigenen  Innern,  bricht  der 
Dichter  mit  einer  Freudigkeit,  der  man  das  Neue  dieser  Er- 
kenntnis anzufühlen  glaubt,  in  die  Worte  aus: 

Das  Brahman  ist  das  Holz,  der  Baum  gewesen, 
Aus  dem  sie  Erd'  und  Himmel  ausgehauen! 
Ihr  Weise,  euch,  im  Geiste  forschend,  melde  ich: 
Auf  Brahman  stützt  er  sich  und  trägt  das  Weltenall. 

Das  heifst:  der  Stoff,  aus  dem  die  Welt  besteht,  und  zugleich 
der  Grund,  auf  dem  ihr  Träger  (Prajäpati,  Rigv.  10,121,1) 
selbst  wieder  ruht,  ist  Brahman,  —  ist  das  Gebet.  —  Wer 
begreift,  dafs  das  Gebet  im  Grunde  nichts  andres  ist  als  eine 
vorübergehende  Abstreifung  der  Individualität,  eine  Rückkehr 
des  im  Beter  verkörperten  individuellen  Willens  zu  Gott 
als  seinem  eigenen,  raumlosen,  zeitlosen,  individualitätslosen 
Selbst,  —  dem  wird  die  Thesis  des  indischen  Weisen:  „das 
Gebet  ist  der  Urgrund  der  Dinge"  nicht  allzu  paradox  er- 
scheinen. Ihm  fehlt  zur  vollen  Erkenntnis  nur  noch  ein  Kleines: 
dieses  nämlich,  zu  begreifen,  dafs  das  Wesen  des  Gebetes, 
dafs  das,  was  er  an  ihm  so  über  alles  andre  schätzt,  eben 
jene  Rückkehr  von  der  Verirrung  ins  individuelle  Sein  zu 
unserm  wahren,  metaphysischen,  göttlichen  Selbst,  —  mit 
andern  Worten,  dafs  das  Brahman  der  Atman  ist. 

Auch  diese  Erkenntnis,  mit  der  der  Upanishadstandpunkt 
erreicht  wird,  vollzieht  sich  schon  auf  dem  Boden  der  Bräh- 
mana's;  als  zwei  Hauptstellen  haben  wir  dafür  anzuführen 
Taitt,  Br.  3,12,9  (vgl.  Pancav.  Br.  25,18,5)  und  Catap.  Br.  10,6,3. 


Brahma  svayambhu,  Taitt.  Br.  3,12,9.  263 

Taittiriya  -  brähmanam,  3,12,9. 

1.  Den  Rig -Versen  gehört  der  grofse  Osten, 
Den  Yajus  -  Sprüchen  uferlos  der  Süden, 
Den  Atharvan's  und  Angiras'  der  Westen, 
Der  weite  Nord  gehört  den  Sänia- Liedern. 

2.  Durch  Ric's  geht  morgens  auf  der  Gott  am  Himmel, 
Im  Yajur-Veda  steht  zur  Mittagszeit  er, 

Strahlt,  untergehend,  durch  den  Säma-Veda, 
So  zieht  die  Sonne  stets  durch  die  drei  Veden. 

3.  Die  Formen  all  sind  aus  den  Ric's  geboren, 
Alle  Bewegung  stammt  nur  aus  den  Yajus', 
Und  alle  Kräfte  stets  sind  sänia- artig; 

Die  ganze  Welt  durch  Brahman  ist  geschaffen. 

4.  Die  Vaigya- Kaste  ist  aus  Ric's  entstanden; 
Der  Kshatriya  entsprang  dem  Yajur-Veda; 
Der  Brähmana  ward  aus  dem  Säma-Veda; 
So  sagten  schon  die  Alten  zu  den  Alten. 

Nach  dieser  Darlegung,  wie  alles  aus  dem  Veda  als  dem  In- 
begriffe des  Brahman  oder  Gebetes  entstanden  ist,  folgt  die 
Erzählung,  wie  die  Götter  vor  der  Schöpfung  das  Opfer  der 
Allschöpfer  (vigvasrij)  vollbringen,  bei  welchem  Tapas,  Brah- 
man, Satyam  u.  s.  w.  als  Priester  funktionieren.  Dann  heifst 
es  (p.  292): 

1.  Als  sie  zuerst  als  Allschöpfer  begingen 
Die  tausendjähr' ge  Sitzung,  Soma  kelternd, 
Da  ward  geboren,  als  der  Welt  Behüter, 
Der  goldne  Vogel,  der  da  heifset  Brahman. 

2.  Durch  den  die  Sonne  scheint,   durch  Glut  entzündet, 
Der  Vater  wird  durch  jeden  Sohn,   der  geboren, 
Nur  wer  den  Veda  kennt,  versteht  den  grofsen 
Allgegenwärt'gen  Atman  beim  Hinscheiden. 

3.  Er,  der  als  Grofsheit  einwohnt  dem  Brahmanen, 
Wird  nicht  vermehrt  durch  Werke,  noch  vermindert. 
Das  Selbst  ist  sein  Pfadfinder,  wer  ihn  findet, 
Wird  durch  das  Werk  nicht  mehr  befleckt,  das  böse. 


264  IV.    Geschichte  des  Brahman. 

Die  hier  gelehrte  Identität  des  Brahman  mit  dem  all2re2;en- 
wärtigen  Ätman,  die  Auffindung  dieses  Ätman  mittels  des 
individuellen  Ätman  als  Pfadfinder,  die  Befreitheit  dessen,  der 
ihn  gefunden,  von  den  Werken,  sind  schon  Grundgedanken 
der  Upanishad's,  wie  denn  auch  der  letzte  Vers  an  einer  der 
schönsten  Stellen  derselben  (Brih.  Up.  4,4,23)  wiederkehrt. 
Ebenso  ist  die  nunmehr  noch  mitzuteilende  Stelle  zum  Grund- 
gewebe eines  Hauptkapitels  der  Chändogya -Upanishad  (3,14) 
geworden. 

Qatapatha  -  brähmanam  10,6,3. 

„«Als  die  Realität  (satyam)  soll  man  das  Brahman  verehren. 
Ja  fürwahr,  aus  Wille  (Tcratu)  ist  der  Mensch  gemacht,  und  welches 
Willens  er  aus  dieser  Welt  dahinscheidet,  nach  diesem  Willen 
wird  er,  in  jene  Welt  hinübergehend,  gestaltet.  Ja,  den  Atman 
soll  man  verehren;  Geist  ist  sein  Stoff,  Leben  sein  Leib,  Licht 
seine  Gestalt,  das  Unendliche  sein  Selbst.  Nach  Wunsch  sich  ge- 
staltend, schnell  wie  der  Gedanke,  wahrhaften  Vorsatzes,  wahrhaften 
Beschlusses,  allriechend  ist  er,  allschmeckend,  alle  Weiten  erfüllend, 
alle  Welt  durchdringend,  schweigend,  unbekümmert.  Wie  ein  Reis- 
korn, oder  Gerstenkorn,  oder  Hirsekorn,  oder  eines  Hirsekornes 
Kern,  so  ist  dieser  Geist  (purusha)  im  innern  Selbst,  golden  wie 
eine  Flamme  ohne  Rauch;  und  er  ist  gröfser  als  der  Himmel, 
gröfser  als  der  Raum,  gröfser  als  diese  Erde,  gröfser  als  alle 
Wesen.  Er  ist  des  Lebens  Seele,  er  ist  meine  Seele;  zu  ihm,  von 
hier,  zu  dieser  Seele  werde  ich  hinscheidend  eingehen.  Wem  dieses 
ward,  fürwahr  der  zweifelt  nicht!»  —  Also  sprach  Cändilya:  «so 
ist  es!»". 

5.   Anhang  zur  Geschichte  des  Brahman: 
Die  Hymnen  des  Atharvaveda  über  Brahman  und  den  Brahmacärin. 

Die  hierher  gehörigen  Hymnen  des  Atharva-Veda,  10,2 
11,8  und  11,5  erlauben  zwar  nicht,  wie  die  bisher  besprochenen 
Brähmanastellen ,  die  Entwicklung  des  Brahmanbegrifi'es 
von  seiner  ursprünglichen  Bedeutung  bis  zu  der,  welche  er 
später  immer  behalten  hat,  von  seiner  Geltung  im  Rigveda 
bis  zu  seiner  Geltung  in  den  Upanishad's,  stufenweise  zu  ver- 
folgen, setzen  vielmehr  (wodurch  sie  ihre  Posteriorität  be- 
kunden) den  fertig  entwickelten  Brahmanbegriff  voraus,  liefern 


Brahman  als  teleologisches  Princip,  Atharvav.  10,2.  265 

aber  doch  einen  sehr  dankenswerten  Beitrag  zu  demselben, 
sofern  sie  als  Thema  die  Verwirklichung  des  B  rahm  an 
im  Menschen  behandeln,  und  zwar  10,2  mehr  von  der  phy- 
sischen, teleologischen,  11,8  mehr  von  der  psychischen 
Seite  her,  während  der  Hymnus  11,5  das  Brahman  dadurch 
verherrlicht,  dafs  er  den  Menschen,  welcher  und  solange  er 
ein  Träger  und  gleichsam  eine  Inkarnation  des  Brahman  ist, 
d.  h.  den  Brahmacärin,  über  alles  andre  hinaushebt. 

Atharvaveda  10,2. 
Das  Brahman  als  teleologisches  Princip. 

Seiner  Form  nach  erscheint  dieser  Hymnus  als  eine  Nach- 
bildung von  Rigv.  10,121.  Dort  wurde  von  dem  vedischen 
Rishi  auf  die  mannigfachen  Wunder  der  Natur  hingewiesen 
und  als  Urheber  derselben  zuletzt  Prajdpati  genannt,  —  hier 
vertieft  sich  ein  mehr  nüchterner,  aber  darum  nicht  weniger 
interessanter  Dichter  in  Bau  und  Funktionen  des  menschlichen 
Organismus  und  weist  schliefslich  zur  Erklärung  seiner  Wunder 
auf  das  Brahman  hin,  das  ihn  gebildet  und  in  ihm  seinen 
Wohnsitz  genommen  hat.  —  Der  Hymnus  gliedert  sich  in  vier 
Teile,  jeder  zu  acht  bis  neun  Versen: 

1)  Vers  1—8.     Der  Bau  des  Leibes. 

2)  Vers  9  — 17.  Die  Funktionen  des  Leibes  in  Zu- 
sammenhang mit  der  Zweckmässigkeit  der  übrigen  Natur, 
v.  16.  (Wer  diesen  Vers  ausscheiden  wollte,  würde  vier  voll- 
kommen gleiche  Teile  gewinnen.) 

3)  Vers  18 — 25.  Übermacht  des  Menschen  über  die  Welt 
und  die  Götter.  Bei  dieser  letzten  Darstellung  wird  auf 
Brahman  als  Urheber  der  Macht  des  Menschen  hingewiesen 
(v.  21.  23.  25). 

4)  Vers  26  —  33.  Nachtrag.  Das  Haupt  als  Behälter 
von  Göttern,  der  Leib  als  die  Burg  des  Brahman,  das  Herz 
als  der  Wohnsitz  desselben.  Wer  so  sich  selbst  als  Ver- 
körperung des  Brahman  erkennt,  wird  zu  Brahman  und 
dadurch  zum  Princip  aller  Dinge  (v.  28). 


266  IV.    Geschichte  des  Brahman,  Anhang. 

Vers  1 — 8.     Bau  des  Leibes. 

1.  Von  wem  geschaffen  sind  des  Menschen  Fersen? 
Von  wem  das  Fleisch?  von  wem  der  Füfse  Knöchel? 
Wer  schnf  die  Öffnungen,   der  Finger  Zierde, 

Die  Strecker1  aus  der  Mitte,  das  Gestell  wer? 
1.  uechlakkdu  ist  unbekannt;  Ludwig  rät  auf  ,,Fufssohlen".  Da  aber  madhyatas 
dazu  gezogen  werden  mufs,  können  nur  zwei  parallel  vorhandene,  von  der 
Mitte  ausgehende  Glieder  gemeint  sein,  also  vielleicht  die  Arme;  denkbar 
wäre  für  diese  ucchlälchau  (von  gläkh  nach  Dhätupätha  5,13  =  vyäptaii),  „die 
von  der  Mitte  aus  sich  streckenden". 

2.  Wie  kommt's ,   dafs  sie  Fufsknöchel  unten  schufen 
Und  oberhalb   die  Kniescheiben  am  Menschen? 
Dafs  sondernd  sie  die  Beine  bauten?    Wo   sind 
Der  Kniee  Angeln?    Wer  hat  das  ergründet? 

3.  Vier  sind  gefügt,   dafs  sie  zusammenlaufen  1, 
Als  Last  den  Knie'n,  zur  leichtbewegten  Tonne. 
Wer  macht,  dafs  Hüften  sind   und  Schenkel,  sodafs 
Des  Rumpfes  Masse  wohlgefestigt  dasteht? 

1.    Einer  ähnlichen  Anschauung  über  die  Entstehung  des  Rumpfes  begegneten 
wir  oben  S.  199. 

4.  Wie  viel  Götter  und  welche  sind's  gewesen, 

Die  Brust  und  Nacken  ausgedacht  des  Menschen? 
Wer  brachte  die  Brustzitzen  an,  die  Schultern, 
Die  Ellenbogen1?  wer  erfand  die  Rippen? 
1.  kaphaudau  wahrscheinlich  =  kapho?u,  Ellbogen. 

5.  Wer  fügte  seine  Arme  wohl  zusammen, 
Dafs  er  mit  ihnen  Mächtiges  vollbringe  ? 
Und  welcher  Gott  hat  weiterhin  an  ihm 
Die  Schulterblätter  auf.  den  Rumpf  gesetzt? 

6.  Wer   hat  am  Kopf  die  sieben  Offnungen  gebohrt, 
Die  Ohren  hier ,   die  Nase ,  Augen  und  den  Mund , 
In  deren  Thatkraft  mannigfacher  Mächtigkeit 
Vierfüfsler  und  Zweifüfsler  finden  ihren  Weg  ? 

7.  In  Kinnladen  die  vielgewandte  1  Zunge 
Baut  er,    der  Rede  Kunst  in  sie  zu  legen. 
Er  regt  sich  eifrig  in  der  Wesen  Innerm, 

Mit  Wasser  sich  bekleidend 2.     Wer  versteht  das  ? 

1.  purüci'  (von  PW.  mit  Hinweisung  auf  Rigv.  3,57,5  ohne  Not  für  verdorben 
aus  urüci'  erklärt)  fem.  eines  fehlenden  puruvyanc,  wie  urüci    von  uruvyanc. 

2.  Vgl.  Rigv.  10,121,7   (oben  S.  132). 


Brahman  als  teleologisches  Princip,  Atliarvav.  10,2.  267 

8.    Der  Gott,  der  sein  Gehirn  anfänglich  baute, 

Die  Stirn,  des  Haargeflechtes  Wulst1,  den  Schädel, 
Der,  auf  das  Kinn  auftürmend  dieses  Bauwerk, 
Himmelwärts  aufstieg 2,  welcher  Gott  ist  dieser? 

I.  kakutikä;    die  Nennung  der  andern  Teile    läfst  auf  das   Hinterhaupt,    die 
i    mutmafsliche  Verwandtschaft   mit  kata  Geflecht,    kati  Hüfte   auf  den  Haar- 

wnlst  desselben  raten.  2.  Wohl  nur  hyperbolisch  für:  nach  oben  baute. 
(Your  ladyship  is  nearer  to  heaven  than  ichen  I  saw  you  last  by  the  altitude 
of  a  chopine,  Shakspere,  Hamlet  2,2.) 

Vers  9 — 17.     Funktionen   des   Organismus. 

9.  Die    Lust    und    Unlust    vielzweigig,    Schlaf,    Angstgefühl    und 

Mattigkeit , 
Die  Freuden  alle  und  Wonnen,    woher   nimmt's    der  gewalt'ge 

Mensch? 

10.   Not,  Niedergang,  Zugrundgehen  und  Dürftigkeit,  woher  sind  sie? 
Und  Glück,   Gedeihn,  Nichtfehlschlagen,  Verstand  und  alle  Art 

Erfolg? 

II.  Wer  schuf  in  ihm  den  Stromkreislauf,  allwärts  verzweigt,  der 

Flüssigkeit, 
Scharf,  hellrot,   dunkelrot,   schwärzlich,   aufwärts,  abwärts  und 

seitenwärts  ? 

12.  Wer  war's,  der  ihm  Gestalt  schenkte,  wer  gab  Beleibtheit,  Namen 

ihm , 
Den  Gang,  des  Intellekts  Leuchte,  der  Beine  kunstvoll  Gehewerk? 

13.  Wer  wob    in   ihm    den  Aushauch    ein,    den  Einhauch    und  den 

Zwischenhauch, 
Den  Allhauch  auch?    Wer  war  der  Gott,  der  sie  im  Menschen 

setzte  ein? 

14.  Wer  war  es,    der  ihm  einpflanzte  als    ein'ger  Gott  des  Opfers 

Dienst? 
Wer  gab    ihm  Wahrheit,    Unwahrheit,    wer  Tod,   wer  die  Un- 
sterblichkeit? 

15.  Wer  war's,    der    ihm  verlieh  Kleidang,    wer  schuf  des  Lebens 

Dauer  ihm, 
Wer  reichte  ihm  der  Kraft  Gabe,  wer  schenkte  ihm  die  Schnellig- 
keit? 


268  IV".    Geschichte  des  Brahman,  Anhang. 

16.  Wodurch  hat  er  gespannt  Wasser,  wodurch  macht  leuchten  er 

den  Tag, 
Liefs  Morgenröten  aufflammen  und  gab  der  Abendwerdung  Gut? 

17.  Wer,    dafs    er    des  Geschlechts  Faden    fortspinne,    pflanzt'   ihm 

Samen  ein, 
Wer  häufte  auf  ihn  Geistkräfte,  gab  Stimme  ihm  und  Mienenspiel? 

Vers  18 — 25.     Übermacht   des  Menschen 
und   i  h  r   G  r  u  n  d. 

18.  Wodurch  bevölkert  die  Erde,  wird  selbst  des  Himmels  Meister  er 
Und  überwächst  die  Berghöhen,  —  wer  gab  ihm  dieses  Opfer- 
werk x  ? 

1.  Durch  die  Opfer  beherrscht  er  Erde  und  Himmel  (die  Götter)  und  wächst 
höher  als  Berge,  wie  er  nach  biblischer  Hyperbel  durch  den  Glauben  Berge 
versetzt. 

19.  Wodurch  erreicht  er  Parjanya  und  Soma,   den  weitschauenden, 
Wodurch  das  Opfer,  den  Glauben,  wer  hat  ihm  eingepflanzt  den 

Geist  ? 

20.  Wodurch  erlangt  er  Schriftwissen,  wodurch    den  Parameshthin 

hier , 
Wodurch  erlangt  er  dies  Feuer,  Avodurch  mafs  er  den  Jahreslauf? 

Bevor  der  Dichter  in  die  Antwort  auf  v.  1  —  20  ausbricht,  erscheinen  hier 
als  höchste  Leistungen,  die  er  am  unmittelbarsten  dem  Göttlichen  in  ihm 
verdankt:  1)  ^rotriyain  sc.  jnunam,  das  Wissen  des  Schriftkundigen,  2)  Para- 
meshthin, der  höchste  Geist,  d.  h.  die  Kenntnis  desselben,  3)  asau  agnih  dies 
Feuer,  mit  Hinweisung  auf  das  Opferfeuer,  4)  die  Ausmessung  des  Jahres 
als  Voraussetzung  des  jährigen  Opfercykl.us.     Und  nun  endlich  die  Antwort: 

21.  Als  Brahman1  hat  er  Schriftwissen,  als  Brahman  Parameshthin 

hier , 
Als  Brahman  hat  er  dies  Feuer,  als  Brahman  mafs  er  aus  das  Jahr. 

1.  Als  Brahman,  d.  h.  vermöge  des  ihm  einwohnenden  Brahman,  welches 
zwar  hier  noch  das  im  Menschen  wohnende  „Gebet",  jedoch  schon  als  eine 
weltbauende  und  weltbeherrschende  Macht,  bezeichnet.  —  Charakteristisch 
ist  im  Folgenden  der  Wechsel  zwischen  brahma  und  brahmanä;  der  Mensch 
erlangt  seine  Übermacht  durch  das  Brahman,  ist  aber,  seinem  bessern 
Teile  nach,  dieses  Brahman  selbst. 

22.  Durch  wen  wohnt  unter  Göttern  er  und  unter  Menschen,  gott- 

entstammt? 
Durch  wen  heifst  jenes  Nicht-Kshatram,  und  dies  der  Kshatra 

edler  Stand? 


Brahman  als  teleologisches  Princip,  Atharvav.  10,2.  269 

23.  Als  Brahman1  wohnt  er  bei  Göttern  und  unter  Menschen,  gott- 

entstammt , 
Als   Brahman   heilst    dies    Nicht  -Kshatram,   jenes    der   Kshatra 

edler  Stand. 

1.  Die  vier  Kasten  werden,  wie  Rigv.  10,90  auf  den  Purusha,  so  hier  auf 
das  Brahman  zurückgeführt:  der  Mensch  xax'  c^o^v,  d.  h.  der  Brahmane, 
wohnt  unter  Göttern,  die  ihn  umgeben  und  schützen,  und  er  wohnt  unter 
den  gottentsprofsnen  Stämmen:  Kshatra,  Vaigya,  Qüdra.  Sowohl  das  edle 
Kshatram  (sät  kshatram)  als  auch  das  Übrige  (ndkshatram  oder,  wenn  man 
ändern  will,  na  kshatram),  nämlich  Vaiqya  und  Qüdra,  hat  von  Brahman 
seine  Benennung  und  durch  diese  seine  sociale  Ordnung  empfangen. 

24.  Wer  schuf  hier  diesen  Erdboden,  wer  baute  hoch  den  Himmel  auf? 

"Wer  hat  in  Höhe  und  Breite  des  Luftraums  Weite  ausgespannt? 

25.  Brahman1  schuf  hier  den  Erdboden,  Brahman  baute  den  Himmel 

auf, 
Brahman2  in  Höhe  und  Breite  ist  als  der  Luftraum  ausgespannt. 
1.  Als  causa  efficiens  (brahmand).     2.  Als  causa  materialis  (brahma). 

Vers  26 — 33.    Nachtrag  (über  Haupt,  Leib,  Herz). 

26.  Als  zusammen  sein  Haupt  nähte  Atharvan  und  das  Herz  in  ihm,. 
Regt'  er  über  dem  Hirn  ihn  an  als  Läuterer  vom  Haupte  her1. 

1.  Atharvan,  als  Soma  (pavamäna)  zu  Kopfe  steigend,  nimmt  seinen  Sitz 
oberhalb  des  Hirns,  von  wo  er  den  Menschen  (d.  h.  den  Brahmanen)  anregt. 

27.  Dem  Atharvan  gehört  dies  Haupt,   ein  Fafs  mit  Göttern  voll- 

gestopft 1, 
Es  schützen  dieses  Haupt  Präna,  Nahrung  und  Manas  im  "Verein'2. 

1.  Mund,  Nase,  Auge,  Ohr  sind  der  Sitz  von  Agni,  Väyu,  Aditya,  Digas,. 
Ait.  Up.  1,1,4.  Vgl.  den  Vers  Atharvav.  10,8,9,  Brih.  Up.  2,2,3.  2.  Vgl.  den 
pränamaya,  annamaya,  manomaya  koga,  Taitt.  Up.  2. 

28.  Der  Mensch  wächst  aufwärts,  wächst  seitwärts,  wird  gegenwärtig 

allerwärts , 
Der  erkannt  hat  die  Burg  Brahman's,  deren  Bürger  er  selber  ist1. 

1.  Der  Leib  ist  die  Burg  (pur)  des  Brahman,  der  Mensch  ihr  Bürger  (purusha); 
wer  sich  so  als  das  Brahman  erkennt,  wird,  wie  dieses,  allgegenwärtig. 

29.  Fürwahr,    wer   diese   Burg   Brahman's    umhüllt   weifs   von  Un- 

sterblichem x, 
Dem  schenkt  Brahman  und   sein  Anhang2  Gesicht,  Leben  und 

Nachkommen. 
1.  Von  den  v.  27  erwähnten  Göttern.     2.  Eben  die  genannten  Götter. 


270  IV.    Geschichte  des  Brahman.  Anhang. 

30.  Fürwahr,  dem  fehlt  die  Sehkraft  nicht  und  Lehen  his  zum  Alter 

hin , 
Der  erkannt  hat  die  Burg  Brahman's,  deren  Bürger  er  seiher  ist. 

31.  Acht  Räder1  sind  und  neun  Pforten2  an  dieser  festen  Götterburg, 
In  ihr  ist  ein  Gefäfs3,  goldig,  himmlisch,  von  Lichtglanz  rings 

umhüllt. 
1.  Vermutlich    die  Arme,   Beine,  Hände   und  Fiifse  (vgl.  ashtanga).     2.  Die 
neun  Öffnungen  des  Körpers.     3.  Das  Herz. 

32.  In  diesem  goldigen  Gefäfs,  das  drei  Speichen1,  drei  Stützen2  hat. 
Da  wohnt  ein  Wunderding,  selbsthaft3;   das  kennt  nur,  wer  das 

Brahman  kennt. 
1.  und  2.    Wird  sich  auf  anatomische  Verhältnisse   beziehen,    also  etwa  die 
beiden  Herzohren   nebst  der  Herzspitze  und  die  drei    entsprechenden  Stellen 
des  Perikardium  bedeuten.    3.  Ein  yaksham  utmanvat,  nämlich  das  Brahman. 

33.  In  die  strahlende,  goldgelbe,    mit  Herrlichkeit  umgeb'ne  Burg, 
Die  goldne,  unbezwingbare,  —  in  diese  ging  das  Brahman  ein. 

Ätharvaveda  11,8. 

Die  Entstehung  des  Menschen. 

Von  verwandtem  Inhalte  wie  das  vorige  Stück,  nur  weniger 
ernsthaft  und  daher  auch  weniger  ernst  zu  nehmen,  ist  das  Lied 
Atharvav.  11,8,  das  die  ursprüngliche  Entstehung  des  Menschen 
durch  ein  Zusammenfahren  psychischer  und  physischer,  übrigens 
insgesamt  von  Brahman  abhängiger  Faktoren  schildert.  Der 
Verfasser  ist  einer  jener  geistreichen  aber  paradoxen  Gesellen, 
von  denen  oben  S.  209  die  Rede  war,  und  die  an  der  heiligen 
Überlieferung  ihren  Mutwillen  üben.  Aus  den  Göttern  (Indra, 
Agni,  den  Acvin's,  Soma,  Tvashtar  und  selbst  dem  Schöpfer 
Brihaspati,  v.  5.  8.  9)  macht  er  sich  sehr  wenig;  sie  sind  nur 
Epigonen,  sind  nur  die  Nachkommen  ihrer  gleichnamigen  Vor- 
fahren (v.  9),  und  auch  diese  Vorfahren  (denen  allenfalls  auf 
den  Bau  des  Leibes  ein  Handlangereinfluss  zugestanden  wird, 
v.  18)  sind  nicht  ursprünglich  sondern  aus  Tapas,  Karman 
und  zuhöchst  aus  Brahman  entstanden,  ebenso  wie  die  zehn 
Götter,  cl.  h.  psychischen  Kräfte,  die  durch  ihre  Verbindung 
den  Menschen  hervorbringen  (v.  4.  26),  und  neben  denen  noch 
eine  grofse  Zahl  andrer,  auch  übler  Götter  (v.  19  papmano 
nama  devatäli)  zum  Aufbau  des  menschlichen  Organismus  bei- 


Die  Entstehung  des  Menschen,  Atharvav.  11,8.  271 

tragen.  Dieser  Leichtigkeit,  mit  der  aus  der  Hand  unseres 
Dichters  allerlei  neue  Götter  hervorgehen  (zu  denen  auch  die 
Samdhä  v.  15.  16  und  das  kurzer  Hand  kreierte  Ehepaar  lgä 
und  Vaga  v.  17  gehören),  entspricht  die  Leichtfertigkeit, 
mit  der  er  die  anerkannten  Götter,  Agni,  Indra  u.  s.  w.,  be- 
handelt, ohne  dafs  er  doch  versuchte,  ihre  Stellung  gegenüber 
dem  Brahman  und  den  im  Menschen  wohnenden  Göttern 
ernstlich  zu  fixieren;  und  nehmen  wir  hierzu  noch  die  Re- 
nommistereien in  v.  3  und  7,  den  humoristischen  Eingang 
v.  1 — 2,  die  Parodie  v.  29,  und  den  schlechten  Witz,  mit  dem 
er  schliefst,  so  dürften  wir  so  ziemlich  alles  zu  seiner  Charakte- 
ristik Nötige  beisammen  haben. 

Seine  Grundanschauung,  soweit  bei  ihm  von  einer  solchen 
die  Rede  sein  kann,  ist  folgende.  Oberstes  Princip  ist  das 
Brahman,  das  im  Menschen  verkörpert  ist,  in  dem  daher  auch 
alle  Götter  wohnen  „wie  die  Kühe  im  Kuhstall"  (v.  32). 
Neben  dem  Brahman  steht  (ob  von  ihm  abhängig,  wird  nicht 
gesagt)  „der  grofse  Ocean"  (v.  2.  6),  „die  Viräj"  (v.  30),  „die 
alten,  trägen  Wasser"  (v.  34),  mit  andern  Worten,  die  uns 
wohlbekannten  Urwasser.  Aus  ihnen  gingen  hervor  als  älteste 
Götter  Karman  und  Tapas  (v.  2.  6).  Von  diesen  dreien, 
Brahman,  Karman  und  Tapas,  geht  nun,  wie  es  scheint,  eine 
doppelte  Genealogie  von  Göttern  aus,  die  wir  als  die  mytho- 
logische und  die  psychologische  unterscheiden  wollen. 

a.  Die  mythologischen  Götter:  als  Beispiele  werden 
genannt  v.  5  der  Schöpfer  Brihaspati,  Indra,  Agni,  die  Agvi'/i's ; 
v.  9  Indra,  Soma,  Agni,  Tvashtar;  v.  31.  33  Agni,  Väyu,  Sürya. 
Zu  ihnen  dürfen  wir  wohl  auch  die  Ritte's  (Jahreszeiten)  v.  5, 
die  Bhumi  (Erde)  v.  7,  die  Samdhä  (Harmonie)  v.  15.  16,  end- 
lich Vaga  (Wille)  und  lga  (Macht)  v.  17  rechnen.  Hingegen 
wird  Prajäpati  nicht  anerkannt,  sondern  in  v.  30  durch  Identi- 
fikation mit  Brahman  wegerklärt.  Woher  nun  diese  Götter? 
Diese  Frage  wird  v.  5 — 9,  und  zwar  höchst  ungenügend,  be- 
handelt. Nach  v.  9  stammen  sie  von  gleichnamigen  frühern, 
also  Indra  von  einem  Ur- Indra,  Tvashtar  von  einem  Ur- 
Tvashtar,  Bhümi  von  einer  Ur-Bhümi  (v.  7)  u.  s.  w.  Diese 
Urgötter  scheinen  höher  zu  stehen  als  die  jetzigen;  mit  der 
Kenntnis   der  Ur-Bhümi   thut   der  Dichter   v.  7    sehr  wichtig, 


272  XV.    Geschichte  des  Brahman,  Anhang. 

ohne  dafs  etwas  dahinter  wäre;  vielleicht  denkt  er  sie  als 
identisch  mit  dem  Urwasser.  Ur-Tvashtar  leistet  nur  bei  dem 
Bau  des  Leibes,  und  auch  hier  nur  einen  nebensächlichen 
Dienst,  indem  er  die  Höhlungen  desselben  bohrt  v.  18;  das 
übrige  baut  nicht  er,  sondern  die  Samdhä  oder  Harmonie 
v.  15.  16.  Weiter  ist  kein  Einflufs  dieser  Götter,  weder  der 
jetzigen  noch  der  ursprünglichen,  auf  den  Menschen  zu  er- 
kennen, nur  dafs  Sürya,  Väyu,  Agni  sich  nach  dem  Tode  in 
der  üblichen  Weise  in  den  Leib  teilen  v.  31.  33.  Ohne  Zweifel 
stammen  sie  von  Brahman,  Karman,  Tapas,  v.  5.  6,  aber  in 
welcher  Weise,  das  bleibt  unklar.  Dürften  wir  v.  10  pressen, 
nach  welchem  die  mythologischen  Götter  Kinder  (putrd/j)  der 
zehn  psychologischen  zu  sein  scheinen,  so  liefse  sich  folgende 
Genealogie  herstellen: 

1)  Brahman,  Satyam  und  Tapas, 

2)  die  zehn  psychologischen  Götter, 

3)  die  mythologischen  Urgötter, 

4)  die  jetzigen  mythologischen  Götter. 

Dadurch  würden  wir  den  wertvollen  Gedanken  gewinnen,  dafs 
die  zehn  psychologischen  Urprincipien,  von  denen  sogleich  zu 
reden  sein  wird,  nicht  nur  den  Menschen,  sondern  auch  den 
Göttern  zu  Grunde  liegen;  aber  dieser  Gedanke  ist  kaum  an- 
gedeutet (v.  10),  und  so  läfst  sich  aus  dem  ganzen  Abschnitt 
v.  5 — 9  nur  so  viel  entnehmen,  dafs  die  Götter  der  Mythologie 
nicht  über,  sondern  neben  dem  Menschen  stehen,  auf  dessen 
Genesis  der  Dichter  seine  ganze  Aufmerksamkeit  richtet. 

b.  Die  zehn  psychologischen  Götter  und  der 
Mensch.  Der  erste  Knoten  zum  Wesen  des  Menschen  wird 
dadurch  geschürzt,  dafs  Manyu  (^uoc)  v.  1  eine  Gattin  aus 
dem  Hause  des  Sainkalpa  (Entschlufs),  und  zwar  die  Aküti 
(Absicht)  v.  4,  als  Braut  heimführt,  wobei  Brahman,  Tapas 
und  Karman  Brautführer  sind.  Der  Mensch  als  eine  Ehe 
zwischen  Manyu  und  Aküti,  zwischen  Wille  und  Intellekt,  das 
wäre  ein  eines  Philosophen  nicht  unwürdiger  Gedanke.  Nur 
ist  das  Bild  insofern  hinkend,  als  die  drei  Brautführer  in 
Wahrheit  die  Schöpfer  des  Manyu  oder  vielmehr  der  zehn 
Kräfte  sind,  die  nach  v.  4  die  Braut  heimführen  (acahan,  nicht 


Die  Entstehung  des  Menschen,  Atharvav.  11,8.  273 

„zuführen",  da  die  Brautführer  ja  Brahman,  Tapas,  Karman 
sind,  auch  dvah  in  v.  1  und  4  nicht  wohl  in  verschiedener 
Bedeutung  genommen  werden  kann),  und  die  wir  daher  mit 
Manyu  identifizieren  müssen.  Diese  zehn  Kräfte  sind  1  —  4 
die  vier  Lebenshauche,  Präria,  Ap'ana,  Vydna,  Udana,  5 — 8 
Auge,  Ohr,  Bede,  Monas,  9.  Akshiti,  wohl  die  den  Menschen 
zusammenhaltende,  und  10.  Kshiii,  die  ihn  beim  Tode  trennende 
Kraft  (wie  ja  auch  die  spätere  Philosophie  für  die  Funktion 
des  Sterbens  eine  eigene  Seelenkraft,  den  Udäna,  annahm). 
Diese  zehn  psychischen  Götter,  welche  nach  v.  4  die  Aküti 
(das  Bewufstsein)  heiraten  und  daher  nach  v.  1  mit  Manyu 
identisch  sind,  sind  nach  v.  10  von  frühern  Göttern  (Brahman, 
Tapas,  Karman)  geboren;  sie  überlassen  die  Welt  „den  Kindern" 
(den  mythologischen  Göttern)  und  schaffen  sich  eine  eigene 
Welt  in  Gestalt  des  Menschen,  v.  10.  Zu  diesem  Zwecke 
tragen  sie  (v.  11)  oder  giefsen  sie  (v.  13)  die  v.  11  — 15  ge- 
nannten Körperteile  zusammen,  welche  dann  von  der  Göttin 
Samdhä  (Harmonie)  gefügt  (v.  15),  von  der  Iqa  mit  Farbe  be- 
kleidet (v.  17),  und  von  JJr-Tvashtar  mit  Bohrlöchern  versehen 
werden  (v.  18),  worauf  der  Leib  fertig  ist  und  die  Götter,  näm- 
lich zunächst  die  genannten  zehn,  in  ihn  eingehen  (v.  10. 
11.  13.  18.  26.  29).  Ferner  aber  gehen  aufser  ihnen  noch  eine 
grofse  Zahl,  nämlich  über  fünfzig  andre  Götter  (psychische 
Kräfte)  in  den  Menschen  ein,  die  v.  19 — 27  aufgezählt  werden, 
wobei  v.  26  auch  jene  zehn  ersten  wieder  mit  erscheinen.  Es 
werden  dann  v.  28  noch  die  acht  Wasser  des  Leibes  aufgezählt, 
v.  29  wird  eine  kleine  Parodie  auf  Kigv.  10,90,6  eingeflochten, 
und  dann  zum  Schlüsse  heilst  es  v.  30:  als  die  Wasser  (die 
acht  v.  28  genannten),  als  die  Gottheiten  (die  zehn  erstem 
und  die  mehr  als  fünfzig  andern),  und  als  die  mit  dem  Brah- 
man verbundene  Viräj  (der  grofse  Ocean  v.  2.  6,  die  Urwasser, 
aus  denen  nach  v.  34  der  Leib  und  seine  v.  11 — 15  genannten 
Teile  stammen)  fährt  das  Brahman  in  den  Leib,  in  welchem 
es  „der  dem  Leibe  vorstehende  Prajäpati"  ist.  Darum  ist 
(v.  32)  „dieses  (Ganze  des  Menschen)  Brahman",  denn  im 
Menschen  wohnen  alle  Götter,  die  Götter  aber  in  Brahman. 
Die  Verse  31  und  33  handeln  vom  Tode,  v.  34  von  der  ersten 
Entstehung  des  Körpers  im  Urwasser. 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.    I.  18 


274  IV-    Geschichte  des  Braliman,  Anhang. 

Vers  1 — 4.     Die  Seele  als  Brautpaar. 

1.  Als  sich  Manyu  eine  Gattin  aus  des  Samkalpa  Haus  erkor, 
Wer  war  Brautführer,  wer  Werber,  wer  war  der  Werber  oberster? 

2.  Tapas  und  Karman  waren  da  tief  in  dem  grofsen  Ocean, 
Die  waren  Brautführer,  Werber,  Braliman  der  Werber  oberster. 

3.  Zehn  der  Götter1  geboren  sind  vordem  von  Göttern2  allzumal, 
Wer  diese  kennt  von  Angesicht,  der  mag  wahrlich  sich  rühmen 

laut. 
1.  Die    im    folgenden  Verse   genannten:    Prdna,    Apdna,    Cakshuh,    CJrotram, 
Akshiti,  Kshiti,    Vydna,    Uddna,   Vdc,  Manas;   sie   sind  zusammen    der  v.  1 
genannte  Manyu,  da  sie  v.  4  die  Äküti  heimführen.    2.  Von   Tapas,  Karman 
und  zuhöchst  von  Braliman. 

4.  Einhauch  und  Aushauch,  Aug'  und  Ohr,   der  Unvergang 

und  der  Vergang, 
Querhauch,    Aufhauch,    Wort  und  Verstand    führten    als 

Braut  die  Absicht  da. 

Vers  5  —  9.     Episodisch.     Die    Naturgötter 
und    ihr    Ursprung. 

5.  Damals  gab's  noch  nicht  Jahrzeiten,  nicht  den  Schöpfer  Brihaspati, 
Nicht  Indra,  Agni,  nicht  Agvin's;  —  wen  ehren  die  als  Ältestes? 

6.  Tapas  und  Karman  da  waren  tief  in  dem  grofsen  Ocean, 
Auch  Tapas  ward  erst  aus  Karman;  dies  ehren  sie  als  Ältestes. 

7.  Und  die  Erde,  die  vor  dieser,  die  nur  Wahrwissern  ist  bekannt, 
Wer  all  diese1  kennt   mit  Namen,    der  dünke    sich    der  Urzeit 

kund. 
1.  Tapas,  Karman  und  die  Vr-Bhumi;  diese  Zusammenstellung  läfst  vermuten, 
dafs  unter  letzterer  der  Urstoff  (v.  2.  6  mahän  arnavah,  v.  30  Virdj,  v.  3-4 
vriddhdh  stimu  äpas)  zu  verstehen  ist.  Die  Unterscheidung  der  Urerde  von 
der  jetzigen  könnte  dann  das  Motiv  gewesen  sein  zu  der  wunderlichen  Unter- 
scheidung des  Indra  und  Ur-Indra  u.  s.  w.  in  den  beiden  folgenden  Versen. 

8.  Woraus  stammt  Indra  und  Soma,  und  Agni,  woraus  stammt  er 

her? 
Woraus  Tvashtar,   der  bildende,  woraus  entstammt  der  Schöpfer 

selbst? 

9.  Indra  aus  Indra,  Soma  aus   Soma,  Agni  aus  Agni  stammt: 
Tvashtar    entsprang    nur   aus   Tvashtar,    der  Schöpfer  aus    dem 

Schöpfer  nur. 


Die  Entstellung  des  Menschen,  Atharvav.  11,8.  275 

Vers  10 — 18.     Zusammenschüttung   des  Körpers 
durch  die  zehn  v.  4  genannten  Götter. 

10.  Doch  jene  zehn  geborenen  Götter1  von  Göttern2  ehedem, 
Diesen   Kindern3  die  Welt  lassend,  in  welcher  Welt 4  verweilen 

die? 
1.    Prtaia,    Apuna  u.  s.  w.  v.  4.      2.  Brahman,    Karman,    Tapas.     3.  Indra, 
Soma  u.s.  w.     4.  Der  menschliche  Leib  ist  ihre  "Welt  (ihr  Ort,  loka). 

11.  Als  man  Haare,  Knochen,  Sehnen  und  Fleisch  und  Mark  zusammen- 

trug , 
Den  Leib  nebst  seinem  Fufsgestell,  in  welche  Welt  ging  da  man 

ein? 

12.  Woher1  trug  man  sie  zusammen,  die  Haare,  Knochen,  Sehnen  da, 

Wer2  trug  zusammen  und   woher  Glieder,   Gelenke,  Mark  und 

Fleisch  ? 
1.  Aus  dem  Urstoffe,  vgl.  v.  7.     2.  Die  zehn  Götter  v.  4. 

13.  Zusammengiefser  heifsen  sie,  die  Götter,  die  dies  sammelten, 
Zusammen  gössen  ihn  Götter  und  gingen  in  den  Menschen  ein. 

14.  Die  Schenkel,  Füfse,  Kniescheiben,  das  Haupt,  die  Hände  und 

den  Mund, 
Die  Rippen,  Brustwarzen,   Seiten,  wer  hat  so  weise  das  gefügt? 

15.  Haupt,  Hände  und  den  Mund  ferner,  Zunge,  Halswirbel,  Brust- 

korb auch , 
Das  hat,  in  Haut  es   einhüllend,  die  grofse  Harmonie  gefügt. 

16.  Als  fertig  dieser  Leib  vorlag,   grofs  durch  die  Harmonie  gefügt, 
Wer  hat,  durch  die  er  glänzt  heute,  auf  ihn  die  Farbe  aufgelegt? 

17.  Alle  Götter  sich  abquälten,  das  merkte  da  ein  trefflich  Weib, 
Icä  (die  Macht)   des  Vaga   (Willens)   Eh'gattin,    die   legte    ihm 

die  Farbe  auf. 

18.  Thüren  bohrte  dann  ein  Tvashtar,  Tvashtar's  Vater,   der  höhere, 
So    ward    als    sterblich   Haus    der   Mensch,    in   den    die    Götter 

gingen  ein. 

Vers  19 — 27.     Einzug  der  Seelenkräfte. 

19.  Schlaf,  Mattigkeit  und  Auflösung,  —  Götter,   die  Übel  sind   ge- 

nannt,  — 
Alter,  Kahlheit  und  Grauwerden,  die  gingen  in  den  Körper  ein. 

18* 


276  IV.    Geschichte  des  Brahman,  Anhang. 

20.  Stehlsucht,  Unthat  und  Ränkelust,  Wahrheit,   Opfer  und  grofser 

Ruhm , 
Kraft,  Herrschaft  und  Gewalthaben,  die  gingen  in  den  Körper  ein. 

21.  Da  kamen  Übermacht,  Ohnmacht,  Wohlwollen,  Übelwollen  auch, 
Des   Hungers   und    des    Dursts   Heerschar,    die   gingen   in   den 

Körper  ein. 

22.  Tadelsucht   und    Nichttadelsucht,    was    spricht    'so  nimm!'    und 

spricht  'o  nein!', 
Glauben,  Spenden  und  Unglauben,  die  gingen  in  den  Körper  ein. 

23.  Die  Wissenschaften,  Nichtwissen  und  alles,   was  erlernbar  ist, 
In  den  Körper  sodann  gingen,  Brahman,  Ric,  Säman,  Yajtts,  ein. 

24.  Der  Wonnen,  Freuden,  Lust  Heerschar  sowie  des  Jubels  froher 

Schall, 
Das  Lachen,  Scherzen  und  Tanzen,  die  gingen  in  den  Körper  ein. 

25.  Geplauder  und  Geschwätzigkeit  sowie  des  Jammers  Klagelaut, 
Die  gingen  ein  in  den  Körper,  Ansporn  und  Triebe  allerlei. 

26.  Einhauch  und  Aushauch,  Aug'  und  Ohr,  der  Unvergang  und  der 

Vergang , 
Querhauch,   Auf  hauch,  Wort   und  Verstand1   mit    dem   Körper 

verbanden  sich. 
1.  Die  zehn  Grundkräfte  aus  v.  4,  deren  Voraustellung  man  erwartet  hätte. 
Pedanterie  ist  der  Fehler  unseres  Dichters  nicht. 

27.  Wunschäufserung  und  Anordnung,   Einzelbefehl  und  Allbefehl, 
Vorsätze  und  Entschliefsungen,   die  gingen  in  den  Körper  ein. 

Vers  28 — 29.     Die  acht  Körperwasser. 

28.  Das    Blasenwasser,    Blutwasser,    Schweifswasser,    Thränenwasser 

auch , 
Darm-,  Same-,  Kot-,  Gemein -Wasser  verlegten  sie  an  ekeln  Ort. 

29.  Einlegend  so  die  acht  Wasser,   Gebein  zum  Brennholz1  machten 

sie, 
Zum  Schmalz1  den  Samen,  so  gingen  die  Götter  in  den  Menschen 

ein. 
1.  Dieser  plötzliche  Einfall  (da  doch  nirgends  vorher  von  einer  Auffassung 
der  Menschenschatfung    als  Opfer   die  Rede    war),   wird    wohl    nur    als    eine 
scherzhafte  Parodie  von  Rigv.  10,90,6  (oben  S.  157)  aufzufassen  sein. 


Der  Brakmanschüler,  Atharvav.  11,5.  277 

Vers  30.  32.     Die   Summa. 
(Wir  stellen  v.  31  und  32  um.) 

30.  Als  die  Wasser  und  Gottheiten  und  Viräj,  die  mit  Bramnan  war, 
Ging  Brahman  in  den  Leib  ein,  ihm  als  Prajäpati  vorzustehn. 

32.  Drum,  wahrlich,  wer  den  Menschen  kennt,  weifs,   dafs  der  Leib 

hier  Brahman  ist, 
AH'  jene  Götter  sind  in  ihm,  wie  im  Kuhstall  die  Kühe  sind1. 
1.  Auch  dies  dürfte  scherzhaft  zu  nehmen  sein. 

Vers  31.  33.     Das  Sterben. 

31.  In  Aug'  und  Odem  des  Menschen  teilten  dann  Sonne  sich  und 

Wind; 
Was    sonst  von   ihm  noch   bleibt,    reichten  die  Götter  da  dem 

Agni  dar. 

33.  Sobald  das  Sterben  ihn  ankommt,  geht  dreifach  auseinander  er, 

Nach  dorthin  geht  mit  einem  er  (zur  Sonne), 
Nach  dorthin  geht  mit  einem  er  (zum  Winde), 
Hienieden  bleibt  mit  einem  er  (bei  Agni). 

Vers  34.     Nachträglicher  Wortwitz. 

34.  Im  Gerinnsel    der  Urwasser  war   sein  Körper  verborgen    einst; 
In  ihm  ward  er  gelaicht  gleichsam,    darum  wird  Leichnam1  er 

genannt. 

1.  Anders  (zwischen  oava  Leichnam  und  faras  Kraft),  aber  nicht  besser  ist 
das  Wortspiel  im  Original. 

Atharvaveda  11,5. 
Der  Brahmanschüler  als  Inkarnation  des  Brahman. 

Das  Brahman  bringt  diese  Welt  hervor;  aber  es  ist  darum 
doch  nicht  diese  Welt;  wollen  wir  daher  zu  Brahman  gelangen, 
so  müssen  wir  uns  dieser  Welt  entäufsern,  uns  von  ihr  los- 
lösen, ihr  entsagen,  kurz,  dasjenige  üben,  was  der  Inder  tapas 
(Askese)  nennt.  Daher  gehören  Brahman  (Erhebung  über  das 
Individuelle)  und  Tapas  (Entsagung  dem  Individuellen)  eng 
zusammen,  wie  Theorie  und  Praxis,  das  Tapas  ist  die  Ver- 
wirklichung des  Brahman  im  Leben,  ist  das  praktisch  gewor- 
dene Brahman  selbst. 


278  IV.    Geschichte  des  Brahman,  Anhang. 

Der  Mensch  hat  das  Bedürfnis,  dieses  Höchste  (brahman) 
und  seine  Verwirklichung  (tapas)  nicht  nur  in  Geist  und 
Gemüt  zu  erstreben,  er  will  es  auch,  wenn  möglich,  im 
Menschen  verwirklicht  anschauen,  weil  er  nur  so  der  Mög- 
lichkeit, es  auch  selbst  zu  verwirklichen,  sicher  zu  sein  glaubt, 
worauf  ja  auch  die  Bedeutung  der  Christusidee  in  unserer 
Kirche  beruht.  In  Indien,  wo  man  weniger  individuell  denkt 
als  bei  uns,  ist  es  nicht  eine  Person,  in  der  der  Dichter 
unseres  Hymnus  das  Göttliche  verwirklicht  sieht,  sondern  eine 
ganze  Menschenklasse,  der  jeder  einmal  angehören  soll,  die 
Klasse  der  Brahmacärin's  oder  Brahmanschüler. 

Jeder  Dvija  (Brähmcma,  Kshatriya  und  Vaigya)  soll  in 
seiner  Jugend  eine  Reihe  von  Jahren  Brahmacärin  sein,  einer- 
seits um  das  Brahman  in  Gestalt  des  Veda  in  sich  aufzunehmen, 
anderseits  um  es  als  Tapas  durch  eine  Reihe  von  Entsagungen 
praktisch  zu  üben,  worauf  alle  Vorschriften  für  den  Brah- 
macärin (Keuschheit,  Gehorsam  gegen  den  Lehrer,  Bedienung 
desselben  im  Hause  durch  Pflege  der  heiligen  Feuer,  aufser 
dem  Hause  durch  Betteln  für  ihn  u.  s.  w.)  hinauslaufen.  So 
ist  dieser  Stand,  wie  schon  der  Name  brahma-cärin  „der  in 
Brahman  Wandelnde"  besagt,  recht  eigentlich  dem  Brahman 
und  seiner  Verwirklichung  im  Erkennen  und  Handeln  ge- 
widmet; in  beiden  Richtungen  soll  der  Brahmanschüler  nur 
Brahman  und  nichts  andres  sein.  Insofern  er  aber  dieses 
ist,  ist  er  nicht  mehr  Individuum,  sondern  das  Princip  aller 
Dinge  selbst  (aham  bralima  asmi),  ist  er  Schöpfer  und  Beieber 
von  allem  im  Himmel  und  auf  Erden,  wie  unser  Hymnus  es 
ausführt,  und  wenn  in  demselben  für  den,  welcher  mehr  an 
das  Individuum  als  an  die  Idee  denkt,  deren  Träger  es  ist, 
manches  übertrieben,  ja  ungeheuerlich  erscheinen  mag,  so 
liegt  in  ihm  doch  der  sehr  wahre  Gedanke,  dafs  wir  das 
Princip  der  Dinge,  das  Brahman,  nicht  in  irgendeinem  Wolken- 
kuckucksheim zu  suchen  haben,  sondern  in  unserm  eigenen 
Innern,  und  zwar  nicht  in  der  individuellen  Seite  desselben, 
sondern  in  derjenigen,  welche  in  uns  in  dem  Mafse  lebendig 
wird,  in  welchem  wir  in  der  Weise  des  Brahmacärin  durch 
Tapas  uns  über  die  ganze  Sphäre  des  Individuellen,  ihm  ent- 
sagend, erheben. 


Der  Brahmanschüler ,  Atharvav.  11,5.  279 

Wir  übersetzen  den  Hymnus,  indem  wir  versuchen,  seine 
Teile  zu  sondern,  bemerken  aber  im  voraus,  dafs  manches 
in  demselben  auch  uns  problematisch  bleibt. 

Vers  1—2.      Der   Brahmacärin   als   Inbegriff  der 
Gottheit. 

1.  Der  Brahmanschüler  belebend  beide  Welten  geht. 
In  ihm  sind  einmütig  die  Götter  alle. 

Er  hält  und  trägt  die  Erde  und  den  Himmel, 
Er  sättigt  durch  sein  Tapas  selbst  den  Lehrer  1. 
1.  Das  Betteln  für  den  Lehrer  ist  Tapas. 

2.  Dem  Brahmanschüler  nah'n,  ihn  zu  besuchen, 
Väter  und  Götter,  einzeln  und  in  Scharen; 

.    .   .  ihm  folgen  die  Gandharven l   .   .   . 

Sechstausend  und  dreihundertdreiunddreifsig  2 , 

Und  alle  Götter  sättigt  er  durch  Tapas 3. 
1.  Vermutlich  Glosse.    2.  Nach  Rigv.  3,9,9  giebt  es  3339,  nach  Brih.  Up.  3,9,1 
3306  Götter.     3.  Die  Pflege  der  heiligen  Feuer  ist   Tapas. 

Vers  3 — 4.     Bedeutung    der    Einführung    und    der 
Holzscheite. 

3.  Der  Lehrer,   der  den  Brahmanschüler  einführt, 
Nimmt  ihn  wie  eine  Leibesfrucht  in  sich  auf; 
Drei  Nächte 1  trägt  er  ihn  im  Mutterleib ,  dann 
Gebiert  er,   den  zu  schauen  Götter  kommen. 

1.  Vielleicht  auf  die  (freilich  nicht  allgemeine)  Vorschrift  bezüglich,  nach 
welcher  der  Lehrer  drei  Nächte  nach  der  Einführung  (upanayanam)  dem 
Schüler  als  Erstes  die  Gäyatri  lehrt,  Cänkh.  Grihyas.  2,5. 

4.  Ein  Brennholz  ist  die  Erde,   eins  der  Himmel, 
Und  mit  dem  dritten  füllt  er  an  den  Luftraum. 

Durch  Brennholz,  Gürtel,  Studium1,  —   durch  das  Tapas 

Sättigt  die  Welträume  der  Brahmanschüler. 
1.  Alle   diese   Dinge   sind   für    den  Schüler   nach   einer  Vorschrift   geregelt, 
der  er  sich  unterwerfen  mufs,  und  folglich   Tajjas. 

Vers    5  —  6.      Der    Brahmanschüler,    als    Brahman, 
macht  Tag  und   Nacht. 

5.  Der  Brahmanschüler,  im  Ost  brahmangeboren, 

In  Glut  sich  kleidend,  steigt  empor  durch  Tapas, 
Aus  ihm  ward  Brahmankraft ,   das  höchste  Brahman, 
Die  Götter  all,  und  was  sie  macht  unsterblich. 


280  IV.    Geschichte  des  Brahman,  Anhang. 

6.  Der  Brahmanschüler  zieht,  brennholzerleuchtet, 
Geweiht,  schwarzfellgekleidet ,  langen  Bartes1; 
Zieht  täglich  von  der  Ostsee  zu  der  Nordsee2, 
Verschlingt  die  Welt  und  heifst  sie  wiederkehren. 

1.  Poetische  Schilderung   der  Nacht.     2.   Auch   wir  nennen  ja  so  das  west- 
liche Meer. 

Vers  7 — 9.     Der  Brahmanschüler  als  Welthüter. 

7.  Er  zeugte  Brahman,  Urwasser  und  Weltraum, 
Er  den  Prajäpati,  Parameshthin ,  Viräj; 

Als  Keim  *,  verborgen  in  des  Ew'gen  Schofse, 
Hat  er  zermalmt  als  Indra  die  Dämonen. 

1.  Als  Blitz.  —  Im  folgenden  Verse  erscheinen  Lehrer  und  Schüler,  die  ja 
beide  Träger  des  Brahman  und  Tapas  sind,  als  Schöpfer  und  Erhalter  der  Welt. 

8.  Der  Lehrer  baute  diese  beiden  Welten, 
Die  weiten,  tiefen,  Erde  und  den  Himmel. 

Der  Brahmanschüler  schützt  sie  durch  sein  Tapas, 
In  ihm  sind  einmütig  die  Götter  alle. 

9.  Als  Bettelgabe  hat  die  breite  Erde 

Vormals  erbracht  der  Schüler  und  den  Himmel ; 
Auf  ihnen,   die  er  als  Brennhölzer  ehrte, 
Sind  angesiedelt  alle   diese  Wesen. 

Vers  10 — 16.     Feuer,   Sonne,  Gewitter  und  Regen; 
Gewinnung   des  Lichts. 

10.  Hier  einer,  über  des  Himmels  Rücken  der  andere, 
Sind  zwei  Behälter1  der  Brahmankraft  verborgen; 
Durch  Tapas  hütet  sie  der  Brahmanschüler; 

Nur  weil  er  kennt  das  Brahman,  thut  er  dieses. 

1.  Die  Behälter  des  Opferfeuers  und  des  Sonnenfeuers,  aus  deren  Verbindung 
nach  dem  Folgenden,  wie  es  scheint,  das  Blitzfetier  entspringt. 

11.  Eins  hier,  jenseits  das  andre  von  der  Erde, 

Zwei  Feuer  treffen  sich  zwischen  Erd'  und  Himmel; 
In  ihnen  ruhen  gar  gewalt'ge  Strahlen, 
Durch  Tapas  meistert  sie  der  Brahmanschüler. 

12.  Er  brüllt,   er  donnert,  züngelt  rot  und  weifslich, 
Mit  mächt'gem  Gliede  dringt  er  in  die  Erde, 
Mit  seinem  Strom  benetzt  er  ihren  Rücken . 
Davon  die  vier  Weltweiten  alle  leben. 


Der  Brahmanschüler,  Atharvav.  11,5.  281 

13.    In  Feuer,   Sonne,  Mond,  in  "Wind  und  Wasser 
Legt  er  sein  Brennholz  an,  der  Brahmanschüler, 
Davon  die  Funken  in  der  Wolke    stieben, 
Als  Opferschmalz  Dunst1,  Kegen,  Wasser  abtrieft. 
1.  purisham  statt  purusho ,  mit  Ludwig. 

14.  Tod,  Varuna  war  ihm  Lehrer,  Soma  war  Kräuter  ihm  und  Milch, 
Die  Wolken  seine  Heerhaufen,  durch  die  dies  Licht  er  hat  erbracht. 

15.  Varuna  selbst  als  sein  Lehrer  nährt  ihn  daheim  mit  Butterseim, 

Um  was  man  bittet  bei  Prajäpati, 
Das    reicht    der    Brahmanschüler    dar    als    Freund    aus    seinem 

eignen  Selbst. 

16.  Der  Brahmanschüler  ist  Lehrer,  ja,  ist  Prajäpati  sogar, 

Als  solcher  herrscht  er,  als  Herrscher  ward  Indra  er,  der  waltende. 

Vers  17 — 19.     Kraft  des  brahmacaryam,   Brahman- 

wandels. 

17.  Durch  Brahmanwandel,   durch  Tapas  beschützt  der  Fürst  sein 

Königreich , 
Aus  Brahmanwandel  der  Lehrer  wünscht  einen  Brahmanschüler 

sich. 

18.  Durch  Brahmanwandel  die  Jungfrau  erlangt  den  Jüngling  zum 

Gemahl ; 
Durch   Brahmanwandel    der    Ochse,    das   Pferd1    erkämpft    die 

Nahrung  sich. 
1    Alle    Arbeit    (Karman)   ist   als   solche ,    und   wenn    man    von   dem  Zweck 
absieht,    Tapas.     Daher  die  häufige  Zusammenstellung  von  Brahman,   Tapas, 
Karman. 

19.  Durch  Brahmanwandel,   durch  Tapas  wehrten  die  Götter  ab   den 

Tod, 
Durch  Brahmanwandel  hat  Indra  das  Licht  den  Göttern  zugebracht. 

Vers  20  —  22.     Nochmals    der    Brahmanschüler    als 
Schöpfer. 

20.  Vergangenes   und   was    künftig,    Tag   und  Nacht,  Kräuter   und 

der  Baum, 
Das  Jahr  mitsamt  den  Jahrzeiten  vom  Brahmanschüler  sind  erzeugt. 

21.  Der  Erde  und  der  Luft  Tiere,  wilde  Tiere  und  zahme  auch, 
Die  ohne  Flügel,  mit  Flügeln,  vom  Brahmanschüler  sind  erzeugt. 


282  V.   Geschichte  des  Ätman. 

22.  Alle  Kinder  Präjäpati's  tragen  in  sich  des  Lebens  Hauch, 
Doch  alle  diese  schützt  Brahman,  wie  es  im  Brahmanschüler  wohnt. 

Vers  23 — 24a.     Nochmals  Brahman   als   Sonne. 

23.  Von  Göttern    angetrieben  glänzt  unüb erragt  die  Sonne  dort; 

Aus  ihr  ward  Brahmankraft ,  das  höchste  Brahman, 
Die  Götter  all,  und  was  sie  macht  unsterblich. 

24 a.  Der  Brahmanschüler  trägt  das  Brahman  glanzvoll, 
Ihm   sind   die  Götter  alle  eingewoben. 

Vers  24 b  —  25.     Gebet  (wohl  an  Brahman). 

24 b.  Einhauch,  Aushauch  und  Zwischenhauch  verleihend, 
Rede  und  Geist,  Herz  und  Gebet  und  Einsicht, 

25.  Gieb  Auge  uns  und  Ohr,  gewähre  Ruhm  uns, 
Nahrung  und  Samen,  Blut  und  Leibessegen. 

Vers  26.     Das  Brahman  als  Urprincip  über  den 

Urwassern  schwebend  —  und  zugleich  in   der 

Erscheinung   der  Brahmanschüler   verwirklicht. 

26.  Dies  schuf  der  Brahmanschüler,  über  der  Wasser  Rücken 
Stand  er  und  übte  Tapas  in  dem  Urmeer,  — 

Und  er,  gebadet,    braun  und  gelb  gekleidet,  glänzt  im  Land 

umher. 


V.   Geschichte  des  Ätman  (und  der  verwandten  Begriffe, 
Purusha  und  Präna)  bis  auf  die  Upanishad's. 

Soll  über  das  Rätsel,  als  welches  die  Welt  dem  philoso- 
phierenden Menschengeiste  sich  darstellt,  ein  Aufschlufs  über- 
haupt möglich  sein,  so  wird  derselbe  wesentlich  und  vor  allem 
aus  unserm  eigenen  Innern  geschöpft  werden  müssen.  Denn 
erstlich  ist  der  Mensch  die  oberste  Stufe  der  Natur,  auf  welcher 
dasjenige,  was  im  Unorganischen,  in  der  Pflanze,  im  Tiere  in 
gradueller  Steigerung  erscheint,  seinen  vollkommensten  Aus- 
druck findet;  —  zweitens  aber  ist  unser  eigenes  Sein  der 
einzige  Punkt  der  Welt,  in  welchem  sich  uns  die  Natur  von 
innen  öffnet  und  einen,  wenn  auch  nur  beschränkten,  Blick  in 
ihre  abgründlichen  Tiefen  gestattet. 


Begriff  des  Atman.  9g-> 

Hierauf  beruht  es,  dafs  unter  den  Begriffen,  durch  welche 
das  indische  Denken  über  die  schon  im  Rigveda  erkannte  ewige 
Einheit  einen  nähern  Aufschlufs  zu  gewinnen  sucht,  diejenigen 
am  bedeutsamsten  und  erfolgreichsten  gewesen  sind,  welche 
zum  Naturganzen'  den  Schlüssel  in  der  Anschauung  des  eigenen 
Selbstes  finden,  also  namentlich  die  Auffassung  jenes  ewigen 
Einen  als  der  Purusha  (Mann,  Geist),  der  Präna  (Leben)  und 
vor  allem  andern  als  der  Atman,  d.  h.  als  „das  Selbst";  ja, 
man  kann  sagen,  dafs  für  das  Princip  der  Welt  in  allen  Zeiten, 
Ländern  und  Sprachen  kein  glücklicherer  Ausdruck  gefunden 
worden  ist,  als  die  Bezeichnung  desselben  als  der  Atman,  das 
Selbst,  welche  in  den  Upanishad's  und  weiterhin  ganz  über- 
wiegend   und   völlig  synonym  mit  Brahman  gebraucht  wird. 

Inzwischen  ist  eine  Geschichte  des  Wortes  atman  von 
seinem  ersten  Auftreten  an  bis  zu  den  Upanishad's  hin,  in 
denen  es  neben  brahman  der  gewöhnliche  Ausdruck  für  das 
innerste  Wesen  sowohl  des  Menschen  als  auch  der  gesamten 
Natur  ist,  mit  grofsen  Schwierigkeiten  verknüpft  und  läfst 
sich  in  der  Weise,  wie  wir  die  Geschichte  des  brahman  ge- 
liefert haben,  gar  nicht  gewinnen,  indem  bei  diesem  Worte 
die  Verhältnisse  wesentlich  anders  liegen. 

Oldenberg,  der  sich,  unseres  Wissens,  am  eindringendsten 
mit  dieser  Frage  beschäftigt  hat,  unterscheidet  zwei  parallele 
Strömungen  der  Gedanken,  von  denen  die  eine  das  brahman, 
die  andre  den  atman  zum  Princip  erhob,  und  welche  beide 
innerhalb  ihres  Gebietes  immer  mehr  und  mehr  sich  erweiterten, 
bis  sie  schliefslich  zur  Einheit  der  Brahman-Atman-Lehre,  wie 
sie  in  den  Upanishad's  vorliegt,  verschmolzen.  „Es  hat",  sagt 
er  (Buddha,  l.Aufl.,  S.  30.  31),  „etwas  von  der  ruhig  unaufhalt- 
samen Notwendigkeit  eines  Naturprozesses,  dieses  Vordringen 
oder  dieses  Anschwellen  jener  beiden  Vorstellungen,  des  Atman 
und  des  Brahma,  von  denen  jede  erst  in  ihrem  Kreise 
den  Herr  seh  er  platz  gewinnt  und  dann  von  dem  vorwärts- 
dringenden Gedanken  in  Weltweiten  hinausgetragen  wird  und 
auch  da  eine  immer  wachsende  Macht  bethätigt ....  Der  be- 
stimmte, selbstverständlich  gegebene  und  begrenzte  Inhalt,  den 
einst  das  einfache  Bewufstsein  in  der  Vorstellung  des  Atman 
wie   in  der  des  Brahma  gedacht   hatte,   dehnt  sich  zu  unbe- 


284  V.    Geschichte  des  Atman. 

stimmten  Weiten  aus,  und  damit  schwindet  zugleich  die  Unter- 
schiedenheit  beider  Vorstellungen  immer  mehr  und  mehr .... 
Und  endlich  feilen  die  letzten  Schranken  . . .  Atman  und  Brah- 
man  strömen  zusammen  zu  dem  Einen,  bei  dem  der  suchende 
Geist,  müde  von  dem  Durchirren  einer  Welt  düster  gestalt- 
loser Phantasmen,  seine  Rast  findet."  (Für  die  letzten  Worte 
möchten  wir  die  Verantwortung  nicht  tragen,  und  wir  hofi'en, 
durch  unsere  Darstellung  im  Vorhergehenden  und  Nachfolgen- 
den zu  zeigen,  dafs  der  indische  Genius  weder  so  düster  noch 
so  phantastisch  ist,  wie  er  manchen  bisher  erschien.)  —  Schon 
vor  Jahren  trugen  wir  Bedenken  dieser  Ansicht  Oldenbergs 
beizutreten,  indem  wir  derselben  eine  zweite  Auffassung  als 
ebenso  möglich  zur  Seite  stellten  und  es  unentschieden  liefsen 
(System  des  Vedänta,  S.  50):  „ob  der  Begriff  des  Atman  aus 
dem  das  Brahman  durch  eine  blofse  Verschärfung  des  sub- 
jektiven Momentes,  welches  in  ihm  liegt,  sich  entwickelt  hat, 
oder  ob  wir  vielmehr  zwei  Strömungen  zu  unterscheiden  haben, 
eine  mehr  priesterliche,  welche  das  Brahman,  und  eine  mehr 
philosophische,  welche  den  Atman  zum  Princip  erhob,  bis 
dann  beide,  ihrer  Natur  nach  nahe  verwandt,  in  ein  gemein- 
sames Bette  geleitet  wurden".  —  Fortgesetzte  Beschäftigung 
mit  der  Frage  hat  uns  bestimmt,  mehr  und  mehr  der  erstem 
Ansicht  zuzuneigen,  indem,  wie  wir  jetzt  glauben,  die  letztere, 
von  Oldenberg  aufgestellte,  an  den  Quellen  nicht  durchführbar 
ist.  In  der  Weise  nämlich,  wie  wir  die  Geschichte  des  Brah- 
man geschrieben  haben,  läfst  sich  eine  Geschichte  des  Atman 
nicht  konstruieren.  Vielmehr  ergiebt  sich,  dafs  atman  ur- 
sprünglich gar  kein  philosophischer  Begriff  ist  und  erst  ganz 
allmählich  zu  einem  solchen  wird,  in  dem  Mafse  wie  das 
philosophische  Denken  sich  der  in  ihm  liegenden  Vorteile  be- 
wirfst wird.  So  sehen  wir  das  Wort  atman  als  Bezeichnung 
des  Princips  der  Dinge  zuerst  hie  und  da  gleichsam  blitzartig 
aufleuchten  und  wieder  verschwinden;  es  ist,  als  ob  es  dem 
noch  ungeschulten  Denken  schwer  würde,  die  hohe  Abstraktion, 
zu  welcher  dieser  Begriff  auffordert,  festzuhalten,  bis  erst  ganz 
allmählich  die  Kraft  des  abstrakten  Denkens  so  weit  erstarkt, 
um  sich  mehr  und  mehr  des  Wortes  atman  als  des  treffendsten 
Ausdruckes  für  das,  was  man  von  je  her  suchte,    bewufst  zu 


Das  Wort  ätman.  285 

werden,  worauf  er  dann  (erst  mit  den  Upanishad's)  in  den 
Mittelpunkt  der  indischen  Gedankenwelt  tritt,  von  dem  aus 
alle  andern,  synonym  damit  und  nebenher  gebrauchten  Begriffe, 
Purusha,  Präna  und  selbst  Brahman,  ihr  rechtes  Licht  er- 
halten. 

Um  diese  schwierigen  Verhältnisse  zu  entwickeln,  müssen 
wir  zunächst  nach  der  Etymologie  und  ursprünglichen  Bedeu- 
tung des  Wortes  ätman  fragen. 

1.  Etymologie  und  Bedeutung  des  Wortes  ätman. 

Als  Bedeutungsentwicklung  des  Wortes  ätman  pflegt  ge- 
wöhnlich „Hauch  ■ —  Seele  —  Selbst"  angesetzt  zu  werden, 
sei  es,  dafs  man  ätman  von  an  „atmen"  (P.W.),  oder  at  „gehen" 
(Weber),  oder  av  =  vä  „wehen"  (Curtius,  Grafsmann  u.  a.) 
herleitet  und  mit  griechischem  &x|j.6c,  dÜTjrrjv,  aÜTfJL^,  germa- 
nischem ätum,  äthom,  aedm  vergleicht.  So  verlockend  diese 
Zusammenstellung  ist,  so  steht  ihr  doch  neben  lautlichen 
Schwierigkeiten  das  Bedenken  entgegen,  dafs  ätman  in  der 
Bedeutung  „Hauch",  vom  Winde  gebraucht,  nur  an  vier 
Stellen  des  Kigveda  und  vorwiegend  in  Jüngern  Hymnen  vor- 
kommt und  möglicherweise  nur  eine  sekundäre  durch  „Selbst 
—  Seele  —  Lebenshauch"  vermittelte  Bedeutung  sein  könnte; 
sowie  das  schwerere  Bedenken,  dafs  neben  ätman  im  Riffveda 
das  häufigere  und  anscheinend  ältere,  überall  (auch  1,63,8) 
pronominal  oder  adverbial  gebrauchte  tman  (in  den  Casus- 
formen tmanam,  tmanä,  tmane,  tmani,  tman)  steht.  —  Sollten 
nicht  in  ätman,  wie  vielleicht  auch  in  olutcc,  zwei  pronominale 
Stämme,  a  (in  a-hani)  und  ta  stecken,  und  als  ursprüngliche  Be- 
deutung „dieses  Ich",  das  eigene  Selbst  sich  festhalten  lassen? 
Diese  Bedeutung  wäre  dann  in  verschiedene  auseinanderge- 
gangen, je  nachdem  man  das  Selbst  im  seelischen  oder  (mit 
Homer:  tcoXaocs  5'Ü9^i;j.ouc  4;uX°t?  'A'iSi  Tcpota^sv  vjpoov,  auTou? 
5s  e\(5pta  tsux.£  xuvsaaiv)  im  körperlichen  Teile  des  Menschen 
erblickte,  und  der  Bedeutungsgang  würde  sein: 

Das  Selbst  (dieses  Ich)  als : 
I.  Leib.      II.  Rumpf.      III.  Seele,  Lebenshauch.      IV.  Wesen. 


286  V\    Geschichte  des  Atman. 

Wie  dem  auch  sein  mag,   Thatsache  ist,   dafs  eine  schon 
sehr  früh  auftretende,  möglicherweise  die  älteste,  jedenfalls  aber 
die  hauptsächlichste  Bedeutung  des  Wortes  ätman  „das  Selbst" 
ist,  und  zwar 
„das   Selbst    im    Gegensatze    zu    dem,    was    nicht    das 

Selbst  ist". 
Diese  Grundbedeutung  zieht   sich   durch   alle  gebräuchlichem 
Anwendungen  des  Wortes  ätman  hindurch,  sofern  durch  das- 
selbe bezeichnet  wird: 

I.   die  eigene  Person,   der  eigene  Leib,  im  Gegensatze 
zur  Aufsenwelt; 
IL    der  Rumpf  des  Leibes  im  Gegensatze  zu  den  Aufsen- 
gliedern; 

III.  die  Seele  im  Gegensatze  zum  Leibe; 

IV.  das  Wesen  im  Gegensatze  zu  dem  Nichtwesentlichen. 

Belege  zu  allen  diesen  Bedeutungsvariationen  werden  weiter 
unten  folgen.  Hier  wollen  wir  zunächst  nur  konstatieren, 
dafs  ätman  wesentlich  und  von  Haus  aus  ein  relativer  Be- 
griff ist,  sofern  dabei  immer  etwas  vorschwebt,  was  nicht  der 
Atman  ist,  und  ein  negativer  Begriff,  sofern  der  positive 
Inhalt  nicht  in  ihm,  sondern  in  dem  liegt,  was  ausgeschlossen 
wird.  Solche  relativ-negativen,  oder,  wie  man  auch  sagen 
könnte,  limitierenden  Begriffe  sind  häufig  von  den  Philo- 
sophen und  mit  grofsem  Vorteile  gebraucht  worden,  um  das 
unerkennbare  Princip  der  Dinge  dadurch  zu  kennzeichnen, 
dafs  man  den  ganzen  Inhalt  der  erkannten  Welt  von  ihm 
ausschliefst.  Solcher  Art  ist  schon  die  agyr\  des  Anaximandros 
im  Gegensatze  zu  allem  Dasein,  dem  ein  andres  vorhergeht; 
das  ov  des  Parmenides  im  Gegensatze  zu  der  yhzac  und  dem 
OAs^poc,  welche  die  Sinnenwelt  beherrschen;  das  c'vtci>?  ov  des 
Piaton  im  Gegensatze  zu  dem  Y!/yvc;j.£vov  xcd  (xtcoXXij;j.£vov;  die 
mbstantia  des  Spinoza  im  Gegensatze  zu  den  modi,  aus  denen 
•die  ganze  Welt,  die  körperliche  wie  die  geistige,  besteht; 
endlich  das  Ding  an  sich  Kants  im  Gegensatze  zur  ganzen 
Erscheinungswelt,  welche  nur  die  Dinge  enthält,  wie  sie  für 
uns,  d.  h.  für  unsern,  aus  Raum,  Zeit  und  Kausalität  ge- 
wobenen Intellekt   sind.     Alle   diese  Begriffe:   apy^,  ov,  6'v-rwr 


Das  Wort  ätman.  287 

Sv,  sitbstantia,  Ding  an  sich,  sind  negativ,  d.  h.  sie  sagen 
von  dem  Princip  nur  aus,  was  es  nicht  ist,  nicht  aber,  was  es 
ist;  sie  sind  daher  inhaltsleer,  und  gerade  hierin  liegt  ihr 
Wert  für  die  Metaphysik,  die  es  mit  einem  ewig  Unerkenn- 
baren zu  thun  hat.  Solcher  Art  ist  auch  der  Begriff  Ätman, 
welcher  uns  auffordert,  das  Selbst  der  eigenen  Person,  das 
Selbst  jedes  andern  Dinges,  das  Selbst  der  ganzen  Welt  ins 
Auge  zu  fassen  und  hinwegzuthun  alles,  was  nicht  streng 
genommen  zu  diesem  Selbst  gehört;  es  ist  der  abstrakteste 
und  darum  der  beste  Name,  den  die  Philosophie  je  für  ihr 
eines,  ewiges  Thema  gefunden  hat;  alle  jene  andern  Namen, 
ocpyjl,  Bv,  8vto£  6'v,  substantia ,  Ding  an  sich,  schmecken  noch 
nach  der  Erscheinungswelt,  der  sie  doch  schliefslich  entstammen; 
ätman  allein  trifft  den  Punkt,  an  dem  das  innere,  dunkle, 
nie  erscheinende  Wesen  der  Dinge  sich  uns  öffnet.  —  Es  ist 
kein  Zufall,  dafs  gerade  die  Inder  zu  dieser  abstraktesten  und 
daher  besten  Benennung  des  ewigen  Gegenstandes  aller  Meta- 
physik gelangt  sind;  denn  dem  indischen  Genius  wohnt  ein 
rastloses  Dringen  in  die  Tiefe,  ein  Verlangen  ein,  hinauszu- 
kommen über  alles,  was  noch  als  ein  Aufserliches ,  Un- 
wesentliches erscheint,  wie  sich  dies,  um  nur  ein  Beispiel 
anzuführen,  so  schön  im  zweiten  Teile  der  Taittiriya-Upanishad 
bethätigt.  Dort  wird  vor  uns  gestellt  der  Mensch,  zunächst 
in  seiner  äufserlichen ,  körperlichen  Erscheinung;  als  solcher 
ist  er  aus  Nahrungssaft  bestehend  (annarasamaya  purusha); 
aber  dieser  Körper  ist  nur  eine  Hülle  (koca),  die  uns  das 
innere  Wesen  verdeckt;  ziehen  wir  sie  ab,  so  gelangen 
wir  zum  lebenshauchartigen  Selbst  (pränamaya  ätman);  aber 
auch  dieses  wird  wieder  zur  Hülle,  nach  deren  Abzug  wir 
zum  verstandartigen  Selbst  (manomaya  ätman)  gelangen,  und 
so  von  diesem,  auf  demselben  Wege  immer  tiefer  dringend, 
zum  erkenntnisartigen  Selbst  (vijnänamaya  ätman)  und  von 
ihm  endlich  zum  letzten  Kern,  zum  wonneartigen  Selbst 
(änandamaya  ätman).  Hier  sind  wir  im  Centrum  angelangt, 
und  es  ist  höchst  charakteristisch,  dafs  der  Philosoph  zum 
Schlüsse  eine  Warnung  hinzufügt,  von  hier  nicht  noch  tiefer 
dringen  zu  wollen  und  nicht  auch  dieses  letzte  Innere  der 
Natur  noch  zum  Objekte  der  Erkenntnis  zu  machen:   „denn 


288  V.    Geschichte  des  Atman. 

er  ist  es,  der  Wonne  schaffet;  denn  wenn  einer  in  diesem 
Unsichtbaren,  Unkörperlichen,  Unaussprechlichen,  Unergründ- 
lichen den  Frieden,  den  Standort  findet,  dann  ist  er  zum 
Frieden  eingegangen;  wenn  er  hingegen  in  ihm  noch  einen 
Unterschied,  einen  Zwischenraum  [zwischen  Subjekt  und  Ob- 
jekt] annimmt,  dann  hat  er  Unfrieden;  es  ist  der  Unfriede 
des,  der  sich  weise  dünket". 

Bei  dieser  Beanlagung  des  indischen  Geistes,  in  die  Tiefe 
zu  dringen  und  durch  alles  Schalenartige  hindurch  den  innersten 
Kern  zu  erfassen,  wird  es  begreiflich,  wie  die  indische  Philo- 
sophie, um  dasjenige  auszudrücken,  was  sie  sagen  wollte, 
sich  des  aus  dem  gewöhnlichen  Leben  aufgenommenen,  ja 
schon  zum  pronomen  reflexivum  verblafsten  Wortes  atman 
bemächtigte,  zuerst  schüchtern  und  tastend,  dann  immer 
häufiger  und  zuversichtlicher;  —  es  wird  begreiflich,  wie  in 
den  Händen  der  indischen  Denker  alle  jene  andern  mytho- 
logischen, anthropomorphischen ,  rituellen  Benennungen  des 
höchsten  Wesens  zur  Schale  wurden,  durch  welche  hindurch, 
hier  mehr,  dort  weniger  deutlich,  als  innerster  Kern  der  Atman 
hindurchleuchtet,  bis  das  Denken  so  weit  erstarkt  ist,  im 
Atman  den  reinsten  Ausdruck  für  das  Princip  der  Dinge  zu 
finden  und  alle  jene  andern,  durch  die  Tradition  geheiligten 
Namen,  Prajäpati,  Purusha,  Präna,  ja  selbst  den  am  festesten 
haftenden  Begriff  Brahman  nur  nebenher  zu  gebrauchen. 

Von  Prajäpati  und  Brahman  war  in  diesem  Sinne  schon 
oben  (S.  198.  262—264)  die  Rede.  Es  bleibt  noch  übrig, 
dafs  wir  auf  die  Geschichte  des  Purusha  und  des  Prdna 
einen  Blick  werfen,  um  auch  bei  ihnen  jenes  allmähliche 
Durchschimmern  des  Atman  durch  sie  hindurch  bestätigt  zu 
finden. 

2.   Der  Purusha. 

Schon  mehrfach  sind  wir  bedeutsamen  Fortbildungen  des 
im  Rigv.  10,90  (oben  S.  150 — 158)  gefeierten,  weltschöpfe- 
rischen Purusha  begegnet:  so,  wenn  in  dem  Mythus  Taitt. 
Ar.  1,23  Prajäpati  die  Rolle  des  Weltschöpfers  an  den  Purusha 
abgiebt  (oben  S.  197  fg.),  oder  wenn  Qatap.  Br.  6,1  aus 
dem  Asad   die   sieben   Purusha? s   hervorgehen,    die,    zu    einem 


Der  Purusha.  289 

zusammenfahrend,  Prajäpati  sind  (oben  S.  199  fg.).  Hier  wollen 
wir  nur  noch  das  bedeutendste  Denkmal  aus  der  Geschichte 
des  Purusha  zwischen  Rigveda  und  Upanishad's  vorführen 
aus  Väjasaneyi-Samhitä  31  (parallel  mit  Taitt.  Ar.  3,12 — 13), 
woran  sich  das  folgende,  nahe  verwandte  Stück  Väj.  Samh. 
32,1—12  (parallel  mit  Taitt.  Ar.  10,1,2—4)  anschliefsen  mag. 
Hier  wird  zunächst  das  Rigvedalied  des  Purusha,  d.  h.  des 
Naräyana  (oben  S.  153,  Anm.)  mit  einigen  Abweichungen 
wiederholt;  an  dasselbe  aber  schliefst  sich  sodann  als  „zweiter 
Teil  des  Purushaliedes",  Uttaranäräyanam,  ein  Nachtrag  Väj. 
Samh.  31,17  —  22  (Taitt.  Ar.  3,13),  welcher  nebst  dem  fol- 
genden, Tadeva  genannten  Abschnitte  Väj.  Samh.  32,1  — 12 
(Taitt.  Ar.  10,1,2—4)  eine  wesentliche  Fortbildung  des  Purusha 
enthält,  in  der  wir,  wenn  auch  noch  undeutlich,  in  dem  Be- 
griffe des  Purusha  den  des  Atman  durchblicken  sehen.  — - 
Wir  halten  uns  an  die  Recension  der  Väjasaneyin's  und 
berücksichtigen  die  der  Taittiriyaka's  nur,  wo  sie  ein  beson- 
deres Interesse  bietet. 

Was  zunächst  die  Form  betrifft, ?  so  haben  wir  im  Uttara- 
närayanam  (wie  die  Verschiedenheit  des  Metrums  und  die 
Wiederkehr  einzelner  Verse  und  Versteile  an  andern  Veda- 
stellen  zeigt)  keine  originale  Komposition,  sondern  ein  durch 
die  Einheit  des  rituellen  Zweckes  zusammengehaltenes  Aggregat 
von  umlaufenden  Versen  vor  uns.  Dasselbe  gilt  noch  mehr 
vom  Tadeva,  welches  nach  einem  ihm  eigenen  Anfange  (Väj. 
Samh.  32,1  —  3a)  zu  einzelnen  Versen  des  Prajäpatiliedes 
(Rigv.  10,121,  oben  S.  128  fg.)  und  dann  zum  Venaliede 
(Atharvav.  2,1,  oben  S.  253  fg.)  greift,  um  dieselben  unter 
Einschiebungen  und  merkwürdigen  Modifikationen  zu  re- 
produzieren. 

Für  den  Inhalt  ist  zunächst  charakteristisch,  dafs  der 
Purusha  als  erste  Schöpfung  des  Vicvakarman  (Väj. 
Samh.  31,17),  als  identisch  mit  Prajäpati  (Väj.  Samh.  31,19. 
32,1.  3.  5)  sowie  mit  Brahman  (brahma  32,1;  ruca  brahma 
31,21;  ruca  brdhmi  31,20)  erscheint  und  wie  letzteres  (oben 
S.  250 — 252)  mit  Vorliebe  als  verkörpert  in  der  Sonne  an- 
geschaut und  verehrt  wird.  Hierbei  sehen  wir  schon  einige 
Grundgedanken    der    Upanishad's     ziemlich    deutlich    durch- 

Devssen,   Geschichte  der  Philosophie.    I.  19 


290  "V-    Geschichte  des  Ätman. 

brechen;  so  die  Erlösung  durch  Erkenntnis  des  Purusha  (tan/ 
eva  viditvä  ati  mrityum  eti,  31,18),  die  Identität  seiner  Ver- 
körperung im  Menschen  und  im  Weltall  (31,19.  32,4),  die 
Verschiedenheit  desselben  von  der  ganzen  Erscheinungswelt 
(na  tasya  pratimä  asti  32,3)  und  die  Einswerdung  mit  ihm 
auf  dem  Wege  der  Erkenntnis  (tad  apaqyat,  tad  abhavat,  tad 
äsit  32,12).  Hierbei  kommt  es  zu  dem  Ausspruche,  dafs  der 
die  Welt  durchsuchende  und  so  zu  Gott  gelangende  Weise 
ätmanä  ätmänam  abliisamvivega  „mit  seinem  Selbst  völlig 
aufgeht  in  dem  göttlichen  Selbst"  (32,11),  worin  eine,  wenn 
auch  noch  undeutliche  Überführung  des  Purusha  -Begriffes  in 
den  Atman  in  seiner  doppelten  Bedeutung  als  Einzelseele  und 
Weltseele  gefunden  werden  kann. 

Uttaranäräyanam ,   Vaj.  Samh.  31,17 — 22  (Taut.  Ar.  3,13). 

Vers  17.    Der  Purusha  ist  aus  den  Urwassern  von  Vicva- 
karman  geschaffen  und  von  Tvashtar  gebildet  worden. 

Aus  Wassern  und  der  Erde  Saft  geschaffen, 
Ging  er  hervor  aus   Vicvakarman  anfangs; 
Tvashtar  kommt,  auszubilden  die  Gestalt  ihm; 
So  ist  des  Menschen  erster  Ursprung  Gottheit 1. 
1.    Taitt.  Ar.  3,13,1:  so  ist  das  All  des  Menschen  erster  Ursprung. 

Vers  18.     Der  Purusha   ist  sonnenartig;   nur  wer  ihn   er- 
kennt, bleibt  vor  dem  Wiedersterben  bewahrt. 

Ich  kenne  jenen  Purusha,  den  grofsen, 
Jenseits  der  Dunkelheit  wie  Sonnen  leuchtend; 
Nur  wer  ihn  kennt,   entrinnt  dem  Reich  des  Todes, 
Nicht  giebt  es  einen  andern  Weg  zum   Gehen 1. 

1.  =  Taitt.  Ar.  3,13,1,  v.  2.    Derselbe  Vers  war  schon  vorher,  im  Purushaliede, 
eingeflochten  worden,  Taitt.  Ar.  3,12,  v.  16 — 17,  wo  jedoch  zwischen  der  zweiten 
und  dritten  Zeile  folgende  vier  merkwürdigen  Zeilen  eingeschoben    werden: 
Den,  als  er,  weise  alle  Formen  denkend 
Und  Namen  zuteilend,  noch  müfsig  dasafs, 
Der  Schöpfer  hat  hervorgebracht  als  Erstes, 
Machtvoll ,  vorauswissend  die  vier  Weltpole ,  — 
Nur  wer  ihn  kennt  u.  s.  w. 

Vers  19.     Er,  als  Prajäpati,  ist  das  belebende  Princip  im 
Mutterleibe  und  in  der  o-anzen  Natur. 


Der  Purusha,  Yäj.  Samh.  31,17 — 22.  291 

Prajäpati  wirket  im  Mutterleibe , 

Der  Ungeborne  vielfach  wird  geboren; 

"Wie   er  entsprungen,  sehen  nur  die  Weisen, 

In  ihm  gegründet  sind  die  Wesen  alle  1. 

1.  Die  letzte  Zeile  aus  Rigv.  1,164,13.  Statt  derselben  hat  Taitr.  Ar.  3,13,  v.  3  : 
„die  Frommen  suchen  seiner  Strahlen  Stätte"  (was  der  Komm,  ganz  falsch 
versteht). 

Vers  20  —  21.  Der  Purusha  ist  das  unter  dem  Symbol 
der  Sonne  angeschaute  Brahman  (ruca  brährna  v.  21,  oder, 
des  Metrums  halber,  v.  20  ruca  brähmi).  Dasselbe  war  schon 
vor  den  Göttern  vorhanden  (v.  20)  und  wurde  dann  wiederum 
von  den  Göttern  erzeugt  (v.  21),  die  sich  dabei  freiwillig  dem 
Brahmanen,  als  Träger  des  Brahman,   als  unterthan  erklären. 

20.  Verehrung  ihm,   der  wärmend  strahlt 
Den  Göttern,   der  ihr  Priester  ist, 
Der  vor  ihnen  entstanden  war, 
Dem  leuchtenden,  von  Brahmanart. 

21.  Den  leuchtenden,  von  Brahmanart 
Zeugend,  sprachen   die  Götter  dann: 
„Dem  Priester,  der  dich  also  weifs, 
„Seien  die  Götter  unterthan!" 

Vers  22.     Schlufsgebet  in  Prosa. 

Schönheit  und  Glück  sind  deine  Gattinnen,  Tag  und  Nacht 
deine  Seiten,  die  Gestirne  dein  Leib,  die  Acvin's  dein  Rachen. 
Fördernd  fördere,  jene  [Welt]  für  mich  fördere,  die  Allwelt  für 
mich  fördere! 

Tadeva,  Vaj.  Samh.  32,1—12.     (Parallel  Taitt.  Ar.  10,1,2—4.) 

Vers  1.  Der  Purusha  ist  identisch  mit  den  Göttern  des 
Feuers  und  Windes,  der  Sonne  und  des  Mondes,  mit  dem 
Reinen,  d.  h.  dem  Brahman,  mit  den  Wassern  (dem  Urstofte) 
und  Prajäpati  (der  Urkraft). 

Das  ja  ist  Agni,  Aditya,  das  ist  Väyu  und  Candramas, 
Das  ist  das  Reine,  das  Brahman,   die  Wasser  und  Prajäpati. 

Vers  2 — 3.  Der  Purusha  ist,  wiewohl  selbst  zeitlos  (ein 
Blitz),  doch  der  Ursprung  aller  Zeit;  er  ist  nach  allen 
Richtungen  unendlich,    und  kein  Abbild  vermag,   seine  Herr- 

19* 


292  v".    Geschichte  des  Ätman, 

lichkeit  wiederzugeben.    Hieran  schliefsen  sich  Citate  früherer 
Prajäpati  -Verse. 

2.  Alle  Zeitteile  entsprangen  aus  dem  Blitze*,   dem  Puruslia; 
Nicht  in  der  Höhe,  noch  Breite,  noch  Mitte  ist  umspannbar  er. 

3.  Nicht  ist  ein  Ebenbild  dessen,  der  da  heilst:  grofse  Herrlichkeit. 

Als  goldner  Keim  etc.  (Rigv.  10,121,1,  oben  S.  132). 

Der,  wenn  sie  atmet  etc.   (ib.  v.  3,   S.  132). 

Durch  dessen  Macht  etc.   (ib.  v.  4,   S.  132). 

Der  Odem  giebt  etc.   (ib.  v.  2 ,   S.  132). 

Nicht  schäd'ge  er  uns  etc.  (ib.  v.  9 ,  S.  133).  [S.  19.1). 

Er,    über   dem   nichts   etc.  (Väj.  Samh.  8,36 — 37,   v.  36  oben 

Vers  4 — 7.  Der  Purusha  (Prajäpati)  ist  der  Erstgeborne 
der  Schöpfung  und  wird  in  jedem  Mutterleibe  wieder  neu 
geboren;  er  ist  im  Innern  der  Menschen  (lies:  pratyän  jänäns 
und  vgl.  pratyag  ätman)  und  allgegenwärtig,  ist  das  beseelende 
Princip  in  jedem  einzelnen  und  die  Seele  (shodagi,  das  sech- 
zehnteilige psychische  Organ)  des  Weltalls  (der  drei  Lichter, 
Agni,  Väyu,  Sürya  als  Regenten  von  Erde,  Luftraum  und 
Himmel).  Zum  Schlufs  wieder  Citate  aus  dem  Prajäpatiliede 
Rigv.  10,121. 

4.  Er  ist  der  Gott  in  allen  Weltenräumen, 
Vordem  geboren  und  im  Mutterleibe; 
Er  ward  geboren,  wird  geboren  werden, 
Ist  in   den  Menschen  und  allgegenwärtig. 

5.  Er,  der  entstanden  ist  vor  allem  andern, 
Der  sich  zu  allen  Wesen  umgestaltet, 
Prajäpati,  mit  Kindern  sich  beschenkend, 

Durchdringt  die  drei  Weltlichter  sechzehnteilig  (vgl.  oben  S.191). 

6.  Durch  den  der  Himmelsraum  etc.  (Rigv.  10,121,5,   oben  S.  132). 

7.  Zu  dem  aufschaun  etc.   (ib.  v.  6,  S.  132). 
Als  ehemals  etc.   (ib.  v.  7,  S.  132). 

Der  machtvoll  selbst  etc.  (ib.  v.  8,  S.  132). 

Vers  8 — 12.  Nachdem  die  Identität  der  Einzelseele  und 
der    Weltseele   schon   im  Vorigen    ausgesprochen    war,     blieb 


Der  Blitz  als  Symbol  der  Zeitlosigkeit,  wie  Kena  Up.  29. 


Tadeva,  Väj.  Samh.  32.1— 12.  293 

dem  Dichter  nur  noch  ein  letzter  Schritt  übrig,  um  zu  dem 
Gedanken  zu  gelangen,  den  Anquetil  Duperron  mit  Recht 
seiner  Upanishad -Übersetzung  als  Motto  vorsetzte:  quüquis 
Deum  intelligit,  Dens  fit.  Der  Weise,  indem  er  Gott  erkennt 
(tad  apagyat),  wird  zu  Gott  (tad  abhavat),  weil  er  in  Wahr- 
heit Gott  von  je  her  war  (tad  äsit),  v.  12.  Oder,  v.  11:  die 
Erkenntnis  des  Urgrundes  aller  Dinge  ist  in  Wahrheit  nur 
eine  Erkenntnis  unser  selbst;  wir  gehen  dadurch  mit  unserm 
(physischen)  Selbst  in  unser  (metaphysisches)  Selbst  ein 
(ätmanä  ätmänam  abhisamviveca).  —  Um  diesen  grofsen  Ge- 
danken zum  Ausdrucke  zu  bringen,  greift  der  Dichter  zum 
Vena -Jjiede,  dessen  Entwicklungsgeschichte  von  Rigv.  1,83,5 
durch  Rigv.  10,123  und  10,139  zu  Atharvav.  2,1  und  endlich 
zu  Atharvav.  4,1  wir  oben  verfolgten  (S.  252 — 256).  Unser 
Dichter  schliefst  sich  an  Atharvav.  2,1  an,  bietet  aber  dieses 
Lied  (dessen  Übersetzung,  oben  S.  253  —  254,  man  zum  Fol- 
genden vergleichen  wolle)  in  einer  Umformung,  die  weit  über 
den  ursprünglichen  Gedanken  hinausgeht.  Die  Deutung  des 
Liedes  in  dieser  neuen  Form  ist  nicht  ohne  Schwierigkeit. 
Der  Scholiast  bezieht  v.  8  (vena),  v.  9  (gandharva)  und  wieder- 
um v.  11  — 12  auf  den  Weisen,  hingegen  v.  10  auf  den  Para- 
Tnätman.  was  auch  uns  als  das  Annehmbarste  erscheint,  wiewohl 
der  Wechsel  der  Subjekte  ein  sehr  harter  ist  und  die  Concin- 
nität  des  Liedes  bei  dem  Versuche,  den  neuen  Gedanken  in 
ererbte  Verswendungen  (den  neuen  Most  in  alte  Schläuche)  zu 
kleiden  (sogar  v.  11  wird  durch  Umdeutung  von  Taitt.  Ar.  1,23 
v.  14=10,1,  v.  19,  oben  S.  198,  gewonnen),  ganz  verloren  geht. 
Hiernach  wäre  der  Vena,  Gandharva  nicht  mehr  wie  in 
Atharvav.  2,1  ein  himmlischer  Träger  der  Offenbarung,  sondern 
(ähnlich  wie  in  der  Fortbildung  Atharvav.  4,1,  oben  S.  255 — 256) 
der  irdische  Seher  selbst,  und  der  Gedankengang  würde  fol- 
gender sein:  v.  8:  der  Seher  schaut  die  ewige  Einheit;  v.  9: 
er  soll  sie  uns  verkünden,  obwohl  sie  nur  der  wissen  kann, 
welcher  seines  Vaters  Vater,  d.  h.  identisch  mit  dem  Urwesen 
ist  (womit  der  Gedanke  der  Schlufsverse  vorbereitet  wird); 
v.  10:  hierzu  ist  Hoffnung,  denn  das  allwissende  Urwesen  ist 
ja  für  uns  kein  Fremdes,  sondern  unser  Verwandter,  Vater 
und   Fürsorger;    v.  11:    der   Weise   durchforscht    alle   Welten 


294  V.    Geschichte  des  Atman. 

und  dringt  so  durch  bis  zu  dem  prathamajäs  des  ritam,  d.  h. 
zum  Urprincip,  wie  es  als  Erstling  in  der  Schöpfung  geboren 
wird  und  (als  himmlischer  Hotar,  Rigv.  1,164,37,  oben  S.  116, 
als  prathamotpanna  trayirüpä  väk.  Komm,  zu  Väj.  Samh.  32,11) 
die  Quelle  der  Offenbarung  ist;  in  dieses  dringt  er  ein  und 
findet  sich  mit  ihm  identisch  (ätmana  ätmdnam  abldsamvivega); 
v.  12:  so  löst  er  das  verschlungene  Gewebe  der  Weltordnung 
(vom  Komm,  rituell  gedeutet,  was  uns  jedoch  hier  nicht  an- 
geht) in  seine  Elemente  auf,  erkennt  dieselben  und  sich  mit 
ihnen  als  identisch  (tad  apaqyat,  tad  abhavat,  tad  dslt). 

8.  Der  Vena  schaut  das  Höchste,   das  verborgen, 
In  dem  die  ganze  Welt  ihr  einzig  Nest  hat, 
Einheits-  und  Ausgangspunkt  der  Welt,   den  Wesen 
Allgegenwärtig  ein-  und  angewoben. 

9.  Des  Ew'gen  kundig  künde  der  Ganclharva 
Sein  als  Welt  ausgebreitetes   Geheimnis; 
Drei  Viertel  davon  bleiben  uns  verborgen, 
Wer  diese  weifs,  wäre  des  Vaters  Vater. 

10.  Er,  der  verwandt  uns,  Vater  und  Vorseher , 
Kennt  die  Wohnstätten  und  die  Wesen  alle ; 
Da  wo  die  Götter,  Ewigkeit  erlangend, 

Zum  dritten  Welträume  empor  sich  schwangen. 

11.  Umwandelnd  alle  Wesen,  alle  Welten, 
Umwandelnd  alle  Gegenden  und  Pole, 

Drang  durch  er  zu  der  Ordnung  Erstgebornem , 
Ging  ein  mit  seinem  Selbste  in  das  Selbst  er. 

12.  Mit  eins  umwandelt  hat  er  Erd'  und  Himmel, 
Umwandelt  Welten,  Pole  und  das  Lichtreich; 
Er  löste  auf  der  Weltordnung  Gewebe: 

Er  schaute  es  und  ward  es,  denn  er  war  es. 

3.    Der  Präna. 

Unter  den  Begriffen,  welche  in  den  Upanishad's  zur  Be- 
zeichnung des  höchsten  Wesens  dienen,  findet  sich  neben 
Brahman,  Atman  und  Purusha  nicht  selten  auch  der  des  Präna 
(so  namentlich  in  der  Kaushitaki-Up.),  ein  Wort,  welches  ur- 
sprünglich den  „Odem",  dann  das  durch  denselben  bedingte 


Der  Präna.  295 

„Leben"  bedeutet.  In  der  Mehrzahl  gebraucht,  sind  die 
Präna's  die  einzelnen  „Lebenskräfte"  (z.  B.  Manäs,  Rede, 
Augen,  Ohren,  die  später  sogenannten  Indriya's')  oder  auch 
die  „Lebenshauche"  (später Präna's  genannt;  ihre  einzelnen 
Namen  sind:  präna,  apäna,  vyäna,  itdäna,  samäna).  In  den 
Brähmana's  ist  die  erstere  Bedeutung  von  Präna's  überwiegend, 
während  die  letztere,  später  ausschliefslich  herrschende,  sich 
erst  zu  bilden  beginnt. 

In  der  Entwicklungsgeschichte  der  Bezeichnungen  für 
das  höchste  Wesen  nimmt  Präna  naturgemäfs  seine  Stellung 
zwischen  Purusha  und  Atmun  ein,  da  der  Versuch,  dasjenige, 
was  man  wollte,  immer  schärfer  zu  bezeichnen,  vom  Purusha 
auf  den  Präna^  wie  von  diesem  weiter  auf  den  Atman  führen 
mufste. 

Schon  dem  Purusha-Liede,  Rigv.  10,90  lag  der  Gedanke 
einer  innern  Identität  des  Menschen  und  des  Weltalls  zu 
Grunde,  wenn  dort  aus  Manas,  Auge,  Mund,  Odem,  Nabel, 
Haupt,  Füfsen  und  Ohren  des  Purusha  Mond,  Sonne,  Indra- 
Agni,  Väyu,  Luftraum,  Himmel,  Erde  und  Himmelsgegenden 
werden.  Aber  dies  war  von  vornherein  doch  nur  eine  po- 
etische, bildlich  zu  verstehende  Anschauungsweise,  denn  die 
Weltteile  sind  von  den  Gliedern  des  menschlichen  Leibes  doch 
sehr  verschieden,  und  die  Übereinstimmung  liegt  nicht  in  der 
äufsern  Gestalt,  sondern  darin,  dafs  in  beiden  dasselbe  Lebens- 
princip  herrscht.  Hierzu  kam  die  täglich  zu  machende  Be- 
obachtung, dafs  bei  Menschen  und  Tieren  das  Wesen  nicht  in 
den  Leibesgliedern,  sondern  in  dem  sie  erfüllenden  Leben 
(präna)  liegt,  wie  dies  z.  B.  Qatap.  Br.  3,8,3,15  seinen  dra- 
stischen Ausdruck  findet: 

„Das  Tier  ist  Präna  (Odem,  Leben);  denn  solange  es  durch 
den  Odem  atmet,  ist  es  ein  Tier;  wenn  aber  der  Odem  aus  ihm 
entweicht,  so  liegt  es,  zu  einem  blofsen  Klumpen  (däru,  eigentlich 
Klotz)  geworden,  zwecklos  da." 

Erwägungen  und  Beobachtungen  wie  diese  mochten  dazu 
überleiten,  dafs  man  anfing,  das  Wesen  des  Menschen  und 
analog  damit  das  Wesen  der  Welt  nicht  mehr  in  der  äufsern 
Gliederung  und  Gestaltung,  sondern  in  dem  sie  durchwaltenden 
(anusamcaran)   Leben  zu   sehen,  wie  es  beim  Menschen   an 


296  V.    Geschichte  des  Atman. 

den  Atmungsprozefs  gebunden  erschien.  Aber  nicht  nur  der 
Odem  (präna)  gab  Kunde  von  einer  das  Leben  erhaltenden 
Kraft;  auch  das  bewegliche  Auge,  die  rufende  Stimme,  das 
sie  vernehmende  Ohr,  ja  der  sie  regierende  Verstand  gingen 
auf  ähnliche  Kräfte  zurück,  die  dann  mittels  denominatio  a 
potiori  ebenfalls  pränäh  „Lebenskräfte"  hiefsen,  deren  man 
somit  eine  Anzahl  unterschied.  Ein  zweiter  Schritt  war  dann, 
die  Einheit  zu  erkennen,  in  der  alle  jene  präncfs  wurzeln,  und 
die  man  den  Lebenskräften  als  das  Leben,  den  präna  kv.-' 
s^oxVjv  oder,  wie  die  Upanishad's  sagen,  den  Hauptlebensodem 
(mukhya  präna)  unterlegte.  Ein  dritter  Schritt  war,  dieses 
auf  die  gesamte  Natur  zu  übertragen  und,  nachdem  man  in 
ihr  so  oft  Analogien  für  Auge,  Ohr,  Verstand  u.  s.  w.  ge- 
funden, alle  Kräfte  der  Natur,  indisch  gesprochen  alle  Götter, 
aus  einem  allgemeinen  Princip  des  Lebens,  einem  Präna  ent- 
springen zu  lassen,  welchen  man  dann  gelegentlich  schon  für 
das  eigentliche  Wesen,  das  Selbst,  den  Atman  des  Menschen 
wie  der  ganzen  Natur  erklärte. 

Wir  wollen  diesen  Entwickluno-so-ano;  durch  Stellen  aus 
dem  reichhaltigsten  Brähmanam,  dem  Catapatha  -  brähmanam 
illustrieren  und  zum  Schlüsse  zwei  Hymnen  der  spätem  Sam- 
hitä's  anfügen. 

1)  Von  den  Präna^s  als  den  das  Leben  tragenden  Lebens- 
kräften ist  sehr  häufig  die  Rede.  Ihre  Anzahl  steht  noch  nicht  fest, 
wie  am  besten  daraus  ersichtlich,  dafs  z.  B.  Qatap.  Br.  12,3,2,1, 
um  die  Analogie  des  Menschen  mit  dem  Jahre  durchzuführen, 
hintereinander  willkürlich  zwei,  drei,  fünf,  sechs,  sieben,  zwölf 
und  dreizehn  Prana's  angenommen  werden.  Gewöhnlich  jedoch 
werden  neun  Pnma's,  nämlich  sieben  am  Haupte  und  zwei 
unterhalb  gezählt.  Catap.  Br.  6,4,2,5:  nava  vai  pränäh,  sapta 
girshan,  aväncau  dvau;  —  12,2,2,15:  nava  vai pranäh; —  7,5,2,9: 
sapta  vai  girshan  pränäh;  —  13,1,7,2:  sapta  vai  girshanyah 
pränäli;  —  12,5,2,6:  saptasu  präna- äyataneshn;  —  11,1,6,29: 
panca  wie  purushe  präna,  rite  cakshurbhyäm ;  —  6,1,1,2:  te 
(pränäh)  icldhäh  sapta  nänä  purushän  asrijanta.  —  Diese  neun 
Präna1  s  sind,  wie  sich  aus  der  Kombination  der  Stellen  er- 
giebt,  folgende:  die  sieben  am  Haupte:  manas,  väc,  präna, 
cakshusM,  grotre,  Verstand,  Rede,  Odem,  Augen  und  Ohren: 


Der  Präna.  297 

die  zwei  unterhalb:  das  Zeugungs-  und  das  Entleerungsorgan; 
9,2,2,5:  pancadhä  vihito  va1  ayam  prshan  präno ,  memo,  väk, 
pränag,  cakshuh,  c-rotram-,  diese  sind  auch  10,1,3,4  die  ürddhväh 
pränäh  des  Prajäpati,  aus  denen  er  die  Götter  schafft;  denn 
die  Götter  sind  die  einzelnen  Lebenskräfte  der  Natur,  7,5,1,21: 
präna  deväh.  Etwas  abweichend  ist  12,9,1,9:  shad  vcV  ime  qirshan 
pränäh  (nämlich  cakshusM,  näsike,  qrotre).  Hingegen  einer 
andern  Anschauung  entspringt  es,  wenn  12,7,3,22  zweiPräna's 
(präna  und  udäna),  oder  1,1,3,3.  8,4,3,4  drei  (präna,  udäna, 
vyäna)  gezählt  werden,  wovon  später. 

2)  Alle  diese  präna's  oder  Lebenskräfte  wurzeln  in  einer 
Centralkraft,  welche  der  Präna  schlechthin,  später  auch,  zum 
Unterschiede  von  den  übrigen,  der  Mukhya  präna  („der  Haupt- 
lebensodem", ursprünglich  wrohl  „der  Odem  im  Munde",  vgl. 
äsanya  präna)  heifst,  und  dessen  Rangstreit  mit  den  übrigen 
präna^s  und  Übermacht  über  dieselben  ein  beliebtes  Thema 
der  Upanishad's  bildet.  Dieser  Präna  scheint  nach  Catap. 
Br.  7,2,5,2  in  der  Mitte  des  Leibes  zu  wohnen  (tasmäd  ayam 
ätman  präno  madhyatah),  von  wo  aus  er  alle  Glieder  durch- 
waltet (1,3,2,3:  so  ''yam  pränah  sarväni  angäni  anusamearati). 
Gelegentlich  wird  ein  Versuch  gemacht,  ihn  mit  dem  Manas 
(dem  spätem  Centralorgane  der  Indriyd's)  zu  identifizieren 
(7,5,2,6:  tnano  vai  sarve  pränä,  manasi  hi  sarve  pränäh  prati- 
shthiiäli);  meist  aber  heifst  er  kurzweg  der  Präna,  sei  es,  dafs 
man  ihn  mit  dem  Präna  im  engern  Sinne,  dem  Odem,  und 
sein  kosmisches  Äcpaivalent  mit  dem  Winde  identifiziert  (wie 
in  den  sogleich  mitzuteilenden  Stellen  10,3,3,6.  11,1,6,17),  sei 
es,  dafs  man  ihn  allen  übrigen  Präna's  als  „den  unbestimmten 
Präna"  (4,2,3,1  aniruktah  pränali)  gegenüberstellt.  Dies  ge- 
schieht auch  in  dem  (schon  oben  S.  199  fg.  mitgeteilten) 
wichtigen  Schöpfungsmythus  Catap.  Br.  6,1,1,  wo  die  sieben 
Präna's  als  sieben  Rishi's  aus  dem  Asat  entspringen  und  von 
dem,  Indra  genannten,  „Lebenshauche  in  der  Mitte"  (madhye 
pränah)  entzündet  werden,  worauf  sie  sieben  Purusha's  aus 
sich  hervorgehen  lassen,  welche  sodann  zu  dem  einen  Purusha 
zusammenfahren,  welcher  Prajäpati  ist.  Hierin  liegt  die  Priori- 
tät der  Präna's  vor  dem  Purusha  und  der  Primat  des  Haupt- 
lebensodems   über    die    andern    deutlich    ausgesprochen.      Er 


298  V.    Geschichte  des  Aiman. 

verhält  sich  zu  ihnen  nach  Catap.  Br.  7,5,1,21  wie  Prajäpati  zu 
den  übrigen  Göttern. 

3)  AVie  zu  den  Lebenskräften  im  Menschen  die  centrale 
Lebenskraft,  so  verhält  sich  zu  den  Naturkräften  die  Central- 
kraft  der  Natur,  und  nachdem  man  schon  in  dem  Punishaliede 
die  Lebenskräfte  und  Naturkräfte  gleichgesetzt  hatte,  so  lag  es 
nahe,  einen  centralen  Präna  wie  dem  Menschen,  so  der  Natur 
unterzulegen  und  beide  miteinander  zu  identifizieren.  Dies  ge- 
schieht in  folgender,  hochbedeutsamen  Stelle  (einer  Vorläuferin 
der  Samvarga-vidyä,  Chänd.  Up.  4,3),  in  welcher  der  Präna 
als  Lebensprincip  noch  mit  dem  Odem,  und  dementsprechend 
der  kosmische  Präna  mit  dem  Winde  identisch  erscheint. 

Qatapatha  -  brähmanam  10,3,3,6. 

„Jenes  Feuer  (das  dieses  Weltall  ist),  das  ist  der  Präna  (das 
Leben).  Denn  wenn  der  Mensch  schläft,  so  geht  in  das  Leben  ein 
die  Rede,  in  das  Leben  das  Auge,  in  das  Leben  das  Manas,  in 
das  Leben  das  Ohr.  Und  wenn  er  erwacht,  so  werden  sie  aus 
dem  Leben  wieder  geboren.  So  viel  in  Bezug  auf  das  Selbst.  — 
Nunmehr  in  Bezug  auf  die  Gottheit.  Was  diese  Rede  ist,  das  ist 
Agni,  was  dieses  Auge,  das  Aditya,  was  dieses  Manas,  das  Can- 
dramas,  was  dieses  Ohr,  das  die  Himmelsgegenden;  aber  was  dieses 
Leben  (präna)  ist,  das  ist  jener  Wind,  der  dort  läuternd  weht.  — 
Wenn  nun  das  Feuer  ausgeht,  so  verweht  es  in  den  Wind;  darum 
sagt  man ,  es  ist  in  ihn  verweht ,  denn  in  den  Wind  verweht  es. 
Und  wenn  die  Sonne  untergeht,  so  geht  sie  in  den  Wind  ein,  und 
so  in  den  Wind  der  Mond,  und  in  dem  Winde  sind  die  Himmels- 
gegenden gegründet,  aus  dem  Winde  also  werden  sie  auch  wieder 
geboren.  —  Und  wer  dieses  wissend  aus  dieser  Welt  abscheidet, 
der  gehet  mit  der  Rede  ein  in  das  Feuer,  mit  dem  Auge  in  die 
Sonne,  mit  dem  Manas  in  den  Mond,  mit  dem  Ohre  in  die  Himmels- 
gegenden und  mit  dem  Präna  (Odem,  Leben)  in  den  Wind;  und 
so  ihres  Wesens  geworden,  in  welcher  dieser  Gottheiten  er  will, 
zu  der  geworden  kommt  er  zur  Ruhe."  — 

Folgende  Stelle  zeigt,  wie  man  alsbald  diese  grofse,  neue 
Erkenntnis  mit  der  Mythologie  zu  verknüpfen  wufste. 

Qatapatha  -  brähmanam  11,1/1,17. 

„Er  (Prajäpati),  nachdem  er  geopfei't  hatte,  begehi'te:  «möge 
ich  dieses  Weltall  sein!»     Da  ward  er  zum  Präna,  denn  der  Präna 


Der  Präna,  Qatap.  Br.  4,2,3,1.  299 

ist  dieses  Weltall.  Aber  dieser  Präria  ist  er,  der  dort  läuternd 
weht,  und  der  ist  Prajäpati.  Und  seine  Anschauung  ist,  dafs  man 
eben  weifs:  «so  und  so  wehet  er»;  —  Aber  auch  alles,  was  lebend 
(präni)  ist,  das  ist  Prajäpati;  und  wer  also  diese  Anschauung  des 
Prajäpati  weifs,  der  wird  gewisserniafsen  [sich  selber]  offenbar."  — 

"Wie  in  dieser  Stelle  der  Präna  mit  den  Anschauungen 
der  Vergangenheit  verknüpft  wird,  so  glauben  wir  an  einer 
andern  Stelle  schon  die  Philosophie  der  Zukunft  aus  dem 
Präna -Begriffe  hervorblinken  zu  sehen,  wiewohl  wir  dieser 
Stelle  bei  ihrer  Kürze  und  Verwachsenheit  mit  dem  Ritual 
nicht  allzuviel  Gewicht  beilegen  möchten. 

Qatapatha-'brähmanam  4,2,3,1. 

„Der  JJMliya  [eine  bestimmte  Libation]  fürwahr,  das  ist  sein 
[des  Spendenden]  unbenannter  Lebenshauch  (aniruktah  pränah? 
Känva-Rec),  und  dieser  ist  sein  Atman  (Selbst);  denn  dieser  un- 
benannte Lebenshauch  ist  der  Atman,  und  der  ist  seine  Lebens- 
kraft (äyur).  Darum  auch  schöpft  er  diese  Spende  mittels  der 
Erde,  denn  aus  Erde  ist  das  Gefäfs,  und  mit  dem  Gefäfse  schöpft 
er  sie;  denn  nichtalternd  ist  die  Erde  und  unsterblich,  und  nicht- 
alternd  und  unsterblich  ist  die  Lebenskraft,  darum  schöpft  er  mit 
der  Erde." 

W eitern  Identifikationen  des  Präna  mit  dem  Atman  wer- 
den wir  erst  auf  dem  Boden  der  Upanishad's  begegnen.  Hier 
wollen  wir  zum  Schlüsse  nur  noch  den  schönen  Hymnus 
Atharvav.  11,4  mitteilen,  welcher  den  Präna  als  das  Princip 
alles  Lebens  der  Natur  feiert;  als  Brücke  zu  ihm,  vom  indi- 
viduellen zum  kosmischen  Präna,  mag  vorher  noch  das  Stück 
Taitt.  Ar.  3,14  eine  Stelle  finden,  wiewohl  die  Haltung  des- 
selben nur  teilweise  philosophischer  Art  ist. 

Der  individuelle  Präna. 

Taitt.  Ar.  3,14. 

1.    Als  Träger  wird  getragen  er  und  trägt  selbst, 
Der  eine  Gott,  der  einging  in  die  vielen; 
Wenn  er  es  müde  wird,   die  Last  zu  tragen, 
Wirft  er  sie  ab  und  rüstet  sich  zur  Heimkehr. 


300  V.    Geschichte  des  Attnan. 

2.  Er  heifst  des  Todes  Ursach'   und  des  Lebens, 

Er  heifst  der  Träger,  und   er  heifst  der  Hüter;   — 
Der  ward  getragen,  wird  getragen,  trägt   selbst, 
Der  ihn  erkennt  in  Wahrheit  als  den  Träger. 

3.  Manchen  verläfst  er,  kaum  dafs   er  geboren, 

Und  manchen  nicht,  selbst  wenn  er  alt  geworden; 
Oft  rafft  er  viele  weg  an  einem  Tage, 
Der  nimmermüde  Gott,   stets  anzuflehen. 

4.  Wer  das  versteht,  woher  er  ist  entsprungen, 
Und  wie  er  mit  dem  Brahman  hängt  zusammen, 

Den  macht  er  froh,   selbst  wenn  er  alt  und  krank  ist, 
Den  wird  er  nicht  schon  vor  der  Zeit  verlassen. 

Vers  5  —  6.  Übergang  zu  dem  kosmischen  Präna,  der  von 
den  Urwassern,  wie  ein  Kalb  von  den  Kühen,  gepflegt  wird. 
Er  ist  gleichsam  das  Opfer,  der  Soma  (tvam  v  vd  iva  asi 
somah),  von  dem  die  Götter  alle  leben. 

5.  Zu  dir  hin  eilen  die  Gewässer  alle, 

Als  Kalb   dich  wissend,  Milchtrank  hell  ausströmend; 
Du   zündest  an  Agni,   des  Opfers  Fährmann, 
Du  bist  als  Wind  der  Träger  der  Geschöpfe. 

6.  Du  bist  das  Opfer,  bist  der  Soma  gleichsam, 
Die  Götter  alle  folgen  deinem  Rufe, 

Du  bist  der  eine  und  durchdringst  die  vielen, 
Verehrung  dir,   sei  gern  mir  zu  erhören. 

Vers  7 — 8.  Gebet  an  Präna  und  Apäna  um  Vernichtung 
der  Feinde. 

7.  Verehrung  sei  euch,  höret  auf  mein  Kufen, 
Einhauch  und  Aushauch,   die   ihr  streicht  so   eilig, 
Ich  rufe  betend  euch,   schnell  herzukommen; 
Den,   der  mich  hafst,  verläfst,  ihr  ewig  jungen. 

8.  Verläfst  ihn  einmütig,   Einhauch  und  Aushauch, 
Vereint  euch  nicht  mit  seinem  Lebensodem; 
Zustimmend  meiner  Bitte  übergebt  ihn 

Dem  Tod,   o  Götter,   den  ich  hiermit  töte. 


Der  Präna,  Atharvav.  11,4.  301 

Vers  9 — 10.  Schlufsvers,  zu  dem  Anfangsgedanken  zurück- 
kehrend, und  Nachtrag.  Das  Nichtseiende  soll  nach  dem 
Kommentator  das  Avyaktam.  das  Seiende  der  Akäqa  sein,  aus 
dem  Väyu  hervorgeht.  Die  neun  Götter  sind  natürlich  die  oben 
S.  296  besprochenen  neun  Lebenskräfte. 

9.    Nichtsein  gebar  das  Sein;  aus  dem  entsprang  er. 
Wen  er  erzeugt,   der  ist  auch  sein  Behüter. 
Wenn  er  es  müde  wird,  die  Last  zu  tragen, 
Wirft  er  sie  ab  und  schickt  sich  an  zur  Heimkehr. 

10.    Damals  warst  du  zur  grofsen  Lust, 
0  Präna,  dem  Prajäpati, 
Als  du,  der  Lust  zu  schaffen  viel, 
Nenn  Götter  hast  hervorgebracht. 

Der  kosmische  Präna. 

Atharvaveda  11,4. 

Weit  hinaus  über  das  eben  mitgeteilte  Stück  geht  der 
Hymnus  Atharvav.  11,4,  indem  er  den  Präna  1)  als  Urprincip 
und  Erstgebornen  der  Schöpfung,  2)  als  belebendes  Princip 
in  der  ganzen  Natur,  3)  als  das  Beseelende  im  Menschen 
feiert. 

1)  Der  Präna  ist,  nach  v.  22  (der  allerdings  aus  Athar- 
vav. 10,8,7  herübergenommen  sein  könnte),  das  Urprincip, 
dessen  eine  Hälfte  im  Verborgnen  bleibt,  während  er  mit  der 
andern  Hälfte  die  ganze  Welt  hervorgebracht  hat  und  die 
Umdrehung  der  Sterne  (der  sieben  Planeten  und  des  Fixstern- 
himmels mit  seinen  tausend  unversiegbaren  Lichtquellen)  ver- 
anlafst,  v.  22.  Zugleich  aber  ist  der  Präna  auch  (wie  Prajäpati 
Rigv.  10,121)  der  Erstgeborne  der  Schöpfung  (bhüta  v.  1, 
apäm  garbha  v.  26).  Als  solcher  steht  er  v.  21  als  Gans  in 
den  Urwassern ;  wollte  er  aus  denselben  auch  nur  einen  seiner 
beiden  Füfse  (vielleicht  präna  und  apänd)  herausziehen,  so 
würde  es  kein  Heute  und  kein  Morgen  mehr  geben,  Nacht, 
Tag  und  Morgenröte  würden  für  immer  vergehen  (vgl.  Chänd. 
Up.  5,1,12).  Wie  der  Iiiranyagarbha  Rigv.  10,121,  ist  hier  der 
Präna  der  Träger  der  ganzen  Welt  (v.  1.  15,   anadvän  v.  13, 


302  V.   Geschichte  des  Ätman. 

oben  S.  231  fg.)  und  ihr  Beherrscher  (v.  1.  10);  er  ist  Ver- 
gangenheit, Gegenwart  und  Zukunft  (v.  15.  20),  ist  diese  ganze 
Welt  (sarvam  idam,  ungrammatisch  sarvasmai  te  idam  namah 
v.  8).  Die  Götter  verehren  ihn  v.  11;  ja,  er  ist  selbst  Virdj, 
Deshtri  (Personifikation  der  göttlichen  Unterweisung),  Svrya, 
Candramas,  Prajäpati  (v.  12),  Mätarigvan,  Väta  (v.  15)  und 
vielleicht  Purusha  (v.  14). 

2)  Weiter  ist  der  Präna  das  belebende  Princip  der 
Natur;  als  solcher  erquickt  er  durch  Donner,  Blitz  und 
Regen  die  Pflanzenwelt  und  Tierwelt,  wie  v.  2  —  6.  16  — 17 
eingehend  geschildert  wird.  Seine  beiden  Seiten,  Präna  und 
Apäna  werden  symbolisch  den  beiden  Hauptnahrungsmitteln, 
Reis  und  Gerste,  gleichgesetzt,  v.  13.  Er  ist  der  Vater  der 
Geschöpfe  (v.  10),  der  in  sie  als  Kinder  mit  seinen  helfenden 
Kräften  eingeht  (v.  20). 

3)  Endlich  ist  der  Präna  auch  das  Beseelende  im  Menschen, 
•den  er  als  Purasha  im  Mutterleibe  bildet,  v.  20,  und  dessen 
Geburt  er  sodann  veranlafst,  v.  14.  20.  Als  Lebensprincip 
ist  er  unermüdlich  (v.  24),  der  auch  im  Schlafenden  nicht  liegt 
sondern  aufrecht  steht  und  wacht  (v.  25,  vgl.  Kätk.  Up.  5,8). 
Er  kommt  und  geht,  er  steht  und  sitzt  in  dem  Menschen  und 
ist  in  allen  diesen  Lagen  zu  verehren  (v.  7 — 8).  Er  hat  eine 
freundliche  Gestalt  als  die  Heilkraft  der  Natur  (v.  9),  und  er 
hinwiederum  ist  Krankheit  und  Tod  (v.  11),  wenn  er  mit 
schnellendem  Bogen  naht  (v.  23).  Er  versetzt  den  Wahrheit- 
redenden in  die  höchste  Welt  (v.  11),  und  das  Wissen  des 
Präna  erhebt  über  alle  Wesen  (v.  18 — 19).  Dafs  er  der 
Atman  im  Menschen  ist,  wird  nirgendwo  gesagt  und  vielleicht 
nur  in  den  Worten  na  mad  anyo  bhavishyasi  v.  26  dunkel  an- 
gedeutet. 

1.  Verehrung  dein  Präna!  in  dessen  Macht  die  ganze  Welt, 
Der  entstand  als  des  Weltalls  Herr,  in  dem  alles  gegründet  ist. 

Vers  2  —  6.     Der  Präna  in  der  Natur. 

2.  Verehrung  sei  dir,  o  Präna,  wenn  du  als  Donner  dröhnend  brüllst, 
Verehrung,  Präna,  als  Blitz   dir,   Verehrung  dir  als  regnendem. 


Der  Präna,  Atharvav.  11,4.  303 

3.  Wenn  du  als  Donner,   o  Präna,   über  die  Pflanzen  tosest  hin, 
Befruchtet  dann,  keimaufnehmend,  werden  vielfach  geboren  sie. 

4.  Wenn  du  zur  Zeit  der  Empfängnis  über  die  Pflanzen  tosest  hin, 
Dann  schauert  wonnevoll  alles,  was  auf  der  Erde  Boden  lebt. 

5.  Und  wenn  der  Präna  ausschüttet  den  Regen  auf  der  Erde  -weit, 
Dann  fühlt  Wonne  die  Tierwelt  auch,   dann  wird  uns  Überflnfs 

zu  teil. 

6.  Von  Regen  überströmt,  rufen  dem  Präna  dann  die  Pflanzen  zu: 
Du  schaffest,   dafs  wir  lang  leben,   du  füllest  alle  uns  mit  Duft. 

Vers  7  —  9.     Der  Präna  unter  den  Menschen. 

7.  Verehrung  dir,  wenn  du  herkommst,  Verehrung  auch,  wenn  du 

entweichst , 
Verehrung,  wenn  du  stehst  aufrecht,  und  wenn  du  sitzst,  Ver- 
ehrung dir! 

8.  Verehrung,  wenn  du  einatmest  und  ausatmest,   o  Präna,   dir, 
Verehrung,  wenn  du  abwendest  und  wenn  du  uns  zuwendest  dich, 

Dir,   der  du  dieses  Weltall  bist! 

9.  Was  deine  Huldgestalt,  Präna,  und  was  die  noch  huldvollere, 
Und  was  an  dir  die  Heilkraft  ist,  von  der  verleih  zum  Leben  uns! 

Vers  10  —  15.     Macht  des  Präna. 

10.  Der  Präna  hüllt  ein  die  Wesen  wie  ein  Vater  den  lieben  Sohn, 
Der  Präna  ist  des  Weltalls  Herr,  des,  das  atmet,  und  des,  das  nicht. 

11.  Präna  ist  Tod,  Präna  Krankheit,  ihn  verehren  die  Götter  selbst; 
Den  Wahrheitsfreund  erhob  Präna  empor  zur  höchsten  Himmels- 
welt. 

12.  Der  Präna  ist  Viräj,   Deshtri,   er,  der  Präna,  den  alles  ehrt, 
Er  ist  Sürya  und  Candramas,    ihn   auch  nennt  man  Prajäpati. 

13.  Einhauch  ist  Reis,    Aushauch  Gerste,    Präna  auch  jener  Ochse 

(S.  232)  ist; 
Denn  in  der  Gerste  wohnt  Präna,  Apäna  wird  der  Reis  genannt. 

14.  Einatmend  ist  und  ausatmend  im  Mutterleib  der  Purusha, 
Wenn  du,   o  Präna,  ihn  antreibst,  wird  aufs  neue  geboren  er. 


304  V.    Geschichte  des  Atman. 

15.  Der  Präna  keifst  Mätarigvan,   der  Plana  Väta  wird  genannt, 
Er  ist  Vergangenheit,  Zukunft,  in  ihm  alles  gegründet  ist. 

Vers  16  — 17.     Nochmals  Präna  und  die  Pflanzen. 

16.  Kräuter,  heilig  dem  Atharvan,  dem  Angiras  und  Göttern  auch 
Und  für  Menschen  geborene,   entstehn,  wenn  Präna  sie  belebt. 

17.  Denn  wenn  der  Präna  avisschüttet  den  Regen  auf  der  Erde  weit, 
Ja,   dann  schiefsen  empor  Kräuter  und  Gewächse  von  aller  Art. 

Vers  18  — 19.     Lohn  des,   der  den  Präna   weifs 
und    von   ihm    hört. 

18.  Wer  dieses  von  dir  weifs,  Präna,  und  worin  du  gegründet  bist, 
Dem  bringen  alle  dar  Spenden  dort  in  der  höchsten  Himmelswelt. 

19.  Und  wie,   o  Präna,  dir  bringen  Spenden  alle  Geschöpfe  hier, 
Lafs  sie  spenden  auch  dem,  der  dich,  gerngehörten,  verkünden 

hört. 

Vers  20 — 22.     Drei  nachträgliche  Verse, 
verschiedenen  Metrums. 

20.  Als  Keim  im  Leibe  weilt  er  unter  Göttern, 
Geformt,  gebildet,  wird  aufs  neu  geboren  er; 
Er,   der  da  war,  was  ist  und  was  da  sein  wird, 
Der  Vater,  hülfreich,  ging  in  seinen  Sohn  ein. 

21.  Nicht  einen  Fufs  darf  herausziehn  der  Wandervogel  aus  der  Flut, 
Denn  zöge  diesen  er  heraus,  so  war'  nicht  heut  nicht  morgen 

mehr , 
Es  gäbe  nicht  mehr  Nacht  und  Tag,  nie  mehr  erschiene  Morgenrot. 

22.  Acht  Räder  wälzen  sich  in  einem  Umkreis, 
Auf  östlich,  unter  westlich,  tausendfältig; 
Mit  einer  Hälfte  zeugte  er  das  Weltall,   — 
Kein  Schimmer  ist  von  seiner  andern  Hälfte. 

Vers  23  —  26.     Schlufs gebet  an  Präna. 

23.  Der  du  Herr  hier  über  alles,  was  entsteht  und  sich  reget,  bist, 
Der  auf  andre  du  den  Bogen  abschnellst,  Präna,  Verehrung  dir! 

24.  Der  du  Herr  hier  über  jedes,  was  entsteht  und  sich  reget,  bist, 
Unermüdlich  und  treu  bleibend  durch  Gebet,  Präna,  steh'  mir  bei. 


Ucchishta  und  Skamblia.  305 

25.  Aufrecht,  in  dem  der  schläft,  wachend,  steht  er,  nimmer  liegt 

nieder  er, 
Dafs  er  in  dem,  der  schläft,  schliefe,  das  hat  keiner  noch  je  gehört. 

26.  Präna,   sei  mir  nicht  abwendig,  nicht  sei  ein  andrer  du  als  ich, 
Zum  Leben,  als    der  Flut  Spröfsling,   o  Präna,  bind'  ich   dich 

in  mir! 

4.   Suchen  nach  einer  noch  schärfern  Fassung  des  Princips: 
Ucchishta  und  Skambha  als  Anzeichen  desselben. 

Wir  konnten,  von  Prajäpati  ausgehend,  durch  die  Begriffe 
des  Brahman,  Purusha,  Präna  hindurch  schrittweise  verfolgen, 
wie  das  Denken  der  Inder  mehr  und  mehr  eine  subjektive 
Wendung  nahm,  um  das  Princip  der  Dinge  da  zu  suchen,  wo 
es  allein,  wenn  überhaupt,  uns  unmittelbar  bewufst  werden 
kann,  nämlich  im  eigenen  Selbst.  Aber  alle  jene  Begriffe,  so 
treffend  die  Richtung  war,  die  sie  einschlugen,  boten  doch 
keine  völlige  Befriedigung.  Denn  sie  alle  blieben  immer  noch 
bei  der  Aufsenseite  der  Sache  stehen,  und  man  fühlte,  dafs 
man  tiefer  zu  gehen,  dafs  man  sie  alle  als  Schale  zu  beseitigen 
habe,  um  zu  dem,  was  man  eigentlich  suchte,  zum  letzten  und 
innersten  Selbst  des  eigenen  Ichs  sowohl  wie  der  Aufsenwelt 
zu  gelangen.  Ehe  wir  zeigen,  wie  man  im  Begriffe  des  Atman 
dieses  erstrebte  Ziel  und  damit  den  Standpunkt  der  Upani- 
shaci's  erreichte,  haben  wir  noch  zweier  Denkmäler  zu  ge- 
denken, in  denen  jene  Unbefriedigtheit,  jenes  Streben,  alle 
Schalen  abzulösen  und  zu  dem  Grund  aller  Gründe  durchzu- 
dringen, einen  ganz  merkwürdigen  Ausdruck  fand.  Es  sind 
dies:  1)  Atharvav.  11,7  der  Hymnus  auf  den  Ucchishta,  d.  h. 
den,  welcher  übrig  bleibt,  wenn  man  alles  abzieht,  was  ab- 
ziehbar ist,  und  2)  Atharvav.  10,7 — 8  die  beiden  Hymnen  auf 
den  Skambha,  die  Stütze,  nach  welcher  zu  suchen  man  auch 
dann  noch  fortfuhr,  als  man,  wie  der  Dichter  dieser  Hymnen, 
die  Erkenntnis  des  Brahman  als  Princips  der  Dinge  bereits 
besafs. 

1)    Der   Ucchishta.  Atharvav.  11,7. 

Dieser  seltsame,  nicht  ohne  Absicht  rätselhafte  Hymnus 
betrachtet    die    ganze   Welt   der  Namen    und   Gestalten,    die 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.   I.  &J 


306  "V.    Geschichte  des  Ätman. 

Gesamtheit  alles  dessen,  was  im  Himmel  und  auf  Erden 
vorhanden  ist,  als  hervorgehend  aus  und  beruhend  auf  dem 
Ucchishta,  „dem  Übrigen"  oder  „dem  Reste",  worunter  man 
bisher,  soweit  wir  wissen,  allgemein  „den  Opferrest"  verstanden 
hat.  Aber  Ucchishta  bedeutet  zunächst  nur  den  Rest  im  all- 
gemeinen; dafs  darunter  der  Rest  des  Opfers  verstanden 
werden  solle,  müfste  doch  aus  dem  Hymnus  selbst  erst  er- 
wiesen werden,  der  jedoch  hierzu  nicht  die  mindeste  Handhabe 
bietet.  Vielmehr  werden,  neben  allen  andern  Dingen,  auch 
alle  möglichen  Opfer  mit  ihren  Teilen  und  Vorgängen  aus 
dem  Ucchishta  abgeleitet.  Dafs  überdies  das  Wort  an  den 
einzigen  Stellen,  wo  das  Genus  bestimmbar  ist  (v.  15.  16), 
nicht  Neutrum  sondern  Maskulinum  ist,  ist  eine  weitere 
Gegeninstanz,  wiewohl  darauf  kein  grofses  Gewicht  zu  legen 
ist,  da  der  Ucchishta  hier  als  Vater  des  Weltalls  nur  vorüber- 
gehend personifiziert  sein  könnte.  Zwar  kann  man  sich,  zur 
Stütze  jener  Ansicht,  auf  die  S.  238  erwähnten  Stellen  des 
Atharvaveda  berufen,  in  denen,  im  Geiste  der  Brähmana- 
Theologie,  das  Opfer  oder  einzelne  Teile  und  Geräte  desselben 
über  alles  erhoben  und  als  Princip  der  Dinge  gepriesen  werden. 
Aber  wenn  dort  der  Opfernde  sein  heiliges  Gras  oder  seine 
Löffel  in  indischer  Weise  überschwenglich  feiert,  oder  wenn 
Atharvav.  11,3,21  von  einem  Reisbrei  geredet  wird,  der  so 
heilig  ist,  dafs  sogar  aus  seinem  Reste  (ucchishta))})  noch 
sechsundachtzig  Götter  werden,  so  ist  das  etwas  ganz  andres, 
als  wenn  hier  ein  Dichter  in  einem  eigenen,  längern  Liede 
zeigt,  wie  alle  Dinge  und  mit  ihnen  das  ganze  Opferwesen 
aus  einem  absichtlich  ohne  alle  Bestimmung  gelassenen  Uc- 
chishta entspringen.  Und  wie  sollte  dieser  Ucchishta  nicht 
ohne  Bestimmungen  sein,  da  der  Dichter  gleich  im  ersten 
Verse  „Name  und  Gestalt",  d.  h.  die  ganze  Welt  der  Formen 
und  Bestimmungen,  im  Ucchishta  gegründet  sein  läfst.  Ähnlich 
daher,  wie  schon  Rigv.  1,164,4  alles  Knochenhafte  (gestaltete 
Sein)  von  einem  Knochenlosen  (Gestaltlosen)  getragen  wird 
(oben  S.  109),  beruhen  nach  unserm  Dichter  alle  Namen  und 
Formen  der  Welt  auf  dem  ucchishta,  d.  h.  dem  was  übrig 
bleibt,  wenn  wir  alle  Formen  der  Erscheinungswelt  in  Abzug 
bringen.      Der   Beoriff  des   ucchishta   ist    sonach    in   ähnlicher 


Der  Ucchishta-,  Atharvav.  11,7.  307 

Weise  negativ  und  zugleich  relativ,  wie  (oben  S.  286)  der 
des  Atman  und  diesem  auf  das  nächste  verwandt.  Es  ist 
als  wenn  der  Dichter,  von  der  richtigen  Erkenntnis  durch- 
drungen, dal's  das  Princip  der  Welt  keiner  seiner  Erscheinungen 
ähnlich  sehen  könne,  nach  einem  treffenden  Ausdrucke  dieser 
Erkenntnis  ringt,  ein  Ringen,  aus  welchem  bald  darauf  die 
Bezeichnung  des  Princips  als  Atman  hervorgehen  sollte.  Bei 
der  Bezeichnung  ucchishta  mag  dann  die  Bedeutung  „Opfer- 
rest" insofern  mitgewirkt  haben,  als  z.  B.  nach  Rigv.  10,90 
die  Welt  aus  einer  Opferung  des  Purusha  hervorgegangen 
ist,  wobei  jedoch  drei  Viertel  des  Purusha  nicht  in  die 
Wesen  eingehen,  sondern  unsterblich  im  Himmel  bleiben 
(Rigv.  10,90,3 — 4),  somit  allerdings  als  das  tccchishtam,  der 
nicht  geopferte  „Rest"  bei  diesem  grofsen  Weltopfer  ange- 
sehen werden  konnten.  Doch  enthält  der  Hymnus  keine 
Andeutung  hierauf,  sondern  nur  die  Aufforderung,  unsere 
Aufmerksamkeit  auf  das  zu  richten,  welches  übrig  bleibt, 
wenn  wir  alle  Welten,  alle  Wesen,  alle  Opfer  u.  s.  w.  hinweg- 
denken. Zu  dem,  was  wir  als  blofse  Erscheinung  und  Schale  zu 
beseitigen  haben,  gehört  nach  v.  4  auch  „das  Brahman  nebst 
den  zehn  Weltschöpfern",  worunter  in  diesem  Zusammenhange 
wohl  nur  das  Brahman  als  höchstes  schöpferisches  Princip 
(oben  S.  259  fg.)  verstanden  werden  kann,  über  welches 
hinaus  somit  unser  Dichter  zu  einer  tiefern  Fassung  der 
Sache  drängt,  ohne  doch  schon  im  Atman  den  treffendsten 
Ausdruck  dafür  erreichen  zu  können.  Wie  nahe  aber  unser 
Dichter  demselben  ist,  geht  besonders  daraus  hervor,  dafs 
mit  allem  andern  aus  dem  ucchishta  auch  das  Innere  des 
Menschen  hergeleitet  wird,  welches  kurz  und  rätselhaft  dreimal 
(v.  5.  12.  14)  als  „das  in  mir"  (tan  mäyi),  einmal  (v.  3)  als 
„der  Glanz  in  mir"  (cri'r  mäyi)  bezeichnet  wird.  Die 
Wesensverwandtschaft  des  nach  Abzug  aller  Namen  und 
Gestalten  „Übrigen"  mit  „dem  in  mir"  und  die  Un- 
bestimmtheit, weil  Unbestimmbarkeit,  beider  sind  Gedanken, 
durch  die  sich  unser  Hymnus  als  ein  ziemlich  unmittelbarer 
Vorläufer  der  Atman-Liehve  der  Upanishad's  bekundet.  —  Die 
Übersetzung  kann,  bei  so  manchen  rätselhaften  Ausdrücken 
(wie  vra  dra  v.  3  u.  s.  w.)    und   bei   der  Notwendigkeit,  viele 

20* 


308  V.    Geschichte  des  Ätman. 

specielle  Termini  des  Rituals  im  engen  Rahmen  des  Metrums 
wiederzugeben,  nur  als  ein  Versuch  gelten,  von  dem  Inhalte 
eine  ungefähre  Vorstellung  zu  geben. 

1.  Im  Rest  ist  Name  und  Gestalt,  im  Rest  die  Welt  enthalten  ist, 
Im  Rest  ist  Indra,  ist  Agni,  vom  Rest  umschlossen  wird  das  All. 

2.  Im  Rest  sind  Himmel  und  Erde  nebst  allem,  was  geworden  ist; 
Im  Rest  die  Wasser  und  Meere,  der  Mond  und  Wind  beschlossen 

sind. 

3.  Beide,  wer  ist  und  wer  nicht  ist,  im  Rest,  Tod,  Kraft,  Prajäpati, 
Im  Rest  wurzeln  aller  Welten  Häuf  und  Lauf,  —  auch  der  Glanz 

in  mir. 

4.  Wer  fest,  unfest,  steht  uud  nicht  steht,  Brahman  und  die  Welt- 

schöpfer zehn, 
Allwärts  wie  an  der  Radnabe  am  Rest  stecken  die  Götter  fest. 

5.  Ric,  Saman,  Yajus  im  Rest  sind,  Udgitha,  Preisgesang  und  Preis, 
Im  Rest  der  Hin-Ruf  und  Ton  sind,  Gesangs  Brausen,  —  und 

das  in  mir. 

6.  Indra's  und  Agni's,  Soma's  Preis,  Nennverse,  Hochamtsliturgie, 
Des  Opfers  Glieder  im  Rest  sind,  wie  der  Keim  ist  im  Mutterleib. 

7.  Königsweihe  und  Krafttrinkung ,    Feuerpreisung  und  Opferfest, 
Im  Rest  sind  Preis  und  Rofsopfer,  herzerfreuend  auf  grüner  Streu. 

8.  Feueranlegung,  Einweihung,  Wahrwunschopfer  und  Zauberlied, 
Aussetzende,  fortlaufende  Opfer  im  Rest  enthalten  sind. 

9.  Das  Feueropfer,  der  Glaube,  Gelübd',  Askese,  Vashat-Ruf, 
Opferlohn,  Werk  und  Vergeltung  im  Rest  alle  beschlossen   sind. 

10.  Einnachtfeier,  Zweinachtfeier,  Gleichkauf-,  Vorkauf-Fest,  Uktha- 

Gufs 
Sind  eingewebt  dem  Rest  alle,   Opferfeinheiten,  wer  sie  kennt. 

11.  Viernachtopfer,    Fünfnachtopfer,    Sechsnachtopfer    mitsamt    den 

zwein , 
Sechzehnpreis ,  Siebennachtopfer , 
Aus  dem  Rest  all  sind  entstanden,  in  ihm  befafst,  dem  ewigen. 

12.  Einfallender  Gesang,   Schlufsvers,  Siegopfer,  Allsiegopferung, 
Tag-  und  Nacht-Opfer  im  Rest  sind,  Zwölftagsopfer,  —  und  das 

in  mir. 


Der   UcchisJita,  Atharvav.  11,7.  309 

13.  Frohsinn,  Gewogenheit,  Friede,  Labung,  Kraft,  Macht,  Unsterb- 

liches 
Zusammen  all  im  Rest  laufen,  wo  Liebe  sich  an  Liebe  labt. 

14.  Die  neun  Erden,   die  Weltmeere,  auch  die  Himmel  im  Rest  be- 

ruhn ,' 
Im  Rest  die  Sonne  strahlt  niedei*,  Tag'  und  Nächte,  —  und  das 

in  mir. 

15.  Anrufungsfest  und  Mittelfest  und  Opfer,   deren  Dienst  geheim, 
Sie  alle  trägt  des  Alls  Träger,   der  Rest,  des  Vaters  Vater,   er. 

16.  Ja,  Vaters  Vater  ist  der  Rest,  des  Lebens  kinderreicher  Ahn, 
Er  thront  als  Herr  des  Alls  kraftvoll,   als  höchster  Gipfel  dieser 

Welt. 

17.  Recht,  Wahrheit,  Büfsertum,   Herrschaft,  Anstrengung,   Pflicht- 

erfüllung, Werk, 
Im  Rest  Vergangenheit,  Zukunft,  Heldenmut,  Schönheit,  Kraft  in 

Kraft. 

18.  Absicht,    Gedeihen,    Kraftfülle,  Macht,  Reich,  die  sechs  Welt- 

richtungen , 
Des  Jahres  Kreis  im  Rest  wurzelt,  Gufs,  Aufruf,  Opfer-Speis'  und 

-Trank. 

19.  Vierpriesteropfer,  Gunstopfer,  Viermonatsopfer,  Laderuf, 

Im  Rest  sind  Opfer  und  Opfrer,  Tieropfer  und  wes  Teil  sie  sind. 

20.  Halbmonate  und  Monate,  Jahres  Teile  und  Zeiten  sind 

Im  Rest,  die  brausenden  Wasser,  Donner  und  Vedaworte  grofs. 

21.  Sand  und  Kieselgeröll,  Steine,  Pflanzen,  Sträuche  und  Gräser  viel 
Mitsamt  Wolken,  Blitz  und  Regen  im  Rest  ruhend  beruhen  sie. 

22.  Glück  und  Gelingen,  Durchhalten,  Erreichen,  Fülle  und  Gedeihn, 
Vollendung,  Wohlfahrt,  all  dieses  enthält,  erhält  und  hält  der  Rest. 

23.  Was  immer  mit  dem  Hauch  atmet,   was  immer  mit  dem  Auge 

schaut , 
Aus  dem  Rest  sind  sie  entstanden,  alle  Götter  im  Himmel  hoch. 

24.  Die  Ric's,  die  Säman's  und  Chandas',   die  Puräna's,  die  Yajus' 

auch, 
Aus  dem  Rest  sind  sie  entstanden,  alle  Götter  im  Himmel  hoch. 


310  V-   Geschichte  des  Atman.' 

25.  Einhauch,  Aushauch,   Ohr  und  Auge,  was  nicht  vergeht  und  was 

vergeht , 
Aus  dem  Rest  sind  sie  entstanden,  alle  Götter  im  Himmel  hoch, 

26.  Wonne,  Freuden,  Erfreuungen,  und  die  sich  fröhlich  jauchzen  zu, 
Aus  dem  Rest  sind  sie  entstanden,  alle  Götter  im  Himmel  hoch. 

27.  Die  Götter,  Väter  und  Menschen,   die  Gandharven  und  Apsaras', 
Aus  dem  Rest  sind  sie  entstanden,  alle  Götter  im  Himmel  hoch. 


2)    Der  Skambha,  Atharvav.  10,7  und  8. 

Ahnlich  wie  der  eben  besprochene  Ucchishta- Hymnus, 
und  nur  in  viel  gröfserm  Stile,  streben  die  beiden  Skambha- 
Lieder  nicht  nur  über  den  mit  Geringschätzung  behandelten 
Volksglauben,  sondern  auch  über  die  bisher  üblichen  philoso- 
phischen Begriffe,  Prajäpati,  Purvsha  und  Brahman  hinaus, 
um  nach  demjenigen  zu  forschen,  was  ihnen,  wie  allen  Göttern 
und  Welten,  als  letzter  Grund  dient  und  daher  völlig  unbe- 
stimmt als  der  Skambha,  d.  h.  „die  Stütze"  bezeichnet  wird, 
welche  alle  Dinge  trägt  und  in  ihnen  zur  Erscheinung  kommt, 
ohne  doch  in  diesen  ihren  Erscheinungen  aufzugehen.  Charakte- 
ristisch ist  dabei  die  Unzufriedenheit  mit  allem  Bisherigen  und 
das  Suchen  nach  einer  neuen,  tiefern  Fassung  des  Princips 
der  Dinge,  ähnlich  wie  in  dem  Prajäpati-Liede,  Rigv.  10,121, 
welches  wohl  als  Vorbild  vorschwebte.  Denn  so  wie  dort 
als  Refrain  immer  wieder  die  Frage  gestellt  wurde:  Jkasmai 
devdya  havishd  vidhema?  „wer  ist  der  Gott,  dafs  wir  ihm 
opfernd  dienen?",  bis  sich  endlich  im  letzten  Verse  Prajäpati 
als  das  lösende  Wort  einstellte,  ebenso,  und  nur  von  einem 
ungleich  entwickeitern  Standpunkte  aus,  wird  hier  im  ersten 
Hymnus  sechzehnmal  hintereinander  die  Frage  nach  dem 
Wesen  des  Skambha  aufgeworfen:  Skambham  tarn  brfthi  ka- 
tamah  svid  eva  sa!  „verkünde  diesen  Skambha,  wer  er  wohl 
mag  sein",  bis  dann,  nach  mancherlei  zwischengeschobenen, 
aber  der  Sache  nicht  fernstehenden  Betrachtungen,  am  Schlüsse 
des  zweiten  Hymnus  als  die  endgültig  befriedigende  Lösung 
sich  das  Wort  Atman  einstellt,  und  damit  der  Standpunkt  der 
UpanishacTs  erreicht  wird. 


Der  Skambha,  Atharvav.  10,7—8.  311 

Allerdings  ist  es  mit  der  Komposition  dieser  beiden  Lieder 
eine  eigene  Sache.  Zunächst  ist  jedenfalls  die  Trennung  in 
zwei  Lieder  zu  je  44  Versen  (die  wohl  nur,  ähnlich  wie  die 
Zerlegung  von  Rigv.  1,164  in  die  beiden  Lieder  Atharvav.  9,9 
und  9,10,  auf  äufsern  Gründen  beruht)  aufzuheben,  da  das 
Thema  des  ersten  Liedes  in  den  beiden  Anfangsversen  des 
zweiten  sich  fortsetzt;  —  von  da  an  aber  kommen  freilich 
weder  das  Wort  Skambha  noch  die  beiden  Refrains  des  ersten 
Liedes  (skambliam  tarn  brühi  katamah  svid  eva  s«,  v.  4.  5.  6. 
7.  10.  11.  12.  13.  14.  15.  16.  18.  19.  20.  22.  39,  und  tasmai 
jyeshthäya  brahmane  namah,  v.  32.  33.  34.  36.  8,1)  weiter  vor 
(statt  dessen  die  Frage  nach  dem  brähmcmam  mahad  8,20.  33. 
37.  38),  der  bisher  leidlich  strikte  Zusammenhang  lockert  sich, 
und  der  Hymnus  verläuft  des  weitern  in  einer  Reihe  von 
Versen  und  Versgrnppen,  welche  keine  Kontinuität  zeigen  und, 
ähnlich  wie  so  viele  Upanishadsprüche,  deren  Charakter  sie 
schon  fast  ganz  annehmen,  nur  durch  den  einen  grofsen  Grund- 
gedanken, um  den  sie  kreisen,  und  den  sie  in  mannigfacher  Weise 
beleuchten,  zusammenhängen.  Wir  werden  uns  begnügen,  diese 
angehängten  Sprüche  (8,3—44)  durch  besondere  Überschriften 
zu  kennzeichnen  und  wollen  hier  nur  eine  Charakteristik  des 
ersten  Teiles  dieses  Liederkomplexes  (7,1 — 8,2)  unternehmen. 

Den  Volksglauben  behandelt  der  Dichter  dieses  Stückes 
sehr  geringschätzig.  Die  dreiunddreifsig  Götter  sind,  wie  alles 
andere,  in  Skambha  enthalten  (7,13),  sind  nur  ein  Glied  von 
ihm  und  aus  dem  Nichtseienden  entstanden  (7,25.  27);  als 
solche,  als  Glied  des  Skambha,  sind  die  Götter  nur  dem  Brah- 
man wissenden,  nicht  aber  dem  Volke  richtig  bekannt  (7,27). 
Sie  sind  die  Hüter  des  Skambha  (7,23),  den  sie  verehren 
(7,24),  dem  sie  Spende  darbringen  (7,39),  zu  dem  sie  sich 
verhalten  wie  die  Zweige  zum  Baume  (7,38);  nur  gemeine 
Menschen  (avare)  halten  sie  für  das  Reale  und  verehren  als 
das  Höchste,  was  doch  nur  ein  unwesentlicher  Zweig  (asac- 
chdkhä)  des  Skambha  ist  (7,21);  sie  rufen  bei  der  Frühspende 
blofse  Namen  durch  Namen  eifrig  an  (ndma  nämnd  johaviti), 
statt  den  Ewigen  (aja)  zu  verehren  (7,31;  ebenso  8,41:  „wie 
kann  der  Ewige  von  denen  geschaut  werden,  welche  Opfer- 
lieder  auf  Opferlieder    ersinnen!").     Etwas  unkonsequent  ist 


312  V-    Geschichte  des  Ätman. 

es,  wenn  daneben  doch  Skambha  für  die  Anschauung  als  durch 
Indra  vertreten  erscheint  (7,29 — 30). 

Wie  gegen  den  Volksglauben,  so  macht  unser  Dichter 
auch  gegen  die  bisher  herrschenden  philosophischen  Anschau- 
ungen Opposition.  7,28:  „die  Leute  halten  Hiranyagarbha, 
den  Goldkeim  (welcher  Rigv.  10,121  mit  Prajäpati  identifiziert 
wurde),  für  das  Höchste,  nicht  mehr  durch  Reden  Überbietbare; 
aber  dieses  Gold  hat  der  Skambha  zu  Anfang  in  die  Welt 
gegossen."  Er  ist  daher  7,41  das  goldne  Rohr,  welches  in 
der  Mitte  der  Urwasser  wuchs,  er  ist  „der  esoterische  Prajä- 
pati" (guhyah  Prajäpatih)  selbst.  In  ihm  sind  folgerecht  die 
drei  Lichter,  die  in  Prajäpati  sind,  7,40  (nämlich  Agni,  Vayu 
und  Surya,  vgl.  Väj.  Samh.  8,36,  oben  S.  191).  In  Skambha 
(als  Urprincip)  stützt  Prajäpati  die  Welten,  7,7;  und  Skambha 
(als  Erstgeborner)  geht  in  die  von  Prajäpati  geschaffenen 
Welten  mit  einem  Teile  von  sich  ein,  7,8.  Prajäpati,  als  von 
Skambha  verschieden,  ist  hier  nur  mythologischer  Zierat 
(ähnlich  wie  Rigv.  10,90  die  Götter,  die  den  Purusha  opfern, 
aus  dessen  Gliedern  sie  doch  selbst  entstehen);  in  Wahrheit 
ist  der  Skambha  eben  Prajäpati.  Und  ebenso  ist  er  der 
Purusha.  Denn  Skambha  ist  es,  „in  welchem  als  dem  Purusha" 
(yatra  purushe  adhi)  Tod  und  Unsterblichkeit  enthalten  sind, 
und  als  dessen  Adern  der  Ocean  sich  in  dem  Purusha  befindet, 
7,15.  —  Der  Skambha  ist  ferner  das  höchste  Brahman,  wie 
der  Refrain  7,32.  33.  34.  36.  8,1  fünfmal  versichert:  tasmai 
jyeshthäya  brahmane  namah,  welches  nicht  heilst:  „reverence  be 
to  that  greatest  Brahma"  (Muir),  oder  „diesem  höchsten  Brahma 
sei  Verehrung"  (Ludwig),  denn  brahman  ist  Neutrum,  tasmai 
aber  nimmt  ein  vorhergehendes  Maskulinum  wieder  auf,  —  son- 
dern: „ihm  als  dem  höchsten  Brahman  sei  Verehrung". 
Also  Skambha  ist  Prajäpati,  ist  Purusha,  ist  Brahman,  wie  dies 
ausdrücklich  7,17  zusammenfassend  bestätigt  wird:  „wer  in  dem 
Purusha  (nicht  dem  Menschen,  sondern  dem  Weltpurusha,  da 
vorher  der  Ocean  seine  Adern  sind)  das  Brahman  weifs,  der 
weifs  Parameshthin;  wer  aber  Parameshthin  weifs  und  wer 
Prajäpati  weifs,  der  weifs  die  höchste  Brahmankraft  (bräli- 
manam  =  brahman,  wie  auch  8,20.  33.  37.  38),  der  weifs  in  ihnen 
und  mit  ihnen  (anusamviduh)  den  Skambha. 


Der  Skambha,  Atharvav.  10,7—8.  313 

Dieser  Skambha,  in  welchem  Prajapati,  Purusha,  Brah- 
man  zusammenfallen,  ist  folgerecht  das  höchste  Princip 
(der  Ungeborne,  über  welchen  hinaus  es  nichts  Höheres  giebt, 
7,31,  welcher  nur  mit  einem  Teile  von  sich  in  alle  Wesen 
eingeht,  7,8.  8,7,  wodurch  die  Fülle  seines  Wesens  nicht  ge- 
mindert wird,  8,29)  und  wiederum  der  Erstgeborne  der 
Schöpfung  (der  Hiranyagarbha,  7,28.41,  der  in  sein  eigenes 
Reich  eingeht,  7,31;  der,  aus  crama  und  tapas  geboren,  alle 
Welten  durchdringt  7,36;  der  im  tapas  sich  auf  den  Rücken 
des  Urwassers  schwang,  7,38).  Er  enthält  in  sich  als  Glieder 
(wie  in  ermüdenden  Wiederholungen  versichert  wird)  alle 
Räume  und  Zeiten,  alle  Welten  und  Weltwesen,  alle 
Götter,  Veden  und  moralischen  Kräfte.  Alles  dies  be- 
ruht auf  ihm,  ist  in  ihm  als  Glied  enthalten,  wird  durch  ihn 
getragen  oder  strebt  ihm  zu.  So  namentlich:  die  AVeiten  und 
Behälter,  Urwasser,  Brahman,  Seiendes  und  Nichtseiendes  7,10; 
Tod  und  Unsterblichkeit  7,15;  der  Ocean  als  Adern  7,15;  die 
vier  Himmelsgegenden  als  Hauptadern  7,16;  Vergangenheit 
und  Zukunft  7,9.  22;  8,1;  Jahre,  Jahreszeiten,  Monate,  Halb- 
monate, Tage  und  Nächte  7,5,  die  er  in  ihrem  Wechsel  als 
Puman  (Purusha)  lenkt  7,42 — 44;  ferner  Erde,  Luftraum, 
Himmel  und  was  jenseits  des  Himmels  ist,  7,3;  8,2;  7,35.  32; 
auch  die  Vorwelt  ist  nur  ein  Glied  von  ihm  7,26.  Von 
Göttern,  die  in  ihm  enthalten  sind,  werden  genannt:  Agni, 
Mätaricvan,  Canclramas  7,2;  Agni,  Matarigvan  7,4;  Agni,  Can- 
dramas,  Sürya,  Väta  7,12;  Sürya,  Canclramas,  Agni  7,33;  Väta, 
Z%as7,34;  Vaigvänara,  Afigiras'' ,  Yätii's,  Viräj  7,18 — 19;  Aditya's, 
Rudra\  Vasu's,  7,22.  In  ihm  sind  ferner:  ris/ifs,  ric,  säman, 
yajus,  ekarshi  7,14;  ric,  yajus,  säman,  atharvangiras  7,20;  sowie 
auch:  tapas,  ritam,  vratam,  craddhä -7,1;  tapas,  vratam,  ritam, 
craddhä,  äpas,  brahma  7,11. 

Durch  alles  dies  ist  die  Stellung  des  Skambha  klar  ge- 
kennzeichnet. Als  Urprincip,  als  Erstgeborner,  als  Träger, 
Umfasser,  Erhalter  der  Dinge,  die  ihm  alle  zustreben  (7,4 — 6), 
als  der  über  Finsternis  und  Übel  Erhabene  (7,40)  tritt  er  an 
die  Stelle  der  frühern  Begriffe  Prajapati,  Purusha,  Brahman. 
Der  Dichter  verwirft  diese  nicht,  ringt  aber  nach  einer  tiefem 
Fassung  dessen,  was  sich  in  ihnen  ausspricht,  und  darum  fragt 


314  V.    Geschichte  des  Atman. 

er  immer  wieder  nach  dem  Skambha,  „der  Stütze",  d.  h.  dem 
Stützer,  der  alle  Räume,  Welten  und  Wesen  trage,  in  dem 
alles  selbsthaft  (ätmanvat)  sei  8,2,  welcher  als  ein  seltsam 
Wunderding  in  dem  Herzen  selbsthaft  (ätmanvat)  sei  8,43,  — 
bis  endlich  nach  so  mannigfachen  durch  die  WTolke  durch- 
schimmernden Lichteffekten  im  Schlufsverse  mit  dem  Worte 
Atman  die  Sonne  durchbricht  und  eine  Fassung  des  Urwesens 
gewonnen  wurde,  über  welche  nicht  mehr,  wie  über  alle  jene 
andern,  hinausgegangen  werden  konnte. 

Wir  übersetzen  die  beiden  Hymnen,  bemerken  aber,  dafs 
namentlich  der  letztere  viele  Rätselspiele  enthält,  deren  Deutung 
hier,  wo  sie  unseres  Wissens  zum  erstenmal  versucht  wird, 
vielfach  eine  mehr  oder  weniger  problematische  ist. 

Atharvaveda  10,7.    Skambha. 
Skambha  und   seine    Glieder. 

1.  In  welchem  Glied  von  ihm  thront  die  Kasteiung, 
In  welchem  Gliede  ist  das  Recht  gegründet, 
Wo  weilt  in  ihm  Gelübde ,  wo   der  Glaube , 

In  welchem  Gliede  von  ihm  wohnt  die  Wahrheit? 

2.  Aus  welchem  seiner  Glieder  strahlt  das  Feuer, 

Von  welchem  Glied  her  läutert  Mätarigvan  (der  Wind), 
Aus  welchem  Gliede  mifst  der  Mond  die  Zeiten, 
Wenn  wacker  er  den  Leib   des  Skambha  ausmifst? 

3.  In  welchem  seiner  Glieder  steht  die  Erde , 

In  welchem  seiner  Glieder  steht  der  Luftraum, 
In  welchem  Gliede  steht  gestützt  der  Himmel, 
In  welchem   Gliede,  was  vom  Himmel  jenseits? 

Skambha  als  Ziel. 

4.  Zu  wem  hinstrebend  flammt  empor  das  Feuer, 
Zu  wem  hinstrebend  läutert  Mätarigvan? 
Ihn,  zu  dem  strebend  ihre  Wege  gehen,  — 

Verkünde  diesen  Skambha,  wer  er  wohl  mag  sein! 

5.  Zu  wem  geh'n  Monate  und  Monatshälften, 

Zu  wem  mit  ihnen  geht  der  Lauf  des  Jahres? 
Er,  zu  dem  Jahres  Teil'  und  Zeiten  wandeln,   — 
Verkünde  diesen  Skambha,  wer  er  wohl  mag  sein! 


Der  Skambha,  Atharvav.  10,7.  315 

6.  Zu  wem  hinstrebend  wandeln  zwiegestaltig 

Als  Jungfrau'n  Tag  und  Xacht  in  holder  Eintracht? 
Er,  zu  dem  hin  auch  die  Gewässer  eilen,  — 

Verkünde  diesen  Skambha,  wer  er  wohl  mag  sein! 

Skambha   und   die  Welt. 

7.  Er,  in  welchem  der  Welt  Ganzes  stützend  hegte  Prajäpati,  — 

Verkünde  diesen  Skambha,  wer  er  wohl  mag  sein! 

8.  Als  Höchstes ,  Tiefstes  und  was  in  der  Mitte 
Prajäpati  geschaffen  allgestaltig, 

Mit  welchem  Teil  ging  Skambha  in  die  Welt  ein? 
Und  was  von  ihm  nicht  einging,  was  war  das  wohl? 

9.  Mit  welchem  Teil  erfüllte  er  Vergangnes, 

Mit  welchem  Teil  reckt  er  sich  in  die  Zukunft,   — 
Als  er  den  einen  Leib  gestaltet  tausendfach , 
Mit  welchem  Teil  ging  er  da  in  die  Welt  ein? 

10.  In  dem  Welten  und  Welträume,  Wasser  und  Brahman  jeder  weifs, 
In  dem,  was  ist  und  was  nicht  ist,  — 

Verkünde  diesen  Skambha,  wer  er  wohl  mag  sein! 

11.  In  dem  Kasteiung  fortschreitend  hoch  und  höher  Gelübde  hält, 
In  dem  beschlossen  Recht,  Glaube,  die  Wasser  und  das  Brahman 

sind,  — 
Verkünde  diesen  Skambha,  wer  er  wohl  mag  sein! 

12.  In  welchem  Erde  und  Luftraum  samt  dem  Himmel  gegründet  sind, 
In  dem  Feuer,  Mond  und  Sonne  und  der  Wind  eingebettet  sind,  — 

Verkünde  diesen  Skambha,  wer  er  wohl  mag  sein! 

13.  Von  dem  ein  Glied  alle  dreiunddreifsig  Götter  enthält  in  sich,  — 

Verkünde  diesen  Skambha,  wer  er  wohl  mag  sein! 

14.  In  dem  Rishi's,   erstgeborne,  Ric,   Säman,  Yajus  und  die  Welt, 
Und  der  eine  Rishi  einwohnt,   — 

Verkünde  diesen  Skambha,  wer  er  wohl  mag  sein! 

Skambha  und  frühere  Principien. 

15.  In  dem,  als  in  dem  Purusha,  wohnen  Unsterblichkeit  und  Tod, 
In  dem,   als  in  dem  Purusha,  die  Adern  sind  der  Ocean,   — 

Verkünde  diesen   Skambha,  wer  er  wohl  mag  sein! 


316  V.    Geschichte  des  Ätmcoi. 

16.  In  welchem  die  vier  Weltpole  als  Hauptadern   enthalten  sind. 
In  dem  das  Opfer  wirkt  machtvoll ,  — 

Verkünde  diesen  Skambha,  wer  er  wohl  mag  sein! 

1  7.  Wer  im  Purusha  kennt  Brahman,  ja  der  kennt  Parameshthin  auch, 
Wer  aber  kennt  Parameshthin,    und  wer  kennt  den  Prajapati, 
Und  kennt  die  höchste  Brahmankraft,  der  kennt  mit  ihnen  Skam- 
bha auch. 

18.  Er,   dessen  Haupt  Vaicvänara,   dessen  Auge  die  Angiras", 
Des  Glieder  selbst  die  Kobolde,  — 

Verkünde  diesen  Skambha,  wer  er  wohl  mag  sein! 

19.  Dessen  Mund  die  Brahmanenschaft,  Zunge  die  Süfstrankpeitsche 

heilst, 
Als  des  Euter  die  Viräj  gilt, 

Verkünde   diesen  Skambha,  wer  er   wohl  mag  sein! 

20.  Von  dem  Ric's   sie  abhobelten,  von   dem  Yajus'   sie  schabten  ab, 
Dessen  Haare  Säman-Lieder,   des  Mund  Atharva-Lieder  sind,  — 

Verkünde  diesen  Skambha,  wer  er  wohl  mag  sein! 

Skambha  und   die   Götter. 

21.  Ein  nichtrealer  Zweig  vorragt,  der  als  Höchstes  den  Leuten  gilt, 
Ihn  als  real  wähnt  der  Pöbel,  wenn  er  den  Zweig  an  dir  verehrt. 

22.  In  dem  Aditya's  und  Rudra's  und  die  Vasu's  beschlossen  sind, 
In  dem  Vergangenheit,  Zukunft  und  die  Welten  gegründet   sind, 

Verkünde  diesen  Skambha,  wer  er  wohl  mag  sein! 

23.  Dessen  Schatz  alle  die  dreiuncldreifsig  Götter  behüten  stets, 
Wer  kennt  wohl  diesen  Schatz  heute,  dessenHüter  ihr  Götter  seid? 

24.  Wo,  ihr  Götter,   [besser:  devä',  wo   Götter  als]   Brahmankenner 

dem  höchsten  Brahman  ehrend  nah'n , 
Wer  diese  kennt  von  Angesicht,   der  Priester  ist  ein  Wissender. 

25.  Grofs  sind  freilich  auch  die  Götter,  die  dem  Nichtseienden  ent- 

stammt , 
Doch  sind  sie  nur  ein  Glied  Skambha's;  —  was  jenseits,  ist  dem 

Pöbel  nichts. 

26.  Und  wenn    in   Zeugungskraft   Skambha    die  Vorwelt   liefs    ent- 

wickeln sich, 
So  stellt  nur  als  ein  Glied  Skambha's   die  ganze  Vorwelt  sich 

heraus. 


Der  Skambha,  Atharvav.  10,7.  317 

27.  Ein  Glied  von  ihm  teilten  dreiunddreifsig  Götter  als  Leiber  sich, 
So  freilich  kennt  nur  die  dreiunddreifsig  Götter,  wer  Brahman 

kennt. 

28.  Der  „goldne  Keim"  sei  als  Höchstes  unübersagbar,  meint  das  Volk; 
Nun,  Skambha  hat  dies  Gold  anfangs  gegossen  in  die  Welt  hinein. 

29.  Auf  Skambha  sind  gestützt  Welten,  auf  ihn  Kasteiung  und  das 

Recht , 
Und  dich,  o  Skambha,  sichtbarlich  in  Indra  weifs  verkörpert  ich. 

30.  Auf  Indra  sind  gestützt  Welten,  auf  ihn  Kasteiung  und  das  Recht, 
Und  dich,  o  Indra,  sichtbarlich  in  Skambha  weifs  verkörpert  ich. 

31.  Mit  Namen  eifrig  ruft  Namen  vor  Sonne  man  und  Morgenrot,  — 

Doch  als  der  Ewige  ward  zuerst  geboren, 
Ist  eingegangen  er  in  dies,  sein  Weltreich, 
Er  über  den  nichts  Höheres  ist  vorhanden. 

Skambha   und   Brahman. 

32.  Dem  die  Erde  als  Grundmafse,  dem  der  Luftraum  als  Körper  dient, 
Der  den  Himmel  zum  Haupt  schuf  sich,   — 

Ihm  als  dem  höchsten  Brahman  Ehre  sei! 

33.  Dessen  Augen  sind  die  Sonne  und  der  stets  wieder  neue  Mond, 
Dessen  Rachen  das  Feuer  ist ,  — 

Ihm  als  dem  höchsten  Brahman  Ehre  sei! 

34.  Dem  der  Wind  Einhauch  und  Aushauch,  dem  die  Angiras'  Auge 
Der  den  Weltpolen  gab  Weisheit,   —  [sind, 

Ihm  als  dem  höchsten  Brahman  Ehre  sei! 

35.  Der  Skambha  trägt  Himmel  und  Erde,  beide, 
Der  Skambha  ist  des  weiten  Luftraums   Träger, 
Der  Skambha  der  sechs  weiten  Himmelspole , 
In  Skambha  ist  die  ganze  Welt  enthalten. 

36.  Der,  aus  Abmühung,  Kasteiung  geboren,  diese  Welt  durchdrang, 
Der  den  Soma  erschuf  eigens ,  — 

Ihm  als  dem  höchsten  Brahman  Ehre  sei! 

Skambha,  Welt  und   Götter. 

37.  Wie  kommt's,    dafs  nie   der  Wind  ausruht,    wie  kommt's,  dafs 

niemals  ruht  der  Geist? 
Wie,  dafs  die  Wasser,  nach  Wahrheit  strebend,  nimmer  zur  Ruhe 

e'eh'n? 


318  V.    Geschichte  des  Atman. 

38.  Ein  grofses  Wunderding  in  "Welten  Mitte 
Kasteiend  schwang  sich  auf  der  Wasser  Rücken , 
Auf  ihm  beruh'n  die   Götter  samt  und  sonders, 
Wie  auf  dem  Stamm  des  Baumes  rings  die  Zweige. 

39.  Ihn,  dem  mit  Händen  und  Füfsen,  mit  der  Rede,  mit  Aug'  und  Ohr 
Die  Götter  Spende  stets  bringen  im  engen  Raum  unendliche,  — 

Verkünde  diesen  Skambha,  wer  er  wohl  mag  sein! 

40.  Ihm  naht  die  Finsternis  nimmer,  frei  ist  von  allem  Übel  er, 
In  ihm  glänzen  die  drei  Lichter,    die  da  sind  in  Prajäpati. 

Erläuterung  zu  Vers  28  (vgl.  Rigv.  4,58,5). 

41.    Das  goldne  Rohr,  wer  das   erkennt, 
Wie  es  im  Wasser  wächst,  das  ist 
Der  heimliche  Prajäpati. 

Erläuterung  zu  Vers  6  (vgl.  Rigv.  10,130,2). 

42.  Zwei  Jungfrau'n,  zwiegestaltig ,  weben  einzeln 
Umschichtig  am  Gespannten  durch  sechs  Pflöcke  (v.  35) : 
Die  übergiebt  die  Fäden,  und  die  nimmt  sie, 

Nicht  brechend  sie,  nicht  spinnend  sie  zu  Ende. 

43.  Wenn  diese  beiden  so  herum  sich  schwingen, 

So  weifs  ich  nicht,  welche  nachfolgt  der  andern, 

Ein  Mann  mufs  sein,  der  dies  dort  webt  und  schürzte, 

Ein  Mann,  der  es  am  Himmel  ausgebreitet. 

44.  Dies  sind  die  Pflöcke,   die  den  Himmel  stützen  dort, 
Und  Säma- Lieder  sind  die  Weberschiff  lein. 

Atharvaveda  10,8.     Skambha   und   anderes. 
Fortsetzung  über    Skambha. 

1.  Der  dem  Vergangnen  und  Künft'gen  und  allem  vorsteht,  was  da  ist, 
Dessen  Wesen  lauter  Licht  ist,  — 

Ihm  als  dem  höchsten  Brahman  Ehre  sei! 

2.  Durch  den  Skambha  gestützt  stehen  beide,  Himmel  und  Erde,  fest, 
In  ihm  ist  alles    dies  selbsthaft  (ätmanvat)   was    atmet   und    die 

Ausren   schliefst. 


Der  Skambha,  Atharvav.  10,8.  319 

Vergängliches  und   Ewiges  (vgl.  Rigv.  8,101,14). 

3.  Drei  Weltgeschlechter  zogen  schon  vorüber, 
Und  andre  scharten  nen  sich  um  die  Sonne, 

Doch  er  bestand,   den  Luftraum  grofs  durchmessend, 
Als  goldner  ging  er  ein  in  goldne  Kräuter. 

Jahre,  Monate,  Tage  (vgl.  Rigv.  1,164,48,  oben  S.  119). 

4.  Zwölf  Felgen  sind  an  einem  Rad  befestigt, 
Drei  Naben  auch,  wer  weifs  das  zu  verstehen? 
Auf  ihm  befestigt  sind  dreihundert  Zapfen 
Und  sechzig,  eingekeilt,   dafs  sie  nicht  wanken. 

Der   Schaltrnonat. 

5.  Das  versteh',  weiser  Savitar:   sechs  Zwillingspaar',   ein  Einzelner; 
Mit  dem  wünschen  die  zwölf  Freundschaft,  der  neben  ihnen  einzeln 

steht. 

Das  Unendliche. 

6.  Offen  ist's,  und  geheim  bleibt  es,  „Uralt"  heilst  es,  ein  grofses  Land, 
In  ihm  steht  dieses  Weltganze,  was  lebt  und  webt,  gegründet  fest. 

Welt  und  Weltprincip  (vgl.  Atharvav.  11,4,22,  obenS.304). 

7.  Acht  Räder  wälzen  sich  in  einem  Umkreis, 
Auf  östlich,  unter  westlich,  tausendfältig;  — 
Mit  einer  Hälfte  zeugte  er  das  Weltall, 
Doch  wo  befindet  sich  die  andre  Hälfte?  — 

Der   Sternenhimmel. 

8.  Ein  Fünfgespann1  fährt  an  des   Ganzen  Spitze, 
Geschirrte  Seitenrosse 2  helfen  ziehen; 

Dafs   es   stillstände,  ist  nie  dagewesen, 
Hohes  ist  näher  hier  und  Tiefes  fexmer3. 

1.  Vielleicht  die  fünf  Planeten,   wie  Rigv.  I,lß4,12—13  (oben,  S.  111).  — 

2.  Etwa:  Sonne  und  Mond.  —  3.  Gewöhnlich  ist  das  Obere  weiter  als 
das  Untere;  hier,  bei  dem  unter  der  Erde  durchgehenden  Sternenhimmel,  ist 
es  umgekehrt. 


320  V.   Geschichte  des  Atnian. 

Der  Kopf. 

9.    Die  Öffnung  seitwärts  und  den  Boden  oben, 
Ist  eine  Schale ,  aller  Herrlichkeit  voll , 
Und  sieben  Bishi's  l  sitzen  ihr  verbunden, 
Dieselben,   die  des  grofsen  Weltalls  Hüter. 

1.  Augen,  Ohren,  Nasenlöcher  und  Mund  (vgl.  Brih.  Up.  2,2,3),  denen  in 
kosmischem  Gebiete  Sonne,  Mond,  Himmelsgegenden,  Wind  und  Feuer  ent- 
sprechen (vgl.  Ait.  Up.  1,1,4).  Das  Ganze  könnte  vielleicht  auch  auf  das 
Himmelsgewölbe  gedeutet  werden. 

Ein  mystischer  Vers. 

10.  Der  Vers1,  der  vorher  wird  verwandt  und  nachher, 
Der  überall  und  allerwärts  verwandt  wird, 

Durch  den  das  Opfer  voran  wird  gewoben,   — 
Das  frag'  ich  dich,  welcher  wohl  dieser  Vers  ist? 

1.  Wie  alle  Götter  auf  eine  Einheit,  so  gehen  auch  alle  beim  Opfer  ge- 
brauchten Verse  auf  einen  Urvers  zurück,  in  dem  sie  alle  enthalten  sind. 
Ob  darunter  ein  imaginärer  oder  wirklicher  Vers  zu  verstehen,  und  welcher 
im  letztern  Falle,  wüfsten  wir  nicht  zu  sagen.     (Vgl.  Atharvav.  9,10,19.) 

Die  coincidentia  oppositorum   (vgl.  Icä-Up.  5). 

11.  Was  regsam  ist,  was  fliegt  und  dennoch  stillsteht, 
Was  atmet  und  nicht  atmet,  was  die  Augen  schliefst, 
Das  trägt  die  ganze  Erde  allgestaltig, 

Und  das,  zusammengehend,  wird  zur  Einheit. 

Unendliches  und  Endliches  (etwa:  Himmel  und  Erde). 

12.  Das  Endlose  ist  vielfach  ausgebreitet, 
Endlos  und  Endlich  grenzen  aneinander; 
Des  Himmels  Hüter  wandelt  beide  scheidend, 
Er  kennt,  was  dagewesen  und  was  sein  wird. 

Die  Zeugungskraft  der  Natur  (vgl.  Väj.  Samh.  31,19, 
oben  S.  291  und  Atharvav.  11,4,20,  oben  S.  304). 

13.  Prajäpati  wandelt  im  Mutterleibe, 

Der  Unsichtbare  vielfach  wird  geboren; 
Mit  einer  Hälfte  zeugte  er  das  Weltall, 
Kein  Schimmer  ist  von  seiner  andern  Hälfte. 


Der  Skambha,  Atharvav.  10,8.  321 

Die  Verdunstung  des  Wassers  durch  die  Sonne 
(vgl.  Rigv.  1,164,7,  oben  S.  110). 

14.  Ihn,  der  das  Wasser  trägt  aufwärts  wie  Wassertragende  im  Krug, 
Mit  ihren  Augen  seh'n  alle,  doch  nicht  alle  im  Geist  versteh'n. 

Das  höchste  Wesen. 

15.  Fern  dort  verweilt  es  in  Fülle,  fern  dort,  von  allem  Mangel  frei, 

Das  grofse  Wunderding  in  Welten  Mitte , 
Ihm  bringen  dar  auch  Könige  die  Spende. 

16.  Woher  der  Sonne  Aufgang  ist,  worein  sie  wieder  untergeht, 
Das,  meine  ich,  ist  das  Höchste,   das  überragt  kein  Wesen  je. 

Der   dreifache  Vogel  (Sonne,  Wind,  Feuer). 

17.  Die  jetzt  und  vordem  und  in  alten  Zeiten 
Um's  weise  Vedawort  in  Reden  kreisen, 
Sie  alle  kreisen  redend  um  die  Sonne 

Und  um  den  zweiten  Agni  *,  den  dreifachen  Vogel. 
1.  agni  scheint  interpoliert  zu  sein. 

18.  Er  spannt  die  Flügel  tausend  Tagesweiten, 
Wenn  er  als  goldner  Vogel  fliegt  am  Himmel , 
An  seinem  Busen  hält  er  alle  Götter; 

So  wandert  er,  die  Wesen  überschauend  (==  Atharvav.  13,3,14 

oben  S.  228). 

19.  Durch  Wahrheit  glüht  er  dort  oben,  schaut  aus  durch  das  Gebet 

von  hier  (als   Opferfeuer); 
Durch  Odem  atmet  quer  durch  er,  auf  den  das  Höchste  ist  gestellt. 

20.  Wer  da  kennt  die  zwei  Reibhölzer,   durch  die  das  Gut  uns  wird 

gequirlt , 
Der  dünke  sich  Höchstes  wissend,  er  weifs  die  grofse  Brahman- 

kraft  i. 

1.  Das  mahad  brähmanam ,  d.  h.  Brahman,  ist  die  Quelle  alles  Feiirigen, 
Lebendigen  im  Universum,  ist  gleichsam  die  Reibhölzer,  aus  denen  das  Feuer 
der  Sonne  u.  s.  w.  stammt. 

Die  Sonne  und   die  Jahreszeiten. 

21.  Er  entstand  anfangs  einfüfsig,  er  brachte  anfangs  her  das  Licht, 
Vierfüfsig  als  Genufsspender  nahm  er  allen  Genufs  in  sich. 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.    I.  21 


322  V.   Geschichte  des  Atman. 

22.  Der  wird  teilhaft  .  .  .,   dem  wird  zu  teil  der  Nahrung  viel, 
Der  diesem  Gott,  dem  hochhehren,  Verehrung  zollt,  dem  ewigen. 

23-  Der  ewige,  ja,   so  heilst  er,   und  doch  heut'  immer  wieder  neu, 
Tag  und  Nacht  forterzeugt  werden  immer  eins  aus  dem  anderen. 

24.  Sein  Gut  ist  hundert,  tausend,   zehnmal  tausend, 
Tausendmal  hunderttausend,  ist  unzählig; 

Und  das  vertilgen  sie  vor  seinen  Augen ! 
Und  daran  hat  der  Gott  nur  seine  Freude ! 

Gott,  unendlich  klein   und  unendlich  grofs. 

25.  Das  eine,  als  ein  Haar  feiner,  unsichtbar  fein  das  eine  ist, 
Und  doch  umfassender  als  dies  Weltall,  —  der  Gott  ist  teuer  mir! 

Ein   Rätsel  wort. 

26.  Diese  Schöne,  die  nicht  altert,  unsterblich  in  des  Menschen  Haus, — 
Müfsig  Hegt,  wem  sie  erzeugt  ward,  wer  sie  zeugte,  der  altert  hin1. 

1.  Vielleicht  ursprünglich  die  Flamme  des  Opferfeuers,  bei  der  der  Yaja- 
mäna  müfsig  ist,  während  der  Priester  sich  abmüht.  —  Hier  könnte  es,  nach 
dem  Zusammenhang,  auch  die  vom  alternden  Vater  erzeugte,  unsterbliche 
Seele  des  dabei  müfsigen  Kindes  sein. 

Das  Göttliche   im   Menschen. 

27.  Du  bist  das  Weib,   du  bist  der  Mann, 
Das  Mädchen  und  der  Knabe , 

Du  wh'st,  geboren,  allerwärts, 
Du  wankst  als  Greis  am  Stabe. 

28.  Du  bist  der  Leute  Vater  und  ihr  Sohn  auch, 
Der  älteste  von  allen  und  der  jüngste. 

Der  eine  Gott,  den  ich  im  Geiste  trage, 
Ist  Erstgeborner  und  im  Mutterleibe. 

Die  Unerschöpflichkeit  Gottes  (vgl.  Brih.  Up.  5,1,1). 

29.  Aus  Fülle  giefst  er  aus  Fülle,  Fülle  fliefst  aus  der  Fülle  ab ; 
Das  möchten  heute  wir  wissen,  woraus  dies  ausgegossen  wird ! 

30.    Die  ewige,  vor  ew'ger  Zeit  geborne, 

Die  grofse  Gottheit,  uralt,  allumfassend , 

Sie  strahlt  herab  aus  jeder  Morgenröte 

Und  schaut  aus  allem,  was  da  blickt  mit  Augen. 


Der  SkambJia,  Atharvav.  10,8.  323 

31.  „Die Labende"  heifst  die  Göttin,  die  umkleidet  vom  Rechte  thront, 
Wenn  sie  erscheint,  in  Laubkränzen  ergrünen  diese  Bäume  hier. 

32.  Er  ist  zu  nah,  zii  entweichen;    er  ist  zu.  nah,    zu  zeigen  sich. 
0,  seht  die  Kunst  dieses  Gottes,  er  stirbt  nicht,  und  er  altert  nicht. 

33.  Von  ihm  erregt,  dem  Urersten,  strömt  nach  Mafs  heil'ger  Rede 

Laut , 
Wo  sie  hinwandert  ausströmend,  das  heilst  die  grofse  Brahmankraft. 

Des  Wassers  Blume  (Hiranyagarbha)   und  Führer. 

34.  Woran  die  Götter  und  Menschen  wie  Speichen  an  der  Nabe  steh'n, 
Nach  des  Wassers  Blume  frag'  ich,  wo  sie  in  Zauberkunst  versteckt. 

35.  Durch  die  der  Wind  dahinbraust  angetrieben, 
Die  die  fünf  Weltpole  zusammenhalten, 

Die  Götter,   die  gering  die  Spende  achten, 
Des  Wassers  Anführer,   wer  waren  diese?  — 

36.  In  diese  Erde  kleidet  sich  der  eine  (Agni), 

Der  andre  kreiset  um  den  weiten  Luftraum  (Väyu) , 
Als  Träger  lädt  sich  einer  auf  den  Himmel  (Süri/a), 
Noch  andere  behüten  alle  Räume  (Digas). 

Gott  als  Innerstes   der  Dinge  (vgl.  Brih.  Up.  3,7,1). 

37.  Wer  den  Faden  ausgespannt  weifs,  dem  die  Wesen  sind  angewebt, 
Ja,  wer  kennt  des  Fadens  Faden,   der  weifs  die  grofse  Brahman- 
kraft. 

38.  Ich  weifs  ausgespannt  den  Faden,  dem  die  Wesen  sind  angewebt, 
Ja,  ich  weifs  des  Fadens  Faden,  ich  weifs  die  grofse  Brahmankraft. 

Priorität   des   Sonnenfeuers   vor   den  Göttern. 

39.  Als  einstmals  brennend  zwischen  Erd'  und  Himmel 
Agni,  versengend  alles,  hingewandelt, 

Als  fernab  standen  noch  die  treuen  Frauen  (die  Wasser?), 
Wo  war  da  Mätaricvan,  ihn  zu  bringen?  — 

40.  Ins  Wasser  war  gegangen  Mätarigvan, 
In  dem  Gewoge  alle  Götter  steckten,   — 

Nur  er  stand  grofs  da  und  durchmafs  den  Luftraum, 
Und  er  ging  in  die  Kräuter  ein  als  Soma. 

21* 


324  V.    Geschichte  des  Atman. 

Unzulänglichkeit  der  Hymnensänger. 

41.    Noch  höher  als  die  Gäyatri  schritt  er  aus  im  Unsterblichen; 
Wer  Lied  auf  Lieder  nur  ersinnt ,  wie  kann  der  schau'n   den 

Ewigen '? 

Er  vereinigt  die  Eigenschaften  der  Götter 
(nach  Rigv.  10,139,3). 

42.  Der  alle  Güter  birgt  und  in  sich  aufhäuft, 
Er,  wie  Gott  Savitar,  wahrhafter  Satzung, 
Als  Indra  steht  er  da  im  Schlachtgetümmel. 

Gott  im  Herzen. 

43.  Die  Lotosblume,  neunthorig  und  in  drei  Schichten  wohlverwahrt, 
Welch  Wunderding  in  der  selbsthaft  (ätmanvat),  das  weifs  nur, 

wer   das  Brahman  kennt. 

Und   er  ist  der  Atman! 

44.    Begierdelos,  treu,   ewig,   durch  sich  selbst  nur, 
Genufsdurchsättigt ,  keinem  unterlegen , 
Wer  diesen  kennt,   der  fürchtet  nicht  den  Tod  mehr, 
Den  weisen,  alterlosen,  jungen  Atman. 

5.   Der  Atman« 

Es  ist  verdriefslich ,  dafs  die  Etymologie  des  Wortes 
atman  nicht  mit  Sicherheit  festzustellen  und  dadurch  in  der 
Entwicklungsgeschichte  dieses  wichtigsten  Begriffes  der  indi- 
schen Philosophie  keine  volle  Klarheit  zu  gewinnen  ist.  Stammt, 
wie  wir  oben,  S.  285,  als  möglich  hinstellten,  das  Wort  von 
Pronominalwurzeln,  so  würde  die  ursprüngliche  Bedeutung 
„das  eigene  Ich,  das  Selbst"  sein,  und  diese  würde  sich, 
je  nach  einer  mehr  materiellen  oder  ideellen  Anschauung,  einer- 
seits zu  den  Begriffen  „die  eigene  Person,  der  Leib,  der 
Rumpf",  anderseits  zu  „Lebenshauch,  Seele,  Wesen" 
weiter  entwickelt  haben.  Geht  hingegen  atman  zurück  auf 
eine  Wurzel,  welche  „atmen,  wehen"  bedeutet,  so  würde 
die  ursprüngliche  Bedeutung  „Hauch,  Lebenshauch"  sein, 
die  zweite  „das  Selbst",  und  aus  dieser  müfsten  sich  dann 
nach   zwei  S eiten   hin   einerseits  „Person,   Leib,    Rumpf", 


Bedeutungen  von  ätman.  325 

anderseits  „Seele,  Wesen"  entwickelt  haben.  Dieser  letztern 
Auffassung  steht,  wie  bereits  bemerkt  (S.  285),  nicht  nur  das 
neben  ätman  im  Rigveda  bestehende,  stets  pronominale  tman 
entgegen,  sondern  auch  die  Schwierigkeit,  den  Begriff„Selbst", 
wenn  er  nicht  der  ursprüngliche,  sondern  erst  sekundär  aus 
Lebenshauch  gewonnen  war  und  somit  die  Materialität  schon 
abgestreift  hatte,  wieder  in  die  grobmateriellen  Vorstellungen 
von  Person,  Leib  und  gar  Rumpf  verlaufen  zu  lassen.  In- 
dessen ist  anzuerkennen,  dafs  ätman  im  Rigveda  überwiegend 
„den  Lebens  hauch"  und  an  vier  Stellen  sogar  „den  Wind 
als  Hauch"  bezeichnet,  welches  aus  „Selbst,  Lebenshauch", 
sekundär  abzuleiten  wiederum  sehr  schwierig  ist.  Wir  wollen 
daher,  indem  wir  unsere  obige  Hypothese  (S.  285)  dem  Wohl- 
wollen der  Etymologen  empfohlen  sein  lassen,  im  übrigen 
doch  für  jetzt  bei  dem  Hergebrachten  stehen  bleiben  und, 
wenn  auch  nicht  ohne  Bedenken,  die  übliche  Entwicklungsreihe: 

I.    Hauch 
IL    Lebenshauch 
III.    Lebenshauch,   Seele,   Selbst 


IVa.    Selbst,   Person,    Leib      IVb.  Selbst,Wesen,  sowohl  andrer  Dinge 

als  auch  der  eigenen  Person 
Va.    Rumpf  ~Vb.  Wesen  der  Welt,  Princip  der  Dinge 

zu  Grunde  legen,  um  sie  durch  eine  Beispielsammlung  aus 
den  vedischen  Schriften  zu  belegen,  welche  für  die  Samhitä 
des  Rig-  und  Atharva- Veda  alle  Stellen  beibringen  soll,  in 
denen  das  Wort  überhaupt  vorkommt. 

I.    ätman  „der  Hauch". 

Rigv.  7,87,2:  (Vartoia!)  ätmä  te  väto  rajct  ä  navinot.  — 
10,168,4:  (VätaJt)  ätmä  devänäm.  —  1,34,7:  ätmä  iva  vätah.  — 
10,92,13:  ätmänam,  vasyo  abhi,  vätam  arcata  (den  Wind,  der 
euer  Lebenshauch  ist). 

IL    ätman  „der  Lebenshauch". 

Rigv.  10,16,3:  svryam  cahshur  gacchatu,  vätam  ätmä  (des 
Toten).  —  1,162,20:  mä  tvä  tapat  priya1  ätmä  apiyantam  (dich, 
Opferrofs).  —  10,97,4. 8:  ätmänam  tava  pvrusha  (dein  Leben).  — 


326  V-    Geschichte  des  Ätman. 

10,121,2:  (Prajapati  ist)  ätmadä,  baladd.  —  1,73,2:  (Agni) 
ätmä  iva  gevo  didhishäyyo  bhüt.  —  Auch  übertragen:  9,85,3: 
(du,  Soma)  ätmd  Indrasya  bhavasi.  —  8,3,24:  ätmd  pitus  (der 
Trank  ist  mir  Lebenshauch).  —  10,107,7:  dakshinä  —  yo  nci 
ätmd. 

Atharvav.  19,27,8:  pränena  ätmanvatdm  jiva!  —  5,5,7:  (o 
Arundhati),  väto  ha  ätmd  babhüva  te  (dein  Lebenshauch).  — 
7,111,1:  ätmd  devänäm  uta  mänushänäm  (asi).  —  9,4,10:  (o 
Stier)  Tvashtur,  Väyoh  pari  ätmä  te  äbhritah.  —  16,3,5:  Bri- 
haspatir  me  ätmd. 

Väj.  Samh.  19,48:  ätmasani,  prajäsani,  pagusani. 

III.    ätman  „Lebenshauch,  Seele,  Selbst". 

Rigv.  10,33,9:  na  devänäm  ati  vratam  gatdtmä  cana  jtvati.  — 
1,149,3:  Agni  ist  catätmä  (hundert  Leben  schenkend).  —  9,98,4: 
rayim  gatätmänam.  —  Der  Soma  ist  9,2,10.  9,6,8:  ätmd  yajna- 
sya  (die  Seele,  des  Opfers).  —  7,101,6:  tasmin  (Parja?iye)  ätmd 
jagatas  tastlmshac  ca.  —  1,115,1 :  süryo  ätmd  jagatas  tasthushag 
ca.  —  1,164,4:  bhümya'  asur,  asrig ,  ätmä  kva  svidf  —  1,116,3: 
naubhir  ätmanvatibhir  (mit  Schiffen,  die,  wunderbarerweise, 
beseelt  waren).  —  1,182,5:  yuvam  (o  Acvin's)  etam  ca/crathuh 
sindhusliu  plavam  ätmanvantam.  —  9,74,4:  ätmanvad  nabho 
(wohl  die  Kuh  als  beseelte  Wolke). 

Atharvav.  4,10,7:  tad  (kriganam^  Perlmutter)  ätmanvac 
(beseelt)  carati  apsu  antali.  —  14,2,14:  ätmanvati  urvarä  ndrl 
iyam  (das  Weib  ist  ein  beseeltes  Ackerland).  —  4,25,1:  yau 
ätmanvad  vigathah  (die  ihr  in  alles  Beseelte  eingeht).  —  Seele 
im  Gegensatz  zum  Leibe:  1,18,3:  yat  te  ätmani,  tanvdm  gho- 
ram  asti.  —  5,6,11 — 14:  sarvätmä,  sarvatanüh.  —  16,1,3:  ätma- 
düshis,  tanüdüshis  (seeleverderbend,  leibverderbend). 

Taitt.  Samh.  1,1,10,2:  sam  ätmä  tanuvä  mama.  —  Taitt. 
Samh.  2,3,11,1:  ätmd  (neben  gariram,  raso,  väg~).  —  Qatap.  Br. 
14,3,2,5:  Agnir  vai  sarveshäm  devänäm  ätmä,  etc. 

IV a.  ätman  „das  Selbst,  die  eigene  Person,  der  eigene 

Leib". 

Rigv.  9,113,1:    (Indra   durch   den  Soma)    balam   dadhänci 
ätmani.  —  1,163,6:   ätmänam  te  (dein  eigenes  Selbst,  o  Rofs, 


Bedeutungen  von  ätman.  327 

im  Gegensatz  zu  Striegel,  Huftritten,  Zügel)  manasä  äräd 
ajänäm.  —  10,163,5.  6:  yakshmam  sarvasmäd  ätmanas  tarn  idam 
vi  vrihämi  te  (aus  deinem  ganzen  Leibe). 

Atharvav.:  „Das  Selbst,  die  eigene  Person"  (oft 
zum  pronomen  reflexivum  verblafst):  9,5,30:  ätmänam  (mich 
selbst),  pitaram,  putram.  —  5,29,6  —  9:  ätmanä,  prajayä.  — 
8,2,8:  ätmanä  (an  seiner  Person)  bhujam  agnutäm.  —  9,5,31 — 36: 
bhavati  ätmanä.  —  19,33,5:  ätmanä  mä  vyathishthäs  (Gegensatz: 
anyän).  —  12,2,34:  priyam  pitribhycC ,  ätmane,  brahmäbhyah 
krinuta.  —  7,57,1 :  yad  ätmani  tanvo  me  virishtam  (was  an  mir 
von  meinem  Leibe  verrenkt  ist).  —  11,5,15:  sväd  adhi  ätma- 
nah.  —  12,3,54:  yathä  vida1  ätman  anyavarnäm  (tanvam).  — 
19,48,5:  te  na''  ätmasu  jägrati,  te  nah  pacushu  jägrati.  —  Blofses 
pronomen  reflexivum  5,9,7:  sa  ätmänam  ni  dadhe.  —  16,7,5: 
yo  asmän  dveshti,  tarn  ätmä  dveshtu,  yam  vayam  dvishmah,  sa 
ätmänam  dveshtu.  —  4,20,5:  mä  ätmänam  apagühathäs.  — 
6,16,2:  yas  tvam  ätmänam  ävayah.  —  8,6,13:  ye  ätmänam  ati- 
mätram  ahsa?  ädhäya  bibhrati  (ihr  eigenes  Selbst).  —  12,4,30: 
ävir  ätmänam  krinute.  —  19,17,1  — 10:  tasmai  ätmänam  pari- 
dade.  —  4,18,6.  12,1,10:  ätmane.  —  15,10,2:  creyänsam  ätmano.  — 
7,53,3:  ätmani  (an  dir).  —  9,1,11 — 13.  16:  ätmani  (an  mir).  — 
9,6,21:  ätman  juhoti.  —  11,5,22:  ätmasu.  — ■  5,9,8:  ätmasadau 
(in  mir  wohnend,  präna  und  väc).  —  5,18,2:  ätmaparäjita, 
durch  sich  selbst  besiegt.  —  Mehr  und  mehr  deutlich  nimmt 
dann  ätman  die  Bedeutung  des  eigenen  Leibes  an,  so  nament- 
lich, wo  es  nicht  nur  im  Gegensatz  zu  Dingen  der  Aufsenwelt, 
sondern  auch  des  eigenen  Lebenshauches  (jetzt  präna  genannt) 
steht.  6,53,2:  punah  pränah,  punar  ätmä  na?  aitu,  punag  cak- 
shuh,  punar  asur  nci  aitu.  —  3,29,8:  mä  aham  pränena,  mä 
ätmanä,  mä  prajayä  vi  rädhishi.  —  3,15,7:  sa  nah  prajäsu, 
ätmasu,  goshu,  präneshxi  jägrihi.  —  7,67,1 :  punar  mä  aitu  indri- 
yam,  punar  ätmä,  dravinam  brähmanam  ca.  —  19,51,1:  ayuto 
''harn;  ayuto  me  ätmä,  ayutam  me  cakshur,  ayutam  me  grotram, 
ayuto  me  präno,  \juto  me  'päno,  ryuto  me  vyäno,  3yuto  ''harn 
sarvah.  —  11,8,31 :  atha  asya  itaram  ätmänam  (aufser  cakshuh, 
pränah')  deväh  präyacchan  agnaye.  —  12,3,30:  adbhir  ätmänam 
abhi  sam  sprigantäm.  —  12,3,51:  kshatrena  ätmänam  pari  dhä- 
payäthas.    —    5,29,5:    ätmano   jagdham    yatamat    Pigäcaih.    — 


V.    Geschichte  des  Atman. 

9,8,9:  yakshmodhäm  antar  ätmanah.  —  4,12,2:  (was  verletzt, 
gebrochen,  gequetscht)  te  ätmani.  —  15,1,2:  Prajäpatih  suvar- 
nam  atman  apacyat.  — 

Brähmana's.  a.  „Das  Selbst,  die  eigene  Person". 
Qatap.  Br.  9,1,1,33:  tata"1  eva  etad  ätmänam  apa-uddharate  ji- 
vätvai,  tathä  u  ha  anena  ätmanä  sarvam  äyur  eti.  —  11,1,1,7: 
ätmani  eva  etat  prajäyäm  pacushu  pratitishthati.  —  10,4,2,3 :  ha- 
tham  nu  aham  eva  eshäm  sarveshäm  bhütänäm  punar  ätmä  syämf — 
6,6,4,5:  daivo  vd^  asya  esha  ätmä,  mänusho  ''yam.  b.  Blofses 
pronomen  reflexivum.  Taitt.  Br.  1,7,1,5:  Prajäpatir  ätmano 
devatä  niramimita.  —  3,10,11,1 :  haccid  dha  m'  asmäd  lohät  pretya 
ätmänam  (sich  selbst)  veda,  aayam  aham  asmi»  iti.  —  Ait.  Br. 
2,3,9:  sarväbhya'  eva  tad  devatäbhyo  ya^amänd  ätmänam  nish- 
krinite.  —  6,27,5:  ätmasamskritir  väva  gilpäni,  chandomayam 
vä'  etair  yajamänd!  ätmänam  samskurute  (er  weiht  sein  Selbst, 
sodafs  es  nur  aus  Hymnen  besteht).  —  Qatap.  Br.  10,4,2,22: 
Sa  aikshata  Prajäpatih:  trayyäm  väva  vidyäyäm  sarväni  bhii- 
täni;  hanta  trayim  eva  vidyäm  ätmänam  abhimmskaravail  iti.  — 
10,5,1,5:  rinmayam,  yajurmayam,  sämamayam  ätmänam  samsku- 
rute (er  weiht  sein  Selbst,  sodafs  es  nur  aus  Ric,  Yajus, 
Säman  besteht;  nicht  wie  Oldenberg,  Buddha  S.  30,  übersetzt: 
„aus  Hymnus,  Spruch  und  Lied  besteht  des  Atman  Natur".)  — 
c.  „Der  eigene  Leib".  Taitt.  Samh.  5,5,8,3:  apätmä  amushmin 
lohe  bhavati,  .  .  sätmä  amushmin  lohe  bhavati.  —  patap.  Br. 
3,8,3,37:  so  asya  hritsno  amushmin  lohe  ätmä  bhavati.  —  11,2,2,6: 
eshä  ha  vä'  asya  ähutir  amushmin  lohe  ätmä  bhavati.  —  10,5,3,3 : 
tad  idam  manah  srishtam  ävir  abubhüshat,  niruhtataram,  mür- 
tataram,  tad  ätmänam  anvaicchat  (wünschte  einen  Leib).  — 
6,7,1,21:  manasi  hi  ayam  ätmä  pratishtliitah.  —  Taitt.  Samh. 
7,5,25,1:  samvatsara"1  ätmä  (acvasya  medhyasya).  —  Väj.  Samh. 
11,20:  ätmä  antarihsham  (acvasya).  —  Catap.  Br.  4,6,1,1:  Prajä- 
patir vä'  esha  yad  ancuh;  so  asya  esha  ätmä  eva.  —  7,2,2,20: 
ho  hi  tad  veda,  yävanta'  ime  antar  ätman  pränäh  ?  —  10,3,5,7  = 
13,3,8,4:  cahshushä  hi  ayam  ätmä  carati.  —  6,2,1,24:  madhye 
hi  ayam  ätmä,  abhitah  pränäh.  —  7,3,1,2:  tasmäd  ayam  ätman 
präno  madhyatah.  —  4,2,2,1:  so  asya  esha  sarvam  eva;  sarvam 
hi  ayam  ätmä  (denn  dieser  Leib  ist  sein  Ganzes). 


Bedeutungen  von  atman.  329 

Va.    atman    „der    Rumpf"    (Gegensatz:    angäni    „die 

Glieder"). 

Väj.  Samh.  19,93:  angäni  atman  bhishajau  tad  Äqvinau 
(samadhätäm).  —  Catap.  Br.  1,3,2,2:  ätmana?  eva  imdni  sarväni 
angäni  prabhavanti  (nicht:  „aus  dem  Atman  heraus  kommen 
alle  diese  Glieder  zum  Dasein",  wie  Oldenberg,  Buddha  S.  26, 
übersetzt).  —  7,1,1,21  und  8,7,2,13:  ätmänam  agre  samchä- 
dayati;  ätmä  hi  eva  agre  sambhavatah  sambhavati;  atha  dakshi- 
nam  pakshäm,  atha  puccham  etc.  (falsch  1.  c.  S.  26  und  noch- 
mals S.  30:  „von  dem,  was  da  wird,  wird  zuerst  der  At- 
man"!). —  12,2,4,8:  plavata1  iva  hi  ayam  angais,  tishthati  iva 
ätmanä.  —  12,2,3^6:  yatra  va'  ätmä,  tad  angäni,  yatra  angäni, 
tad  ätmä  etc.  —  7,2,2,8:  sa  va?  ätmänam  eva  vikrishati,  na 
paksha-pucchäni.  —  9,5,2,16:  ätmä  vai  yajnasya  yajamänah, 
angäni  ritvijah. 

IVb.    atman  „das  Selbst,  das  Wesen". 

Ebenfalls  aus  der  Bedeutung  III.  des  Wortes  atman  als 
„Lebenshauch,  Seele,  Selbst"  entspringt  eine  Fortent- 
wicklung desselben  in  gerade  entgegengesetzter  Richtung, 
sofern  sie,  weit  entfernt,  sich  in  das  Körperliche  und  Grob- 
materielle zu  verlieren,  von  dem  Begriffe  des  atman  den  letzten 
Rest  der  Materialität  abstreift  und  darunter  nicht  mehr  den 
Lebenshauch,  die  Seele  als  Princip  des  Lebens,  sondern  rein 
abstrakt  „das  Selbst"  als  das  eigentliche,  innerste,  von  einer 
Sache  unabtrennbare  „Wesen"  derselben  versteht,  mag  es 
sich  nun  um  andre  Dinge  oder  das  eigene  Selbst  dabei 
handeln.  Ersteres  dürfte  dabei  das  Frühere  sein;  denn  das 
Auge  sieht  alles  andre  eher  als  sich  selbst,  und  so  mochte 
man  jene  Abstraktion  des  reinen  Wesens  einer  Sache  zuerst 
an  andern  Dingen  üben,  bis  man  dann  lernte,  sie  auch  in 
Bezug  auf  das  eigene  Ich  zu  machen. 

Hier  ist  zunächst  nochmals  das  Wort  aus  dem  Dirgha- 
tamas-Liede  Rigv.  1,164,4  zu  erwähnen  (oben  S.  109), 

bhümyä'  asur,  asrig,  ätmä  kva  svid? 


330  V.    Geschichte  des  Ätman. 

welches ,  indem  es  in  steigender  Dringlichkeit  nach  dem 
Lebenshauche,  dem  Blute,  dem  Selbste  der  Erde  (d.h. 
der  Welt)  fragt,  gleichsam  prophetisch  die  ganze  folgende 
Entwicklung  überschaut.  —  Von  Einzelwesen  gebraucht  findet 
sich  ätman  auch  noch  Rigv.  10,97,11:  ätmä  yakshmasya  nagyati, 
wo  vom  ätman,  Wesen,  des  Yakslima,  einer  auszehrenden 
Krankheit,  die  Rede  ist;  Atharvav.  8,7,9  heifsen  die  Pflanzen 
udaka-ätmänas,  „deren  Wesen  aus  Wasser  besteht",  und  Athar- 
vav. 9,6,38  wird  gelehrt,  was  zu  thun  sei  yajnasya  sätmatväya, 
„damit  das  Opfer  wesenhaft"  d.  h.  real,  wirksam  werde.  Das 
Opfer  wird  dann  auch,  im  Sinne  und  Stile  der  Brähmana's 
Catap.  Br.  14,3,2,1:  sarveshäm  vä"1  esha  bhütänärn,  sarveshäm 
devänäm  ätmä  yad  yajnas,  für  das  Wesen  aller  Geschöpfe  und 
Götter  erklärt;  und  Catap.  Br.  2,2,2,8  heifst  es,  Götter  und 
Dämonen  seien  anfangs,  weil  sterblich,  anätmänas  wesenlos, 
ohne  innere  Realität  gewesen.  Hierher  gehört  auch  das  öfter 
vorkommende  ätmanvat  „wesenhaft",  in  Stellen  wie:  Taitt. 
Br.  2,1,6,1:  Prajäpatir  akämayata,  ätmanvad  nie  syad!  iti;  — 
Atharvav.  13,1,52:  (Rohitah)  cakära  vicvam  ätmanvad;  —  11,2,10: 
tava  (Pacupate)  idam  sarvam  ätmanvad;  10,2,32  =  10,8,43:  tas- 
min  (im  Herzen)  yad  yaksham  ätmanvat;  —  10,8,2:  Skamblui' 
idam  sarvam  ätmanvat. 

Bald  lernte  man  diese  Abstraktion  auch  auf  das  eigene 
Ich  anwenden  und  sprach  von  einem  ätman,  Selbst,  im  Unter- 
schiede vom  Leibe  und  den  psychischen  Organen.  Athar- 
vav. 5,9,7:  süryo  me  cakshur,  vätah  präuo ,  antariksham  ätmä, 
prithivi  gariräm;  —  5,1,7:  asur  ätmä  tanuas  tat  sumadguh. 
An  diesen  beiden  Stellen  wird,  wie  es  scheint,  der  Ätman  vom 
Leibe  (gariram,  tanu)  und  Leben  (präna,  asur)  ausdrücklich 
unterschieden.  Andre  Stellen  sind,  bei  der  Vieldeutigkeit 
des  Wortes  ätman,  zweifelhaft.-  In  diesen  Zusammenhang 
dürfen  wir  denn  wohl,  wenn  auch  zweifelnd,  zwei  schon  von 
Oldenberg  citierte  Stellen  aufnehmen,  während  wir  die  fünf 
übrigen,  von  ihm  für  die  Entwicklungsgeschichte  des  Atman 
(Buddha  S.  26—30)  verwerteten  Citate  (es  sind  £atap.  Br.  1,3,2,2. 
4,5,9,8.  7,1,1,21  =  8,7,2,13.  10,5,1,5)  als  mifsverstanden  ableh- 
nen mufsten  (oben  S.  328— 329  und  173—174).  Catap.  Br.  4,2,3,1 
(vgl.  oben  S.  299):    „Der  Ukthya  (eine  Grahaspende)  ist  sein 


Bedeutungen  von  ätman.  331 

imbenannter  Lebenshaiich  (präna,  mit  den  Känva's  zu  lesen), 
und  der  ist  sein  Atman;  denn  der  Ätman  ist  dieser  unbenannte 
Lebenshauch;  dieser  ist  seine  Lebenskraft  (äyur)LL.  (Sogleich 
darauf  freilich  4,2,3,3  ist  ätman  wieder  der  Leib).  Nicht 
sicherer  ist  die  zweite  Stelle  Catap.  Br.  11,2,1,2:  „denn  zehn 
Lebenshauche  (pränäh)  sind  im  Menschen,  und  der  Atman  ist 
der  elfte,  in  welchem  jene  Lebenshauche  gegründet  sind". 
Als  gesichert  dürfen  wir  festhalten,  dafs  man  allmählich  anfing, 
von  allen  physischen  und  psychischen  Organen  den  Atman, 
das  eigentliche  Selbst,  zu  unterscheiden,  welches  man  dann 
bald  als  vijnänam,  bald  als  manas  zu  fassen  suchte:  Catap. 
Br.  10,3,5,13:  „denn  die  Wonne  ist  sein  Bewufstsein,  ist  sein 
Selbst  (ätman)'-'-;  : —  3,8,3,8:  „zuerst  beträufelt  er  das  Herz  (des 
Opfertieres);  denn  das  Herz  ist  der  Atman,  nämlich  das  Manas, 
und  das  Opferschmalz  ist  der  Prcma;  damit  also  legt  er  in 
den  Atman,  in  das  Manas,  den  Pränä." 

Vb.    ätman  „das  Wesen  des  Menschen  und   der  Welt". 

Nachdem  man  den  Atman  von  allen  Lebensorganen  zu 
unterscheiden  gelernt  hatte,  so  geschah  nun  der  letzte  grofse 
Schritt  dadurch,  dafs  man  der  ganzen  Natur,  in  deren  Göttern 
man  schon  längst  die  eigenen  Lebensorgane  wiedergefunden 
hatte  (das  Auge  in  Sürya,  den  Odem  in  Väyu  u.  s.  w.),  nun 
auch,  wie  den  Organen  im  eigenen  Ich,  einen  Atman  unterlegte 
und  diesen  entsprechend  mit  dem  eigenen,  individuellen  Atman 
identifizierte.  Vorbereitet  war  dieser  Schritt  von  lange  her 
durch  die  Entwicklung,  welche  die  Begriffe  Prajäpati,  Purusha, 
Brahman  durchlaufen  hatten,  in  denen  wir  nun  schon  so  oft 
den  Atman  durchschimmern  sahen,  dafs  uns  hier  nur  übrig 
bleibt,  die  wesentlichen,  entscheidenden  Momente  zusammen- 
zufassen. 

1)  Prajäpati  war  ein  persönlicher  Gott,  der  jedoch  die 
Welt  nicht  aufser  sich  schuf,  sondern  sich  selbst,  nach  einem 
Teile,  in  die  Welt  umwandelte,  um  dann  in  dieses  sein  eigenes 
Selbst  als  Erstgeborner  (Hiranyagarbha)  einzugehen.  Daher 
eine  von  dem  allerdings  späten  Taittiriya-äranyakam  citierte 
Dichterstelle  sagt  (1,23,  den  Zusammenhang  siehe  oben, 
S.  196—198): 


332  V".    Geschichte  des  Atman. 

Die  "Welten  bauend,  die  Wesen  bauend, 
Die  Zwischenpole  bauend  und  die  Pole, 
Prajäpati,   der  Ordnung  Erstgeborner, 

Ging   mit    dem   eignen    Selbst   (ätmanä)   ins    eigne    Selbst 

(ätmänam)  ein. 

Wenn  das  Äranyakam  hinzufügt:  „Der  durchdringt  diese 
ganze  Welt,  der  umschliefst  sie  und  geht  in  dieselbe  ein,  wer 
solches  weifs",  —  so  zieht  es  von  seinem  Upanishadstandpunkte 
eine  Konsequenz,  die  vorher  schon  im  Anschlufs  an  jenes 
Dichterwort,  dasselbe  umformend,  der  Dichter  des  Tadeva- 
Liedes  (Väj.  Samh.  32,11,  vgl.  Taitt.  Ar.  10,1,  v.  19,  oben  S.  294) 
gezogen  hatte,  wenn  er  von  dem  Weisen  sagt: 

Umwandelnd  alle  Wesen,  alle  Welten, 
Umwandelnd  alle  Gegenden  und  Pole, 
Drang  durch  er  zu  der  Ordnung  Erstgebornem, 
Ging    ein  mit    seinem  Selbste   (ätmanä)  in  das  Selbst  (ät- 
mänam) er. 

2)  Vom  Purusha  war  schon  Rigv.  10,90,13 — 14  gelehrt 
worden,  dafs  sein  Manas  zum  Monde,  sein  Auge  zur  Sonne, 
sein  Mund  zu  Indra  und  Agni,  sein  Odem  zum  Winde,  sein 
Nabel  zum  Luftraum,  sein  Haupt  zum  Himmel,  seine  Füfse 
zur  Erde,  seine  Ohren  zu  den  Himmelsgegenden  geworden 
seien.  Diese  Auseinandersetzung  mochte  befriedigen,  solange 
man  den  Menschen  als  ein  Kompositum  aus  Manas,  Auge, 
Mund,  Odem,  Nabel,  Haupt,  Füfsen,  Ohren  betrachtete. 
Sobald  man  jedoch  anfing,  in  der  S.  330  fg.  besprochenen 
Weise  von  allen  diesen  Lebensorganen  den  Atman  zu  unter- 
scheiden, —  sobald  man  anfing  zu  fragen  (wie  es  später  des 
Ritabhäga  Sohn  Brih.  Up.  3,2,13  thut),  „wenn  der  Mensch 
stirbt  und  seine  Rede  eingeht  zum  Feuer,  sein  Odem  zum 
Winde,  sein  Auge  zur  Sonne,  sein  Manas  zum  Monde,  sein 
Ohr  zu  den  Himmelsgegenden,  sein  Leib  zur  Erde,  sein  Rumpf 
zum  Äther,  wenn  seine  Haare  in  Kräuter,  sein  Haupthaar  in 
Bäume,  sein  Blut  und  Same  in  Wasser  verwandelt  wird,  — 
wo  ist  dann  der  Mensch?"  —  so  lag  es  nahe,  ebenso  in 
betreff  des  Weltpurusha  zu  fragen  (wiewohl  wir  keinen  Beleg 
dafür  haben):  als  seine  Glieder  in  die  Weltteile  umgewandelt 


Das  Brahman  als  Ätman.  333 

wurden,  wo  blieb  er  da  selbst?  —  und  die  Folge  mufste  sein, 
dafs  man,  wie  den  Körperteilen  die  Weltteile,  so  dem  indivi- 
duellen Atman  einen  kosmischen  Ätman  entsprechen  liefs  und 
gleichsetzte.  Die  älteste,  uns  bewufste,  Stelle,  in  der  dies  zu 
geschehen  scheint,  ist  die  schon  oben  S.  178  fg.  besprochene 
Libationsformel  an  Mrityu,  Taitt.  Br.  3,10,8,  nach  welcher  Agni 
in  meiner  Rede,  Väyu  in  meinem  Odem,  Sürya  in  meinem 
Auge,  der  Mond  in  meinem  Manas,  die  Himmelsgegenden  in 
meinen  Ohren,  die  Wasser  in  meinem  Samen,  die  Erde  in 
meinem  Leibe,  die  Kräuter  und  Bäume  in  meinen  Haaren, 
Inclra  in  meiner  Kraft,  Parjanya  in  meinem  Haupte,  Icäna  in 
meiner  Zornmütigkeit,  und  so  auch  der  Ätman  in  meinem 
Atman  beruht.  (Hiefse  hier  ätman  „Rumpf",  so  würde  es 
wohl,  wie  oben,  Brih.  Up.  3,2,13,  mit  äkäga  oder  antariksham 
parallelisiert  werden.) 

3)  Das  Brahman  ist,  wie  wir  S.  241  fg.  entwickelten, 
die  „Anschwellung"  und  Erhebung  des  Gemütes  über  den 
Individuaistand,  in  der  uns  unser  wahres,  metaphysisches, 
göttliches  Selbst  zum  Bewufstsein  kommt  (in  der  Kindheit 
der  Völker  zu  einem  besondern,  der  Individualität  gegenüber- 
stehenden Individuum  hypostasiert,  zu  dem  man  redet).  Dieses 
Bewufstsein  der  Wesensidentität  des  Menschen,  vor  allem  des 
Brahmanen,  mit  dem  Brahman  sprach  sich  in  dem  schon  oben 
S.251fg.  mitgeteilten  Liede  aus,  in  dem  es  hiefs(Taitt.Br.2,8,8,9): 
die  Götter,  die  WTelten  seien  von  Brahman  erzeugt,  die  Ksha- 
triya's  von  ihm  gebildet  worden,  hingegen:  bralvma  brähmana' 
dtmanä,  „der  Brahmane  ist  Brahman  durch  sein  eigenes 
Selbst".  Dem  entsprechend  wird  Catap.  Br.  11,5,6,9  dem- 
jenigen, der  das  Brahmanopfer,  d.  h.  das  Vedastudium  betreibt, 
verheifsen:  „er  wird  fürwahr  von  dem  Wiedertode  befreit,  er 
geht  ein  mit  dem  Brahman  zur  Wesensgemeinschaft  (sa- 
ätmatä)LL.  —  Man  fühlte,  wie  Stellen  dieser  Art  bekunden, 
dafs  man  im  Brahman  nur  das  eigene  Selbst  nach  seiner  gött- 
lichen Seite  hin  besafs.  Aber  man  besafs  es  in  ritueller  Hülle 
und  war  bemüht,  dieselbe  abzustreifen.  Wir  sahen,  wie  in 
dem  freisinnigern  Atharvaveda  in  den  Hymnen  auf  Ucchishta 
und  Skambha  diese  Unbefriedigtheit  sich  äufserte.  Die  Dichter 
derselben    stehen    auf   dem    Standpunkte    der    Brahmanlehre, 


334  V~.    Geschichte  des  Atman. 

streben  aber  zu  einer  tiefern  Fassung  des  Brahman;  sie  fragen 
nach  dem  „Rest",  welcher  bleibt,  wenn  man  alles,  auch  das 
Rituelle,  abgestreift  hat,  und  auf  dessen  Verwirklichtsein  im 
eigenen  Selbst  dunkel  durch  das  tan  mayi  hingedeutet  wird 
(oben  S.  307),  —  sie  fragen  nach  dem  „Stutzer",  auf  dem 
Purusha,  Brahman,  Parameshthin,  Prajäpati  beruhen  (S.  312), 
und  dem  als  dem  höchsten  Brahman  die  Verehrung  zu  zollen 
ist,  —  und  die  volle  Antwort  darauf  giebt  der  Schlufsvers 
der  Skambha -Lieder,  er  ist  die  erste  und  älteste  Stelle,  die 
wir  kennen,  in  der  rückhaltlos  der  Atman  als  Weltprincip 
proklamiert  wird,  Atharvav.  10,8,44: 

Begierdelos,  treu,  ewig,  durch  sich  selbst  nur, 
Genufsdurchsättigt,  keinem  unterlegen,  — 
Wer  diesen  kennt,   der  fürchtet  nicht  den  Tod  mehr, 
Den  weisen,  alterlosen,  jungen  Atman! 

—  Und  bald  ergriif  diese  grofse  Erkenntnis  auch  die  Kreise 
der  Orthodoxie;  man  glaubt,  die  Prätension  durchzufühlen, 
mit  der  sie  diese  Lehre  als  ihr  Privilegium  in  Anspruch 
nahm,  in  den  schon  oben  (S.  263)  mitgeteilten  "Worten,  Taitt. 
Br.  3,12,9,7: 

Durch  den  die  Sonne  scheint,  durch  Glut  entzündet, 
Der  Yater  wird  durch  jeden  Sohn,  der  geboren, 
Nur  wer  den  Veda  kennt,  versteht  den  grofsen 
Allge  gen  wärt 'gen  Atman  beim  Hinscheiden. 

Er,   der  als  Grofsheit  einwohnt  dem  Brahmanen, 
Wird  nicht  vermehrt  durch  Werke,  noch  vermindert. 
Das  Selbst  ist  sein  Pfadfinder,  wer  ihn  findet, 
Wird  durch   das  Werk  nicht  mehr  befleckt,  das  böse. 

Ist  die  Lesart  tasya  eva  dtmd  padavit  richtig  (Catap.  Br. 
14,7,2,28  =  Brih.  Up.  4,4,23  hat  freilich  tasya  eva  syät  padavit}, 
so  liegt  darin  der  wertvolle  Gedanke,  dafs  der  individuelle 
Atman  der  „Pfadfinder"  des  höchsten  Atman  ist  (vgl.  Brih. 
Up.  1,4,7).  Die  Identität  -beider  wird,  wie  in  den  Upani- 
shad's  unzähligemal ,  so  z.  B.  auch  schon  ausgesprochen  in 
den  Versen,  Taitt.  Ar.  3,11,1: 


Erreichung  des  Upauishad  -  Standpunktes.  335 

Der  in  uns  wohnt   als  Menschenregierer, 

Der  einer  ist,  vielfach  verbreitet, 

In  dem   des  Himmels  hundert  Lichter  eins  sind, 

In  welchem  auch  die  Yeden  alle  eins  sind, 

In  dem  auch  alle  Opferpriester  eins  sind, 

Der  ist  das  geistigartige  Selbst  (mänasina1  ätmä)  der  Menschen! 

Eine  schöne  Stelle  verwandten  Inhalts,  die  unter  dem 
Namen  Qivasamkalpa  auch  unter  den  Upanishad's  Aufnahme 
gefunden  hat,  befindet  sich  Väj.  Samh.  34,1 — 6: 

1.  Der  göttliche,  der  in  die  Ferne  schweifet 

Beim  Wachenden,   der  auch  im  Schlafe  schweifet, 
Fernwandernd,  das  alleine  Licht  der  Lichter, 
Der  Geist  sei  mir  von  freundlicher  Gesinnung! 

2.  Durch  den  werktüchtig  ihre  Werke  Weise 
Beim  Opfer  und  der  Festversammlung  üben, 
Der  als  vorzeitlich  Wunder  wohnt  im  Menschen, 
Der  Geist  sei  mir  von  freundlicher  Gesinnung! 

3.  Der  als  Bewufstsein,  Denken  und  Entschliefsen , 
Der  als  unsterblich  Licht  verweilt  im  Menschen, 
Ohn'   dessen  Zuthun  keine  Hand   sich  reget, 
Der  Geist  sei  mir  von  freundlicher  Gesinnung! 

4.  Der  diese  Welt,  Vergangenheit  und  Zukunft, 
Der  alle  Dinge  in  sich  schliefst,  unsterblich, 
Durch  den  das  Opfer  flammt  mit  sieben  Priestern, 
Der  Geist  sei  mir  von  freundlicher  Gesinnung! 

5.  In  dem  die  Ric's,   die  Säman's  und  die  Yajus' 
Befestigt  sind  wie  Speichen  in  der  Nabe, 
Dem  eingewebt  alles,  was  Menschen  denken, 
Der  Geist  sei  mir  von  freundlicher  Gesinnung ! 

6.  Der,  wie  ein  guter  Lenker  seine  Rosse, 
Die  Menschen  wie  an  Zügeln  sicher  leitet, 

Im  Herzen  fest  und  doch  des  Schnellen  Schnellstes, 
Der  Geist  sei  mir  von  freundlicher   Gesinnung! 


Wir  sind  am  Ziele   eines   langen,    schwierigen   und,   bei 
dem  Charakter  der  Brähmana's,   nicht  selten  dunkeln  Weges 


336  V-    Geschichte  des  Atman. 

angelangt  und  haben  nur  noch  die  Stelle  zu  kennzeichnen, 
in  der  in  den  Brähmana's  zum  erstenmal  mit  voller  Deutlich- 
keit der  ganze  Grundgedanke  der  Upanishad's,  die  Identität 
des  individuellen  mit  dem  höchsten  Atman,  oder,  wenn 
man  letztern  mit  Brahman  bezeichnen  will,  die  Identität 
des  Atman  mit  dem  Brahman,  der  Seele  mit  Gott, 
zum  Ausdrucke  kommt.  Es  ist  dies  die  Qändilya-vidyä,  die 
wir  aus  Catap.  Br.  10,6,3  schon  oben  S.  264  mitteilten.  Indem 
wir  ihr  hier  zum  Vergleiche  die  Form  gegenüberstellen,  in 
der  sie  innerhalb  der  Upanishad's  Chänd.  Up.  3,14  erscheint, 
nehmen  auch  wir  Abschied  von  dem  dunkeln,  noch  so  wenig 
durchwanderten  Urwalde  der  Brähmana's  und  betreten  die 
sonnige  Hochebene  der  Upanishad's  mit  ihrer  Rundsicht  über 
Welt  und  Leben,  —  der  höchsten,  welche  Indien  zu  bieten 
vermag. 

Chänd.  Up.  3,14. 

„«Gewifslich,  dieses  Weltall  ist  Brahman;  als  Tajjaldn  [in  ihm 
werdend,  vergehend,   atmend]   soll  man  es  ehren  in  der  Stille. 

Fürwahr,  aus  Willen  (Jcratn)  ist  der  Mensch  gebildet;  wie 
sein  Wille  ist  in  dieser  Welt,  darnach  wird  der  Mensch,  wenn  er 
dahingeschieden  ist;  darum  möge  man  trachten  nach  [gutem] 
Willen ! 

Geist  ist  sein  Stoff,  Leben  sein  Leib,  Licht  seine  Gestalt;  sein 
Ratschlufs  ist  Wahrheit,  sein  Selbst  die  Unendlichkeit  [wörtlich: 
der  Äther];  all  wirkend  ist  er,  allwünschend,  allriechend,  allschmeckend, 
das  All  umfassend,  schweigend,  unbekümmert:  —  dieser  ist  meine 
Seele  (atman)  im  innern  Herzen,  kleiner  als  ein  Reiskorn,  oder 
Gerstenkorn,  oder  Senfkorn,  oder  Hirsekorn,  oder  eines  Hirsekornes 
Kern;  —  dieser  ist  meine  Seele  im  innern  Herzen,  gröfser  als  die 
Erde,  gröfser  als  der  Luftraum,  gröfser  als  der  Himmel,  gröfser 
als  diese  Welten.   — 

Der  Allwirkende,  Allwünschende,  Allriechende,  Allschmeckende, 
das  All  Umfassende,  Schweigende,  Unbekümmerte,  dieser  ist  meine 
Seele  im  innern  Herzen,  dieser  ist  das  Brahman,  zu  ihm  werde 
ich,  von  hier  abscheidend,  eingehen.  —  Wem  dieses  ward,  fürwahr, 
der  zweifelt  nicht ! » 

Also  sprach   Cändilya,   Cändilya."    — 


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