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ALLGEMEINE
GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE.
ERSTER BAND, ERSTE ABTEILUNG.
ALLGEMEINE
GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE
MIT
BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DER RELIGIONEN.
Von
Dr. PAUL DEUSSEN
PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT KIEL.
ERSTER BAND, ERSTE ABTEILUNG:
ALLGEMEINE EINLEITUNG UND PHILOSOPHIE DES VEDA
BIS AUF DIE UPANISHAD'S.
LELPZLG :
F. A. BROCK HAUS.
1894.
OÜOO
TÖ5
Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.
VORREDE.
JMannigfach und widersprechend, wie über so viele Dinge,
sind die Ansichten der Menschen über Bedeutung und Wert
der allgemeinen Geschichte der Philosophie; und während
manche in ihr die eine, allen gemeinsame, ewige Wahrheit
erblicken, wie sie, vom Spiegel des Genius anders und wieder
anders reflektiert, in immer neuer und immer interessanter
Beleuchtung erscheint, — so ist für andere die Geschichte
der Philosophie ganz oder doch zum gröfsten Teile nicht viel
mehr als ein Repertorium von allerlei vormaligen Irrgängen
der menschlichen Vernunft, welches sie, als einen nutzlosen
und beschwerlichen Ballast, am liebsten wohl ganz über Bord
werfen möchten, hätte ihnen nicht die Natur für so manches,
was ihnen versagt wurde, einen um so gröfsern Respekt
eingepflanzt für alles, was Geschichte heifst. Dafs aber so
viele blofs dieses historische Interesse an der Geschichte der
Philosophie nehmen, das liegt zum Teil an der Art, wie die-
selbe bisher zur Darstellung gebracht worden ist. Zwar, wem
ein für allemal nur das Auge gegeben ist, mit dem man
YI Vorrede.
das Pferd, nicht auch dasjenige, mit dem man die Pferdheit
sieht*, dem dürfte selbst ein Plato redivivus vergeblich zu
helfen bemüht sein; aber vieles kann doch geschehen, um
den Nebel, der von Geburt an auf unser aller Augen liegt,
zu heben, sodafs wir nicht mehr die Dinge blofs empirisch,
das heifst von dem höchst einseitigen Observatorium unseres
Intellektes aus, betrachten, sondern zu einem Standpunkte
geführt werden, von welchem aus wir Intellekt und Natur in
ihrem Gegeneinanderarbeiten beobachten können, — worauf
im Grunde alle Philosophie hinausläuft. Dafs dieser Stand-
punkt, welcher uns über die einseitige Betrachtungsweise des
Intellektes erheben will, zugleich doch immer (von Zuständen
wie yoga, ex.cxa.Gic, unio mystica abgesehen) in gewissem Sinne
ein solcher des Intellektes bleiben mufs, darin liegt die un-
sägliche Schwierigkeit aller Metaphysik, und auf ihr beruht
es, dafs es gerade bei den gröfsten Philosophen da, wto sie
uns in das innerste Adyton ihrer Weisheit einführen wollen,
— so dunkel wird. Aber wo viele Lichter zusammenkommen,
da wird viel Licht, und hiermit ist für die Geschichte der
Philosophie eine grofse und lohnende Aufgabe angedeutet,
von deren Lösung wir noch weit entfernt sind. Oder dürfen
wir uns rühmen, einen Piaton, einen Kant wirklich verstan-
den zu haben, so lange wir an den Ideen, an dem „Ding an
sich" mit Kopfschütteln vorübergehen ? Hier und überall ist
es mit dem fleifsigen Zusammentragen, Sichten und Ver-
knüpfen der Nachrichten nicht gethan, — noch weniger frei-
lich mit einem blofsen Reflektieren, Zerfasern, Raisonnieren,
— das alles ist im besten Falle nur [j.ut]<J(.s , über die hinaus
* 'Qaiztp 'AvTiaüte'vTqs, o's tcote nXatam Sialu.<pt(jßY)Twv ,,w IIXflcTtov" !'<pt]
„I'tctcov fj.lv opco, iTC7toTY)Ta öe ouy_ opw". — Kai 8s etrcsv „1'x.ei? M-£v ü "t:tco;
opaxac toöe to o(X}xa, co Se iimönQ; äsupetrat ovSe'-co xe'xTTqaai". (Simplic.
in Arist. Categ., scholia ed. Brandis p. 66 b 46.)
Vorrede. VII
wir zur hzoiuzda, zu einem innern Schauen gelangen müssen,
und es ist das nächste und dringlichste Ziel aller Geschichte
der Philosophie, uns dahin zu bringen, dafs wir die Natur
der Dinge, die äufsere wie die innere, gleichsam mit den
Augen jedes einzelnen Philosophen anschauen lernen.
Steigt herab in meiner Augen
Welt- und erdgemäfs Organ!
Könnt sie als die euern brauchen;
Schaut euch diese Gegend an!
— so ruft es uns dann aus der Geschichte der Philosophie von
allen Seiten zu, und wenn die Aussicht aus der Zelle des
Pater Seraphicus anders ist als aus der des Pater Profundus,
Pater Ecstaticus und Doctor Marianus, so ist es doch eine
und dieselbe Gegend, welche sie von so verschiedenen Stand-
punkten aus betrachten. So ist es auch die eine und mit
sich einstimmige Natur der Dinge, auf welche sich alle Philo-
sophen, je origineller sie sind (d.h. je mehr sie es ver-
dienen, dafs eine Geschichte der Philosophie sich mit ihnen
beschäftigt), um so unmittelbarer beziehen; und wenn
sich die verschiedenen Weltanschauungen derselben nicht so-
fort, wie die photographischen Aufnahmen der nämlichen
Gegend von verschiedenen Standpunkten aus, zum einheit-
lichen Bilde der ewigen philosophischen Wahrheit zusammen-
schliefsen, so beruht das wesentlich nur darauf, dafs die
Fläche des Bewufstseins , welche das Bild aufzunehmen hat,
bei keinem Philosophen von Haus aus eine tabula rasa, son-
dern stets (je später und je gelehrter der Philosoph ist, um
so mehr) mit allerlei Traditionen aus dem jedesmaligen Volks-
bewufstsein, der Religion, der vorhergehenden Philosophie
beschrieben ist, mit welchen sich dann die ursprünglichen,
auf Autopsie beruhenden Erkenntnisse, so gut und so schlecht
es manchmal gehen will, zum Ganzen eines Systems zu ver-
VIII Vorrede.
binden pflegen. Dafs hierdurch für die kritische (das Hete-
rogene von einander sondernde) Betrachtungsweise hei jedem
Philosophen eine Scheidung zweier Elemente, des originellen
und des traditionellen, und eine Abschmelzung des letztern
als hlofser Schlacke geboten ist, damit das reine Gold echter,
ursprünglicher Erkenntnis von allen Seiten zusammenströmend
sich verbinde und aus der Geschichte der Philosophie die
philosophische Wahrheit selbst, soweit sie für Menschen er-
reichbar ist, von überallher uns entgegenstrahle, — das ist
in der Einleitung vorläufig auseinandergesetzt worden, und
im übrigen wird abzuwarten sein, inwieweit sich in der Aus-
führung diese Betrachtungsweise als fruchtbar erweisen wird.
Auch dafür wollen wir der Ausführung selbst die Recht-
fertigung überlassen, dafs wir viel mehr, als es bisher in der
Geschichte der Philosophie zu geschehen pflegte, auch die
Lehren der Religionen in den Kreis unserer Betrachtung
ziehen werden, nicht nur sofern sie, wie bekannt, in mannig-
facher Beziehung zur Philosophie stehen, sondern auch weil sie,
innerlich und nach Abstreifung des mythischen Gewandes
betrachtet, selbst Philosophie sind. Denn, was die Urheber
derselben ursprünglich inspirierte, das war, so kraus und bunt
verbrämt es auch oft in den Dogmen auftritt, ein sehr Reales,
innerlich Erlebtes und Geschautes, — war, wenn man so will,
eine Offenbarung, welche, als eine und dieselbe in allen Zeiten
und Ländern, aus den Abgründen unseres Innern uns ent-
gegenquillt, und wir würden vielfach gerade auf das Beste
von dem, was wir suchen, verzichten müssen, wollten wir das
religiöse Element von unserer Betrachtung ausschliefsen ; —
ganz abgesehen davon, dafs überall, in Indien, Griechenland
und der Neuzeit, der lebenskräftigste und fruchtbarste der
Schöfslinge, aus denen die Philosophie erwachsen ist, im
Boden der Religion emporsprofs, ja, dafs bis zur Gegenwart
Vorrede. IX
hin die neuere Philosophie, im Guten wie im Schlimmen,
kaum weniger unter dem Einflüsse der religiösen als der
philosophischen Tradition steht, sodafs jeder Versuch, den
gegenwärtigen Zustand der Philosophie aus seinen Wurzeln
zu begreifen, fast ebenso sehr auf Jesus und Paulus wie auf
Piaton und Aristoteles zurückleitet.
Eine weitere Neuerung in unserer Behandlung der all-
gemeinen Geschichte der Philosophie besteht darin, dafs wir
der westasiatisch-europäischen (griechischen, christlichen und
neuern) Philosophie, deren Darstellung erst im zweiten Bande
des Werkes unternommen werden soll, in einem ersten Bande
die ostasiatische d. h., der Hauptsache nach, die indische
Philosophie als die einzige wirkliche Parallele zu ihr, welche
die Geschichte der Menschheit aufzuweisen hat, gegenüber-
zustellen gedenken. Wer hierin eine ungerechte Bevorzugung
sehen wollte, der wäre vielleicht daran zu erinnern, dafs In-
dien zunächst schon als Land ebenso grofs ist wie das ganze
philosophierende Europa zusammengenommen, dafs ferner die
Inder früher als die Europäer über die Rätsel des Daseins
nachzudenken begonnen und damit durch alle Jahrhunderte
hindurch bis zur Gegenwart hin fortgefahren haben, dafs aber,
was die Intensität des philosophischen Interesses betrifft, das
durch so viele andere Dinge in Anspruch genommene Europa
mit Indien schwerlich einen Vergleich aushalten dürfte. In-
wieweit freilich auch ihrem innern W^erte nach die indische
Philosophie verdient, dem ganzen Komplex der abendlän-
dischen Gedankenwelt oder auch nur einem Teile derselben
gleichberechtigt zur Seite gestellt zu werden, das ist zur Zeit
noch nicht zu entscheiden und wird sich jedenfalls um so
besser beurteilen lassen, je eingehender jenes bisher so sehr
vernachlässigte Kapitel aus der Geschichte des menschlichen
Geistes einmal zur Darstellung gebracht wird. Zwar ist das
X Vorrede.
indische Denken in der Art seines Auftretens wie in seinen
Grundbegriffen auf den ersten Blick von dem unsern so sehr
abweichend, dafs viele Fernerstehende sogar Bedenken tragen,
den Namen der Philosophie auf dasselbe anzuwenden; aber
gerade in dieser völligen Verschiedenheit und Unabhängig-
keit von der abendländischen Denkweise liegt der Hauptwert
der indischen Philosophie für uns, die wir am klassischen
Altertum und an der Bibel grofsgezogen sind, und es wird
abzuwarten sein und ist bis jetzt in keiner AVeise voraus-
zusehen, ob und inwieweit nicht ein vollständiges und zu-
reichendes Bekanntwerden indischer Weisheit in dem reli-
giösen und philosophischen Denken des Abendlandes nach
und nach eine nicht so sehr die Oberfläche wie gerade die
letzten Tiefen berührende Umwälzung zur Folge haben wird.
— Wer Gelegenheit gehabt hat, mit indischen Denkern und
Gelehrten der Gegenwart persönlichen Verkehr zu pflegen,
der wird durch nichts so sehr überrascht gewesen sein wie
durch die Wahrnehmung, dafs sie, trotz Scharfsinn, Tiefsinn
und ausgebreitetem Wissen, sich oft in den engsten und ein-
seitigsten Auffassungen befangen zeigen, ohne sich doch
dessen bewufst zu sein. Wer weifs, ob nicht eine ähnliche
Einseitigkeit und Enge auch uns und allen den überlieferten
Begriffen, in denen wir aufgewachsen sind, anhaftet, und ob
wir nicht, wenn auch in anderer Art, von den Indern ebenso-
viel lernen können wie sie von uns? — Befrage ich meine
eigene Erfahrung, so glaube ich nicht irre zu gehen, wenn
ich die vielfach veränderten und, wie ich denke, vertieften
Anschauungen, unter denen (falls mir die Ausarbeitung des
zweiten Bandes vergönnt sein sollte) die griechische, biblische
und neuere Philosophie erscheinen wird, zum nicht geringen
Teile der Freiheit gegenüber den ererbten Vorstellungen ver-
danke, welche mir aus der längern Beschäftigung mit der
Vorrede. XI
wesentlich anders gearteten Gedankenwelt der Inder er-
wachsen ist. Diese letztere selbst nach ihrem geschichtlichen
Zusammenhange zur Darstellung zu bringen, das wird die
nächste, dem ersten Bande zufallende Aufgabe sein, von wel-
chem in den nachfolgenden, die Philosophie des Veda bis zu
den Upanishad's hin behandelnden Bogen nur der erste, aber
vielleicht doch in mancher Hinsicht der schwierigste Teil
vorliegt, sofern in demselben mehr als irgendwo sonst alles
erst von Grund aus zu gestalten war. Zwar fehlt es nicht
ganz an Vorarbeiten auf diesem Gebiete, aber dieselben
konnten keine erhebliche Hülfe gewähren, da selbstverständ-
lich alles aus den ursprünglichen Quellen zu schöpfen war,
diese aber vielfach in einem andern Lichte erscheinen, sobald
man die Dinge nicht mehr, wie bisher, vereinzelt, sondern in
ihrem natürlichen Zusammenhange auffafst. Die gebührende
Rücksicht auf die Leistungen der Vorgänger wird man, denke
ich, nirgendwo vermissen; hingegen schien mir eine ein-
gehendere Polemik sowie die Aufnahme neuer, noch nicht
hinreichend bewährter Hypothesen in einem Werke von so
allgemeiner Bestimmung, wie es das vorliegende werden soll,
nicht am Platze zu sein. Namentlich hielt ich es für ange-
messen, in unserer kurzen Skizze der vedischen Mythologie
für jetzt beim Herkömmlichen zu bleiben, ohne dafs damit
dem Gärungsprozesse, welcher in diesem Gebiete neuerdings
eingetreten ist, seine Berechtigung abgesprochen werden soll.
Mit Dank habe ich zwei handschriftliche Stellensammlungen
benutzt: die eine, von Professor Weber für das Petersburger
Wörterbuch angefertigte, aber dort nicht vollständig ver-
wertete, über die Begriffe Prajäpati und Brahmcm, die andere
von Professor Oldenberg über wichtige Stellen des Qaia-
pathahrähmanam. Beide machten mich, neben dem schon
Bekannten, welches sie enthielten, doch auf manche Stelle
XII Vorrede.
aufmerksam, die ich sonst vielleicht übersehen haben würde.
Im übrigen war ich auf meine eigenen Erinnerungen und Ex-
cerpte angewiesen und hoffe, dafs mir nichts für die Sache
Wesentliches entgangen ist. Vollständigkeit wird auf diesem
Gebiete, wo die meisten Texte noch so wenig bearbeitet,
einige nur unzureichend oder noch gar nicht publiziert sind,
so bald nicht zu erreichen sein. Es wird daher wohl jeder
Kenner des Veda aus dem Kreise seiner Lektüre der Sam-
hitä's und BrähmanaSs mancherlei nachzutragen wissen, und
es empfiehlt sich, für derartige Zwecke das Buch mit Papier
durchschiefsen zu lassen. Dafs dadurch die von mir auf-
gestellten Grundanschauungen wesentlich modifiziert werden
sollten, glaube ich nicht befürchten zu müssen; und zwar
darum nicht, weil der grofse innere Zusammenhang, in wel-
chem hier zum erstenmal die ältesten Philosopheme der
Inder erscheinen, von mir nicht künstlich gemacht worden
ist, sondern sich, so wie das eine Stück zum andern kam,
ganz von selbst eingestellt hat. Vielfach sind es freilich
blofse Keime und Ansätze philosophischer Gedanken, die hier
vorliegen, und zur vollen Geltung werden sie erst kommen
können, wenn auch die Fortentwicklung derselben zur Blüte
in den Upanishad's und zur Frucht in den philosophischen
Systemen sich daran anschliefsen wird. Bis dahin werden
indessen wohl noch einige Jahre verstreichen, da ich vorher
meine seit langer Zeit vorbereitete deutsche Übersetzung der
Upanishad's nebst Einleitungen zu veröffentlichen gedenke.
Schliefslich sei noch bemerkt, dafs das Buch, trotz dem
hin und wieder unvermeidlichen Eingehen auf philologische
Dinge, doch so eingerichtet ist, dafs es (namentlich mit Hülfe
des am Schlüsse des ersten Bandes zu liefernden Index) in
allem Wesentlichen auch dem weitern Kreise aller Freunde
der Philosophie verständlich sein wird. Für die Mühe aber,
Vorrede. XIII
über dieses und jenes Nebensächliche hinweglesen zu müssen,
werden dieselben nicht unbelohnt bleiben. Denn jeder, der
für die philosophische Betrachtungsweise der Dinge Ver-
ständnis und Liebe besitzt, wird auch das erste kindliche
Lallen des philosophierenden Menschengeistes, wie es uns
aus den Mantra's und Brähmana's des Veda entgegentritt, mit
teilnehmender Freude und nicht ohne eigene Förderung ver-
nehmen.
Kiel, im September 1894.
P. D.
AUSSPEAOHE.
Ia indischen Wörtern ist
c, cli wie tscli, tsclili
j, jli wie clscli, dsclili
zu sprechen; also: Pfadschäpati, Vc'ttsch u. s. w.
c. ist ein mittlerer Laut zwischen s (stets scharf) und sli ( = seh).
Die Betonung richtet sich, wie im Lateinischen, nach der Quantität
der vorletzten Silbe; ist dieselbe lang, so hat sie den Accent, ist sie
kurz, so liegt er auf der drittletzten Silbe (e und o sind stets lang).
Nach der von uns befolgten Schreibweise sind alle Wörter auf a
Maskulina, alle auf ä Feminina, alle auf am Neutra: der Vedänta,
die Mimänsä, das Särikhyam (sc. darganam).
IMALTSÜBEKSIGHT.
Seite
Vorrede V
EINLEITUNG.
I. Begriff der Philosophie 1
IL Vorläufige Übersicht . 6
III. Quellen und Methode 22
ERSTER TEIL: DIE PHILOSOPHIE DER INDER.
EINLEITUNG ZUR PHILOSOPHIE DER INDER.
I. Vorbemerkung über den Wert der indischen Philosophie ... 35
II. Land und Leute 37
III. Perioden der indischen Philosophie 40
IV. Die philosophische Litteratur der Inder. (Episodisch: Der
Prasthäna-bheda des Madhusüdana-Sarasvath) ... . . 44
V. Der Veda und seine Teile G4
ERSTE PERIODE DER INDISCHEN PHILOSOPHIE.
DIE HYMNENZEIT.
I. Die altvedische Kultur 72
II. Die altvedische Religion 77
III. Der Verfall der altvedischen Religion und die Anfänge der
Philosophie 95
1. Zweifel und Spott 95
2. Aufdämmern des Einheitsgedankens 103
3. Das Einheitslied des Dirghatamas, Rigv. 1,164 105
4. Der Schöpfungshymnus, Rigv. 10,129 119
IV. Das Suchen nach dem „unbekannten Gotte" 127
1. Der Prajäpati- Hymnus, 10,121 128
2. Die Hymnen an Vigvakarman, 10,81.82 134
3. Die Hymnen an Brahmanaspati 141
Anmerkung. Die Hymnen über die Väc, 10.125.71 . . 14(3
4. Der Hymnus an den Purusha, Rigv. 10,90 150
XVI Inhaltsübersicht.
ZWEITE PERIODE DER INDISCHEN PHILOSOPHIE.
DIE BRÄHMANAZEIT.
Seite
I. Die Kultur der Brähmanazeit 159
II. Die Brähmana's als philosophische Quellen 172
III. Geschichte des Prajäpati 181
1. Prajäpati als Schöpfer 181
2. Prajäpati als Erhalter und Regierer 191
3. Versuche, den Prajäpati aus einem noch hohem Princip
abzuleiten 194
4. Versuche, den Prajäpati durch Umdeutung zu beseitigen . 204
5. Anhang zur Geschichte des Prajäpati: Die Hymnen
des Atharvaveda an Kala, Rohita, Anadvän, Vacjä. . . 209
IV. Geschichte des Brahman bis auf die Upanishad's 239
1. Die Bedeutungen des Wortes Brahman 240
2. Brahmanaspati und Brahman 248
3. Brahma prathamajam, das Brahman als Erstgebornes . . 250
4. Brahma svayambhu, das durch sich selbst seiende Brahman 259
5. Anhang zur Geschichte des Brahman: Die Hymnen
des Atharvaveda über Brahman und den Brahmaeärin 264
V. Geschichte des Ätman (und der verwandten Begriffe, Purusha und
Präna) bis auf die Upanishad's 282
1. Etymologie und Bedeutung des Wortes ätman 285
2. Der Purusha 288
3. Der Präna 294
4. Suchen nach einer noch schärfern Fassung des Princips:
Ucchishta und Skambha als Anzeichen desselben. . . . 305
5. Der Ätman 324
EINLEITUNG.
I. Begriff der Philosophie; Unmöglichkeit, eine andere als eine
Idealdefinition derselben aufzustellen. Sie ist, der Hauptsache
nach, das Suchen nach dem Ding an sich.
Die Geschichte der Philosophie ist die Geschichte einer
Reihe von Gedanken über das Wesen der Dinge,
welche im Laufe der Jahrhunderte im Oriente und Occidente
in einer Anzahl überlegener Köpfe aufgetreten sind und, von
ihnen mitgeteilt, in engeren oder weiteren Kreisen Verständnis,
Beifall und Verbreitung gefunden haben. Der Historiker hat
sich zunächst mit diesen Gedanken selbst, dann aber auch
mit der Einwirkung derselben auf die Menschheit zu be-
schäftigen.
Eine Definition der Philosophie, welche das philo-
sophische Denken gegen die übrige Gedankenwelt abgrenzte
und dabei allen Erscheinungen, von denen die Geschichte der
Philosophie zu reden hat, gleichmäfsig gerecht würde, läfst
sich nicht aufstellen, da der Begriff der Philosophie von den
verschiedenen Systemen verschieden bestimmt wird, indem oft
die einen ausdrücklich einschliefsen, was von den andern ebenso
ausdrücklich ausgeschlossen wird.
In Indien fehlt es für unsere Disciplin sogar an einem
gemeinsamen Namen; hingegen bedeuten die Namen der
hauptsächlichen Systeme, wie Mimansä (Forschung), Sänkhyam
(Spekulation), Nyäya (Analysis), ein jeder für sich ungefähr
das, was wir unter Philosophie verstehen, woraus zu folgen
Deussen, Geschichte der Philosophie. I. 1
2 Einleitung.
scheint, dafs diese Systeme ursprünglich unabhängig von
einander entstanden sind und nicht, wie die meisten abend-
ländischen Systeme, in der historischen Abfolge einer zu-
sammenhängenden Tradition, durch welche mit der Sache
zugleich der Name von dem Vorgänger auf den Nachfolger
überliefert wurde.
Auch die ältesten Systeme der griechischen Philosophie
sind ungefähr gleichzeitig und im wesentlichen unabhängig
von einander an verschiedenen Punkten der griechischen Welt
aufgetreten. Auch sie entbehren daher noch des gemeinsamen
Namens, indem das Wort Philosophie (mag dasselbe auch
schon früher von Pythagoras u. a. gelegentlich gebraucht
worden sein) doch erst herrschend wurde und werden konnte,
seit durch Sokrates eine gemeinschaftliche Grundlage geschaffen
worden war, von der sich alle nachfolgenden Philosophen
mehr oder weniger abhängig fühlten.
Das seit Sokrates und Piaton allgemein gebräuchliche
Wort Philosophie, „Liebe zur Weisheit", befafst ursprünglich
alle Wissenschaften; ja noch etwas mehr; denn Weisheit
(cocpia) ist Wissenschaft (sTutaT^ix-r]) mit dem Nebenbegriffe
eines bestimmten Einflusses auf das allgemeine Verhalten des
Menschen in geistiger und sittlicher Hinsicht. Seitdem ist
der Begriff der Philosophie von den einzelnen Systemen sehr
verschieden bestimmt worden; die einen waren geneigt, alle
Wissenschaften unter der Philosophie zu befassen, während
die andern einen Teil derselben ausschlössen; die einen be-
tonten den rein theoretischen Charakter der Philosophie,
während die andern gerade auf das aus der Beschäftigung
mit der Philosophie abfliefsende praktische Verhalten den
Hauptnachdruck legten.
Trotz dieser und anderer Differenzen, welche es unmöglich
machen, eine für alle im Verlaufe der Geschichte aufgetretenen
Systeme gleichmäfsig gültige Definition der Philosophie auf-
zustellen, läfst sich doch gleichwie ein roter Faden durch die
ganze Geschichte der Philosophie hindurch eine gewisse Über-
einstimmung in betreff der Aufgaben und Ziele der Philosophie
erkennen, welche in den aus jeder Verdunkelung immer wieder
in den Vordergrund tretenden Sätzen gipfelt,
I. Begriff der Philosophie. 3
1) elafs die Philosophie, unbeschadet der Selbständigkeit
der aus ihr abgezweigten empirischen Wissenschaften, sich
nicht wie diese auf ein einzelnes Gebiet der Natur einschränken
läfst, sondern, nach jedem Versuche einer solchen Ein-
schränkung, immer wieder das Gesamtgebiet alles seiend
Vorn" an denen als ihr Objekt in Anspruch nimmt; und
2) dafs sie den gesamten, von der äufsern und innern
Erfahrung dargebotenen und von den empirischen Wissen-
schaften durchgearbeiteten Stoff, mithin die Gesamtheit der
empirischen Realität, mag dieselbe noch so hell vor unsern
Augen daliegen, ansieht als etwas, was noch der weitern
Erklärung bedarf, als ein Problem, welches eine Lösung
fordert und damit über sich selbst hinausweist. Daher die
auffallende und allen durchgeführten philosophischen Systemen
gemeinsame Eigentümlichkeit, dafs sie es für nötig finden,
ein Princip aufzustellen, aus dem sie dann in mannigfacher
Weise bemüht sind, das Dasein der Welt und ihrer Er-
scheinungen zu begreifen. Als ein solches Princip der
Welt er klär ung erscheint z. B. im Vedänta der Atman, im
Sänkhyam Prakriti und Purusha, bei Lao-tsee das Tao; bei
den altern Joniern, wie auch bei Heraklit und den von ihm
abhängigen Stoikern, ein materieller Urstoft, bei den Pytha-
goreern die Zahl, bei den Eleaten das Seiende; bei Empedokles
die vier Elemente nebst yüla. und vstxoc, bei Anaxagoras der
voOr und die 6;xo!.o;j.sp'?i, bei Demokrit und Epikur die Atome.
Sokrates, als Analytiker, hat kein System und somit auch
kein Princip aufgestellt. Bei Piaton und Aristoteles erscheint
als solches die Idee, bei den Neuplatonikern das sv, bei den
Philosophen der christlichen Zeit bis auf Cartesius und Spi-
noza Gott. Locke als Analytiker ist ohne Princip, hat aber
Anlafs gegeben zum Materialismus, welcher als Princip die
Materie ansieht, aus der er alle Erscheinungen erklären zu
können glaubt. Das Princip der leibnizischen Philosophie ist
die Monade. Kant stellt kein Princip der Welterklärung
auf, weist aber durch seine Zerlegung des Erfahrungsinhaltes
in das Apriorische und Aposteriorische auf das beiden zu
Grande liegende, wenn auch unerkennbare „Ding an sich"
als Princip hin. Fichte glaubt das ausreichende Princip der
1*
4 Einleitung.
Welterklärung im Ich zu finden; Schelling erneuert in gewissem
Sinne das Princip des Spinoza, Hegel das des Piaton und Ari-
stoteles, Herbart das des Leibniz, während Schopenhauer das
kantische Ding an sich als Wille entziffert und aus dessen
beiden Polen die Welt und die Überwelt ableitet.
Alle diese Bemühungen, so mannigfach sie sind, stimmen
doch darin überein, dafs sie das Dasein der Welt und ihres
Inhaltes betrachten als etwas, was sich nicht von selbst ver-
steht, sondern, auch nach allen Aufhellungen durch die empi-
rischen Wissenschaften, noch der Erklärung bedarf, und
dafs sie ein Princip aufstellen, aus welchem sie das Dasein
der Welt zu begreifen bestrebt sind.
Hiernach läfst sich, wenn auch nicht eine historische
Definition, die allen bisher aufgetretenen Systemen im ein-
zelnen konform wäre, so doch eine Ideal-Definition der
Philosophie aufstellen, d. h. eine solche, welche das Ziel be-
zeichnet, auf welches alle philosophischen Bemühungen aller
Zeiten und Länder gerichtet waren, wenn auch ein klares
Bewufstsein über diese eigentliche Aufgabe der Philosophie
erst im Verlaufe ihrer Geschichte selbst sich herausgebildet
hat und noch zu bilden im Begriffe ist. Diese Ideal-Definition
wird zwar nicht so weit sein, um alle Irrgänge der Philosophen
der Vergangenheit zu befassen, wohl aber wird sie als Mafs-
stab dienen können, um aus der Gesamtheit der als Philosophie
aufgetretenen Gedanken diejenigen hervorzuheben, welche als
die wahrhaft wertvollen und fruchtbaren sich in der Folge
erwiesen haben und noch weiter erweisen werden.
Somit begreifen wir die Philosophie als eine Wissen-
schaft, welche sich von allen übrigen, d. h. von allen empi-
rischen Wissenschaften vornehmlich durch zwei Merkmale
unterscheidet :
erstlich: während alle empirischen Wissenschaften bestrebt
sind, einen bestimmten Teil des Erfahrungskomplexes zu
erforschen, so bezieht sich die Philosophie auf die Gesamt-
heit alles dessen, was seiend vorhanden ist, und wenn
sie auch (aus Gründen, die sogleich erhellen werden) in erster
Linie den Phänomenen der innern Erfahrung (von denen die
Psychologie mit ihren Zweigen: der Logik, Aesthetik und
I. Begriff der Philosophie. 5
Ethik, handelt) ihre Aufmerksamkeit zuwendet, so giebt es
doch auch keinen Teil der äufsern Natur, welcher aufserhalb
ihres Bereiches läge;
zweitens: während alle empirischen Wissenschaften sich
damit begnügen, das thatsächlich Vorhandene zu beobachten
und zii beschreiben, zu ordnen und aus seinen Ursachen zu
erklären, so wurzelt Philosophie von je her in dem, wenn
auch zuerst nur undeutlichen, dann aber immer klarer hervor-
tretenden Bewufstsein, dafs durch alle diese Bemühungen der
empirischen Wissenschaften nie etwas anderes erkannt und
klargelegt werden könne als die äufsere Erscheinungsweise
der Dinge, gleichsam die Aufsenseite der Natur, über
welche die Philosophie, als solche, hinausgeht, indem sie ver-
sucht, in das Innere der Natur einzudringen, um das
eigentlichste, tiefste und letzte Wesen dessen, was uns in der
Gesamtheit der Natur zur Erscheinung kommt, — um „das
Selbst" (ätman) der Welt, wie der Vedänta, um „das Ding
an sich", wie Kant sagt, um, nach einem beides zusammen-
fassenden Ausdrucke Piatons, das, was „selbst an sich
selbst" (aü)TÖ xa^ aüxo) ist, zu ergründen.
Mit welchem Rechte die Philosophie von allen andern
Wissenschaften behauptet, dafs sie nur an der Aufsenfläche
der Dinge kleben, mit welchen Mitteln sie es dann weiter
unternimmt, in das innere Wesen der Natur einzudringen,
und inwieweit dieses ihr Vorgehen eine wissenschaftliche
Berechtigung hat, das alles wird sich im Verlaufe unserer
Darstellung je weiter hin um so deutlicher ergeben; hier
zu Anfang kann nur ausgesprochen werden, dafs Philo-
sophie zu allen empirischen Wissenschaften in einem ganz
bestimmten, wenn auch nicht von je her deutlich bewufsten,
Gegensatze steht: alle andern Wissenschaften sind physisch,
d. h. sie bleiben bei Betrachtung der Natur (cpijöt^) und
ihres kausalen Zusammenhanges stehen, die Philosophie
allein ist metaphysisch, nicht sofern sie (transscendent)
über die Erfahrung hinausgeht, sondern sofern sie (imma-
nent) durch dieselbe hindurchgreift, um den Kern zu er-
fassen, während alle physischen Wissenschaften bei der Schale
stehen bleiben.
6 Einleitung.
Nach dieser Auffassung ist alle Philosophie von Hause
aus und wesentlich Metaphysik, und alle andern philoso-
phischen Disciplinen sind dieser nicht nebenzuordnen sondern
als integrierende Teile einzuordnen. Als solche Zweigwissen-
schaften der Philosophie gelten vornehmlich: Psychologie,
Logik, Aesthetik und Ethik, d. h. die Wissenschaften,
welche der Bearbeitung der innern Erfahrung dienen, und
mit gutem Rechte. Denn soll die Aufgabe der Philosophie,
das innere Wesen der Natur aufzuschliefsen, überhaupt lösbar
sein, so kann sie nur von dem Punkte aus unternommen
werden, wo sich dieses Innere der Natur für uns bis zu
einem gewissen Grade öffnet, das heifst aus unserm eigenen
Innern, mit dessen Erforschung die erwähnten Zweigwissen-
schaften der Metaphysik beschäftigt sind. Die ganze Aufgabe
der Philosophie läfst sich daher auch kennzeichnen als die
Bemühung, aus der Erforschung unseres eigenen Innern die
Mittel zu gewinnen, um das innere Wesen aller andern Er-
scheinungen der Natur zu ergründen. Daher steht die Meta-
physik in unmittelbarem Zusammenhange mit den Wissen-
schaften der innern Erfahrung (Psychologie, Logik, Aesthetik,
Ethik), in mittelbarem, aber nicht weniger unzerreifsbarem
Zusammenhange mit den Wissenschaften der äufsern Erfahrung
(Mathematik und Naturwissenschaften); keine unter ihnen ist,
deren ganzes Rüstzeug nicht an seinein Orte der Philosophie
dienstbar würde, keine, die nicht von ihr als Entgelt reiche
Aufschlüsse empfinge.
II. Vorläufige Übersicht.
Eine allgemeine Geschichte der Philosophie wird nur
diejenige heifsen können, welche unsern ohnehin zeitlich und
räumlich so eingeschränkten Horizont nicht ohne Not noch
weiter verengert, sondern vielmehr bemüht ist, alle Gedanken
von Bedeutung, welche den im vorigen Abschnitte charakte-
risierten Zwecken dienen, mögen sie nun im Gewände der
Philosophie oder der Religion aufgetreten sein, soweit die-
selben irgend erreichbar sind, in den Kreis ihrer Betrachtungen
zu ziehen.
II. Vorläufige Übersicht. 7
— Ob auch auf den Sternen philosophiert wird, wissen
wir nicht und werden wir voraussichtlich nie erfahren. Aber
vielleicht verlieren wir daran weniger, als es zunächst scheinen
mag. Denn sollte wirklich (wie durchaus nicht unwahr-
scheinlich ist) auch auf andern Planeten unseres Sonnen-
systems oder auf den möglicherweise zahllos vorhandenen
Planeten anderer Sonnensysteme (soweit dieselben in der
verhältnismäfsig kurzen Übergangsperiode sich befinden, in
welcher allein sie zu Trägern organischer, lebender Wesen ge-
eignet sind) ein menschliches oder menschenartiges Geschlecht
bestehen, welches eine Kultur und als höchste Blüte derselben
eine Philosophie hervorgebracht hätte, so dürfen wir als sehr
wahrscheinlich annehmen, dafs diese Philosophie anderer
Welten in ihren wesentlichen Entwicklungsphasen und Resul-
taten mit der Philosophie unseres Planeten eine weitgehende
Übereinstimmung zeigen würde. Dafür spricht nicht nur die
wohlberechtigte Annahme, dafs dieselbe Natur der Dinge und
derselbe erkennende und denkende Intellekt dort wie hier
einander gegenüberstehen werden, sondern auch gewisser-
mafsen ein empirisches Datum, sofern wir schon hier auf der
Erde zwei parallele philosophische Entwicklungen antreffen,
die indische und die westasiatisch-europäische, welche fast so
unabhängig von einander sind, als gehörten sie verschiedenen
Planeten an, und doch in den Methoden wie in den Resul-
taten eine merkwürdige Übereinstimmung zeigen. Und so
dürfen wir denn ähnliches auch von der möglicherweise vor-
handenen Philosophie anderer Weltkörper erwarten : auch
dort wird der erkennende Geist zunächst im ungebrochenen
Vertrauen auf seine Kraft ausziehen, um die Welt zu erobern,
bis er schliefslich der ihm von Natur gesetzten Schranken
inne wird und in dem völligen Begreifen dieser Schranken
und ihrer Unübersteiglichkeit Beruhigung findet, — auch dort
wird man zunächst sich viel zu thun machen mit einer Ab-
wägung der Mittel, welche zur Befriedigung des angebornen
Triebes nach Glückseligkeit die dienlichsten sind, bis man
schliefslich begreifen wird , dafs nicht die Befriedigung
dieses Triebes, sondern ein Hinausgelangen über denselben
und eine Erlösuno; aus den von ihm sceschmiedeten Fesseln
8 Einleitung.
der empirischen Realität das höchste Ziel des Menschen
bildet.
— Welches möchte wohl der Gesamteindruck sein, den
wir von der Kultur und dem Treiben auf einem andern Pla-
neten, wäre uns dahin ein Einblick vergönnt, empfangen
würden? Vielleicht ein ähnlicher wie bei Reisen in ferne
Länder, wo wir, bei allem Wechsel der Scenerie und der
Kostüme denselben Spielern begegnend, uns im stillen ver-
wundern darüber, dafs im Grunde alles so ähnlich ist dem,
was wir zu Hause verliefsen? Vielleicht stehen die Menschen
anderer Weltkörper kaum weiter von uns ab, als hier auf Erden
der Kaukasier, der Mongole und der Neger von einander ent-
fernt sind? Denn die Natur, wie wir sie kennen, ist zwar
sehr verschwenderisch in Hervorbringung der Individuen, aber
sehr sparsam in Hervorbringung der Typen der Gattungen
und dürfte sich vielleicht nicht zweimal für alle Zeiten und
Räume den Luxus einer Schöpfung der platonischen Ideen
gestattet haben. Jedenfalls würde, wer Piatons Ideen versteht,
sich über das Auftreten gleichartiger, ja identischer Bildungen
bei völliger materieller Unabhängigkeit von einander nicht
weiter wundern. — Doch wir wollen es der Phantasie über-
lassen, für ihre hier auf Erden durch Wissenschaft immer mehr
eingeengten und doch auch nicht unberechtigten Spieltriebe sich
einen Ersatz zu schaffen in der Bevölkerung anderer Welten, —
unsere Betrachtung hat sich auf die Erde und ihre Verhält-
nisse einzuschränken.
Aber auch hier, in dem engen Räume und in der kurzen
Spanne Zeit der wenigen Jahrtausende, zu welchen die histo-
rische Erinnerung des Menschengeschlechts zurückreicht, sind
es nur einige wenige von den zahlreichen rund um den Erd-
ball angesiedelten Völkern, welche sich thätig und erfolgreich
an der philosophischen Arbeit beteiligt haben. Denn abge-
sehen etwa von den Aegyptern und Chinesen, welche
übrigens in diesem Drama nur eine Nebenrolle zu spielen
berufen waren, sind es nur zwei Völkerfamilien, welche als
Träger aller höhern Kultur, und so auch aller philosophischen
Bestrebungen erscheinen: die Semiten und die Indoger-
manen. Die geographische Lagerung dieser beiden Stämme
II. Vorläufige Übersicht. 9
gegen einander ist, der Philosophie und ihrer Entwicklung
gegenüber, selbstverständlich eine rein zufällige; — und doch
ist dieser geographische Zufall mafsgebend geworden für die
Entwicklung der Philosophie durch alle Zeiten bis auf den
heutigen Tag, und die ganze Geschichte der Philosophie würde
wesentlich anders aussehen, wäre die ursprüngliche Lagerung
der Semiten und Indogermanen gegen einander eine andere
gewesen. Wir müssen diese Verhältnisse, als grundbestimmend
für die ganze von uns zu erzählende Geschichte, etwas näher
beleuchten.
Die Semiten, d. h. nach den Hauptzweigen: die Araber,
Babylonier und Assyrer, Aramäer und Kananäer, bil-
deten, wie die Vergleichung der Sprachen beweist, ursprüng-
lich ein Volk, dessen Wiege wahrscheinlich in den Steppen-
ländern Arabiens zu suchen ist. Nur die Araber blieben der
ursprünglichen Heimat und der durch sie gebotenen noma-
dischen Lebensweise bis in späte Zeiten hinein treu, während
die übrigen Stämme, nach Norden gedrängt, auf der Halb-
insel Sinear gewisse fremde Einflüsse (wovon später) empfingen
und dann als Babylonier und Assyrer im Osten, als Aramäer
in der Mitte, als Kananäer und Phönicier im Westen das
Land östlich bis über den Tigris hinaus, westlich bis zum
mittelländischen Meere hin, nördlich bis in die Gebirge
Armeniens hinein in Besitz nahmen.
Als zweiter Hauptträger höherer menschlicher Kultur sind
zu nennen die Indogermanen, welche in ihren sieben Haupt-
stämmen als Inder und Iranier im mittleren und südlichen
Asien, als Griechen und Italiker im Süden, als Slaven,
Germanen und Kelten in den nördlichen Ländern Europas
sefshaft wurden. Dafs die Sprachen der Griechen und Römer
in einem nähern, die sämtlichen europäischen Kultursprachen
in einem entferntem Verwandtschaftsverhältnisse zu einander
stehen, war mit Händen zu greifen und von alters her bekannt,
ohne dafs man sich doch über dieses Verhältnis eine befrie-
digende Rechenschaft zu geben wufste. Aber nachdem gegen
Ende des vorigen Jahrhunderts das Sanskrit, die Sprache der
alten Inder, in Europa bekannt geworden, war es eine ebenso
grofse und folgenreiche wie naheliegende und nicht zu ver-
10 Einleitung.
fehlende Entdeckung, dafs Inder und Perser in Asien, Griechen
und Römer, Kelten, Germanen und Slaven in Europa die
Abkömmlinge eines einheitlichen Urvolkes seien, mit gemein-
samer Sprache und Religion, welchem man von den Indern
als östlichstem und den Germanen als westlichstem (bis zum
far west Amerikas reichenden) Stamme den ganz zutreffenden
Namen der Indogermanen gegeben hat. Weniger ist es bis
jetzt gelungen, sich über die ursprünglichen Wohnsitze dieses
Muttervolkes zu einigen, aber vieles (und namentlich die mit
der zunehmenden Entfernung von den ursprünglichen Wohn-
sitzen gleichen Schritt haltende Entartung der Sprache) läfst
die älteste Annahme immer noch als die wahrscheinlichste
bestehen, wonach der Ursitz der Indogermanen in Central-
asien, etwa östlich vom Aralsee, zu suchen ist. Von hier zogen
dann die Iranier und Inder nach Süden, bis auch sie, etwa
in Afghanistan, sich trennten, die Iranier, um westlich bis zu
dem durch die semitischen Stämme aufgerichteten Grenzwalle
sich auszubreiten, die Inder, um östlich durch das Kabulthal
in das Stromgebiet des Indus und weiterhin in das des Ganges
vorzudringen und dadurch von allen andern Bruderstämmen
völlig isoliert zu werden. Inzwischen waren die westlichen
Glieder der Indogermanen (vermutlich durch Südrufsland) nach
Europa gelangt, um als Griechen und Italiker den Süden
Europas einzunehmen, während die übrigen Stämme den un-
wirtlicheren Norden Europas, im Osten als Slaven, in der
Mitte (von Skandinavien bis zur Donau) als Germanen, im
Westen als Kelten in Besitz nahmen.
Hiermit und durch diese Zufälligkeiten war der Knoten
geschürzt, der für die ganze weitere Gestaltung der mensch-
lichen Kultur und mit ihr für die Entwicklung der Philosophie
mafsgebend geworden ist.
Während die Inder, von allen verwandten Stämmen ab-
geschnürt und gegen die umwohnenden niederen Stämme
sich selbst auf das strengste isolierend, rein aus sich heraus
ihre so originelle Kultur, ihre so völlig ursprüngliche und
darum für uns so wertvolle religiöse und philosophische Denk-
weise entfalteten, bildete sich in Westasien, wo alle Völker-
stämme, semitische wie indogermanische, um die Halbinsel
II. Vorläufige Übersicht. 11
Sinear als den gemeinsamen Anziehungspunkt gravitierten, ein
zweiter Kulturkreis aus, welcher, von Iran bis Aegypten rei-
chend, vorwiegend unter semitischem Einflüsse stand und als
höchstes geistiges Erzeugnis die Gedankenwelt des Alten und
Neuen Testaments hervorgebracht hat. Der dritte und letzte
(der Hauptsache nach) ursprüngliche Kulturkreis ist der der
griechischen und römischen Welt, und die schönste
Blüte desselben die Philosophie der Griechen, welche eine
Fülle der wertvollsten Gedanken entfaltete und doch mit all
dem Grofsen, was sie bot und noch heute bietet, nicht im
Stande war, den Anforderungen des Kopfes wie des Herzens
völlig zu genügen. Daher geschah es, dafs zu Anfang unserer
Zeitrechnung ein Gefühl der Leere und des Bedürfnisses in
der antiken Welt sich ausbildete, welches im allgemeinen in
der Hinneigung der römischen Kaiserzeit zu den orientalischen
Kulten seinen Ausdruck fand. Und hier war es, wo jener
geographische Zufall sich in einer für alle Folgezeit entschei-
denden Weise geltend machte. Denn als die griechisch-römische
Welt, im Gefühle der eigenen Unzulänglichkeit, Hülfe suchend
(wie der macedonische Mann, Apostelgesch. 16,9) ihre Hände
gegen Osten streckte, da verfiel sie nicht auf die ihr urver-
wandte Weisheit der Inder, sondern auf das Christentum,
welches, auf dem semitischen Stamme, wenn auch vielleicht
nur als ein Pfropfreis, erwachsen, von Jugendkraft erfüllt,
sich eben anschickte, seinen Eroberungszug in die Welt anzu-
treten. Jetzt entstand jene grofse welthistorische Verknüpfung:
wie zwei Ströme verschiedenen Wassers mischen sich die
biblische und die griechische Weisheit und erzeugen aus sich
die Weltanschauung des Mittelalters, in welchem erst
spät und nach vieler Mühe eine Verwebung der beiden hete-
rogenen Elemente zu stände kam. Aber das Bündnis war ein
unnatürliches und konnte nicht bestehen. Der menschliche
Geist gegen Ende des Mittelalters erwacht zum Bewufstsein
seiner Kraft und versucht es, die ihm vom Mittelalter ange-
legten Fesseln zu sprengen. Dieser Befreiungskampf ist die
neuere Philosophie; zuerst wird er schüchtern, dann immer
kühner geführt, bis endlich in der kantischen Philosophie die
völlige Auflösung des bisher Bestehenden, zugleich aber auch
12 Einleitung.
eine Neubegründung auftritt, welche verspricht, dem mensch-
lichen Geist in wissenschaftlicher wie in religiöser Hinsicht
die lange und vergeblich gesuchte innere Versöhnung und
völlige Befriedigung zu gewähren.
Aus dieser allgemeinen Übersicht ergeben sich naturge-
mäfs für unsere Betrachtung fünf Hauptteile:
I. Die indische Philosophie.
II. Die griechische Philosophie.
III. Die Philosophie der Bibel.
IV. Die Philosophie des Mittelalters.
V. Die neuere Philosophie.
Wir wollen versuchen, vor dem Eintreten in unsere Dar-
stellung, eine kurze Charakteristik dieser fünf Hauptteile und
ihrer Unterabteilungen zur vorläufigen und allgemeinsten Orien-
tierung zu unternehmen.
I. Indische Philosophie.
A. Altvedische Periode (ganz ungefähr anzusetzen
von 1500 — 1000 a. C). In den Hymnen des Rigveda, diesem
ältesten Denkmale indogermanischer Kultur, welches uns zum
Teil noch einen Einblick in die Genesis und Fortentwicklung
des altindischen Polytheismus gewährt, sehen wir in den
jüngsten Liedern das vedische Pantheon seinem Verfalle ent-
gegeneilen. Zweifel an der Realität der Götter, ja offener
Spott über dieselben wird laut, der mit ihnen ihre Sänger
und Priester trifft. Zugleich aber regt sich das philosophische
Bewufstsein: die Erkenntnis bricht sich Bahn und findet in
einigen Vedaliedern ihren wunderbaren Ausdruck, dafs alle
Vielheit der Götter, der "Welten und der Wesen im tiefsten
Grunde auf einer unsagbaren, unerkennbaren Einheit beruhe.
B. Jungvedische Periode (etwa 1000 — 500 a. C).
Mancherlei Versuche werden gemacht, diese Einheit näher zu
bestimmen, als Bralimanaspati, als Prajäpati, als Purusha
u. s. w., bis man nach manchen, durch gewisse Hymnen des
Rigveda und Atharvaveda und durch einzelne Texte der
Brähmana's zu verfolgenden Versuchen endlich diese Einheit
da findet, wo sie allein zu finden ist, — in dem eigenen
II. Vorläufige Übersicht. 13
Selbst. Die Identität des eigenen Selbstes (ätmari) mit der
Kraft, welche alle Welten hervorbringt, trägt und in sich
zurückschlingt (brahma?i), ist der Grundgedanke, welchen die
UpanishacVs, diese jüngsten und wertvollsten Erzeugnisse der
vedischen Litteratur, in zahlreichen Variationen vortragen.
C./ Nachvedische Periode (etwa von 500 a. C. bis
auf die Gegenwart). Aus den in den Upanishad's ausgestreuten
Keimen erwächst nebeneinander eine Reihe von Systemen,
von denen sechs als orthodox, d. h. als vereinbar mit dem
Veda, die übrigen als heterodox und ketzerisch gelten. Die
ersteren sind: 1) die Mimänsa, 2) der Vedanta, welche beide
allein im strengsten Sinne orthodox heifsen können, da sie
nichts anderes sind als die philosophische Systematisierung
zweier im Veda vorliegender, in bestimmtem Gegensatze
stehender Grundanschauungen, welche in merkwürdiger Ana-
logie zu den beiden Hauptteilen der Bibel, dem Alten und
dem Neuen Testamente stehen; 3) der Nyäya, ein System von
logischen Gesichtspunkten aus, 4) das Vaigeshikam, eine natur-
wissenschaftlich gehaltene Klassifikation der Dinge unter sechs
Kategorien, 5) das Säfhkhi/am, eine originelle, vom Veda und
Vedänta vielfach abweichende Metaphysik von atheistischer
Grundanschauung, 6) der Yoga., eine Umdeutung des Sänkhyam
im Sinne des Theismus, mit praktischer Tendenz. Neben diesen
sechs orthodoxen Systemen steht eine Anzahl heterodoxer
Systeme (im Sarvadarganasamgraha werden neun derselben
aufgezählt und besprochen); mehrere sind nichts anderes als
Zurechtlegungen der Vedäntalehre vom Standpunkte des Civa-
kultus und des Vishnukultus aus; von den übrigen sind die
bemerkenswertesten: 1) die Cärväka's, die indischen Materia-
listen, welche an Frivolität und Cynismus ihre Brüder im
Abendlande womöglich noch übertreffen, 2) die Jaina's, eine
religiöse Sekte, die Anhänger des Jina, und 3) die Baicddha's
oder Buddhisten, eine ebensolche, die Anhänger des Buddha
befassend. Die Darstellung des Lebens, der Lehre und der
Gemeinde Buddhas leitet dann von selbst hinüber zur Be-
trachtung des Landes, wo der Buddhismus, aus Indien ver-
trieben, die gröfste Zahl seiner Anhänger fand, zu China und
dem nahe verwandten Japan.
14 Einleitung.
Anbang des ersten Teiles: die Philosophie der
Chinesen. In China herrschen drei religiös-philosophische
Lehren in brüderlicher Eintracht neben einander (sein kieio, i
kia, „drei Lehren, eine Familie", wie der Chinese sagt);
diese sind:
1) die tiefsinnige Lehre des Lao-tsee;
2) die etwas nüchterne Morallehre des Kon-fu-tsee;
3) die Lehre des Fo, d. i. Buddha.
Analoge Bildungen finden sich in Japan. Von hier, vom
fernsten Osten, wenden wir uns dann mit einem grofsen
Sprunge nach Westen zu den Anfängen der griechischen
Philosophie.
II. Griechische Philosophie.
Sie durchläuft in den zwölf Jahrhunderten ihres Bestehens
drei Perioden, bei denen die räumliche und zeitliche Ausbrei-
tung mit der innern Bedeutsamkeit ungefähr in umgekehrtem
Verhältnisse steht. Diese drei, den drei Entwicklungsstadien
der griechischen Sprache und Kultur im allgemeinen parallel
laufenden, daher auch sich von selbst ergebenden Perioden sind:
1) Die vorsokratische Philosophie oder die Philo-
sophie der Stämme (im VI. und V. Jahrhundert a. C).
Im VI. Jahrhundert vor Christo sehen wir an verschiedenen
Punkten der griechischen Welt ein vorwiegend der Betrachtung
der Aufsenwelt zugewendetes, reges philosophisches Leben
sich entfalten, welches jedoch sehr bald, um 500 a. C, durch
Herahlit und Parmenides in Gegensätze auseinander getrieben
wurde, an deren Versöhnung die Philosophie im V. Jahrhundert
sich vergebens abarbeitete, bis sie in der Sophistik einer Art
Selbstauflösung verfiel.
2) Die attische Philosophie, vorwiegend beherrscht
durch die drei grofsen Persönlichkeiten des Sokrates, Piaton
und Aristoteles. Sokrates wendet sich mit aller Energie und
Einseitigkeit der Betrachtung der innern Erfahrung zu und
eröffnet damit der Philosophie dasjenige Gebiet, dessen Be-
arbeitung (wie oben, S. 6, gezeigt) ihre nächste und wich-
tigste Aufgabe ist. Piaton unternimmt auf dem Boden der
Sokratik eine universelle Zusammenfassung der bisherigen
IL Vorläufige Übersicht. 15
Philosopheme und wird dadurch der Schöpfer des ersten im
Abendlande aufgetretenen, universellen metaphysischen Systems,
in welchem namentlich die Gegensätze des Heraklit und Parme-
nides in ihrer Berechtigung anerkannt und in einer höhern Ein-
heit aufgehoben werden. Aristoteles endlich weifs die Grund-
gedanken des Piaton (nicht ohne Abschwächung) über Welt
und Leben zu verbreiten und wird dadurch der Vater einer
Reihe von Wissenschaften der äufsern und innern Erfahrung.
3) Die nacharistotelische Philosophie zieht sich vom
Tode des Aristoteles (322 a. C.) bis zur Auflösung der grie-
chischen Philosophie (529 p. C.) im weiten griechisch-römischen
Kulturkreise in immer breiterer Entfaltung hin, ist aber in
ihren verschiedenen Systemen ( Akademiker, Peripatetiker, Stoiker,
Epikureer , Skeptiker) nicht sowohl mit der Schöpfung neuer,
als mit der Zurechtschneidung und Zusammenfügung früherer
Gedanken für die Bedürfnisse eines immer gröfser werdenden
Publikums bemüht, welches dann endlich die Befriedio-uno- der
Gemütsbedürfnisse, die es vor allem suchte, in konkreterer und
fafslicherer Form als bei den Philosophen in der Annahme des
Christentums fand.
III. Die Philosophie der Bibel.
Die Entstehung des Christentums ist einer der zusammen-
gesetztesten und verschlungensten Prozesse, welche die Ge-
schichte der Philosophie kennt, und nötigt zu einer Betrachtung
des ganzen ägyptisch -westasiatischen Kulturlebens, in dessen
Schofse das Christentum erwachsen ist. Wir unterscheiden
dabei fünf, teils neben- teils nacheinander verlaufende Ent-
wicklungsphasen.
1) Religion und Philosophie der Aegypter. Ob und
inwieweit vielleicht Aegypten und seine vielgerühmte Weis-
heit in früherer oder späterer Zeit einen Einflufs auf die bib-
lische Gedankenwelt geübt habe, das wird wohl noch länger
eine offene Frage bleiben und mag jedenfalls Veranlassung
geben, das Wenige, was nach dem Stande der heutigen For-
schung über das geistige Leben im alten Aegypten mit Sicher-
heit gesagt werden kann, vor dem Eintreten in die biblische
Weltanschauuno; zusammenzufassen.
16 Einleitung.
2) Der alte Mosaismus. Unter diesem Kamen ver-
stehen wir die Weltanschauung der Hebräer wie sie, der
Tradition nach auf Mose zurückgehend, zur Zeit der Könige
und bei den Propheten die herrschende war. Aus dem allge-
mein-semitischen, bei Arabern, Assyrern und Kananäern noch
in seinen Grundzügen nachweisbaren Polytheismus sehen wir
in stufenweisem Fortschritt die Lichtgestalt des Jekovah-
glaubens sich entwickeln, welcher berufen war, eine so
grofse Rolle im geistigen Leben der Völker bis auf den heu-
tigen Tag zu spielen. Für die philosophische Betrachtung
erscheint der althebräische (anthropomorphische) Theismus als
eine sehr konsequente, aber auch sehr einseitige und mit der
Erfahrung in unversöhnbarem Widerspruche stehende Welt-
ansicht. Es ist ein eigenartiges Schauspiel, zu sehen, wie die
edleren und lebendigeren Geister unter den Hebräern schwer
an diesen Widersprüchen tragen, dagegen ankämpfen und so
das alte konsequente System an verschiedenen Punkten durch-
löchern.
3) Die iranische Weltanschauung. Eine Umwand-
lung im grofsen erfuhr der alte Mosaismus, seit die Juden,
für zwei Jahrhunderte (538 — 332 a. C.) zu Angehörigen des
Perserreiches geworden und auch weiterhin in stetiger Be-
ziehung zum Osten bleibend, die iranische Wreltansicht , wie
sie an den Namen des Zoroaster sich knüpft, näher kennen
lernten. Eine Darstellung der Zoroasterlehre ist unumo-äno;-
lieh, da ohne sie als Mittelglied- der Übergang der alttesta-
mentlichen in die neutestamentliche Weltanschauung nicht
wohl zu begreifen ist.
4) Der Judaismus ist die Weltansicht, wie sie, aus
dem alten Mosaismus unter dem Einflüsse der Zoroasterlehre
sich durch die Zeit der Apokryphen fortentwickelnd, den
Glauben der palästinischen Zeitgenossen Jesu bildete, mithin
auch von diesem selbst und seinen Jüngern von Hause aus
geteilt wurde. Es wird sich zeigen, dafs viele Gedanken Jesu
selbst nur eine lebendige Reproduktion der von Mose und
Zoroaster überkommenen und durch die vorhergehenden Jahr-
hunderte fortgebildeten Erbstücke sind.
II. Vorläufige Übersicht. 17
5) Das Christentum. Von jener Jesu mit seinen Jüngern
und übrigen Zeitgenossen gemeinsamen Weltansicht werden
dann diejenigen Gedanken sich deutlich abheben, in welchen
das eigentlich Neue der Lehre Jesu zu suchen ist, das Senf-
korn, welches später zum Baume der christlichen Idee erwachsen
sollten Diese Gedanken werden weiterhin von Paulus über-
nommen und zu dem fortentwickelt, worin die eigentliche
Grundanschauung des Christentums zu suchen ist. Ein Ein-
flufs von griechischer Seite her ist bei Jesus und Paulus nicht
zu spüren. Um so mehr bei dem dritten Hauptfaktor des
Neuen Testaments, dem Evangelium Johannis. Dasselbe weist
deutlich zurück auf die jüdisch-alexandrinische Verschmelzung
der alttestamentlichen Lehren mit Elementen der platonischen
und stoischen Philosophie, deren Hauptdenkmal heute für uns
die Schriften des Philon sind. Erst nach Darstellung des
Alexandrinismus wird es möglich sein, die universelle Zu-
sammenfassung der Lehren Jesu und Pauli mit mosaischen,
iranischen und griechischen Elementen zu verstehen, wie sie
im vierten Evangelium, dieser, wenn nicht wertvollsten, so
doch gereiftesten und einflufsreichsten Urkunde des Christen-
tums, vorliegt.
IV. Die Philosophie des Mittelalters.
Es folgt nun im geistigen Leben der Menschheit jener
merkwürdige Verschmelzungsprozefs griechischer und bibli-
scher Weisheit, oder genauer gesagt: die Projektion des
christlichen Gedankens auf der bereitstehenden und wohl-
durchgebildeten Fläche der griechischen Philosophie. Diese
Verschmelzung erfolgt in zwei Phasen, welche als Patristik
und Scholastik unterschieden werden.
1) Die Patristik und der Neuplatonismus. Die in
der Zeit der Patristik (von 200 bis 800 p. C.) erfolgende
Assimilation der christlichen Idee durch die griechisch-römische
Welt erfolgt in zwei Perioden, welche
a) von 200 bis 325 die Bildung der Grunddogmen,
b) von 325 bis 800 die Fortbildung derselben zur Dog-
niatik befassen.
Deussen, Geschichte der Philosophie. I. 2
13 Einleitung.
Gleichzeitig aber entwickelt sich seit 200 p. C. von Alexan-
clrien ans der Neuplatonismus , jene schöne Nachblute helle-
nischer Weisheit, in dem die besten Gedanken der griechischen
Philosophie, mit gewissen Elementen orientalischer Denkweise
verschmolzen, anf das Mittelalter vererbt werden, und der
dem erstarkenden und erstarrenden Kirchenglauben als ein
um so gefährlicherer Gegner erwuchs, je mehr inneres Leben
er in sich trug, und je mehr auch er denselben Herzensbedürf-
nissen entgegenkam, welchen das Christentum seinen Sieg ver-
dankt hatte.
2) Die Scholastik (800— 1400 p. C.). Wie der Patristik
die erste Bildung der Dogmen und die Fortentwicklung der-
selben zur Dogmatik, so fällt der Scholastik als Aufgabe die
Ausbildung einer Religionsphilosophie zu, welche gleichmäfsig
den Bedürfnissen des Denkens wie des Herzens Genüge leisten
soll. Diese Ausbildung erfolgt nicht ohne mannigfache Wechsel-
fälle, Kämpfe und Schwierigkeiten. In der ersten Periode
der Scholastik (800 — 1200 p. C.) treten mehrfache Ver-
suche auf, den christlichen Gedanken völlig zu begreifen, in-
dem man ihn auf Grund einer neuplatonischen Anschauung
konstruiert, und erst nachdem diese Versuche wiederholt an
dem Widerstände der immer starrer und herrischer auftretenden
Orthodoxie gescheitert sind, entschliefst man sich in der
zweiten Periode (1200 — 1400 p. C), gewisse Grundge-
danken des Christentums als Mysterien der Sphäre der Er-
kennbarkeit zu entrücken, und begnügt sich, dieselben mit
einer wesentlich auf Aristoteles fufsenden theologia naturalis
zu umrahmen, woraus dann als Hauptfrucht des mittelalter-
lichen Denkens das grofse und durchgebildete Lehrsystem
des Albertus Magnus und Thomas von Aquino hervorgeht.
Kaum aber ist in ihnen das endliche Bündnis zwischen Glau-
ben und Denken, Bibel und Aristoteles geschlossen, als auch
schon dessen Unhaltbarkeit in mancherlei Symptomen zu Tage
tritt; solche sind namentlich: der Skepticismus des Duns
Scotus, das Wiederaufblühen des Neuplatonismus in der My-
stik des Meister Eckhart und die Erneuerung des Nominalis-
mus durch William von Occam.
IL Vorläufige Übersicht. 19
Y. Die neuere Philosophie.
Dieselbe verläuft in drei deutlich unterschiedenen Perioden,
deren Grenzpunkte durch das Auftreten des Descartes und
Kants gebildet werden.
1) Übergangszeit (1400—1600). Der Befreiungskampf
von den Fesseln der Scholastik erfolgt gleichzeitig von Seiten
der Reformation, welche vom scholastisch verstandenen
Christentum auf das urkundliche Christentum der Bibel zu-
rückgreift, und von Seiten der Philosophie, welche zunächst
vom scholastischen auf den urkundlichen Aristoteles, von diesem
aber wiederum auf die Natur selbst und ihre Erforschung
zurückgeht. Der Sturz der Weltherrschaft des Aristoteles,
vorbereitet durch die Erneuerung des Piatonismus, erfolgt und
vollendet sich bis zum Jahre 1600 durch eine Selbstauflösung
innerhalb des eigenen Lagers der Aristoteliker, während gleich-
zeitig Versuche einer Neubildung seit Nicolaus Cusanus immer
dringlicher unternommen werden und um 1600 in den Lehren
des Giordano Bruno , Jacob Boehme und Bacön von Verulam
ihren genialsten, aber auch unreifen, vielfach sich selbst über-
stürzenden Ausdruck finden.
2) Von Cartesius bis auf Kant (1641 — 1781). Car-
tesius, an die Lehren des Mittelalters über Gott und Seele
anknüpfend, versucht es, denselben eine wissenschaftlich be-
gründete, logisch gegliederte Form zu geben. Hierdurch aber
gerade kommt die innere Unhaltbarkeit dieser Lehren zu
Tage, welche unaufhaltsam zu einer dem Pantheismus zutrei-
benden Fortbildung drängt, die, von Geulincx und Malebranche
angebahnt, in dem Systeme des Spinoza zur Vollendung ge-
langt, welcher die Gegensätze zwischen ausgedehnter und
denkender Substanz, Leib und Seele, dadurch aufhebt, dafs
er beide in Gott versenkt und als zwei parallel laufende
Offenbarungsweisen des göttlichen AVesens auffafst. Diese
Lösung des Spinoza war zu tief, um von seiner Zeit völlig
verstanden, zu heidnisch (pantheistisch) , um von ihr gebilligt
werden zu können. So kam Spinoza erst in der nachkantischen
Zeit, namentlich durch Schelling und Schleiermacher, vorüber-
gehend zu Ehren, als man schon Besseres haben konnte und
seiner nicht mehr bedurft hätte. Die Zeitgenossen des Spinoza
2*
20 Einleitung.
hingegen standen auch nach seinem Auftreten immer noch vor
der ungelösten Frage, wie Leib und Geist, ausgedehnte und
denkende Substanz, einander beeinflussen könnten? — Man
fing an, sich zu fragen, ob es denn überhaupt mit der Auf-
stellung zweier solcher Substanzen, deren Einwirken auf ein-
ander durch alle Bemühungen nicht hatte begreiflich gemacht
werden können, seine Richtigkeit habe, ob es nicht möglich
sei, die eine auf die andere zu reducieren? Dies konnte in
doppelter Weise versucht werden, je nachdem man realistisch
den Geist als eine Modifikation der Materie, oder ideali-
stisch die Materie als ein Geistiges begreifen zu können
glaubte. Beide Wege wurden zwischen Spinoza und Kant
betreten. Der Realismus, angebahnt durch den Locke'schen
Empirismus, führte hundert Jahre später zum französischen Mate-
rialismus, während daneben aus dem Schofse der Locke'schen
Philosophie noch zwei sehr verschiedene Früchte erwuchsen,
der Idealismus des Berkdey und der Skepticismus des Hume; —
im Gegensatz zu Locke hatte gleichzeitig Leibniz versucht,
alles Körperliche als ein Geistiges zu begreifen und war da-
durch zu einem sehr verstiegenen Idealismus gelangt, dessen
Verbreitung in einer gewissen Abschwächung Wolf sich an-
gelegen sein liefs.
So war denn unmittelbar vor Kant die Philosophie viel-
leicht mehr als je zuvor in Gegensätze aus einander getrieben
worden, zwischen denen eine Versöhnung nicht möglich schien,
und eine verzweifelnde Stimmung bemächtigte sich des denken-
den Geistes, welche der Ausgangspunkt der kantischen Unter-
suchungen wurde und in der Vorrede zur Kritik der reinen
Vernunft ihren schönen und beredten Ausdruck findet.
3) Von Kant bis auf die Gegenwart. Kant war es,
der nach so vielen Irrgängen des menschlichen Denkens die
Frage aufwarf, ob wir denn überhaupt in der menschlichen
Vernunft das geeignete Werkzeug haben, um über die Er-
fahrung hinauszugehen und über solche transscendente Objekte
wie Seele und Gott etwas Haltbares zu erforschen? — Dies
veranlafste ihn, den ganzen Apparat des Erkennens einer
Kritik und Prüfung ohnegleichen zu unterwerfen, deren
Ergebnis der klare Nachweis der Unmöglichkeit, über die
II. Vorläufige Übersicht. 21
Erfahrung hinauszugehen, und zugleich eine vernichtende
Kritik aller bisherigen Spekulationen über Seele, Weltganzes
und Gott war. Bei dieser Untersuchung des Erkenntnisver-
mögens aber machte Kant die gröfste aller Entdeckungen,
welche je in unserer Wissenschaft erfolgt ist: diese nämlich,
dafs gewisse Bestandstücke der empirischen Realität, welche
wir von Natur an ohne Bedenken der Aufsenwelt zuzählen,
als da sind: der Kaum, die Zeit und die Kausalität, in Wahr-
heit nichts anderes sind als angeborene Formen unseres Er-
kenntnisvermögens selbst. Als Folge ergab sich, dafs die
Welt, wie wir sie kennen, als eine in Raum und Zeit aus-
gebreitete und in ihrem Verlaufe durch die Kausalität ge-
regelte, in dieser Form nur Erscheinung ist und nicht
Ding an sich, nur die Art und Weise ist, wie die Dinge
uns erscheinen, nicht wie sie ihrem wahren und innern Wesen
nach sind, womit die Grundanschauung, in der alle Philosophie
von je her gewurzelt hatte (oben, S. 5 fg.), zum erstenmal
einen vollkommen wissenschaftlichen und streng erweislichen
Ausdruck fand. Das Wesen des „Dinges an sich" hielt Kant
für theoretisch unerkennbar, eröffnete aber gleichwohl in dem
zweiten, praktischen Teile seiner Philosophie einen gewissen
Ausblick auf dasselbe, indem er das moralische Handeln
zurückführte auf das uns a priori eingeborene Sittengesetz,
den „Kategorischen Imperativ", diesen aber erklärte
für das Gesetz, welches der Mensch als Ding an sich dem
Menschen als Erscheinung giebt.
Die Resultate der kantischen Philosophie waren zu neu
und tiefgehend, als dafs die unmittelbaren Nachfolger Kants,
wie sie in rascher Folge einander ablösten, ihnen schon völlig
hätten gerecht werden können. Zunächst sucht Fichte den
dunkeln Punkt der kantischen Lehre, das Ding an sich, zu
beseitigen, indem er es für einen, in dem Innern des Bewufst-
seins selbst durch das Ich gesetzten „Anstofs" erklärt; von
dieser Grundlage aus kehrt Schelling zu einer dem Spinoza
verwandten Anschauung zurück, während Hegel . aus derselben
heraus den Grundgedanken der platonisch - aristotelischen
Philosophie von der metaphysischen Dignität des Begriffes
durchzuführen versucht. Einen andern Weg geht Herbart,
22 Einleitung.
indem er das Ding an sich hinter der Erscheinung durch eine
ebenso nüchterne wie zügellose Phantastik zu konstruieren
unternimmt. Alle diese Versuche haben das Gemeinsame,
dafs sie bemüht sind, von Kant und den von ihm aufgedeckten
Schwierigkeiten leichter Hand loszukommen, ehe dieselben
noch völlig verstanden und gewürdigt worden waren. Im
Gegensatze zu ihnen ist Schopenhauer zunächst bestrebt, Kant
völlig zu verstehen und das eigentliche Fundament seiner
Lehre von der Überwucherung durch mifsverstandene Tra-
ditionen zu befreien; dann aber führt er von diesem Funda-
mente aus Kants Gedanken in der von diesem selbst ange-
deuteten Richtung weiter und zu Ende, der Art, dafs Kant
der Begründer, Schopenhauer der Vollender eines einheitlichen,
durchaus auf der Erfahrung gegründeten, durchaus mit sich
selbst übereinstimmenden metaphysischen Lehrsystemes ist,
welches in seinem praktischen Teile als ein seiner ganzen Tiefe
nach auf wissenschaftlicher Grundlage erneutes Christentum
erscheint und für absehbare Zeiten die Grundlage alles wissen-
schaftlichen und religiösen Denkens der Menschheit werden
und bleiben wird.
III. Quellen und Methode.
Alle Beschäftigung mit der Philosophie soll den Zweck
verfolgen, uns tiefer einzuführen in die Erkenntnis der Natur
der Dinge. Dieser Zweck kann auf zwei Wegen gefördert
werden. Entweder man betrachtet die Dinge selbst, wie
sie in der äufsern und innern Erfahrung uns gegeben sind,
und sucht ihren Zusammenhang inne zu werden, welcher sich
dann, je ungesuchter um so besser, zum Systeme gestalten
wird, — oder man betrachtet die Ansichten über die
Dinge, wie sie von überragenden und tiefer als wir selbst
in das Wesen der Natur blickenden Geistern ausgesprochen
sind, und sucht, von ihnen geleitet, eine Vertiefung, durch
ihre Widersprüche angeregt, eine Klärung der eigenen An-
schauungen zu gewinnen. Auch dieser letztere Weg, wenn
richtig benutzt, fördert zum Ziele hin. Hierzu aber ist
erforderlich, dafs wir uns nicht damit begnügen, die Gedanken
früherer Philosophen kennen zu lernen; wir müssen weiter
III. Quellen und Methode. 23
bemüht sein, sollen dieselben nicht wie ein totes und unbrauch-
bares Erbstück übernommen werden, sie im Grunde zu ver-
stehen. Denn von ihnen, mehr als von allem andern, gilt
das Wort:
„Was du ererbt von deinen Vätern hast,
, „Erwirb es, um es zu besitzen!"
Also das Erste wird freilich sein, dafs wir über die Gedanken
der Vorzeit gesicherte Kunde erlangen, das Zweite aber,
dafs wir in dieselben unmittelbare Einsicht zu gewinnen
suchen. Es mag von Nutzen sein, uns vorhergehend zu ver-
ständigen über die Methode, wie wir hier zur Kunde und
dann weiter zur Einsicht zu gelangen hoffen dürfen.
A. Kunde.
Sie ist zu schöpfen aus den Quellen, welche teils primäre,
teils sekundäre sind.
1) Die primären Quellen sind die Werke der Philo-
sophen selbst, wie sie, aus alter und neuer Zeit überkommen,
einen ansehnlichen, und doch wohl auch den wichtigsten Teil
der allgemeinen Weltlitteratur bilden. Und hier befinden wir
uns in einer aufserordentlich vorteilhaften Lage. Während
andere grofse Persönlichkeiten der Vergangenheit, während
ein Perikles und Alexander dahin sind und nur noch in der
Geschichte ein schattenhaftes Dasein führen, so sind Piaton
und Aristoteles noch wirklich da, halten sich jeden Augen-
blick bereit, auf einen Wink von uns vom Bücherbrette
gleichsam leibhaftig herabzusteigen, zu uns zu reden mit
einer Frische und Lebendigkeit, wie sie gröfser nicht während
ihres Lebens gewesen sein kann, und uns zu unterhalten mit
dem Besten, was sie gedacht haben, denn nur dieses pflegt
man zur Erinnerung für sich selbst und andere niederzu-
schreiben. Es liegt in diesem Verhältnisse ein grofser Reiz,
aber auch eine gewisse Gefahr: diese nämlich, dafs man sich
mehr geben läfst, als man zu empfangen Kraft hat, wodurch
man, statt sich zu stärken, sich nur schwächen und schädigen
würde. Non multa , sed multum! Die Durchlesung eines
ganzen Buches bringt oft nicht so viel Gewinn, wie das
24 Einleitung.
reifliche Nachdenken über einen einzigen Satz desselben. Man
kann ganze Bände des Piaton durchlesen, ohne für das Ver-
ständnis seiner Grundlehre so viel zu gewinnen wie aus der
Vertiefung in eine Stelle wie Phaedon c. 48; und viele haben
die ganze Kritik der reinen Vernunft durchstudiert, ohne dem
grofsen, einfachen Grundgedanken derselben, wie er schon auf
der ersten Seite zu finden ist: „Erfahrung" (d. h. hier:
Wahrnehmung, das Aposteriorische) „kann keine Notwen-
digkeit geben", auch nur einmal voll ins Auge geschaut zu
haben. —
Wir wollen die Quellen, auf denen die Geschichte der
Philosophie beruht, hier in der Kürze durchmustern.
In Indien ist für die erste, vedische Periode der Veda
unsere Quelle, wie für alle andern Kulturverhältnisse, so auch
für die Philosophie. Von besonderer Wichtigkeit für dieselbe
sind eine Anzahl von Hymnen des Rigveda und Atharvaveda,
einige Stellen der Brdhmand's und namentlich die meist den
Schlufs derselben bildenden Urpanishad''$. — Die Systeme der
nachvedischen Periode sind meist überkommen in der für
Schulzwecke berechneten und ein reges Leben der Schulen
voraussetzenden Form der Sütra's oder Lehrsprüche. So
bilden z. B. das Grundwerk der Vedäntalehre die 555 Sütra's
des Vedänta, d. h. 555 kurze, abgerissene, meist nur aus zwei
oder drei Worten bestehende Aussprüche, welche dazu in der
Regel nicht einmal die Schlagworte des Systems enthalten,
sondern blofse Stichworte zur Stütze des Gedächtnisses, daher
sie auch fast unverständlich sein würden ohne die zugefügten
Kommentare, deren mehrere vorhanden sind und vielfach ab-
weichende Auffassungen des Systems enthalten. In ähnlicher
Form sind die meisten andern Systeme überliefert, wozu dann
noch andere Werke in Poesie und Prosa, Abschnitte des
Mahäbhäratam , philosophische Dramen u. s. w. sich gesellen.
Die Buddhisten haben, wie die Jawia's, ihren Kanon, aus dem
die ursprüngliche Gestalt ihrer Lehre zu schöpfen ist.
In China stehen im Vordergrunde die fünf heiligen
Bücher (hing) und die vier klassischen Bücher (schu) aus
der Schule des Konfutsee, sowie der Tao-te-king des Lao-tsee,
worüber Näheres weiter unten.
III. Quellen und Methode. 25
In Griechenland sind wir für die erste, vorsokratische
Periode, aus der kein vollständiges Werk erhalten ist, auf
Fragmente angewiesen, welche jedoch meist hinreichen, ein
deutliches Bild zu gewinnen. Die Schriften des Piaton sind
vollständig, von denen des Aristoteles die wichtigsten auf uns
gekommen. Aus der nacharistotelischen Philosophie sind die
älteren* Werke bis auf Fragmente meist verloren gegangen.
Von den erhaltenen sind die wichtigsten : die Werke des Seneca,
Epiktet und Marcus Aurelius aus der stoischen, das Lehrgedicht
des Lucretius aus der epikureischen, die Schriften des Sextus
Empiricus aus der skeptischen Schule. Einen eklektischen
Charakter tragen die philosophischen Schriften des Cicero und
Plutarch. Das Hauptwerk des Neuplatonismus sind die En-
neaden des Plotin. — Bei so vielen Verlusten der Grundwerke
wird von besonderer Wichtigkeit die Schriftstellerei über Phi-
losophen und deren Meinungen, welche im Altertum nach
zwei Richtungen geübt wurde, biographisch, indem man
von jedem Philosophen für sich über Leben, Schriften und
Lehren Bericht erstattete, und doxographisch, indem man
die Hauptbegriffe der Philosophie nacheinander vornahm und
bei jedem derselben die Ansichten der verschiedenen Philo-
sophen verzeichnete. Nach der ersten Richtung ist von gröfster
Wichtigkeit das Sammelwerk des Diogenes Laertias, in der
zweiten Richtung gab es ein grofses Werk des Theophrast,
aus welchem Auszüge teils bei Stobaeus u. a., teils und haupt-
sächlich in Gestalt der pseudoplutarchischen Placita philoso-
phorum erhalten sind. Eine wertvolle Sammlung der Haupt-
stellen, auf denen die Kenntnis der klassischen Philosophie
beruht, bietet die „Historia philosophiae Graecae et Romanae
ex fontium locis contexta" von Ritter und Preller (ed. VII., 1888,
von Schultefs und Wellmann).
Für Aegypten liegt ein reiches Material vor in Tempel-
inschriften, Grabinschriften und namentlich in den Papyros-
rollen, wie sie dem Toten mit ins Grab gegeben zu werden
pflegten, und von denen eine wichtige Sammlung, das soge-
nannte „Totenbuch", schon vor dem Neuen Reiche (ca. 1500
a. C.) zu stände kam. — Das heilige Buch der Iranier, der
Avesta, ist nur stückweise erhalten, und seine Mitteilungen
26 Einleitung.
müssen aus spätem Schriften, wie namentlich dem Bundehesch,
und den Mitteilungen der Griechen mit Vorsicht und Kritik
ergänzt werden. — Für unsere Kenntnis der jüdisch-ale-
xandrinischen Philosophie sind die Werke des Philo Judueus
die Hauptquelle. — Endlich und vor allem geben über den
Entwicklungsgang des jüdischen und christlichen Denkens die
Bücher des Alten Testaments, die Apokryphen und da's Neue
Testament einen durch die assyrischen Keilschriften, die Werke
des Josephus und die genannten Urkunden zu ergänzenden
Aufschlufs.
Für die Lehren der patristischen und scholastischen
Periode sind die umfangreichen Werke der Kirchenväter und
Scholastiker ein schwer zu übersehendes Material, und die
Zusammenstellung einer philosophischen Chrestomathie aus
ihnen würde eine sehr verdienstliche Arbeit sein.
Die Werke der neuern Philosophie liegen vollständig
vor und sind, wenigstens für die vorkantische Periode, nicht
allzu umfangreich. Eine nützliche Zusammenstellung der Haupt-
stellen der neuern vorkantischen Philosophen im Originale
bietet Erdmann als Anhang in der gröfsern „Geschichte der
neuern Philosophie" (1834 — 1853). In der nachkantischen
Zeit ist die philosophische Produktion so sehr in Polygraphie
ausgeartet, dafs eine Chrestomathie aus den Werken Fichtes,
Schellings, Hegels, Herbarts, Schleiermachers u. a. vielleicht
der beste Dienst wäre, den man diesen Schriftstellern erweisen
könnte, während Schopenhauer wie kein anderer Selbstzucht
in Denken und Schreiben geübt- hat, daher jede Zeile von
ihm wertvoll und für das Studium lohnend ist.
2) Die sekundären Quellen für unsere Kenntnis der
philosophischen Lehrmeinungen sind die zahlreich vorhandenen
Geschichten der Philosophie, welche um so besser sein werden,
je treuer sie bemüht sind, die wesentlichen Gedanken der
Philosophen, unter Absonderung des Nebensächlichen, in mög-
lichst urkundlicher Form zusammenzustellen. Zwar hat es
mit ihnen allen sein Bedenken. Denn wohl zu beherzigen ist,
was Schopenhauer sagt (Parerga 1,35) : „Statt der selbsteigenen
„Werke der Philosophen allerlei Darlegungen ihrer Lehren,
„oder überhaupt Geschichte der Philosophie zu lesen, ist wie
III. Quellen und Methode. 27
„wenn man sich sein Essen von einem Andern kauen lassen
„wollte. Würde man wohl Weltgeschichte lesen, wenn es
„Jedem freistände, die ihn interessierenden Begebenheiten der
„Vorzeit mit eigenen Augen zu schauen? Hinsichtlich der
„Geschichte der Philosophie nun aber ist ihm eine solche
„Autopsie ihres Gegenstandes wirklich zugänglich, nämlich in
„den selbsteigenen Schriften der Philosophen; woselbst er dann
„immerhin, der Kürze halber, sich auf wohlgewählte Haupt-
„kapitel beschränken mag; um so mehr, als sie alle von
„Wiederholungen strotzen, die man sich ersparen kann." —
Niemand wird sein, der nicht das Treffende dieser Worte
fühlte, niemand aber auch, der nicht einsähe, dafs sie ein
einseitiges, nur cum grano salis aufzunehmendes Urteil ent-
halten. Hier, wie so oft bei Schopenhauer, scheinen die para-
doxen Aussprüche nicht völlig ernst gemeint, sondern mehr
darauf berechnet zu sein, die hergebrachte Meinung gründlich
zu erschüttern, die ruhende Wage ins Schwanken zu bringen,
bis sich aus der einseitigen Tradition und der ebenso einseitigen
Paradoxie im Geiste des Lesers das richtige und auch von
dem Philosophen selbst beabsichtigte Gleichgewicht herstellt.
Wohin würden wir z. B. kommen, wenn wir den obigen Rat
Schopenhauers streng befolgen wollten? Jemand, der alle
Geschichten der Philosophie von der Hand wiese, um allein
die Werke der Philosophen zu studieren, würde (jenem histo-
rischen Bilde Schopenhauers ein geographisches entgegenzu-
setzen) vergleichbar sein einem Manne, der alle Karten und
Beschreibungen eines Landes wegwirft und beschliefst, das-
selbe zu durchwandern, um es aus eigener Anschauung kennen
zu lernen. Gewifs wird ein solcher die Thäler und Berge,
die Flüsse und Seen des Landes viel gründlicher nach Form
und Bildung kennen lernen, als es durch die genaueste Karte
möglich ist, aber er wird spät oder nie dazu gelangen, den
Zusammenhang der Flufsthäler, der Gebirgszüge zu erfassen
und eine Vorstellung des Ganzen zu gewinnen. Nun ist aber
ein philosophisches System von der Art, dafs jeder einzelne
Gedanke erst durch die Beziehung auf das Ganze seine volle
Bedeutung gewinnt, und dieses Ganze in kurzem Überblick
zu geben, damit wir in stand gesetzt werden, alles Einzelne
28 Einleitung.
beim Studium des Philosophen gleich richtig aufzufassen, das
ist die erste und wesentlichste Aufgabe einer Geschichte der
Philosophie. Aber noch mehr. Der Historiker der Philosophie
will den Philosophen nicht nur verstehen, er will ihn auch
besser verstehen, als er sich selbst verstand, welches nach
Kants Ansicht (Kritik der reinen Vernunft, 1. Aufl., S. 313) „gar
nichts Ungewöhnliches" ist, da wir nicht nur, wie ihr Urheber,
die Gedanken sehen, sondern auch das, was aus ihnen erfolgt ist,
welche derselben sich als fruchtbar erwiesen haben, und welche
als ein Irrweg späterhin erkannt und verlassen wurden. Na-
türlich werden wir dem Geschichtsschreiber nicht weiter trauen,
als z. B. der Minister den Geheimräten traut, die ihm Vor-
trag zu halten haben. Der Minister kann nicht alle einzelnen
Sachen selbst bearbeiten; dazu würde weder Zeit noch Kraft
ausreichen; er mufs sich auf die Augen, vielfach auch auf das
Urteil seiner Räte verlassen. Aber er sieht doch mehr als
die Räte, so genau sie informiert sein mögen, denn er sieht
die Sachen in ihrem Zusammenhange mit dem Ganzen und
wird, durch die Menge verwandter Erscheinungen in der Be-
urteilung geübt, Wert und Unwert des Einzelfalles oft mit
einem Blicke richtiger erfassen, als der, welcher sich ganz in den-
selben eingearbeitet hat und dann gelegentlich vor den Bäumen
den Wald, vor den Einzelheiten das Ganze nicht mehr deut-
lich sieht. Selbstverständlich behält sich der Minister vor,
überall und so oft es ihm erforderlich scheint, bis ins Ein-
zelnste herabzusteigen, und so werden auch wir bei jeder,
selbst der besten Geschichte der Philosophie unklare Punkte
finden,- welche ein Zurückgehen auf die Worte des Philosophen
selbst erforderlich machen. Aber auch ohne dies wird jede
Gesamtdarstellung einer Lehre das Verlangen wecken, sie aus
eigener Anschauung kennen zu lernen, bis schliefslich beides,
die Worte des Philosophen und die Zusammenfassung durch
seinen Historiker, zusammenwirkend ein möglichst deutliches
Bild über das Allgemeine und das Besondere des Systems in
uns hervorbringen wird.
Wir begnügen uns, unter den Geschichten der Philosophie
nur die wichtigsten zu nennen. Die Philosophie des Orients
entbehrt noch einer genügenden Darstellung, da Coleb rooke
III. Quellen und Methode. 29
in seinen Abhandlungen „On the phüosophy of the Hindus"
(Miscellaneous essays I, p. 227 — 419; 2. Aufl. mit Zusätzen
von Cowell, p. 239 — 460) eigentlich nur das Aufserlichste ge-
than hat, und einer Durcharbeitung des Materials, wie sie
für die griechische Philosophie Brandis und Zeller, für die
neuere Erdmann und Fischer geliefert haben, hier grofse
Schwierigkeiten im Wege stehen. Für die griechische Phi-
losophie ist das nicht leicht zu übertreffende Hauptwerk
Zellers Philosophie der Griechen, 5 Bände, (1. Aufl., 1844 — 52;
3. Aufl., 1869—82; 1. u. 2. Tl., 4. Aufl., 1876 fg.); die neuere Phi-
losophie ist in ausführlicher Darstellung von J. E. Er d mann
und von K. Fischer behandelt worden. Jede der beiden
Arbeiten hat ihre Verdienste, und auch die ältere, Erdmamrsche
Darstellung behält neben der neuern ihren Wert, sofern sie
eine treue und dabei kürzere Reproduktion der Hauptgedanken
jedes Philosophen bietet. Von den zahlreichen Gesamtdar-
stellungen erwähnen wir nur das Kompendium von Überweg,
in den neuen Auflagen besorgt von Heinze, welches schon
wegen der nahezu vollständigen Litteraturangaben jedem For-
scher unentbehrlich ist (7. Aufl., 1886 — 88).
B. Einsicht.
Nachdem wir die unmittelbaren und mittelbaren Quellen
besprochen haben, durch welche wir Kunde von den Gedanken
der Philosophen gewinnen können, wird die weitere Frage
sein, was geschehen kann, um diese Gedanken nicht blofs
kennen zu lernen, sondern von Grund aus zu verstehen.
Vere scire est per causas scire. Eine Einsicht gewinnen
wir in eine Sache dann, wenn es uns gelingt, nicht nur sie
selbst, sondern auch die Ursachen zu erkennen, aus denen sie
erwachsen ist. Für die Gedanken eines Philosophen aber
kommen als Ursachen drei Momente in Betracht.
1) Wie die Blüte vom Stengel, so werden die Gedanken
jedes Philosophen getragen von seiner Individualität und
erhalten durch dieselbe eine gewisse Färbung, welche bei der
Abschätzung ihres allgemein, auch für alle andern Individuen,
gültigen Wertes sehr in Betracht zu ziehen ist. Es geschieht
daher mit Recht, dafs man der Darstelmng der Gedanken
30 Einleitung.
eines Philosophen einen kurzen Blick auf seine Lebensver-
hältnisse vorausgehen läfst. Auf diese Individualität aber
wirken zwei Momente ein, welche wir als das traditionelle
und das originelle Element wohl auseinander zu halten haben.
2) Das traditionelle Element besteht in allem dem,
wodurch ein Philosoph von den Traditionen und Meinungen
seiner Zeit, insbesondere von seinen Vorgängern, beeinflulst
worden ist. Es ist vorgekommen, dafs ein Philosoph die
Gedanken seiner Vorgänger richtig aufgefafst und weiter fort-
gebildet hat. Als Hegel aber findet sich, dafs er ihnen nicht
vollständig gerecht wird; denn je selbständiger ein Genius ist,
um so schwerer wird es ihm, sich ganz in den Standpunkt
eines andern zu versetzen, als wozu eine gewisse Passivität
gehört. Daher ist der durch Tradition bedingte Teil eines
Systems in der Regel die wertlosere Seite, gleichsam die Schale
desselben.
3) Das originelle Element befafst dasjenige, was ein
Philosoph unmittelbar aus der Betrachtung der äufsern und
innern Natur geschöpft hat. Da diese in allen Zeiten und
Ländern eine und mit sich einstimmig ist, so werden auch
die Gedanken über sie sich nicht eigentlich und im Grunde
widersprechen können, während nach der traditionellen Seite
hin alle Philosophen von Widersprüchen gegen einander voll
sind. Es wird sich zeigen, wie viel wir z. B. bei Piaton, bei
Jesus, bei Kant gewinnen, wenn wir die Tradition als Schale
abzulösen wissen, um das originelle Element als Kern übrig
zu behalten. Dieses ist dann weiter mit der Natur der Dinge,
aus der es stammt , zu konfrontieren ; d. h. wir werden die
Gesichtspunkte aufzusuchen haben, von denen aus ein Philo-
soph die Natur betrachtete, um gerade zu seinen besonderen
Gedanken zu gelangen. Diese Gesichtspunkte sind mannig-
fach, aber die Natur, auf welche sie sich beziehen, ist eine;
und so kann es nicht fehlen, dafs alle originellen Gedanken
aller Philosophen, von der traditionellen Hülle befreit, eine
wundersame Einstimmigkeit zeigen, welche eine nicht geringe
Gewähr für die Wahrheit ihrer Lehren ist.
Schon aus dem Gesagten erhellt, dafs wir weit davon
entfernt sind, die Ansicht derjenigen zu teilen, welche der
III. Quellen und Methode. 31
Geschichte der Philosophie vor Kant oder auch vor Spinoza
nur noch ein sogenanntes „historisches Interesse" zugestehen.
Diese Ansicht, welche viel dazu beigetragen hat, zu verhindern,
dafs man aus der Geschichte der Philosophie den Gewinn
zog, der in ihr liegt, beruht auf einer Verwechselung der
empirischen Forschungsweise mit der philosophischen. In den
empirischen Wissenschaften, welche es mit der Ermittelung
von Thatsachen und ihres kausalen Zusammenhanges zu thun
haben, kann die Arbeit des Vorgängers vom Nachfolgenden
so sehr aufgesogen und assimiliert werden, dafs durch die
letzte Form einer Wissenschaft alle vorhergehenden antiquiert
werden und nur noch als Denkmäler überwundener Stand-
punkte dastehen. Ganz anders in der Philosophie. Denn
diese ist nicht wie eine Pyramide, welche allmählich durch
die im Laufe der Jahrhunderte zusammengetragenen und auf-
geschichteten Bausteine zu stände gebracht worden ist oder
erst noch werden soll (rusticus exspectat dum defiuat amnis), —
vielmehr gleicht die philosophische Wahrheit einer Pyramide,
welche so alt ist wie die Welt selbst, und die man schon von
Anfang an voll und ganz, wenn auch erst aus der Ferne, in
undeutlichen Umrissen und wie durch einen Nebel gewahrte,
der man dann immer näher kam, die man im Verlaufe von
den verschiedensten Seiten und immer deutlicher erblickte,
bis wir schliefslich an sie heran, ja wohl gar auf dieselbe
hinauf gelangt sind, ohne dafs darum die Auffassungen der-
selben und ihrer Teile durch Frühere ihren Wert verloren
hätten. Wohl ist die genauere Erkenntnis der Natur und
ihrer Einzelheiten durch die Naturwissenschaften erst eine
Errungenschaft der neuern Zeit, aber neun Zehntel der Natur,
alle ihre grofsen Grimdverhältnisse, der Raum und die Zeit,
die Materie, die Naturkräfte, das menschliche Leben und die
Abgründe unseres eigenen Innern lagen von je her offen da,
ja sie wurden von den alten Philosophen, „die den Göttern
noch näher wohnten" (Plat. Phileb. p. 16 c), d. h. deren Blick
noch nicht durch einen Wust von Traditionen getrübt war,
oft reiner und deutlicher erfafst als von den späteren. Wir
werden daher vor allem unser Interesse der ersten Genesis
der Ideen in der indischen, griechischen und christlichen
32 Einleitung.
Philosophie bis zu ihren Höhepunkten in den Upanishad's,
in Piaton, im Neuen Testamente, und wiederum der neuen
Grundlegung durch die kantische Philosophie zuwenden, wo-
hingegen wir uns über andere Zeiträume in dem Mafse kurz
fassen können, in welchem in ihnen das Operieren mit ererbten
Traditionen überwiegt über das Schöpfen ursprünglicher Er-
kenntnisse aus der Natur selbst. Denn nur in diesen und
ihrer Nachprüfung an der Natur der Dinge liegt der eigent-
lich fruchtbare und fördernde Teil unserer Aufgabe, und nur
dann dürfen wir in der That hoffen, Philosophie auch aus
der Geschichte der Philosophie zu lernen, wenn wir es
uns zum Grundsatze machen, alle Gedanken bis zu dem
Quellpunkte zu verfolgen, an dem sie aus der auch uns vor-
liegenden Natur der Dinge entsprungen sind; — und so wollen
wir zum Werke schreiten, indem wir im übrigen uns vorher
noch stärken durch einen Weidspruch aus dem Aristoteles
(de coelo 1,10, p. 279 b 11): xai yap 5ei hiauxr^ac, aXX' cüx
dvTt,5ixoi>£ slvat xobc, (JLsXXovTa? xdLkrftkc, xpiveiv [xavö£. Nicht
Partei sondern Kampfrichter sollen wir sein; aber ein
wahrer Kampfrichter ist nur der, welcher selber gekämpft hat.
DER ALLGEMEINEN GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE
ERSTER TEIL:
DIE PHILOSOPHIE DER INDER
Deussen, Geschichte der Philosophie. I.
Einleitung zur Philosophie der Inder.
I. Vorbemerkung über den Wert der indischen Philosophie.
„Gesetzt, es gäbe — was ja wohl möglich ist — auf
einem der andern Planeten unseres Sonnensystems, vielleicht
auf dem Mars oder der Venus, Menschen oder menschen-
artige Wesen, die es, wie wir, zu einer Kultur und, als
höchster Blüte derselben, zu einer Philosophie gebracht hätten,
und es würde uns die Möglichkeit gegeben (etwa, indem es
gelänge, von dort ein Projektil bis in den Bereich der über-
wiegenden Erdanziehung zu schleudern), von dieser Philosophie
Kenntnis zu nehmen, so würden wir ohne Zweifel den Er-
zeugnissen derselben ein grofses Interesse zuwenden. Mit
Aufmerksamkeit würden wir sowohl Übereinstimmung als
Verschiedenheit jener translunaren Weltanschauung mit der
unsrigen prüfen. Jede Abweichung in den Ergebnissen würde
zu einer Untersuchung darüber anregen, auf wessen Seite die
Wahrheit sei, jede Zusammenstimmung würde uns daran er-
innern, dafs es eine Gewähr für die Richtigkeit der Rechnung
zu sein pflegt, wenn zwei Rechner unabhängig von einander
zu demselben Facit gelangen, — wiewohl auch hierbei der
kantische Gedanke von den natürlichen und unvermeidlichen
«Sophistikationen, nicht der Menschen, sondern der reinen
Vernunft selbst» in Erwä<mno' zu ziehen sein würde."
„Nicht ganz, aber doch annähernd werden die Hoffnungen,
die wir an eine solche «vom Himmel gefallene» Philosophie
3*
36 Einleitung zur Philosophie der Inder.
knüpfen würden, erfüllt durch dasjenige, was die Philosophie
der Inder uns thatsächlich bietet. Denn während alles, was
an philosophischen Gedanken diesseits des Hindukusch hervor-
gebracht worden ist, von Mose und Zoroaster, von Pythagoras
und Xenophanes an durch Piatonismus, Christentum und
Kantianismus hindurch bis auf die Gegenwart herab in einem
einzigen grofsen Zusammenhange steht, durch welchen unser
Denken mehr, als wir es oft ahnen, abhängig ist von uralten
Traditionen, Einseitigkeiten der Auffassung und Irrtümern, —
so haben die Inder, indem sie von ihren Bruderstämmen schon
in vorhistorischer Zeit abgetrennt wurden, gegen die ursprüng-
lichen Bewohner aber des Industhaies und der Gangesebene
sich selbst auf das strengste absonderten, bis zu den Zeiten
der vollen Ausgestaltung ihrer Weltanschauung — so weit bis
jetzt zu erkennen — keinen Einflufs auf ihr Glauben und
Denken irgendwoher empfangen, und als die Stürme der
griechischen, skythischen und mohammedanischen Invasionen
über Indien hereinbrachen, trafen sie, allem Anscheine nach,
die indische Gedankenwelt schon in einer Erstarrung und
schulmäfsigen Geschlossenheit an, in welcher sie dieselbe nicht
mehr erheblich zu inquinieren vermochten, während vielmehr
umgekehrt die fremden Eroberer zu dem geknechteten Indien
vielfach in eine fast ebenso grofse geistige Abhängigkeit
traten, wie das Römerreich zu dem eroberten Griechenland."
An diesen Worten aus der Einleitung zu unserer Über-
setzung der Sütra's des Vedänta (1887) mag es genug sein,
um den Wert der indischen Philosophie für uns zu charakte-
risieren. Man würde vielleicht für naiv gehalten werden,
wollte man unserm, in allen Stücken „so herrlich weit" fort-
geschrittenen Zeitalter zumuten, von den alten Indern noch
etwas zu lernen; aber einen Nutzen wird das allgemeinere
Bekanntwerden der indischen Weltanschauung doch haben:
diesen nämlich, uns zum Bewufstsein zu bringen, dafs wir mit
unserm gesamten religiösen und philosophischen Denken in
einer kolossalen Einseitigkeit stecken, und dafs es noch eine
ganz andere Art, die Dinge anzufassen, geben kann, als die,
welche Hegel als die allein mögliche und vernünftige kon-
struiert hat.
II. Land und Leute. 37
II. Land und Leute.
Indien hat (wie schon Sir William Jones bemerkt) im
allgemeinen die Gestalt eines unregelmäfsigen Vierecks, dessen
vier Winkel den vier Himmelsgegenden zugekehrt sind und
im Norden durch den Gebirgsstock des Hindukusch, im
Westen und Osten durch die Mündungen des Indus und
Ganges, im Süden durch das Kap Komorin und die Insel
Ceylon gebildet werden. Eine Diagonale, von der westlichen
nach der östlichen Spitze gezogen, fallt nahezu zusammen mit
dem Wendekreise des Krebses, d. h. mit der nördlichen Breite,
bis zu welcher die Sonne im Sommer senkrecht zu stehen
kommt. Indien ist also seinem nördlichen Teile nach ein
subtrojDisches, dem gröfsern Teile nach ein tropisches Land.
Es bietet den einzigen Fall, wo eine ursprüngliche Kultur im
hohen Sinne des Wortes unter den Tropen sich entwickelt
hat, und die Poesie der Inder spiegelt in allen Gattungen, in
Epos, Lyrik und Drama, den eigentümlichen Zauber der
Tropenwelt wider. Jene von der Mündung des Indus zu der
des Ganges laufende Diagonale teilt das Viereck Indiens in
zwei Dreiecke, in das nördliche, tiefliegende und fast voll-
kommen ebene Hindustan und in das südliche Dekhan, ein
Hochplateau, welches nach Norden durch das Vindhyagebirge,
nach den übrigen Seiten durch das im Südwesten steil ab-
fallende, im Südosten sanft sich abdachende Treppengebirge
der Ghatta's abgeschlossen wird und der brahmanischen Kultur
erst zugänglicher wurde, nachdem dieselbe in Hindustan ihr
Grundgepräge empfangen hatte. Aber auch Hindustan, das
nördliche Dreieck, zerfällt in zwei von der Natur wohlge-
schiedene Teile; fällt man nämlich vom Hindukusch als der
Nordspitze ein Lot auf die Grundlinie des Dreiecks, so läuft
dasselbe durch die ca. 300 Kilometer breite Wüste Marusthala,
welche das Indusland im Westen von der Gangesebene im
Osten abscheidet und nur im Norden, an den Abhängen des
Himälaya, einen bequemern Durchgang gestattet. So zerfällt
Indien von Natur in drei Teile: 1) das Stromgebiet des Indus
und seiner Zuflüsse, 2) die Gangesebene zwischen Himälaya
und Vindhya, und 3) das Plateau des Dekhan, welche, wie zu
38 Einleitung zur Philosophie der Inder.
zeigen sein wird, den drei Entwicklungsperioden der indischen
Kultur entsprechen. Nach aufsen wird Indien abgeschlossen
im Nordwesten durch das indisch -persische Grenzgebirge, im
Nordosten durch den Himälaya, welcher die höchsten Gipfel
der Erde trägt, im Südwesten durch das persische und im
Südosten durch das indische Meer; es ist also, wie mit Recht
bemerkt worden ist, „eine eigene Welt" (Lassen, Ind. Alter-
tumskunde, I2, S. 100), und wenn seine Abgeschlossenheit auch
nicht so grofs war, um die Handelsverbindungen mit den
benachbarten Völkern, wie sie von je her bestanden haben,
erheblich zu erschweren, so genügte sie doch, um Indien,
wenigstens für die Zeit seiner Entwicklung, vor der Invasion
und Eroberung durch fremde Heere, vor der Überflutung und
Ertränkung seiner Kultur durch ausländische Einflüsse zu
schützen. Nach innen aber, gegen die Einwirkungen der
eingebornen, in jedem Sinne tief unter den eingewanderten
Indogermanen stehenden Urbevölkerung haben diese sich durch
Mittel, die später zu besprechen sein werden, im wesentlichen
zu wahren gewufst, und ein merklicher Einflufs von Seiten
der Aboriginer, wie er öfter behauptet worden ist, scheint
in keiner erheblichen Hinsicht stattgefunden zu haben.
Die in Indien einwandernden Indogermanen, oder, wie
sie sich selbst nennen, die Arya's, d. h. „die zu den (der
Stammesreligion) Treuen Gehörigen", waren schon vor der
Trennung von ihren europäischen Brüdern, wie die Ver-
gleichung der Sprachen beweist, über die ersten Anfänge der
Kultur hinaus. Die Gemeinsamkeit der Worte legt Zeugnis
ab sowohl für ein wohlgeordnetes Familien wesen als auch für
die schon vorhandenen Anfänge einer staatlichen Ordnung.
Gemeinsam sind auch die Namen fast aller Haustiere, aber
nur einer Kornfrucht (yava, £sa), was auf eine sehr entwickelte
Viehzucht und einen in den ersten Anfängen stehenden Acker-
bau schliefsen läfst. Die notwendigsten Handwerke zur Ver-
fertigung von Wohnung, Kleidung und Fahrzeugen (wie
Wagen und Schiffen) waren in Übung; auch der Begriff der
befestigten Ansiedlung (pur, izq\iq) scheint in die Urzeit
zu gehören. Namentlich aber zeigt die Sprachvergleichung,
dafs die Götterverehruno; schon weit über den überall als
II. Land und Leute. 39
ursprünglich vorauszusetzenden Dämonenkultus vorgeschritten
war. Das allen indogermanischen Sprachen gemeinsame Wort
für Gott (deva, da&va, j~s6^ [?], dens, tivar, diewas, dia) be-
weist, dafs schon von dem Urvolke die Götter als „die lichten,
die himmlischen" verehrt wurden, und die mit Recht so be-
nannte grofse historische Gleichung: Dyaus pitar = Zzhc
7C(XTi]p = Jupiter legt Zeugnis dafür ab, dafs die Grundan-
schauung über das Verhältnis des Menschen zu Gott nicht,
wie bei den Semiten, die einer Knechtschaft, sondern einer
Kindschaft war. Erst spät, und vielleicht unter indoger-
manischem Einflüsse, gelangten die Semiten dazu, Gott als
den Vater aufzufassen, erst spät auch entwickelte sich bei
ihnen der Gedanke der Unsterblichkeit, während er den
Indern wie den Iraniern von Anfang eigen und wahrscheinlich
schon vor der Trennung von einander gemeinsam war, ja
vielleicht bis in die indogermanische Urzeit zurückreicht.
Wir werden in einem spätem Teile unserer Betrachtung diese
verschiedenen Auffassungen über Gott und Seele daraus abzu-
leiten versuchen, dafs der Semit sich nur schwer und erst
spät von dem natürlichen, angebornen Realismus loszumachen
weifs, während der Indogermane von Anfang an eine Neigung
zum Idealismus bekundet, in welchem, wie sich noch genauer
ergeben wird, alle Philosophie wurzelt.
Wann die Einwanderung der Arier in Indien stattge-
funden hat, läfst sich nicht bestimmen; sie mag wohl 3000
oder 4000 Jahre, wenn nicht mehr, vor unserer Zeitrechnung
zurückliegen und erfolgte aller Wahrscheinlichkeit nach von
Westen her durch das Thal des Kabulflusses. Von hier voll-
zog sich die Besetzung Indiens durch die Arier in drei zeitlich
aufeinanderfolgenden Perioden, welche den drei oben be-
sprochenen Teilen Indiens (Industhal, Gangesebene, Dekhan)
entsprechen, indem die Entwicklung der arischen Kultur
1) ursprünglich auf das Pendschäb des Indus beschränkt war,
sodann 2) das Thal des Ganges bis zu dessen Mündung in
langsamem Vorrücken eroberte, und endlich 3) in allmählichem
Fortschritte das südliche Plateau umspann und civilisierend
in dasselbe eindrang. Ein deutliches historisches Bewufstsein
dieses Fortschreitens ist nicht vorhanden, doch nimmt man nicht
40 Einleitimg zur Philosophie der luder.
mit Unrecht an, dafs von den beiden grofsen Nationalepen
das Mahäbhäratam eine Rückerinnerung an die Schiebungen
und Kämpfe der Arier untereinander infolge der Eroberung
des Gangesthaies, das Rämäyanam eine symbolische Indivi-
dualisierung der nach Süden durch das Dekhan und bis nach
Ceylon hin vordringenden brahmanischen Kultur ist. Jeden-
falls aber handelt es sich dabei nicht um einmalige Ereignisse,
sondern um jahrhundertelange Prozesse; Data lassen sich hier,
wie zumeist in Indien, nicht angeben, und es geschieht nur,
um dem Vorstellungsvermögen einigen Anhalt zu geben, wenn
wir ganz ungefähr und als mögliche Grenzpunkte der genannten
drei Perioden die Jahre 1000 und 500 a. C. hinstellen. In der
indischen Litteratur mögen die drei Perioden der Hymnen-
zeit, der Brähmanazeit und der Sanskritzeit diesen drei Ent-
wicklungsperioden im ganzen und grofsen parallel laufen und
entsprechen.
III. Perioden der indischen Philosophie.
Eine eigentliche Geschichtsschreibung wie in Griechenland
und Rom giebt es in Indien nicht, und die Historiker ge-
wöhnlichen Schlages (wie sie denn auch einem Piaton nicht
verzeihen können, dafs er kein Demosthenes wurde) zucken
mitleidig die Achsel darüber, dafs ein so hochbegabtes Volk
es nicht bis zu einem dauerhaften Staatsorganismus, nicht zu
einer öffentlichen Beredsamkeit, ja nicht einmal bis zu einer
Aufzeichnung seiner Geschichte gebracht habe. Sie sollten
lieber zu begreifen suchen, dafs die Inder zu hoch standen,
um, nach der Weise der Aegypter u. a., an Königslisten sich
zu ergötzen, d. h., in der Sprache des Piaton ausgedrückt,
Schatten zu zählen; dafs der indische Genius (äufserlich be-
trachtet sehr zu seinem Schaden) es verschmähte, die zeitlichen
Dinge und ihre Ordnung sehr ernst zu nehmen, weil er mit
der ganzen Energie seiner durch die Milde des Klimas von
gemeiner Sorge entbundenen Kräfte das Ewige suchte und
dieses in einer überreichen poetischen und religiös-philo-
sophischen Litteratur zum Ausdrucke gebracht hat. Fehlt es
dieser Litteratur auch an äufsern chronologischen Daten, so
ist doch eine gewisse innere Chronologie vorhanden, vermöge
III. Perioden der indischen Philosophie. 41
deren es mit der Zeit gelingen wird, allem Einzelnen seine
richtige Stelle in der Entwicklung des Ganzen anzuweisen.
Denn wir haben in Indien nicht wie in Griechenland eine
durch das Mittelalter unterbrochene, sondern eine von den
ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart kontinuierliche Über-
lieferung, und so etwas wie die Fragmente der griechischen
Litteratur giebt es in Indien nicht. Dafür aber sind hier oft
nicht mehr die ursprünglichen Geistesschöpfungen, sondern
nur die verkürzte Zusammenfassung derselben zum Gebrauche
der Schulen vorhanden, und die geistige Arbeit vieler Gene-
rationen, deren es bedurfte, um zu den Sütra's des Pdnini
oder zur SäfMujakarikä zu gelangen, läfst sich nur aus diesen
mutmafsend abschätzen. Zum Glücke werden von diesem
Schicksale, durch die Nachfolger verdrängt zu werden, am
meisten nur die Schulwissenschaften, am wenigsten die reli-
giösen, durch kanonisches Ansehen geschützten Werke betroffen,
sodafs wir im ganzen und o-rofsen in Indien eine ununter-
brochene Entwicklung vor uns haben, welche von den ältesten
Hymnen des Rigveda bis auf die modernsten Erzeugnisse der
Sanskritlitteratur, d. h. etwa von 1900 a. C. bis 1900 p. C.
reicht, wenn auch diese Produktion keineswegs eine stetige
gewesen ist und neben Zeiten der Flut auch lange Perioden
der Ebbe aufzuweisen hat. Namentlich fallen beim Über-
blicken des Ganzen zwei Einschnitte ins Auge, welche sich
durch eine so grofse, nachfolgende Veränderung der Sprache,
der Denkungsweise und der Interessen kennzeichnen, clafs
wir in ihnen Stagnationen der litterarischen Produktion viel-
leicht für Jahrhunderte zu erkennen und nach den Gründen
derselben zu fragen alle Ursache haben. Der erste Einschnitt
liegt zwischen den Hymnen und Brähmana's, der zwreite
zwischen den Brähmana's und Sütra's, mit denen die Sans-
kritlitteratur im engern Sinne anhebt.
Zunächst ist allbekannt und viel bemerkt die Lücke
zwischen den Hymnen des Rigveda und der Abfassung der
ältesten Brähmana's, eine Lücke, welche durch die, teilweise
wenigstens dieser Zwischenzeit zuzuweisenden, Hymnen des
Atharvaveda notdürftig überbrückt wird. Schon die Ver-
schiedenheit der Sprache, mehr aber noch das abergläubische
42 Einleitung zur Philosophie der Inder.
Ansehen, welches die Hymnen in den Brähmana's geniefsen,
weist darauf hin, dafs zwischen beiden eine Zeit der Ver-
dunkelung liegt, die mehrere Jahrhunderte gedauert haben
mag; und nehmen wir hinzu, dafs der Horizont, der in den
Hymnen fast durchaus auf das Flufsthal des Indus beschränkt
ist, in den Brähmana''s sich über die Ebene des Ganges und
die umliegenden Länder erweitert hat, so kann es keinem
Zweifel unterliegen, dafs zwischen beiden die Einwanderung
in das Gangesthal liegen mufs nebst der Einrichtung in den
neuen Verhältnissen und Wohnsitzen, und dafs der indische
Geist, als er sich endlich auf seine Vergangenheit besann,
dieser so entfremdet worden war, dafs er in den Brähmana's
einen neuen Anfang machen mufste.
Ein zweiter, nicht weniger merklicher Einschnitt liegt
zwischen den Brähmana's und der Sanskritzeit, die mit den
veclischen Sütra's beginnt, welche zwar noch zum Veda ge-
rechnet werden, nicht aber, wie die Mantra's (Hymnen und
Sprüche) und Brähmana's, für inspiriert gelten und der
Sprache nach von ihren unmittelbaren Vorgängern, den Bräh-
manä's, vielleicht weiter abstehen als von allen Produkten der
Sanskritperiode durch das folgende Jahrtausend und weiter
hin.* Auch hier ist ein jäher Abbruch; die Produktion der
Brähmanazeit geriet in den Upanishad's mitten in der schönsten
Blüte ins Stocken, als erst wenige Schulen für ihr theoso-
phisches Denken und Empfinden einen mehr als rudimentären
Ausdruck gefunden hatten. Die Sütra's aber fangen neu an:
die Brähmana's in aller ihrer Prolixität erscheinen als inspiriert
und unantastbar, man sucht sich diesem massenhaften Stoffe
gegenüber durch indexartige Zusammenstellung des AVesent-
* „Diese Schriften werden, als Sütram des Baudhäyana, Sütram
des Apastctmba, nach dem Namen eines Menschen benannt. Man kann
aber nicht annehmen, dafs es sich dabei, wie in dem Falle der Benennung
[der Brähmana's] nach den KäthaJca's u. s. w., blofs um ein Verkündigen
[der göttlichen Offenbarung durch Menschenmund] handle. Denn jene
[Sütra-Verfasser] wurden bei der Ausarbeitung ihrer Werke von manchen
Zeitgenossen beobachtet. Und dies ist durch ununterbrochene Tra-
dition bis auf die Gegenwart überliefert worden. Sie sind daher, so gut
wie die Werke des Kälicläsa u. s. w., blofses Menschenwerk." (Mdähava
zum Nydyamälävistara zu Jahn. 1, 3, 11 — 14, ed. Civadatta, p. 34.)
III. Perioden der indischen Philosophie. 43
liehen zu orientieren, kurz man fühlt sich abermals als Epigone,
und ein Zwischenraum mehrerer Jahrhunderte ist unumgäng-
lich anzunehmen. Aber was kann den indischen Geist vermocht
haben, zum zweitenmal seiner eigenen Vergangenheit sich
zu entfremden? Äufsere Störungen von dem erforderlichen
Umfange sind nicht nachweisbar, denn der Alexanderzug und
das aus seinen Wirren schliefslich sich erhebende, vom Indus
bis zum Ganges, vom Himälaya bis zum Vindhya reichende
Reich der Maurya brachte zunächst nur eine vorübergehende
und äufserliche Veränderung, die als solche dem Fleifse der
Brahmanenschulen keine Schädigung brachte. Aber wenn wir
uns erinnern, dafs der erste dieser Mauryakönige, Candragupta
(315 — 291), ein Cüdra gescholten wird, und dafs sein Enkel
ÄQoka (259 — 222) den Buddhismus, bei aller Toleranz gegen
Andersgläubige, zur Staatsreligion seines Weltreiches von
Kacmira bis zur Godävari, von Gujerat bis Orissa machte, so
wird begreiflich, dafs die frischeren und kräftigeren Geister jener
Zeit sich von der untergehenden Sonne des Brahmanismus ab
zur aufgehenden des Buddhismus wandten, und als einige Jahr-
hunderte später der Buddhismus seine Anziehungskraft verlor,
als man sich den verlassenen Opferfeuern, den vielleicht damals
erst, zur Zeit des Abfalles, von den wenigen Treugebliebenen,
um sie zu retten, aufgezeichneten Texten der Hymnen und Bräh-
mana's wieder zuwandte, da wurden Inhaltsübersichten über
ihre weitschichtigen Materialien Bedürfnis (Sütras), da sprach
man die Sprache der Brähmana's nicht mehr und mufste sie dem
Prakrit der herrschenden Sprache gegenüber als „Kunstsprache",
als Samskritam künstlich wieder auffrischen, woran sich dann
Mahdbhäratam und Manu, sowie weiterhin Kdlidäsa und die
ganze Litteratur der indischen Renaissance anschlofs.
Sonach unterscheiden wir, wie für die gesamte indische
Litteratur so auch für den philosophischen Teil derselben, drei
Perioden:
I. Hymnenzeit, das erste Aufblühen philosophischer
Gedanken im Fünfstromlande befassend.
IL Brähmanazeit: Die Fortentwicklung dieser Ge-
danken bis zu den die Schlufssteine der Brähmana-
periode bildenden Upanishad's.
44 Einleitung zur Philosophie der Inder.
III. Sanskritzeit: Die Fortbildung der Upanishad-
Gedanken zu den orthodoxen und heterodoxen Sy-
stemen, zu welchen auch der Buddhismus gerechnet
wird.
IV. Die philosophische Litteratur der Inder.
Die indische Philosophie tritt unserer ererbten abendlan-
dischen Kultur als Ganzes so fremd gegenüber, dafs es rätlich
erscheint, zur ersten Einführung, wenn nicht in den Geist, so
doch in den äufsern Bestand derselben, sich der Leitung eines
geeigneten Eingebornen anzuvertrauen. Als solcher erscheint
Mad/msüdana, mit dem Beinamen Sarasvati, ein orthodoxer
Brahmane aus der Schule des Qankara, nach 1300 p. C. und
vielleicht nicht lange vor 1653 lebend, aus welchem Jahre die
Handschrift des kleinen Werkes stammt, das wir hier über-
setzen wollen. Dasselbe (von Colebrooke vielfach benutzt,
von Weber, Ind. Studien I, herausgegeben und mit trefflicher
Paraphrase des Inhalts versehen) führt den Titel Prasthdna-
blieda „Die Mannigfaltigkeit der Methoden", nämlich der
Methoden oder Wege, um zum „Ziele des Menschen" (purusha-
artha) zu gelangen, als welches fast allen Systemen der indi-
schen Philosophie die Erlösung von Samsära, d. h. vom Kreis-
laufe der Seelenwanderung, vorschwebt.
Episo disch:
Der PrastMna-blieda des Madhusüdana-Sarasyati.
Verehrung dem erlauchten Ganeca!
Einleitung.
Da alle Lehrsysteme schliefslich auf Gott (bhagavant) als
höchstes Ziel, sei es unmittelbar oder mittelbar, hinleiten, so wollen
wir hier die Mannigfaltigkeit ihrer Wege zu diesem Ziele in der
Kürze darlegen.
Es sind also :
I. die vier Veda's: Rigceda, Yajurveda, Santavcda und
Aiharvaveda;
IV. Die philosophische Litteratur der Inder. 45
II. die sechs Vedänga's (Veda-Glieder), nämlich: Cilcshä
(Lautlehre), Kalpa (Ritual), YyäJmranam (Grammatik),
Niruktam (Wortbedeutung), Chan das (Metrik) und Jyo-
tisham (astronomische Kalenderkunde) ;
III. die vier Upäfiga's (Nebenglieder), nämlich: die Pu-
, räna's (Erzählungen aus der Vorzeit), der Nyäya (Logik),
die Mimänsä (vedische Dogmatik) und die Dharmagästrd's
(Rechtsbücher), wobei die Upajpuränd's unter den Puräna's
einbegriffen werden, ebenso das Ya iceshika-System unter
dem Nyäya, das Vedänta-System unter der Mimänsä und
endlich Mahäbhäratam und Bämäyanam , die SänJchyd's
und Pätanjalä's (Anhänger des Patanjali), die Pägupata'ä
• (Civaiten), Vaishnava's (Vishnuiten) und andere unter
dem Dharmagästram, sodafs alles in allem vierzehn
Wissenschaften sich ergeben. Daher heilst es (Yäjna-
valkya I, 3):
„Die Veda^s, durch Puräna's und den Nyäya,
„Durch die Mimänsä und die Dharmacästra's,
„Vervollständigt, sowie auch durch die Anga:s,
„Das sind die vierzehn Fundstätten zumal
„Der Wissenschaften und der Rechtsgebräuche."
Rechnet man hierzu noch
IV. die vier Upaveda's (Nebenvedas), nämlich: Ayurveda
(Gesundheitslehre), Dhanurveda (Waffenkunde), Gändhar-
vaveda (Musiklehre) und Arthacästram (praktische Unter-
weisung),
so kommen im ganzen achtzehn Wissenschaften heraus. Was die
sämtlichen Denker von positiver Richtung (ästika) betrifft,
so giebt es keine andern als die genannten Methoden der Lehr-
systeme, indem alle übrigen als Specialwissenschaften unter ihnen
enthalten sind.
Anmerkung.
Man könnte einwenden , dafs es doch noch weitere Lehrme-
thoden der Denker von negativer Richtung (nästika) gebe,
welche unter den genannten nicht einbegriffen sind und daher be-
sonders aufzuzählen wären. So giebt es zunächst vier Richtungen
«ler Buddhisten, nämlich:
I. die Mädhyamika's (das Centrum), welche den voll-
ständigen Nihilismus (rünya-väda) vertreten;
46 Einleitung zur Philosophie der Inder.
II. die Yogäcära's (Hingebung und Kachfolge übend),
welche nur den momentanen Vorstellungen Realität zu-
gestehen [dogmatischer Idealismus] ;
III. die Sauträntika's (sich an die Sütra's haltend), welche
die Realität momentaner Aufsendinge, doch nur sofern
sie aus der Beschaffenheit der Vorstellungen erschliefsbar
sind, annehmen [problematischer Idealismus];
IV. die Vaibhäshika's (an den Kommentar sich haltend),
welche die Realität wahrnehmbarer, individueller (1. sva-
Idkshcma) , momentaner Aufsendinge lehren [Realismus].
Zu diesen vier Schulen der Buddhisten kommen als eine weitere
negative Richtung
V. die Cärväka's mit ihrer Behauptung, dafs der Leib
das Selbst sei [Materialisten],
und als eine zweite Richtung.
VI. die Digambara's (Jaina,s), welche lehren, dafs die
Seele den Leib überdaure und dabei den Umfang des
Leibes behalte.
Es giebt somit, alles zusammengenommen, sechs Arten der
Denker von negativer Richtung; warum also werden nicht
auch diese besprochen? — Auf diese Einwendung antworten wir:
wohl giebt es diese, aber da dieselben aufserhalb der Veden stehen
[und da extra Vedos nulla salus], so können sie, ebenso wie die
Methoden der Barbaren * u. s. w., auch nicht einmal mittelbar zur
Erreichung des Zieles des Menschen beitragen und sind daher
gänzlich (eva) aufser Betracht zu lassen. Hier nämlich haben wir
nur die Mannigfaltigkeit der, sei es unmittelbar oder mittelbar,
zur Erreichung des Zieles des Menschen beitragenden und somit
den Veda unterstützenden Methoden aufgezeigt ; daher zu einem
Zweifel an der Vollzähligkeit unserer Aufstellung keine Veran-
lassung ist. Nunmehr wollen wir, zur Belehrung der Einfältigen,
in der Kürze aufzeigen, wie die Mannigfaltigkeit in der Art
dieser Methoden in der [unbeschadet der Einheit des Endzweckes
(artJia) möglichen] Mannigfaltigkeit der Absichten (prayojana) ihren
Grund hat.
* Diese ebenso kurze wie entschiedene Abfertigung alles Ausländi-
schen mag denen, welche immer noch von einer Beeinflufsung der indischen
Gedanken durch die griechische Philosophie oder das Christentum träumen,
beweisen, wie wenig diese für den orthodoxen Brahmanen bis in die späte
Zeit hinein auch nur existieren.
IV. Die philosophische Litteratur der luder. 47
1. Die Yeda's.
Das über die Pflicht und über das B rahm an belehrende,
übermenschliche Richtschnur-Wort ist der Veda. Derselbe besteht
aus Mantra's (Gebeten) und Brähmanä's (auf das Gebet Bezüglichem).
, I. Die Mantra's.
Die Mantra's offenbaren die Gottheit als Objekt dessen, der
zu einem Vollbringer der Verehruug geworden ist (anushfhäna-
JcäraJca-bhüta-dravya-devatä-praJcägaJcäh). Dieselben sind dreifach,
nämlich Ric (Hymnus), Yajus (Opferspruch) und Sanum (Gesang).
1) Die Ric's fangen an mit Agnim ile purohitam (,,Den
Priester Agni preise ich", Rigveda 1, 1, 1) und sind kenntlich an
den in ihnen aus Versteilen zusammengefügten Metren, wie die
Gäyatri u. s. w.
2) Die Säman's sind dieselben und unterscheiden sich nur
darin, dafs sie gesungen werden.
3) Die Yajus' sind in beiden Stücken von ihnen verschieden
[weder metrisch, noch gesungen]. Zu den Yajus' gehören auch
die Nigada (Anrede) genannten Mantra's, welche eine Aufforderung
enthalten, wie: Agnid! agnin viharal („Feueranzünder! teile die
Feuer auseinander!"). So viel von den Mantra's.
2. Die Brähmanä's.
Auch das Brähmanam ist dreifach, sofern es teils Vidhi (Vor-
schrift), teils Arthaväda (Inhaltserklärung), teils Jceins von beiden ist.
A. Der Vidhi wird von den Bhätta's erklärt als „ein Be-
wirken durch Worte", von den Präbhäkara's als „eine Beauftragung",
von den Tärkika's und allen übrigen als „das Verwendetwerden
als Mittel zum Opfer". — Auch der Vidhi (die Vorschrift) ist
wieder vierfach und zerfällt in die Vorschrift des Geschehens, der
Berechtigung, der Verwendung und der Ausführung. 1) Eine
Vorschrift des Geschehens ist eine solche, welche nur die
Beschaffenheit des Werkes angiebt, z. B. wenn es heifst: „Der
[Opferkuchen] für den Agni wird in acht Schalen dargebracht"
(Catap. 5, 5, 1, 1 K.). 2) Eine Vorschrift der Berechtigung
ist die, welche in betreff der mit dem Befehl der Ausführung vor-
kommenden Handlung, wie Opfer u. s. w. , die Verknüpfung mit
ihrem Lohne anzeigt, z. B. „bei Neumond und Vollmond soll opfern,
wer nach dem Himmel begehrt". 3) Eine Vorschrift der Ver-
wendung ist eine Vorschrift, welche eine Verknüpfung mit Neben-
bestimmungen enthält, z.B. „er lasse mit Reiskörnern opfern", oder „er
48 Einleitung zur Philosophie der Inder.
opfert den Brennhölzern". 4) Eine Vorschrift der Ausführung-
endlich bezieht sich auf die Einheit der Ausführung der Haupt-
handlung mitsamt den Nebenbestimmungen und besteht in einer
Zusammenfassung der drei vorher erwähnten Vorschriften. Sie
wird von einigen für schriftmäfsig [in den Brähmana's vorkommend],
von andern für ritualmäfsig [nur in den Kalpasütra's vorkommend]
erklärt. — Auch das [von der Vorschrift geforderte] Werk (karman)
ist seiner Natur nach zweifach, Begleitwerk (gunakarman) oder
Zweckwerk (arthakarman). a. Das Begleitwerk ist etwas Ge-
botenes, was die Opferhandlung, die Ausführung oder den Aus-
führenden betrifft. Dasselbe ist vierfach, sofern es ein Entstehen,
Erlangen, Umwandeln oder Weihen ist. 1) Wenn es z. B. heifst:
,,im Frühling soll der Brahmane die Feuer anlegen" — ,,er behaut
den Opferpfosten" u. s. w., so handelt es sich hierbei für die mit
einer besondern Weihe versehenen Feuer oder Opferpfosten um
ein durch das Anlegen oder Behauen bedingtes Entstehen.
2) Heifst es hingegen: „die heilige Lektion ist zu studieren" — „er
melkt die Milch aus der Kuh" u. s. w., so handelt es sich hierbei
nur um ein Erlangen der schon vorhandenen Lektion oder Milch
durch das Studieren, Melken u. s. w. 3) Wenn es hinwiederum
heifst: „er keltert den Soma" — „er drischt die Reiskörner
aus" — ,,er zerläfst die Butter", so ist dies ein an dem Soma u. s. w.
durch Keltern, Dreschen und Zerlassen bewirktes Umwandeln.
4) Heifst es endlich z. B.: „er besprengt die Reiskörner" — „die
Gattin beschaut das Opfer" u. s. w.. so ist dies ein an den Sub-
stanzen, wie Reiskörner u. s. w., durch Besprengen oder Be-
schauen u. s. w. sich vollziehendes Weihen. Alle vier Arten der
Begleitwerke sind natürlich immer nur die Nebenhandlung betreffend
[ängam, nicht a/iigam aufzulösen]. Ebenso ist auch b. das Zweck-
werk etwas Gebotenes, was die Opferhandlung oder den Ausfüh-
renden betrifft. Dasselbe ist zweifach: Nebenwerk (angani) oder
Hauptwerk (praähänam). Nebenwerk ist, was um eines andern
willen geschieht, Hauptwerk, was nicht um eines andern willen
geschieht. Auch das Nebenwerk ist wieder zweifach, beispringend
helfend oder nur von ferne helfend ; ersteres, sofern es das Wesen
der Haupthandlung fördert, letzteres, sofern es auf den Lohn einen
Einflufs hat. — Eine Vorschrift, die in dieser Weise von allen
Nebenhandlungen begleitet ist, heifst eine Normalform (prakriti),
ist sie hingegen nur von vereinzelten Nebenhandlungen begleitet,
so heifst sie eine Abform (vikriti) ; von beiden verschieden ist die
[einfache] Löffelspende. In dieser Weise [trichotomisch, als Teil,
IV. Die philosophische Litteratur der Inder. 49
Gegenteil und von Leiden Verschiedenes] kann man sich auch das
Übrige zurechtlegen. Damit ist der Vidhi-Teil charakterisiert.
B. Der Arthaväda ist eine Rede, welche als Empfehlung:
als Abmahnung oder auf eine von beiden verschiedene (anyatara)
Weise dem Vidhi als Ergänzung (1. gcsha) dient. Derselbe ist
dreifach als Gunaväda (Urndeutung), Anuväda (Wiederholung) und
Bhutartliaväda (Mitteilung). 1) Der Gunaväda sagt etwas aus,
was mit andern Erkenntnisnormen [z. B. der Wahrnehmung] in
Widerspruch steht, z. B. wenn es heifst: „der Opferpfosten ist die
Sonne". 2) Der Anuväda sagt etwas aus, was durch andere
Erkenntnisnormen schon bekannt ist, z. B. wenn es heifst: „Heil-
mittel ist das Feuer für die Kälte" (Väj. Samh. 23,10). 3) Der
Bhüt arthaväda sagt etwas aus, was weder mit andern Erkennt-
nisnormen in Widerspruch steht noch auch durch sie schon bekannt
ist, z. B. wenn es heifst: „er zückte gegen Vritra den Donnerkeil"
(Taitt. Samh. 6,5,1,1).
Darum heifst es:
„Ein Gunaväda ist bei Widerspruch;
„Ein Anuväda, wo etwas schon feststeht;
„Wo beides fehlt, ist ein Bhutartliaväda;
„So wird der Arthaväda dreigeteilt."
Während alle drei Arten des Arthaväda darin übereinstimmen, eine
Anempfehlung des Vidhi zu bezwecken, so kommt überdies dem
Bhütärthaväda noch Autorität in der von ihm mitgeteilten Sache
zu, nach dem Grundsatze, der gelten mufs, wo es sich um die
Götter handelt. Denn seine Autorität besteht darin, dafs er Un-
bekanntes, aber auch Unwidersprochenes mitteilt. Dieses nun ist
beim Gunaväda, der Widersprochenes betrifft, und beim Anuväda,
der schon Bekanntes mitteilt, nicht der Fall. Und in betreff von
Begebenheiten, die ihrem Inhalte nach jenen [Offenbarungs-] Zweck
nicht verfolgen , bleibt die natürliche Erkenntnisautorität [der
Wahrnehmung u. s. w.] dabei unangetastet. ■ — Damit ist der Ar-
thaväda-Teil charakterisiert.
C. Von beiden, Vidhi und Arthaväda, verschieden sind end-
lich die Texte des Vedänta. Zum Vidhi gehört der Vedänta
nicht, weil er zwar auch, wie dieser, Unbekanntes kundmacht,
nicht aber, wie er, ein Vollbringen befiehlt. [Er ist aber auch
nicht, wie der Arthaväda, eine Ergänzung des Vidhi; denn] da er
an sich selbst in dem das Ziel des Menschen bildenden, aus
höchster Wonne und Erkenntnis bestehenden Brahman, welches
Deüssen, Geschichte der Philosophie. I. 4
50 Einleitung zur Philosophie der Inder.
sein Inhalt ist, auch, wie die sechs Kennzeichen des Anfangs,
Schlusses u. s. w. der Stellen beweisen, seinen Endzweck hat, so
ist er an sich selbst Autorität, ja, er macht alle Vidhi's, sofern
durch sie Reinheit des Herzens bewirkt wird, zu Ergänzungen
seiner selbst, ist aber nicht [wie der Arthaväda] Ergänzung eines
andern. Somit sind die Vedäntatexte von beiden verschieden, und
wenn sie zuweilen, nur weil auch sie Unbekanntes kundmachen, als
Vidhi bezeichnet, oder mitunter, weil sie ein von dem Yidhi ver-
schiedenes Richtschnurwort enthalten , ein Bhütärthaväda genannt
werden, so thut das der Sache keinen Eintrag.
Hiermit ist das Brähmanam nach seinen drei Arten [als Vidhi,
Arthaväda und Vedänta\ charakterisiert.
Schluf sbemerkungen über den Yeda.
Der in dieser Weise aus einem Werkteile (Manfra, Vidhi,
Arthaväda) und einem Brahmanteile (Vcdänta) bestehende Veda
ist die Ursache des Guten, Nützlichen , Angenehmen und der
Erlösung.
Weiter wird derselbe, nach dem dreifachen Gebrauche, den
er bei Ausführung der Opfer findet, eingeteilt in Bigreda, Yajur-
veäa und Sämaveda.
1) Der Rigveda (Veda der Verse) wird gebraucht beim
Dienste des Hotar (der die Götter zu Anfang des Opfers anruft).
2) Der Yajurveda (Veda der Opfersprüche) wird gebraucht
beim Dienste des Adhvaryu (der die Opferhandlung ausführt).
3) Der Sämaveda (Veda der Lieder) wird gebraucht beim
Dienste des Udgätar (der das Opfer mit seinem Gesänge begleitet).
In allen dreien ist auch enthalten, was für den Dienst des Brahmän
(des beaufsichtigenden Priesters) und des Yajamäna (des Veran-
stalters des Opfers) erforderlich ist. Was endlich
4) den Atharvaveda betrifft, so wird derselbe beim Opfer
überhaupt nicht gebraucht, sondern giebt nur Belehrung über die
Werke, welche dienlich sind, Unheil abzuwehren, das Gedeihen
zu befördern und jemandem Unheil anzuthun; ist also von
völlig verschiedener Art.
Noch ist zu bemerken, dafs für jeden Veda, infolge der
Verschiedenheit der Darlegung seines Inhaltes, sich verschiedene
Qäkha's (Schulen, eigentlich: Zweige) gebildet haben. Wenn nun
auch hierdurch bei dem Werkteile eine Verschiedenheit der Be-
handlung des Stoffes durch die verschiedenen Cäkhä's des Veda
IV. Die philosophische Litteratur der Inder. 51
stattfindet, so bilden sie doch, was den Brahmanteil betrifft,
eine Einheit.
Somit erklärt sich die Verschiedenheit der vier Veda's aus
der Verschiedenheit ihrer Bestimmung. — Nunmehr von der Ver-
schiedenheit der Anga's.
II. Die Yedäiiga's.
I. Die Cikshä,
Zweck der Qikshä (Lautlehre) ist, über die specielle Aussprache
der Buchstaben, sowohl der nach Hochton, Tonlosigkeit und Tief-
ton, nach Kürze, Länge und Doppellänge verschiedenen Vokale
als auch' der Konsonanten Belehrung zu erteilen, da ohne diese die
Mantra's ihren Zweck nicht erfüllen können. Denn es heifst
(Cikshä, v. 52. Ind. Stud. IV, p. 367):
„Ein Spruch, der falsch an Ton ist oder Laut,
„Ist nutzlos und besagt nicht, was er soll;
,,Er trifft als Bede -Donnerkeil den Opfrer,
„Wie indracatru, weil er falsch betont war."
[Tvashtar wollte einen Indracatru (Indrabezwinger) schaffen und
schuf durch ein Versehen der Accentuation einen Indracatru (In-
clrabezwungenen).] Eine für alle Veclen gemeinsame Cikshä, an-
fangend mit den Worten: „Nun will die Cikshä ich verkünden"
und aus fünf Teilen [heute nur noch in der Yajus-Becension aus
35, in der Big-Becension aus 60 Cloka's] bestehend, ist von Pänini
veröffentlicht worden. Eine ebensolche, jedoch je nach den Veda-
schulen verschiedene ist unter dem Namen Präticäkhpam von andern
Weisen ans Licht gebracht worden.
2. Das Vyäkaranam.
Indem man ebenso weiter die Bektion der vedischen Worte
ins Auge fafst, giebt ihre Flexion u. s. w. Veranlassung zur Gram-
matik (vyäkaranam). Diese, anfangend mit den Worten: Yriddhir
ad aic („Ablaute sind ä ai auu, Pän. 1,1,1) und aus acht Lek-
tionen bestehend, ist durch die Gnade des Mahecvara (Civa) eben-
falls von dem erhabenen Pänini veröffentlicht worden. Weiter
wurde eine Glosse (värttikam) zu den Sütra's des Pänini von dem
weisen Kätyäyana verfafst. Endlich wurde über diese Glosse
der grofse Kommentar (mahäbTiäshyam) von dem erhabenen Weisen
Pataiijali geschaffen. Dieses ist die Grammatik der drei Weisen,
4 *
52 Einleitung zur Philosophie der Inder.
welche ein Vedäfigam ist und auch als „die von Mahecvara (Qiva)
herstammende" bezeichnet wird. Hingegen sind die Grammatiken
von Kuniära und andern keine Vedäfiga's, sondern haben nur den
Zweck, den profanen Sprachgebrauch kennen zu lehren; so steht
es damit.
3. Das Niruktam.
Nachdem in dieser Weise durch Lautlehre und Grammatik
die Aussprache der Buchstaben und die Rektion der Wörter erkannt
worden, so entsteht weiter das Bedürfnis, die Bedeutung der in
den vedischen Mantra's vorkommenden Wörter zu verstehen, und
zu diesem Zweck ist von dem verehrungswürdigen Yaska das mit
den Worten: „Die Zusammenstellung ist vollbracht; selbige ist zu
erklären " anfangende und aus dreizehn Lektionen bestehende
Niruktam verfafst worden. In diesem werden die vier Arten
der Wörter, Nomen, Verbum, Partikel und Präposition, betrachtet
und dabei die Bedeutung der in den vedischen Mantra's enthaltenen
Begriffe klargelegt. Da nämlich die Mantra's nur wirksam sind,
sofern sie die Sache, die man ausüben soll, klar machen, da aber
die Erkenntnis des Sinnes der Sätze von der Erkenntnis der Be-
griffe abhängig ist, so wird, um die in den Mantra's vorkommenden
Begriffe zu erkennen, das Niruktam unumgänglich erfordert, denn
ohne dasselbe ist eine Ausübung nicht möglich, da bei schwer ver-
ständlichen Worten wie: „sringeva jarbhari turpharitü" (Rigv. 10,
106,6) auf andere Weise eine Erkenntnis des Sinnes nicht zu
bewerkstelligen ist. So sind denn auch die Nighantu's, welche
die synonymen Worte für die Begriffe der vedischen Gegenstände
und Gottheiten enthalten, im Niruktam mitbefafst, und das in
ihm enthaltene, Nighantu genannte und aus fünf Lektionen be-
stehende Werk ist ebenfalls von dem- verehrungswürdigen Yaska
verfafst.
4. Das Chandas.
Da ebenso ferner die Vers -Mantra's durch specielle, nach
Versgliedern verbundene Metra von einander verschieden sind , da
über deren Unkenntnis die Schrift ihre Mifsbilligung ausdrückt,
und da die Vorschrift über bestimmte Obliegenheiten in bestimmten
Metren begründet ist, so entsteht weiter ein Bedürfnis nach
Kenntnis der Metra (chandas), und um diese mitzuteilen, ist die
mit den Worten: dhi-cri-stri m („Geist-Glück-Frau ist ein Molossus")
anfangende und aus acht Lektionen bestehende „Erläuterung der
Metra" [clumdo-vivriü, fraglich, ob Titel] von dem verehrungs-
würdiffen Pineala verfafst worden. Hierbei werden in den ersten
IV. Die philosophische Litteratur der Inder. 53
drei, mit dem Worte alaukikam („[so weit] das nichtweltliche")
endigenden Lektionen die sieben Metra: gäyatri (8 + 8 -f- 8 Silben),
usJmih (8 + 8 + 12), anushtubli (8 + 8 + 8 + 8), brihati (8 + 8
+ 12 + 8), panJcti (8 + 8 + 8 + 8 + 8), trisHubh (11 + 11 +
11 + 11) und jagati (12 + 12 + 12 + 12) nebst ihren Unterarten
dargestellt. In den übrigen fünf Lektionen werden, anfangend mit
den Worten: atha lavikikam („nunmehr das weltliche"), bei dieser
Gelegenheit auch die weltlichen, in den Puränä'ß, Itihäsa's u. s. w.
zur Verwendung kommenden Metra betrachtet, wie ja auch in der
Grammatik die weltlichen Worte mit in Betracht gezogen werden.
5. Das jyotisham.
Ebenso ist weiter zur Erkenntnis der Zeiten des Vollmonds u.s.w.,
wie sie einen Teil der vedischen Werke bildet, das Jyotisham (Stern-
kunde, Kalenderkunde) von dem verehrungswürdigen Aditya (dem
Sonnengotte) sowie von Garga u. a. hervorgebracht worden und
von vielerlei Art.
6. Der Kalpa.
Zur Erkenntnis der speciellen Reihenfolge der vedischen Kul-
tushandlungen , indem man auch die Bestimmungen anderer Veda-
schulen mit hereinzieht, dienen die Kalpa- sütra's (rituellen Sutra's) ;
dieselben sind, entsprechend den drei Arten ihrer Verwendung,
dreifach :
1) die Gebräuche beim Hotar -Dienste lehren die Sütra's
des Acualäyana, Qänkhäyana u. a. ;
2) die Gebräuche beim A dhvaryu-Dienste die des Batt-
dhäyana, Apastamba, Kätyäyana u. s. w.;
3) die Gebräuche beim Udgätar-Dienste die des Ldtyä-
yana, Drähyäyana u. a.
Damit ist die Verschiedenheit des Zweckes der sechs Angola
charakterisiert. Jetzt wird die der vier Upänga's darzulegen sein.
III. Die Upänga's.
I. Die Puräna's.
Die von dem verehrungswürdigen Bädaräyana verfafsten
Pifrimd's (Erzählungen aus der Vorzeit) belehren über Schöpfung,
Wiederschöpfung, Stammbäume der Götter, Manuperioden und Ge-
schichte der Geschlechter. Es sind ihrer achtzehn, nämlich:
54 Einleitimg zur Philosophie der Inder.
1 . Brahm a - puränam
2. Padma- puränam
3. Vishnu- purcmam
4. Qiva -puränam
5. Bhägav ata -puränam
6 . Näradiya -p uränam
7. MärMndeya -puränam
8. Agni-puränam
9. Bliavishya -puränam
10. BraJimavaivarta -puränam
1 1 . Linga -puränam
12. Yaräha-puräyiam
1 3 . Skanda -puränam
14. Vämana -puränam
15. Kürma -puränam
16. Matsya- puränam
1 7 . Garuda -puränam
18. Brahmända- puränam.
Weiter giebt es noch mancherlei üpapuränd's, wie zu ersehen ist
aus den Versen:
„Zuerst, der Vedakenner Gröfste! kommt
„Das von Sanatimmära dargelegte,
„Zu zweit das, welches Närasinliam heilst;
„Das Nändam drittens, viertens (Jicadharinam,
„Fünftens JDauruäsam, sechstens Näradiyam ;
„Zusiebent Käpilam, zuacht Mänavam,
„Sodann folgt das von Uganas verfafste;
„Weiter Brahmändam, hierauf Värunam ,
„Dann das Kälipuränam des Yasishtha,
„Von ihm das Lalngam auch, dem Qiva heilig;
„Das Sänibam dann und Sauram, wunderbar;
„Dann das Päräcaram und das Märlcam,
„Und endlich noch das Bhärgavam genannte,
„Das aller Satzung Inhalt ganz enthält."
2. Der Nyäya.
Der Nyäya (Logik) ist die Denklehre, wie sie in fünf Lek-
tionen von Gotama verfafst ist. Ihr Zweck ist, durch Benennung,
Definition und Prüfung eine Erkenntnis des Wesens der sechzehn
Kategorien (Grundbegriffe, padärtha's) zu gewinnen, welche sind:
IV. Die philosophische Litteratur der Inder. 55
1. pramänam Beweis,
2. pranieyam zu Beweisendes,
3. samgaya Zweifel,
4. prayojanam Motiv,
5. drishtdnta Erfahrungssatz (Beispiel),
, 6. siddliänta erwiesener Satz,
7. avayava Syllogismus,
8. tarka Apagoge,
9. nirnaya Entscheidung,
10. väda Unterredung,
1 1 . jalpa Redestreit ,
12. vitandä Chicane,
13. Jietväbhäsa Scheingrund,
14. cliala Verdrehung,
15. jäti Albernheit,
16. nigrahasthänam Abbruchsgrund.
Weiter ist da noch das aus zehn Lektionen bestehende, von
Kanada begründete Vaigeshika- Lehrbuch. Sein Zweck ist, die
sechs Kategorien
1. dravyam Substanz,
2. guna Eigenschaft,
3. Jcarman Thätigkeit,
4. sämänyam Gemeinsamkeit,
5. vigesha Unterschied,
6. samaväya Inhärenz,
zu denen noch 7. abhäva Negation kommt,
nach Gleichartigkeit und Verschiedenheit zu entwickeln. Auch
dieses System wird mit dem Worte Nyäya bezeichnet.
3. Die MTmänsä.
Auch die Mimänsä ist zweifach, nämlich A. Karma-mimänsä
(Werkforschung) und B. Cäriraka-mimänsä (Seelenforschung,
auch hrahma-mlmänsä, uttara-mimänsä , vedänta genannt).
A. Karma-mimänsä.
Die Karma-mimänsä besteht aus zwölf Lektionen, fängt an
mit den Worten: „Nunmehr daher die Pflichtforschung ", endigt
mit den Worten: „und weil sie dieselben bei der Opfergabe er-
56 Einleitung zur Philosophie der Inder.
erwähnt" und ist von dem verehrungswürdigen Jaimini hervor-
gebracht worden. Folgendes ist der Inhalt der zwölf Lektionen:
1. Erkenntnisgrund der Pflicht.
2. Verschiedenheit und Einheit der Pflicht.
3. Neben- und Haupthandlungen.
4. Verschiedene Bethätigung je nach dem Zwecke der Opfer-
handlung und dem Zwecke des Menschen.
5. Reihenfolged.es von der Schrift gebotenen Recitierens u. s.w.
6. Bestimmung der Berechtigung.
7. Erweiterung der Gebote, im allgemeinen.
8. Erweiterung im besondern.
9. Modifikationen.
10. Restriktionen.
11. Einwirken auf mehrere zugleich [wie einer Lampe, die
mehreren leuchtet].
12. Gelegentliche Nebenwirkungen [wie einer Lampe, die
auch auf die Strafse leuchtet].
Ferner ist verfafst von Jaimini auch das aus vier Lektionen
bestehende SanJcarshana-Känäam; dieses, welches auch unter dem
Namen Devatä-Kcmäam bekannt ist, gehört, weil es die Verehrung
als Werk behandelt, mit zur Karma-mimänsä.
B. Vedanta.
Die aus vier Lektionen bestehende Cäriraka- mim an sä,
wie sie beginnt mit den Worten: „nunmehr daher die Brahman-
forschung" und endigt mit den Worten: „keine Wiederkehr nach
der Schrift", hat als Zweck, die Einheit des Brahman und der
Seele vor Augen zu stellen, sowie die Regeln aufzuzeigen, welche
die Betrachtung [jener Einheit] mittels Anhörens des Schrift-
wortes u. s. w. [lies ädyd\ lehren, und ist verfafst von dem ver-
ehrungswürdigen B ä d a r ä y a n a.
I. Hierbei wird die Übereinstimmung (savnanvaya), mit
welcher alle Vedäntatexte unmittelbar oder mittelbar auf das
innerliche, unteilbare, zweitlose Brahman abzwecken, in der ersten
Lektion nachgewiesen. 1) Im ersten Viertel derselben werden
diejenigen Stellen besprochen, in welchen deutliche Merkmale des
Brahman vorkommen. 2) Im zweiten Viertel hingegen diejenigen,
welche undeutliche Merkmale des Brahman enthalten und sich auf
das Brahman als Gegenstand der Verehrung beziehen. 3) Im dritten
Viertel solche, welche gleichfalls undeutliche Merkmale des Brahman
IV. Die philosophische Litteratur der Inder. 57
enthalten, jedoch zumeist sich auf Brahman als Gegenstand der
Erkenntnis beziehen. 4) Nachdem in dieser Weise die Unter-
suchung der Textstellen durch die drei ersten Viertel zum Ab-
schlüsse gebracht ist, so werden hingegen im vierten Viertel gewisse
Schriftworte, bei denen es zweifelhaft sein kann, ob sie sich nicht
auf das Pradliänam (die Urmaterie der Sähkhya's) beziehen,
z. B. das von dem avyalitam, von der ajä u. s. w. , in Erwägung
gezogen,
IL Nachdem in dieser Weise die Übereinstimmung der Vedänta-
texte in betreff des zweitlosen Brahman erwiesen worden, so wird
Aveiter, in Erwartung eines Einspruches auf Grund der Argumente,
wie sie Von der in Ansehen stehenden Smriti (Tradition) , Re-
flexion u. s. w. vorgebracht werden, die Beseitigung dieses Ein-
spruches unternommen und somit in der zweiten Lektion die
Unwidersprechlichkeit (avirodlia) dargelegt. 1) Hierbei wird
im ersten Viertel der Einspruch gegen die Übereinstimmung des
Vedänta widerlegt, welcher aus den Smriti's des Sähkhyam, des
Yoga, der Kanäda-Schüler u. s. w. , sowie aus den von den Sän-
khya's u. s. w. vorgebrachten Reflexionen herrührt. 2) Im zweiten
Viertel wird die Verfehltheit der Lehrsätze der Sänkhya's u. s. w.
dargelegt, sodafs diese Betrachtung aus zweien, einerseits der Be-
festigung der eigenen, anderseits der Bestreitung der fremden Lehre
dienenden Teilen besteht. 3) Im dritten Viertel wird der gegen-
seitige Widerspruch der Schriftstellen in betreff der Schöpfung u.s.w.
der Elemente im ersten Teile gehoben, im zweiten Teile hingegen
der in betreff der individuellen Seele. 4) Im vierten Viertel wird
der Widerspruch der auf die Sinnesorgane bezüglichen Schrift-
stellen gehoben.
III. In der dritten Lektion folgt die Erörterung der Mittel
(sudhmam). 1) Hierbei wird im ersten Viertel durch Betrachtung
des Hingehens der Seele in die andere Welt und ihres Wieder-
kommens die Entsagung [als Mittel, der Seelenwanderung zu ent-
gehen] in Betracht gezogen. 2) Im zweiten Viertel wird in der
ersten Hälfte der Begriff des „Du" (der Seele) und in der zweiten
Hälfte der Begriff des „Das" (des Brahman) ins reine gebracht
[wie sie in der Formel tat tvam asi „Das bist Du", Chänd. 6, 8, 7,
identisch gesetzt werden]. 3) Im dritten Viertel wird in betreff
des attributlosen Brahman eine Zusammenfassung der in den ver-
schiedenen Vedaschulen vorkommenden, soweit nicht tautologischen,
Aussprüche vorgenommen, und bei dieser Gelegenheit wird erörtert,
inwieweit in betreff der attributhaften sowohl als attributlosen
58 Einleitung zur Philosophie der Inder.
Lehren die in verschiedenen Vedaschulen vorkommenden Attribute
zusammenzufassen oder nicht zusammenzufassen sind. 4) Im vier-
ten Viertel werden die Mittel der Erkenntnis des Brahman, und
zwar sowohl die aufsenseitigen (unwesentlichen) Mittel, wie Lebens-
stadien, Opfer u. s. w. , als auch die innenseitigen (wesentlichen)
Mittel, wie Beruhigung, Bezähmung, Überdenkung u. s. w., in Be-
tracht gezogen.
IV. In der vierten Lektion erfolgt die Darlegung der beson-
deren Frucht (phalam) der attributhaften und der attributloseu
Wissenschaft. 1) Im ersten Viertel wird ausgeführt, wie, nachdem
durch wiederholtes Anhören der Schrift u. s. w. das attributlose
Brahman vor Augen gestellt worden, für den noch Lebenden schon
die durch Nichtanhaftung der bösen und guten Werke gekennzeich-
nete Erlösung -bei -Lebzeiten eintritt. 2) Im zweiten Viertel wird
die Art, wie die Seele des Sterbenden auszieht, überdacht. 3) Im
dritten Viertel wird der weitere Weg des das attributhafte Brahman
Wissenden nach dem Tode auseinandergesetzt. 4) Im vierten Viertel
wird in der ersten Hälfte gezeigt, wie der das attributlose Brahman
Wissende die körperlose [erst mit dem Tode eintretende] Absolut-
heit erlangt, während die zweite Hälfte zeigt, wie der das attri-
buthafte Brahman Wissende in der Brahmanwelt seine bleibende
Stätte findet.
Dieses Lehrbuch ist unter allen das hauptsächlichste; alle
andern Lehrbücher dienen nur zu seiner Ergänzung. Darum sollen
es hochachten die nach Erlösung verlangen; und zwar in der Auf-
fassung, wie sie von des erlauchten Qahkara verehrungswürdigen
Füfsen dargelegt worden ist. — So viel über die Gehfimlehre
[den Vedänta].
4. Die Dharmacästra's.
Es folgen dann weiter die DJtarmacdstras (Lehrbücher über
Sitte und Recht), welche von Manu, Yäjnavalkya, Vishnu, Yama,
ATigiras, Vasishfha, Dalislia, Samvarta, Qätätapa, Parärara, Gau-
tama, Qankha, LiJiJäta, Härita, Apastamba, Ucanas, Yydsa. Kä-
tyäyana, Brihaspati, Devala, Närada, PaitMnasi und andern ver-
f'afst sind und die speciellen Pflichten der Kasten und Lebensstadien
[obwohl sie schon im Veda vorkommen] noch für sich besonders
darlegen.
Ebenso gehören das Mahäbhäratam des Yyäsa und das
Rämäyanam des Yälmilü eigentlich zu den Dharmacastra's, sind
aber auch unter ihrem besondern Namen als Itihäsa's (epische
Gedichte) bekannt.
IV. Die philosophische Litteratur der Inder. 59
Auch das Sänkhya- System und andere gehören eigentlich
unter die Dharniacastra's, sollen jedoch hier unter eigenem Namen
aufgeführt werden, daher ihre Stellung zum Ganzen noch besonders
für sich anzugeben sein wird.
Weiter folgen, den vier Veda's der Reihe nach entsprechend,
die vier Upa/oeda's [nämlich: „Der Upaveda des Rigveda ist der
Ayurveda, der des Yajurveda der Dhanurveda , der des Säma-
veda der Gändharvaveda, der des Atharvaveda das Qiljpacästram,
so hat es der erhabene Kätyäyana gelehrt", Caranavyüha § 38,
Ind. Stud. III, 280].
IT. Die Upayeda's.
I. Der Ayurveda.
Der Ayurveda (Gesundheitslehre) enthält acht Hauptstücke,
nämlich [die Übersetzung mutmafslich] :
1. sütram Hodegetik
2. cariram Anatomie
3. aindriyam Physiologie
4. cikitsq Therapeutik
5. nklänam Diagnose
6. vimänam Receptierkunst (?)
7. vUcalpa Toxikologie (?)
8. siddhi magische Einwirkung.
Der Ayurveda ist von Brahman, Prajäpati, den Agvin's, Dhan-
vantari, Indra, Bharadväja, Atreya, Agniveca und andern gelehrt
und von Caraka zusammengefafst worden. Über denselben Gegen-
stand wurde von Sugruta eine andere Methodenlehre, bestehend
aus fünf Hauptstücken [1. sütrasthänam Hodegetik, 2. nidänasthä-
nam Diagnose, 3. carirastJumam Anatomie, 4. cilätsita-stliänam
Therapeutik, 5. Tccdpasthänam Toxikologie; nebst 6. idtaratantram:
a. cäläkya-tantram Auge, Ohr, Nase, Kopf, b. gärira-adhyäya
Kinder- und Frauenkrankheiten, c. Icäyacildtsä innere Krankheiten,
d. bhidavidyä Psychiatrik, e. Hygienik u. a.], verfafst. Ebenso von
Vägbhata und andern auf mancherlei Weise, doch so, dafs sie
dieselbe Disciplin enthalten.
Zum Ayurveda gehört ferner auch das Immacästram (Lehrbuch
über den Geschlechtsgenufs). Auch hierüber wird dem Sugruta
ein Yäjikaranam (Über Aphrodisiaka) genanntes kämacastram
60 Einleitung zur Philosophie der Inder.
zugeschrieben. Ein anderes kämacästram, bestehend aus fünf Lek-
tionen, rührt von Vätsyäyana her. Sein eigentlicher Endzweck
aber ist, Enthaltsamkeit vom Sinnengenusse zu lehren, da derselbe,
auch wenn in der vom Lehrbuche illustrierten Weise betrieben,
doch als Endergebnis blofs Schmerz hat.
Der Zweck des Systemes der Heilkunde ist Erkenntnis der
Krankheiten und ihrer Ursachen, der Heilungen und ihrer Mittel.
2. Der Dhanurveda.
Weiter folgt der Dhanurveda (Bogenkunde, Kriegswissen-
schaft) in vier Teilen, von Vicvämitra verfafst. Der erste Teil
ist der Weiheteil, der zweite der Inbegriffteil, der dritte der Übungs-
teil, der vierte der Anwendungsteil. 1) Der erste Teil enthält den
Begriff des Bogens (der Waffe) und die Bestimmung des zu seiner
Führung Berechtigten. Hierbei wird das Wort dhanus, welches
ursprünglich den Bogen bedeutet, von allen dem Bogen verwandten
Waffen gebraucht. Diese sind von vier Arten: solche zum Werfen,
nicht zum Werfen, zum Werfen und Nichtwerfen, zum Werfen
mittels einer Maschine. Zum Werfen dienen Wurfscheiben u. s. w.:
nicht zum Werfen Schwerter u. s. w. ; zum Werfen und Nichtwerfen
die Lanzen in ihren verschiedenen Arten u. s. w. ; zum Werfen
mittels einer Maschine Pfeile u. s. w. Die losgelassene Waffe heifst
astram (Fernwaffe), die nichtlosgelassene castram (Nahwaffe); letztere
ist wieder von mancherlei Art, je nachdem sie dem Brahman.
Vishnu, Civa, Prajäpati, Agni u. s. w. geweiht ist. Diejenigen
nun, welche die Berechtigung haben, diese so mit Schutzgottheiten
versehenen und durch Zaubersprüche geweihten viererlei Waffen
zu führen, also die Söhne der Ksliatriya's nebst ihrem Gefolge,
zerfallen in vier Klassen, je nachdem sie zu Fufs, zu Wagen, zu
Elefant oder zu Pferde sind. Endlich wird noch alles, was die
Weihe, die Salbung, die Auspicien und [sonstigen] Vorzeichen be-
trifft, im ersten Teile überliefert. 2) Im zweiten Teile wird über
alle Arten der Waffen und den, der sie gebrauchen lehrt, unter
vorhergehender Definition eine Art Inbegriff gegeben. 3) Die
wiederholte Einübung in den mannigfachen, unter Anleitung des
Meisters erlernten Waffen sowie die Bewirkung ihrer Zauberübung
dadurch, dafs man sie mit Sprüchen bespricht und Gottheiten
weiht, wird im dritten Teile behandelt. 4) Endlich wird im vier-
ten Teile davon gehandelt, wie die durch Verehrung der Gottheiten,
durch Übung u. s. w. wirkungskräftig gewordenen Waffenarten in
rechter Weise zu gebrauchen sind.
IV. Die philosophische Litteratur der Inder. 61
Dafs die Kshatriya's die ihnen obliegende Pflicht üben, zu
kämpfen, die Bösen zu bestrafen, die Unterthanen vor Dieben u. s. w.
zu schützen, das ist der Zweck des Dhanurveda; und diesem dient
das von Brahman, Prajäpati u. s. w. überkommene und von Vigvä-
mitra aufgestellte Lehrbuch ihrer Pflichten.
i 3. Der Gändharvaveda.
Der Gändharvaveda ferner ist von dem verehrungswürdigen
Bharata verfafst. Er zerfällt in die Lehre vom Gesänge, vom
Instrumentenspiele und vom Tanze und hat einen mannigfachen
Inhalt. Die Götter [der Sinnesorgane] zu befriedigen und dadurch
die Fähigkeit zu einer unentwegten Meditation zu gewinnen, das
ist der eigentliche Zweck des Gändharvaveda.
4. Das Arthacästram.
Auch das Arthagästram (Lehrbuch für praktische Zwecke)
ist vielfach; als Lehrbuch der Lebensklugheit, Lehrbuch der Pferde-
behandlung, Lehrbuch der Künste und Handwerke, Lehrbuch der
Kochkunst und Lehrbuch der vierundsechzig Künste ist es von
mancherlei Weisen in seiner Gesamtheit hervorgebracht; und diese
Gesamtheit gliedert sich je nach den besondern, auf weltliche Dinge
bezüglichen Zwecken.
Anhang.
Das sind die achtzehn Disciplinen, wie sie unter dem Worte
trayi (die Dreiheit der Veden) befafst werden, wenn anders nicht
eine Unzulänglichkeit [der Veden für sämtliche Zwecke des Men-
schen] eintreten soll [was a priori unmöglich ist].
So gehört denn auch zu ihnen das Lehrbuch der Sänkhya's,
wie es von dem verehrungswürdigen Kapila verfafst ist. Dasselbe
fängt an mit den Worten: „Nunmehr das absolute Aufhören der
dreifachen Schmerzen als das absolute Endziel des Menschen" und
besteht aus sechs Lektionen. In der ersten Lektion werden die
Gegenstände der Forschung in Betracht gezogen ; in der zweiten
Lektion die Produkte der Grundursache; in der dritten Lektion
die Lossagung von den Sinnendingen; in der vierten Lektion folgt
die Erzählung von Beispielen solcher, welche, wie Piugalä (4,11),
der Seeadler (Icurara 4,5) und andere, sich losgesagt haben; in
der fünften Lektion die Beseitigung gegnerischer Einwürfe; in der
sechsten Lektion ein Resume des ganzen Inhalts. Der Zweck
der Sänkhyalehre ist die Erkenntnis der Verschiedenheit der Natur
und der Seele.
432 Einleitung zur Philosophie der Inder.
Ferner gehört hierher das Lehrbuch des Yoga, wie es von
dem verehrungswürdigen Patanjali verfafst ist. Dasselbe fängt
an mit den Worten: „Nunmehr die Anweisung zur Hingebung
(yoga)u und besteht aus vier Teilen. 1) Im ersten Teile wird die
in der Hemmung der Gedankengeschäftigkeit bestehende Versenkung
(samädlii) nebst Übung und Entsagung als ihren Mitteln dargestellt.
2) Der zweite Teil handelt von den acht Stufen, durch welche
auch ein zerstreuter Geist zur Versenkung gelangen kann, nämlich:
Enthaltung, Bezähmung, Körperhaltung, Coercierung des Atems,
Restriktion, Fixierung, Absorption und Versenkung. 3) Der dritte
Teil schildert die Machtentfaltungen des Yoga; 4) der vierte Teil
seine Absolutheit. — Der Zweck des Yoga ist, durch Unterdrückung
entgegenstehender Vorstellungen die hingebende Meditation zu be-
wirken.
Ebenso ist weiter die von Pagujpati (dem Herrn der Geschöpfe.
Qiva) erdachte Lehre der Päcupata's zum Zwecke, durch den
Herrn der Geschöpfe das Geschöpf von seinen Fesseln zu erlösen,
und anfangend mit den Worten: „Nunmehr daher wollen wir die
Weise der Hingebung des Päcupata erklären" in fünf Lektionen
abgefafst worden. Hierbei kommen durch alle fünf Lektionen zur
Darstellung: 1) als Wirkung: die individuelle Seele, „das Ge-
schöpf" (paeu); 2) als Ursache: „der Herr" (pati), das heifst
Gott; 3) als die Hingebung an den Herrn der Geschöpfe: das
Versenken der Gedanken; 4) als die Weise dieser Hingebung: sich
an den drei Spendezeiten des Tages mit Asche zu waschen u. s. w.
5) Der Zweck ist die „Schmerz-Ende" benannte Erlösung. Das
sind die fünf Hauptbegriffe : Wirkung, Ursache, Hingebung, Weise
und Schmerz-Ende, wie sie benannt werden.
Weiter ist da das vishnuitische , von Närada und andern
verfafste Paiicarätram. In diesem werden Yäsiideva, Samkarshana,
Pradyumiui und Aniriiddlia als die vier Grundbegriffe besprochen.
Der verehrungswürdige Yäsiideva ist die Ursache von allem, der
höchste Gott; aus ihm entspringt die Sanikar shana genannte indi-
viduelle Seele; aus dieser Pradyumna , das heifst das Manas; aus
diesem Aniruddl/a, das heilst der Ahamkära. Alle diese aber sind
uur Teile des verehrungswürdigen Väsudeva und daher von ihm
ungetrennt; daher derjenige, welcher den verehrungswürdigen Vä-
sudeva durch sein Verhalten in Gedanken, Worten und Werken
zufriedenstellt, ein die Aufgabe erfüllt Habender ist, wie es zu
Anfansf der Darstellung heifst.
IV. Die philosophische Litteratur der Inder. 63
Nachwort.
Damit wäre denn die Mannigfaltigkeit der Methoden dargelegt.
Fassen wir alles zusammen, so giebt es eigentlich nur drei ver-
schiedene Wege:
1) ärambha-väda, Behauptung einer Aggregation [eines An-
fangs durch mechanische Verbindung],
'2) parinäma-väda: Behauptung einer qualitativen Um-
wandlung,
3) vivarta-väda Behauptung einer subjektiven Täuschung
[wörtlich: einer Entstellung].
1) Die erste Theorie behauptet, dafs die vierfachen, nämlich
erdartigen, wasserartigen, feuerartigen und luftartigen Atome im
Fortschritte der Verbindung zu Doppelatomen u. s. w. die im
Brahman-Ei [dessen Schalen Himmel und Erde sind, also im Uni-
versum] sich vollendende Welt hervorbringen. Hiernach ist die
Wirkung [d. h. die Welt] also zuerst nichtseiend und entsteht erst
durch die Thätigkeit eines Wirkenden. Dieses ist die Ansicht der
Tärkika's (Nyäya, Vakeshikam) und der Mimänsaka's (?).
2) Die zweite Theorie behauptet, dafs die aus den drei Be-
stimmtheiten, Sattvam, Itajas und Tamas, bestehende Urmaterie
selbst durch MaJiad, Ahankära u. s. w. hindurch sich zu der Ge-
stalt der Welt umwandelt. Hiernach ist die Weltwirkung schon
vor ihrem Entstehen ein in subtiler Form Seiendes und wird durch
die Thätigkeit der Weltursache nur offenbar gemacht (lies: ablü-
vyajyate). Dieses ist die Ansicht der Sänkhya's und der dem
Yoga (der Hingebung) huldigenden Pätahjala's und Pägupata's,
während die Vaishnava's die Welt für eine [gleichfalls nur quali-
tative] Umwandlung des Brahman erklären.
3) Die dritte Theorie lehrt, dafs das durch sich selbst leuch-
tende, höchster Wonne volle, zweitlose Brahman infolge der ihm
einwohnenden Zauberkraft (mäyä) nur irrtümlich sich in Gestalt
der Welt darstellt. Dies ist die Ansicht der Brahmavädin's (der
Vedänta - Lehrer).
Eigentlich laufen die Ansichten aller der Weisen, welche diese
Methoden geschaffen haben, auf die Lehre des Virarta (der sub-
jektiven Täuschung) hinaus* und bezwecken somit am letzten Ende,
* Diese, uns ganz aus der Seele gesprochenen Worte des wackern
Madhusüdana würden, in unserer Sprache ausgedrückt, besagen, dafs alle
Philosophen sich der Lehre dunkel hewufst gewesen sind, welche Kant zu
wissenschaftlicher Evidenz erhob, dafs die Welt nur Erscheinung und nicht
Ding an sich ist.
64 Einleitung zur Philosophie der Inder.
den zweitlosen höchsten Gott kennen zu lehren. Denn diese "\\ eisen
können doch nicht geirrt haben, da sie ja allwissend waren. Aber
sie erkannten, dafs solche, welche den Sinnendingen zugeneigt sind,
nicht mit einem Male zur Erkenntnis des Endzieles des Menschen
gebracht werden können , und um sie daher wenigstens vor der
negativen Richtung zu bewahren, stellten sie ihre mannigfachen
Lehrmethoden auf. Aber die Menschen haben diese ihre Endabsicht
nicht erkannt, halten, auch wo jene etwas dem Veda "Widerspre-
chendes lehren, dieses für ihre Endabsicht, und indem sie eine
solche Meinung als ernstgemeint annehmen, finden sie ihre Befrie-
digung auf diesen mancherlei Abwegen. Als Ganzes genommen
aber ist sie [die Vedalehre mit ihren Dependenzien] tadellos.
Ende
des Prasthänahheda des Madhusüdana - Sarasvati.
V. Der Veda und seine Teile.
Für die beiden ersten der drei Perioden, in die wir oben
(S. 43) die indische Geschichte eingeteilt haben, d. h. für die
Hymnenzeit und die Brähmanazeit, bildet die einzige
Quelle, aus der wir unsere Kenntnis des Kulturlebens der
Inder und somit auch ihrer Philosophie zu schöpfen haben,
der Veda, unter dem wir nicht ein einzelnes Buch, wie den
Koran, auch nicht eine irgend einmal veranstaltete Sammlung
von Büchern, wie die Bibel, sondern die noch nie zu einer
Sammlung vereinigt gewesene Gesamtheit derjenigen Schrif-
ten zu verstehen haben, welchen der orthodoxe Inder über-
menschlichen Ursprung und göttliche Autorität zuschreibt,
und die er demgemäfs als die Richtschnur für sein Denken
wie für sein Handeln betrachtet. Die Litteratur der Inder
ist also in der altern Zeit, etwa bis 500 a. C, ausschlielslich
eine heilige, aus welcher sich erst in der folgenden Periode,
die wir die Sanskritzeit nannten, eine profane Litteratur
entwickelt. Diese Erscheinung, welche, in etwas veränderter
Weise, bei den Chinesen, Iraniern und Hebräern wiederkehrt,
ist eine leicht verständliche; sie beruht darauf, dafs in den
ältesten Zeiten eines Volkes der Priesterstand im alleinigen
Besitze aller höhern Bildung (daher z. B. auch der Medizin
V. Der Veda und seine Teile. 65
und Astronomie) zu sein pflegt, dafs somit die Pfleger der
Religion auch die einzigen Pfleger der Litteratur waren. Erst
in einer spätem Zeit dringen mit dem zunehmenden Wohl-
stande materielle Unabhängigkeit und geistige Bildung in
weitere Kreise ein, und es kommt zu einer zweiten, profanen
Periode der Litteratur. So bei den Indern und Chinesen;
und so würde sich vermutlich auch bei den Hebräern an die
kanonische Litteratur eine (schon in den Jüngern Schriften des
Kanons ihrem Aufkeimen nach sehr wohl merkliche) weltliche
Litteratur angeschlossen haben, wäre nicht ihrem nationalen
Leben vor der Zeit ein jähes Ende bereitet worden.
Bei dieser Lage der Sache werden wir für Indien vor
allem andern die Frage aufzuwerfen und in der Kürze zu
beantworten haben: was ist eigentlich jenes merkwürdige und
vielbesprochene Denkmal ältester indischer Kultur, was ist
der Veda? Zur Beantwortung wollen wir unsere, als Ein-
leitung in „das System des Veclänta" S. 5 fg. gegebene Dar-
stellung im wesentlichen hier herübernehmen.
Der grofse, noch nicht völlig zu übersehende Schriften-
komplex, welcher den Namen Veda, d. h. „das (theologische,
in der ältesten Zeit alles befassende) Wissen" führt, und dessen
Umfang den der Bibel wohl mehr als sechsmal übertreffen
mag, gliedert sich zunächst in vier Abteilungen:
I. Rigveda, der Veda der Verse.
IL Sämaveda, der Veda der Lieder.
III. Yajurveda, der Veda der Opfersprüche.
IV. Atharvaveda , der Veda des Atharvan.
Bei jedem dieser vier Veden haben wir drei, nach Inhalt,
Darstellungsform und Zeitalter verschiedene Schriftgattungen
zu unterscheiden:
A. die Samhitä, Sammlung,
B. das Brähmanam, rituelle Erklärung,
C. das Sütram, Leitfaden.
Endlich sind die meisten dieser zwölf Abteilungen, je nach
den Schulen, denen sie zum Studium dienten, in verschiedenen,
mehr oder weniger abweichenden Redaktionen vorhanden,
welche man gewöhnlich als die QäTcka's, d. h. als „die Zweige"
des Vedabaumes, bezeichnet.
Deussen, Geschichte der Philosophie. I. 5
QQ Einleitung zur Philosophie der Inder.
Zum Verständnisse dieser komplizierten Verhältnisse wird
es förderlich sein, fürs erste die Gestalt zu betrachten, in
welcher der Veda gegenwärtig vorliegt, indem wir dabei noch
absehen von dem mehr als tausendjährigen Entwicklungspro-
zesse, durch welchen er zu dieser Gestalt erwachsen ist.
Zunächst nun sind die vier Veden in der Form, wie sie
uns entgegentreten, nichts anderes als die Manuale der
brahmanischen Priester (ritvij), welche diesen das zum
Opferkultus erforderliche Material an Hymnen und Sprüchen
an die Hand geben, sowie den rechten Gebrauch desselben
lehren sollen. Zu einer vollständigen Opferhandlung nämlich
gehören vier, ihrem Studiengange und Amte nach verschiedene
Hauptpriester :
I. Der Hotar (Rufer), welcher die Verse (ric) der
Hymnen recitiert, um dadurch die Götter zum Ge-
nüsse des Soma oder sonstigen Opfers einzuladen;
II. der Udgätar (Sänger), der die Bereitung und Dar-
bringung des Soma mit seinem Gesänge (saman)
begleitet;
III. der Adhvaryu (ausübender Priester), welcher die
heilige Handlung vollzieht, während er die entspre-
chenden Verse und Opfersprüche (yajus) hermurmelt ;
IV. der B rahm an (Oberpriester), dem die Beaufsich-
tigung und Leitung des Ganzen obliegt.
Das kanonische Buch für den Hotar ist der Rigveda
(wiewohl die Rigveda-samhitä schon von Haus aus eine weiter
greifende, nicht blol's rituelle, sondern litterarische Bedeutung
hat), das für den Udgätar der Sämaveda, das für den Adh-
varyu der Yajurveda, während hingegen der Atharvaveda
mit dem Brahmän, der alle drei Veden kennen mufs, eigent-
lich nichts zu thun hat und sich nur zum Scheine in Beziehung
zu demselben setzt, um seiner Erhebung zur Dignität eines
vierten Veda, die ihm lange Zeit verweigert wurde, Vorschub
zu leisten (so schon Gopatha-brälimanam 1,2,24). Praktische
Verwendung findet derselbe a. um Feinde und Widersacher
durch Zaubersprüche zu schädigen, b. um fremden Zauber von
sich abzuwehren, c. um das eigene Gedeihen zu befördern,
und zwar einerseits im Privatleben und beim häuslichen Kultus
V. Der Veda und seine Teile. 67
(Geburt, Hochzeit, Totenbestattung, Krankheiten, Erntesegen,
Viehbesprechungen u. s. w.), anderseits bei gewissen Staats-
aktionen (Königsweihe, Schlachtsegen, Verwünschung der
Feinde u. s. w.); in letzterer Hinsicht ist er der Veda der
Kshatriya- Kaste, wie die drei andern Veden die der Brah-
manen sind, und mag in einem ähnlichen Verhältnisse zum
Purohita (Hauskaplan des Fürsten) gestanden haben, wie jene
zu den Ritvij''s (Opferpriestern).
Jeder der genannten Priester bedarf bei seinen Verrich-
tungen zweierlei: eine Sammlung von Gebetsformeln (mantra)
und eine Anweisung zur richtigen liturgischen Und rituellen
Verwendung derselben (brälimanam). Beide finden wir, mit
Ausnahme des schwarzen Yajurveda, mehr oder weniger streng
von einander gesondert und in zwei verschiedene Abteilungen
(Samlätä und Brähmanani) verwiesen.
A* Die Samhitä jedes Veda ist, wie der Name besagt,
eine „Sammlung" der ihm zugehörigen Mantra's, welche ent-
weder Verse (fic) oder Gesänge (säman) oder Opfersprüche
(yajus) sind. So besteht
I. die Rigvecla-samhitä aus 1017 Hymnen in 10580
Versen, aus welchen der Hotar den für den jedesmaligen
Zweck erforderlichen Preisruf (qastram) zusammenzustellen hat;
II. die Sämaveda-samhitä enthält eine, wenn nicht
aus der Rigveda-samhita, so doch aus dem dieser zu Grunde
liegenden Materiale getroffene Auswahl von 1549 (oder, mit
den Wiederholungen, 1810) Versen, welche bis auf 78 sämt-
lich auch im Rigveda sich vorfinden und zum Zwecke des
Gesanges (säman) weiterhin in mannigfacher Weise moduliert
werden;
III. die Samhitä des weifsen Yajurveda enthält
teils Opfersprüche (yajus) in Prosa, teils Verse, welche letztere
ebenfalls gröfstenteils aus dem Materiale der Rigvecla-samhitä
entnommen sind; hingegen besteht
IV. die Atharvaveda- samhitä wiederum aus 760
Hymnen, von denen nur etwa ein Sechstel ihr mit dem Rig-
veda gemeinsam ist, während die übrigen eine selbständige,
in vieler Hinsicht ganz eigentümliche Stellung in dem Ganzen
der vedischen Mantra- Litteratur einnehmen, wovon später.
5*
68 Einleitung zur Philosophie der Inder.
Jede dieser vier Samhitä's ist, je nach den gäk/uVs oder
Schulen, in denen sie studiert wurden, in verschiedenen Re-
censionen vorhanden, welche jedoch in der Kegel nicht erheb-
lich von einander abweichen. Anders ist es, wie sogleich zu
zeigen, mit der zweiten Abteilung der vedischen Litteratur.
B. Das Brälimanani , dessen nächste Bestimmung im
allgemeinen die ist, den praktischen Gebrauch des in der Sain-
hitä vorliegenden Materials zu lehren, geht in seiner meist
sehr breiten Anlage weit über diesen unmittelbaren Zweck
hinaus und zieht mancherlei in seinen Bereich, was man (mit
Madhusüdana, oben, S. 47 fg.) unter den drei Kategorien vidhi,
arthaväda und veddnta unterbringen kann. a. Als Vidhi
(d. h. Vorschrift) befiehlt das Brähmanam die Ceremonie, er-
örtert ihre Veranlassung sowie die Mittel zu ihrer Ausführung
und schildert endlich den Gang der heiligen Handlung selbst,
b. Hieran schliefsen sich unter dem Namen Arthaväda (d. h.
Erklärung) die mannigfachsten Erörterungen, welche den In-
halt der Vorschrift exegetisch, polemisch, mythologisch, dog-
matisch u. s. w. begründen sollen, c. Hierbei nun erhebt sich
die Betrachtung zu Gedanken philosophischer Art, welche,
weil sie meist gegen Ende der Brähmana's vorkommen, Ve-
dänta (d. h. Veda-Ende) heifsen. Sie sind der wesentlichste
Inhalt der Nachträge zu den Brähmana's, welche Arcmyalca's
heifsen, und deren ursprüngliche (wiewohl nicht streng durch-
geführte) Bestimmung gewesen zu sein scheint, für das Leben
im Walde (aranyam), welchem der Brahmane im Greisenalter
obliegen soll, einen Ersatz für den, wenn nicht ganz weg-
fallenden, so doch wesentlich beschränkten Kultus zu bieten.
Wie dem auch sei, Thatsache ist, dafs wir in ihnen vielfach
eine wundersame Vergeistigung des Opferkultus antreffen: an
die Stelle der praktischen Ausführung der Ceremonie tritt die
Meditation über dieselbe und mit ihr eine symbolische Um-
deutung, welche dann weiter zu den erhabensten Gedanken
hinüberleitet. Die wichtigsten Stücke dieser Aranyaka's hob
man später unter dem Namen Upanishad aus ihnen heraus
und fafste sie aus den verschiedenen Veden zu einem Ganzen
zusammen; ursprünglich aber hat, wie wir annehmen müssen,
jede Vedaschule ihr besonderes rituelles und daneben ein
V. Der Veda und seine Teile. 69
mehr oder weniger reiches dogmatisches Textbuch, also ein
Brähmanam und eine Upanishad gehabt, und wenn wirklich,
wie die Muktika -Upanishad (Ind. St. III, 324) behauptet, in
den vier Veden 21 + 1000 + 109 + 50 = 1180 Cäkhä's be-
standen hätten, so müfste es auch, wie sie daraus folgert,
1180 Cpanishads gegeben haben. In Wirklichkeit stellt sich
jedoch die Sache viel einfacher, sofern die Anzahl der Cäkhä's,
die wir wirklich kennen, sich für jeden Veda auf einige wenige
beschränkt, deren Textbücher den gemeinsamen rituellen und
dogmatischen Stoff in verschiedener Anordnung, Bearbeitung
und Ausführung darbieten. So sind uns
I. zum Rigveda nur zwei Cäkhä's näher bekannt, 1) die
der Aitareyin's und 2) die der Kaushltakin's, deren jede
ein Brähmanam und ein Aranyakam besitzt, welches letztere
die Upanishad der Schule einschliefst.
II. Zum Sämaveda kennen wir für die Brähmana- Ab-
teilung bis jetzt genau und vollständig nur eine Cäkhä, näm-
lich 3) die der Tändin's, auf welche aufser dem Pancavinga-
brähmanam und seinem Nachtrage, dem Shadvihga-brähmanam^
auch das noch nicht näher bekannte Chdndogya -brähmanam
sowie auch die Chändogya- Upanishad zurückgehen dürften.
4) Ein zweites, selbständiges Ritualbuch zum Sämaveda ist
möglicherweise das Talavakära-brähmanam der Jaiminiya-
$äkhä, nach Burneil in fünf Lektionen, deren vorletzte
die bekannte, kleine Kena- Upanishad enthält, während die
letzte aus dem Arshcyabrähmatiam besteht. Dieses, wie auch
die Tier übrigen Brähmana's des Sämaveda (Sämavidhäna,
Vahqa, Devatädhyäya , Samhitopanishad), können auf den
Namen selbständiger Textbücher von Schulen keinen An-
spruch machen.
III. Beim Yajurveda haben wir zwei Formen zu unter-
scheiden: a. den schwarzen (d. h. ungeordneten) und ß. den
weifsen (geordneten) Yajurveda. a. Der schwarze Yajur-
veda enthält den brähmana -artigen Stoff mit den Mantra's
verbunden bereits in der Samhitä; in solcher Form haben uns
den Yajurveda die drei Schulen der Taittiriyaka's (deren
Brähmanam und Aranyakam blofse Fortsetzungen der Samhitä
sind), der Katha's und der Mäiträyaniya's überliefert.
70 Einleitung zur Philosophie der Inder.
5) Das Aranyakäm der Taittiriyaka's enthält am Schlüsse
zwei Upanishad's, die Taittiriya- (Buch VII. VIII. IX) und
die Nardyamya -Upanishad (Buch X). 6) Zur Schule der
Katha's gehört die Käthaka- Upanishad, die heute nur noch
in einer Atharva-Iiecension vorhanden ist; 7) unter dem Namen
der Maitri- Upanishad ist uns ein spätes Produkt von sehr
apokryphem Charakter erhalten; 8) den Namen einer vierten
Cäkhä des schwarzen Yajurveda, der Qvetäcvatara's, trägt
eine metrisch abgefafste Upanishad von civaitischem Charakter,
die indes von den Vedänta-Theologen vielfach herangezogen
wird. ß. Im Gegensatze zu den Cäkhä's des schwarzen Ya-
jurveda haben 9) die Väjasaneyin's, die Hauptschule des
weifsen Yajurveda, nach Art der übrigen Veden Mantra's
und Brähmana's gesondert; erstere sind in der Vdjasaneyi-
samhitä zusammengefafst, letztere bilden den Inhalt des (Jata-
patha-brälimanam, dessen letzter Teil (Buch XIV) die gröfste
und schönste aller Upanishad's, das Brihadäranyakam enthält.
Ein ihr nahe verwandtes Stück ist (wohl nur wegen seiner
metrischen Form) der Väjasaneyi-samhitä als Buch XL ange-
hängt worden und heifst, nach dem Anfangsworte die Jcä-
Upanishad; im Kanon des Anquetil Duperron werden noch
vier andere Stücke derselben SamhitA, Qaiarudriyam (B. XVI),
Purusha-süktam (XXXI), Tadeva (XXXII) und Civasamkalpa
(XXXIV, Anfang) als Upanishad's aufgeführt. Als eine
zweite Schule des weifsen Yajurveda werden 10) die Jäbäla"s
anzusehen sein, deren Upanishad , wie es scheint, in ver-
kürzter Form in einer Atharva-Recension erhalten ist.
IV. Zum Atharvaveda gehört 11) das Gopatha-brdh-
manam, ein Werk von vorwiegend kompilatorischem Charakter
und ohne nähere Beziehungen zur Samhitä. Ebenso haben
sich an den Atharvaveda, der wohl nicht in dem Grade wie
die andern Veden durch zünftige Überwachung vor neuen
Eindringlingen geschützt sein mochte, eine lange lieihe meist
kurzer Upanishad's angeschlossen, von denen viele einen ganz
apokryphen Charakter haben und nichts anderes als die Text-
bücher späterer indischer Sekten sind. Von den Vedäntatheo-
logen werden nur einige von ihnen, wie namentlich die Mua-
daka-,Pracna- und Mdndiikya- Upanishad anerkannt und benutzt.
V. Der Veda uud seine Teile. 71
C. Eine dritte und letzte Stufe der vedischen Litteratur
bilden die gleichfalls nach Veden und Cäkhä's (deren Verhält-
nisse jedoch vielfach verschoben erscheinen) verschiedenen
Sütra's, welche den Inhalt der Brähmana's, auf denen sie
beruhen, abkürzend, systematisierend und vervollständigend
zum Zwecke des praktischen Gebrauches zusammenfassen, in
kompendiösester, vielfach index -artiger Form und in dem
lapidaren, ohne Kommentare oft ganz unverständlichen Stile,
zu welchem sich auch die grammatische und, wie bereits er-
wähnt (S. 24), die philosophische Litteratur in Indien zuge-
spitzt hat. Die vedischen Sütra's befassen drei Arten: a. die
Crauta- sütra's, welche den öffentlichen Kultus, b. die Gri-
hya-sütra's, welche die häuslichen Gebräuche (bei Geburt,
Hochzeit, Totenbestattung) regeln, und c. die Dharma-sütra's,
in denen die Pflichten der Kasten und Lebensstadien ausein-
andergesetzt werden und aus denen die spätem Gesetzbücher
des Manu u. s. w. hervorgegangen sind. Wie die Crauta-
siitra's auf der Qruti (d. h. der göttlichen Offenbarung), so
beruhen die beiden andern Klassen auf der Smriti (d. h. der
Tradition) und dem Acara (d. h. dem Usus); eine kanonische,
übermenschliche Autorität kommt den Sütra's nicht zu, sondern
nur den Mantra's und Brähmana's mit Einschlufs der Upani-
shad's, welche letztere daher den Vedänta, das „Ende des Veda"
bilden, während die Sütra's noch zu ihm gehören, aber doch
schon (oben S. 42) aufserhalb des Kanons stehen.
Erste Periode der indischen Philosophie :
Die Zeit der Hymnen des Rigveda,
(ca. 1500 — 1000 a. C.)
I. Die altvedische Kultur.
Das älteste Denkmal in dem ausgebreiteten vedischen
Litteraturkreise (und somit wohl das älteste litterarische
Denkmal der Menschheit überhaupt) sind die Hymnen des
Rigveda, sofern sie, ihrem Hauptbestande nach, in eine Zeit
zurückgehen, wo die Inder noch nicht im Gangesthaie, sondern
im Stromgebiete des Indus wohnten, noch keine Kasten, keinen
privilegierten Kultus, keine brahmanische Staats- und Lebens-
ordnung kannten, sondern, zu kleinen Stämmen (vif) unter
meist erblichen Königen vereinigt, ihre Götter ehrend, ihren
Acker bauend, ihre Herden weidend und sich gegenseitig
befehdend, ein einfaches, naturfrisches Dasein genossen. Über
alle diese Verhältnisse entrollen die Hymnen des Rigveda ein
anschauliches Bild: es ist das Bild der ältesten Kultur, der
wir bei den Indogermanen begegnen, und die von der Lebens-
weise unserer eigenen Vorfahren vor der Völkertrennung sich
noch nicht weit entfernt zu haben scheint. Wir wollen die
Hauptzüge dieses altvedischen Kulturbildes zusammenfassen,
indem wir für nähere Einzelheiten auf die vortreffliche Zu-
sammenstellung in Zimmer, „Altindisches Leben" (Berlin 1879)
verweisen.
I. Die altvedische Kultur. 73
Was zunächst bei Betrachtung der altvedischen Kultur
in die Augen fällt, ist die Beschränktheit ihres Horizontes auf
das Stromgebiet des Indus und die Abwesenheit aller der
geographischen Verhältnisse, die dem spätem indischen Leben
ein so charakteristisches Gepräge geben, d. h. der Ebene des
Ganges mit ihrem tropischen Klima, mit ihrer eigenartigen
Flora und Fauna. Die Gangd selbst, ohne welche sich der
spätere Inder die AVeit nicht denken konnte (Mahäbh. 13,
1793), wird nur einmal beiläufig erwähnt, das Vindhyagebirge
mit der Narmadä ist gänzlich unbekannt. Wie bei uns „beraubt
der Winterfrost die Wälder ihres Gefieders" (Rigv. 10,68,10);
wie schon vor der Völkertrennung ist auch jetzt noch die
Hauptkulturfrucht yava, £sa, wie es scheint, die Gerste,
während der Reis, das hauptsächliche Nahrungsmittel des
spätem Indiens, nirgendwo erwähnt wird. Als wilde Tiere
kommen Wolf, Bär, Eber u. a. vor, und namentlich der Löwe,
„das furchtbare, schweifende, in Bergen hausende Wild", wäh-
rend der später so hervortretende Tiger (der ja nirgends mit
dem Löwen dasselbe Jagdgebiet teilt) im Rigveda nicht einmal
dem Namen nach bekannt ist. Ebenso fehlt noch der Elefant
und wird nur ein paarmal als „das Tier mit der Hand" mit
dem Ausdrucke des Befremdens erwähnt; auch der Affe, der
später die indischen Wälder wie die indische Poesie belebt,
fehlt, bis auf ein späteres Lied (10,86), noch gänzlich. Wie
sich hieraus mit Sicherheit ergiebt, hat der Inder zur Zeit
des Rigveda von seiner spätem, eigentlichen Heimat noch
keine Kenntnis; aber auch das Mündungsland des Indus ist
ihm kaum bekannt; das Meer spielt keine Rolle, Fischfang
kommt nirgends vor, Schiffahrt scheint, wohl nur zum Über-
schreiten der Ströme, in der primitivsten Weise bestanden
zu haben. Aus diesen und manchen andern Daten ergiebt
sich als Wohnsitz des altvedischen Inders der obere Laui
des Indus und seiner Zuflüsse, südlich bis zum Zusammen-
flüsse, nördlich bis in die Vorberge des Himälaya hinein
reichend, „das Land der vielen Ströme" (sapta sindhavah,
die sieben Ströme, pancanadam, persisch Pendschäb, das Fünf-
stromland, wobei die Zahlen mehr eine unbestimmte Vielheit
als bestimmte einzelne Flüsse bedeuten). In diesem ehemals
74 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
wasserreichen Lande mit seinem fruchtbaren Ackerboden, sei-
nen grasreichen Triften* und waldbewachsenen Gebirgen, etwa
von dem Umfange des Königreichs Preufsen, finden wir zur
Hymnenzeit die eingewanderten Indogermanen, oder, wie sie
sich selbst nennen, die Ärya's (oben S. 38) angesiedelt, und
zwar, da jede Erinnerung an die Einwanderung fehlt, schon
seit geraumer Zeit sefshaft. Hingegen bemerken wir an
manchen Stellen ein Ankämpfen und allmähliches Vordringen
gegen die dunkelfarbige, in die Berge zurückweichende Urbe-
völkerung, „die schwarze Haut", „die einer wie der andere
aussehenden, schwarzen Leute", welche Gott Indra „aus ihren
Wohnsitzen Tag für Tag vertreibt" (Rigv. 6,47,21); ihr ge-
wöhnlicher Name ist Dasyu oder Däsa, und die Vorstellung
von ihnen verfliefst in eigentümlicher Weise mit den von
Indra im Luftraum bekämpften, dämonischen Mächten. Mit
ihnen wie auch unter sich selbst liegen die Stämme der Arya's
in fortwährenden Fehden, d. h. man schlug sich um Weide-
plätze und suchte sich gegenseitig die Rinder wegzutreiben
(gavishti der Kampf, eigentlich: „Verlangen nach Rindern").
Dem entsprechend weht in den Liedern des Rigveda ein
kriegerischer Geist; Indra, der Kriegsgott, ist neben Agni,
dem Gotte des häuslichen Herdes, der am meisten gefeierte
Gott. Nach vorherigem Opfer unter Schlachtgesang und
kriegerischer Musik ziehen die Scharen dem flatternden Ban-
ner nach, geschützt von ehernen Helmen und geflochtenen
Panzern (varman, wohl auch Schild), bewaffnet mit Pfeil,
Bogen, Schleudersteinen, mit Messern, Äxten und Speeren,
teils zu Fufs, teils auf Streitwagen (ratha) von Rossen gezogen,
während das Reiten (wie bei Homer) nicht sicher nachweisbar
ist. Angeführt wird der einzelne Stamm (Jana) von seinem
Könige (rajan), der als Beschützer des Stammes (gopä janasya)
das Opfer vor der Schlacht vollbringt und diese selbst leitet,
während im Frieden weiiis; von ihm die Rede ist. Seinen
* Diese Verhältnisse haben sich im Laufe der Jahrhunderte, ver-
mutlieh infolge der Abholzung, gar sehr verändert. Heute ist das
Pendschäb gröfstenteils ein trockenes Land, welches bei künstlicher Be-
wässerimg zwei jährliche Ernten, wo diese fehlt, gar keine liefert.
I. Die altvedische Kultur. 75
Unterhalt hat er, von der Kriegsbeute abgesehen, durch frei-
willige Beiträge (ball), seine Macht ist durch den Willen der
Stammesversammlungen (samiti) und Gemeindeversammlungen
(sabhd) eingeschränkt. In wie viele solcher von Königen
regierter Stämme die arische Bevölkerung zerfiel, ist nicht
zu .bestimmen; ein Zusammenschlufs der Stämme zu einem
einheitlichen Reiche hat nie bestanden; jeder einzelne Stamm
(Jana) zerfällt in Gaue (vig) und diese in Dorfschaften (gräma);
doch scheint diese Organisation eine lockere, vorwiegend nur
in Kriegszeiten wirksame gewesen zu sein. Auch die Rechts-
pflege scheint den zahlreich erwähnten Verbrechen, wie Raub,
Diebstahl, Meineid, Betrug, gegenüber noch wenig entwickelt.
Verbrecher werden bis zur Aburteilung an einen Holzstamm
gebunden; in schwierigen Fällen entscheidet oft das Gottes-
urteil. Schwere Verbrecher werden verbannt, Spieler büfsen,
wie bei den alten Deutschen, Habe und Freiheit ein. Sklaverei,
wie auch Leibeigenschaft kommt vor.
Städte kennt der Rigveda noch nicht, sondern nur Burgen
(pur, d. h. wohl: umfriedigte, mit Erdwällen oder Mauern ver-
sehene Anhöhen, zum Schutz für Familie und Eigentum in
Kriegszeiten) und als Wohnorte der Bevölkerung Dörfer
(gräma), die darum doch umfangreich sein mochten, da neben
den Häusern auch Hürden für den zahlreichen Viehstand
erforderlich waren (Rigv. 10,149,4). Auch mögen sie, bei der
herrschenden Unsicherheit, oft volkreich gewesen sein, eine
Burg umschliefsend und vielleicht, wie heute noch im Gebirge
nördlich vom Pendschäb, von einer nachts verschliefsbaren
Dornenhecke umgeben, zum Schutz gegen räuberische Über-
fälle und wilde Tiere. An öffentlichen Gebäuden wird, da
von Tempeln keine Spur sich findet, namentlich die Sabhd
hervorgetreten sein, das Versammlungshaus der Gemeinde, wo
öffentliche Angelegenheiten, wie Überfälle und deren Abwehr,
besprochen, sowie gesellige Unterhaltungen über die Kühe,
die Ernte u. dgl. gepflegt, auch das Würfelspiel, wie zahl-
reiche Stellen (und namentlich das Spielerlied 10,34) beweisen,
oft mit grofser Leidenschaft betrieben wurden.
Die Häuser (griham) der' Dörfer werden mannigfach ge-
wesen sein, von der einfachen Hütte aus lehmbekleidetem
76 Die Zeit der Hymnen des Kigveda.
Flechtwerk, wie sie noch jetzt im nordwestlichen Indien
üblich, bis zum komplizierteren Bau aus Holz und Rohr, wie
er im Atharvaveda vorkommt. Das Haus enthielt in der Regel
vier Räume: das Wohngemach mit dem Herdfeuer, das Frauen-
gemach, die Vorratskammer und den Schuppen. Die Möblie-
rung dürfen wir uns nicht zu einfach denken; Bänke und
Tragsessel, auch Betten mit Polster, Kopfkissen und Decke
kommen vor.
Der Haupterwerbszweig des altvedischen Inders ist die
Viehzucht, die sich vor allein auf die Kühe, daneben auch auf
Rosse, Schafe und Ziegen erstreckt. In zweiter Linie steht
der Ackerbau; das Auflockern des Bodens durch Pflüge, die
mit metallener Pflugschar versehen und mit Rindern bespannt
sind, das Abmähen des Getreides mit der Sichel, das Dreschen
und Worfeln, das Zerkleinern der Körner zwischen zwei Steinen
sind wohlbekannt; das Mehl, mit Milch oder Butter zu Brei
und Kuchen verarbeitet, bildet, neben dem reichlich wachsen-
den Obste, das Hauptnahrungsmittel (für Brot* hat das Sanskrit
kein Wort); Fleischnahrung ist selten und meist auf Fest-
lichkeiten beschränkt; als Getränke dienen der Soma, welcher,
durch Gärung des ausgeprefsten Saftes der Somapflanze mit
Milchzusatz gewonnen, Götter und Menschen begeistert, und
die Surä, eine Art Branntwein, das gewöhnliche Getränk des
Inders, namentlich später und nachdem die Priester den Soma
für sich allein usurpiert hatten.
An Gewerben treten hervor: der Zimmermann für den
Bau des Hauses und Wagens, der Töpfer, der Schmied, der
mit einem Vogelfittich als Blasebalg das Metall zu erweichen
und zu Kesseln, Waffen u. s. w. zu gestalten weifs, der Quack-
salber, der mit seinem Pflasterkasten umherzieht und seine
Ware anpreist (Rigv. 10,97), der Weber, der auf dem Web-
stuhle die aus Schafwolle gesponnenen Fäden mit dem Weber-
schifflein zu Tuch verarbeitet, das dann, bunt gefärbt und
* In Ujjayini, einer Stadt von 34,691 Einwohnern, in der aber nur
drei europäische Familien leben, konnte ich (Februar 1893) nur durch die
Güte des Gouverneurs ein Brot erhalten. Die Inder kennen auch heute
noch anstatt desselben nur täglich frisch in der Pfanne gebackene Fladen.
I. Die altvedische Kultur. 77
verziert, mit Schere und Nadel zu mancherlei Gewändern der
Frauen und Männer verarbeitet wird.
Das Familienleben ist, wenn auch Nebenweiber gelegent-
lich vorkommen, doch im wesentlichen monogamisch. Die
Hochzeitsgebräuche, das Herumführen der Braut ums Feuer,
das Heimführen derselben auf dem Brautwagen, wird in den
Hochzeitsliedern des Ria;- und Atharvaveda ausführlich ge-
schildert. Die Gattin ist die Herrin des Hauses, auch über
die Schwiegereltern; sie ist dem Gatten unterthan (anuvratä)
und naht mit ihm gemeinsam den Göttern in Opfer und Gebet.
Eine Monopolisierung des Kultus durch die Brahmanen, wie
in der Folgezeit, besteht noch nicht, wohl aber ist sie auf dem
Wege, sich zu bilden, daher die betreuenden Angaben darüber
vielfach schwankend und streitig sind. Zweck der Ehe ist
die Fortpflanzung des Geschlechts durch männliche Nach-
kommen; doch tritt die Abneigung gegen weibliche Nach-
kommenschaft, gelegentlich bis zur Aussetzung derselben
gehend, erst in späteren Texten hervor. Auch die später so
häufige Verbrennung der Witwe mit dem Leichnam des Gatten
kommt im Rigveda noch nicht vor, wurde jedoch Rigv. 10,18,7
durch die Biegung eines Häkchens (sET^T * statt ^XJ) einge-
fälscht, welche im Laufe der Jahrhunderte ungezählten Frauen
das Leben gekostet hat; im Atharvaveda wird sie 18,3,1 schon
als „alte Satzung" bezeichnet. Auch die Bestattung der Toten
durch Begraben oder Verbrennen, welche noch gleichberechtigt
nebeneinander vorkommen, geschieht in feierlicher, wohlge-
regelter Weise, wie die Totenlieder des Rigveda 10,14 — 18
beweisen. Über die Vorstellungen eines Fortlebens nach dem
Tode werden wir in einem spätem Zusammenhange handeln.
II. Die altvedische Religion.
Die erste und älteste Philosophie eines Volkes liegt in
seiner Religion. Denn diese enthält den ersten Versuch, das
Dasein und seine Phänomene zu verstehen und zu deuten.
Es bietet aber dieses Dasein der Betrachtung zwei Seiten:
A. die Aufsennatur mit ihren mannigfachen, die Furcht
erregenden, die Hoffnung nährenden, die Wifsbegierde an-
78 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
reizenden Erscheinungen, auf die sich das Nachdenken richten
mufste, sobald es überhaupt ein Nachdenken gab, d. h. sobald
der Mensch zum Menschen geworden war, und B. die Innen-
natur, das Reich der Empfindungen, die Phänomene des Er-
kennens und Wollens befassend, welche ebenso ursprünglich ist,
ebenso früh vorlag wie die Aufsenwelt, aber erst viel später
als diese anfing, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, da der
Intellekt, wie das Auge, nach aufsen gerichtet und ein von Haus
aus für die Erkenntnis der Aufsenwelt bestimmtes Organ ist.
A. Schon bei seinem ersten Erwachen zum menschlichen
Bewufstsein sah sich der Mensch von einer Reihe von Natur-
erscheinungen und Naturkräften umgeben, von denen er sein
eigenes Dasein und Wohlsein nach allen Seiten hin abhängig
fühlte. Die nährende Erde, der sie befruchtende Himmel, die
Sonne als Spenderin von Licht, Belebung und Gedeihen, der
Sternenhimmel in seiner regelmässigen Umdrehung, der Wind,
der Regen, das Gewitter, das lebendige, hülfreiche und ver-
derbliche Feuer, — alle diese standen ihm gegenüber als über-
legene, unbegriffene Mächte, die bald segensreich, bald unheil-
voll in den Lauf seines Lebens eingriffen. Ahnlich wie der
Mensch selbst nach Willkür Einwirkungen auf seine Umo-elumo;
übte, so, und nur in noch viel höherem Mafse, sah er jene
Naturkräfte eine Reihe von scheinbar willkürlichen Wirkungen
entfalten. Es war daher ein ganz natürlicher Schritt, dafs er,
ähnlich wie er sein eigenes Thun von einem innern Wollen
ausgehen fühlte, so auch dem Treiben jener Naturmächte als
inneres Princip einen Willen unterlegte. So berechtigt diese
Interpretation war (wie der Verlauf der Philosophie zeigen
wird), so unberechtigt war die weitere Ausgestaltung derselben:
da nämlich dem Menschen die Vorstellung des Wollens von
der einer wollenden, individuellen Persönlichkeit, wie er sie
an sich selbst fand, unabtrennbar war, so schrieb er nun auch
jenen Kräften und Erscheinungen der Natur eine zuerst nur
wenig*, dann aber mit Hülfe der Phantasie mehr und mehr
* Auf der Stufe des Animismus, eines mit Zauberei verbundenen
Dämonenglaubens, welchen wir, wie überall, so auch in Indien als Vor-
stufe des Polytheismus vorauszusetzen haben, den wir aber hier bei Seite
IL Die altvedische Religion. 79
individuell und konkret gestaltete Persönlichkeit zu;
jetzt ward die Sonne zum unermüdlichen Wanderer, der seinen
Weg kennt und findet, jetzt ward der Wind zum wilden Wagen-
fahrer oder zum Jäger, der mit Pfeil und Bogen die Wolken
jagt, wie der Mensch die Tiere des Waldes, jetzt erschien das
Gewitter als ein Kampf feindlicher, im Lufträume einander
entgegenstehender Mächte, und der Reichtum der Vegetation
o-ino- Jahr für Jahr aus dem Mutterschofse der Erde infolge
einer Befruchtung desselben durch die Zeugungskräfte des
Täters Himmel (dyaus pitar, Zzbc 7raTT]p, Jupiter) hervor; —
so entstanden durch eine natürliche, halb unbewufste Schöpfer-
thätigkeit des menschlichen Geistes die Götter; sie sind, wo
sie immer sich finden mögen, nichts anderes als Personi-
fikationen der Naturerscheinungen und Naturkräfte,
mögen dieselben nun, wie bei den Indern, vorwiegend der
äufsern Natur angehören, oder, wie bei den Griechen, dem
fortgeschritteneren Bewufstsein des homerischen Zeitalters ge-
mäfs, teilweise schon (als Ares und Aphrodite, als Pallas,
Hermes u. s. w.) persönlich gestaltete Kräfte des menschlichen
Innern sein. So sind die Götter eine intellektuelle Schöpfung,
mag dieselbe auch ursprünglich nicht sowohl in dem reinen
Triebe des Erkennens, als vielmehr in einem praktischen Be-
dürfnisse wurzeln, indem man diese so personifizierten Natur-
mächte nach Art der menschlichen Grofsen durch Geschenke
und Schmeicheleien (Opfer und Gebete) in ihren Willens-
bestimmungen beeinflussen zu können wähnte, sei es um ihren
Zorn zu besänftigen, sei es, um ihrer Gnade sich zu versichern.
Als solche Produkte der kindlichen Imagination würden nun
die Götter in einem gereifteren Zeitalter mitsamt dem Him-
mel, welchen sie bewohnen, als eine Fiktion fallen gelassen
werden, Indra würde in die Lehre von der Elektricität, Agni
in die von der Oxydation, die ganze Religion in Wissenschaft
sich auflösen und verschwinden, hätte sie nicht noch ihren
lassen, da er für dasjenige religiöse Bewufstsein, aus dem sich die indische
Philosophie entwickelt hat, längst überwunden war, so sehr er auch noch
in den Schichten des niedern Volkes fortglimmen mochte und in vielen,
ihnen angehörenden, Liedern des Atharvaveda seinen Ausdruck fand.
80 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
Halt in einem andern Verhältnisse, welches jeder Zersetzung
durch die physischen Wissenschaften widersteht: dieses Ver-
hältnis liegt auf dem, spät erst die Aufmerksamkeit auf sich
lenkenden, aber als wirksam schon von je her vorhandenen
Gebiete der innern Erfahrung, von dem jetzt zu reden sein wird.
B. Die Begriffe über das, was „gut" und „böse" sei,
sind je nach Ort und Zeit sehr verschiedene gewesen und
zeigen die mannigfaltigsten Abstufungen, von dem brutalen
Kannibalen und dem wilden Fanatiker an, welche Gewissens-
bisse darüber empfinden, dafs sie ihren Gegner nicht verspeist
oder verbrannt haben, bis hinauf zu dem Christlichgesinnten,
der Gewissensbisse darüber empfindet, dafs er sich darauf be-
trifft, seinen Feind nicht zu lieben und das Übelwollen gegen
ihn nicht los werden zu können. Merkwürdig aber ist, dafs
dessen ungeachtet alle, vom Wilden bis zum Heiligen, darin
übereinstimmen, irgend welche Handlungen für gut, d. h.
unbedingt löblich, und irgend welche andere für böse, d. h.
unbedingt tadelnswert, bei sich und andern anzusehen. Man
hat sich viele Mühe gegeben, den Ursprung solcher imperativer
Vorstellungen zu erforschen und hat gemeint, dafs die Begriffe
gut und böse (beziehungsweise schlecht) ursprünglich so viel
bedeuteten wie nützlich und schädlich, oder allgemein-nützlich
und allgemein-schädlich, oder stark und schwach, oder aristo-
kratisch und gemein, oder von Gott geboten und von Gott
verboten u. s. w., und dies alles mag auch historisch seine
Richtigkeit haben; die Frage ist nur, wie man dazu gekommen
ist, diese Begriffe so zu modifizieren, dafs nach Abstreifung
der Nebenbestimmungen des Nutzens, der Abstammung oder
des Gottgebotenseins die reinen Vorstellungen eines unbe-
dingt zu Thuenden und unbedingt zu Meidenden übrig
blieben. Ohne Zweifel haben sich diese Begriffe erst nach
und nach entwickelt, wie die Pflanze aus dem Samenkorn;
sie würden sich aber nicht in dieser Richtung ent-
wickelt haben, wenn sie nicht als Samenkorn, als ur-
sprüngliche Anlage in der menschlichen Natur gelegen hätten.
Ohne also jenen Entwicklungstheorien ihr historisches Recht
abzustreiten, wollen wir doch abwarten, ob ihre Tragweite so
weit geht, folgende Erwägungen zu entkräften.
II. Die altvedische Religion. 81
Dafs das hauptsächliche Triebrad der menschlichen Hand-
lungen von je her der Egoismus gewesen ist, wird niemand
bezweifeln, sowie auch, dafs dieser Egoismus oft in unlieb-
samer Weise sich geltend machte, um den Mitmenschen, und
zwar nicht nur den Feind, sondern auch den Verwandten,
den Freund, den Bruder, mit einem Worte den Nächsten zu
schädigen. Dafs dieser Einbruch in die Rechte und Interessen
eines andern von je her Mifsbilligung erregte, nicht nur bei
dem Betroffenen, sondern auch bei dem Unbeteiligten, — dafs
der Habgierige, der Grausame, der Feigling, der Hinterlistige
von je her von der menschlichen Gesellschaft (wie Kain von
Jehovah) gezeichnet waren, ist völlig gewifs. Weiter aber
wird jeder zugeben, dafs es überall und immer auch Menschen
gegeben hat, welche es über sich vermochten, den Egoismus,
den wir als die eigentliche „Natur" bei jedem voraussetzen,
einzuschränken und zu bezwingen, sofern sie das eigene Selbst
und seine Interessen ganz oder teilweise irgend einem nicht-
egoistischen Zwecke zum Opfer brachten, sei es, dafs diese
Selbstverleugnung sich bethätigte in der brutalen Form der
Tapferkeit, welche die eigene Gefahr nicht scheut, der erlit-
tenen Schmerzen und Wunden lacht, oder in dem Ertragen
von Hunger, Durst und Entbehrung, oder in der Treue dem
gegebenen Versprechen, in der Gerechtigkeit, welche des andern
Leid nicht will, und in dem Mitleide, welches bereit ist, dem
Nächsten auch ohne Hoffnung auf Entgelt durch eigene Opfer
in seiner Not zu helfen. Solche Menschen nannte man gut, und
solche gute Menschen hat es zu jeder Zeit gegeben. Der
Unterschied zwischen guten und bösen, zwischen selbstsüch-
tigen und selbstloseren Menschen ist somit uralt, ja so alt
wie die Menschheit selbst. Viel später hingegen und bei
einigen Völkern (wie sogleich schon bei den Indern) sehr
wenig entwickelt ist die Reflexion über diesen Gegensatz
und seinen Ursprung, über die wunderbare Thatsache, dafs
ein Mensch im stände ist, seine eigenen, wohlverstandenen
Interessen hintanzusetzen und um eines andern willen zu ver-
leugnen. Dunkel fühlte man, dafs hier eine höhere Macht
über den Menschen kommt, ein höherer Wille, der mit dem
eigenen, auf Selbsterhaltung gerichteten Willen in Widerspruch
Deussen, Geschichte der Philosophie. I. 6
82 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
steht, mithin diesem seine Bestimmungen gleichwie ein Gesetz
aufnötigt, das ein anderer uns giebt. Aber woher dieser höhere
Wille und das Gesetz, das von ihm ausgeht? — Hier stand
man vor einem erstaunlichen, schwer zu lösenden Rätsel.
Und hier vollzieht sich nun jene merkwürdige Ver-
schmelzung zweier völlig heterogener Elemente, in welcher
alle Religion besteht, indem man das sittlich Gute, da es aus
der eigenen Natur und ihren Interessen nicht abzuleiten war,
auffafste als beruhend auf dem Willen eben jener Persönlich-
keiten, die man durch Personifikation der umgeben den Natur-
erscheinungen gewonnen hatte. Ihre Übermacht, die Stetig-
keit ihres Wirkens, die Abgelöstheit derselben von den indi-
viduellen Interessen der Menschen, alles dies führte dazu,
auch das Sittliche im Menschen für eine Manifestation jener
durch die dichtende Phantasie mit Wille und Persönlichkeit
ausgestatteten Naturkräfte zu halten, und so z. B. in dem all-
sehenden Varuna und Helios den Wächter über Gutes und
Böses, in dem donnernden Jehovah den Verkündiger einer
moralischen Weltordnung zu erkennen.
Es beruht also die Religion auf einer Verschmelzung
zweier, ursprünglich völlig verschiedener Elemente, A. einer
Personifikation der Naturgesetze, und B. einer solchen des
Sittengesetzes, die wir als das mythologische und das mo-
ralische Element der Religion hier und in der Folge unter-
scheiden wollen. Es wird sich im Verlaufe zeigen, dafs eine
jede Religion um so besser, um so mehr Religion ist, je reiner
in ihr das moralische Element hervortritt, und um so schlechter,
um so weniger ihrem eigentlichen Zweck und Wesen entspre-
chend, je mehr das Moralische in ihr von mythologischen
Vorstellungen überwuchert und verdunkelt wird.
Wenden wir diesen Mafsstab zunächst auf die vorliegende
Aufgabe, auf die Religion des Rigveda an, so werden wir
derselben, bei allem Interesse das sie einflöfst, doch als Reli-
gion keine besonders hervorragende Stelle einräumen können,
da zwar das mythologische Element in sehr hohem Grade in
ihr entwickelt ist, hingegen das moralische Element, in dem
der eigentliche Wert einer Religion liegt, auffallend in den
II. Die altvedische Eeligion. 83
Schatten tritt. Wir werden wohl nicht fehlgreifen, wenn wir
den so unerwartet frühen und raschen Verfall der altvedischen
Religion wesentlich auf diesen ihren Mangel an moralischem
Gehalte zurückführen. Doch zunächst wollen wir beide Ele-
mente nach einander in Betracht ziehen.
A. Nach der mythologischen Seite hin ist die alt-
vedische Religion so interessant und reich an Aufschlüssen
wie keine andere der Welt. In dieser Hinsicht ist das Stu-
dium des Rigveda die hohe Schule der Religionswissenschaft,
und niemand kann, ohne ihn zu kennen, über diese Dinge
mitreden. Dieser einzige Vorzug beruht darauf, dafs der
Prozefs, auf dem ursprünglich alle Götter, wie gezeigt, be-
ruhen, dafs jene Personifikation der Naturphänomene, während
sie in allen andern Religionen mehr oder weniger verdunkelt
ist, im Rigveda sich noch sozusagen handgreiflich vor unsern
Augen vollzieht. Hiermit soll keineswegs gesagt sein, dafs
die Religion im Rigveda sich noch im ersten Stadium der
Entwicklung befinde. Sie steht vielmehr schon auf einer
ziemlich fortgeschrittenen Stufe und läfst uns nur hie und
da noch einen Blick in ihre eigene Vergangenheit thun.
Ähnlich nämlich wie in der griechischen Mythologie die drei
aufeinanderfolgenden Dynastien des Oupocvcr, Kpovor und Zsur
ziemlich deutlich drei verschiedenen Kulturperioden entspre-
chen, dem heroischen Zeitalter, in welchem Zsix:, dem vor-
hergehenden ackerbauenden Zeitalter, in welchem Kpcvo?, und
dem noch altern Zeitalter der Einwanderung, in welchem
Oüpavc? an der Spitze der Götterwelt gestanden zu haben
scheint, — ähnlich und nur zum Teil umgekehrt ist im Rig-
veda Dyaus, der alte Vater Himmel, nebst andern halb ver-
schollenen Gottheiten zurückgedrängt durch Varwja; aber
auch dieser schon ist, gerade in dem Augenblicke, wo sich
der Vorhang für uns hebt, im Begriffe, von Indra an Popu-
larität überflügelt zu werden, und ein sehr merkwürdiger
Hymnus (4,42) stellt beide Götter in einer Art von Rang-
streit gegenüber; beide rühmen ihre Verdienste, und der
Dichter, bei allem Respekte vor Varuna, neigt sich nicht un-
deutlich dem Indra zu. Wie dieses Beispiel zeigt, steht schon
6*
84 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
im Rigveda die Mythologie keineswegs mehr in der ersten
Jugend; aber sie hat sich, ähnlich wie die indische Sprache,
den Vorzug einer so grofsen Durchsichtigkeit erhalten, da ('s
die Namen und Mythen der Götter fast überall gestatten,
noch das ursprüngliche Verhältnis der Natur zu erkennen,
dessen Personifikation die betreffende Gottheit ist; ja, in eini-
gen Fällen ist es zu einer durchgeführten Personifikation gar
nicht gekommen; wie denn z. B. bei Ushas, der Morgenröte,
die Persönlichkeit nur wie ein leicht übergeworfener Schleier
erscheint, und wenn der vedische Sänger von Agni redet, bei
dem Worte agni (Feuer) die Vorstellungen eines persönlichen
Wesens und des blofsen Feuerelementes fortwährend inein-
ander überschweben. — Wir wollen, zur Bestätigung des Ge-
sagten, die hauptsächlichsten Gestalten des vedischen Pantheons
in der Kürze überblicken. Ein eigentliches Göttersystem ist
den vedischen Sängern noch unbekannt (hier wie überall ist
das System nicht das Erste, sondern das Letzte), und die
Machtsphären der Götter sind so wenig gegen einander abge-
grenzt, dafs wir dieselben Wunderwerke der Schöpfung u. s. w.
bald diesem bald jenem Gotte (wie es scheint, sogar von
demselben Dichter) zugeschrieben sehen, wovon später; aber
althergebracht und schon bei Yäska im Niruktam zu Grunde
gelegt ist die Einteilung der Götter nach den drei, schon in
den Hymnen unterschiedenen Gebieten: a. Dyaus, der Licht-
himmel, b. Antariksham , der Luftraum, c. Prithivi, die Erde;
wobei Himmel und Erde, Dyävdprithivi^ als ein altheiliges
Elternpaar der Welt zuweilen angerufen werden; sie heifsen
auch rodasi ubhe, angeblich (für rodhasi) „die beiden Ufer",
welche das Luftreich (antariksham) wie einen Strom einfassen.
Nach diesen drei Gebieten verteilen sich die wichtigsten Gott-
heiten des Rigveda wie folgt:
a. Götter des Lichthimmels:
Varuna (und die übrigen Aditya's).
Die beiden Agvin's und Ushas.
Stirya, Savitar, Mitra, Püshan, Vishnu.
b. Götter des Luftraums:
Väyu (Väta), Rudra, die Marut's.
Indra, Parjanya, die drei Ribhu's.
IL Die altvedische Religion. 85
c. Götter der Erde:
Agni, Soma und Brihaspati.
Wir wollen diese Götter nach Ursprung und Bedeutung
kurz charakterisieren.
a. Götter des Lichthimmels.
Varuna (Oupavoc), von var „umgeben", der fernste, die
Welt einschliefsende und in unwandelbarer Drehung umkrei-
sende Fixsternhimmel, persönlich gedacht als der oberste Herr
und König des Weltalls, nicht kriegerisch wie Indra, sondern
in ruhiger Majestät thronend. Der Himmel ist sein goldenes
Prachtgewand, der Wind sein Odem, die Sonne sein Auge, die
Sterne sind seine schlummerlosen Späher, bestallt, die Welten
zu überschauen. Allgegenwärtig ist er im Gröfsten und im
Kleinsten, im Weltmeere und im Wassertropfen vorhanden;
allwissend, kennt er die Bahnen des Windes, den Weg der
Vögel in der Luft, der Schiffe auf dem Meere, und wo zwei
sich heimlich beraten, da ist er als Dritter zugegen. Er ist
der Wächter der göttlichen Ordnung (ffopä ritasya), den
Frommen schirmend, heilend, erleuchtend und nach dem Tode
zu seligem Leben hinüberführend, den Bösen aber ergreifend
und mit seinen Fesseln bindend zu Leiden und Tod. Uner-
klärliche Krankheiten, wie namentlich die Wassersucht, gelten
als eine Heimsuchung des Varuna. Im Fortschritte der Ab-
straktion wird Varuna zum Sohne der Aditi, d. h. wohl „der
Unendlichkeit", und es werden ihm sechs andere Aditi-Söhne
(AditycCs) nebengeordnet, welche, wie die Namen Mitra,
Arycunan, Bhaga, Daksha, A?'iga zu verstehen geben, Personi-
fikationen menschlicher Zustände (Freundschaft, Tüchtigkeit
u. a.) nach Art mancher griechischen Götter sind. (Erst in
der spätem Mythologie, nachdem die Inder mit dem Meere
näher bekannt geworden waren, aus dem sie allnächtlich die
Sterne des Himmels aufsteigen sahen, und für welches der
liigveda keine eigene Gottheit hatte, wurde Varuna, der ur-
sprüngliche Gott des Himmelsoceans, zu einem Gotte der
Wasser.)
Die Acvin's, wörtlich „die Rossefahrer", zwei wunder-
thätige Genien, welche auf ihrem dreisitzigen Wagen zur
86 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
Heilung von Krankheiten und Gebrechen, zur Rettung aus
allerlei Not herbeieilen; eine gröfsere Reihe ihrer Wunder-
thaten an Kranken, Blinden, Unfruchtbaren und Gefährdeten
werden in stereotyper Weise immer wieder erwähnt, ohne
dafs man darüber Näheres erführe. Ihrer ursprünglichen
Naturbedeutung nach scheinen sie eine Personifikation des,
Licht und Dunkel zwillingsartig verbunden enthaltenden,
morgendlichen Zwielichtes zu sein, welches den (in Sommer
und Winter mehr gleichmäfsig als bei uns) anbrechenden Tag
verkündet und mit Freuden begrüfst wird, weil es der Nacht
und ihren Schrecknissen ein Ende macht.
Die Ushas ('H(5c, Aurora) ist eine sehr durchsichtige
Personifikation der Morgenröte, welcher nicht viele, aber viel-
leicht die zartesten und schönsten Hymnen gewidmet sind.
Ewig jung und schön, nicht alternd wie die Geschlechter
der Menschen, erscheint sie als holdselige Jungfrau, die ihre
Reize der Welt enthüllt, indem sie, die Schwester Nacht
ablösend, aus den Dünsten des Ostens hoch und höher em-
porsteigt, um mit ihren Lichtwellen Himmel und Erde zu
übergiefsen.
Sürya, Savitar, Püshan, Vishnu und Mitra sind
Personifikationen der Sonne und ihres Wirkens nach den ver-
schiedenen Seiten hin, welche sie der Betrachtung bietet; ur-
sprünglich also nur verschiedene Namen derselben Sache,
welche dann im Fortschritte der Gestaltung zu verschiedenen
Personen wurden. (Möglich auch, dafs lokale Unterschiede
mit einwirkten, indem z. B. Püshan vorwiegend von nomadischen
Stämmen verehrt wurde.) — Sürya (Sol), „der Strahlende",
ist der Sonnengott, wie er, der Ushas nachgehend wie einem
Mädchen der Jüngling, das Dunkel wie ein Fell abschüttelt
und, prangend in goldenem Haare, von sieben lichtfarbigen
Rossen gezogen, zu der Höhe des Himmels emporsteigt, das
Recht und Unrecht der Menschen überschauend. — AVie Sürya
sich auf die äufsere Erscheinung der Sonne, so bezieht sich
auf ihre Wirkungen der nächstverwandte und oft synonyme
Savitar, „der Erreger", welcher allmorgendlich die Wesen
erweckt, Menschen und Tiere zur Thätigkeit antreibt und
wiederum des Abends durch Abspannen seiner Rosse aller
II. Die altvedische Religion. 87
Welt das Zeichen giebt, zur Ruhe zu eilen. — Püshan, „der
Ernährer", ist die Sonne, gedacht „als der kein Stück der
Herde verlierende Hirt der Welt" (10,17,3), der denn auch
speciell zum Schutzgotte der Herden und Hirten, der Wanderer
auf fernen Wegen wird, auch als 4>,JX07i:o!-ui:°? au^ der Wande-
rung ins Jenseits das Geleit giebt. — Vishnu, „der Voll-
bringer", der später eine so grofse Rolle zu spielen berufen
war, tritt im Rigveda nur hervor durch die Heldenthat der
drei Schritte, mit denen er den Weltraum durchmifst; sie sind
der Aufgang, Untergang und Kulminationspunkt der Sonne;
letzterer, „der höchste Schritt des Vishnu" (Vishnoh paramam
padam), bezeichnet den Aufenthalt der Seligen. — Mitra, „der
Freund", wird zu den Aditya's gerechnet und fast immer
mit Varuna zusammen angerufen, wobei Varuna die Nacht-
seite der Welt, Mitra das menschenfreundliche Tageslicht
zu bedeuten scheint.
b. Götter des Luftraums.
Im Lufträume waren es namentlich die Erscheinungen
des Windes, des Regens und des Gewitters, in denen man
ein göttliches Wirken zu erkennen glaubte. Väyu oder Väta
ist „der WTind" als der die Welt unsichtbar durchrauschende
Odem (atman) der Götter, in leicht übergeworfener Personi-
fikation; konkreter erscheint Rudra, der „heulende" oder
„funkelnde" Gott des Sturmes oder der Blitze, der schönste
der Götter, welcher, zerstörend einherbrausend, mit seinem
Bogen tödliche Geschosse auf die Erde schleudert, aber auch
die Luft von Miasmen reinigt und daher als heilender, arznei-
reicher Gott gepriesen wird. Seine Aufserungen werden
weiter personifiziert als die Rudra's oder Marut's, die
„funkelnden" Söhne des Rudra oder auch Väyu, die Ge-
fährten des Indra, welche als lustige Kriegerschar auf feurigen,
von Gazellen gezogenen, donnergleich rollenden Wagen heran-
stürmen, ihre Pfeile, die Blitze, über die Erde säen, Wirbel-
winde anblasen und die Wolkenkühe freimachen, damit sie
ihre Milch, den Regen, strömen lassen. — Der Regen selbst
ist dann wieder personifiziert als Parjanya (vielleicht „der
Rauschende"), der, als AVagenfahrer seine Rosse anpeitschend,
88 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
die Wolkenschätze heranführt, um mit ihnen die lechzenden
Geschöpfe zu erquicken. — Die grofsartigste Erscheinung der
Atmosphäre aber, namentlich in den Tropen," ist das Gewitter,
und die vedischen Sänger werden nicht müde, dasselbe zu
feiern als den Kampf des Gottes Indra (vielleicht „des Be-
zwingers") gegen feindliche Dämonen wie Vritra, Ahi u. a.,
welche die Wolkenkühe in einer Felsenbnrg verschlossen
halten, bis Indra mit dem Donnerkeil die Burg spaltet, die
Kühe herausführt und ihre labende Regenmilch auf die Erde
strömen läfst. Wie die irdischen Kämpfer, deren Vorbild
und Anführer er ist, stärkt sich auch Gott Indra zu seinen
Kämpfen durch den dargebrachten Somatrank. Er liebt und
schützt die frommen Verehrer, die ihm reichlich spenden,
während er den Kargen, den Stolzen, den Spötter nieder-
schlägt. So ist er der Lieblingsgott des heroischen Zeitalters,
und an ihn sind die zahlreichsten Hymnen des Rigveda ge-
richtet. — Endlich gehören noch dem Luftreiche an die
Ribhu's, „die Anstelligen", drei kunstfertige Genien, welche
den Wagen der Aqvins, die Rosse des Indra, die Wunderknh
des Brihaspati bilden und aus der einen Schale des Tvashtar
viere machen, worauf dieser sich beschämt verbirgt. Sie ver-
jüngen ihre Eltern, sie erfüllen die Höhen mit Kräutern und
die Thäler mit Flüssen, nachdem sie zwölf Tage im Hause
des Agohi/a geschlafen haben. Agobya, „der Unverschwrindbare",
ist der Sonnengott, die zwölf Tage scheinen die des Winter-
solstitiums, die Ribhu's aber ursprünglich die im Laufe der
vier Jahreszeiten (vier Schalen) sich betätigenden Bildungs-
kräfte der Natur zu sein, durch welche der alte „Bildner"
Tvashtar in den Hintergrund gedrängt wurde.
c. Götter der Erde.
Die Erde selbst ist eine Göttin, ihre Berge, Flüsse,
Quellen, ihre Bäume und Pflanzen werden gelegentlich ange-
rufen, ebenso die Schlachtrosse und Waffen, die Kühe und
Opfergeräte, die Ackerfurche und der Pflug, kurz alles, in
dem verborgene, das Dasein des Menschen beeinflussende
Kräfte sich regen. Keine dieser Kräfte aber, die den Men-
schen unmittelbar umgeben, erscheint so geheimnisvoll leben-
IL Die altvedische Religion. 89
dig*, so segensreich und wiederum unheilvoll eingreifend in das
Leben der Menschen, wie das leuchtende, wärmende und unter
Umständen verheerende Feuer, der Gott Agni, eigentlich wohl
(vgl. lateinisches agilis) „der bewegliche", der die friedliche
Seite des arischen Lebens repräsentiert wie Indra die kriege-
rische, und an den denn auch, nächst diesem, die meisten
Hymnen gerichtet sind. Seine dreifache Heimat als Sonnen-
feuer, Blitzfeuer, Erdfeuer, seine Zeugung aus den Reibhölzern,
seitdem er durch Mätaricvan (eigentlich wohl Agni selbst als
„der in der Mutter [dem Reibholze] schwellende") den Men-
schen gebracht worden, sein Wirken als Beschützer der An-
siedlung, Verscheucher der Kobolde und andern Mächte der
Finsternis, Verleiher und Hüter der Schätze, als menschen-
freundlicher (vaigvänara) , lieber Hausfreund werden viel be-
singen. In ihm tritt die Gottheit unmittelbarer als irgendwo
in Beziehung zum Menschen, daher er auch als Götterbote
den Verkehr zwischen Menschen und Göttern vermittelt, sei
es, dafs er mit seinen Flammenzungen die Opferspeise leckt
und auf ihnen, wie auf wiehernden (knisternden) Rossen, sie
den Göttern nebst Lied und Gebet zuführt, sei es, dafs er die
Götter heranfährt, um den Opfertrank zu geniefsen. Die Art,
wie dabei das Feuer und seine Erscheinungen sich immer
wieder und wieder zu einer sogleich wieder zerrinnenden
Persönlichkeit gleichsam unter den Händen des Dichters ge-
stalten, ist für die erste Genesis der vedischen Religion ebenso
lehrreich, wie es für die Fortentwicklung derselben der zweite
auf Erden weilende Hauptgott, der König Soma ist, dem
unter andern das ganze neunte Buch des Rigveda gehört.
* Schön schildert dies namentlich der Vers Rigv. 1,164,30 (der frei-
lich gewöhnlich ganz anders erklärt wird, vgl. unten, S. 115):
anac chaye, turagätu jivam,
ejacl dhruvam madhya' d pastydndm;
jivo mritasya carati svadhdbhir ,
amartyo martyend sayonih.
Es liegt und atmet, schreitet schnell, lebendig,
Regsam beständig mitten in der Wohnung;
Es lebt und regt sich nach des Menschen Willen,
Unsterblich , doch dem Sterblichen verbunden.
90 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
Wie Agni, personifiziert auch er sich noch vor unsern Augen.
Ursprünglich ein aus Pflanzensaft gewonnenes, gegorenes und
berauschendes Getränk, wird er aus dem Tranke, an dem
Götter und Menschen sich laben, selbst zu einem alle Götter
überragenden Gotte, welcher alles das, was die Götter ur-
sprünglich durch ihn begeistert wirken, selbst wirkt, sodai's
es keine Grofsthat des Agni, Indra, Varuna und aller Götter
giebt, die nicht gelegentlich ihm zugeschrieben würde. (Die
Identifikation des Soma mit dem Monde — vermittelt ohne
Zweifel durch die Ähnlichkeit seines Zunehmens und Ab-
nehmens mit dem Austrinken und Wiederfüllen eines Bechers —
ist sekundär, im Rigveda noch nicht sicher nachweisbar und
noch Atharvaveda 11,6,7 als neu erscheinend.) — Ahnlich
,wie im Soma der den Göttern dargebrachte Opfertrank zu
einem Gotte wird, so wird weiter auch das Gebet (brahman)
aus einem Stärkungsmittel der Götter selbst zu einem allen
Göttern überlegenen Gotte, zuerst als Brihaspati oder
Brahmanaspati, der Gebetesherr, und sodann, nach Ab-
werfung der Personifikation, als das B rahm an, von dem als
Princip der Welt und Grandbegriff der Philosophie noch
später zu handeln sein wird.
Ziehen wir die Summe aus dieser Übersicht, so läfst sich
als solche, sozusagen als die Philosophie des Rigveda,
Folgendes bezeichnen: alle Kräfte und Wirkungen der
Natur im Himmel, Luftraum und auf Erden sind die
Willensäufserungen persönlicher, zwar unsterblicher
und übermächtiger, aber doch menschenähnlicher We-
sen, zu denen man reden, welche man beschenken kann,
und die sich durch Gebet und Opfer in ihren Ent-
schliefsungen beeinflussen lassen. Dieser Gedanke führt
uns auf die zweite Hauptfrage, welche die Beziehung der Götter
zu den Menschen, namentlich als moralischer Mächte, betrifft.
B. Die moralische Seite der vedisclieii Religion. —
Die indogermanische Religionsanschauung unterscheidet sich
von der semitischen namentlich darin, dafs der Semit vorzugs-
weise den Gegensatz zwischen Mensch und Gott, der Indo-
germane die innere Wesens-Identität beider betont. Darum
II. Die altvedische Religion. 91
ist bei den Semiten Gott vor allem der „Herr" und der
Mensch sein „Knecht", während bei den Indogermanen die
Vorstellung Gottes als „Vater", und der Menschen als seiner
„Kinder" vorherrscht. (In diesem Sinne läfst sich das Christen-
tum als ein Durchbruch indogermanischer Religionsanschauung
bei xlen Semiten bezeichnen.) Jedoch soll damit nicht mehr
gesagt sein, als dafs bei den Semiten die Vorstellung der
Knechtschaft, bei den Indogermanen die der Kindsehaft
über die andere überwiegt; und wie gelegentlich Gott schon
im Alten Testamente als Vater angerufen wird (Jes. 64,7 [8],
freilich mit einem bedenklichen Zusätze), so heifst es hin-
wiederum z. B. Rigv. 7,86,7, „ich will wie ein Sklave dem
Gabenreichen (Varuna) dienen" ; und die Vorstellung der Götter
(namentlich der des Himmels) als mächtiger Könige, gegen
deren Willen der Mensch nichts vermag, vor denen man
zittert, deren Gnade man sich zu sichern sucht, ist auch im
Rigveda nicht selten. Aber unendlich viel häufiger als in
dieser despotischen (für die semitische Welt bezeichnenden),
erscheinen die vedischen Götter in einer familiären Stellung
dem Menschen gegenüber als seine Freunde, Verwandte, Brüder
und vor allem als seine vorsorgenden „Väter", ein Ausdruck
der von Agni, Indra, Varuna und vielen andern Göttern so
häufig gebraucht wird, dafs wir in diesem aus dem Familien-
leben entlehnten Bilde Gottes als eines Vaters, von dessen
Fürsorge für den Menschen (pramäti) und väterlicher Leitung
desselben (prcmiti) immer wieder und wieder die Rede ist, die
eigentliche Grundanschauung des Ariers von seinen Göttern
zu sehen haben. Natürlich wollen diese lieben Väter und
Freunde, wenn man ihrer Gunst sich erfreuen will, durch
fleifsiges Opfern und Beten bei guter Laune gehalten werden,
und ein moralisches Verhältnis liegt an sich in dieser fami-
liären Auffassung ebensowenig wie in jener despotischen.
Vielmehr erscheint die semitische Anschauung Gottes als eines
furchtbaren Herrn geeigneter für die erste Aufnahme mora-
lischer Vorstellungen (daher deren frühes Auftreten im Alten
Testamente) als die arische, welche sehr leicht, und in der
That schon im Rigveda, zu einem allzu vertraulichen Verhält-
nisse zwischen den ubhe janmant, „den beiden Völkern", näm-
92 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
lieh der Götter und der Menschen, und schliefslich zu einer
Art Handelsvertrag zwischen beiden führt, kraft dessen die
Götter Schutz, Sieg und Beute, Gesundheit, Leben und Nach-
kommenschaft verleihen und dafür mit Soma und Gebet bezahlt
werden, oder auch Vorausbezahlung fordern, wie Gott Indra,
wenn er Väj. Samh. 3,50 zu seinem Verehrer sagt: dehi me,
dadämi te, „gieb du mir, und ich gebe dir". Wenn diese
Auffassung der Götter als genufssüchtiger und der Menschen
bedürfender Wesen jede moralische Bedeutung derselben auf-
hebt, so liegt doch" auch in der altern und edlern Anschauung
derselben als gnädiger Herrscher und liebevoller Väter zunächst
noch nichts Moralisches; dieses, und damit die eigentlich be-
rechtigte Seite der Religion fängt erst da an, wo jene personi-
fizierten Naturkräfte als Urheber und Wächter des Sitten-
gesetzes erscheinen, welches der Mensch als eine unbegreifliche
Macht von Anfang an, wenn auch noch unentwickelt, in sich
trägt. Auch diese Anschauung der Götter als moralischer
Mächte, als der allwissenden, den Menschen durchschauenden
Hüter der sittlichen Ordnung fehlt im Rigveda keineswegs.
Sie wird namentlich vertreten durch den Begriff des ritam
(des rechten Ganges), welches einerseits die in den Göttern
verkörperte ewige Ordnung der Natur, anderseits die von
ihnen überwachte sittliche Ordnung des Menschenlebens
bedeutet; die Götter sind gopä ritasya, „Hüter der Wahl-
ordnung", und zwar sowohl in physischem (z. B. 1,163,5)
als auch in moralischem Sinne (z. B. 6,51,2 — 3); sie heifsen
daher ritävan, „im Besitze der Ordnung", und ritävridh, „an
der Ordnung sich freuend", sofern sie vom Menschen inne-
gehalten wird, sie lieben und fördern den Redlichen, den
Gerechten, den Guten, sie hassen und strafen den Unredlichen,
den Ubelthäter, den Bösen, — aber immer wieder verfliefst
der Begriff des Guten mit dem des frommen Verehrers und
reichlichen Spenders, der des Bösen mit dem des opferlosen
Nichtariers und des kärglich spendenden Geizigen. Wenn
somit auch das moralische Element den vedischen Göttern
keineswegs fehlt, so tritt es doch dem so mächtig entfalteten
mythologischen Elemente gegenüber sehr in den Schatten:
und im ganzen mufs man sagen, dafs die vedischen Götter zu
II. Die altvedische Religion. 93
wenig ihrer hohen Aufgabe, gopd? ritasya, Hüter des Mora-
lischen zn sein, sich bewufst gewesen sind, zu sehr als egois-
tische Naturwesen von kräftiger Sinnlichkeit darauf bedacht
waren, in Gebet und Opfer zu schwelgen, mit Sonia „ihren
Bauch zu füllen" (wie es so oft von Indra heifst), als dafs
sie ^nicht ihr Schicksal verdient hätten, welches darin bestand,
sehr bald in den Hintergrund gedrängt zu werden, einerseits
durch die Riten selbst, mit deren pünktlicher Erfüllung man
die Götter in der Gewalt hatte, anderseits durch das philo-
sophische Denken, welches eine höhere Einheit verlangte, als
sie in dieser buntfarbigen, weder durch ein physisches noch
durch ein moralisches Princip zu einer souveränen Einheit
zusammengeschlossenen Götterwelt möglich war.
Diese Unzulänglichkeit der vedischen Götter, als Stütze
der Moral zu dienen (und somit also ihre Unzulänglichkeit
überhaupt), kann nicht lebendiger illustriert werden als durch
das moralische, zur Wohlthätigkeit auffordernde Lied Rigv. 10,
117, welches wir hier zum Schlüsse übersetzen wollen, einer-
seits um zu veranschaulichen, wie entwickelt das moralische
Gefühl schon zu den Zeiten des Rigveda war, anderseits weil
es die (jedem europäisch Denkenden befremdliche) Erscheinung
einer Moral zeigt, welche gar keinen Versuch macht, sich auf
Theologie zu gründen, vielmehr die vedische Götterwelt, offen-
bar im Gefühle ihrer Ungeeignetheit zu diesem Zwecke, kurz-
weg beiseite schiebt. Ja, der erste Vers ist geradezu gegen
solche gerichtet, welche in der Theologie das Mittel fanden,
sich der Pflicht des Wohlthuns zu überheben, indem sie das
Elend für eine göttliche Strafe erklärten, welche man nicht
durch Linderung desselben vereiteln dürfe.
Rigveda 10,117.
1. Der Hunger ist doch gottverhängte Strafe nicht!
Denn Satte auch ereilt der Tod in vieler Art.
Armen zu spenden, schmälert ja den Reichtum nicht;
Wer nicht giebt, hat auch keinen, der sich sein erbarmt.
2. Wer, wohlversehn mit Nahrung, wenn der Dürftige,
Um eine Gabe bittend, naht in seiner Not,
Sein Herz verhärtet dem, der Ehre stets erwies,
Der findet selbst auch keinen, der sich sein erbarmt.
94 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
3. Der erst geniefst, der auch dem Armen mitteilt,
Der hinschleicht, Nahrung bittend, abgemagert;
Wer ihm in seinem Hülferuf Gehör schenkt,
Hat für die Zukunft einen Freund gewonnen.
4. Der ist kein Freund, der nicht dem Freunde mitgiebt,
Dem treu anhänglichen, von seiner Speise.
Weg geht er von ihm , wo kein Trost zu finden ,
Hängt sich an einen Fremden, der ihn sättigt.
5. Es reiche dar dem Flehenden wer -Macht hat,
Hinblickend auf den weitern Weg der Zukunft!
Reichtum rollt um wie Räder an dem Wagen.
Oft ging er schon von dem auf jenen über.
6. Vergebens häuft für sich der Thor die Güter;
Die Wahrheit sag' ich, sie sind sein Verderben!
Er zieht sich keinen Freund auf, noch Vertrauten, —
Einsam geniefst er, einsam wird er leiden.
7. Nur wenn sie pflügt, bringt uns die Pflugschar Nahrung;
Der Weg nützt nur, wenn man ihn pflückt mit Füfsen;
Den lauten Redner, nicht den stummen liebt man;
So gilt ein Freund, der schenkt, mehr als ein karger.
8. Der Einfufs schreitet schneller als der Zweifufs wohl,
Der Zweifufs holt den Dreifufs ein von hinten;
Der Vierfufs kommt auf der Zweifüfs'gen Ruf herbei,
Schaut auf zu ihnen, ihre Schar umwedelnd.
[So ist, wer kargt, oft ärmer, als wer mitteilt.]
9. Die Hände, obschou gleich, sind nicht gleich wirksam;
Zwei Schwesterkühe sind an Milch oft ungleich:
Selbst Zwillinge an Leistung sind verschieden, —
Selbst Blutsverwandte sind nicht gleich mildthätig.
Mit diesem Hinweise auf die grofse, aus natürlichen Grün-
den nicht erklärliche, ethische Verschiedenheit der Charaktere
endet das schöne Lied.
Verfall der altvecliscken Religion. 95
III. Der Verfall der altvedischen Religion und die Anfänge
der Philosophie.
1. Zweifel und Spott.
Die altvedische Religion trug, wie gezeigt, die Keime
ihres Unterganges in sich, und so werden wir uns nicht wun-
dern, wenn wir schon auf dem Boden des Rigveda selbst den
Verfall der Religion hereinbrechen sehen, indem in einigen
spätem Hymnen, so viel auch hier von der priesterlichen
Überlieferung ausgetilgt sein mag, doch deutliche Spuren von
Unglauben, Verspottung der Religion und ihrer Institute, und
endlich gänzlicher Ablehnung derselben wahrzunehmen sind.
Wir wollen dieselben in der Kürze nachweisen.
Zunächst ist es schon ein bedenkliches Zeichen für die
Gläubigkeit eines Zeitalters, wenn in ihm viel von Glauben
die Rede ist. Denn wenn auch Lessings Behauptung, dafs
„man selten von der Tugend spreche, die man habe, aber
desto öfter von der, die uns fehle", nur die halbe Wahrheit
so vieler sprichwörtlichen Redensarten haben dürfte, so wird
doch in einer Zeit völlig unerschütterten Glaubens dieser,
eben weil er die einer solchen Zeit völlig gemäfse Interpre-
tation des Daseins ist, so unbewufst und gleichsam instinktiv
die Grundlage des ganzen geistigen Lebens bilden, dafs von
ihm so wenig die Rede ist wie etwa von der Verdauung, so
lange dieselbe richtig funktioniert. Wie aber dieser, sobald
sie irgendwie gestört ist, sogleich die Aufmerksamkeit, sich
zuwendet, so auch der eigenen Gläubigkeit, wenn man ihrer
sich nicht mehr ganz versichert fühlt. In diesem Sinne ist
es ein Zeichen der Zeit, wenn wir unter den spätem Liedern
des Rigveda folgende Anrufung, nicht irgend eines Gottes,
sondern des Glaubens finden:
Bigveda 10,151 (= Taut. Br. 2,8,8,6-S).
1. Durch Glauben Opferfeuer flammt,
Durch Glauben Opferspende strömt,
Den Glauben auch im Schofs des Glücks
Bekennen wir durch unser Wort.
96 Die Zeit der Hymnen des Kigveda.
2. Mach', Glaube, wert dem Spendenden,
Mach' wert dem spenden Wollenden,
Dem Opfrer wert, der gerne schenkt,
Dies Zeugnis, von mir abgelegt!
3. Wie selbst den mächt'gen Unholden
Die Götter brachten Glauben bei ,
Präg' ein dem Opfrer, der gern schenkt,
Dies Zeugnis, von uns abgelegt!
4. Den Glauben schätzt der Götter Schar
Und Opfrer, schützend Lebenshauch;
Wer ernstlich will, wird gläubig bald,
Wer glaubt, gewinnt der Güter viel.
5. Den Glauben rufen morgens wir,
Den Glauben an zur Mittagszeit,
Den Glauben, wenn die Sonne sinkt, —
0 Glaube! mache gläubig uns!
Dieser Stofsseufzer einer frommen, und nicht weniger begehr-
lichen, Seele scheint zu beweisen, dafs es zur Zeit unseres
Sängers mit der Gläubigkeit der reichen und freigebigen Opfer-
herren nicht mehr recht voran wollte.
Aber wir haben deutlichere Anzeichen des einreifsenden
Unglaubens, und es ist merkwürdig, clafs derselbe sich vor-
nehmlich an den Gott Indra wagt, der doch wie kein anderer
zum Nationalgotte des streitbaren Inders der vedischen Zeit
geworden war. Diese Erscheinung mag zum Teil ihren Grund
darin haben, dafs Indra nicht so ununterbrochen wie Varuna,
Savitar oder Agni, sondern nur hin und wieder, im Gewitter,
seine Wirksamkeit entfaltete, zum Teil wohl auch darin, dafs
er als Kriegsgott zu öfteren Malen diejenigen, welche auf
seine Hülfe vertrauten, im Stiche gelassen haben wird. So
heilst es in dem Sajanäsa-Liede 2,12, — so genannt, weil der
Sänger, indem er die Grofsthaten des Gottes von Vers zu
Vers verkündet, jedesmal mit dem Refrain schliefst: sa,jandsa\
Indra!, „das ist, ihr Völker, Indra!" — in diesem noch so
glaubensmutigen Liede heifst es, Vers 5:
Verfall der altvedischeu Religion. 97
Der Furchtbare, von dem sie zweifelnd fragen:
„Wo ist er?", ja, von dem sogar sie sagen:
,,Er ist nicht!", und der doch Spielmarken gleich
Einstreicht die Güter des, der kärglich spendet,
Glaubt nur an ihn, das ist, ihr Völker, Indra!
Ähnlichem Zweifel begegnen wir Rigveda 8,100,3:
Bringt schönes Lob dem Indra um die Wette,
Wahrhaftiges, wenn er wahrhaftig ist!
Zwar sagt wohl der und jener: „Indra ist nicht!
Wer sah ihn je? Wer ist's, dafs man ihn priese?" —
was dann der Dichter durch eine Art Theophanie widerlegt. —
Auch der humoristische Ausruf (wahrscheinlich eines Götter-
bilder verkaufenden Händlers), wie er 4,24,10 in den Text
geraten ist, war in den Zeiten des lebendigen Glaubens wohl
nicht möglich:
Wer kauft mir diesen Indra ab?
Für zehn Milchkühe geb' ich ihn.
Wenn er die Feinde abgemurkst,
Nehm' ich auch wieder ihn retour! —
Schwerer als solche Späfse eines rohen Gesellen wiegt es,
wenn auch elegante Dichter ihr Talent mi fsbrauchen, um die
Götter, und namentlich wieder Indra, zu verspotten.
Dafs Gott Indra eigentlich, so gut wie andere Leute, ein
Egoist ist, dem es vor allem darauf ankommt, tüchtig Soma
zu trinken, das lag am Ende in seinem ganzen Charakter,
aber man durfte es doch nicht sagen, es wäre denn in der
Weise des satirical ror/ve, welcher Rigv. 9,112 launig schildert,
wie /alles in der Welt dem eigenen Vorteil nachstrebt, und da-
bei jedesmal mit dem altheiligen, auch sonst öfter (z. B. 9,113.
9,114. 8,91,3) vorkommenden Refrain schliefst: indräya inclo
pari-srava, „Du, o Soma, ströme dem Indra zu". Geldner und
Grafsmann freilich haben diesen Refrain, in dem nach unserer
Meinung die Pointe des Ganzen liegt, als ungehörig gestrichen.
Ob mit Recht, mag die Betrachtung des Liedes selbst lehren,
das wir hier übersetzen.
Deussen, Geschichte der Philosophie. I. 7
98 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
Rigveda 9,112.
1. Gar mannigfach ist unser Sinn,
Verschieden, was der Mensch sich wünscht:
Radbruch der Wagner, Beinbruch der Arzt,
Der Priester den, der Soma preist, —
„Dem Indra ströme Soma zu!"
2. Der Schmied mit dürrem Reiserwerk
Mit Flederwisch als Blasebalg
Mit Ambofsstein und Feuersglut
Wünscht einen, der das Gold nicht spart, —
„Dem Indra ströme Soma zu!"
3. Ich bin Poet, Papa ist Arzt,
Die Küchenmühle dreht Mama,
So jagen vielfach wir nach Geld,
Wie Hirten hinter Kühen her, —
„Dem Indra ströme Soma zu!"
4. Das Streitrofs wünscht den Wagen leicht,
Zulächeln, wer Anträge stellt,
Hirsutam vulvam mentula ,
. Es wünscht der Frosch den Wasserpfuhl, —
„Dem Indra ströme Soma zu!" —
Eine ähnliche Verspottung Indra's durch angehängten
Refrain scheint das Lied Rigv. 10,86 zu bezwecken, ein Dia-
log, in dem indessen die Verhältnisse ziemlich unklar liegen.
Vielleicht ist die Situation die, dafs Indra, da ihm die
Arier nicht mehr opfern wollen (v. 1), wilden Stämmen sich
zuwendet, welche symbolisiert werden durch Vrishakapi, den
,Mannaffen" (einen Vorläufer des Hanumant), bei dem Indra
sich mit fetten Ochsen den Bauch füllen und dazu weidlich
zechen kann (v. 14—15). Hieran nimmt Indräni, die Gattin
des Indra, grofsen Anstofs (zumal da Vrishäkapi etwas un-
säuberlich mit ihr umgegangen ist, v. 5. 9), und es kommt
zu einem Zwist des göttlichen Ehepaares, nicht ohne derbe
Zoten, indefs der Dichter, durch alles dieses unbeirrt, gleich-
sam als Chorus zur Seite steht und hinter jedem Verse, auch
dem ärgsten, seinen Refrain herbetet, der gewifs wieder einem
alten Liede entnommen ist: vigvasmäd Indra' vttarah!, „Indra
erhaben über allem ist".
Verfall der altvedischen Religion. 99
Die Krone dieser Verspottungen des Indra aber bildet
doch wohl das berühmte Lied. 10,119, in welchem der Gott
auftritt, stark von Soma angetrunken, in seligster Geberlaune,
zu den tollsten Streichen aufgelegt und mächtig renommierend,
wobei der schwer übersetzbare, rülpsartige Refrain den Schlüssel
dieser seltsamen Situation liefert:
Bigveda 10,119.
1.* Jetzt war' ich in der Laune wohl,
Ein Rofs zu schenken, eine Kuh!
0 ha! kommt das vom Somatrank?
2. Wie Winde stürmend ungestüm
Hat mich der Trunk gerüttelt auf.
0 ha! kommt das vom Somatrank?
3. Der Trunk hat mich gerüttelt auf,
Wie schnelle Rosse einen Karr'n.
0 ha! kommt das vom Somatrank?
4. Da brüllt ja ein Gebet mich an
Wie eine Kuh ihr liebes Kind.
0 ha! kommt das vom Somatrank?
5. Ich wirble wie ein Drechsler rund
In meinem Herzen das Gebet.
0 ha! kommt das vom Somatrank?
6. Nicht wie ein Sonnenstäubchen grofs
Erscheint mir jetzt das Menschenvolk.
0 ha! kommt das vom Somatrank?
7. So grofs sind Erd' und Himmel nicht
Wie eine Schulter hier von mir.
0 ha! kommt das vom Somatrank?
8. Lang bin ich bis zum Himmel hoch,
Breit wie das ganze Erdenrund.
0 ha! kommt das vom Somatrank?
* Die Übersetzer können es auch hier nicht lassen, durch Um-
stellungen einen strophischen Bau und geordneten Gedankengang herzu-
stellen. — Sie wissen am Ende nicht, wie einem zu Mute ist, der Soma
getrunken hat.
7*
LefC.
100 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
9. Jetzt will ich mal die Erde gleich
Umschmeifsen linkshin oder rechts.
0 ha! kommt das vom Somatrank?
10. Mich brennt's, der Erde eins zu hau'n,
Dafs sie zerfliegt nach links und rechts.
0 ha! kommt das vom Somatrank'?
11. Beug' ich mich halb zum Himmel raus,
Kann bis nach unten langen ich.
0 ha! kommt das vom Somatrank?
12. Ich bin der Grofse, Grofse, ich,
Bis in die Wolken rag' ich auf.
0 ha! kommt das vom Somatrank?
13. Ich geh' nach Haus!* Ich hab' genug!
Den Göttern bring' ich noch was mit!
0 ha! kommt das vom Somatrank?
Wie die Religion, so werden in den Ausläufern der
Rigvedalitteratur auch deren Institute verspottet. So nament-
lich in dem den Vasishtha-Liedern (Buch VII) angehängten
Hymnus an die Frösche; wie diese in der Batrachomyo-
machie dienen, das heroische Epos, in den Fröschen des
Aristophanes, den tragischen Chor zu parodieren, so treten
die Frösche hier (Rigv. 7,103) zur Abwechslung einmal für
die Götter ein, werden, wie diese, in ihren Heldenthaten
besungen und zum Schlüsse in der lächerlichsten Weise um
ihren Segen angerufen. Das ganze Jahr durch haben die
Frösche geschwiegen „wie Priester, die ein Gelübde bindet"
(v. 1); in der Regenzeit erheben sie ihr Gequake, wobei der
eine dem andern nachplärrt wie in der Brahmanenschule der
Schüler dem Lehrer (v. 5). Sie lärmen dabei wie die Priester,
wenn sie beim übernächtigen Soma um den vollen Kessel
sitzen und reden (v. 7); und nochmals: sie machen ein Ge-
schrei wie Priester, die vom Soma trunken sind, und schwitzen
dabei wie die Adhvaryu's, wenn sie den heifsen Milcht rank
Es wird grihän zu lesen sein (vgl. 10,85,26. 10,86,20. 6.54,2).
Verfall der altvedisclien Religion. 101
bereiten (v. 8). Das Tollste aber ist der Schlufs, wo die
Frösche als Hüter der heiligen Ordnung des Jahres gefeiert
(devahitim jugupur dvddacasya) und um Schätze, Kühe und
langes Leben angefleht werden, wie Geldner und Grafsmann
meinen, „um dem Scherz das Ansehen eines Gebetliedes zu
geben", wie wir glauben, um die zahlreichen Stellen, in denen
alle möglichen Götter um diese Dinge angerufen werden,
dadurch lächerlich zu machen, dafs hier die verschiedenen
Frösche, der brüllende wie der meckernde, der gelbe wie der
bunte, die Stelle der Götter einnehmen. Es ist vielleicht
nicht zufällig, dafs der Schlufssatz: gavdni mandukd dadatah
gatäni sahasrasdve pra tiranta? dyus, parodierend aus einem
Hymnus des Vicvämitra (3,53,7: Vicvdmitrdya dadatah ma-
ghdni sahasrasdve pra tiranta-1 dyus) entnommen ist, dem die
Schule des Vasishtha feindlich gegenüberstand.
Rigveda 7,103.
1. Das Jahr durch lagen sie so stumm
Wie Priester unterm Schweiggebot;
Doch nun der Regengott sie weckt,
Tönt laut der Frösche Redeschwall.
2. Des Himmels Wasser sind zu ihm gekommen,
Der in dem Sumpfe trocken lag wie Leder;
Da, wie von Kühen, die nach Kälbern brüllen,
Bricht laut aus die Beredsamkeit der Frösche.
3. Sehnsüchtig harrend auf die Zeit des Regens
Und schmachtend lagen sie, da strömt es nieder;
Xun grüfsen sie sich, wie der Sohn den Vater,
Mit freudigem Quaken zu einander redend.
4. Sieh' diese zwei, die freudig sich begegnen,
Wie ihnen wohl ist heim Ergufs der Wasser!
Und hier, der Frosch, wie hoch er hüpft im Regen!
Ein bunter dort tauscht Worte mit dem gelben.
5. Wenn sie so mit einander Worte wechseln,
Wie Schüler, die nachsprechen ihrem Lehrer, —
Ihr müfst die Lektion wohl trefflich können,
Wenn man im Wasser euch so wohlberedt hört!
102 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
6. Das brüllt wie Ochsen, meckert wie die Böcke,
Gesprenkelte und gelbe durcheinander;
„"Viel sind der Formen , aber nur ein Name ",
Vielfach verziert sind ihrer Rede Worte.
7. Wie Priester über Nacht beim Soma sitzen
Rings um das volle Fafs und Reden halten,
So feiert ihr wohl auch, o Frösche, heute
Den Tag, mit dem die Regenzeit begonnen!
8. Ja, Priester sind es, die des süfsen Soma voll
Das grofse Jahrgebet mit Lärm begehen,
Geistliche Herrn, beim Milchtrank weidlich schwitzend,
Recht öffentlich, denn jeder will sich zeigen.
9. Die gottgesetzte Jahresordnung hütend,
Nicht brechen ihre Zeit die Götterhelden; —
Da kommt die Regenzeit, und nun ergiefsen
Die heifsen Opferkessel ihren Milchtrank.
10. Der Brüllochs schenkt, es schenkt der Meckerbock uns,
Der bunte und der gelbe reiche Güter!
Die Frösche „schenken uns ein Hundert Kühe
Und langes Leben bei dem Tausendopfer!" —
Wo solche Parodien möglich waren, da hatte der Un-
glaube schon weit um sich gegriffen; und es ist nicht zum
Verwundern, wenn es Männer gab, die sich in offener Oppo-
sition von der bestehenden Religion und ihrer Ordnung los-
sagten. Der kühne Ausspruch eines solchen ist uns erhalten
in dem Verse, Rigveda 10,82,7:
Ihr kennt ihn nicht, der diese Welt gemacht hat:
Ein andres schob sich zwischen ihn und euch ein:
Gehüllt in Nebel und Geschwätz umherziehn
Die Hymnensänger, ihren Leib zu pflegen.
Diese Kraftstelle besagt, dafs die Recitierer der vedischen
Hymnen (ukthaqäs), also die Träger der heiligen Überlieferung
1) selbst im Unklaren (im Nebel) sich befinden, 2) andere
durch blofses Geschwätz (jalpi) bethören, 3) als asutripak
(„Leben sättigend", oder „nicht leicht zu ersättigen" — beides
kommt schliefslich auf dasselbe hinaus) nicht nach Wahrheit,
Die Anlange der Philosophie. 103
sondern nach ihrem Lebensunterhalte streben, ein Vorwurf,
welcher seitdem sehr oft gegen die Brahmanen erhoben
worden ist.
2. Aufdämmern des Einheitsgedankens.
^ Ein Zeitalter, in dem so deutliche Anzeichen des Unglau-
bens, der Verspottung und der offenen Ablehnung der Religion
sich zeigen, war reif für die philosophische Betrachtung
der Dinge, und eine solche sehen wir denn auch, Hand in
Hand mit den geschilderten Symptomen des verfallenden
Glaubens, in den jüngsten Hymnen des Rigveda klar und
immer klarer hervortreten.
Und zwar thun hier die philosophischen Dichter des Rig-
veda als ersten und wichtigsten Schritt denselben, durch welchen
in Griechenland Xenophanes die Philosophie begründete, und
der der Natur der Sache nach den Anfang der Philosophie
bedeutet: er besteht in der Erkenntnis, dafs aller der bunt-
gestaltigen Vielheit der Götter und der Wesen in der Welt
zu Grunde liegt eine von ihnen allen verschiedene, ewige
Einheit. Die Art, wie durch diesen Gedanken der Einheit
der Welt in Indien und in Griechenland die Philosophie zum
Durchbruche kommt, ist eine charakteristisch verschiedene.
Xenophanes lehnt sich in offenem Kampfe gegen die homerische
Götterwelt auf; er konnte dies thun, weil ihm keine ge-
schlossene Priestergilde gegenüberstand, und er mufste es
thun, weil die griechischen Götter unter den Händen der
homerischen Poesie und ihrer plastischen Gestaltungskraft zu
sehr zu festen Individuen krystallisiert waren, um vom philo-
sophischen Denken aufgelöst zu werden, es wäre denn in der
künstlichen Weise einer allegorischen Umdeutung, wie sie
später von den Stoikern versucht wurde. Anders in Indien:
hier war eine offene Bekämpfung angesichts des mehr und
mehr sich konsolidierenden Priesterstandes ohne Aussicht auf
Erfolg; es bedurfte aber auch derselben nicht, denn die Personi-
fikation der indischen Götter war so wenig durchgeführt, die
Gestalten derselben waren noch so nebelhaft durchsichtig und
leicht in die entsprechende Naturerscheinung auflösbar, dafs
man es unternehmen konnte, die Götter stehen zu lassen und
10-4 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
durch sie hindurch die Einheit zu ergreiten, welche allen
Göttern und allen entsprechenden Naturkräften zu Grunde
liegt. Dementsprechend gewahren wir in den spätem Teilen
des Rigveda ein eigentümliches Suchen und Fragen nach der
Einheit, auf der alle Vielheit der Götter und der Dinge beruht,
wobei die Frage immer dringlicher gestellt wird und die
Lösung in schrittweise zunehmender Deutlichkeit hervortritt,
wie wir jetzt im einzelnen nachweisen wollen.
Zunächst ist hier von einer Eigentümlichkeit der vedischen
Götterverehrung zu reden, die derselben eine Mittelstellung
zwischen Polytheismus und Monotheismus zuweist, und die
man (mit Max Müller) füglich als Henotheismus bezeichnen
kann. Der vedische Glaube ist nicht ein Polytheismus wie
der der Griechen, wo jeder Gott dem andern Gott in ge-
schlossener Individualität gegenübersteht und in seiner AVir-
kungssphäre durch die der andern eingeschränkt wird; die
Götter des Veda bewohnen nicht in familiärer Gemeinschaft
ihren Olympus, sondern jeder steht auf seiner eigenen Höhe,
und wenn man sich ihm naht, so treten alle andern Götter
in den Hintergrund, ja sie verschwinden mitunter in dem
Mafse, als wenn der gerade angerufene Gott, sei es Agni,
Indra, Varuna oder sonst einer, der allein vorhandene wärt.
Daher die auffallende Erscheinung, dafs dieselben Grofsthaten,
wie Festgründung der Erde, Stützung des Himmelsgewölbes,
Heraufführen der Sonne u. s. w., bald dem Varuna, bald dem
Indra oder Agni, oder auch andern Göttern beigelegt und
schliefslich sämtlich auf Soma oder Brahmanaspati vereinigt
werden. Es ist hierbei, als wenn im tiefsten Grunde des
Gemütes schon das Bewufstsein von der Einheit des Gött-
lichen vorhanden wäre, und als wenn dieses Gottesbewufst-
sein die verschiedenen Götter nur als Schemata benutzte, an
denen es sich zum Ausdrucke bringt. Hierbei werden häufig
zwei Götter im Dual zusammengefafst, wie Mitra - Varuna,
Agni- Soma, Indra -Väyu u. s. w. , und als Einheit angerufen;
oder der Dichter wendet sich an die Vigve deväh, ursprünglich
„alle Götter", welche dann später bei zunehmender Systema-
tisierung als eine besondere Götterklasse neben den andern
erscheinen. An sie, unter spezieller Anrufung einzelner Götter,
Die Anfänge der Philosophie. 105
ist auch der mystisch dunkel gehaltene Hymnus 3,55 gerichtet,
der in allen 22 Versen mit dem merkwürdigen Refrain schliefst:
mahad devänäm asuratvam ekam, d. h. (wenn wir richtig über-
setzen): „grofs ist der Götter Lebenskraft, ist eine". — Deut-
licher noch tritt der Versuch, zur Einheit vorzudringen, hervor
in der Aditi, die mythologisch zur Mutter der Aditycts, der
höchsten Himmelsgötter, wurde, etymologisch aber „die Un-
endlichkeit" zu bedeuten scheint. Von ihr heifst es 1,89,10:
Die Aditi ist Himmel, ist der Luftraum,
Die Aditi ist Mutter, Vater, Sohn.
Die Aditi ist alle Götter und Menschen ,
Ist was geboren ward und was da sein wird.
Was hier noch schüchtern in mythologischer Verhüllung er-
seheint, der Gedanke von der Einheit des Universums,
findet seine grofsartige Durchführung in zwei Hymnen, die
den eigentlichen Kern der Philosophie des Rigveda ausmachen,
das dem Dirghatamas zugeschriebene Lied 1,164 und der
Schöpfungshymnus 10,129. Mit ihnen haben wir uns jetzt
zunächst zu beschäftigen.
3. Das Einheitslied des Dirghatamas, Rigv. 1,164.
Dieser gewaltige Hymnus steht an der Spitze der ganzen
Entwicklung der indischen Philosophie, ein Vorrang, der ihm
nur durch den Schöpfungshymnus 10,129 streitig gemacht
werden könnte. Das Thema bei beiden ist das gleiche: die
Einheit in der Vielheit der Welterscheinungen, nur
dafs dieser aller weitern Philosophie als Ausgangspunkt die-
nende Gedanke 1,164 mehr analytisch, 10,129 mehr synthetisch
behandelt wird. Der Dichter von 1,164 geht aus von der
Vielheit und sucht durch sie zur Einheit vorzudringen, wobei
er sich vielfach noch in rituellen Vorstellungen befangen zeigt,
während der Dichter des Schöpfungsliedes sich ganz frei von
rituellen und dogmatischen Vorurteilen gemacht hat, die ewige
Einheit direkt ins Auge fafst und aus ihr die Dinge abzu-
leiten sucht. Es ist damit ähnlich wie mit dem Grundge-
danken des Christentums, der Wiedergeburt, welche bei Paulus
noch in ihrer Entstehung und Loswindung von ererbten
106 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
Vorurteilen beobachtet werden kann, während sie bei Johannes
abgeklärt und als fertiges Resultat auftritt. So wie wir nun
hieraus auf die Priorität des paulinischen vor dem johanneischen
Gedankenkreise schliefsen müssen, so werden wir auch dem
dunkeln Suchen in 1,164 die Priorität vor den abgeklärten
Anschauungen von 10,129 einräumen. Hierbei braucht 10,129
nicht direkt von 1,164 abzuhängen, sondern nur eine ähnliche
Gedankenarbeit vorauszusetzen, wie wir sie in dem Einheits-
liede des Dirghatamas noch vor Augen haben.
Eine Disposition dieses letztern ist schwer zu geben, da
sich in ihm drei Gedanken:
a. die Rätsel des Universums,
b. die Einheit als Lösung derselben,
c. die Identität der Weltordnung und Opfer-
ordnung
fast unentwirrbar durcheinander schlingen. Nachdem gleich
in v. 1 durch die Koordination der drei Brüder, des Him-
melsfeuers (Sonne und Sterne), des Wolkenfeuers (Blitz)
und des Opferfeuers, auf die Einheit der himmlischen, atmo-
sphärischen und irdischen Phänomene hingedeutet und somit
gleichsam der Dreiklang angeschlagen worden, welcher als
Grundaceord das ganze Lied durchklingt, so werden weiter
a. die Rätsel des Universums entwickelt, und zwar
speciell des Sternenhimmels als physischen Vertreters der
Zeit (v. 2. 13—16. 19—20. 48), der Sonne (v. 5. 7. 8—9. 17.
31—33. 47. 52) und des irdischen Feuers (v. 1. 30).
b. Hierbei kommt wieder und wieder der Gedanke der
Einheit in all dieser Mannigfaltigkeit zum Durchbruche
(v. 4. 6. 10 — 12. 18. 21. 22.), bis dann endlich (v. 46) die
grofse Wahrheit unverhüllt und in offener Opposition gegen
die Orthodoxie ausgesprochen wird: ekam sad viprä bahudhd
vadanti, „vielfach benennen, was nur eins, die Dichter". (Bis
zum tat tvam asi der Chändogya-Upanishad hin ist kein so
epochemachendes Wort mehr in Indien gesprochen worden.)
c. Begründet wird diese . Einheit durch einen durch-
gängigen Parallelismus der Weltordnung und Opferord-
nung, indem sowohl die Funktionen des Hotar (7 Hotar's,
Das Einheitslied des Dirghatamas, Kigv. 1,164. 107
seine Rede, deren Metra) als auch die des Adhvaryn (Pra-
vargya, Somaopfer, Tieropfer) mit entsprechenden kosmischen
Verhältnissen parallelisiert, ja identifiziert werden. So werden
namentlich gleichgesetzt:
die 7 irdischen Hotar's — 7 himmlische Hotar's, v. 2 — 3. 36.
die irdische Väc (Rede) — die himmlische, v. 37 — 39.40 — 42.45.49.
die irdischen Metra — die himmlischen, v. 23 — 25.
der irdische Pravargya — der himmlische (Gewitter), v. 26 — 29.
das Tieropfer — Stieropfer der Götter, v. 43 — 44. 50. 51.
Opferbett — Ende der Erde,
Opfer — Nabel der Welt,
Soma — Sonne und Regen, [Rede,
Beter (brahmän) — höchster Himmelsraum der
v. 34—35.
In diesen Parallelisierungen tritt schon deutlich die Methode
der Brähmana's zu Tage, welche unermüdlich darin sind,
die Bestandteile des Opfers in die Bestandteile der Welt
symbolisch umzudeuten; zugleich aber schimmert auch das
schon durch, dessen praktische Seite diese Symbolisierungen
sind, der grofse philosophische Gedanke der Upanishad's,
dafs das Princip der Dinge identisch ist mit dem Brähman
(Gebet), d. h. mit derjenigen Erhebung des Willens über die
eigene Individualität, deren wir in der religiösen Andacht uns
bewufst werden.
Noch ist vorauszubemerken, dafs der Hymnus sich von
selbst in zwei Teile zerlegt, v. 1—22, welche die Einheit des
Universums, und v. 23—46, welche die Einheit der Welt-
ordnung und Opferordnung nachweisen (v. 47 — 52 ist offen-
bar ein Nachtrag). Die Atharva-Recension hat diese beiden
Teile als besondere Hymnen 9,9 und 9,10 (mit einigen Um-
stellungen), aber da der Grundgedanke beider übereinstimmend
ist, da die Betrachtungen des ersten Teils dem zweiten schon
vorgreifen (namentlich in v. 3. 21) und dafür wiederum in
diesem nachklingen, so ziehen wir es vor, an der einheitlichen
Form des Rigveda festzuhalten. Eine Zerlegung des Hymnus
in kleinere Stücke, wie sie von den Neuerern wohl noch oft
versucht werden wird, mag eine nützliche Übung des philo-
logischen Scharfsinnes sein, hat aber für die philosophischen
108 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
Gedanken, um die es uns hier zu thun ist, keine weitere
Bedeutung. *
A. Erste Hälfte, v. 1-22.
Vers 1—3. Das Himmelsfeuer (Sonne und Sterne), das Blitz-
feuer und das Opferfeuer bilden eine Einheit (sind Brüder),
welche der Dichter in dem Opferfeuer anschaut als einen
Stammherrn (vigpati) mit sieben Söhnen, d. h. den sieben
Hotar's. Diesen sieben irdischen Hotar's (die öfter erwähnt
werden, z. B. 3,10,4. 8,60,16. 10,63,7) entsprechen für das
Firmamentfeuer sieben himmlische Hotar's und für das atmo-
sphärische Feuer sieben Schwestern (vielleicht sieben Blitz-
flammen). Das Firmament ist ein Wagen, bestehend nur aus
einem Ungeheuern, sich drehenden JRade, das von der durch
die sieben Hotar's angeschirrten Sonne gezogen wird. Erde,
Luftraum und Himmel sind drei ineinander steckende Naben
des Sternenrades.
1. Dort jener schöne Priester, grau vor Alter1!
Verzehrend ist sein Bruder in der Mitte 2 ;
Schmalz auf dem Rücken trägt der dritte Bruder3;
Als Stammherrn sah ich ihn mit sieben Söhnen4.
1. Das Firmament mit Sonne und Sternen. 2 • Der Blitz. 3. Das Opt'er-
feuer. 4. Den sieben Hotar's.
2. Einrädrig ist der Wagen x , den die sieben 2
Anschirr'n; ihn zieht ein Rofs mit sieben Namen3;
Dreinabig ist es, ewig, unaufhaltsam,
Das Rad 4 , auf welchem alle Wesen fufsen.
1. Des Firmamentes. 2. Die sieben himmlischen Hotar's. 3. Die Sonne,
später Aditya genannt; hier sind die sieben Aditya's ihre Namen, 4. Des
Firmamentes.
* Weder was die indischen Exegeten in diesen Hymnus hineingeheim-
nifst, noch was die europäischen daraus herausgesponnen haben, durfte uns
bei der Erklärung desselben leiten, sondern nur der anhaltend und ernstlich
durchdachte Wortlaut des Liedes selbst in seinem Zusammenhange mit
den übrigen Erzeugnissen der vedischen Philosophie. Haug's Erklärung
desselben als „Vedische Rätselfragen und Rätselsprüche" (Sitzungsberichte
der Münchener Akademie 1875, II, S. 457—515), die wir hinterher verglichen
haben, enthält im einzelnen neben vielem Verfehlten auch manches Gute,
fufst aber im ganzen auf der Voraussetzung, dafs sich in dem Hymnus
nirgends ein wirklicher Zusammenhang nachweisen lasse. Unsere
Darlegung unternimmt es, diese Voraussetzung zu entkräften. Im einzelnen
freilich ist vieles problematisch und wird es wohl für immer bleiben.
Das Einheitslied des Dirghatamas, Rigv. 1,164. 109
3. Es sind die [selben] sieben, die dem Wagen hier1
Vorstelm mit sieben Rädern2, sieben Rossen3;
Und sieben Schwestern4 jauchzen ihnen zu,
Da wo gesetzt der Kühe sieben Namen 5.
1. Dem Opfer. 2. Den sieben Teilen des jährlichen Opfercyklus. 3. Den
sieben Opferflammen, Mund. 1,2,4. 4. Sieben Blitzflammen mit ihren sieben,
der Tonleiter entsprechenden Donnerstimmen (den sapta vuiuh, Rigv. 3,1,6).
5. Sieben AVolkenarten oder Wolkenströme (die sapta yahvih, ibidem v. 3. 6). —
Möglich ist es auch, (mit Hang) unter den Rossen Metra, unter den Schwe-
stern Stoma's und unter den in ihnen ruhenden Kühen die Töne der Skala
zu verstehen.
Vers 4—6. Der schon v. 1 erwähnte Stammherr, d. h. die
Einheit, welche jener Vielheit der Erscheinungen des Uni-
versums zu Grunde liegt, ist zu erforschen.
4. Wer hat gesehn, wie den zuerst Entstandnen,
Den Knochenhaften1 trägt der Knochenlose2?
Wo war der [Lebens-]Hauch, das Blut, das Selbst der
Erde?
Wer ging, den der es weifs darnach zu fragen?
1. Das gestaltete Sein (vyaktam). 2. Das gestaltlose Urprincip (avyaktam).
5. Als Thor, im Geist nichtwissend, frag' ich jenen
Verborgnen Wohnstätten der Götter nach,
Wo am einjährigen Kalb 1 die Weisen spannten
Die sieben Fäden2, um sie auszuweben.
1. An der Sonne als Vertreterin des Jahres. 2. Die sieben Jahresopfer.
6. Unkundig frag' ich die hier etwa kundig,
Die Weisen , zu erforschen , was ich nicht weifs :
Wer wohl gestützt hat die sechs Weltenräume
Als Ungeborner; wer war wohl dies Eine? —
Vers 7—22. Der Dichter fährt fort, die rätselhaften Phä-
nomene des Universums zu schildern, und immer wieder wird
diese Schilderung unterbrochen durch die Frage nach dem
Einen; der Eine ist v. 10 der Träger der drei Weltenväter
und Weltenmütter, v. 12 der Vater, v. 13 die Weltachse,
v. 18 der göttliche Geist, v. 22 der Vater.
Vers 7 — 10. Der Eine als Weltträger. Woher stammt
die Sonne (v. 7)? Sie ist das vom Vater Himmel mit der
HO Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
Erdkuh gezeugte Kalb (v. 8 — 9). Aber der Himmel und die
Erde (beide aus drei Schichten übereinander bestehend) werden
getragen von dem Einen, was wohl im Himmel, aber nicht
überall auf Erden bekannt ist (v. 10).
7. Es sage an hier, wer es weifs zu sagen,
Wo der verborgne Stand des schönen Vogels1?
Aus seinem Haupte melken Milch die Kühe 2 ,
Gewandverhüllt, mit [seinem] Fufse Wasser trinkend3.
1. Der Ursprungsort der Sonne. 2. Die Wolken nähren sich von der
Sonne. 3. Mittels des Fufses der Sonne (der über die Erde hinwandelnden
Sonnenstrahlen) trinken die Wolken das Erdenwasser.
8. Die Mutter liefs dem Vater zu was recht ist,
Mit Sinn ihm paarend sich und Wunsch zu Anfang.
Unwillig ward, durchbohrt, sie keimesschwanger,
Da brachen aus in Preis die Jubelscharen.
9. Die Mutter war geschirrt ans Joch der Wackern1;
Noch stand das Kind umfriedigt von der Hürde - ; —
Da blockt das Kalb und schaut zur Kuh hernieder,
Zur allgestaltigen , drei Meilen abwärts 3.
1. dakshinäyäh, vielleicht der Morgenröte : eben hatte die Erde den Wagen
der Morgenröte (ratho dakshinäyäh, 1,123,1) her aufgeführt, 2. noch war die
Sonne nicht aufgegangen ; 3. da erhebt sie sich und schaut hoch vom
Himmel auf die Erde herab.
10. Drei Mütter sind, drei Väter auch; sie trägt
Aufrecht der Eine, nimmer wird er müde.
Dort, auf des Himmels Rücken, wird verkündet
Die Rede, alles wissend, doch' nicht jedem kund.
Vers 11 — 12. Der Eine als Vater im Sternhimmel
und Opferfeuer gegenwärtig. Der Fixsternhimmel ist
ein Rad, welches sich um Erde und Luftraum als die feste
Achse unermüdlich dreht. Diese Umdrehung, wenn auch
allnächtlich erfolgend, vollendet sich doch erst im Laufe des
Jahres. Daher der Dichter, die tägliche und jährliche Drehung
nicht unterscheidend, die zwölf Monate (die zwölf Bildner des
Jahres) als Speichen des Rades bezeichnet, auf welchem die
720 Tage und Nächte des Jahres, zu Zwillingspaaren ver-
bunden, befestigt sind. Der Vater, das feurige Lebensprincip
des Weltganzen, ist einerseits verkörpert (purishin) in diesem
Das Einheitslied des Dirghatamas, Rigv. 1,164. Hl
Fixsternrade, anderseits aber auch der Welt hienieden als das
Opferfeuer eingefügt.
11. Mit zwölf der Speichen1 — denn sie altern nimmer2 —
Dreht um den Himmel sich das Rad der Ordnung3;
Auf ihm , o Agni ! stehn als Zwillingspaare
Der Zahl nach siebenhundertzwanzig Söhne 4.
1. Die zwölf Monate. 2. Sie kehren alljährlich unverändert wieder.
3. cakrarii ritasya, der regelmäfsige Kreislauf des Jahres. 4. Die 720 Tage
und Nächte des Jahres.
12. Der Vater, fünffüfsig1, zwölffacher Bildung2,
Sei leibhaft, heifst es, in des Himmels Jenseits;
Doch sei er auch weitleuchtend 3 eingefügt
Dem Untern mit sechs Speichen 4, sieben Rädern 5.
1. Vielleicht die fünf Planeten, über deren Vorkommen im Rigveda vgl.
Zimmer AJL S. 353 — 355. 2. dvädaqa-äkriti; vgl. Rigv. 10,85,5: samänäm
musa äkritih, „der Monat (nicht gen.) ist die Bildung der Jahre, das die
Jahre Bildende". 3. Als Opferfeuer. 4. Sechs Jahreszeiten. 5. Den sieben
Teilen des Opfercyklus, wie v. 3.
Vers 13 — 16. Der Eine als Weltachse. Die Vorstel-
lungen von dem Rade des Fixsternhimmels und von den durch
seine Jahresdrehung herbeigeführten zwölf Monaten nebst dem
Schaltmonat als dreizehnten werden hier weiter ausgemalt.
13. Das Rad, fünfspeichenhaft 1, rollt um im Kreise;
In ihm gewurzelt sind die Wesen alle ;
Schwer ist die Last, doch wird nicht heifs die Achse,
Bricht nicht in Ewigkeit, noch auch die Nabe.
1. Oben waren es zwölf Speichen (v. 11), hier fünf, vielleicht wieder
die fünf Planeten. Der Dichter folgt den augenblicklichen Eingebungen
seiner Phantasie.
14. Das Rad nebst Radkranz wälzt sich um, nicht altert es,
An langer Deichsel ziehn zehn Angeschirrte1;
Umhüllt vom Luftkreis rollt sein Sonnenauge;
Auf ihm befestigt sind die Wesen alle.
I. Die zehn Pole (digah).
15. Paarweis erzeugt, — allein erzeugt der siebente, —
Sechs Zwillingspaare, Weise, Gottentsprossene,
Verleihen das Erwünschte sie je nach der Art,
Unstäten Standorts , an Gestalten wandelbar.
112 Die Zeit der Hymnen des Bigveda.
16. Man nennt sie Männer1, aber Weiber sind sie2,
Das sieht, wer Augen hat, nur Blinde nicht, —
Ein Weiser, wenn auch jung, wird es bemerken,
Wer dies begreift, ist seines Vaters Vater3.
1. mus Monat ist Masculinum. 2. Denn sie gebären ja ihre Gaben.
3. Den Wechsel der Jahreszeiten und die Dauer in diesem Wechsel begreift
nur, wer in das Wesen der Gottheit eingedrungen und dadurch zu ihr,
zum Vater aller Dinge, zum Vater seines eigenen Vaters geworden i>r.
Dieselbe Wendung Atharvav. 2,1,2 = Väj. Samh. 32,9 = (entstellt) Taitt.
Ar. 10,1,4.
Vers 17 — 19. Der Eine als der göttliche Geist (devani
manas), welcher der Vater des Sonnenkalbes ist (v. 18). Seine
Mutter ist hier, im Wechsel der Anschauung, nicht die Erde
wie v. 8 — 9, sondern die Morgenröte (v. 17), vor der die
Sterne fliehen, um sodann wiederzukehren (v. 19).
17. Abwärts vom Jenseits, aufwärts doch vom Diesseits
Die Kuh emporklimmt1, mit dem Kalbe schwanger. —
Wohin gewandt, nach welcher Gegend zog sie?
Wo nur gebiert sie? doch nicht in der Herde2!
1. padd udasthut. 2. Die Herde der Sterne ist bereits verscheucht, wenn
die Morgenröte, selbst verschwindend, aus sich in unbegreiflicher Weife
die Sonne gebiert.
18. Abwärts vom Jenseits wer des Kalbes Vater
Begriffen hat und aufwärts doch vom Diesseits,
Wer ist so weise, der ihn hier verkünde,
Den Gottesgeist, woher er ist entsprungen?
19. Die herwärts sind, die sind auch wieder hinwärts,
Die hinwärts sind, die sind auch wieder herwärts1;
Die Indra, und du Soma! ihr gemacht habt,
Wie angeschirrt ziehn an des Luftraums Deichsel2.
1. Die sich drehenden Sterne. 2. Die Pole wie v. 14, oder auch die Sterne
selbst, welche das Fixsternrad ziehen.
Vers 20— 22. Der Eine als Weltvater. (Eine wichtige
Stelle, namentlich durch die Umdeutung derselben im Vedanta.
Die ursprüngliche Bedeutung ist wohl folgende:) Tag und
Nacht, zuerst im Dual, wie sie den Weltbaum umschlungen
halten, dann im Plural die aufeinanderfolgende (auf dem Welt-
baum nistende und sich fortpflanzende) Reihe der Tage und
Das Eiuheitslied des Dirghatamas, Rigv. 1,164. 113
Nachte; die Nacht schaut still herab, während der Tag an
der Frucht des Weltlebens zehrt, welche als höchstes Resultat
des Weltbaumes an dessen Gipfel hängt (vielleicht änanda,
die Wonne). Nur wer den Weltvater kennt, überschaut das
Weltganze und geniefst seine Frucht (v. 22). Beim Opfer der
Festversammlung, an dem mit den übrigen Göttern auch Tag
und Nacht froh teilnehmen (ahorätrcbhyah svähä! Väj. Samh.
22,28) und ihre Unsterblichkeit nähren (denn die Götter nähren
sich von Opfer und Gebet, brahmanä vävridhänäh, wie es so
oft heifst), ist der Weise, der Weltgeist, in den mit religiöser
Andacht (brahman) erfüllten Dichter eingegangen (v. 21).
20. Zwei schönbeflügelte verbundene Freunde
Umarmen einen und denselben Baum;
Einer von ihnen speist die süfse Beere,
Der andre schaut, nicht essend, nur herab.
21. Wo, teilzuhaben am Unsterblichen,
Die Vögel schlummerlos dem Fest zujauchzen ,
Da ist der Fürst des Alls, der Welten Hüter,
Der Weise in mich Thoren eingegangen.
22. Der Baum, auf dem, an seiner Süfse zehrend,
Die Vögel alle Nester bau'n und brüten,
An dessen Wipfel hängt die süfse Beere, —
Niemand erreicht sie, der den Vater nicht weifs.
D. Zioeite Hälfte, v. 23- 46.
Vers 23 — 25. Die irdischen Versmafse, Gäyatri, Tri-
shtubh, Jagati (aus denen Preislied, Singlied und Spruchlied
bestehen, und durch welche die Melodie gegliedert wird, v. 24)
beruhen auf himmlischen Urmafsen, welche das Universum
regeln, wie jene die Rede. Sie beherrschen den Himmels-
strom (vielleicht die Milchstrafse) und haben die Sonne herauf-
geführt; ihre höchste Wirkung aber bleibt die Begründung
des Opfers (v. 25), zunächst des himmlischen (v. 43. 50).
23. Die Gäyatri beruht auf einer Gäyatri,
Die Trishtubh zimmerten aus einer Trishtubh sie;
Das Mafs der Jagati ruht auf der Jagati;
Wer das versteht, der hat erlangt Unsterblichkeit.
Deussen, Geschichte der Philosophie. I. 8
114 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
2-1. Durch Gäyatri mifst man das Preislied ab ;
Singlied durch Preislied, Spruchlied durch die Trishtubli:
Zweifüfsig Spruchlied mifst vierfüfsig Spruchlied J :
Durch Silhentakt mifst man die sieben Töne.
1. catushpadam (mit Ludwig).
25. Den Strom am Himmel stützte er durch Jagati:
Die Sonne spähte im Kathantaram er aus;
Die drei Brennhölzer schreibt der Gäyatri man zu.
Daher durch Macht sie überragt und Grröfse.
Vers 26 — 29. Der himmlische Pravargya. Der Pra-
vargya ist „eine Einleitungsceremonie zum Soma- Opfer, bei
welcher frischgemolkene Milch in einen glühend gemachten
Topf gegossen wird" (Petersb. Wb.). Diese Verhältnisse
werden, ähnlich wie vorher die Metra, auf das kosmische Ge-
biet übertragen. Der glühende Topf ist, wie es scheint, die
in der Sommerhitze verschmachtende Erde, die Kuli die Wolke,
die Milch der Regen, das Kalb die Welt der Lebendigen.
26. Ich rufe an die spendereiche Milchkuh,
Mit sanfter Hand soll sie der Melker1 melken;
Uns keltere Savitar die beste Kelt'rung;
Es glüht der Topf2, das möchte schön ich preisen.
1. Die Sonne oder der Wind (Säyana). 2. Die Erde.
27. „Hin" schnaubt die Kuh, die Herrin aller Schätze,
Verlangend kam sie her nach ihrem Kalbe 1 ;
Milch geben soll die glänzende den Acvin's,
Gedeihen möge sie zu grofsem Wohlsein.
1. Nach der Lebewelt.
28. Mattschlummernd ist ihr Kalb x, nach dem die Kuh brüllt '-,
Sie brüllt ihr „Hin", sein Haupt frisch aufzurichten;
Dem heifsen Mund schnaubt brüllend sie entgegen,
Laut tönt ihr Schall, mit Labung es zu tränken.
1. Die lechzende Natur. 2. Der Donner.
29. Auch er1 erklingt, der in sich auf die Kuh2 nimmt,
Laut brüllt sie, auf den sprühenden1 sich senkend;
Bei ihrem Knistern fühlt sich klein der Sterbliche, —
Zum Blitz geworden wirft sie ihren Schleier ab.
1. Der Topf, die Erde. 2. Die Milch, den Eegen.
Das Einheitslied des Dirghatamas , Rigv. 1,164. 115
Vers 30. An das Blitzfeuer schliefst sich wieder eine Be-
trachtung seines Bruders, des irdischen Agni.
30. Es liegt und atmet, schreitet schnell, lehendig,
Regsam beständig mitten in der Wohnung;
Es lebt und regt sich nach des Menschen1 Willen,
Unsterblich, doch dem Sterblichen verbunden.
1. mrita mortuus, liier mortalis, wie amrita immortalis ; vgl. auch Rigv.
1,113,8: usliä mritam kancana bodhayantu
Vers 31 — 33. Vom Blitz und Feuer wendet sich der Dichter
wieder der Sonne zu. (v. 31= Rigv. 10,177,3.)
31. Den Hüter sah ich, nimmer untergehend,
Herwärts und wegwärts wandelnd seine Bahnen;
Gehüllt in Strahlen, die zusammenschiefsen
Und auseinander, wirkt er in den Wesen.
32. Wer ihn gemacht, weifs nicht, wo er geblieben:
Wer ihn noch schaute, fort ist jetzt von dem er,
Im Schofs der Mutter eingehüllt entschwand er;
Viel zeugend ist er dem Vergang verfallen.
(Die Sonne spricht:)
33. „Der Himmel ist mir Vater, Zeuger, Nabel,
Die grofse Erde Mutter und Gefährtin,
Mein Schofs der weiten Weltenschalen Inn'res,
Dort senkt den Keim der Tochter ein der Vater."
Vers 34—35. Kühn geworden durch die glückliche Lösung
der Frage nach dem Ursprünge der Sonne, erhebt sich der
Dichter mit Nachdruck zu schwereren Problemen und findet
ihre Lösung in einer Identifikation der Kultusordnung mit der
ewigen Weltordnung, wobei:
■paro antah prithivyäh = veclih
bhuvanasya näblffli = yajnah
vrishno agvasya reta(i== somah -
väcah paramam vyoma =. bralimä (in.)
erscheint, vrishd agva/j ist nach einer von Säyana citierten
Stelle des Taittiriyakam Adityah.
11(3 Die Zeit der Hymnen des Kigveda.
34. Ich frag' dich nach der Erde letztem Ende,
Ich frage, wo der Nabel ist des "Weltalls,
Ich frag' dich nach dem Samenstrom des Hengstes,
Ich frage nach der Rede höchstem Räume !
35. Die Vedi (das Opferbett) ist der Erde letztes Ende,
Das Opfer auf ihr ist des "Weltalls Nabel,
Der Sonia hier der Samenstrom des Hengstes,
Der Beter hier der höchste Raum der Rede.
Vers 36. Die Identifikation des Weltalls mit dem Opfer-
raum (v. 34 — 35) führt auf die sieben Hotar's, denen sieben
himmlische Hotar's entsprechen (v. 3). Diese sind „halb-
entsprossene" (ardhagarbha), vielleicht sofern die andere Hälfte
der entsprechende irdische Hotar ist. Wie dieser den Soma
in sich aufnimmt, der nach v. 35 der Samenstrom der Sonne
ist, so sind die himmlischen Hotar's bhuvanasya retah , der
Samen der Welt, welche auf Vishnu's (der Sonne) Befehl die
ganze Welt umgeben, wie die irdischen Hotar's den der Welt
entsprechenden Opferraum.
36. Sieben Halbentsprossene, des Weltalls Samen,
Stehn auf Befehl des Vishnu am Weltumfange;
Und sie, die Weisen durch Verstand und Einsicht,
Umfassen rings das Weltall, es umgebend.
Vers 37 — 39. Der himmlische Hotar als Hüter der
himmlischen "Rede und der von ihm inspirierte irdische Hotar
(der Dichter).
37. Ich weifs es selbst nicht, was ich so wohl bin,
Doch wandl' ich hin in mir bereit im Geiste:
Wenn mich erfafst der Wahrheit Erstgeborner \
Dann wird ein Anteil mir an jener Rede2.
1. Der himmlische Hotnr. 2. An der himmlischen Vdc.
38. Er geht, er kommt, wird frei von mir ergriffen,
Unsterblich er dem Sterblichen verbunden;
Und beide ewig streben in die Weite;
Den einen sieht man, nicht sieht man den andern.
39. Des Hymnus Laut im höchsten Himmelsraume ,
Auf dem gestützt die Götter alle thronen,
Das Einheitslied des Dirghatamas, Rigv. 1,1G4. 117
Wenn man den nicht kennt, wozu hilft der Hymnus dann'? —
Wir, die ihn kennen, haben uns versammelt hier.
Vers 40 — 42. Wie den irdischen Hotar's die himmlischen,
so entspricht der irdischen Väc (der heiligen Rede des
Veda) die himmlische Väc, welche im Folgenden als himm-
lische Kuh erscheint, deren metrisch gegliedertes Gebrüll der
Donner ist, und deren Milch als Regen alles Gedeihen befördert.
40. Auf guter Weide grasend sei glückselig !
Glückselig möchten dann auch wir allhier sein.
Dein Gras, o Unverletzliche, ifs ewig
Und trinke reines Wasser herwärts wandelnd.
41. Es brüllt die Kuh und schafft des Wassers Fülle,
Einfüfsig und zweifüfsig und vierfüfsig;
Achtfüfsig dann geworden und neunfüfsig
Und tausendsilbig in dem höchsten» Räume.
42. Aus ihr herab ergiefsen sich die Meere,
Den vier Weltgegenden das Leben gebend;
Von dort strömt Unversiegliches ,
Davon das ganze Weltall lebt.
Vers 43 — 44. Der himmlischen Rede entspricht ein himm-
lisches Opfer als Vorbild des irdischen (v. 43). Unter
den Helden, die es darbringen, d. h. den Göttern, treten drei
namentlich hervor, Agni, Sürya, Vayu (v. 44).
43. Des Düngers Rauch von fern aufsteigen sah ich,
Jenseits von diesem niedern in der Mitte x ;
Die Helden brieten einen bunten Stier sich,
Und dieses war der Opferwerke erstes.
1. Von dem irdischen Opferfeuer.
44. Drei, schönbehaart, erscheinen nach der Ordnung,
Der eine schert im Jahreslauf [das Laub] ab;
Herab schaut auf die Welt mit Macht der zweite ;
Unsichtbar, doch vernehmbar, braust der dritte1.
1. dhrajir ekasya dadrife, na rupam; vgl. von Väyu Rigv. 10,168,4: ghosha
id asya prinvire na rupam,
Vers 45 — 46. Was später vom Purusha (Rigv. 10,90,3), das
wird hier von der heiligen Rede gesagt; drei Viertel von ihr
118 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
bleiben verborgen im Himmel; ein Viertel von ihr ist die
Rede des Veda (v. 45). Dieser vierte Teil oftenbart nicht
die volle Wahrheit, denn er beschreibt als eine Vielheit, was
nur Eines ist (v. 46).
45. In vier der Viertel ist geteilt die Rede :
Sie kennen nur die Priester, welche wissend sind;
Drei bleiben im Verborgnen unbewegt,
Der vierte Teil ist, was die Menseben reden.
46. Man nennt es Indra, Varnna und Mitra,
Agni, den schönbeschwingten Himmelsvogel;
Vielfach benennen, was nur eins, die Dichter;*
Man nennt es Agni, Yama, Mätaricvan.
Mit diesem grofsen Gedanken würde das Lied am besten
schliefsen (wie auch im Atharvaveda der Fall ist); das Fol-
gende enthält weitere Ausmalungen, vielleicht spätere Zusätze.
C. Nachtrag, v.47—52.
Vers 47. Der Nachtpfad der Sonne (zu v. 31—32).
47. Beschwingte Rosse ziehn auf dunklem Wege
Im Wasserkleide neu empor zum Himmel;
Sie kehren wieder her vom Thron der Ordnung ,
Da strömt von Nahrungssaft die Erde über.
* Ein Nachklang dieser Stimmung ist das Välakhilya-Lied, Rigv.
8,58,1—2:
1. Den selbst die Priester als vielfältig anselm,
(Die weise doch, sind!) wenn sie Opfer bringen,
(Der angestellte, schriftkund'ge Brahmane!)
Wie soll den kennen, wer nur zahlt ihr Opfern?
2. Eins ist das Feuer, das so vielfach aufflammt,
Eins ist die Sonne, strahlend auf das Weltall,
Die eine Morgenröte überglänzt das Ganze, —
Eins ist auch dieses und zum All geworden.
Die letzte Zeile: ekam vä idam vi babMiva sarvam entspricht fast wört-
lich dem griechischen Losungsworte des Pantheismus: ev tq ov ■/.%'. rcav
Hsvocpavrp wÖTÖeffSai q>i\ov> o 0£O9paatoc (Simplic. Phys. 6 r 22).
Das Einlieitsliecl des Dirghatamas, Rigv. 1,164. 119
Vers 48. Das Rad der Zeit (der Kreislauf des Jahres;
zu v. 2. 11).
48. Zwölf Felgen l sind an einem Ead befestigt ;
Drei Naben auch2; wer weifs das zu verstehen?
Auf ihm zumal, wie Zapfen, sind dreihundert
Und sechzig3 wohlbefestigt, ewig regsam.
1. 12 Monate. 2. Sommer, Regenzeit, Winter (oder, wie oben v. 2, Erde,
Luftraum , Himmel). 3. 360 Tage.
Vers 49- Anruf an Sarasvati, die Göttin der Rede
(zu v. 40-42).
49. Oh, deine Brust, die labend, nie versiegend,
Durch die du alles Herrliche erblühn machst ,
Die schätzereich, freigebig, Gut verleihend,
Die reich' uns dar, Sarasvati, zum Trinken!
Vers 50. Die Götter als Stifter des Opferkultus (zu
v. 43 — 44). Auch 10,90,16 erscheint dieser Vers als Nachtrag.
50. Die Götter, opfernd, huldigten dem Opfer,
Und dieses war der Opferwerke erstes ;
Sie drangen mächt' gen Wesens auf zum Himmel ,
Da, wo die alten, sel'gen Götter weilen.
Vers 51. Götter und Menschen fördern sich gegen-
seitig.
51. Es ist das gleiche Wasser hier,
Das auf- und absteigt nach der Zeit;
Die Erde fördern Regnende,
Den Himmel fördern Opferfeuer.
Vers 52. Schlufsgebet an die Sonne.
52. Den wohlbeschwingten, grofsen Himmelsvogel,
Der Wasser schönen Ursprung und der Pflanzen ,
Rechtzeitig durch den Regen uns erquickend,
Den flutenreichen ruf ich her zur Hülfe.
4. Der Schöpfnngshyinnns, Rigv. 10,129.
Dieser berühmte, nach den Eingangsworten das Näsadäsiya-
Lied genannte Hymnus ist in seiner edlen Einfachheit, in der
*
120 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
Hoheit und Reinheit seiner philosophischen Anschauungen
vielleicht das bewunderungswürdigste Stück Philosophie, wel-
ches aus alter Zeit uns überkommen ist.
Schon der äufsere Bau des Hymnus ist ein höchst kunst-
voller, indem in den sieben Versen des Liedes, gleichwie in
sieben Akten eines Dramas, die Stimmung von Vers zu Vers
bis zum Höhepunkte in v. 4 stetig ansteigt, um sodann nach
dem Ende zu bis zu dem wunderbaren Schlüsse in v. 7 ffleich-
mäfsig wieder zu fallen. Das Ansteigen der vier ersten Verse
besteht darin, dafs der Dichter in philosophischer Inbrunst
von Vers zu Vers immer tiefer eindringt in das Geheimnis
des Daseins, wobei in jedem Verse die erste und zweite Hälfte
wie Chor und Gegenchor einander gegenüberstehen, der Chor
um zu sagen, was nicht war, der Gegen chor, um ihm das
Positive, was trotzdem war, entgegenzuhalten, bis im vierton
Verse die letzte Hülle fällt und mit dem Worte Käma, die
Liebe, die tiefste Erkenntnis von der Natur der Dinge zum
Ausdrucke kommt, zu der der Dichter sich durchgerungen
hat. Von diesem Höhepunkt bis zum Schlüsse v. 7 senkt
sich die Rede höchst kunstvoll, indem den Dichter stufen-
weise zunehmender, kalter Zweifel ergreift, ob er nicht doch
zu viel gesagt, ob er nicht in der Glut seines Dranges nach
Wahrheit die Grenzen des Erkennbaren überschritten habe.
Dieser künstlerischen Form entspricht würdig die philo-
sophische Tiefe des Inhalts. Zunächst ist unzweifelhaft, dafs
sich unser Dichter von aller Mythologie völlig frei gemacht
hat; die Götter werden v. 6 kurzweg beiseite geschoben:
sie sind erst später (arväk) im Laufe der Weltentwicklung
entstanden, können also nichts über den Weltanfang aussagen;
und der es aussagen könnte, wer weifs, ob der überhaupt ein
erkennendes, mit Bewufstsein ausgestattetes Wesen, oder nicht
vielmehr seiner Natur nach ein Unbewufstes ist (v. 7). Und
wie hier, so zeigt sich überall der Dichter von hoher philo-
sophischer Besonnenheit erfüllt, indem er auf Schritt und
Tritt seine Aussagen limitiert, in der Befürchtung, schon zu
viel gesagt zu haben. So, wenn er v. 1 den Urzustand be-
zeichnet als einen solchen, der nicht ein Nichtseiendes (asad),
aber auch nicht ein im empirischen Sinne Seiendes (sad)
Der Schöpfungshymnus, Rigv. 10,129. 121
gewesen sei; — oder wenn er v. 2 das Urwesen nicht anders
zu benennen wagt als tacl „dieses" und ekam „das Eine", und,
um das eigentümliche Schlummerleben desselben zu kenn-
zeichnen, von ihm sagt „es atmete", aber sogleich hinzufügt,
dafs dieses Atmen kein gewöhnliches, sondern ein „hauchloses"
gewesen sei; — oder endlich, wenn er v. 7 es zweifelhaft
läfst, ob diese Welt überhaupt geschaffen sei oder auf eine
andere, uns unfafsbare Art sich aus dem Urwesen entwickelt
habe, und ob dieses Urwesen ein bewufstes oder nicht viel-
leicht (wie später die Prakriti der Sänkhya's) ein unbewufstes
Princip gewesen sei. Wenn endlich unser Dichter da, wo er
sich am weitesten wagt, v. 4, als erstes aus dem Urwesen
Geborenes käma „die Liebe" (epwc) bezeichnet, so stimmt er
darin nicht nur mit Hesiodos (Theog. v. 120) und Parmenides
(Arist. met. 1,4, p. 984 b 25) sondern am Ende wohl auch mit
der Wahrheit der Sache überein; denn jenes geheimnisvolle
metaphysische Wesen, welches in allen Kräften der Natur
wirkt, in der Pflanze als Triebleben, in Tier und Mensch als
Wille regiert, jene ursprünglich unbewufste und instinktartig
treibende und schaffende Urkraft der Natur tritt in keiner
ihrer Erscheinungen so deutlich hervor, wie in dem, was wir
in uns als den Geschlechtstrieb (käma, s'p'wc) unmittelbar
empfinden.
Bei der Wichtigkeit dieses Hymnus wollen wir der me-
trischen Übersetzung desselben, welche notwendig etwas frei
sein mufs, eine wörtliche Prosaübersetzuno; mit begleitenden
Erklärungen vorausschicken, welche über unsere Auffassungen
alles einzelnen keinen Zweifel lassen wird. Wiederholt findet
sich v. 4 Taitt. Ar. 1,23,1; v. 5 Väj. Samh. 33,74; und das ganze
Lied Taitt. Br. 2,8,9,3-6.
1. Nicht das Nichtseiende noch auch das Seiende
war damals; nicht war der Luftraum noch auch der Him-
melsraum, welcher jenseits (desselben ist); — was hüllte
(dieses alles so) mächtig ein? Wo (war es), in wessen Obhut?
Was war das Wasser (des Oceans), der Abgrund, der tiefe?
Der Dichter versetzt sich in die Zeit vor der Weltsehöpfüng.
Damals war nicht das Nichtseiende, denn dies ist niemals
122 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
gewesen, noch auch das im empirischen Sinne Seiende (das
ndmarüpam der jetzigen Welt, wie der Komm, richtig erklärt),
nicht der Luftraum noch der darüber hinausliegende Himmels-
raum. Aber sofort wirft sich der Dichter ein: wo war denn
dies alles, der Luftraum, der Himmelsraum und das uner-
gründlich tiefe Meer? Irgendwo mufs es doch gewesen sein!
Wer hielt es in sieh verborgen, hüllte es mächtig (intens.)
ein? ävarivar von war, nicht von vart, da die Frage nach dem
ersten Beweger ebenso verfrüht, wie die nach dem Verhüller
passend und durch das Vorhergehende gefordert ist.
2. Nicht Tod war dazumal, nicht Unsterblichkeit,
nicht war der Nacht, des Tages Lichtglanz. — Es atmete
hauchlos durch Selbstsetzung jenes (tad) Eine (eJcam);
denn ein Anderes aufser ihm, welcher Art es auch sei,
war nicht vorhanden.
Wieder sagt die Strophe, was nicht war: Tod und Un-
sterblichkeit (d. h. die Menschenwelt und Götterwelt, wie
ßigv. 10,121,2), Nacht und Tag, diese Urgegensätze des Da-
seins waren noch nicht. Und wieder hebt die Gegenstrophe
hervor, was doch schon war, aber ohne es anders zu be-
nennen als durch das pronomen clemonstrativum: das Tad
(späterer Name des Brahman), das Eine; dieses war svadhayä
durch Selbstsetzung, durch sich selbst (vgl. svayambhü , xaT'
ai>To, causa sui, Ding an sich); es atmete (lebte), aber dies
war kein Atmen in unserm Sinne, es atmete hauchlos.
3. Finsternis war; von Finsternis umhüllt zu Anfang
ein lichtloses Grewoge war (äs — äsid, wenn nicht besser ä
zur Verstärkung von sarvam) dieses Ganze (die ganze Welt); —
das Lebenskräftige (äNiu), welches von der Hülse einge-
schlossen war, jenes (tad) Eine (ekam) wurde durch die
Macht des Tapas geboren.
Mit wenigen majestätischen Pinselstrichen zeichnet die
Strophe den chaotischen Urzustand: Finsternis um und um,
ein Ocean ohne Licht war diese ganze Welt! — Wieder führt
die Antistrophe das Positive der Sache weiter. Unsere Auf-
fassung weicht von der gewöhnlichen ab; aber wir zweifeln
nicht, dafs man uns zustimmen wird. Es ist die später so
Der Schöpfungshymuus, Eigv. 10,129. 123
übliche Vorstellung von dem Weltei, welche hier wohl zum
erstenmal und noch unentwickelt auftritt; tucchya (Taitt.
Br. 2,8,9,4 titccha, beides verwandt und hier wohl gleichbe-
deutend mit tusha) ist die Hülse oder Schale, in der das 7W,
Ekam aus v. 2 »verborgen steckt als lebenskräftiger Keim,
d-bliu (ß = samantäd) bhavati — udpadyate , wie schon richtig
der Komm, hat), und durch die Macht des Tapas ausgebrütet
wird. Tapas (1. Hitze, 2. Anstrengung, 3. Askese, 4. Zurück-
ziehung von den Aufsendingen und Vertiefung in das eigene
Selbst) kann hier noch in der ursprünglichen Bedeutung ge-
fafst werden, doch so, dafs die abgeleiteten Bedeutungen mit
hineinspielen und somit durch unsere Stelle das später so oft
vorkommende tapas taptvä des Weltschöpfers vorbereitet wird.
4. Da entwickelte sich (adhi-samavartqta) aus ihm (fad,
der Accus, abhängig von adlii , entwickelte sich über dasselbe
hinaus) zu Anfang Käma (s'ptoc, die Liebe), welcher des Manas
erster Same war. — Die Wurzelung (ban dhu , w örtlich die
Einbindung, das potentiell -Vorhandensein; vgl. badclhamüla) des
Seienden in dem Nichts eienden fanden die Weisen, indem
sie mit Einsicht forschten, im Herzen!
Dies ist der Höhepunkt des Hymnus. Man beachte die
Steigerung, welche darin liegt, dafs das Urwesen v. 1 als
das Verhüllende, v. 2 als atmend, lebend, v. 3 als lebens-
kräftiger, auszubrütender Keim erscheint, bis es v. 4 als
Erstgeborenes den Käma (den l'pwc, die trishnä, die Im^rujjiia,
den Willen zum Leben) hervorbringt, manaso retah prathamani
yad äsit. Diese Worte sind zweideutig, und es fragt sich, ob
das Manas den Käma, oder der Käma das Manas erzeugt.
Ersteres ist die Auffassung der ältesten Auslegung; denn als
solche ist schon zu betrachten die Stelle Taitt. Ar. 1,23,1, wo
erzählt wird, dafs „in Prajäpati's Gemüte (manas) sich ein
Verlangen (Käma) entwickelte", wozu als Beleg unser Vers
angeführt wird: „dies Verlangen, welches der erste Samen-
ergufs (das erste Erzeugnis) des Gemütes war". Hierfür spricht
auch der Wortlaut, namentlich das Wort rctas, für welches
man sonst vijam erwarten würde. Doch ist es nicht ganz ohne
Bedenken, dafs in dem Urwesen, in dessen Schilderung der
124 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
Dichter bisher so behutsam war, hier plötzlich ein intellek-
tuelles Vermögen, Manas, vorausgesetzt wird, um v. 7 wieder
bezweifelt zn werden. Auch ist Koma hier nicht ein einzelnes
Verlangen, wie Takt. Ar. 1,23,1, welches ein Gemüt voraus-
setzt, sondern das Princip des Verlangens, welches vom Ge-
müt vorausgesetzt wird. Es ist daher möglicherweise manaso
retali doch nicht gen. subjectivus sondern gen. objectivus, und
zu übersetzen: „Käma, welcher (yat) der erste Same (retoh =
vijam), der erste Ursprung des Gemütes war"; also der unbe-
wufste Wille (Käma) als Grund des bewufsten Willens
(manas), ähnlich wie in der Sänkhya-Lehre, die vielleicht in
dieser Auffassung fufst, die unbewufste Prcdjiti der Grund
des (Mahad, Buddlii und gelegentlich auch Manas genannten)
Weltintellektes ist. Hierzu stimmt auch der Schlufs des
Verses, welcher (mag man hridi mit pratishya oder mit nira-
vindan verbinden) eine Bestätigung der grofsen Willenslehre
Schopenhauers (1818) ist, ganz ebenso wie das Göthe'sche
Wort (zuerst 1827):
„Ihr folget falscher Spur,
„Denkt nicht, wir scherzen!
„ Ist nicht der Kern der Natur
„Menschen im Herzen?" —
5. Der fünfte Vers ist bei der grofsen Kürze des Aus-
drucks dunkel und wird verschieden erklärt. Der Komm, zu
Väj. Samh. 33,74 liefert sogar drei Erklärungen, eine rituelle,
eine mythologische und eine psychologische, welche jedoch alle
drei unbrauchbar sind. Besseres bietet der Komm, zu Taitt.
Br. 2,8,9,5, welcher eshäm auf die Dinge bezieht und den
racmi als den geistigen, die Welt durchleuchtenden Licht-
strahl des Brahman auffafst. Ohne die Möglichkeit dieser
Erklärung zu bestreiten, ziehen wir es doch vor, eshäm auf
die unmittelbar vorhergehenden kavayah zu beziehen und in
dem Verse, in Fortsetzung von v. 4, eine Verherrlichung des
in die Tiefen dringenden, forschenden Menschengeistes zu
finden, wie solche im Veda öfter vorkommen; vgl. namentlich
d:is schöne Lied Atharvav. 4,1. So bildet der Vers auch einen
passenden Übergang zu dem folgenden, welcher in edler
Der Schöpfimgshymnus, Rigv. 10,129. 125
Selbstbescheidung die Zulänglichkeit des Menschengeistes zur
Lösung des Weltproblems bezweifelt. Sonach wäre der mut-
mafsliche Sinn von v. 5 folgender:
Quer hindurch ist ihre (der Weisen) Mefsschnur aus-
gespannt: was war darunter, was war darüber? (wörtlich:
war es darunter, oder war es darüber?). Da waren Samen-
träger, war en Machtentfaltungen, (nämlich) Selbstsetzung
(v. 2) unterhalb, Anspannung oberhalb.
Die Forscher spannen ihre Mefsschnur aus und ziehen sie
quer, in wagerechter Richtung durch das ganze Gebiet des
Seienden hindurch, welches dadurch in zwei Hälften, eine
untere und eine obere (vergleichbar den unterirdischen und
oberirdischen Teilen einer wachsenden Pflanze), geschieden
wird; es ist die Unterscheidung zwischen dem Ding an
sich und seiner Erscheinung, welche unter den Namen
Avyaktam und Vyaktam (Unoffenbares und Offenbares) dem
spätem Inder sehr geläufig ist. Auf welche Seite fällt bei
diesem Querschnitt durch die Natur der Dinge das Urwesen?
„war es unterhalb, oder war es oberhalb?" Es war auf beiden
Seiten, antwortet der Dichter, unterhalb als Samenträger
(natura ?iaturans), oberhalb als Machtentfaltungen (natura
naturata); — unterhalb als Selbstsetzung (Ding an sich),
oberhalb als Anspannung (Erscheinungswelt).
6. Aber wie ist die offenbare Welt aus der unoffenbaren
abzuleiten ?
Aber doch (addhä)l wer weifs es, wer hier (unter euch
Versammelten, vgl. 1,164,6, oben S. 109) möchte es verkündigen,
woher sie ursprünglich (ä) geworden, woher (sie stammt),
diese Umschaffung? Die Götter (können es nicht wissen,
denn sie) sind diesseits (arväg) von der Schöpfung (visarja-
nena) dieser Welt (asyd); also (wenn nicht einmal sie es wissen)
wer weifs es, woher sie ursprünglich (ä) geworden ist?
Arväk mit instr. statt des gewöhnlichen abl. wie (an-
scheinend) auch Atharvav. 5,11,6. Will man dies nicht, so mufs
übersetzt werden: diesseits (später, und erst) durch die
Schöpfung dieser Welt (geworden); asya auf den adhyaksha
v. 7 zu beziehen, scheint mir unthunlich.
126 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
7. (Derjenige), von welchem her ursprünglich diese
Schöpfung (welche keine srishti, sondern nur msrishti üm-
schöpfung ist; Er ist auch upädänam, causa materialis) geworden
ist, mag Er sie nun geschaffen oder nicht geschaffen
(sondern auf eine andere Weise hervorgebracht) haben (lies: yadi
vä dadhe yadi vä na dadhe), Er, der als der Aufseher dieser
Welt (das Auge über ihr hat) im höchsten Himmels räume,
der fürwahr! weifs es, — oder weif s auch Er es nicht?
Für einen Augenblick personifiziert sich dem Dichter das
Schöpferwesen, aber sogleich fühlt er, dafs er zu weit gegangen
ist, und anticipiert die Lehre der Upanishad, nach der eine
Erkenntnis nur ist, „wo eine Zweiheit gleichsam ist", nicht
aber bei dem Einen, welches zugleich Alles ist. —
Wir versuchen zum Schlüsse eine metrische Übertragung,
bemerken aber, dafs keine Übersetzung der Schönheit des
Originals je genugthun wird.
Bigveda 10,129.
1. Damals war nicht das Nichtsein, noch das Sein,
Kein Luftraum war, kein Himmel drüber her. —
Wer hielt in Hut die Welt; wer schlofs sie ein?
Wo war der tiefe Abgrund, wo das Meer?
2. Nicht Tod war damals noch Unsterblichkeit,
Nicht war die Nacht, der Tag nicht offenbar. —
Es hauchte windlos in Ursprünglichkeit
Das Eine, aufser.dem kein andres war.
3. Von Dunkel war die ganze Welt bedeckt,
Ein Ocean ohne Licht, in Nacht verloren; —
Da ward, was in der Schale war versteckt,
Das Eine durch der Glutpein Kraft geboren.
4. Aus diesem ging hervor zuerst entstanden,
Als der Erkenntnis Samenkeim, die Liebe; —
Des Daseins Wurzelung im Nichtsein fanden
Die Weisen, forschend, in des Herzens Triebe.
5. Als quer hindurch sie ihre Mefsschnur legten,
Was war da unterhalb? und was war oben? —
Keimträger waren, Kräfte, die sich regten,
Selbstsetzung drunten, Angespanntheit drohen.
Der Schöpfuiigskymnus, Rigv. 10,129. 127
C. Doch, wem ist auszuforschen es gelungen,
Wer hat, woher die Schöpfung stammt, vernommen?
Die Götter sind diesseits von ihr entsprungen!
Wer sagt es also, wo sie hergekommen? —
7. Er, der die Schöpfung hat hervorgebracht,
i Der auf sie schaut im höchsten Himmelslicht,
Der sie gemacht hat oder nicht gemacht,
Der weifs es! — oder weifs auch er es nicht?
IV. Das Suchen nach dem „unbekannten Gotte".
Nachdem die Erkenntnis zum Durchbruche gekommen
war, dafs alle Götter und alle Welten zurückgehen auf eine
ewige, unwandelbare Einheit, so mufste das Streben der
denkenden Geister dahin gerichtet sein, diese, in den be-
sprochenen Hymnen 1,164 und 10,129 noch ganz unbestimmt
auftretende Einheit näher zu bestimmen. Dieses Be-
streben ist der Grundzug der ganzen folgenden Entwicklung
bis zu den Upanishad's hin, in denen es einen gewissen Ab-
schlufs findet; die Anfänge desselben liegen aber noch auf
dem Boden des Rigveda und finden ihren Ausdruck namentlich
in den Hymnen über
Prajäpati, 10,121.
Vigvakarman , 10,81. 82.
Brahmanaspati, 10,72 u. a.
Ptiruslia, 10,90.
Diese Hymnen setzen vielleicht nicht die Einheitslieder
1,164 und 10,129, jedenfalls aber den in ihnen auftretenden
Einheitsgedanken voraus; dafs die Welt auf einer von
allen altvedischen Göttern verschiedenen und über sie er-
habenen Einheit beruht, steht ihnen von vornherein fest:
denn sie sind bemüht, diese Einheit zu bestimmen als ein
allen Göttern überlegenes göttliches Wesen, dessen Namen,
Prajäpati (Herr der Geschöpfe), Vigvakarman (Allschöpfer),
Brahmanaspati (Gebetesherr) und Purvsha (Mann, Geist), schon
beweisen, dafs sie nicht, wie die frühern Götter, im Yolks-
bewufstsein wurzeln, sondern Gebilde der denkenden Ab-
straktion sind.
128 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
Typisch für das ihnen allen eigene Streben, für die in
abstracto erkannte Einheit einen konkreteren Ausdruck zu
gewinnen, ist vor allen der Hymnus an Prajäpati 10,121, den
wir, aus diesem Grunde und ohne im übrigen über seine
chronologische Stelle etwas auszusagen, hier an die Spitze
stellen. Nicht unwahrscheinlich ist uns indessen, dafs dieser
Hymnus geradezu an den eben besprochenen Schöpfungs-
hymnus 10,129 anknüpft, um die in ihm vorliegenden Gedanken
weiterzuführen, wie noch zu zeigen sein wird.
1. Der Prajäpati- Hymnas, 10,121.
Der Form nach ist, wie uns unzweifelhaft scheint, dieses
Lied eine Nachbildung des berühmten Sajanäsa- Hymnus an
Indra 2,12 (vgl. oben, S. 96). Hierfür spricht zunächst schon
der ganz analoge Bau. Dort wie hier werden eine Reihe
von Grofsthaten aufgezählt, worauf am Schlüsse jedes Verses
durch den gleichmäfsig wiederkehrenden Refrain auf den Gott
als ihren Urheber hingewiesen wird. Aber während in dem
altern Liede der Refrain lautet: sa, jandsa'! Inclrah, „das ist,
ihr Leute, Indra!", so ist 10,121 an seine Stelle ein unbe-
kannter, erst noch zu suchender Gott getreten, und der Re-
frain der ersten neun Verse lautet: Kasmai devaya havishd
vidhemaf — „wer ist der Gott, dafs wir ihm opfernd dienen?"
(die auf diesem Refrain beruhende Eruierung eines Gottes Ka
ist eine Erfindung der Brähmana's, schon von Qatap. Br. 1,1,1,13
an, welche keine weitere Beachtung verdient), bis endlich im
Schlufsverse Prajäpati als dieser gesuchte, grofse Unbekannte
hervortritt. Weiter aber machen viele Einzelheiten es un-
zweifelhaft, dafs hier eine bewufste Nachbildung vorliegt. Man
vero-leiche:
Im Indra-Liede 2,12:
v. 1. yo jäta' eva prathamo manasvän
devo clevän Jcratunä parya-
bhushat
v. 2. yah prithivhn vyathamandm
adrihhat
v. 9. yo vigvasya pratimänam ba-
bhüca
Im Prajäpati-Liede 10,121:
v. 1. bhutasya jätah patir ekcC äsit
v. 8. yo deveshu adhi deva' eka'
äsit
v. 1. sa dädhdra pritMvim
v. 2. yasya chayä amritam, yasya
mrityuh
Der Prajäpati-Hymnus, Pugv. 10,121.
129
v.7. yasya agvdsah pradigi, yasya
gdvo
yasya grätnä, yasya vigve ra-
thdsah
v. 2. yah p r i tili vi m vyathamdn dm
arfrinhat
i yall parvatdn prakupitdn aratn-
ndt,
yo antariksha m v i m a m e
variyo
yo dydm astabhnät, sajanä-
sa"1 Inclrah!
v. 8. yam krandasi samyati vihva-
yete
v. 9. yam yiidhyamdnd avase 7ia-
■vante
v. 7. yali süryam, ya? ushasam ja-
jäva.
v. 3. ya' ige asya dvipadag eatushpa-
dah
v. 5. yeva dyaur ugrd prithivi ca
drilhd
yena svah stabhitam, yera
näkah,
yo antarikshe rajaso vimd-
nah,
kasmai devdya havühd vidhema ?
v. 6. yam krandasi avasd tasta-
bhdne
abhyaikshetdm , manasd reja-
mdne,
yatra adln süra' udito vi-
blidti.
Da diese Nachbildung des altern Dichters durch den Jüngern
nicht aus poetischer Dürftigkeit des letztern zu erklären ist
(denn er zeigt sich im übrigen reich an eigentümlichen Worten,
Bildern und Gednnken), so ist die Vermutung vielleicht nicht
zu kühn, dafs der jüngere Dichter absichtlich in Bau und Aus-
drucksweise an den altern Dichter sich anschliefst, um damit
zu sagen: „nicht Indra, sondern mein unbekannter Gott ist der
Urheber aller dieser grofsen Werke". Ist diese Auffassung
richtig, so gewinnt das Verfahren unseres Dichters eine gewisse
Analogie mit dem des ägyptischen Königs Amenhotep IV.
(um 1500 a. C), welcher an den Monumenten soweit wie mög-
lich den Namen des bis auf ihn zuhöchst verehrten Gottes
Ammon ausmeifseln und dafür den Namen des von ihm neu
eingeführten Gottes Aten (die Sonnenscheibe) einschreiben liefs.
Wie unser Dichter der Form nach mit versteckter Polemik
das Indralied 2,12 nachbildet, so knüpft er, wie uns scheint,
der Sache nach geradezu an den Schöpfungshymnus 10,129
an, um die dort auftretenden Gedanken weiter fortzubilden.
Hierauf weist schon die zweimalige Wendung, 10,121,1 sama-
vartata agre, 10,121,7 samavartata, verglichen mit 10,129,-i agre
samavartata, hin; noch mehr aber der Inhalt. Wie wir uns
erinnern (S. 122), war 10,129,3 der chaotische Urzustand der
Welt geschildert worden als „ein lichtloses Gewoge" (apra-
Deussen, Geschichte der Philosophie. I. "
130 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
Jcetam salilam), aus dem das schon vorher vorhandene „Eine"
als ein „lebenskräftiges, von der Hülse eingeschlossenes" durch
die Macht des Tapas geboren wurde. Dies ist ganz der
Ausgangspunkt unseres Dichters, nur dal's er das „lichtlose
Gewoge", welches doch wohl nur bildlich gemeint war, in
eigentlichem Sinne auffafst und so den ersten Grund giebt zu
der später so häufigen Theorie von den Urwassern, aus
denen das ewige, schon vorher bestehende Eine, nachdem es
als Keim, oder später als Weltei, sich in dieselben versenkt,
zum empirischen Dasein als Beherrscher der Welt sich fort-
entwickelt. Dieses letztursprüngliche „Eine" erscheint unserm
Dichter als der unbekannte Gott, nach dem er in den neun
ersten Versen forscht, und den er verehren will (Jcasmai devaya
havishä vidhemaf), bis er ihn endlich im zehnten Verse mit
einem (nicht der Form, wohl aber der Sache nach) neuen
Namen ganz abstrakt als Prajäpaii (d. h. Herr der Geschöpfe)
bezeichnet. Die weitere Geschichte dieses hier 10,121,10 zum
erstenmal auftretenden obersten Gottes Prajdpati wird uns
später beschäftigen. Für unsern Dichter ist er der letzte Ur-
grund der Dinge. Er hat (wie? wird nicht gesagt) die grofsen,
glänzenden Wasser erzeugt (v. 9 yag ca apay canclrä brihd-
tir jajänd) und überschaut sie mit Majestät (v. 8 moihinä
paryapaqyaf), die Wasser, welche alle Keime (v. 7 vigvam
garhham dadliänäli) und alle Kräfte (v. 8 daksham dadhänali)
in sich enthielten, und unter ihnen keimartig auch das sie
erzeugt habende Urwesen selbst, welches aus diesen Urwassern
„zu Anfang (der Weltentwicklung) als ein goldener Keim
hervorging" (v. 1 hiranyagarbhah samavartata agre), um so-
fort, nachdem es „aus ihnen als einziger Lebenshauch der
Götter hervorgegangen" (v. 7 tato devänäm samavartata
asiir ekaJi), zum einzigen Herrn des Gewordenen (v. 1 bhüta-
sya patir, in diesem Ausdrucke sehen wir schon den prajd-pati
des v. 10 durchschimmern) zu werden. Dieser in die Ur-
wasser, die er selbst erzeugt, eingegangene und als goldener
Keim (liiranyagarhha , hier natürlich noch nicht nomen pro-
prium wie in der spätem Zeit; „golden", weil Gold das
edelste der Dinge) weiterhin aus ihnen hervorgegangene
„einzige Herr des Gewordenen" wird dann im weitern Ver-
Der Prajäpati-Hymnus, Rigv. 10,121. 131
laufe des Liedes als Schöpfer, Erhalter und Regierer
der Welt gefeiert. 1) Als Schöpfer erzeugt er die grofsen,
glänzenden Urwasser (v. 9), erzeugt er den Himmel und die
Erde (v. 9, nach späterer Vorstellung, indem er sie aus den
beiden Schalen des goldenen Welteis, d. i. des liiraiiyagarbha
unseres Gedichtes, bildete, z. B. Manu 1,8 fg.); weiter befestigt
er den Himmel und die Erde (v. 1 dadlxära prithivim dyäm
uta imdm , v. 5 yena dyaur xigrä prithivi ca drilhä), stützt das
Himmelsgewölbe (naka) und die Sonne (svar, v. 5), mifst in
dem Räume zwischen Himmel und Erde das Luftreich ab
(v. 5 yo antarikshe rajaso vimänah), indem er durch Aus-
strecken der Arme die Himmelspole als Weltgrenzen fixiert
(v. 4 yasya ima pradigo, yasya bälni) und den Erde und Luft
umfliefsenden Strom Rasa schafft, den jedoch der Dichter
mit einem leisen Anfluge des Zweifels zu erwähnen scheint
(ahuh v. 4). Ferner schafft er (v. 4) den Ocean und „jene
schneebedeckten Berge" des Himalaja, an dessen Fufse,
vermutlich noch im Pendschäb, der Dichter zu leben scheint.
Endlich bevölkert er diese so Geschaffene und geordnete
Welt, indem er (v. 2) als sein Abbild (chäyä) amritam
und mrityu, d. h. wohl die unsterblichen Götter und die
sterblichen Wesen (Menschen, Tiere, Pflanzen) erschafft (vgl.
10,129,2, oben, S. 122). 2) Weiter aber ist der eine Gott
auch der Erhalter der Welt; er „umgiebt alles dieses Ent-
standene" (v. 10), welches somit in ihm, nicht aufser ihm ist;
aus ihm geht die Sonne auf, um zu leuchten (v. 6), er ist der
einzige Lebenshauch der Götter (v. 7), verleiht ihnen und
allem andern Odem und Kraft (v. 2 ätmadä, balada) und ist
durch seine Majestät der einzige Fürst der Lebewelt, wenn
sie atmet, und wenn sie (im Tode) die Augen schliefst (v. 3).
Endlich ist er 3) auch (wie früher Varuna) der Regierer
(räjä, v. 3) der Welt; er überschaut mit Majestät sogar (cid)
die Urwasser, aus denen alles andere, selbst das belebende
Feuer (v. 7) und das götternährende Opfer (v. 8) hervorging;
alle, auch die Götter, ehren seine Befehle (v. 2), er herrscht
über Zweifüfsiges und Vierfüfsiges (v. 3); zu ihm blicken
zitternd und auf seine Hülfe hoffend die Schlachtreihen auf
(v. 6), denn er kann ebensowohl schaden (v. 9) wie alle
9*
132 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
Wünsche und alle Schätze gewähren (v. 10). Ihm will der
Dichter daher liavis spenden (v. 1 — 9), will ihm opfern, um
seine Gunst zu erbetteln (v. 10), wodurch er allerdings von
der philosophischen Höhe der vorher besprochenen Hymnen
wieder in die alte Superstition zurückfällt.
1. Als goldner Keim ging er hervor zu Anfang;
Geboren kaum, war einziger Herr der Welt er;
Er festigte die Erde und den Himmel, —
Wer ist der Gott, dafs wir ihm opfernd dienen?
2. Der Odem giebt und Kraft giebt, er, dem alle,
Wenn er befiehlt, gehorchen, auch die Götter,
Des Abglanz das Unsterbliche, der Tod ist, —
Wer ist der Gott, dafs wir ihm opfernd dienen?
3. Der, wenn sie atmet, wenn sie schliefst die Augen,
Die Lebewelt regiert als einz'ger König,
Zweifüfsler hier beherrschend und Vierfüfsler, —
Wer ist der Gott, dafs wir ihm opfernd dienen?
4. Durch dessen Macht dort die beschneiten Berge,
Das Meer, der Weltstrom ist, von dem sie fabeln,
Des Arme dort die Himmelspole sind, —
Wer ist der Gott, dafs wir ihm opfernd dienen?
5. Durch den der Himmelsraum, der Erde Festen,
Der Sonne Glanz, das Firmament gestützt sind,
Und der im Mittelreich den Luftraum ausmifst, —
Wer ist der Gott, dafs wir ihm opfernd dienen?
6. Zu dem aufschau'n die Kämpfer beider Heere,
Auf Hülfe bauend, sorgenvollen Herzens,
Aus dem aufgeht und fernhin strahlt die Sonne, —
Wer ist der Gott, dafs wir ihm opfernd dienen?
7. Als ehemals die grofsen Wasser kamen,
Die allkeimschwangern , die das Feuer zeugten,
Ging er daraus hervor als Lebenshauch der Götter, —
Wer ist der Gott, dafs wir ihm opfernd dienen?
8. Der machtvoll selbst die Wasser überschaute,
Die kräfteschwangern, die das Opfer zeugten,
Er, der der einzige Gott war von den Göttern, —
Wer ist der Gott, dafs wir ihm opfernd dienen?
Prajäpati als Jahr. 133
9. Nicht schäd'ge er uns, der der Erde Schöpfer,
Der auch den Himmel schuf, wahrhaft an Satzung,
Der auch erschuf die glanzreich grofsen Wasser, —
Wer ist der Gott, dafs wir ihm opfernd dienen'?
10. Prajäpati! Du bist es und kein andrer,
/ Der alles dies Entstandene umfafst hält!
Zu teil werd' uns, was wir, dir opfernd, wünschen;
-Uns, die dich kennen, mach zu Herrn der Güter!
Schlufsbemerkung. Die weitere Geschichte des Prajä-
pati und die Umdeutungen, denen er dabei unterworfen wird,
gehören der Brähmanazeit an und werden uns weiter unten
beschäftigen. Nur einer dieser Umdeutungen wollen wir,
vorgreifend, schon hier Erwähnung thun, weil sie vielleicht
als Schlüssel gebraucht werden kann für das sonst isoliert
dastehende kurze Lied Rigvecla 10,190. — Prajäpati (der
Herr der Geschöpfe) ist eine Personifikation der zeugenden
Kraft der Natur. Diese zeugende Kraft offenbart sich im
Kreislaufe des Jahres, und es lag, namentlich nach den An-
schauungen, die wir Rigv. 1,164,11 — 16 (oben, S. 110—112)
kennen gelernt haben, nahe, die Zeugekraft der Natur auf
das Jahr, im Verlaufe dessen sie zur Erscheinung kommt,
zu übertragen, d. h. Prajäpati mit dem Jahre (samvatsara),
oder abstrakter gesprochen mit der Zeit, zu identifizieren.
Hieraus erklären sich nicht nur die beiden Hymnen des
Atharvaveda 19,53 und 54, welche die Zeit als Princip der
Dinge feiern, sowie wohl auch Atharvav. 13,1 — 3, in denen
die Sonne (rohita) an ihre Stelle tritt, sondern auch die
so oft im (patapathabrähmanam vorkommende Wendung, dafs
Prajäpati das Jahr, samvatsara, sei (vgl. Catap. 1,5,1,16. —
1,5,3,2. — 1,9,2,34. — 1,6,3,35. — 5,1,2,9. — 5,4,5,20—21. —
8,4,3,20. — 10,4,1,16. — 10,4,2,2 — und namentlich 11,1,6,13:
„Prajäpati erwog: Dieses fürwahr habe ich als ein Ebenbild
meiner selbst erschaffen, was das Jahr ist; darum sagen sie:
«Prajäpati ist das Jahr»; denn als ein Ebenbild seiner selbst
hat er dasselbe erschaffen u). Diese Anschauung nun scheint
schon Rigv. 10,190 durchzublicken, wenn wir den Schöpfer in
v. 3 auf das vorher v. 2 genannte Jahr beziehen dürfen. —
134 Die Zeit der Hymnen des Bigveda.
Als erstes Princip bezeichnet der Dichter, wohl in Anlehnung
an Rigv. 10,129,3 (oben, S. 122) das Tapas (indem clieThätigkeit
des Subjektes zum Subjekte selbst hypostasiert wird, ähnlich
wie bei brahman). Ans dem Tapas entstehen aufsei* ritam
(Ordnung), satyam (Wahrheit) und rätri (Nacht) die Urwasser,
,,der wogende Ocean" wie unser Dichter sagt. Aus diesem
entsteht (analog dem Goldkeime 10,121,1) samvatsara , das
Jahr, welches Tage und Nächte ordnet und (wiederum wie
hiranyagarbha 10,121,3) „Gebieter ist über alles, was die
Augen aufschlägt" (v. 2). Nach dieser Wendung wird es
berechtigt sein, das Jahr als den Schöpfer v. 3 anzusehen
(dhdtd v. 3 kann doch wohl kein andrer sein als vidadhad
v. 2; vgl. auch Taitt. Br. 1,7,2,1 samvatsaro vai dhäta), welcher
der Reihe nach (yathäpürvam, der spätere Vedänta übersetzt
„wie vordem" und findet hier eine Bestätigung seiner Kalpa-
Theorie) Sonne und Mond, den Himmel, die Erde, den Luft-
raum und das Sonnenlicht schafft.
Bigveda 10,190.
1. Aus Tapas, da es glühend ward,
Entstand die Wahrheit und das Recht;
Aus ihm geboren ward die Nacht,
Aus ihm des Meeres Wogenschwall.
2. Und aus des Meeres Wogenschwall
Geboren wieder ward das Jahr,
Das, Tag' und Nächte ordnend, herrscht
Ob allem, was aus Augen blickt;
3. Das auch die Sonne und den Mond
Der Reihe nach als Schöpfer schuf,
Den Himmel und die Erde auch,
Den Luftraum und das Sonnenlicht.
2. Die Hymnen an Yicjakarman , 10,81. 82.
Wenn schon Projäpati, der Herr der Geschöpfe, eigent-
lich nur eine Personifikation des abstrakten Begriffes der
Schöpferthätigkeit ist, so gilt dasselbe, nur noch in höherm
Grade, von Vi$vakarman, dem Allschaffer, unter welchem Namen
das Urwesen in den beiden Hymnen 10,81 und 82 gefeiert
Die Hymnen an Vi^vakarman, Rigv. 10,81. 82.- 135
wird, die an poetischer Schönheit den Prajapatihyinnus nicht
erreichen, hingegen an philosophischem Tiefsinne und an Frei-
heit von theologischen Voraussetzungen demselben überlegen
sind. Dem Inhalte nach knüpfen diese beiden Hymnen (die
allem Anscheine nach von einer Hand sind) ziemlich deutlich
an 10,121 an, so wie dieses Lied an 10,129, wobei sich be-
obachten läfst, wie jedesmal der folgende Dichter die Gedanken
seines Vorgängers weiter fortbildet. Am unentwickeltsten ist
der Schöpfungshymnus 10,129, nach welchem 1) das Urwesen
ganz allein „windlos atmend" vorhanden ist (v. 2), und 2) eben
dieses Urwesen aus dem „lichtlosen Gewoge" (welches doch
nichts von ihm Verschiedenes sein kann) sich ?ils lebenskräf-
tiger Keim (äbhu, tucchyena apihitam) entwickelt. — Deut-
licher erscheinen diese Vorstellungen im Prajäpatiliede 10,121,
nach welchem, wie gezeigt, 1) das Urwesen die Urwasser
erzeugt, 2) als goldner Keim aus diesen Urwassern hervor-
geht. — Diese beiden Seiten des Urwesens als All schaffen-
des und wiederum als Ersterschaffenes erscheinen in den
Vicvakarman-Liedern in bedeutender Fortbildung, wobei sich
10,81 vorwiegend mit der ersten, 10,82 mehr mit der zweiten
Seite beschäftigt.
Rigvecla 10,81.
Wenn schon 10,129,2 lehrte, dafs aufser dem Urwesen
nichts andres vorhanden war, wenn dementsprechend 10,121,9
erklärte, dafs Prajäpati auch die Urwasser erzeugt habe, so
versichert unser Hymnus noch bestimmter, dafs Vigvakarman
sich selbst in die Welt umgewandelt habe, und zieht daraus
zwei Folgerungen: 1) dafs durchaus kein Fundament gewesen
sei, auf das sich der Weltschöpfer gestützt habe (v. 2 — 3),
und dafs er ebensowenig eine Materie aufser sich gehabt habe,
als er die Welt bildete (v. 4 — 5) [in späterer Sprache: Gott
ist causa sui (svayambhü) und ist ebenso causa materialis
(upädänam) wie causa efficiens (nimittam) der Welt]; 2) dafs,
wenn wir Gott opfern, es eigentlich Gott selbst ist, der sich
dabei selbst ein Opfer darbringt (v. 1. 6 — 7), ja, dafs der
Wunsch, dieses Opfer zu geniefsen, dns eigentliche Motiv der
Weltschöpfung gewesen sei (v. 1). Die Schärfe, mit der dabei
136 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
der altvedische Polytheismus verurteilt wird (v. 6 muhyantu
anye abhito janäsali), wird nur noch überboten durch die ana-
loge Aufserung in dem folgenden Hymnus 10,82,7. — Be-
merkenswert ist endlich noch, dafs schon in unsern beiden
Hymnen die Weltschöpfung als eine Opferhandlung erscheint
(10,81,1 juhvacl, 10,82,1 die Urwasser als ghritam). Es ist
dies analog dem Tapas, aus dem nach 10,129,3 (oben, S. 122)
und 10,190,1 (oben, S. 134) die Welt entstanden ist: Tapas
und Opfer, diese beiden höchsten Betätigungen menschlicher
Kraft, haben ihr Vorbild in dem Verhalten Gottes bei der
Weltschöpfung.
1. Der, opfernd, sich in alle diese Wesen
Als weiser Opfrer senkte, unser Vater,
Der ging, nach Gütern durch Gebet verlangend,
Ursprung verhüllend l in die niedre Welt ein.
1. Gott steckt selbst in der Welt. Was er vorher war, ist dadurch verhüllt
worden (prathamachad) .
2. Doch was hat wohl als Standort ihm . . . ,
Was hat und wie als Stützepunkt gedient ihm,
Auf dem die Erde er erschuf, allschaffend,
Mit Macht den Himmel deckte auf, allschauend? —
Die Antwort auf diese Frage liegt in dem folgenden Verse, nach welchem
er keine andre Stütze hatte als sich selbst.
3. Allseitig Auge und allseitig Antlitz,
Allseitig Arme und allseitig Fufs,
Schweifst schaffend er mit Armen, schweifst mit Flügeln1
Zusammen Erd' und Himmel, Gott, der Eine.
1. Mit Flügeln, die dem Schmied als Blasebalg dienen (9,112,2, oben S. 98).
Dafs das Bild des Schmiedes vorschwebt, lehrt die älteste Interpretation
unseres Verses, welche in 10,72,2 vorliegt (unten, S. 145).
4. Was ist das Holz, was ist der Baum gewesen,
Aus dem sie Erd' und Himmel ausgehauen?
Ihr Weise, forscht im Geiste diesem nach, worauf
Er sich gestützt hat, wenn er trägt das Weltenall!
Auch auf diese Frage müssen wir als Antwort die folgenden Verse an-
sehen, nach denen Gott alles in allem ist, sodafs keine Materie, keine
Stütze aufser ihm möglich ist, daher auch beim Opfer er allein es ist, der
das Opfer sowohl darbringt als empfängt.
Die Hymnen au Vicvakarman , Rigv. 10,81. 82. 137
5. Was deine höchsten Wohnstätten und tiefsten,
Und die hier in der Mitte sind, Allschaffer,
Lehr' deine Freunde! Und, o Herr, beim Opfer
Du opfre selbst, dein Selbst dadurch zu laben!
6. Am Opfer dich, o Allschaffer, zu laben,
; Du opfre selbst als Erde dir und Himmel!
Und wenn die andern Menschen ringsum irrgehn,
Uns hier sei Er der Opferherr, der Reiche.
7. So ruft denn an als Herrn der Rede heute
Beim Opfermahl den Allherrn, schnell A\de Denken,
Er freue sich an allen unsern Spenden,
Der hülfreich, gütig allen hilft zum Heile.
Rigveda 10,82.
Während der vorige Hymnus überwiegend die Wesens-
identität Gottes und der Welt betonte, so wendet der gegen-
wärtige mehr seine Aufmerksamkeit der Art und Weise zu,
wie die Welt aus dem göttlichen Wesen hervorgegangen ist.
Aus dem Opferschmalz (ghritam) der Urwasser, in welchem
die beiden WTelten (Himmel und Erde) eingetaucht waren,
erzeugt dieselben durch göttlichen Iiatschlufs (manas) der
Schöpfer, indem er zuerst die äufsersten Enden des Welt-
gewebes befestigt, wTorauf Erde und Himmel zwischen ihnen ein-
gewroben werden (v. 1). Die weitere Ausführung des Schöpfungs-
werkes fällt den Gehülfen des Schöpfers zu, welche hier
zum erstenmal auftreten und als rishayah pürve „vorwelt-
liche Weisen" bezeichnet werden. Nachdem dieselben den
Urschöpfer gebührend verehrt, schaffen sie die Wesen in dem
halb dunkeln, halb hellen Luftraum*, der „sich setzt", d. h.
wohl**, die in ihm schwebenden Keime ablagert (v. 4); rajas,
der Luftraum, scheint hier mit den v. 5 und 6 genannten Ur-
wassern identisch zu sein. In diesen alle Keime enthaltenden
* Vgl. die Lehre des Empedokles: etvai 81 y.jy.Xtp rcepl ty}v yr^ cpepo-
(j.£va S\jo T)[jua9aipt.c, to f^kv xaiJoXo'j Ttupb;, tö <5s (juxtov i% depo; X7.l öXiyou
itupb?, oiz-p oliTOLi rr,v vuxra elvat (Euseb. praep. ev. 1,8).
** Wie bei Anaxagoras: tov &£pu uöcvtwv cpao-y.wv ityeiM o-Tr.epiJ.a-ra, xou
TauTa o"U7xaTaq>£p(J(ji£va tw uScm yEwax ra cp'jxa (Theopbr. hist. plant. 3,1,4).
138 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
(10,121,7) Urwassern befindet sich als Keim, garbha (der
hiranyagarbha 10,121,1), auch das Urwesen selbst, und dieser
Keim hielt alle Götter beschlossen (v. 6), die in ihm sichtbar
waren (v. 5). Eben dieser Keim wird zur Weltachse (ekam
adhi nabhau arpitam kann nur die 1,164,13, oben S. 111, ge-
nannte Achse sein) und ist von der Weltnabe umgeben, auf
deren Rad (in wörtlicher Wiederholung von 1,164,13) „alle
Wesen stehen" (v. 6). Wie aber schon 10,129,7 ein Anlauf
genommen wurde, das in der Welt verwirklichte Princip als
über der Welt schwebendes ewiges Weltauge (asya adhy-
akshah parame ryoman) aufzufassen, so lehrt unser Dichter be-
stimmter, dafs der als Weltachse fungierende Allschöpfer
zugleich (uta v. 2) jenseits von Himmel und Erde, von Göttern
und Dämonen (v. 5), als „höchster Anblick" (paramä samdrig)
thront, dort, wo die sieben Rishi's (wohl die Gehülfen des
Weltschöpfers, v. 4) als das Siebengestirn zu schauen sind
und über ihnen nur noch „der Eine" sich befindet (v. 2).
Als solchem jauchzen ihm Opfer und Wünsche der Menschen
entgegen (v. 2), als solcher ist er „der Vater des Auges" (v. 1)
und der Urquell aller Erkenntnis und Offenbarung (v. 3).
1. Des Auges Vater, treu dem eignen Eatschlufs,
Schuf die im Urschlammschmalz versunknen Welten ;
Als erst zuäufserst Avar der Saum befestigt,
Da woben zwischenein sich Erd' und Himmel.
2. Der Allschaffer, kraftvoll an Geist und Werken,
Der Schöpfer, Ordner ward dann höchster Anblick;
Mit Opfer jauchzt ihm zu der Menschen Wünschen ,
Wo jenseits der Sternscharen thront die Einheit.
3. Er, unser Vater, Schöpfer, er, der Ordner,
Kennt die Wohnstätten und die Wesen alle;
Er gab allein den Göttern ihre Namen,
Von ihm erfragten sie die andern Wesen.
4. Ihm brachten, gleichwie Beter, Opfergaben
Aus ihrer Fülle dar die Erstlingsweisen,
Als aus dem Niederschlag des Weltenraumes,
Dem dunkeln, hellen., sie die Wesen schufen.
Der Hymnus, Rigv. 10,31. 139
5. Der hoch erhaben über Erd' und Himmel,
Erhaben über Götter und Dämonen, —
Wer war der Urkeim, den die Wasser bargen,
In dem die Götter all zu sehen waren?
6. Er war der Urkeim, den die Wasser bargen,
' In dem die Götter all versammelt waren,
Der Eine, eingefügt der ew'gen Nabe,
In der die Wesen alle sind gewurzelt.
7. Ihr kennt ihn nicht, der diese Welt gemacht hat,
Ein andres schob sich zwischen euch und ihn ein;
Gehüllt in Nebel und Geschwätz umherziehn
Die Hymnensänger, ihren Leib zu pflegen.
Anmerkung. Als Anhang zu den Vicvakarman-Liedern
wollen wir hier den Hymnus 10,31 einschalten, dessen Dunkel-
heit der Deutung weiten Spielraum lafst, und bei dem unsere
Auffassung zu sehr von dem Herkömmlichen sich entfernt,
als dafs wir so bald auf Zustimmung hoffen dürften. — Sicher
ist nur, dafs unser Hymnus in v. 7 sich auf 10,81,4 bezieht,
indem er die dort gestellte und scheinbar unbeantwortet blei-
bende Frage nach dem Urstoffe wiederholt, sehr wahrschein-
lich ferner, dafs in den Worten v. 10 gamyärn gaur jagäro,
yad clha pricchdn die Antwort auf 10,81,4 gegeben werden
soll: „Die Kuh (d. h. die schaffende Natur) verschlang das
Holz, nach dem man etwa fragen könnte", der Urstoff wurde
durch die Weltschöpfung verbraucht, daher er nicht mehr zu
linden ist.
Merkwürdig als Vorspiel zur Lehre vom Brahman ist
der erste Teil des Gedichtes (v. 1 — 5), welcher die Abhängig-
keit der Götter vom Gebete oder Liede des Sängers
(v. 1 gansa, v. 3 d/dti, v. 5 stuti, v. 6 sumati) zu lehren scheint,
worauf dann im zweiten Teile (v. 6 — 10) eben dieses
Gebet als vorweltliches, weltschaffendes Princip ge-
feiert wird. Dieses Princip zerlegt sich weiter in eine Kuh
und einen Stier (die empfangende und zeugende Kraft der
Natur), aus deren Begattung die Welt hervorgeht, „der Sohn,
welcher schon vor den Eltern", nämlich als das zu ihnen sich
gestaltende Gebet, da war (v. 10). Der Schlufsvers scheint
140 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
den Gedanken auszusprechen, dafs auch das scheinbar Unbe-
deutende (hier das Gebet) sehr bedeutend (weltschaffende
Kraft) sein kann. Dies hat vor unserin Dichter noch nie je-
mand erkannt: ritam atra nakir asmai apipet „keiner hat dein.
wovon wir hier reden, noch sein volles Recht strömen lassen-*.
Rigveda 10,31.
1. Loblied der Götter eile zu uns herwärts,
Durch alle Götter Hülfe bringend, heilig;
Dann werden wir gut Freund mit ihnen bleiben
Und siegreich alles Unheil überwinden.
2. Mag immerhin der Mensch nach Reichtum trachten,
Durch Götterdienst verehrend ihn erstreben ! —
Doch dann besprech' er sich mit seinem Herzen,
Im eignen Geiste Bess'res zu ergreifen!
3. Geschaffen ward das Lied , Trankspenden rinnen ,
Zum Soma eilen, wie zur Tränke, Götter, —
Laut braust uns der Gesang, zur Wohlfahrt führend ,
Aufspürer sind der Götter wir geworden.
4. Jetzt freue Agni sich, der stete Hausherr,
Und wem erregend Savitar die Lust gab;
Mit Rindern schmücke Bhaga, Aryaman uns.
Hold scheine er dem Beter, — sei es wirklich.
5. Der Sitz hier sei wie Thron der Morgenröte,
Zu dem sie, Nahrung bringend, kraftvoll eilen,
Verlangend alle nach des Sängers Betlied,
Herströmen mögen ihre Helferkräfte!
G. Und dies Gebet des Sängers, aus sich breitend,
Ward eine Kuh , die vor der Welt schon da war ;
In dieses Gottes Schofs zusammen wohnend,
Pfleglinge gleicher Hegung sind die Götter.
7. Was ist das Holz, was ist der Baum gewesen,
Aus dem sie Erd' und Himmel ausgehauen,
Die beiden , alternd nicht und ewig hülfreich ,
Wenn Tage schwinden und Vor - Morgenröten V —
8. So grofs ist aufser ihm nichts mehr vorhanden.
Er ist der Stier, der Erde trägt und Himmel,
Das Wolkensieb umgürtet wie ein Fell er,
Der Herr, wenn er, wie Sürya, fährt mit Falben.
Die Hymnen an Brakmanaspati. 141
9. Als Sonnenpfeil bestrahlt er weit die Erde,
Durchbraust die Wesen, wie der Wind den Nebel;
Wo er als Mitra, Varuna sich umtreibt,
Zerteilt er Glutschein , wie im Walde Agni.
10. Als, zugetrieben ihm, die Kuh gebar,
1 Schuf sie, bewegt, frei weidend, Unbewegtes,
Gebar den Sohn, der älter als die Eltern,
Und schlang hinab das Holz, nach dem sie fragen.
11. Ja, Kanva selbst war nur des Nrishad Sohn,
Im Wettkampf siegt wohl auch ein dunkler Renner,
Für Schwarze auch strotzt glänzend hell das Euter. —
Dem, den ich meine, gab sein Recht noch keiner.
3. Die Hymnen an Brahiuanasuati.
Noch ehe die Erkenntnis der Einheit (1,164- 10,129) zum
Durchbräche kam, aber im Zusammenhange mit den Gedanken,
die sie veranlafsten, sehen wir in einer Reihe späterer Hymnen
des Rigveda eine Gottheit auftauchen und immer gröfsere
Bedeutung gewinnen, welche, wie der Name Brittas pdti und
(völlig identisch damit gebraucht) Brähmanas pdti besagt, den
Herrn Q)ati) des Gebetes (brohman, während brih als Nomen
nicht vorkommt) bedeutet. Ursprünglich ist dieser Gott (ähn-
lich wie västosh-pati, kshetrasya pati u. a.) nichts weiter als
eine jener Personifikationen menschlicher Verhältnisse und
Bestrebungen, wie sie, zahlreicher in der griechischen. Mytho-
logie, doch auch im Veda nicht selten auftreten. Als solcher,
als der Genius des Gebetes, wird denn Brahmanasputi (oder,
nach Bedarf des Metrums mit ihm wechselnd, Brihaspati) öfter
neben Indra, Soma, Agni genannt als an ihren Thaten teil-
nehmend, verfliefst auch gelegentlich mit ihnen (z. B. mit
Agni 1,18,9), und manche mochten geneigt sein, sich nicht
sonderlich viel aus ihm zu machen (1,190,5 usrikam manya-
mdnäK)i Aber dieser Gott, dem unter allen vedischen Göttern
die gröfste Zukunft vorbehalten blieb, kündigt seine innere
Bedeutsamkeit schon auf dem Boden des Rigveda an. Das
Gebet, dessen leicht durchsichtige Personifikation er ist, gilt
142 L)ie Zeit der Hymnen des Rigveda.
schon im Rigveda als ein Stärkungsmittel der Götter, durch
welches ihre Kräfte wachsen, und das sie ebensowenig ent-
behren können wie die Menschen die Gaben der Götter, die
sie dafür eintauschen. Sehr häufig wird daher von den Göttern
gesagt, dafs sie „sich durch das Gebet stärken" (brahmanä
vävridhänah) , oder vom Gebete, dafs es „ein Stärkungsmittel
der Götter" sei (brahma devdndm vardlianam). In dem Mafse,
wie dieser Gedanke einer Abhängigkeit der Götter vom
Gebete heranwuchs, mufste auch die Bedeutung des Brah-
manaspati steigen, und so sehen wir ihn in einigen spätem
Hymnen (an ihn speciell gerichtet sind Buch I, 18. 40. 190;
Buch II, 23. 24, 25. 26; Buch III, 62,4-6; Buch IV, 50;
Buch VI, 73; Buch X, 67. 68) aus seiner ursprünglich be-
scheidenen Stellung mächtig emporwachsen und unter den
Händen der Sänger zum „Vater der Götter" (2,26,3. 4,50,6)
werden, dem alle ihre Grofsthaten, und namentlich die des
Indra, zugeschrieben werden; jetzt ist er es, der die Enden
der Erde mit Macht gestützt hat (4,50,1), der, was ihm nie-
mand nachmacht, Sonne und Mond in regelmäfsigem Wechsel
aufgehen liefs (10,68,10), der die Wolkenburg des Vritra, wie
früher Indra, brach (10,68,6), der Sieg in Schlachten, Schutz
gegen böse Geister verleiht, u. s. w. Waren es früher die
Götter, welche, durch das Gebet getrieben, diese Werke
verrichteten, so werden jetzt die Götter zu einem unterge-
ordneten Faktor oder auch ganz beiseite gelassen, und es ist
das Gebet selbst, in seiner Personifikation als Brahmanas-
pati, welches, sei es durch die Götter, sei es direkt, die
Wunderwerke der Schöpfung und die Beschützung der From-
men vollbringt. Dabei ist die ursprüngliche Bedeutung des
Brahmanaspati keineswegs vergessen: ihn zeugte der weise
Tvashtar „aus allen Wesen und allen Liedern" d. h. aus den
Liedern der Menschen (2,23,17), ihn „lassen die Menschen
wachsen" (vardhayantas) durch fromme Gebete (10,67,9 — 10):
er ist der Herr (igäno) durch das Gebet (2,24,15), und wie
Savitar seine Strahlenarme, so streckt er die Preislieder und
Lobgesänge aus (1,190,3), aus denen er besteht. Merkwürdig
ist hier vor allen andern der Vers 2,24,11, in dem wir den
Gott in seinem allmählichen Heranwachsen verfolgen können:
Die Hymnen au Brahinanaspati. 143
i/o avare vrijane vigvathä viblmr
mahäm u ranvah cavasä vavaksMtha, —
sa devo devän prati paprathe prithu,
vicvjx iä u tä paribhür Brähmanaspatih .
„Der du, in der niedern Enge [des Opferraumes oder des
Herzens] nach allen Seiten dich entfaltend, mächtig herange-
wachsen bist zu einem Erfreuer der grofsen Götter, — als
Gott zu den Göttern hin breitet er weit sich aus, diese ganze
Welt umfassend, Brahmanaspati." Hier sehen wir Brahina-
naspati, wie er 1) im niedern Raum des Herzens oder der
Opferstätte entsteht und hinausstrebt, die Götter zu ercpiicken,
wie er dann 2) immer mehr wachsend zu einem Gott unter
den Göttern wird, bis er 3) dasteht, die ganze Welt umfas-
send als das höchste göttliche Wesen.
Die weitere Geschichte des Brahmanaspati, wie er, nach
Abstreifung der Persönlichkeit, zum brahman (neutr.) und als
dieses zum Princip aller Dinge wird, gehört der Brähmana-
zeit an und wird uns weiter unten beschäftigen.
Hier, auf dem Boden des Rigveda, haben wir nur noch
den Hymnus 10,72 zu behandeln, welcher aus einem ähnlichen
Vorstellungskreise heraus, wie wir ihn in den Liedern an
Prajäpati und Vicvakarman kennen gelernt haben, die Ent-
stehung der Welt und der Götter aus Brahmanaspati schildert.
Rigveda 10,72.
Der Dichter will (v. 1) die Entstehung der Götter schil-
dern, so dafs noch späte Geschlechter es bewundern sollen. —
Quid dignum tanto feret hie promissor hiatirf Nichts weiter
als eine Umdeutung gewisser mythologischer Vorstellungen
von Aditi und ihren Kindern im Sinne des neuen kosmogo-
nischen Schema's, wie wir es aus den Hymnen 10,129. 10,121.
10,81. 82 kennen gelernt haben. Nach diesem Schema hatten
wir 1) das Urprincip, 2) aus ihm hervorgehend die Urmaterie,
3) ans dieser die erschaffene Welt und als Erstgebornen und
Beherrscher derselben, sich aus einein Keime in den Urwassern
entwickelnd, das Urprincip selbst. Dies ist auch die Grund-
anschauung unseres Dichters, nur dafs er sie mythologisch zu
verbrämen weifs. 1) Das Urprincip ist ihm Brahmanaspati,
144 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
welcher (in deutlicher Anlehnung an 10,81,3, oben S. 136)
die Welten wie ein Grobschmied zusammensch weifst. Wie
10,81 hat er keinen Urstoff neben sich: asatah seid ajäyatet, das
Seiende entstand aus dem Nicht sei enden. 2) Dieses erst-
entstandene Seiende (seid, v. 2. 3) mufs nun identisch sein mit
der Weltgebärerin (uttänapad, v. 3. 4), mit Aditi (v. 4. 5) und
mit dem Wogenschwall (salilam, v. 6), in welchem (wieder
in Anlehnung an 10,82,6, oben S. 139) alle Götter herumtanzen
(v. 6). 3) Aus der Urtnaterie (sael = uttelnapad = Aditi =s
salilam) entstehen die Welt und die Welträume, und mit
ihnen DaJcsha (der Iliranyagarblia 10,121,1), welcher aus der
Aditi (Urmaterie) sich entwickelt, jedoch (als Urprincip, dessen
Tochter Aditi ist) schon vorher da war; so löst sich das Rätsel
in v. 4: Aditer Daksho 'jäyetta, Dakshäd u Aditih i^eiri „Aus
Aditi (der Urmaterie) ist Daksha (als Erstgeborner, Hiranya-
garbha) entstanden, aber Aditi selbst war wiederum (vorher)
aus Daksha (als dem Urprincip, dem Brahmanaspati in v. 2)
entstanden". Einer ähnlichen Aufserung werden wir in dem
weiterhin zu besprechenden Hymnus 10,90,5 begegnen. —
Diese (wie die Übereinstimmung der bisher besprochenen
Hymnen zu beweisen scheint) ziemlich allgemein in damaliger
Zeit angenommene kosmogonische Reihenfolge* von 1) Ur-
princip, 2) Urmaterie, 3) Erstgeborner wird nun von unserm
Dichter mythologisch umgedeutet. Schon früher (oben, S. 105)
hatte man versucht, die obersten Himmelsgötter auf einen
gemeinsamen Urgrund zurückzuführen, indem man sie als
Söhne der Aditi (Unendlichkeit, axsipcv) auffafste. Solcher
Söhne zählte man in der Regel sieben: Vevrunei, Mitra, Arya-
man, Ane-a, Bhaga, Daksha und einen ungenannten siebenten,
auf den Savitar am meisten Anspruch hat. Unser Dichter
fügt als achten Sürya, den Sonnenvogel, hinzu, welcher, auf-
und untergehend, bald geboren wird, bald stirbt, indes die
übrio;en sieben unsterblich sind. Es lag nahe, diese Aditi
* Es scheint derselben eine allgemein menschliche Anschauung zu
Grunde zu liegen, da man eine Analogie dazu auch in den Anfangsworten.
der Genesis finden kann, sofern sich dort 1) s-nSs 2) o^sn 3) aww -vi
von einander unterscheiden lassen.
Die Hymnen an Brahmanaspati. 145
(axsipov) auf die Urmaterie oder Urwasser zu beziehen. We-
niger deutlich ist, warum unser Dichter unter ihren Söhnen
gerade den Daksha als Erstgebornen (= IRranyagarbha) und
folglich wieder auch als Urprincip (= Prajäpati, Vigvakarman,
Brahmanaspati) an die Spitze stellt. Aber Varuna, Mitra,
Aryaman, wie auch Savitar, waren schon zu sehr mythologisch
verbraucht, Anca und Bhaga (Verteiler) beziehen sich mehr
auf die administrative Thätigkeit Gottes, sodafs für die
schöpferische Thätigkeit Daksha (die Tüchtigkeit) am meisten
sich empfahl; daher Prajäpati als Weltschöpfer Qatap. Br. 2,4,4,2
mit Daksha identifiziert wird (sa vai daksho näma), und in
spätem Aufzählungen (vgl. Muir V, 55) Daksha geradezu als
der Dliatar (Schöpfer) sich bezeichnet findet. Vorangegangen
war in dieser Hervorhebung des Daksha vielleicht schon 10,5,7
(asac ca sac ca parame vyoman Dakshasya janman, Aditer
upasthe), und auch mit dem Dhätar-Samvatsara in 10,190,
oben S. 133, ist sie nicht schwer zu vereinigen.
Somit erscheint unser Hymnus als ein erster Versuch, den
neuen Wein in die alten Schläuche zu fassen, die neue Kosmo-
gonie mit der alten Mythologie synkretistiseh zu vereinigen.
Philosophisch steht sein Dichter daher bedeutend unter den
Urhebern der Vicvakarman- Lieder; er verhält sich zu ihnen
etwa wie Anaximenes zu Anaximander, wie Leibniz zu Spinoza,
wie Hartmann zu Schopenhauer. Den Mangel an Originalität
sucht er dann hinter Ruhmredigkeit zu verstecken (v. 1) und
für denselben durch pikante Zuthaten zu entschädigen: in dem,
was er über die Götter sagt, klingt ein leichtfertiger, fast
spöttischer Ton durch, und die Ausmalung der Weltgebärerin
als uttdnapad scheint ein Wohlgefallen an derartigen Vorstel-
lungen zu bekunden.
1. Der Götter Ursprung wollen jetzt
Wir melden , zur Verwunderung
Des, der im späteren Geschlecht
Das Lied vernimmt, wenn es ertönt.
2. Zusammen schweifste diese Welt
Als Grobschmied Brahmanaspati;
Da ward, noch vor der Götter Zeit,
Aus dem Nichtseienden was ist.
Deussen, Geschichte der Philosophie. I. 10
146 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
3. Noch vor der Götter Ursprung ward
Aus dem Nichtseienden was ist ,
Da bildeten die Räume sich,
Da, — aus der Weltgebärerin.
4. Die Welt aus der Gebärerin,
Und aus der Welt die Räume sind,
Aus Aditi Daksha entstand,
Jedoch aus Daksha Aditi.
5. Auch Aditi entstand ja erst,
Die, Daksha! deine Tochter war,
Aus ihr die Götter wurden dann,
Selig , unsterblichkeitbeschenkt.
6. Als, Götter! ihr im Wogenschwall
Euch alle fafstet an der Hand,
Da, wie von Tanzenden, von euch
Staubwolken wirbelten empor.
7. Als, Götter! ihr mit Strebekraft
Heraus die Welten quellen liefs't.
Da, der im Meer verborgen lag,
Hobt ihr den Sonnenball empor.
8. Acht Söhne hatte Aditi,
Die sie aus ihrem Leib gebar,
Zu Göttern ging mit sieben sie,
Indes den Vogel sie verstiefs.
9. Mit sieben Söhnen Aditi
Stieg auf zum alten Götterstamm,
Indes sie bald Geburt, bald Tod
Über den Vogel walten liefs.
Anmerkung. Die Umwandlung des Brahmcuiaspati in
das Brähman und die Erhebung desselben, d. h. der im Ge-
bete zu Tage tretenden religiösen Inbrunst, zum schöpferischen
Princip aller Dinge gehört, wie bereits bemerkt, der folgenden
Periode an. Doch treffen wir noch auf dem Boden des Rig-
veda einen verwandten Versuch an, sofern an mehreren Stellen
die Väc, d. h. die heilige, im Vedaworte verkörperte Rede, als
die schaffende, alle Götter tragende Urkraft gepriesen wird.
Wir sahen bereits (oben, S. 116 fg.) wie Rigv. 1,164,87 — 45
Die Hymnen über die Väc, Rigv. 10,125. 71. 147
die irdische Rede des Sängers als ein Ausflufs der göttlichen
Rede betrachtet wurde, die im höchsten Himmelsraume thront,
auf die alle Götter sich stützen, die als weltnährende Kuh die
wilde Rhythmik des Donners ausbrüllt und von der nur ein
Viertel den Menschen als Rede gegeben ist, während drei
Viertel (ähnlich wie bei dem im nächsten Abschnitte zu
besprechenden Purusha 10,90,3) im Verborgnen unbewegt
bleiben.
Diesen Gedanken schliefst sich der Hymnus der Vdo
10,125 an, sofern in ihm die Rede als das Princip gefeiert
wird, welches alle Götter trägt (v. 1 — 2), welches auch am An-
fange (mürdhan) die treibende Kraft in dem Vater des Welt-
alls war, um sodann (ähnlich wie der liiranyagarblia 10,121,1)
in den Wassern geboren zu werden und sich über alle Wesen
zu verteilen (v. 7). Es bedarf keiner Ausführung, dafs die
Väc, d. h. die heilige Rede des Veda, ein dem spätem Brahman
nahe verwandtes Princip ist.
Rigveda 10,125.
1. Ich wandle hin mit Rudra's und mit Vasu's,
Mit den Aditya's und den Vigve deväs,
Ich trage beide, Varuna und Mitra,
Ich Indra, Agni, ich die beiden Agvin's.
2. Ich trage die vollsaftige Somapflanze,
Ich den Tvashtar, den Püshan und den Bhaga,
Ich bin's, die Güter schenkt dem Spendefrohen,
Der gerne hilft, gern opfert, gerne keltert.
3. Ich hin die Fürstin, der der Reichtum zuströmt,
Bin weise, hin als erste zu verehren,
Die Götter haben mannigfach zerteilt mich,
An vielen Orten vielfach mich verbreitend (-tas1 Atharvav.).
4. Durch mich ifst Speise, wer nur schaut aus Augen,
Wer Atem holt, wer das Gesprochne höret;
Unmerkend sind auf mir sie doch gegründet;
Du aber, selbst Gehörter! hör' und glaube!
5. Was einer spricht, ich selbst bin's, die es redet,
Was lieblich ist für Götter und für Menschen;
Den, dem ich hold bin, mache ich gewaltig,
Den zum Brahmanen, Weisen, Einsichtsvollen.
10*
148 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
6. Ich bin es, die dem Rudra spannt den Bogen
Für seinen Pfeil, den Brahrnanfeind zu treffen;
Ich flöfse ein die Kampfeslust den Menschen,
Und ich durchdringe Himmel und die Erde.
7. Des Weltalls Vater trieb ich an am Anfang,
Doch meine Wiege ist in Meeres Wassern;
Von da verteil' ich mich auf alle Wesen
Und reiche, mächtig wachsend, auf zum Himmel.
8. Ich bin es, die dem Winde gleich dahinbraust,
Anpackend und erschütternd alle Wesen,
Hinaus streb' über Himmel ich und Erde,
So grofs bin ich durch meine Macht geworden.
Während dieses Lied, im Anschlufs an 1,164, die Väc
als metaphysisches Princip feiert, so ist hingegen ihre
Bedeutung für das praktische Leben (die unser Lied
nur vorübergehend streift) das Thema eines andern, nahe
verwandten Hymnus, des sogenannten Weisheitsliedes 10,71,
welches wir zum Vergleiche und um seines besondern kultur-
geschichtlichen Interesses willen hier folgen lassen. Aus
v. 11 ersehen wir, dafs das Verkündigen der jätavidyd „der
Lehre vom Ursprung der Dinge" schon in den letzten Zeiten
des Rigveda ein beliebter Gegenstand war, an dem die Brah-
manen in Festversammlungen ihre Kunst zeigten, und von
der die erhaltenen und von uns besprochenen Hymnen gewifs
nur einzelne Proben, aber doch vielleicht das Beste, was in
dieser Art geleistet worden, darbieten.
Das Weisheitslied, Rigveda 10,71.
1. Als, o Brihaspati, den ersten Anfang
Der Rede sie vorbrachten, Namen gebend,
Da ward, was sie als Bestes, Unbeflecktes
Verborgen hielten, liebreich offenbaret.
2. Wie durch ein Sieb man das Gedroschne sichtet,
So schufen Weise durch den Geist die Rede;
Nun kann der Freund erkennen, wer ihm freund ist,
Sein holdes Glück im Wort zum Ausdruck bringen.
Das Weisheitslied, Rigv. 10,71. 149
3. Im Opferdienst der Rede Spur verfolgend,
Fand man sie in die Dichter eingegangen;
Dort schöpfend hat man mannigfach zerteilt sie,
Nun jauchzen sieben Sänger sie im Chore.
4. Wohl mancher sieht sie und erkennt sie nicht,
Wohl mancher hört sie und vernimmt sie nicht, —
Und wieder andern strömt sie voll entgegen ,
Gern, wie dem Mann die schöngeschmückte Gattin.
5. Gar mancher ist so ihrer Freundschaft sicher,
Dafs man nicht leicht im Sängerkrieg ihn fordert, —
Doch der geht hin, melkt statt der Kuh ein Trugbild,
So fruchtlos, blütelos hört er die Rede.
6. Wer den ihm gleichgesinnten Freund im Stich läfst,
Der hat auch keinen Anteil an der Rede;
Hört er sie gleich, so hört er doch vergebens,
Weil er nicht weifs , was wohl sich schickt im Handeln.
7. Ja, Augen haben alle, Ohren alle,
Doch an Gedankenschnelle sind sie ungleich:
Der eine wogt wie Strom um Haupt und Schultern,
Der andre ist ein seichtes Badewasser.
8. Und wenn mit herzentsprofsner Geistesschnelle
Zum Opfer sich anschicken Beter, Freunde,
Von manchem laufen sie davon wohlweislich,
Als weise Beter schreiten andre stattlich.
9. Die dann nicht vorwärts und nicht rückwärts können,
Sind keine Beter, keine Somapresser,
Sie thaten übel, da das Wort sie nahmen,
Handhaben ungeschickt ihr Weberschifflein. —
10. Doch alle jubeln , wenn er herrlich auftritt ,
Dem redemächt'gen Freunde zu, die Freunde,
Sein Lied tilgt ihre Schuld, mehrt ihre Nahrung,
Er ist zum Sängerkriege wohlgerüstet.
11. Dann läfst der eine blühen seine Hymnen,
Der andre singt ein Lied in mächt'gen Tönen,
Und dieser Weise lehrt der Dinge Ursprung,
Und jener mifst der heil'gen Handlung Mafse.
150 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
4. Der Hymnus an den Pnrnsha, Rigv. 10,90.
Den Abschlufs der Philosophie des Rigveda bildet das
Purasha-Ijied* 10,90, einer der spätesten Hymnen des Rigveda,
da er, allein unter allen, das Bestehen der vier Kasten und
somit wohl schon die dauernde Ansiedlung im Gangesthaie
voraussetzt, sodafs man sich wundern mag, wie er wohl noch
in der Rigveda-samhitä Aufnahme fand. Er verdankt dieselbe
wahrscheinlich der Bedeutung seines Inhaltes, um deren willen
er auch in die meisten übrigen Samhitä's aufgenommen wurde,
sodafs sein Fehlen in der Sämasamhitä (mit Ausnahme der
Aranyakasamhitä der Naigeyaschule), im Käthakam und in der
Maiträyani vielleicht ein Anzeichen ist, dafs diese Sammlungen
(deren erste Ansätze wenigstens v. 9 als ric, säman, yajus,
chandas als bestehend vorausgesetzt werden) schon vor dem
Entstehen oder wenigstens allgemeinen Bekanntwerden unseres
Hymnus zum Abschlüsse gekommen waren. Aufser im Rig-
veda findet er sich, mit mancherlei Zusätzen, Versetzungen
und Varianten: Taitt. Ar. 3,12, Väj. Samh. 31, Atharvav. 19,6.
Völlig überein stimmt mit der Rig-Recension die im Taitt.
Ar., nur dafs sie v. 15 nicht unpassend zwischen v. 6 und 7
stellt. Auch die Väj. Samh. bietet, aufser einigen Umstellungen,
nur wenig erhebliche Abweichungen, während die Atharva-
Recension allerlei rationalisierende Varianten enthält: so be-
seitigt sie v. 1 die tausend Häupter, weil zu tausend Augen
nur fünfhundert gehören würden*, ferner die Schwierigkeit
in v. 2, den Widerspruch in v. 5. und die bei der Schöpfung
mitwirkenden Rishi's v. 7, wo sie zugleich die Besprengung
des Opfers auf die Regenzeit umdeutet. Alle diese Änderungen
scheinen willkürlich, gröfstenteils nur zur Erleichterung des
Verständnisses ersonnen zu sein, während die wesentliche
Zusammenstimmung der Taittiriyaka's und Väjasaneyin's mit
der Rig-Recension für deren Ursprünglichkeit Zeugnis ablegt;
daher wir an sie im Folgenden uns halten werden.
Der bedeutendste Fortschritt dieses Hymnus über die
bisher behandelten hinaus besteht darin, dafs hier an Stelle
* Aus demselben Grunde wird in der Nachbildung des Purushaliedes
Taitt. Ar. 10,11,1 sahasräksha in vigvälcsha verändert.
Das Purushalied, Rigv. 10,90. 151
der personifizierten Abstracta Prajdpati, Vigvakannan, Brah-
manaspati ein konkretes Wesen tritt, nämlich Purusha, das
heifst der Mensch. Denn dieses Wort, nebst seinen Ab-
leitungen und dem verwandten pürn, bedeutet überall im
Rigveda (mit Ausnahme der Stelle 10,51,8, mit der nichts
anzufangen ist; vielleicht ist dort parusham zu lesen) nur den
Menschen, und es ist ein merkwürdiger Gedanke, den Men-
schen, dieses höchste Produkt der Schöpfung, zugleich als
ersten Ausgangspunkt derselben zu betrachten. (Vergleichbar,
aber nicht historisch verwandt, ist die Gestalt des Riesen Ymir
in der Edda.)
Menschenartig waren schon die alten vedischen Götter
gewesen, menschenartig sind auch die Götter der Griechen
und der Gott des Alten Testaments. Aber* während sie alle
eine Welt aufser sich haben und neben ihr oder als ein Teil
derselben bestehen, so war schon in den Liedern 1,164 und
10,129 die Einheit des Universums erkannt und demgemäfs,
namentlich in den Vicvakarman-Liedern, gelehrt worden, dafs
das Urwesen sich selbst in diese Welt verwandelt hat. Und
auf Grund dieser philosophischen Errungenschaften vollzieht
sich in unserrn Liede noch einmal der Prozefs der mytholo-
gischen anthropomorphischen Personifikation, den wir oben
(S. 78 — 79) als Genesis des Götterglaubens nachwiesen.
Aber während es dort einzelne Kräfte und Seiten des Natur-
lebens waren, welche als Varuna, Indra, Agni u. s. w. personi-
fiziert wurden, so ist es jetzt die ganze Natur, der ganze
lebensvolle Zusammenhang der Welt, welcher als ein Orga-
nismus, ähnlich dem menschlichen, erscheint und als solcher,
als der lebendige Leib eines Purusha, eines Urmenschen, be-
griffen wird, dessen Haupt der Himmel, dessen Auge die
Sonne, dessen Odem der Wind ist, und der (ohne dafs an der
InkonsecpLienz dieser gigantischen Plastik Anstofs genommen
würde) aus allen den tausend Augen schaut, in allen den
tausend Köpfen die Welt, sein eigenes Selbst erkennt, in allen
Gliedern alles Lebendigen lebt und sich bewegt. Der grofse
Schritt unseres Liedes (mag man ihn nun Fortschritt oder
Rückschritt nennen) besteht also darin, dafs die alten Götter
nur Personifikationen von Naturteilen, hingegen der
152 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
neue Gott, der Purusha, nachdem die Einheit des Weltganzen
festgestellt und immer deutlicher entwickelt worden war, eine
Personifikation der ganzen Natur, ja diese selbst, nur
als organisches, lebendiges, persönliches Wesen angeschaut,
ist. Im übrigen ist unser Dichter von den philosophischen
Anschauungen seiner Vorgänger abhängig, wie dies eine kurze
Übersicht des Einzelnen mehrfach zeigen wird.
Das Lied zerlegt sich deutlich in drei Teile: v. 1 — 5: die
Welt ist der Purusha; v. 6 — 10 und v. 15 (von den Taitti-
riyaka's zwischen v. 6 und 7 eingefügt): die Welt ist durch
eine Opferung des Purusha entstanden; v. 11 — 14: die
Weltteile sind die Organe seines Leibes. Vers 16 ist, als
Erläuterung zu v. 7, vielleicht auch zu v. 4, aus Rigv. 1,164,50
hinzugefügt, wie wir meinen, unzweifelhaft von späterer Hand.
(Die Heranziehung dieses Verses Qatap. Br. 10,2,2,2 könnte sich
auch auf 1,164,50 beziehen, während Qatap. Br. 13,6,2,12 aller-
dings schon einen sechzehnten Vers, und zwar, wie die entspre-
chende Samhitä zeigt, unsern Vers als sechzehnten zu kennen
scheint. Der Atharvaveda hat ihn durch einen andern ersetzt.)
Inhaltsangabe. Vers 1. Der Purusha, tausendäugig,
tausendköpfig, tausendfüfsig, überdeckt, umfafst die Welt
von allen Seiten (vritvä viel besser als Väj. Samh. spritva) und
ragt noch zehn Finger breit über dieselbe hinaus. Der Ausdruck
dagängulam ist nicht weiter auszudeuten, weder auf die Gröfse
des Herzens, noch auf die Distance zwischen Nabel und Herz
(wie schon Taitt. Ar. 10,11,7), sondern bedeutet nur soviel
wie v, 5: sa jdto atyaricyata pagcdd bhumim atlio purah, er
überragt die Welt noch bedeutend, ähnlich wie bei Piaton,
Tim. p. 34 b : v^xV ^ £^ T° [J^007 auxoij ^stc hia. TtavTcr ts
I'tslvs xal s'-u K^o^rsv tö öö;j.a aurf) TispuxaXu'j's tociity), „er
spannte die Weltseele durch das Ganze und umhüllte auch
noch von aufsen den Weltleib durch die Weltseele". — Vers 2.
Der Purusha ist diese ganze Welt, ist Vergangenes und Zu-
künftiges; er ist auch der Beherrscher derjenigen Unsterblich-
keit, welche (im Gegensatze zur Unsterblichkeit des Purusha)
der Opferspeise bedarf, um sich zu erhalten, d. h. der Unsterb-
lichkeit der Götter, die somit (hier zum erstenmal) für eine
blofs relative erklärt wird, wie im spätem Vedänta (mein
Das Purushalied, Kigv. 10,90. 153
„System des Vedänta" S. 71). Der Purusha hingegen bedarf
dieser Unterhaltung seiner Unsterblichkeit nicht, und während
noch Prajdpati (10,121,10) und Vi$vakarman (10,81,7) Opfer
und Gebet nicht verschmähen, so enthält unser Hymnus keine
Spur davon, dafs der Purusha angerufen oder durch Opfer
geneigt gemacht werden könnte. — Vers 3 — 4. So grofs ist
seine Gröfse, dafs sie alles Seiende (Göttliches und Irdisches)
umfafst, aber sie ist noch gröfser; denn alle Wesen, die Götter
einbegriffen, sind nur ein Viertel von ihm; dasjenige hingegen,
was von ihm unsterblich (nicht wie die Götter, sondern im
absoluten Sinne) ist, ist noch dreimal so grofs, bildet drei
Viertel von ihm (tripdd Neutrum, prädikativ). Mit diesen
drei Vierteln ist er emporgestiegen (der Sphäre des Werden-
den entrückt), während das übrige Viertel hienieden als die
Gesamtheit der Wesen entstand (abhavat, den Gedanken in
v. 5 vorbereitend). Mit diesem Viertel hat er sich über alles
verbreitet, was sich nährt und nicht nährt (über die organische
und unorganische Natur). — ■ Vers 5 zeigt auch unsern Dichter
abhängig von der Vorstellung, der wir schon so oft begegneten;
und wenn es z. B. 10,72,4 hiefs, dafs aus Daksha Aditi und aus
Aditi weiterhin wieder Daksha geboren worden sei (vgl. oben,
S. 144), so sagt unser Dichter: „aus ihm (dem Purusha') wurde
Viräj geboren, und aus Virdj wieder der Purusha; dieser,
nachdem er geboren war, überragte die Erde von hinten und
vorne (von allen Seiten)". Purusha ist das erste Mal das Ur-
wesen (Adipurusha, wie Säy. richtig erklärt), das zweite Mal
der Erstgeborne (dem Hiranyagarbha 10,121,1, sowie dem
spätem Ndrdyana* entsprechend). Das Zwischenglied, die
Urmaterie, erscheint hier als Virdj (nach Säy. „der Leib des
Brahman-Eis", während der aus der Viräj geborne Purusha
von ihm als die dasselbe regierende, individuelle Seele auf-
gefafst wird). Virdj (bisher nur in der Bedeutung „glänzend",
„herrschend" sowie als Name eines Metrums vorkommend)
wird hier zur mythologischen Personifikation der Urwasser,
* Näräyana ist der Purusha als Erstgeborner, mag man es
nun mit den Indern als „auf den Wassern (d. h. der Viräj) gehend-' oder
wohl richtiger als „Sohn des Menschen (nara, purusha)11 erklären.
154 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
welche schon 10,121,9 „die grofsen, glänzenden" hiefsen und
(wohl im Anschlufs daran) hier als Viräj „die nach allen
Seiten Strahlende" bezeichnet werden.
Der zweite und dritte Teil des Gedichts (v. 6 — 10. 11 — 15)
zeigen, wie die Welt aus dem „vorher (v. 5) gebornen Puru-
sha" (jpurusham jdtcmi agratas, v. 7) gebildet wird, indem die
Götter denselben opfern. Das Opfer, diese höchste mensch-
liche Thätigkeit, wird zum Symbole, zum Vorstellungsbilde
der Art, wie die Welt entstand. Im übrigen darf man keine
Konsequenz der Anschauungen erwarten ; die Götter, Sädhya's
und Rishi's opfern den Purusha, während doch Sürya, Indra,
Agni und Väyu erst durch diese Opferung entstehen (v. 13);
nach v. 8 — 9 wird das Opfertier ganz verbrannt, während es
nach v. 11 fg. vielmehr zerstückelt wird; nach v. 11 — 12 ent-
stehen aus Mund, Armen, Schenkeln und Füfsen des Purusha
die vier Kasten, während nach v. 14 vielmehr aus Haupt,
Nabelgegend und Füfsen Himmel, Luftraum und Erde ent-
stehen. Man wird daher weder das Bild der Opferhandlung
noch die Einzelheiten zu sehr pressen dürfen und sich mit
dem allgemeinen Gedanken begnügen müssen, dafs die Welt
eine Umwandlung des Purusha ist, wobei die edelsten
Teile desselben zu den edelsten Elementen der Welt werden.
Vers 6. Als mit dem Purusha als Dargebrachtem (havis,
hier allgemein) die Götter ein Opfer anrichteten, da war der
Frühling das Opferschmalz (die erste Jahreszeit entspricht den
ö/ya-Spenden des Voropfers, vgl. Ind. Stud. 10,344. 332), der
Sommer das Brennholz (wegen der Hitze), der Herbst das
havis (hier speciell: Opferkuchen, der nebenbei auch beim Tier-
opfer dargebracht wird, Ind. Stud. 10,346); der Herbst zeitigt
die Gaben der Natur. So sind Frühling, Sommer und Herbst
die begleitenden Verhältnisse, unter denen der Purusha geopfert
wird, d. h. die Naturkraft sich entfaltet. — Hier würde mit
den Taittiriyaka's passend v. 15 einzuschieben sein, der das
Opferfeuer beschreibt (es hat 7 Einschlufshölzer und 21 Brenn-
hölzer, entweder wegen der besondern Bedeutsamkeit der Drei-
zahl und Siebenzahl [wie v. 1 der Zehnzahl] oder aus einem
besondern, mir unbekannten Grunde) und die Bindung des
Opfertiers (an den Opferpfosten) erwähnt, welche der Be-
Das Purushalied, Rigv. 10,90. 155
Sprengung desselben (v. 7) vorhergeht (Ind. Stud. 10,344). —
Vers 7 folgt sodann die Besprengung des Opfertiers (in der
Atharva-Recension im Anschlufs an die v. 4 erwähnten Jahres-
zeiten auf die Regenzeit, prävris/i, bezogen) und, wie wir hin-
zudenken müssen, die Schlachtung des Purusha. — Vers 8: Er
ist ein yajna sarvahut, wird ganz verbrannt; alle Teile seines
Leibes werden zur Weltbildung in Anspruch genommen. In-
dem er verbrennt, mischt sich der beim Braten ausfliefsende
Saft mit dem vorher (v. 6) ins Feuer geschütteten Opfer-
schmalze zu prishad-äjyam, und aus diesem, gleichsam aus
den Abfällen des Purusha, werden Lufttiere, Waldtiere und
Haustiere gebildet (cakre „man machte", gemeint sind die
Götter u. s. w. in v. 7). — Vers 9. Hingegen aus dem Leibe des
Purusha selbst werden die Ric, Säman, Chandas und Yajus
gebildet; hier haben wir bereits die Unterscheidung der drei
Veden, ja, wie es scheint, schon den Ansatz zu einem vierten
Veda. Dafs der Veda das erste Produkt der Schöpfung ist,
entspricht ganz den späteren Anschauungen darüber; denn
der Veda ist der vorweltliche Kanon, nach dessen Begriffen
sich die Schöpfung der Dinge richtet. — Vers 10 folgt die
Schöpfung der fünf obersten Tiere, derer, die oben und unten
Schneidezähne haben (iibhayädantas , Pferde und Esel, wenn
nicht der Mensch zu verstehen ist), und derer, die nur in der
untern Kinnlade Schneidezähne haben (anyatodantas , Rinder,
Ziegen und Schafe). — Nicht ganz zum Bilde des yajna
sarvahut v. 8 — 9 will es stimmen, wenn v. 11 — 12 von einer
Zerstückelung des Purusha (vyadadhuh) und einer Umbildung
seiner Teile (vyakalpayan) zu den vier Kasten die Rede ist.
Wie der Organismus des Leibes von dem Munde, kraft der
ihm entströmenden Rede, geistig geleitet, von den Armen
geschützt, von den Schenkeln gestützt und von den Füfsen
getragen wird, so der Organismus des brahmanischen Staates
von den Brahmanen, Kshatriya's (rdjanya), Vaicya's und
Qüdra's, welche hier zuerst, und einzig im Rigveda, erwähnt
werden. — Mit Verlassung dieses Bildes lassen v. 13 — 14 aus
dem Leibe des Purusha die Götter und die Teile des Uni-
versums hervorgehen; dafs dabei sein Auge zur Sonne, sein
Odem zum Winde wird, ist verständlich, ja eigentlich selbst-
156 L>ie Zeit der Hymnen des Rigveda.
verständlich; auch der Mund als Ursprung des Indra und Agni
(an welche beiden die meisten Hymnen des Rigveda gerichtet
sind) läfst sich leicht deuten; dafs endlich sein Manas zum
Monde wird, hat vielleicht seinen Grund darin, dafs die ruhige
Klarheit des Mondlichts (welches ja auch nach Goethe „die
Seele löst") als Symbol des Intellektuellen erschien. Weiter
werden in v. 14 das Haupt zum Himmel und die Füfse zur
Erde, während der Zwischenraum naturgemäfs aus den zwischen-
liegenden, sich um den Nabel gruppierenden Teilen (der hier
für sie alle steht) gebildet ist. Dafs die Ohren zu den Him-
melsgegenden werden, begreift sich, wenn wir uns erinnern,
dafs bei den Indern der Träger des Schalles der nach allen
Seiten sich ins Unendliche erstreckende Akdga ist. Mit den
Worten v. 14: „so bildeten sie die Welträume" gewinnen wir
einen passenden Sehlufs des Liedes, wenn wir v. 15 zwischen
v. G und 7 einschieben und v. 16 als spätem, erläuternden
Zusatz zu v. 6 — 7 aus Rigv. 1,1()4,50 betrachten.
Eigveda 10,90.
1 . Der Purusha mit tausendfachen Häuptern ,
Mit tausendfachen Augen, tausend Füfsen
Bedeckt ringsum die Erde allerorten ,
Zehn Finger hoch noch drüber hin zu fliefsen.
2. Nur Purusha ist diese ganze Welt,
Und was da war, und was zukünftig währt,
Herr ist er über die Unsterblichkeit, —
Diejenige, die sich durch Speise nährt.
3. So grofs ist diese, seine Majestät,
Doch ist er gröfser noch als sie erhoben ;
Ein Viertel von ihm alle Wesen sind,
Drei Viertel von ihm sind unsterblich droben.
4. Drei Viertel von ihm schwangen sieh empor,
Ein Viertel wuchs heran in dieser Welt,
Um auszubreiten sich als alles, was *
Durch Nahrung sich und ohne sie erhält.
5. Aus ihm, dem Purusha, ist die Viräj,
Aus der Viräj der Purusha geworden;
Geboren überragte er die Welt
Nach vorn, nach hinten und an allen Orten.
Das Purushalied, EUgv. 10,90. 157
6. Als mit dem Purusha als Darbringung
Ein Opfer Götter angerichtet haben,
Da ward der Frühling Opferschmalz, der Sommer
Zum Brennholz und der Herbst zu Opfergaben.
7. Als Opfertier ward auf der Streu geweiht
Der Purusha, der vorher war entstanden,
Den opferten da Götter, Selige
Und Weise, die sich dort zusammenfanden.
8. Aus ihm als ganz verbranntem Opfertier
Flofs ab mit Schmalz gemischter Opferseim,
Daraus schuf man die Tiere in der Luft
Und die im Walde leben und daheim.
9. Aus ihm als ganz verbranntem Opfertier
Die Hymnen und Gesänge sind entstanden,
Aus ihm auch die Prunklieder allesamt,
Und was an Opfersprüchen ist vorhanden.
10. Aus ihm entstammt das Hofs, und was noch sonst
Mit Schneidezähnen ist auf beiden Seiten,
Aus ihm entstanden sind die Kubgeschlechter,
Der Ziegen und der Schafe Sonderheiten.
11. In wie viel Teile ward er umgewandelt,
Als sie zerstückelten den Purusha?
Was ward sein Mund, was wurden seine Arme,
Was seine Schenkel, seine Füfse da?
12. Zum Brähmana ist da sein Mund geworden,
Die Arme zum Räjanya sind gemacht,
Der Vaicya aus den Schenkeln , aus den Füfsen
Der (jüdra damals ward hervorgebracht.
13. Aus seinem Manas ist der Mond geworden,
Das Auge ist als Sonne jetzt zu sehn,
Aus seinem Mund entstand Indra und Agni,
Vayu, der Wind, aus seines Odems Wehn.
14. Das Reich des Luftraums ward aus seinem Nabel,
Der Himmel aus dem Haupt hervorgebracht,
Die Erde aus den Füfsen, aus dem Ohre
Die Pole, so die Welten sind gemacht.
158 Die Zeit der Hymnen des Rigveda.
15. Als Einschlufshölzer dienten ihnen sieben,
Und dreimal sieben als Brennhölzer da,
Als, jenes Opfer zurüstend, die Götter
Banden als Opfertier den Purusha.
16. Die Götter, opfernd, huldigten dem Opfer,
Und dieses war der Opferwerke erstes;
Sie drangen mächt'gen Wesens auf zum Himmel ,
Da wo die alten, seligen Götter weilen.
Zweite Periode der indischen Philosophie:
Die Brähmanazeit.
(ca. 1000 — 500 a, C.)
I. Die Kultur der Brähmanazeit.
Den Hymnen des Rigveda verdanken wir das helle Licht,
in welchem der erste Akt der indischen Geschichte — das
Leben der Arya's im Pendschäb — und die altvedische Kultur
in allen ihren Zweigen vor uns liegt. Es folgt jetzt eine
dunkle Periode; der Vorhang über der indischen Geschichte
fällt, und nachdem er sich geraume Zeit, vielleicht ein paar
Jahrhunderte später, wieder gehoben hat, gewahren wir das
indische Volk in neuen Wohnsitzen und unter wesentlich ver-
änderten Lebensverhältnissen. Ähnlich wie in der altdeutschen
Kultur, die man treffend verglichen hat, auf das helle Bild
der Germania des Tacitus das Dunkel der Völkerwanderung
und nach derselben eine Gruppierung der germanischen Stämme
zu neuen Reichen mit veränderten Namen und Wohnsitzen
folgt, so findet die Zeit der Hymnen des Rigveda ihren Ab-
schlufs durch eine grofse, vielleicht Jahrhunderte dauernde
Wanderung und Schiebung der indischen Stämme nach Osten,
welche ohne Zweifel unter fortwährenden Kämpfen nicht nur
gegen die zu vertreibenden Urbewohner, sondern auch gegen
die nachrückenden arischen Bruderstämme erfolgt ist; auf einer
sagenhaften Rückerinnerung an diese Zeit beruht wahrschein-
160 Die Brähmanazeit.
lieh die Erzählung von dem Vernichtungskampfe zweier ari-
scher Stämme gegeneinander, der Kuru's und Pdndava\ welche
das Grundgewebe des Mahäbhäratam bildet. Die endliche
Folge dieser Wanderungen und Kämpfe ist die Verlegung
des Schwerpunktes der arischen Nation von dem Fünfstrom-
lande des Indus in die grofse, fruchtbare, schon teilweise der
Tropen weit angehörige Ebene der Gangä und ihrer Neben-
flüsse. Hier finden wir in der Brähmanazeit die Hauptmasse
der arischen Bevölkerung teils schon sefshaft, teils noch in
fortgesetztem Fortrücken nach der Gangesmündung zu be-
griffen, während gleichzeitig die indische Kultur anfängt, das
Hochplateau von Dekhan bis nach Ceylon hin zu umspannen
und in das Innere desselben allmählich einzudringen. Die
alten kleinen Königreiche, von denen die Hymnen des Rigveda
erzählten, sind verschollen, und an Stelle derselben finden
wir neue, meist gröfsere Völkerkomplexe, welche, von mäch-
tigen Oberkönigen (samräj) und ihren Vasallen despotisch
beherrscht, unter dem Namen der Kuru und Pancäla im
Westen, der Kofala und Videha im Nordosten, der Matsya,
Kä$i, Magadha und Anga im Südosten um den Ganges und
seine Zuflüsse gelagert erscheinen. Aber auch die innern Ver-
hältnisse sind gegen die Vorzeit wesentlich verändert, und
während das Kulturbild, wie wir es aus den Hymnen des
Rigveda gewannen (S. 72 — 77), nicht erheblich von dem ur-
sprünglichen Leben der übrigen indogermanischen Völker ab-
stach, so entwickelt sich, freilich aus den schon vorher vor-
handenen und nachweisbaren Keimen, in der Brähmanazeit
und in Hindostan jenes so originelle Gebilde der brahmanischen
Kultur und Lebensordnung, dessen Hauptzug das Kasten-
wesen und, auf Grund desselben, die Monopolisierung
des Kultus und der Erziehung durch die Brahmanen so-
wie die Regelung des Lebens durch die Acrama's oder
Lebens Stadien ist. Wir wollen versuchen, diese die ganze
spätere Entwicklung der Inder beherrschenden Verhältnisse
in der Kürze zu charakterisieren. (Vgl. zum Folgenden be-
sonders die wertvolle Zusammenstellung von Weber „Collec-
tanea über die Kastenverhältnisse in den Brähmana und Sütra",
Ind. Stud. X, 1—160.)
I. Die Kultur der ßrähmanazeit. 161
Der eigentümlichste und am meisten in die Augen springende
Zug der spätem indischen Kultur ist die Einteilung der ge-
samten Bevölkerung in die vier Kasten der BrähmanaV,
Kshatriya's, Vaicya's und Qüdra's. An sie schliefsen
sich eine Anzahl von Zwischenkasten, welche, teils durch das
nie-' ganz auszurottende Connubium, teils wohl auch durch
Vererbung der Berufsarten entstanden, mit der Zeit immer
zahlreicher geworden sind, im Altertume jedoch noch keine
grofse Rolle spielen, daher wir hier von ihnen absehen können.
Jene vier Hauptkasten also unterscheiden sich von den bei
allen Kulturvölkern und so auch schon in der rigvedischen
Zeit vorkommenden Ständen dadurch, dafs sie nicht durch
Wahl zu ergreifen, nicht durch Willkür oder Verdienst ab-
zuändern, sondern durch die Geburt gesetzte und für das
ganze Leben unübersteigliche Schranken sind, oder vielmehr
sein sollen, denn auch hier kommen Ausnahmen vor, wie denn
z. B. Vigvämitra, freilich nur infolge unerhörter asketischer
Leistungen, aus einem Kshatriya zu einem Brähmana wurde.
Im übrigen gilt als Gesetz, dafs nur auf dem Wege der Seelen-
wanderung durch besondere Verdienste die Erhebung in eine
höhere Kaste, durch Schuld das Herabsinken zu einer niedern
Kaste erfolgt. Hierauf deutet auch das Wort jdti „Kaste",
eigentlich „Geburt" hin (das Wort casta ist portugiesisch und
soll die „keusche", der Vermischung mit andern sich enthal-
tende Lebensstellung bedeuten), während der gewöhnlichste
und älteste Sanskritname für Kaste, varna „die Farbe", eine
Bestätigung der auch auf andern Gründen beruhenden Ver-
mutung enthält, dafs der Ursprung des Kastenwesens in einer
ursprünglichen Verschiedenheit der Volksrasse begründet ist.
Als nämlich die Arier erobernd im Gangesthaie vordrangen,
fanden sie dort eine dunkelfarbige (noch heute in den Ge-
birgen des Dekhan erhaltene) Urbevölkerung vor von barba-
rischer Sprache und fremdartiger Religion, und mutmafslich
ist der Name Qudra, welcher aus dem Sanskrit nicht erklär-
bar ist, der einheimische Name eines einzelnen Stammes oder
auch der Gesamtheit dieser Aboriginer, welche, durch die
Eroberer ihres Grundbesitzes beraubt, soweit sie nicht in die
Gebirge flüchteten, den arischen Staaten teils als wirkliehe
Deussen, Geschichte der Philosophie. I. 11
162 Die Brähmanazeit.
Sklaven, teils als besitzlose Tagelöhner einverleibt wurden.
Je gröfser unter diesen Umständen die Gefahr einer allmäh-
lichen Vermischung der Arya's mit den in dienender Stellung
unter ihnen wohnenden Cüdra's war, um so mehr drang die
Sitte und das Gesetz auf eine strenge Sonderung beider Rassen,
und so richtete sich zunächst zwischen Arya's und Qüdrds
eine Scheidewand auf, welche der Theorie nach für unüber-
steiglich galt, wenn sie auch in der Praxis oft genug über-
stiegen worden sein mag. Und selbst die Theorie hat sich
erst nach und nach gebildet und zeigt hier, wie auch in
manchen andern Punkten, ein vielfaches Auseinandergehen der
Ansichten; und während eine ältere, mildere Fassung jedem
Arya gestattet, zu dem Weibe der eigenen Kaste noch je
eines aus jeder der tiefer stehenden Kasten und so auch eine
Cüdra hinzuzunehmen, wobei die Kinder einfach der Kaste
des Vaters zugerechnet worden sein mögen, so verbietet die
spätere, strengere Fassung mehr und mehr jedes Connubiuin
der Kasten untereinander und weist die Kinder aus gemischten
Ehen den mit einem Makel behafteten Mischkasten zu. Im
übrigen war die strenge Scheidung der Arya's und Qüdfa's
durch den ursprünglichen Unterschied der Rasse, der Sprache
und der Religion schon von Anfang an gegeben; die Scheide-
wand brauchte nicht aufgerichtet, sondern nur erhalten zu
werden, und dies geschah, indem man die Cüdra's von jeder
höhern Lebensgemeinschaft und namentlich auch von der Re-
ligion ausschlofs. Qüdro yajne ''navaMiptah, „der Qüdra ist zum
Opfer nicht berechtigt", lautet die viel citierte Gesetzesformel.
Es ist verboten, den Cüdra's den Veda mitzuteilen, nur die
epischen Gedichte sind auch ihnen zugänglich. Auch der
rechtliche Schutz des Cüdra scheint ein sehr mangelhafter
gewesen zu sein; er ist, wie das Aitareya-brähmanam (7,29)
erklärt: „einem andern dienend, nach Belieben fortzujagen
und nach Belieben zu töten", und auch in Manu's Gesetzbuch
steht die Strenge, mit der jedes Vergehen des Cüdra gegen
den Arya geahndet wird, in auffallendem Gegensatze zu der
Milde der Sühnungen, mit welchen der Arya ein gegen den
Cüdra begangenes Verbrechen zu büfsen hat. Diese systema-
tische Unterdrückung der Cüdrakaste hat nicht hindern können,
I. Die Kultur der Brähmanazeit. 163
dai's in den indischen Staaten das Qüdra-Element immer zahl-
reicher und mit der Zeit immer mächtiger wurde, einerseits,
weil die eingeborne Rasse in Indien eine gröfsere Wider-
standskraft besitzen mochte, als sie z. B. die etwa auf gleicher
Kulturstufe stehenden Rothäute in Amerika dem Eindringen
der Weifsen gegenüber bewährt haben, anderseits, weil die
zunehmende Kolonisation und Brahmanisierung Indiens dazu
führte, grofse und immer gröfsere Bevölkerungskomplexe der
Cüdrakaste einzureihen. Wir werden uns daher nicht wundern,
wenn wir von Cüdra's hören, die zu grofsem Wohlstande ge-
langten, und wenn zuletzt sogar Könige, wie Candragupta
(315 — 291 a. C), aus ihrer Mitte hervorgehen. Mittlerweile
war auch von innen heraus, durch den Fortschritt der Phi-
losophie, das Kastenwesen im Princip überwunden worden.
Die Upanishad's lehren, dals jeder Mensch, mithin auch jeder
Cüdra, eine Verkörperung des Atman ist und durch Inne-
werdung dieser Wahrheit der Erlösung teilhaftig wird, und
es war eine blofse Umsetzung dieser Gedanken in die Praxis,
wenn Buddha sich mit seiner Predigt an alle, auch die Cüdra's,
wandte, woraus zum Teil sich die rasche Ausbreitung des
Buddhismus erklärt, bis nach dem Verfall desselben und der
Neuerstarkung des Brahmanismus auch die Kastenunterschiede
in verschärfter Form wieder geltend gemacht wurden.
So verständlich die ursprüngliche Scheidung der Bevöl-
kerung in Arya's und Cüdra's ist, so auffallend und merk-
würdig ist es, dafs das Princip der kastenmäfsigen Absonderung
weiter auch innerhalb der Arya's selbst Platz griff, indem über
die Gesamtmasse der Vaigya genannten arischen Nation sich
weiter die Kshatriya's, und Brdhmana's erhoben und sich von
ihnen wie auch von einander in ähnlicher Weise sonderten, wenn
auch lange nicht so schroff, wie die Vaicya's von den Cüdra's.
Dafs die Krieger und Priester sich der Masse des Volkes
gegenüber als besondere, privilegierte Stände betrachteten, ist
natürlich und findet bei allen Kulturvölkern sein Analogon;
aber dafs diese Stände sich zu Kasten (varna) verhärteten,
ist nur aus einem Übergreifen des bei der Absonderung der
Cüdra's leitenden Princips zu erklären. Daher unterscheidet
die brahmanische Staatsordnung nicht zwei, sondern vier värna'&i
11*
164 Die Brähmanazeit.
vier Farben, gleich als wäre die indische Nation aus vier von
Haus aus verschiedenen Rassen zusammengesetzt, und schon
das Purusha-Lied lehrt für Brahmanen, Krieger, Vaicya's
und Cüdra's einen völlig verschiedenen Ursprung, wenn es
dieselben aus dem Haupte, den Armen, den Schenkeln und
den Füfsen des Purusha entspringen läfst (oben S. 155),
während spätere Texte (offenbar nur in Ausdeutung des
Wortes varna) den vier Kasten sogar vier verschiedene Haut-
farben beilegen. Jedoch ging über dieser Sucht, Klassenunter-
schiede zu setzen, niemals das Bewufstsein einer engern Zu-
sammengehörigkeit der drei obern Kasten verloren; sie alle
drei sind dvija, „Zweimalgeborne", d. h. durch die bei Auf-
nahme in die brahmanische Gemeinde stattfindende Umgürtung
mit der Opferschnur (yajna-upavitam) gleichsam Wiedergeborne,
gehören also zur selben Religionsgemeinschaft und fahren auch
in dieser Zeit fort, den alten (oben S. 38. 74) Volksnamen Arya
(arya fromm, arya zu den Frommen gehörig, also ursprüng-
lich in religiösem Sinne gebraucht) zu führen: „der Arya ist
entweder Brähmana, oder Kshatriya oder Vaicya" (Catap. Br.
4,1,6 K., Ind. Stud. 10,4).
Von diesen befassen die Vaicya's (d. h. coloni, Ansiedler)
die Hauptmasse der arischen Bevölkerung, wie sie, mit Weib
und Kind, mit Herden und Gütern einwandernd, das von ihr
selbst unter Führung der Könige und Heerführer eroberte
Land in Besitz nahm und durch Ackerbau und Viehzucht,
durch Gewerbe und Handel bald zu grofsem Wohlstande ge-
langen mochte, freilich auch in eine ebenso grofse Abhängig-
keit von den leitenden Mächten, denen sie den Schutz gegen
die Cüdra's nach innen, o;effen die feindlichen Stämme nach
aufsen, sowie auch die Gunst der Götter zu verdanken hatte,
durch die alles irdische Gedeihen bedingt erschien. Die Auf-
gaben der Kolonisation einerseits, der fortgesetzt notwendigen
Verteidigung des Errungenen anderseits veranlasste eine be-
rufsmäfsige Scheidung des Nährstandes vom Wehrstande und
damit eine völlige Herrschaft des letztern über die Vaicya"s,
welche, durch friedliche Aufgaben und zunehmende Gemäch-
lichkeit des Lebens dem Dienste der Waffen entfremdet, ihre
Beschützunff und Vertretung bei den Göttern teuer genug
I. Die Kultur der Brähmanazeit. 165
bezahlen uiufsten und bald nur noch da zu sein schienen, um
von den beiden höhern Ständen ausgebeutet zu werden, oder,
wie ein übermütiges Brahmanenwort (Ait. Br. 7,29) es aus-
drückt, „andern Steuern zu zahlen, von andern verzehrt und
nach Belieben geschunden zu werden". Einen bestimmten
Teil ihres Einkommens, später in der Regel ein Sechstel,
mufsten sie dem Könige abgeben; zu höhern Stellen im
Staate konnten sie, wie es scheint, nicht gelangen; ein Vaicya
ist „auf dem Gipfel des Glückes angelangt" (gatacri), wenn
er es zum Dorfschulzen (grämani) gebracht hat (Taitt. Samh.
2,5,4,4).
Während in den Zeiten des Rigveda alle freien Männer,
Stamm neben Stamm, Dorfschaft neben Dorfschaft, in den
Kampf zogen, und die Hand, welche heute den Pflug führte,
morgen zu Bogen und Schwert griff, so vollzog sich, mit und
nach der Eroberung von Hindustan und in dem Mafse, wie
die Kolonisation des Landes einerseits, der Kriegsdienst ander-
seits kompliziertere Aufgaben stellte, eine Scheidung der Be-
völkerung: Ackerbau, Viehzucht und Handel blieb denVaicya's
überlassen, während die Kriegführung das Privilegium eines
besondern Standes und, nach Erblichwerdung der Berufsarten,
einer besondern Kaste, der Kshatriya's oder, wie der ältere
Name lautet, Räjanya' s wurde. Beide Namen (imperiales,
von kshi, kshatram und regii von räjan) sind gleichbedeutend
und deuten auf eine nähere Beziehung zum Könige hin, wel-
cher, selbst ein Kshatriya, die natürliche Spitze bildet, in
welche die Kriegerkaste ausläuft. An ihn schliefsen sich die
Prinzen des königlichen Hauses, die zahlreichen depossedierten
Fürsten und ihre Familien, die höhern und niedern Offiziere
des Heeres und endlich auch die Gemeinen, mögen sie zu
Wagen, zu Elefant, zu Rofs oder auch zu Fufs kämpfen;
denn die Vaicya' s müssen, wenigstens für die spätere Zeit,
vom Kriegsdienste ausgeschlossen gewesen sein, da schon Manu
ihnen denselben ausdrücklich verbietet (10,96; vgl. auch oben
S. 60), während er die Brahmanen unter gewissen Umständen
zu demselben zuläfst. So hatte sich, nicht unähnlich dem
Ritterstande des abendländischen Mittelalters, ein privilegierter
und erblicher Kriegsadel ausgebildet, welcher, vom Könige
166 Die Brähmanazeit.
mit Sold, Kriegsbeute, Ländereien u. s. w. reichlich bedacht,
auf die Vaicya's mit Geringschätzung herabsehen und sie die
materielle Übermacht wohl oft genug fühlen lassen mochte.
Ihre natürlichen Sammelpunkte hatten diese Kshatriya's an
den Höfen der Könige und kleinern Fürsten, und in fried-
lichen Zeiten werden sie nicht nur der Jagd und anderm
Sport, sondern auch geistigern Bestrebungen gehuldigt haben.
Namentlich scheint die geistige Revolution gegen den brah-
manischen Ceremonialkultus, welche zu den Upanishad's führte,
ursprünglich in Kshatriyakreisen entstanden und genährt wor-
den zu sein; denn immer wieder kommt in den Upanishad's das
Motiv vor, dafs ein Brahmane einen Kshatriya um Belehrung
angeht, welche dieser dann, nach einigem Sträuben und Hin-
weis auf die Ungehörigkeit der Sache, zu erteilen pflegt.
Hingegen hat sicherlich die Fortbildung der Upanishadlehre,
wie überhaupt alle höhere wissenschaftliche Thätigkeit, in den
Händen der Brahmanen gelegen.
Die Brähmana's, welche den Rang der obersten Kaste
nicht nur beanspruchten, sondern auch Fürsten und Völkern
gegenüber viele Jahrhunderte hindurch zu behaupten wufsten,
sind vielleicht das stärkste Beispiel in der Geschichte dafür,
wie sehr der Mensch durch metaphysische Vorstellungen, wenn
sie ihm nur glaubhaft beigebracht werden, in allem seinem
Wollen und Thun beeinflufst und regiert werden kann. Von
seinem abendländischen Analogon, von der päpstlichen Hier-
archie im Mittelalter, unterscheidet sich das Brahmanentum
dadurch, dafs es nie eine weltliche Herrschaft besessen oder
auch nur angestrebt hat, ja auch nie eine geschlossene Orga-
nisation, wie die römische Kirche, bildete, und doch, von
Anfang an ohne materielle Macht und ohne eine andere Ein-
heit als die der von ihm vertretenen Idee, eine Rolle im in-
dischen Kulturleben zu spielen gewufst hat, neben der die
des Papsttums im Mittelalter zahm und bescheiden erscheint.
Woher diese Idee, woher diese Übermacht der Brahmanen?
Ursprünglich sind dieselben, wie der Name brälimana, d. h.
„Beter", besagt, gewifs nichts andres, als wofür sie sich
selbst halten, nämlich die wirklichen oder vermeintlichen Nach-
kommen der alten Rishi's, welche vordem im Pendschäb die
I. Die Kultur der Brähmanazeit. 167
Hymnen des Rigveda gesungen hatten. Diese Hymnen, welche
niemals Gemeingut des Volkes wurden, sondern (wie die
Sammlung derselben noch heute beweist) in den Familien der
Sänger als Erbgut fortgepflanzt und erst später durch Aus-
tausch zu gröfsern Komplexen vereinigt wurden, gewannen
um so mehr an Ansehen, je weiter man sich zeitlich und
räumlich von ihrem Ursprung entfernt hatte, je dunkler ihre
Sprache und der ganze Vorstellungskreis, aus dem sie ent-
sprungen waren, dem Volke wurde; und als im Gewühl der
Auswanderungsperiode der Quell, aus dem sie entsprungen
waren, nach und nach versiegte, da bildete sich im Volke die
von den Brahmanen, den Inhabern jenes geistigen Schatzes,
gewifs auf alle Weise genährte Vorstellung aus, dafs nur durch
jene alten Lieder und die mit ihnen verknüpften Opferhand-
lungen der rechte Verkehr mit den Göttern möglich sei, von
deren Gunst wiederum alles irdische Glück, der Sieg über
die Feinde, das Gedeihen der Kinder und Herden, die Er-
langung von Reichtum, Ansehen und langem Leben abzuhängen
schien. Wenn man erwägt, dafs es zu jener Zeit im arischen
Gemeinwesen keine geistige Macht aufser dem Priesterstande
gab, dafs derselbe nur eine unwissende, durch das Kriegshand-
werk und die Aufgaben der Kolonisation vollauf in Anspruch
genommene Menge sich gegenüber sah, so wird verständlich,
wie die Brahmanen, durch geeignete Interpretation aller glück-
lichen und unglücklichen Wechselfälle des Lebens, den Glau-
ben an die Unentbehrlichkeit ihrer Lieder, Sprüche und
Ceremonien bei Fürsten und Unterthanen, bei Kshatriya's
und Vaicya's in dem Mafse zu befestigen wufsten, dafs ihr
Monopol der richtigen Götterverehrung zur stärksten Macht
des arischen Staates sich gestaltete. Keine kriegerische Unter-
nehmung, keine Königsweihe oder sonstige Haupt- und Staats-
aktion konnte ohne ihre Mitwirkung vollzogen werden, ja
auch bei allen wichtigern Akten des Familienlebens bean-
spruchten sie, in gröfserer oder kleinerer Zahl zugezogen, ge-
speist und beschenkt zu werden. Sie sind die Vertreter der
Götter auf Erden, die deväh pratyakshani, sie sind die Ver-
körperung des brahman, und in dem Mafse wie dieses über
alle Götter hinaus wuchs (wovon später), wurden alle Götter
1(58 Die Br&hmanazeit.
zu blofsen Werkzeugen in der Hand dos Brahmanen. „Der
Brahmane, der solches weifs, in dessen Gewall sind die
Götter" (f-ani/a <lcr<i axan uapg, Yaj. Sarah. 31,21), lautet ein
Ausspruch, Über den sich nur der aufregen kann, welcher iinsern
abendländischen, ethischen Gottesbegriff auf die indischen
Götter überträgt. Aber die Götter waren schon im Rievedn,
O ~ 7
wie wir sahen, nicht sowohl ethische Mächte, als vielmehr
reine Naturpotenzen, welche in weiterm Verlaufe unter den
Händen di'r Brahmanen zu einem ganz mechanischen Wirken
erstarrten und daher völlig in der Hand des kundigen Brah-
manen waren, wie ja auch eine sein' grofse und starke Ma-
schine einem einzelnen Manne gehorcht, wenn er sie kennt
und riohtig zu behandeln versteht. Früher waren die Götter
menschenartige Persönlichkeiten gewesen, deren Gunst man
durch Opfer und Gebet zu erlangen suchte, jetzt sind sie
blofse Werkzeuge, vermittelst derer der Brahmane einen ge-
wollten Erfolg oder auch dessen Gegenteil je nach Belieben
mit Sicherheit herbeizuführen vermag; will er daher seinen
Auftraggeber, den Yajamdna, schädigen, so genügl hierzu eine
geringe, dem Laien unmerkliche Änderung der Ceremonie, und
die Brahmanaschriften enthalten geradezu Anweisungen für
den Fall, dals i\w opfernde Brahmane, aus Rache oder wegen
zu kärglicher Bezahlung, den Schaden dessen, ilrv durch ihn
opfern läfst, herbeizufuhren wünscht; wohingegen dieser wie-
derum sich durch eine besondere Schwurhandlung, das Tänü-
naptrami) zu sichern sucht, bei welchem i\c\- Brahmane (unter
Anrufung des Agni Tanünapäf) gelobt, das Interesse des
Yajamaua. redlich zu vertreten. Auch ein beseholtener Brah-
mane kann durch richtige Handhabung des Ceremoniells die
gewünschte Wirkung erzielen; hingegen wird dasselbe in An
Hand eines N ieht brahmanen unwirksam, da nur ein Brahmane
den Opferlohn (dakshina) annehmen darf, ohne dessen Spen-
dung das Opfer seine Kraft verliert; auch sind die Brahmanen
allein im stände, den Soma zu trinken und den Opferresl
(ucchishtam) zu verzehren, daher nur sie die Stellung eines
Ritvij (gedungenen Opferpriesters) einnehmen können, in wel-
cher dieses erforderlich ist. Durch diese und andere Bestim-
mungen wufsten die Brahmanen alle Opferhandlungen, mit
I. Die Kultur der Brödrmanazeit, |r>(,l
Ausnahme der einfachsten, an ihre Mitwirkung zu knüpfen
und somit zu ihrem ausschliefslichen Monopol zu gestalten,
von dem sie ihren (nach <len Angaben über die dahehit^ä^
Opfergabe, zu schliefsen) sein- reichlichen Unterhalt hatten,
mochten sie nun als Purohita , d. h. angestellte Hauspriester
der'Fürsten, oder als Ritvij, d. h. Opferpriester, celebrieren,
welche von den begüterten Yajamäna's^ d. h. Veranstaltern
der Opfer, je nach Art derselben, in gröfserer oder geringerer
An/.;ilil zu engagieren und durch Itinder, (»old, Kleider u. S. W.
zu belohnen waren. So gehören (oben S. 50. ('>('>) zu einem
feierlichen Somaopfer, von den untergeordneten Oriizianten
abgesehen, vier Riivij, I) der Hotar (Rufer), welcher bei Be-
ginn des Opfers die Götter zum Genüsse desselben durch eine
längere Recitation einladet, 2) der Udgätar (Sänger), welcher
die heilige Handlung mit seinem Gesänge begleitet, 3) der
Adhva/ryUi welcher die Opferhandlung vollzieht, indem er da-
bei allerlei Sprüche und Verse murmelt, und I) (\cr Bralnndn
oder Oberpriester, welcher schweigend dasitzt, dem Gange
i\c,v Handlung folgt und um- eingreift, wo es etwas zu be-
richtigen giebt.
-Je komplizierter auf diese Weise der Gottesdienst wurde,
um SO mein- erforderte er (wie wir System des Vedänta
S. II fg. auseinandergesetzt haben und hier herübernehmen
wollen) eine spezielle Vorbildung, und dieses praktische Be-
dürfnis wurde mafsgebend für die Gestaltung der vedischen
Litteratur, — wenn man anders dieses Wort gebrauchen will
von einem Zustande, wo an irgendwelche schriftliche Aul-
zeichnung allerdings noch nicht zu denken ist. Nach und
nach bildete sich eine feste Tradition über die Verse und
Sprüche, mit denen der Adhvaryu seine Manipulationen zu
begleiten hatte (Yajumeda), sowie über die Gesänge, die der
[Jdgätar bei (\n- heiligen Handlung anstimmte (Sdmaveda) ;
endlich durfte auch der Hotar sich nicht mein' milder Kennt-
nis der in seiner Familie erblichen Lieder begnügen; die ein-
zelnen Liederschätze schlössen sich zu Kreisen (mandalam),
die Kreise zu einem Ganzen zusammen (Rigveda), welches
dann noch eine gewisse Zeil hindurch für neu hinzukommende
Produktionen offen blieb. — Nicht alle alten Lieder landen
170 Die Brähmauazeit.
in diesem Kanon Eingang; manche mochten ausgeschlossen
bleiben, weil man ihren Inhalt anstöfsig oder sonstwie nicht
geeignet fand, andere, weil sie, aus dem Volke entsprungen,
durch keine Autorität eines berühmten Sängergeschlechtes
empfohlen wurden. Zu ihnen gesellten sich immer noch neue
Blüten, welche der alte Stamm vedischer Lyrik in der Bräh-
mana-Periode trieb und die von dem veränderten Bewul'stsein
der Zeit deutlich Kunde geben. Aus diesen Materialien, die
sich längere Zeit aufserhalb der Schulen durch den Volksmund
fortpflanzen mochten (worauf ihre vielfache, besonders me-
trische, Verwahrlosung hindeutet), kam im weitern Verlaufe
eine vierte Sammlung (Atharvaveda) zu stände, welche lange
zu kämpfen hatte, ehe sie eine, immer noch bedingte, Aner-
kennung errang.
Inzwischen waren jene altern Sammlungen die Grundlage
eines gewissen Schulunterrichts geworden, der mit der Zeit
immer fester geregelte Formen annahm. Ursprünglich war
es der Vater, welcher seinen Sohn in dem von der Familie
überlieferten heiligen Wissen unterwies, so gut er es vermochte
(Brih. Up. 6,2,4. Chänd. Up. 5,3,5. Kaush. Up. 1,1), bald aber
mochte dies der zunehmenden Schwierigkeit des Verständ-
nisses der alten Texte, dem immer verwickelter sich gestal-
tenden Ritual, dem mehr und mehr sich erweiternden Studien-
kreise gegenüber nicht mehr genügen; man mufste die für
irgend eine der zu erlernenden Theorien (vidya) bewährten
Autoritäten aufsuchen, fahrende Schüler (caraka) reisten weit
umher (Brih. Up. 3,3,1), berühmte Wanderlehrer zogen von
Ort zu Ort (Kaush. Up. 4,1), und zu manchem Lehrer mochten
die Schüler strömen „wie die Wasser zu der Tiefe" (Taitt.
Up. 1,4,3). In der Folge erforderte es die Sitte, dafs jeder
Arya eine Reihe von (nach Apastamba, clharmasütra 1,1,2,16,
mindestens zwölf) Jahren im Hause eines Lehrers weilte, die
Brähmana's, um sich auf ihren künftigen Beruf vorzubereiten,
die Kshatriya's und Vaicya's, um die für ihr späteres Denken
und Leben mafsgebenden Einflüsse zu empfangen. Wir müssen
annehmen (vgl. Manu 2,241. Cank. ad Brih. Up. p. 345,13),
dafs das Erteilen dieses Unterrichts mit der Zeit ausschliefs-
liches Vorrecht der Brahmanen wurde: nur so erklärt sich der
I. Die Kultur der Brähmanazeit. 171
Einflufs ohnegleichen, welchen die Brahmanen auf das in-
dische Volksleben zu gewinnen und zu erhalten wufsten. Wie
die äufsere Tracht, so mag auch der Unterricht für die Schüler
aus den verschiedenen Kasten ein verschiedener gewesen sein
(vgl. Ait. Ar. 3,2,6,9, wo vorgeschrieben wird, eine gewisse
Lelire na apravaktre, keinem der nicht selbst Lehrer werden
will, mitzuteilen). Als Entgelt für diesen Unterricht ver-
richteten die Schüler die Haus- und Feldarbeit des Lehrers;
sie bedienten die heiligen Feuer (Chänd. Up. 4,10,1), hüteten
das Vieh des Lehrers (Chänd. Up. 4,4,5), sammelten für ihn
im Dorfe die üblichen Liebesgaben ein und brachten ihm am
Schlüsse des Kursus Geschenke dar. In der Zeit, die diese
mannigfachen Obliegenheiten ihnen frei liefsen (guroh karma-
atiqeshena, Chänd. Up. 8,15), wurde der Veda studiert, d. h.
versweise vom Lehrer vorgesagt und von den Schülern nach-
gesprochen, bis sie das Lehrpensum auswendig wufsten (vgl.
oben S. 101). Im Ganzen mochte es weniger eine Lehrzeit
als, wie der Name Agrama zu verstehen giebt, eine „Übungs-
zeit" sein, bestimmt zur Übung im Gehorsam gegen den
Lehrer (wovon exorbitante Beispiele überliefert werden, Ma-
häbh. I, 684 fg.) und in angestrengter, selbstverleugnender
Thätigkeit. Es lag in der Tendenz des Brahmanismus, das
ganze Leben der Brähmana's und womöglich aller Ärya's zu
einem solchen Acrama zu gestalten. Nicht alle gingen nach
Absolvierung der Lehrzeit dazu über, eine Familie zu gründen :
manche blieben im Hause des Lehrers bis an ihr Lebensende
(haishthika) ; andere zogen in den Wald, um sich Entbehrungen
und Kasteiungen hinzugeben; noch andere verschmähten auch
diese Form einer geregelten Existenz und warfen alles von
sich (samnyäsin) , um als Bettler (bhikshu) umherzuschweifen
(parivräjaka). Weiterhin Schlots man die verschiedenen Arten
des „Agrama" oder der „religiösen Kasteiung" zu einem Gan-
zen zusammen, in welchem dasjenige, was Ev. Matth. 19,21
als abrupte Forderung auftritt, zu einem grofsartigen, das
ganze Leben umspannenden Systeme ausgebreitet erscheint.
Darnach sollte das Leben jedes Brähmana, ja eigentlich das
eines jeden Dvija (denn eine Beschränkung auf die Brähmana' s
ist aus Manu VI nicht mit Sicherheit zu entnehmen), in vier
172 Diß Brähmanazeit.
Übungsstadien oder Agrama's verlaufen; er sollte 1) als Bra/i-
macdrin im Hause eines Lehrers leben, sodann 2) als Grihastlia
der Pflicht, eine Familie zu gründen, Folge leisten, hierauf
3) im Greisenalter dieselbe verlassen, um als Vdnaprastha
(Einsiedler im Walde) mehr und mehr zu steigernden Ka-
steiungen obzuliegen, und endlich 4) gegen Ende seines Lebens
als Samnyäsin (Bhikshu, Parivräjaka) aller Erdenbande ledig
umherzuwandern und von Almosen zu leben. — Wir wissen
freilich nicht, inwieweit die Wirklichkeit diesen idealen An-
forderungen entsprochen hat.
81. Die Brähmana s als philosophische Quellen.
Übertreibungen und Verschweigungen in denselben.
Die Philosophie, welche wir in den Hymnen des Rigveda
aufkeimen sahen und an der Hand der Begriffe Prajäpati,
Vigvakarman , Brahmanaspati und Purusha eine Strecke weit
verfolgen konnten (oben S. 103 — 158), hat einige Jahrhunderte
später zu dem grofsen und ausgeführten Zusammenhange theo-
logisch-philosophischer Gedanken geführt, welcher in den
altern Upanishad's vor Augen liegt. Zwischen den Hymnen
des Rigveda aber und den Upanishad's liegt ein Stück der
Entwicklung, für welches wir, in Ermangelung eigentlich philo-
sophischer Schriften, auf die Samhitä's des Yajurveda und
Atharvaveda (die des Sämaveda ist ohne Belang für uns, oben
S. 67) sowie namentlich auf die. Brähmana's und damit auf
ein Material angewiesen sind, welches unserer Aufgabe grofse
Schwierigkeiten in den Wes; legt.
Die Brähmana's sind (von den Upanishad's, in welche
sie als Schlufskapitel vielfach auslaufen, abgesehen) keine phi-
losophischen Urkunden; sie haben nicht eigentlich den Zweck,
über Gott, Welt und Seele Belehrung zu erteilen. Ihre Auf-
gabe ist es, den Gang der Opferhandlung in allen seinen
Einzelheiten zu lehren und die Bedeutung derselben zu erklären,
indem sie alle Materialien und Verrichtungen, die beim Opfer
vorkommen, symbolisch zu deuten bemüht sind, wobei dann
die Opfergeräte und Handlungen in mannigfache Beziehung
zu Himmel und Erde, zu göttlichen und menschlichen Dingen
IL Die Brährnana's als philosophische Quellen. 173
gesetzt werden. Hierdurch wird der Inhalt dieser umfang-
reichen Werke für uns allerdings sehr wenig ansprechend,
aber gewifs wären sie nicht die geistige Nahrung langer Zeit-
alter gewesen, mit diesem Eifer gepflegt, mit dieser Sorgfalt
zuerst mündlich, dann schriftlich von Geschlecht zu Geschlecht
überliefert worden, wenn nicht mehr in ihnen läge, als unsere
einseitige Stellung denselben abzugewinnen vermag. Wer
würde wohl über die Bedeutung, die Schönheit und den
ästhetischen Wert einer Oper abzuurteilen sich getrauen, von
der ihm nichts als das Textbuch bekannt wäre? Ein solcher
ästhetischer und das Gemüt erbauender Wert war aber ohne
Zweifel auch dem Kultus der Brahmanen eigen, und wir
können uns von dem Gepränge der Aufzüge, der Priester-
kleidungen und Geräte, von der Schönheit der Recitation und
des Gesanges, von der Feierlichkeit und Weihe der Handlung
keinen ausreichenden Begriff mehr machen. Was aber die
symbolischen Ausdeutungen und Identifikationen betrifft, die
freilich für unser Gefühl in das Spielende ausarten und oft
alles Mafs zu überschreiten scheinen, so ist doch nicht zu ver-
gessen, dafs dies alles nur die Kehrseite und praktische Um-
setzung eines Gedankens ist, dessen philosophische Bedeutung
uns noch beschäftigen wird, des Gedankens, dafs das, was der
Inder in dem Worte brahman zusammenfafst und in Opfer
und Gebet praktisch bethätigt, das Höchste und Edelste auf
der Welt, der Mittelpunkt alles Seins, ja das Princip aller Dinge
ist. So wenig wir somit geneigt sind, über der Litteratur der
Brährnana's als einem „theologischen Gefasel" und über dem
sie erzeugenden Zeitalter als einem geistlosen und in Formel-
kram erstarrten den Stab zu brechen, so sehr müssen wir
doch in der philosophischen Verwertung ihrer Angaben vor-
sichtig sein. Denn die Sucht, alles dabei symbolisch umzu-
deuten und auszudeuten, kennt, wie gesagt, keine Grenzen,
und wir dürfen nicht alles, wozu sich der Verfasser fortreifsen
läfst, als ernst gemeint und den Ausdruck einer philosophischen
Überzeugung nehmen. So klingt es sehr philosophisch und
wie ein erstes Aufdämmern des Upanishadgedankens , wenn
wir (^atap. Br. 4,5,9,2 lesen: „Prajapäti ist das Selbst (ätmä
vai Prajäpatih)", und Catap. Br. 4,5,9,8 sogar: „diese ganze
174 Die Brahmanazeit.
Welt ist das Selbst (sarvam vä idam dtmä jagat)'-'-; aber diese
Äufserungen verlieren sehr an Gewicht, wenn wir sie in dem
Zusammenhange auffassen, in dem sie stehen. Nämlich das
Catapatha-Brähmanam handelt im vierten Buche (dem soge-
nannten graha-kända) von den verschiedenen Schöpfungen
(graha), mittels deren der gekelterte und abfliefsende Soma-
trank in Gefäfsen aufgefangen wird, und deren jede ihre
mystische Bedeutung hat. Hierbei heifst es von der am vierten
Tage der zwölftägigen Somapressung zuerst vorzunehmenden,
ägrayana genannten Libation, 4,5,9,2: „dann schöpft er die
Spenden, indem er mit dem Ägrayana beginnt; denn dieser
vierte Tag gehört dem Prajäpati; nun ist die Ag raya/ia-Spende
das Selbst (ätman), das Selbst aber ist Prajäpati; darum
schöpft er die Spenden, indem er mit dem Ägrayana beginnt".
Ebenso heifst es beim neunten Tage, 4,5,9,8: „dann schöpft
er die Spenden, indem er mit dem Ägrayana beginnt; denn
dieser neunte Tag gehört der jagati (dem Metrum dieses
Namens); nun ist die Ägrayana- Spende das Selbst (ätman),
das Selbst aber ist diese ganze Welt (jagat, Wortspiel mit
jagati)', darum schöpft er die Spenden, indem er mit dem
Ägrayana beginnt". Es ist klar, dafs die hier vorkommende
Identifikation des Prajäpati und der Welt mit dem Ätman
keinen gröfsern Wert hat, als die danebenstehende des Ätman
mit dem Ägrayana; dafs wir es mithin hier nur mit symbolischen
Spielereien und nicht mit philosophischen Erkenntnissen zu
thun haben. In ähnlicher Weise wird in den Brähmana's
gelegentlich alles Mögliche mit allem Möglichen gleichgesetzt:
so ist allein im Catapathabrähmanam Prajäpati der Reihe
nach: das Weltall (1,3,5,10), der Ätman (4,5,9,2), die Soma-
pflanze (angu^ 4,6,1,1), der Mond (6,1,3,16), Hiranyagarbha
(6,2,2,5), der Präna (7,5,1,21), das Jahr und zugleich das Opfer
(11,1,1,1), das Jahr (11,1,6,13), das Opfer (11,1,8,3), Savitar
(12,3,5,1), das brahman (13,6,2,8). Diese Gleichsetzungen
können unmöglich alle ihre philosophische Bedeutung haben,
und doch können sie wiederum auch nicht alle unbeachtet
bleiben; darin liegt die Schwierigkeit. So klingt es, um nur
noch ein Beispiel anzuführen, höchst bedeutsam, wenn Qatap.
Br. 11,2.3,6 gesagt wird, dafs die Götter, anfangs sterblich,
II. Die Brähmana's als philosophische Quellen. 175
•es durch das Brahmän erlangt hätten, dafs sie unsterblich
geworden; aber dieser schöne, auf die Upanishadlehre hin-
deutende Gedanke verliert sehr, wenn wir uns erinnern, dafs
zehn Seiten früher 11,1,2,12 mit denselben Worten gelehrt
wird, dafs die Götter, anfangs sterblich, es durch das Jahr
(samvatsara) erlangt hätten, dafs sie unsterblich geworden.
Nun kann man sich zwar helfen, indem man samvatsara ==
Prajäpati = braliman setzt, aber eine besonnene Kritik wird
sich nicht wohl zu solchen luftigen, wiewohl durch die Bräh-
mana's selbst überall vorgenommenen Kombinationen ver-
stehen.
Bieten nach dieser Seite hin die Brähmana's für unsern
Zweck zu viel, so enthalten sie in anderer Hinsicht wieder
zu wenig, denn gewifs war das sie hervorbringende Zeit-
alter nicht ohne Philosophie, nur dafs diese in den Brähmana's,
ihrem Zwecke gemäfs, keine Aufnahme fand und nur in ge-
legentlichen und unsichern Aulserungen durchblickt; ja, wir
glauben nachweisen zu können, wie wirkliche philosophische
Gedankenvoll denBrähmana's aufgenommen, aber im Sinne ihrer
Opfersymbolik umgeändert und entstellt worden sind. Ein
schlagendes Beispiel bietet die aus der Käthaka-Upanishad
bekannte Geschichte des Naciketas, welche schon in einem
altern Texte, Taittiriya-Brähmanam 3,11,8 erzählt wird, und
zwar, wie wir glauben, in liturgischem Sinne entstellt, worüber
wir dem Leser selbst ein Urteil ermöglichen wollen, indem
wir diese uns ohnehin für einen spätem Zusammenhang not-
wendige Erzählung zunächst hier aus Taitt. Br. 3,11,8 wort-
getreu übersetzen.
Taittiriya- brähmanam 3,11,8,1 — -6.
„Freiwillig gab Yäjagravasa seine ganze Habe [den Bralimanen
als Opferlohn] dahin. Ihm war ein Sohn, mit Namen Naciketas.
Ihn, der noch ein Knabe war, überkam, da die Opferlohnkühe
fortgeführt wurden, der Glaube [an die durch Opfer nicht erreich-
bare Erlösung, wie in der Käthaka-Upanishad? oder nur an die
Wirksamkeit des Allhabe-Opfers?], und er sprach [der vergeblichen
Bemühung des Vaters spottend? oder, um das Allhabe-Opfer voll-
ständig zu machen?]: «Vater! wem wirst du mich geben?» — so
.sprach er zum zweiten-, zum drittenmal. Ihm antwortete [vom
X76 Diß Brähmauazeit.
Zorn] ergriffen der Vater: «Dem Tode gebe ich dich.» — Zu
diesem, nachdem er [vom Opfer] aufgestanden, spricht eine Stimme:
«Gautama! den Knaben!» — Da sprach er: «Gehe hin zu den
Wohnstätten des Todes; denn dem Tode habe ich dich gegeben.
Er wird aber, wenn du zu ihm kommst, verreist sein», fuhr er
fort, «und dann sollst du drei Nächte, ohne zu essen, in seinem
Hause weilen. Wenn er dich darauf fragt: 'Knabe, wie viele
Nächte hast du geweilt?' so sollst du antworten: 'drei!' Fragt er,
was du die erste Nacht gegessen? so antworte ihm: 'deine Nach-
kommenschaft'; was die zweite? 'deine Herden'; was die dritte?
'dein gutes Werk'.» — Als er nun zu ihm kam, war der Tod ver-
reist; er aber weilte drei Nächte, ohne zu essen, in seinem Hause.
Da traf ihn der Tod an und fragte: «Knabe, wie viele Nächte hast
du geweilt?» — Er antwortete: «drei!» — «Was hast du die erste
Nacht gegessen?» — «Deine Nachkommenschaft», sprach er. —
«Was die zweite?» — «Deine Herden.» — «Was die dritte?» —
«Dein gutes Werk.» — Da sprach der Tod: «Verehrung sei dir,
ehrwürdiger [Brahmane] ! Wähle ein Geschenk!» — «So lafs mich
lebend zum Vater wiederkommen.» — «Wähle noch ein Geschenk!» —
Er sprach : « so lehre mich die Unzerstörbarkeit [durch den Tod]
der Opfer und frommen Werke!» — Da lehrte er ihm jenes Naci-
ketas- Feuer; dadurch wurden seine Opfer und frommen Werke
nicht [durch den Tod] zerstört [ahsMyete falsche Form für aksM-
yetäm\. Dessen Opfer und fromme Werke werden nicht [durch den
Tod] zerstört, der das Naciketas-Feuer schichtet, und auch dessen,
welcher es also weifs. — «Wähle noch ein drittes Geschenk!» —
Da sprach er: «so lehre mich die Abwehr des Wiedersterbens!» —
Da lehrte er ihm jenes Naciketas-Feuer; damit, fürwahr, wehrte
er das Wiedersterben ab. Der wehrt das Wiedersterben ab,
der das Naciketas-Feuer schichtet, und auch der, welcher es also
weifs !" —
Diese Form der Erzählung unterscheidet sich von der in
der Käthaka-Upanisbad hauptsächlich dadurch, dafs dort als
Erfüllung des dritten Wunsches die Einheit der Seele mit
Brahman gelehrt wird, indem, wer diese kennt, von dem
Wiedersterben entbunden und der ewigen Erlösung teilhaft
wird. Hier hat die spätere Form der Käth. Up. den ur-
sprünglichen Sinn der Erzählung bewahrt , während die
ältere Form im Taitt. Br. dieselbe im liturgischen Interesse
entstellt hat. Denn offenbar mufs ursprünglich in den drei
IL Die Brähmana's als philosophische Quellen. 177
Wünschen eine Steigerung gelegen haben. Der erste bezieht
sich auf irdisches Wohlergehen. Der zweite auf die Ver-
geltung der guten Werke nach dem Tode; ist sie erfolgt, ist
der Schatz der guten Werke verbraucht, so mufs die Seele
zu einem neuen Le.ben und neuen Sterben auf die Erde
zurückkehren [akshiti ist daher nicht absolute Unvergänglich-
keit, sondern nur Fortbestehen über den Tod hinaus, da sie
das „Wiedersterben" nicht zu hindern vermag]. Dieser Wunsch
wird erfüllt durch Schichtung und Kenntnis des Naciketas-
Feuers, d. h. durch die richtige Ausführung des Opferdienstes.
Nun folgt der dritte Wunsch, welcher, mit der jenseitigen
Vergeltung und Wiederkehr zum Erdendasein nicht zufrieden,
nach dem Mittel fragt, das Wiedersterben abzuwehren. Dieses
Mittel aber kann nicht wiederum das Naciketas-Feuer sein,
eben weil es das Mittel zu dem zweiten Zwecke war, — ganz
abgesehen von der Sinnlosigkeit, die darin liegt, nochmals zu
lehren, was eben erst gelehrt worden — es mufs also wohl
hier schon in der ursprünglichen Erzählung die Lehre von
der ewigen Erlösung im Sinne der Upanishad's gestanden
haben, welche jedoch von dem Verfasser des Taitt. Br. als
zu seinen Zwecken nicht passend beseitigt und (plump genug)
durch die nochmalige Erwähnung des Naciketas-Feuers ersetzt
wurde. Wer aus der vorliegenden Gestalt einer Erzählung,
auch wo sie entstellt wurde, den ursprünglichen Sinn herauszu-
fühlen vermag, für den dürfte der Beweis erbracht sein, dafs
hier die philosophische Wendung die ursprüngliche war, die
vorliegende liturgische hingegen die sekundäre, im Geiste der
Brähmanatheorie, welche nichts Höheres als Werke und
Werklohn kennt, umgeänderte. — Ja, man kann in dieser
Umänderung eine bewufste Polemik gegen die aufkommende
Theorie der Erlösung durch das blofse Wissen finden. Der
Opferkultus genügt, um die Vergeltung der Werke im Jen-
seits zu sichern, der Opferkultus mufs auch für alle weiteren
Ziele des Menschen, dafern es solche giebt, genügen. Dies
ist der gegen den Upanishadstandpunkt polemisierende Stand-
punkt der Brähmana's.
Als ein anderes Beispiel für das Vorhandensein und
Durchschimmern philosophischer Gedanken in den Brähmana's,
Deüssen, Geschichte der Philosophie. I. 12
178 Die Brähinanazeit
so jedoch, dafs sie, dem Zwecke dieser Texte gemäfs, zurück-
gedrängt werden nnd halb latent bleiben, mag folgendes dienen.
Der Grundgedanke der spätem Upanishadlehre, die Identität
der Seele mit Gott, des individuellen Ätman (Selbstes) mit
dem höchsten Ätman, zerlegt sich in folgende drei Momente:
1) Von allen Gliedern, aus denen der Leib besteht, wird
unterschieden der Ätman (das Selbst, die Seele). 2) Von
allen Erscheinungen und Kräften, aus denen das Universum
besteht, wird in analoger Weise unterschieden der Ätman, das
Selbst der Welt. 3) Die Glieder des Universums werden
mit den Gliedern des Leibes parallelisiert und identifiziert:
und ebenso wird der höchste Ätman mit dem individuellen
Ätman als identisch gesetzt und als in ihm gegenwärtig er-
kannt. — Über die Durchführung und den philosophischen
Wert dieses Gedankens werden wir später handeln. Hier
wollen wir nur konstatieren, dafs eine der ältesten, möglicher-
weise die älteste Stelle, in der er uns entgegentritt, keine
philosophische, sondern eine rituelle ist. Nämlich Taitt.
Br. 3,10,8 ist von einer dem Todesgotte (Mrityu), um ihn
fern zu halten, darzubringenden Libation die Rede, deren
Rest der Priester trinkt und dabei unter andern folgende
Worte spricht: „Agni ist in meiner Rede beruhend, die Rede
im Herzen, das Herz in mir, ich im Unsterblichen, das Un-
sterbliche in dem Brahman." Ebenso heifst es weiter, indem
jedesmal der hervorgehobene Refrain wiederkehrt: „Väyu ist
in meinem Odem beruhend etc., Surya in meinem Äuge, der
Mond in meinem Manas, die Himmelsgegenden in meinem
Ohre, die Wasser in meinem Samen, die Erde in meinem
Leibe, die Kräuter und Bäume in meinen Haaren, Indra in
meiner Kraft, Parjanya in meinem Haupte, der Herr (icäna,
piva == Rudra) in meiner Zornmütigkeit, der Ätman in
meinem Ätman, der Ätman im Herzen, das Herz in mir, ich
im Unsterblichen, das Unsterbliche in dem Brahman.
Zurück soll mir der Leib, das Leben kommen,
Zurück der Odem und zurück Bewufstseiu;
Vaicvänara, durch seine Strahlen schwellend,
Bleib' in mir des Unsterblichen Berniter!" —
II. Die Brähmana's als philosophische Quellen. 179
Hier tritt der Gedanke auf, dafs, wie die Naturgötter in
meinen Gliedern, so der Atman in meinem Atman, die
Weltseele in meiner individuellen Seele* beruhend
sei, — aber gewifs haben wir hier nicht das erste Auftauchen,
sondern nur eine rituelle Verwendung dieses schon vorher
vorhandenen, hochbedeutsamen Gedankens vor uns.
Wir kommen zum Schlüsse. Die Brähmana's enthalten,
wie die angeführten Proben zeigen, für unsern Zweck teils
zu viel, teils zu wenig. Einerseits bemerken wir in ihnen
mafslose Übertreibungen, anderseits Verkümmerungen, Ent-
stellungen, ja Verschweigungen philosophischer Gedanken,
und unter diesen Umständen wird es allerdings eine sehr
problematische Aufgabe sein und noch lange bleiben, aus
diesen Urkunden die philosophische Weltanschauung des Zeit-
alters herauszuschälen und so die Brücke zu schlagen zwischen
der klar vorliegenden Philosophie des Rigveda und der ebenso
klar ausgebreiteten Upanishadlehre, selbst wenn man die
philosophischen Hymnen des Atharvaveda, bei denen ähnliche
Schwierigkeiten bestehen (unten S. 209 fg.), gebührend mit ver-
wendet. Vielleicht gelingt es noch einmal einem Specialforscher,
der in das weitschichtige Material tiefer eingedrungen ist, als
es uns bis jetzt möglich war, hier bestimmtere Aufschlüsse zu
gewinnen. Wir müssen uns mit allgemeinen Umrissen be-
gnügen, indem wir, anknüpfend an die Philosophie des Rig-
veda und die aus ihr hervorgegangenen Grundbegriffe Präjäpati,
Vigvakarman, Brahmanaspati und Purusha, die Entwicklung
dieser Begriffe zu verfolgen suchen bis zu dem Punkte, wo
sie in der Ätmanlehre der Upanishad's absorbiert werden.
Unter ihnen ist am wenigsten zu sagen von Vigvakarman, der
nur sporadisch auftritt und zumeist mit Prajäpati oder Brah-
manaspati zerfliefst; seine Gestalt war zu abstrakt, der Begriff
des „Allschöpfers" pafste zu sehr auf jedes andere schöpferische
Princip, um sich nicht mit Leichtigkeit in dasselbe aufzulösen,
und die Hymnen Rigv. 10,81. 82 waren zu dunkel und un-
populär, als dafs eine greifbare Gestalt auf ihnen sich hätte
* atman kann hier nicht wohl den Rumpf bedeuten, da gariram
„Leib" schon vorher da war.
12*
180 Die Brähmanazeit.
aufbauen können. Wir beschränken uns daher darauf, die
Geschichte des Prajäpati, Brahmanaspati und Purusha (an den
sich die verwandten Begriffe des Präna und Atman anschließen)
ihren allgemeinen Umrissen nach aus den Brähmana's und dem
Atharvaveda in der Kürze zu skizzieren. Als allgemeines
Schema und als Typus dieses Entwicklungsganges können drei
Worte aus dem Qatapathabrähmanam dienen:
1) Prajäpatir vcC idam agrcC äsit (11,5,8,1).
2) Brahma va1 idam agrcC äsit (11,2,3,1).
3) Atmä eva idam agraü äsit (14,4,2,1).
Wie diese Worte andeuten, durchläuft die Entwicklung der
Brähmanazeit drei in einander übergreifende Perioden, in deren
erster Prajäpati als Princip aller Dinge an der Spitze steht,
während er in der zweiten in den Hintergrund tritt vor dem
aus Brahmanaspati hervorgegangenen Begriff des Brahman,
bis in der dritten der aus dem Purusha abzuleitende Begriff
des Atman die Hegemonie übernimmt. Hiermit ist der Upani-
shadstandpunkt erreicht, für welchen Brahman und Atman
durchaus Synonyma sind, während Prajäpati nur noch gelegent-
lich und nebenbei vorkommt und in den Upanishad's eine
ähnliche Rolle spielt, wie ^&6<z und ^sol bei Piaton. Wir
nehmen also, ganz im allgemeinen betrachtet, ein zeitliches
Fortschreiten von dem Mythologischen (Prajäpati) zum Ri-
tuellen (Brahman), und von diesem zum Philosophischen
(Atman) an, und wenn von den • genannten drei Stellen die
über Prajäpati zufällig später als die über Brahman steht, so
ändert dies an der Sache nichts und mag nur dienen, uns zu
erinnern, clafs auf dem Gebiete der religiösen Entwicklung
das Alte in der Regel nicht beseitigt wird, sondern als ein
Unantastbares, wiewohl Abgestorbenes, neben dem Neuen sich
erhält; daher, wie das Neue Testament nicht mit dem Alten
aufräumt, so auch die Upanishad's nicht mit den Brähmana's,
wodurch dann die Jüngern und gereiftem Religionsurkunden
so viel des innerlich Widersprechenden und philosophisch
Unverdaulichen neben dem Grofsen und Neuen, welches sie
bieten, zu enthalten pflegen.
III. Geschichte des Prajäpati. 181
III. Geschichte des Prajäpati.
Der unbekannte Gott, der nach Rigv. 10,121 die Urwasser
schuf und selbst als goldner Keim aus ihnen hervorging, um
die Dinge zu schaffen, zu beseelen und zu regieren, dieser im
Schlufsverse mit dem Namen Prajäpati „Herr der Geschöpfe",
bezeichnete Gott, ist (auf Grund dieses Hymnus, wie wir
annehmen müssen) in der Brähmanazeit zum Princip aller
Dinge und zum obersten Gotte des vedischen Pantheons ge-
worden, welcher alle Wesen erschaffen hat, nicht sowohl in-
dem er sie aus sich heraussetzte, als vielmehr indem er sich
(oder einen Teil von sich) in dieselben umwandelte, und der
dann weiter die von ihm geschaffene, unsterbliche und sterb-
liche Welt innerlich beseelt und regiert. Weiter aber sehen
wir in den Brahma na' s mannigfache Versuche auftreten, über
Prajäpati hinauszukommen, teils indem man ihn aus einem
noch ursprünglichem Princip ableitet, teils indem man sein
Wesen im einen oder andern Sinne umzudeuten bemüht ist.
Wir wollen versuchen, diesen Entwicklungsgang, so weit wie
möglich, im einzelnen klar zu legen.
1. Prajäpati als Schöpfer.
„Prajäpatir akämayata: «.prajäyeyaj bhuyän syäm» iti. Sa
tapo Hapyata; sa tapas taptvä imän lokän asrijata." „Prajäpati
begehrte: «ich will mich fortpflanzen, will vielfach sein». Er
übte Tapas; nachdem er Tapas geübt, schuf er diese Wel-
ten." — Mit dieser oder ähnlichen Formeln wird an zahlreichen
Stellen der verschiedenen Brähmana's ein Hervorgehen der
Welt aus Prajäpati in immer neuen Variationen geschildert.
Und doch kommt es nirgendwo zu einer wirklich durchge-
führten Schöpfungstheorie, sondern die Sache läuft gewöhnlich
auf die Verherrlichung irgend eines Ritus hinaus, den Prajä-
pati geschaffen, oder dessen er sich gar zur Schöpfung der
Welt bedient haben soll. Um dies zu verstehen, müssen wir
uns erinnern, dafs die Brähmana's, so wenig sie philosophische,
ebensowenig auch mythologische, sondern vielmehr liturgische
Urkunden sind, welche eine Mythologie nicht sowohl lehren
als vielmehr voraussetzen und für ihre jedesmaligen Zwecke
182 III. Geschichte des Prajäpati.
mit grofser Freiheit dienstbar machen. Zur Veranschaulichung
dieses Verfahrens wollen wir einige Stellen aus den ver-
schiedenen Brähmana's mitteilen und nur vorher noch die
Frage zu beantworten suchen: was heilst jenes so oft vor-
kommende: sa tapo atapyata, was ist jenes tapas, durch dessen
Ausübung der Schöpfer sich zur Weltschöpfüng anschickt? —
Die älteste Philosophie denkt in Bildern und Symbolen. Nun
giebt es für die erste Schöpfung der Dinge, für das Hervor-
gehen der Mannigfaltigkeit der Dinge aus einem einheitlichen,
homogenen Urgründe kein so nahe liegendes Beispiel und
Symbol in der Natur wie das Hervorgehen des mannigfach
gegliederten Vogels aus dem scheinbar ganz homogenen Ei
unter dem blofsen Einflüsse der Bruthitze. Daher die schon
Rigv. 10,129,3 von uns nachgewiesene und in der Folgezeit
unzähligemal wiederholte Vorstellung von dem Weltei, dessen
beide Schalen zu Himmel und Erde werden; und daher
die im Zusammenhang mit ihm auftretende Vorstellung (zu
Rigv. 10,129,3, oben S. 122) von der Thätigkeit des Schöpfers
als einer Ausbrütung dieses Welteies, welches er als Hiran-
yagarbha (oben S. 130) selbst ist. Ist dieser Gesichtspunkt
der richtige, so wird die genaueste Übersetzung des tapo
atapyata heifsen müssen: „er erhitzte sich in Erhitzung" in
dem Sinne von „er brütete Brütung", nur dafs hier Brütendes
und Gebrütetes nicht zwei, sondern ein und dasselbe Wesen
sind, welches die Hitze (tapas), die zu seiner Ausbrütung er-
forderlich ist, nicht von aufsen empfängt, sondern aus sich
selbst erzeugt. Nun aber in dem Mafse, wie der Begriff tapas
(Hitze) im heifsen Indien zum Symbol der Anstrengung und
Qual wurde, spielte auch jenes tapo atapyata über in den Be-
griff der Selbstkasteiung und trat dadurch in Zusammenhang
mit der Vorstellung, der wir noch begegnen werden, dafs die
Schöpfung von seifen des Schöpfers ein Akt der Selbstent-
äufserung ist. Beide Vorstellungen also, die der Bebrütung
und die der Selbstkasteiung, werden wir immer gegenwärtig
halten müssen, wo von dem tapas die Rede ist in den Stellen,
die wir als Proben der brahmanischen Kosmogonie aus den
verschiedenen Brähmana's hier mitteilen wollen.
1. Prajäpati als Schöpfer, Ait. Br. 5,32. 183
Aitareya-brähmanam 5,32.
„Prajäpati begehrte: «ich will mich fortpflanzen, ich will
mehrfach sein». Er erhitzte sich (tapo 'tapyata); nachdem er sich
erhitzt, schuf er diese Welten: die Erde, den Luftraum, den Himmel.
Diese Welten überbrütete er (abhyatapat); aus ihnen, nachdem sie
überbrütet, entstanden die drei Lichter: nämlich Agni aus der
Erde, Yäyu [der Wind als Vertreter des hellen Luftraums] aus
dem Luftraum, Aditya aus dem Himmel. Diese Lichter überbrütete
er; aus ihnen, nachdem sie überbrütet, entstanden die drei Veden,
nämlich der Rigveda aus Agni, der Yayurveda aus Väyu, der Säma-
veda aus Aditya. Diese Veden überbrütete er; aus ihnen, nach-
dem sie überbrütet, entstanden die drei Klarheiten, nämlich bhür
aus dem Rigveda, Wmvar aus dem Yajurveda, svar aus dem Säma-
veda. Diese Klarheiten überbrütete er; aus ihnen, nachdem sie
überbrütet, entstanden die drei Buchstaben (varna), nämlich a, u,
m. Diese fafste er in eins zusammen, das war das Wort Om.
Darum summt [der Priester] Om! Om! Denn Om ist die Himmels-
welt, Om ist er, der dort glüht [die Sonne]. Dann breitete Pra-
jäpati das Opfer aus; das ergriff er und opferte es. Mit dem
Rigveda vollzog er den Hotardienst, mit dem Yajurveda den
Adhvaryudienst, mit dem Sämaveda den Udgätardienst; was an
dieser dreifachen Wissenschaft die Klarheit ist, daraus machte er
den Brahmändienst" u. s. w. [Es folgt dann Weiteres über den
Gebrauch von bliur, bhuvar, svar, um Mifsgriffe beim Opfer wieder
gxxt zu machen.]
Pancavinga - brähmanam 6, 1.
„Prajäpati begehrte: «ich will vieles sein, will mich fort-
pflanzen». Da erschaute er diesen Agnishtoma [eine liturgische
Handlung]; den ergriff er, mit dem schuf er diese Geschöpfe.
Nämlich mit dem elften Lobgesange, der beim Agnishtoma vor-
kommt, schuf er sie und mit dem elften Monate des Jahres, und
ebendieselben nahm er in Pflege durch den zwölften Lobgesang
des Agnishtoma und durch den zwölften Monat des Jahres. Daher
die Geschöpfe, nachdem sie zehn Monate die Leibesfrucht getragen,
gebären sie um den elften; darum halten sie es den zwölften nicht
durch ; denn im zwölften wurden sie in Pflege genommen. Darum,
wer solches weifs, der nimmt die gebornen Geschöpfe in Pflege
und zeugt der gebornen noch weitere. Von diesen, da er sie in
Pflege nahm, entlief ihm die Mauleselin; er sprang ihr nach und
nahm ihren Samen weg; den verpflanzte er in die Stute, daher
184 -HI- Geschichte des Prajäpati.
die Stute zweisamig ist. Daruni ist die Mauleselin unfruchtbar;
denn der Same ist ihr weggenommen. Darum eben ist sie auch
nicht als Opferlohn zu geben. Denn weil sie bei dem Opfer [des
Prajäpati] überschofs, darf sie nur bei dem Überschüssigen Opfer-
gabe sein, gemäfs der Entsprechung, und bei dem [letzten] Lob-
gesang des sechzehnteiligen Opfers gegeben werden; denn das
sechzehnteilige Opfer ist [um eins] überschüssig; beim überschüssigen
also mag man die Überschüssige spenden. — Da begehrte er: «ich
will das Opfer schaffen!» Da schuf er aus seinem Munde das
dreigeflochtene [aus Rigv. 9,11 durch Verflechtung der Verse 1. 4.
7. 2. 5. 8. 3. 6. 9. gebildete] Loblied; ihm nach wurde geschaffen
die Gäyatri als Metrum, Agni als Gottheit, der Brahmane als Mensch,
der Frühling als Jahreszeit. Darum ist das dreigeflochtene der
Mund [das Erste] unter den Loblieder-n, die Gäyatri unter den
Metren, Agni unter den Göttern, der Brahmane unter den Menschen,
der Frühling unter den Jahreszeiten. Darum übt der Brahmane
seine Wirksamkeit durch den Mund; denn aus dem Munde ist er
geschaffen. Der übt Wirksamkeit durch den Mund, wer solches
weifs. — Da schuf er aus seiner Brust, nämlich seinen Armen, das
fünfzehnfache Loblied; ihm nach wurde geschaffen die Trishtubh
als Metrum, Indra als Gottheit, der Räjanya als Mensch, der
Sommer als Jahreszeit. Darum gehört dem Räjanya das fünfzehn-
fache Loblied, die Trishtubh als Metrum, Indra als Gottheit, der
Sommer als Jahreszeit. Darum auch übt er seine Wirksamkeit
durch die Arme; denn aus den Armen ist er geschaffen. Der übt
Wirksamkeit durch die Arme, wer solches weifs. — Da schuf er
aus seiner Mitte, nämlich seinem Zeugungsgliede, das siebzehnfache
Loblied ; ihm nach wurde geschaffen die Jagati als Metrum , die
Vicve Deväs als Gottheit, der Vaicya als Mensch, die Regenzeit
als Jahreszeit. Darum vergeht der Vaicya nicht, soviel auch an
ihm gezehrt wird; denn er ist aus dem Zeugungsgliede geschaffen.
Darum ist er auch reich an Vieh; denn er gehört den Vicve Deväs
an und der Jagati, und die Regenzeit ist seine Jahreszeit. Darum
sollen Brahmanen und Räjanya's an ihm zehren, denn zum Unter-
than ist er erschaffen. — Da schuf er aus seinen Füfsen, nämlich
aus seinem Untergestell, das einundzwanzigfache Loblied; ihm nach
wurde geschaffen die Anushtubh als Metrum, gar keine als Gott-
heit, der Cüdra als Mensch; daher der Cüdra, auch wenn er viel
Vieh hat, doch nicht opferfähig ist, denn er ist ohne Gottheit,
denn ihm nach wurde gar keine Gottheit geschaffen. Darum kann
er nicht höher als bis zum Füfsewaschen befördert werden . denn
1. Prajäpati als Schöpfer, Taitt. Br. 2,1,6. 185
aus den Füfsen ist er geschaffen. Darum ist das einundzwanzig-
fache unter den Lobliedern das Untergestell; denn aus dem Unter-
gestelle ist es geschaffen; darum darf die Anushtubh mit den
übrigen Metren ihren Platz nicht tauschen; damit auseinanderge-
halten bleibe das Schlechte und das Bessere. Dem wird zu teil
Auseinanderhaltung des Schlechten und des Bessern, der solches
weifs."
Taittiriy a - brähmanam , 2,1,G.
„Prajäpati begehrte: «möge mir ein Selbsthaftes werden!))
Da opferte er, und es wurde ihm ein Selbsthaftes, nämlich Agni,
Väyu und Äditya. Die sprachen: «Prajäpati hat geopfert, damit
ihm ein Selbsthaftes werden möge, und wir sind ihm geworden.
Möge denn auch uns ein Selbsthaftes werden!» so sprachen sie
und opferten für die Lebenshauche Agni, für den Leib Väyu, für
das Auge Aditya. Da entstand aus ihrem Geopferten eine Kuh.
Um deren Milch gerieten sie in Streit, denn sie sprachen: «aus
meinem Geopferten ist sie entstanden, — nein, aus meinem ! » Sie
gingen, den Prajäpati zu befragen. Und Aditya sprach zu Agni:
«wenn einer von uns beiden obsiegt, so soll sie uns beiden ge-
meinsam gehören.» Prajäpati sprach: «wofür hat der eine, wofür
der andere geopfert?» — «Ich für die Lebenshauche», sprach
Agni. «Ich für den Leib», sprach Väyu. «Ich für das Auge»,
sprach Aditya. — Er sprach: «wer für die Lebenshauche geopfert
hat, aus dessen Geopfertem ist sie entstanden; sie ist aus dem
Geopferten des Agni entstanden». — Das ist das Agnihotrasein
(das Wesen) des Agnihotram. Eine Kuh ist das Agnihotram. Wer
solches weifs, dafs das Agnihotram eine Kuh ist, der macht für
seinen Einhauch und Aushauch den Agni gedeihen. Nicht unge-
deihend ist an Einhaucb und Aushauch, wer solches weifs. — Zu
den beiden sprach Väyu: «lafst mich teilnehmen!» — Sie sprachen:
«was [von der Milch], wenn man sie auf dem Gärhapatyafeuer
aufgesetzt hat, zu dem Ahavaniyafeuer hinläuft (lies: abhyuddrtivat),
damit erfreut man dich». — Darum, wenn man sie auf dem Gär-
hapatyafeuer aufgesetzt hat, so läuft sie zu dem Ahavaniyafeuer
hin; damit erfreut man den Väyu. — Prajäpati also, da er die
Götter schuf, hat den Agni als erste der Gottheiten geschaffen.
Dieser, da er kein anderes Opfertier zum Schlachten fand , kehrte
sich gegen den Prajäpati. Der fürchtete sich vor dem Tode.
Darum schuf er aus seinem Selbst (Leibe) jene Sonne. Die
opferte jener und liefs von ihm ab. So wehrte Prajäpati den Tod
ab. — Der wehrt den Tod ab, wer solches weifs. Darum auch,
186 III. Geschichte des Prajapati.
wenn sie für einen, der solches weifs, sei es einen Tag, sei es zwei
Tage, nicht opfern, so ist von ihm doch geopfert; denn jene Sonne
ist sein Agnihotram."
Taittiriya-brahmanam 2,2 ,7.
„Prajapati schuf die Geschöpfe; diese, nachdem sie geschaffen,
klumpten zusammen. Da ging er in sie ein mit der Gestalt (rnpam);
darum sagt man: fürwahr, Prajapati ist die Gestalt. Da ging er
in sie ein mit dem Namen (tmman); darum sagt man: fürwahr,
Prajapati ist der Name. [Vgl. das spätere nämarüpam, Erschei-
nungswelt.] Darum auch zwei Feinde, die zusammentreffen, wenn
sie sich mit dem Namen anrufen, so werden sie Freunde [sie erinnern
sich, dafs sie gleichen Wesens, dafs sie beide Menschen sind]. —
Prajapati hatte die Götter und Dämonen erschaffen; den Indra
aber hatte er noch nicht erschaffen. Da sprachen die Götter zu
ihm: «schaffe uns den Indra!» Da erschaute er in seinem Selbst
(Leibe) den Indra. Den schuf er, und in den ging die Trishtubh
als Tapferkeit ein, und der fünfzehnspitzige Donnerkeil kam in
seine Hand; mit diesem bewaffnet streckte er sie aus und über-
wältigte die Dämonen. Wer solches weifs, der überwältigt seine
Nebenbuhler. Die Götter, nachdem sie [im Kampfe] mit den
Dämonen gesiegt hatten, gingen ein in die Himmelswelt. Aber
sie litten Hunger in jener Welt und sprachen: «von dort her
kommt die Opfergabe; wie (als welche) sollen wir [ohne sie hier]
leben!» Da schufen sie das Opfer mit sieben Priestern und sandten
den Ayäsya Angirasa aus, damit er es dort unten für sie ein-
richtete. Fürwahr, dieses hier ist seine Einrichtung. Alles was
in der Welt ist, wer solches weifs, dem fällt es zu. Dieses, für-
wahr, ist unter den Menschen das Opfer mit sieben Priestern; und
den Göttern, welche in jener Welt sind, führt es die Opfergabe
zu. Wer solches weifs, dem neigt das Opfer sich zu. Er aber
[Ayäspct] erwog: «gewifs werden die Menschen nun sich aus dieser
Welt nach jener Welt hinsehnen». Da sprach er den Spruch :
Väcaspate, hricl(vidhe näman), «o, Redeherr, Herz(-ordnender ge-
nannt», anders Maitr. Käth.). Darum ist der Sohn das Herz.
Darum sehnen sie sich nicht aus dieser Welt nach jener Welt hin.
Denn der Sohn ist das Herz" [Polemik der Brähmana's gegen die
aufkommende Weltfluchtlehre der Upanishad's].
Qatapatha - brdhmanam , 2,2,4.
„Prajapati war diese Welt zu Anfang nur allein; der erwog:
«wie kann ich mich fortpflanzen?» Er mühte sich ab, er übte
1. Frajäpati als Schöpfer, Qatap. Br. 2,2,4. 187
Tapas; da erzeugte er aus seinem Munde Agni (das Feuer); weil
er ihn aus seinem Munde erzeugte, darum ist Agni Speiseverzehrer.
Wer also diesen Agni als Speiseverzehrer weifs, der wird selbst
ein Speiseverzehrer." -Es folgt eine etymologische Erklärung des
"Wortes agni. — „Prajäpati erwog: «als Speiseverzehrer habe ich
diesen Agni aus mir erzeugt; aber es ist hier nichts andres aufser
mir vorhanden, was er essen könnte [na pleonastisch] » ; denn die
Erde war damals ganz kahl beschaffen; es gab keine Kräuter und
keine Bäume; das war ihm in Gedanken. Da kehrte sich Agni
mit aufgerissenem Rachen gegen ihn. Von ihm, da er sich fürchtete,
entwich die ihm eigene Gröfse; die Rede (väc) nämlich ist an ihm
die ihm eigene Gröfse; die Rede also entwich von ihm." (Er-
klärung , warum die Handflächen ohne Haare sind. Etymologie
von osliadM Pflanze; sodann von dem Opferrufe scähä:) „Da sprach
zu ihm die ihm eigene Gröfse: «opfere!» und Prajäpati erkannte:
«die mir eigene (sva) Gröfse hat zu mir gesprochen (äha)y>; und
er opferte mit dem Rufe svähä; darum wird mit dem Rufe svähä
geopfert. Darauf stieg Er empor, der dort glüht (die Sonne);
darauf erhob sich Er, der hier läutert (der Wind). Da wandte
sich Agni von Prajäpati weg. So hat also Prajäpati dadurch, dafs
er opferte, sich fortgepflanzt und zugleich vor dem Tode, der als
Agni ihn fressen wollte, sich selbst gerettet; wer das Agnihotram
opfert, indem er es also weifs [nämlich als Agni-ho-tram, „Rettung
vor dem Feuer durch Opfern"], der pflanzt sich mit derselben
Nachkommenschaft fort, mit der Prajäpati sich fortpflanzte, und
rettet ebenso wie er sich selbst vor dem Tode, wenn er als Agni
ihn fressen will. Wenn nun einer stirbt, und wenn sie ihn auf
das Feuer legen, dann wird er aus dem Feuer wieder geboren;
denn nur seinen Leib verbrennt das Feuer, aber wie man von
einem Vater oder einer Mutter geboren wird, also wird er aus dem
Feuer wieder geboren; aber durchaus nicht wieder ersteht*, wer
das Agnihotram nicht opfert; darum ist das Agnihotram zu opfern."
[Weiter von der Entstehung der Kuh und dem Streit um ihre
Milch, ähnlich wie Taitt.. Br. 2,1,6, oben S. 185.]
Qatapatha - brähmanam 2,5, 1, 1.
„Prajäpati war diese Welt zu Anfang nur allein. Er erwog:
«wie kann ich mich fortpflanzen?» Er mühte sich ab, er übte
* Hier ist noch keine Seelenwanderung, wohl aber ein erster Ansatz
zu dieser Lehre.
188 HI- Geschichte des Prajäpati.
Tapas, da schuf er Geschöpfe. Diese Geschöpfe, die er geschaffen,
gingen zu Grunde; es waren so Vögel; nämlich der Mensch steht
dem Prajäpati am nächsten, der Mensch aber ist zweifüfsig, darum
sind die Vögel zweifüfsig. Da erwog Prajäpati: «so wie ich vor-
her allein war, so bin ich auch jetzt noch allein)). Und er schuf
abermals Geschöpfe; und auch die gingen ihm zu Grunde; es war
so kleines Kriechzeug, ohne die Schlangen. Und er schuf zum
drittenmal Geschöpfe, so sagen sie; und auch die gingen ihm
zu Grunde; es waren so Schlangen. Diese [erstgeschaffenen] hat
allerdings Yäjnavalkya für zweifach erklärt, für dreifach hingegen
erklärt sie [der Rishi] durch einen Vers [Rigv. 8,101,14, s. u.].
Prajäpati, lobsingend und sich abmühend, erwog: «wie kommt es,
dafs mir diese Geschöpfe, nachdem sie geschaffen, zu Grunde
gehen?» Da erkannte er dieses: «weil sie nichts zu essen haben,
gehen die Geschöpfe mir zu Grunde». Da liefs er aus sich zuvor
in den Brüsten Milch quellen; und dann schuf er Geschöpfe; diese
Geschöpfe, nachdem er sie geschaffen, indem sie zu seinen Brüsten
gelangten, so blieben dieselben weiterhin bestehen, und diese
gingen nicht zu Grunde. Darum ist dieses von dem Rishi (Rigv.
8,101,14) gesprochen worden: «Vorüber gingen dreimal die Ge-
schöpfe», nämlich die, welche zu Grunde gingen, von denen ist
dieses gesagt; «doch andre lagerten rings um den Glanz sich»;
nämlich der Glanz ist Agni, und jene Geschöpfe, welche nicht
wieder zu Grunde gingen, die lagerten sich rings um den Agni,
auf sie bezieht sich dieses; « grofsmächtig stand er in der Wesen
Mitte», dies bezieht sich auf Prajäpati ; «ein ging er, der da läutert,
in die Falben»; die Falben sind die Himmelsgegenden; in sie ging
er, der da läutert, nämlich der Wind, ein. Von ihnen also ist
dieser Vers gesprochen worden. Und nun werden die Geschöpfe
hier in derselben Weise geboren, wie Prajäpati sie geschaffen hat.
Denn so ist es: wenn einem Weibe die Brüste schwellen oder den
Tieren das Euter, dann wird geboren, was geboren wird; und in-
dem sie sodann an die Brüste gelangen, bleiben sie bestehen.
Darum ist die Nahrung die Milch; denn diese hat zu Anfang
Prajäpati als Nahrung hervorgebracht; und darum sind die Ge-
schöpfe Nahrung, denn durch Nahrung bestehen sie; nämlich bei
denen, welche Milch haben, gelangen sie an die Brüste, und davon
bestehen sie; die aber, welche keine Milch haben, die ätzen die
Gebornen, darum bestehen dieselben aus Nahrung, darum sind die
Geschöpfe Nahrung."
1. Prajäpati als Schöpfer, Qatap. Br. 7,5,2,6. 189
Qatapatha - brähmanam 7,5,2}6 fg.
„Prajäpati war diese Welt zu Anfang nur allein. Er be-
gehrte: «ich will Nahrung schaffen, will mich fortpflanzen». Da
schuf er aus seinen Lebenshauchen die Tiere, nämlich aus dem
Manas den Menschen, aus dem Auge das Pferd, aus dem Odem
die Kuh, aus dem Ohre das Schaf, aus der Rede die Ziege. Weil
er sie aus den Lebenshauchen geschaffen hat, darum sagt man:
die Tiere sind die Lebenshauche. Das Manas nun ist der erste
unter den Lebenshauchen. Weil er aus dem Manas den Menschen
geschaffen hat, darum sagt man, der Mensch ist das erste unter
den Tieren, nämlich das stärkste; ja, alle Lebenshauche sind Manas,
denn in dem Manas sind alle Lebenshauche gegründet. Weil er
aus dem Manas den Menschen gebildet hat, darum sagt man : alle
Tiere sind der Mensch; denn dem Menschen gehören sie alle an."
Qatapatha -brähmanam 11,5, 8, t fg.
„Prajäpati war diese Welt zu Anfang nur allein. Er begehrte:
«ich will [vieles] sein, will mich fortpflanzen». Er mühte sich ab,
er übte Tapas. Aus ihm, da er sich abmühte und Tapas übte,
wurden die drei Welten geschaffen, die Erde, der Luftraum und
der Himmel. Er bebrütete diese drei Welten. Aus ihnen, da er
sie bebrütete , • entstanden die drei Lichter, nämlich Agni, der da
reinigt, und die Sonne"; u. s.w. wie Ait. Br. 5,32, oben S. 183.
Diese Proben aus den drei altern Veden mögen genügen,
um eine Anschauung zu geben über die Art, wie die Schöpfung
der Welt durch Prajäpati von den Brähmana's nicht sowohl
gelehrt, als vielmehr vorausgesetzt und ihren liturgischen Inter-
essen gemäfs verwertet wird. Im Atharvaveda erscheint der
Standpunkt der Weltschöpfung durch Prajäpati bereits als
veraltet, und die Samhitä wie das Brähmanam erwähnen (von
einzelnen mythologischen Floskeln abgesehen, die für sich
nichts bedeuten) den Prajäpati nur, um ihn umzudeuten oder auf
ein anderes Princip zurückzuführen; so Atharvav. 10,7 und 10,8
auf den Skambha, 11,4 auf den Präna, 11,5 auf den Brah-
macärin, 11,7 auf den Ucclnshta (masc), 19,53 auf den Kala,
von denen später zu handeln sein wird. Eine förmliche Ab-
setzung des Prajäpati kann man darin finden, dafs Atharvav. 4,2
190 III. Geschichte des Prajäpati.
sein Hymnus Rigv. 10,121 wiederholt wird mit Auslassung des
letzten Verses, in dem allein sein Name vorkommt, und hierzu
stimmt, dafs das zum Atharvaveda gehörige Gopathabrähmanam
in dem nicht mehr von Prajäpati, sondern von dem Brahman
(neutr.) ausgehenden Schöpfungsmythus 1,1 den Atharvan für
Prajäpati erklärt: „Zu diesem Atharvan sprach Brahman: «o
Herr der Geschöpfe (Prajapate, so zu lesen), schaffe Geschöpfe
und behüte sie!» Weil er sprach: «o Herr der Geschöpfe,
schaffe Geschöpfe und behüte sie», darum ward er (Atharvan)
zu Prajäpati: dies ist das Prajäpatisein des Prajäpati; für-
wahr, der Atharvan ist Prajäpati. Der glänzt wie ein Prajäpati
in allen Welten, der solches weifs." — Diese Erscheinungen
weisen darauf hin, dafs die Atharvasamhitä ihrem Haupt-
bestande nach jünger als die ältesten Teile der Brähmana's ist.
Ehe wir Prajäpati als Weltschöpfer verlassen, müssen wir
noch der wunderlichen, oft vorkommenden Vorstellung seiner
durch das Weltschaffen bewirkten Erschöpfung gedenken.
Wie er, um die Welt zu schaffen, sich anstrengt und Tapas
übt, so ist er nach der Weltschöpfung „aufser Atem" (atamyat,
Pancav. Br. 10,2,1), „fühlt sich ausgemolken, ausgeleert" (dug-
dho riricdno 'manyata, Pancav. Br. 9,6,7. Qatap. Br. 3,9,1,2) und
„mager" (rüksha, Pancav. Br. 24,13,2); seine Glieder lösen sich
auf (Qatap. Br. 1,6,3,35. 4,6,4,1. 10,1,1,1 — 3), die Lebensodem
entweichen aus ihm (Qatap. Br. 8,1,1,3), sein Leib schwillt an
(Qatap. Br. 13,4,4,6), — worauf dann die Sache in der Regel auf
die Empfehlung irgend eines Opfergebrauches hinausläuft, durch
den Prajäpati sich wieder gestärkt haben soll, oder durch den
ihm die Menschen wieder aufhelfen; so Pancav. Br. 21,4,2: „Das
Auge des Prajäpati schwoll (agvayat), es fiel heraus, es ward
ein Rofs (agva); das ist die Rofsheit des Rosses; die Götter
setzten durch ein Rofsopfer sein Auge wieder ein. Fürwahr,
der macht den Prajäpati wieder ganz, welcher das Rofsopfer
darbringt." — Aber diesem Mythus dürfen wir vielleicht doch
eine tiefere Bedeutung zuschreiben, wenn wir lesen (z. B.
Qatap. Br. 10,1,1,1 — 3), dafs Prajäpati das Jahr (wovon Weiteres
später), und dafs seine zerfallenden Glieder die Tage und
Nächte des Jahres seien. Das Jahr ist, hier wie oft, die Zeit
als die allgemeine Form des Weltlebens. Die Einheit des
Die Erschöpfung des Schöpfers. 191
schöpferischen Princips ist in die Vielheit der Welterscheinungen
zerfallen, und auf dem Wege der religiösen Andacht (Opfer
u. s. w.) erheben wir uns von dieser Vielheit zur ewigen Ein-
heit und stellen sie wieder her. Hieran schliefst sich der
Gedanke, dafs, wie später das Brahman (Taitt. Up. 2,6. Brih.
Up. 2,3), so auch schon Prajäpati zwei Seiten hat, die eine
als Welt, die andere an sich, welche daher unfafsbar und un-
aussprechlich ist, Catap. Br. 14,1,2,18: „Fürwahr, dieses Opfer
ist Prajäpati; denn Prajäpati ist beides, ausgesprochen und
unausgesprochen, ermessen und unermessen. Darum, was der
Priester mit dem Opferspruche vollbringt, damit weiht er, was
an jenem die ausgesprochene und ermessene Form ist; und
was er schweigend vollbringt, damit weiht er, was an jenem
die unausgesprochene, unermessene Form ist."
2. Prajäpati als Erhalter und Eegierer.
Der indische Schöpfungsbegriff unterscheidet sich von dem
im Abendlande üblichen unter anderm dadurch, dafs Gott (wie
schon Rigv. 1,90. 121. 129) nicht sowohl eine Welt aufser sich
setzt, als vielmehr sich selbst ganz oder teilweise (d. h. un-
beschadet seines selbständigen Fortbestehens) in die Natur
und ihre Erscheinungen umwandelt. Dies gilt, trotz seiner
persönlichen Fassung, auch schon von Prajäpati, von dem es
z. B. heifst (Väj. Samh. 8,36):
Er, über dem nichts Höh'res ist vorhanden,
Der eingegangen in die Wesen alle,
Prajäpati, mit Kindern sich beschenkend,
Durchdringt die drei Weltlichter sechzehnteilig.
Die drei Weltlichter sind Agni, Väyu und Sürya, welche in
der Brähmanazeit die drei Regenten der Erde, des Luftraums
und des Himmels sind; sechzehnteilig durchdringt sie Prajä-
pati als die Einheit des sechzehnteiligen psychischen Organs;
nach andern Stellen ist er das über die Körperteile hinaus
als siebzehntes bestehende Lebensprincip (Catap. Br. 10,4,1,16).'
„Er hat die Kreaturen, nachdem er sie erschaffen, mit Liebe
durchdrungen" (Taitt. Samh. 5,5,2,1), wie er denn noch in
späterer Zeit speciell derjenige ist, welcher den Keim im
192 HI. Geschichte des Prajäpati.
Mutterleibe ausbildet (Väj. Samh. 31,19. £atap. Br. 14,9,4,20).
Er hat alles erschaffen, was vorhanden ist (Catap. Br. 6,1,2,11),
er hat die Götter aus seinem Selbst geformt (atmano nira-
■mimtta, Taitt. Br. 1,7,1,5); aber neben den unsterblichen Göt-
tern sind auch die sterblichen Menschen aus ihm entsprungen;
„von diesem Prajäpati ward die Hälfte sterblich, die Hälfte
unsterblich; das was an ihm sterblich war, damit fürchtete er
sich vor dem Tode", den er vorher selbst als den Fresser
erschaffen hat (Catap. Br. 10,1,3,1). Als dritte aufser Göttern
und Menschen (Catap. Br. 14,8,2,1) hat er die Asura's, d. h. die
Dämonen erschaffen; ihr Name „der Lebendige" bedeutet im
Rigveda noch den Gott, erst in einigen spätem Hymnen den
Dämon; in den Brähmana's ist viel von den Asura's die Rede,
und ihr Wettstreit mit den Göttern, aus dem diese als Sieger
hervorgehen, ist eines der beliebtesten Themata. Ihre Bösheit
scheint ihnen ursprünglich von Prajäpati anerschaffen zu sein,
und eine merkwürdige Stelle erzählt, wie Prajäpati den Göttern,
Vätern (Manen), Menschen und Dämonen ihre Bestimmung
zuteilt, in folgender Weise:
Qatapatha-brähmanam 2,4,2, 1—6.
„Zu Prajäpati nahten sich die Wesen, denn [seine] Geschöpfe
sind die Wesen, und sprachen: «Verordne uns, wie wir leben
sollen!» Da geschah es, dafs [zuerst] die Götter, mit der Opfer-
schnur bekleidet und das rechte Knie beugend, sich ihm nahten.
Zu denen sprach er: «Das Opfer sei eure Speise, eure Unsterblichkeit
sei eure Lebenskraft, die Sonne sei euer Licht!» — Da geschah es,
dafs die Väter, mit der Opferschnur über der rechten Schulter [wie
sie beim Manenopfer getragen wird] und das linke Knie beugend, sich
ihm nahten. Zu denen sprach er: «Monatlich sei euer Essen, euer
Labetrank sei eure Gedankenschnelle, der Mond sei euer Licht!» —
Da geschah es, dafs die Menschen, bekleidet und einen Schofs machend
[mit beiden Knien einknickend] sich ihm nahten. Zu denen sprach
er: «Abends und morgens sei euer Essen, eure Nachkommenschaft
sei euer Tod [ihr sollt in euren Nachkommen fortleben], das Feuer
sei euer Licht!» — Da geschah es, dafs die Tiere sich ihm nahten.
Denen liefs er freie Wahl und sprach: «Wann irgend ihr etwas finden
mögt, sei es zur Zeit, sei es zur Unzeit, dann mögt ihr essen!»
Daher kommt es, dafs diese, wann irgend sie etwas finden, sei es
2. Prajäpati als Erhalter und Regierer, £atap. Br. 2,4,2,1—6. 193
zur Zeit, sei es zur Unzeit, so essen sie es. — Da geschah es, so
sagen sie, dafs sich ihm sogar (gacvat) die Dämonen nahten. Denen
verlieh er Finsternis (tamas) und bösen Zauber (mäyä); denn
freilich giebt es so etwas, was man dämonischen Zauber nennt.
Und freilich sind jene Geschöpfe umgekommen; aber diese Ge-
schöpfe hier leben so, wie es jenen Prajäpati verordnet hat. Die
Götter übertreten sein Gebot nicht, noch auch die Väter, noch
auch die Tiere; die Menschen sind die einzigen, welche es über-
treten. Darum wenn ein Mensch sich mästet, das ist nicht schön,
dafs er sich mästet; denn er watschelt und ist nicht im stände zu
gehen; denn er hat Unrecht gethan, dafs er sich mästete. Darum
soll man nur abends und morgens essen. Wer solches wissend
abends und morgens ifst, der kommt zu vollem Alter, und alles
was er durch die Rede äufsert, das trifft zu; denn er beobachtet
die Wahrheit des Gottes [Prajäpati]; und das ist es, was man den
brahmanischen Glanz nennt, dafs einer der Satzung desselben
nachzuleben vermag."
Nach dieser Stelle scheint den Dämonen die Finsternis
(tamas) als ihr Gebiet, die arglistige Zauberkunst (mäyä) als
ihre natürliche Thätigkeit anerschaffen zu sein, und eben darauf
läuft es hinaus, wenn an andern Stellen z. B. als das vom
Vater Prajäpati erhaltene Erbe der Götter und Dämonen die
helle und die dunkle Monatshälfte bezeichnet wird (Qatap.
Br. 1,7,2,22), oder wenn Prajäpati (Catap. Br. 11,1,6,7) die
Götter aus dem Hauche seines Mundes und die Dämonen aus
dem entgegengesetzten avdn pränah schafft, wobei es ihm
dunkel wird, und er begreift: „gewifs habe ich ein Übel er-
schaffen, da es mir beim Schaffen dunkel wurde"-. — Wir be-
finden uns eben in einer Periode, wo der Menschheit die
grofse Frage: ttg^sv tö xaxov, noch nicht aufgegangen war. —
Sind nun so auch alle Wesen, Götter, Menschen und Dämonen,
von Prajäpati erschaffen, so ist er doch speciell der Vater und
Helfer der Götter; er ist zu den dreiunddreifsig Göttern der
vierunddreifsigste (Qatap. Br. 5,1,2,13) und thront über den
drei Welten, Erde, Luftraum und Himmel, als der vierte
(Catap. Br. 4,6,1,4). [In späterer Zeit, wo er seinen Platz an
das Brahman hat abtreten müssen, befindet sich seine Welt
(loka) zwischen Brahmaloka und Gandharvaloka (Catap. Br.
14,6,6,1).] Er ist der Hausherr (grihapati) der Götter (Ait.
Detjssen, Geschichte der Philosophie. I. 13
194 III. Geschichte des Prajäpati.
Br. 5,25), die oftmals in ihren Nöten, z. B. wenn sie von den
Dämonen bedrängt werden (Pancav. Br. 18,1,2), oder wenn sie
sich vor dem Tode fürchten (Pancav. Br. 22,12,1), sich an
Prajäpati wenden, der ihnen dann in der Regel durch Mit-
teilung eines rituellen Spruches oder Gebrauches, der gerade
empfohlen werden soll, zu helfen pflegt, übrigens aber, wie
ein Vater seinen Söhnen, sich den Göttern hilfreich erweist,
ohne von ihnen einen Gegenlohn zu fordern (Catap. Br. 8,4,1,4).
Speciell unterstützt er, durch Mitteilung gewisser Sprüche, den
Indra in seinem Kampfe gegen die Dämonen (Pancav. Br.
12,13,4 u. ö.); ihm hat er die Siegessprüche (jaya) verliehen
(Taitt. Sarnh. 3,4,4,1), ihm auch die Krone (sraj) als Symbol
seiner Herrschaft über die Götter gereicht (Pancav. Br. 16,4,3).
Aber auch den Agni nimmt er „als seinen lieben Sohn"
an die Brust (Catap. Br. 9,2,3,50), und die Ribhu's haben
„seine Liebe gewonnen" (Cänkh. Br. 16,1). Bei Streitigkeiten
zwischen den Göttern entscheidet er; so zwischen Indra und
Väyu (Catap. Br. 4,1,3,14) und zwischen Agni, Väyu und
Äditya (Taitt. Br. 2,1,6, oben S. 185); so auch in dem Rang-
streite zwischen Monas (Verstand) und Väc (Rede), den wir
aus Qatap. Br. 1,4,5,8 — 11 hier übersetzen:
„Es geschah einmal, dafs der Verstand und die Rede sich um
den Vorrang stritten. Der Verstand sprach: «Ich bin besser als
du; denn du sprichst nichts, was ich nicht vorher erkannt hätte.
Dieweil du nun so nachmachst, was ich thue, und in meinem Geleise
läufst, so bin ich besser als du». Da sprach die Rede: «Ich bin
besser als du; denn was du erkannt hast, das thue ich kund, das
mache ich bekannt». Sie gingen den Prajäpati um Fragent-
scheidung an. Prajäpati stimmte dem Verstände bei und sprach:
«Allerdings ist der Verstand besser als du; denn was der Verstand
fhut, das machst du nach und läufst in seinem Geleise; es pflegt
aber der Schlechtere nachzumachen, was der Bessere thut, und in
seinem Geleise zu laufen»."
3* Versuche, den Prajäpati aus einem noch höhern Princip
abzuleiten«
Der Prajäpatihymnus, Rigv. 10,121, lehrte, wie wir sahen
(oben S. 128 — 133), dafs Prajäpati auch schon die Urwasser
aus sich hervorbrachte, um dann als goldner Keim (liiranya-
3. Versuche, den Prajäpati abzuleiten: Äpas — Prajäpati. 195
garbha) selbst in ihnen zu entstehen. Hiernach ist Prajäpati
das schlechthin oberste Princip, und in diesem Sinne behandeln
ihn auch die bisher mitgeteilten Brähmanastellen. Aber schon
in jenem Schöpfungshymnus war das Hervorgehen der Ur-
wasser aus Prajäpati nur nebenbei erwähnt, und im übrigen
die Entstehung des Prajäpati aus den Urwassern so sehr in
den Vordergrund gestellt worden, dafs eine zu einem mate-
riellen Urprincip hinneigende Richtung sehr wohl hieran an-
knüpfen konnte, um mit allem andern auch den Prajäpati aus
den Wassern als letztem Princip abzuleiten.
Apas — Prajäpati.
Dieses Streben zeigt sich schon in einigen Stellen der
Taittiriya-samhitä. So in dem Schöpfungsmythus, Taitt. Samh.
5,6,4,2:
„Wasser fürwahr war diese Welt zu Anfang, ein Gewoge
(salüam, Rigv. 10,129,3); Prajäpati aber als Wind (vgl. änul avä-
tam, Rigv. 10,129,2) wiegte sich auf einem Lotosblatte; er fand
keinen Standort; da erblickte er dieses Nestwerk der Wasser, auf
dem schichtete er das Feuer, das ward zu dieser Erde; da stützte
er sich darauf" u. s. w.
Ebenso Taitt. Samh. 7,1,5,1:
„Wasser fürwahr war diese Welt zu Anfang, ein Gewoge; auf
diesem fuhr Prajäpati als Wind dahin; da sah er diese Erde; die
holte er als Eber [in dem Grunde der Wasser wühlend] herauf, die
rieb er als Vicvakarman (Rigv. 10,82,1 oben S. 138), dafs sie trocken
wurde; dadurch ward sie breit, ward zur Erde (prithivi, eigentlich
„die breite"); das ist der Erde Erdesein. Dabei mühte sich Prajä-
pati ab; da schuf er die Götter" u. s. w.
Deutlicher tritt das Oppositionelle, ja Polemische dieses
Standpunktes hervor, wo den weltschaffenden Wassern die-
selben asketischen Bemühungen zugeschrieben werden wie
früher dem Prajäpati, wiewohl sie nur bei diesem, als einem
persönlichen Wesen, einigen Sinn haben. So Qaiap. Br. 11,1,6,1:
„Wasser fürwahr war diese Welt zu Anfang, ein Gewoge.
Diese Wasser begehrten: «wie könnten wir uns wohl fortpflanzen?»
Sie mühten sich ab, sie übten Tapas. In ihnen, da sie Tapas
übten, entstand ein goldnes Ei. Nämlich das Jahr [die Zeit] war
damals noch nicht entstanden. Dieses goldene Ei, solange die
13*
196 III. Geschichte des Prajäpati.
Dauer eines Jahres ist, solange schwamm es umher. Darauf wäh-
rend des Jahres entstand [in dem Ei] ein Mann (purusha), der ist
Prajäpati. Daher auch erst in einem Jahre eine Frau oder Kuli
oder Stute gebiert, denn in einem Jahre wurde Prajäpati geboren.
Da zerbrach er jenes goldene Ei , nämlich damals gab es noch
keinen Standort; daher jenes goldene Ei, solange wie die Dauer
eines Jahres ist, ihn tragend umherschwamm. Nach einem Jahr
verlangte er zu sprechen, und er sprach: bhür, da ward die Erde;
bhuvar, da ward der Luftraum; svar, da ward der Himmel. Darum
auch ein Knabe nach einem Jahre zu sprechen verlangt, denn nach
einem Jahre hat Prajäpati gesprochen."
Dasselbe Motiv wird in charakteristischer Weise in der
zugehörigen Upanishad variiert, Qatap. Br. 14,8,6,1:
„Wasser nur war diese Welt zu Anfang; diese Wasser schufen
die Wahrheit, die Wahrheit schuf das Brahman, d. i. den Prajäpati,
Prajäpati die Götter."
Hier wird, dem Upaniskadstandpimkte entsprechend, das
goldne Ei mit der Wahrheit, Prajäpati mit Brahman identi-
fiziert. — Gleichfalls einem viel fortgeschrittenern Standpunkte
gehört der Schöpfungsmythus im Taittiriya- ärany akam 1,23
(p. 141 — 149) an; doch schliefst er sich, wenigstens der Form
nach, an die vorherigen Stellen an, da auch er aus den
Wassern Prajäpati, aus Prajäpati alles andere hervorgehen
läfst; daher wir ihn hier übersetzen wollen, um so mehr, als
er eine passende Vorbereitung auf das Folgende bildet, das
er vielfach anticipiert oder vielmehr voraussetzt, seiner spä-
tem Stellung in einem Aranyakam entsprechend.
Taittiriy a - ärany altani 1, 23.
„Wasser fürwahr war diese Welt, ein Gewoge, da entstand
Prajäpati allein auf einem Lotosblatte. In dessen Geiste (manas)
ging hervor ein Verlangen (käma): «ich will diese Welt schaffen!»
Darum, was ein Mann mit seinem Geiste erstrebt, das spricht er
aus durch die Rede, das vollbringt er durch die That. Darüber
ist dieser Vers [Rigv. 10,129,4; eine abweichende Auffassung oben
S. 123 fg.]:
«Da ging aus ihm zuerst hervor Verlangen,
« Des Geistes erster Samengufs war dieses. —
« Des Daseins Wurzelung im Nichtsein fanden
« Die Weisen forschend in des Herzens Triebe. »
Äpas — Prajäpati, Taitt. Ar. 1,23. 197
Dem neigt sich zu, wonach er Verlangen trägt, wer solches weifs ! —
Er (Prajäpati) übte Tapas; nachdem er Tapas geübt, schüttelte er
seinen Leib von sich ab. Was das Fleisch war, daraus entstanden
die Arunaketu's, die windumgürteten (vätaragana) Eishi's; aus seinen
Nägeln (naMia) die Vaik7iänasa''s, aus seinen Haaren (väla) die
VälakMlya's; und was sein Saft war, der blieb im Wasser; aus
dem entstand eine Schildkröte; zu dieser, da sie umherkroch,
sprach er: «Du bist ja doch aus meinem Fleisch entstanden!»
(lies: mama vai tvam mänsät samabhüh). — «0 nein», sprach sie,
« sondern ich war schon vorher (pürvam) hier! » Daher kommt
der Name PurusJia. Dieser (Rigv. 10,90,1),
«Der Purusha mit tausendfachen Häuptern,
«Mit tausendfachen Augen, tausend Füfsen»,
entstand und erhob sich. Zu ihm sprach er: «Ja wirklich, du
bist vorher gewesen ; so mache als Vorheriger diese Welt.» [Prio-
rität des Purusha vor Prajäpati.] Da nahm derselbe von hier Wasser
mit den [als Zeichen der Verehrung] zusammengehaltenen hohlen
Händen und schüttete davon nach vorne mit den Worten : evä lii
eva (Taitt. Ar. 1,20,1. 1,25,3); daraus entstand die Sonne; das
war die östliche Himmelsgegend. Darauf schüttete Arunaketu da-
von nach rechts mit den Worten: evä lii agne; daraus entstand
das Feuer; das war die südliche Himmelsgegend. Darauf schüttete
Arunaketu davon nach hinten mit den Worten: evä lii väyo\ daraus
entstand der Wind; das war die westliche Himmelsgegend. Darauf
schüttete Arunaketu davon nach links mit den Worten: evä M indra;
daraus entstand Indra; das war die nördliche Himmelsgegend.
Darauf schüttete Arunaketu davon in die Mitte mit den Worten:
evä lii püslian; daraus entstand Püshan; das war hier diese Himmels-
gegend. Darauf schüttete Arunaketu davon nach oben mit den
Worten: evä lii deväh; daraus entstanden die Götter, Menschen,
Väter, Gandharva's und Apsaras'; das war die Himmelsgegend nach
oben. Die Tropfen, die dabei wegspritzten, aus denen entstanden
die Dämonen, Kobolde und Gespenster; darum gingen diese ver-
loren, weil sie aus den Tropfen entstanden sind. Darum heifst es
(Rigv. 10,121,7, verändert):
«Als ehemals die grofsen Wasser kamen,
«Keimschwanger, Dakslia - schwanger, zeugend den Svayambliü,
«Da sind aus ihm die Schöpfungen entstanden,
« Denn aus dem Wasser ist dies All geworden.
« Darum ist dieses All Brahma Svayambliu. »
198 III. Geschichte des Prajäpati.
Darum war dieses All gleichsam flüssig, gleichsam unfest. Aber
wahrlich, diese Welt ist Prajäpati; sich selbst durch sich selbst
bauend, ging er in dieselbe ein. Darum heilst es:
«Die Welten bauend, die Wesen bauend, .
«Die Zwischenpole bauend und die Pole,
«Prajäpati, der Ordnung Erstgeborner,
«Ging durch sich selber (ätmanä) in sich selber (ätmänam) ein.»
Der durchdringt diese ganze Welt, der umschliefst sie und geht
in dieselbe ein, wer solches weifs."
— Die weltschaff enden Mächte sind nach diesem Mythus
der Purusha in Gestalt der Schildkröte und der Eishi Aruna-
ketu. Beide aber sind aus dem Saft und Fleisch des Prajä-
pati entsprungen, der daher auch am Schlüsse als Weltschöpfer
gefeiert wird, nur dafs er hier die Priorität den Wassern ein-
geräumt hat, aus denen Prajäpati als das Brahma Svayambhu
(„das durch sich selbst seiende Brahman", — freilich eine
harte contradictio in adjecto: „zeugend den durch sich selbst
Seienden", janayantih svayambhuvam!} entstanden ist; auch
scheint Prajäpati demjenigen Teile von sich selbst, welcher
als Purusha auftritt, die Priorität vor allem übrigen zuzu-
gestehen. Wir sehen also hier die beiden Principien, Brahman
und Purusha (Atman), die uns weiter unten beschäftigen
werden, gleichsam aus dem Prajäpati herauswachsen.
Asad — Prajäpati (— Purusha) — Brahman.
Einen weitern Schritt in der Depossedierung des Prajä-
pati bezeichnen zwei Mythen, in denen er aus dem Nicht-
seienden (asad) als oberstem Princip abgeleitet wird,. Catap.
Br. 6,1,1 und Taitt. Br. 2,2,9. Wir stellen den erstem voran,
weil er noch aus dem Prajäpati das Brahman entspringen läfst,
während der letztere, einen Schritt weiter gehend, dem mit
Manas identifizierten Brahman die Priorität vor Prajäpati zu-
erkennt, womit dessen Schicksal, nur noch als mythologischer
Zierat (gleichsam als mediatisierter Fürst mit allen Ehren
aber ohne Einflufs) fortzubestehen, besiegelt wird.
Asad — Prajäpati — Brahman, Qatap. Br. 6,1,1. 199
Qatapatha-brähmanam 6,1,1.
„Oin ! Nichtseiend (asad) fürwahr war diese Welt am Alifang.
Da sagen sie: was war dieses Nichtseiende ? Nun, das Nichtseiende
am Anfang waren diese Rishi's. Und wer sind die Rishi's? Die
Lebenshauche (pränäh) sind die Rishi's. Weil sie vor dieser ganzen
Welt, dieselbe wünschend, durch Abmühung und Tapas litten
(arishan), darum heifsen sie Rishi's. Der Lebenshauch hier in der
Mitte, der ist Indra; der hat diese Lebenshauche von der Mitte
her durch Kraft (indriya) entzündet. Weil er sie entzündete
(ainddha), darum heifst er Indhq; denn eigentlich heifst er Indhd,
aber sie nennen ihn Indra um des Geheimnisvollen willen, denn
die Götter lieben das Geheimnisvolle. Jene Lebenshauche also,
nachdem sie entzündet, liefsen aus sich sieben verschiedene Purusha's
hervorgehen. Und sie sprachen: « Gewifs werden wir, so seiend,
uns nicht fortpflanzen können; lafst uns aus diesen sieben Purusha's
einen Purusha machen ! » Da machten sie aus diesen sieben
Purusha's einen Purusha; was [der Rumpf] oberhalb des Nabels
ist, dazu drückten sie zwei zusammen, was unterhalb des Nabels,
dazu wieder zwei; die eine [Arm-]Seite ein Purusha, die andre
ein Purusha, und das Untergestell noch einer. Was aber von
jenen sieben Purusha's die Schönheit (gri), was ihr Saft (rasa)
war, den schoben sie nach oben zusammen, das ward sein Haupt
(gi-ras). Weil sie die Schönheit zusammenschoben, darum heifst
es giras; in ihm lagerten sich (agrayanta) die Lebenshauche, und
auch darum heifst es giras; und weil sich die Lebenshauche in ihm
lagerten, darum heifsen auch die Lebenshauche griyali (Schönheiten);
aber weil sie sich auch in dem Ganzen lagerten, darum heifst das-
selbe gariram (der Leib). Dieser Purusha war Prajäpati. Und
was jener Purusha Prajäpati war, das ist eben dieser, der [beim
Agnicayanam] als dieses Feuer geschichtet wird. Denn dieser be-
steht aus sieben Purusha's; und aus sieben Purusha's [nämlich
sieben Mannslängen im Quadrat] besteht dieser Purusha [der in
Vogelgestalt zu schichtende Backsteinaltar des Agnicayanam], sofern
vier seinen Rumpf, drei seine Flügel und den Schwanz bilden;
denn vier [quadratische Mannslängen] bilden ja den Rumpf dieses
Purusha [des vogelgestalti'gen Altars] , und drei seine Flügel und
den Schwanz [siehe die Abbildung bei Weber, Ind. Stud. XIII, 235].
Nämlich wenn man den Rumpf um einen Purusha [eine Mannsqua-
dratlänge] gröfser macht, so geschieht es, weil mittels dieser Ver-
stärkung der Rumpf die Flügel und den Schwanz ausstreckt (regiert).
Das Feuer aber, welches auf dem [so] geschichteten [Altar] auf-
200 IH- Geschichte des Prajäpati.
gelegt wird, in dem schieben sie von jenen sieben Purusha's die
Schönheit und den Saft nach oben zusammen ; darum bildet es sein
[des vogelgestaltigen Altars] Haupt (giras), in diesem haben alle
Götter sich gelagert (grita), denn in ihm opfert man allen Göttern,
darum ist es das Haupt. — Dieser Purusha Prajäpati begehrte:
«ich will vielfach sein, will mich fortpflanzen!» Er mühte sich
ab, er übte Tapas; nachdem er sich abgemüht und Tapas geübt,
.schuf er als Erstgebornes das Brahman, d. h. die dreifache Wissen-
schaft \trayi vidgä, nämlich des Rig- Säma- und Yajur-Yeda]:
die ward ihm zur Grundlage; darum sagt man: das Brahman ist
die Grundlage dieser ganzen Welt. Darum, wer [den Veda] stu-
diert hat, der ist wohlgegründet; denn das Brahman ist seine
Grundlage. Auf dieser Grundlage gegründet, übte [Prajäpati]
Tapas; da schuf er das Wasser, und zwar aus seiner Rede als Ort;
nämlich diese seine Rede ergofs sich und erfüllte diese ganze Welt,
was immer vorhanden ist. Weil sie sie erfüllte (apnot) , darum
heifst es äpas (Wasser) ; weil sie sie bedeckte (avrinot), darum vär
(Wasser). — Er begehrte : « aus diesen Wassern heraus will ich
geboren werden». Da ging er mitsamt dieser dreifachen Wissen-
schaft in das Wasser ein; daraus entstand ein Ei. Das betastete
[zerklopfte] er: «es sei!» so sprach er, «es sei! es sei mehr!»
Also sprach er, da ergofs sich als erstes das Brahman, nämlich
die dreifache Wissenschaft; darum sagt man: das Brahman ist das
Erstgeborne dieser Welt; denn auch vor diesem Purusha vorher
ist das Brahman [aus dem Ei, in welches beide eingegangen waren]
erschaffen worden; denn als sein Mund wurde es erschaffen; darum
sagt man von einem, der den Veda studiert hat, er sei gleich wie
Feuer, denn das Brahman ist der Mund des Feuers [des als Feuer
hervortretenden Purusha]. Nämlich der Keim, der in [dem Ei]
war, der wurde geboren als Agri ; weil er als der Anfang (agram)
dieser ganzen Welt geboren wurde, darum heifst er agr-i [etwa:
«der Vorangehende»]; nämlich dieser Agri ist es, den sie Agni
(Feuer) nennen um des Geheimnisvollen willen, denn die Götter
lieben das Geheimnisvolle. Aber die Thränen (acru), die [von
dem weinenden Neugebornen ?] zusammenflössen, die wurden zu
agru (masc); nämlich dieser Agni ist es, den sie Agva [das Rofs,
als höchstes Opfertier] nennen um des Geheimnisvollen willen, denn
die Götter lieben das Geheimnisvolle. Und was es gleichsam
schrie [arasat, oder etwa: sabberte, wegen des folgenden rasa
Saft], das ward zum JRäsahha (Eselhengst); aber der Saft, der an
der Schale klebte, der ward zur Ziege (aja , auch Ungeborner):
Asad — Prajäpati — Brahman, Qatap. Br. 6,1,1. 201
was aber die Schale selbst war, die ward zur Erde. Da begehrte
er [Prajäpati] : « aus diesen Wassern will ich diese [Erde] heraus-
wachsen lassen». Da quetschte er sie in den Wassern zusammen
lind trieb sie empor. Der Saft von ihr, der dabei nach unten
ausquoll, wurde zur Schildkröte; aber was nach oben ausspritzte,
das ist dies, was oberhalb aus den Wassern sich bildet [Wolken,
Regen]; aber diese ganze Erde hat sich erst nachträglich aus den
Wassern ausgeschieden, denn diese Welt zeigte sich [ursprünglich]
nur als eine Gestalt, nämlich als Wasser. Da begehrte er: «sie
soll mehreres sein, soll sich fortentwickeln! » Und er mühte sich
ab und übte Tapas ; und indem er sich abmühte und Tapas übte,
schuf er den Schaum. Da erkannte er: «das ist schon eine andere
Gestalt, eine weitere; ich will mich noch mehr abmühen!» Da
schuf er, indem er sich abmühte und Tapas übte, den Lehm, den
Schlamm, die Salzsteppe, das Geröll, das Gestein, das Erz, das
Gold, die Kräuter und Bäume; mit denen überdeckte er diese Erde,
das sind zusammen neun Schöpfungen. Diese Erde war geschaffen
worden [und sie ist dreifach, tisro va1 imäli prithivyah, Catap. Br.
5,1,5,21]; darum sagt man, das Feuer ist dreifach [Gärhapatya,
Dakshina, Ahavaniya]; denn das Feuer ist diese Erde; denn auf
ihr wird alles Feuer geschichtet. Weil sie zum Standort ward
(abhüt), darum ward sie zur bhümi (Erde), weil er sie breit
machte (apratliayat) , darum zur prithivi (Erde). Dieselbe, indem
sie sich ganz und vollständig fühlte, so sang sie; weil sie sang
(agäyat), darum ist sie die Gäyatri (das Metrum); — oder auch
sie sagen: Agni, der auf ihrem Rücken ist, da er sich ganz und
vollständig fühlte, so sang er; weil er sang, darum ist er Agni
Gäyatra. Daher kommt es auch, dafs wer sich ganz und voll-
ständig fühlt, der singt entweder oder er freut sich am Gesänge." —
Weiter wird erzählt, wie Prajäpati als Agni mit der Erde
unter andern Nebenprodukten den Väyu und den Luftraum
zeugt, sodann als Väyu mit dem Lufträume den Aditya und
den Himmel, endlich als Äditya mit dem Himmel den Mond
und die Himmelsgegenden. Hierauf zeugt er ebenso als Manas
mit der Väc (sa manasä eva väcam mithunam samabhavat, 6,1,
2,7) die acht Fasw's, elf Rudra's, zwölf Aditya 's und die
Vigve deväh.
„Ferner sagt man: Prajäpati, nachdem er diese Welten ge-
schaffen, gründete sich auf die Erde; da wurden ihm die Kräuter
hier als Speise reifen gelassen; die afs er; da ward er schwanger
202 III- Geschichte des Prajäpati.
und schuf aus den obern Lebenshauchen die Götter und aus den
untern die sterblichen Geschöpfe. Nun, auf welche dieser Arten
er sie erschaffen hat, so hat er sie erschaffen; jedenfalls hat Prajä-
pati allein alles dieses erschaffen, was irgend vorhanden ist."
— Weiter folgt die Erzählung, wie Prajäpati infolge der
grofsen Anstrengung (sarvam äjim itvä) zerfallen sei, worüber
wir oben (S. 190 fg.) gesprochen haben.
Nach diesem Mythus ist zwar auch Prajäpati geworden,
hat aber noch die Priorität vor dem Brahman, welches er
schafft, um sodann mit demselben in das Weltei einzugehen.
Aus demselben aber ergiefst sich zuerst das Brahman, und erst
nach ihm tritt Prajäpati in Gestalt des Agni hervor. Diese
empirische Priorität des Brahman über Prajäpati wird in der
folgenden Erzählung zur absoluten, welche daher das Ende
der Herrschaft des Prajäpati bezeichnet.
Asad — Manas (==■ Brahman) — Prajäpati.
Taütiriya-brälimanam 2,2}9.
„Diese Welt fürwahr war zu Anfang gar nichts. Kein Himmel
war, keine Erde, kein Luftraum. Dieses nur nichtseiend Seiende
that einen Wunsch [manas = brahman, s. u.]: «ich möge sein!»
Es übte Tapas; aus dieser Tapasübung entstand Rauch. Es übte
weiter Tapas; aus dieser Tapasübung entstand Feuer. Es übte
weiter Tapas; aus dieser Tapasübung entstand Licht. Es übte
Weiter Tapas; aus dieser Tapasübung entstand Flamme. Es übte
weiter Tapas; aus dieser Tapasübung entstanden die Lichtwellen.
Es übte weiter Tapas; aus dieser Tapasübung entstanden die Nebel-
dünste. Es übte weiter Tapas; da wurde es wie ein Gewölk zu-
sammengetrieben. Da zerrifs es die Eihaut (vasti, hier dfj.vicv,
nicht xÜGTir) ; daraus entstand der Ocean. Darum trinken sie nicht
-von dem Ocean; denn sie betrachten ihn als eine Ausgeburt [pra-
jananam, ein Gebärungsprodukt] ; darum, wenn ein Tier geboren
wird, so fliefsen zuvor die [Frucht-]Wasser ab. Darauf wurde so-
dann der Dagahotar [ein liturgischer Abschnitt, dessen Verherr-
lichung die ganze Stelle bezweckt; ein neuer Beleg zu dem S. 172 fg.,
181 Gesagten] geboren; denn der Dagahotar ist Prajäpati. — Wer,
also die Macht des Tapas wissend, dasselbe übt, der bleibt be-
stehen. — Die Welt also war Wasser, ein Gewoge. Da weinte
Prajäpati und sprach: «wozu bin ich geboren, .wenn zu dieser
Asad — Manas — Prajäpati, Taitt. Br. 2,2,9. 203
Stanclortlosigkeit ! » Da ward, [von seinen Thränen] was ins Wasser
fiel, zur Erde, was er wegwischte zum Luftraum, was er nach oben
wischte, zum Himmel. Weil er geweint hat (arodtt), darum heifsen
sie rodasi (oben S. 84). — Wer solches weifs, in dessen Hause
weint man nicht. — Dieses also ist die Entstehung dieser Welten. —
Wer also die Entstehung dieser Welten weifs, der gerät in diesen
Welten nicht in Bedrängnis. — So hatte er [Prajäpati] also diese
Erde als Standort gewonnen. Nachdem er sie als Standort ge-
wonnen, so begehrte er: «ich will mich fortpflanzen!» und übte
Tapas. Da ward er trächtig. Da gebar er aus seinem Hinterteil
die Dämonen. Denen molk er in einem thönernen Gefäfse Nahrung.
Was aber dieser Teil seines Leibes gewesen war, den stiefs er von
sich ab, der ward zur dunkeln Nacht. — Da begehrte er: «ich
will mich fortpflanzen!» und übte Tapas. Da ward er trächtig.
Da gebar er aus seinem Zeugungsgliede die [irdischen] Geschöpfe;
.darum sind deren am meisten; denn aus seinem Zeugungsgliede
sind sie entstanden. Denen molk er in einem hölzernen Gefäfse
Milch. Was aber dieser Teil seines Leibes gewesen war, den stiefs
er von sich ab, der ward zum Mondlichte. — Da begehrte er:
«ich will mich fortpflanzen!» und übte Tapas. Da ward er trächtig.
Da gebar er aus seinen Achselgruben die Jahreszeiten. Denen
molk er in einem silbernen Gefäfse Schmelzbutter. Was aber dieser
Teil seines Leibes gewesen war, den stiefs er von sich ab, der
ward zur Dämmerung. — Da begehrte er: «ich will mich fort-
pflanzen!» und übte Tapas. Da ward er trächtig. Da gebar er
aus seinem Munde die Götter. Denen molk er in einem gelben
[goldnen] Gefäfse den Soma. Was aber dieser Teil seines Leibes-
gewesen war, den stiefs er von sich ab, der ward zum Tage. —
Dieses fürwahr sind die Melkungen des Prajäpati; wer solches,
weifs, der melkt die Geschöpfe. [Die Götter sprachen:] «Fürwahr,
unsere [Schöpfung] war am Tage (divä)» ; daher das Göttersein der
Götter (deväh). Wer also das Göttersein der Götter weifs, der
wird götterhaft. Dieses fürwahr ist auch die Entstehung des-
Tages und der Nacht. Wer also die Entstehung des Tages und der
Nacht weifs, der gerät nicht in Bedrängnis bei Tage und bei
Nacht. — [Zum Schlüsse folgende Rekapitulation:] Aus dem Nicht-
seienden wurde das Manas erschaffen. Das Manas hat den
Prajäpati erschaffen. Prajäpati hat die Geschöpfe erschaffen.
Darum fürwahr ist diese Welt im Manas zuhöchst gegründet, was-
auch immer vorhanden ist. Und eben dieses [Manas] ist das
Brahman, genannt das Zukunf ts -Besserung-bringende. —
204 HI- Geschichte des Prajäpati.
Dem bringt jeder neu aufleuchtende Morgen Besseres und immer
Besseres, der pflanzt sich fort an Nachkommenschaft und Herden,
der erlangt das volle Mafs des Allerhöchsten (paramcshthin = Pra-
jäpati, Schol.), wer solches weifs!"
4; Versuche, den Prajäpati durch Umdeutung zu beseitigreu.
Weiter gehend als diese Herabrückungen des Prajäpati
in zweite Linie und daher später als sie zu besprechen sind
die Versuche, den Prajäpati dadurch zu beseitigen, dafs man
ihn in einen fafslichern Begriff umdeutete. Solche Umdeu-
tungen des Prajäpati (unbeschadet seines Fortbestehens als
mythologische Figur) sind in späterer Zeit ganz gewöhnlich.
Die Atharva-Samhitä versäumt bei keinem der von ihr auf-
gestellten philosophischen Principien (käla, rohita, skambha,
brahmacärin, präna, uccliishta u. a.), zu versichern, dafs dieses
Prajäpati sei (vgl. oben S. 189 fg.); ebenso wrird er in den Upani-
shad's umgedeutet, worüber es genügt zu verweisen aufBrih.
Up. 3,9,6, wo Indra als Donner und Donnerkeil, Prajäpati als
Opfer und Opfertier erklärt wird, oder auf Ait. Up. 3,3 (p. 241),
wo es heifst, der Atman sei Brahman, Indra, Prajäpati und
alle Götter; und diesem Kreise der abgeschlossenen Brahman-
Atman-Lehre mag es auch schon angehören, wenn Catap. Br.
13,6,2,7 — 8 erklärt wird, Brahman sei das Höchste in dieser
ganzen Welt, und sogleich darauf: „Prajäpati ist Brahman,
denn Prajäpati ist von Brahman-Art".
Interessanter wäre es, die Vorstufen dieser Wegerklärung
des Prajäpati in den Brähmana's aufzusuchen; aber hier be-
wegen wir uns, bei der in diesen Texten herrschenden Iden-
tifikationslust, auf sehr unsicherem Boden, und ein Blick auf
die Zusammenstellung oben S. 174, die sich leicht vermehren
liefse, zeigt, dafs wir hier nicht jede gelegentliche Gleichung
für eine philosophische halten dürfen. So taucht z. B. in dieser
Periode neben Prajäpati ein anderes, durch den Namen als
Höchstes gekennzeichnetes Princip auf, der Parameshthin (noch
nicht im Rigveda, aber vielleicht angelehnt an Rigv. 10,129,7
yo asya adhyakshah parame vyonian, oben S. 126), welcher bald
mit Prajäpati identifiziert, bald ihm über- oder untergeordnet
wird, sodafs eine klare Vorstelluno: sich nicht gewinnen läfst.
4. Versuche, den Prajäpati umzudeuten: Pr. = Manas, Väc. 205
Unter diesen Umständen wollen wir uns auf die wichtigsten
Umdeutungen des Prajäpati als Manas und Väc und als Sam-
vatsara und Yajna beschränken.
T, . , . \ Manas
Prajäpati = y^
Ursprünglich sind Marias (Verstand, Wille) und Väc (Rede)
psychische Organe (karmäni) und als solche, wie alles andere,,
von Prajäpati erschaffen (Catap. Br. 14,4,3,30). Wir sahen
oben (S. 194), wie Manas und Väc als solche Organe um den
A^orrang stritten, und wie dieser Streit von Prajäpati ais-
oberstem Schiedsrichter zu Gunsten des Manas entschieden
wurde. Ahnlich nun aber, wie der \byoc, svoidfösTOS (manas)
und Aoyo£ zpcocpixc? (väc) der Stoiker später eine metaphysische
Bedeutung erhalten, indem sie von Philo Alexandrinus auf die
Ideenwelt und die Erscheinungswelt als Ausdruck derselben
bezogen werden, ähnlich erwachsen auch Manas und Väc aus
psychischen zu metaphysischen, das Weltganze konstituierenden
Faktoren; und diese Umwandlung war durch Stellen wie
Rigv. 1,164,18 devam manas und 10,129,4 manaso retah (oben
S. 112. 123) einerseits, durch den Hymnus der Väc (Rigv. 10,
125, vgl. 1,164,37 — 45, oben S. 146 fg., 116 fg.) anderseits
genugsam vorbereitet. Zunächst noch erscheinen Manas und
Väc als zwei innerhalb des Prajäpati wirkende, schöpferische
Kräfte. So Pancav. Br. 7,6:
„Prajäpati begehrte: «ich will vieles sein, will mich fort-
pflanzen!» Da meditierte er schweigend in seinem Manas; was in
seinem Manas war, das bildete sich zum Brihat [Marne eines
Säman]; da bedachte er: «dies liegt als eine Leibesfrucht in mir,
die will ich durch die Väc gebären». Da schuf er die Väc, sie
folgte hinter dem [zugleich erschaffenen] Bathantaram [Name eines
andern Säman] her. Weil dieses, o Menschen, schnell sich auf
den Wagen (ratha) schwang (atärit) [nämlich auf den Götterwagen
Väc], darum heifst es Bathantaram. Ihm nach wurde das Brihat
geboren. Weil dieses, o Menschen, eine grofse (brihat) Zeit lang
in ihm verblieb, darum heifst es Brihat. Gleichwie ein ältester
Sohn, so steht das Brihat zu Prajäpati." —
Klarer als in dieser Stelle, welche den sich in dem Manas
des Prajäpati entwickelnden und durch die Hebammenhülfe
;206 III. Geschichte des Prajäpati.
der Väc zur Geburt gelangenden Keim auf liturgische Ver-
hältnisse bezieht, tritt die Verselbständigung von Manas und
Väc hervor in der (S. 201 besprochenen) Stelle Qatap. Br. 6,1,
2,7, wonach Prajäpati als Manas mit der Väc den Zeugung s-
akt vollzieht (sa manasä eva vavaw mitliumun samabhacat)* aus
dem die verschiedenen Götter entspringen. Manas und Väc
sind zwei Ausdrucksformen für den göttlichen Willen, und es
hätte nahe gelegen, durch Hypostasierung der einen oder andern
die Mythologie in Philosophie zu verwandeln, indem man an
die Stelle des wollenden Weltschöpfers den weltschaf-
fenden Willen setzte. Dieses Ziel wird jedoch nicht erreicht,
und nur einige demselben zustrebende Stufen sind noch er-
kennbar; erstlich von Seiten des Manas, indem dieses über
Prajäpati erhoben und als erstes Produkt des Asad betrachtet,
zugleich jedoch mit dem Brahman identifiziert wird (oben
S. 202), endlich auch, jedoch nur vorübergehend, mit Prajäpati
(Qankh. Br. 26,3), oder auch mit dem weder Nichtseienden
noch Seienden des Sehöpfungshymnus liigv. 10,129,1 identisch
erklärt wird (Qatap. Br. 10,5,3,1); zweitens von Seiten der
Väc, indem diese in einigen Stellen eine zunehmende und
schliefslich dem Prajäpati gefährliche Selbständigkeit anzu-
nehmen droht. So heifst es Pancav. Br. 20,14,2:
„Prajäpati war diese Welt allein; die Väc war sein Selbst
(svam), die Väc sein Zweites [sein alter ego]; er erwog: «ich will
diese Väc hervorgehen lassen, und sie soll hingehen, dieses All zu
durchdringen»; da liefs er die Väc hervorgehen, und sie ging hin,
indem sie dieses All erfüllte."
Ahnlich drückt sich eine von Weber (Ind. Stud. 9,477)
mitgeteilte Stelle aus dem Käthakam (12,5) aus:
„Prajäpati fürwahr war diese Welt; ihm war die Väc sein
Zweites [sein alter ego]: mit ihr pflog er Begattung; sie wurde
schwanger; da ging sie von ihm aus, da schuf sie diese Geschöpfe,
und dann ging sie wieder in Prajäpati zurück."
— In ähnlichem Sinne heifst Prajäpati Qatap. Br. 5,1,1,16
Väcas pati (der Herr oder Gatte der Väc), ja Qatap. Br. 5,1,
3,11 wird der, allerdings vom Verfasser nicht gutgeheifsene,
Gedanke geäufsert: „wenn es noch etwas Höheres als Prajä-
Prajäpati = Samvatsara, Yajna. 207
pati giebt, so ist es die Väc"; und eben diese wird Qatap.
Br. 8,1,2,9 mit Vicvakarman , dem AUschöpfer , gleichgesetzt:
„die Vac fürwahr ist der weise Vicvakarman, denn durch die
Väc ist diese ganze Welt gemacht"; hierzu stimmt Qatap. Br.
11,1,0,18, wo Indra, um zum All zu werden, zur Vac wird:
„denn die Väc ist diese ganze "Welt".
— Wenn man bedenkt, dafs Manas (Entschlufs) und Vac
(Rede) nichts andres als der sich zum Ausdruck bringende
Wille sind, dafs somit der Versuch, eines oder das andre
von Prajäpati zu emancipieren und als selbständiges Princip
der Welt hinzustellen, im Grunde, wie schon oben bemerkt,
darauf hinausläuft, an Stelle des wollenden Wcltschöpfers den
weltschöpferischen Willen zu setzen, so mag man es wohl be-
dauern, dafs dieser so fruchtbare philosophische Gedanke in
Indien so bald nach seinem Auftreten wieder in den Hinter-
grund gedrängt wurde. Aber das Zeitalter war zu sehr von
liturgischen Interessen beherrscht, als dafs der philosophische
Gedanke sich dem hätte entziehen können; und ein ursprüng-
lich liturgischer Begriff, das Brahman, ist es, um welchen sich,
so gut und so schlecht dies gehen mochte, alles konzentrieren
sollte, was das vedische Zeitalter an philosophischen Gedanken
hervorgebracht hat.
r. . A . \ Samvatsara
Fraianatt = { T^ .
J l I Yajna.
Wiederholt schon sahen wir, dafs der aus Rigv. 10,121
entsprungene Prajäpati auch diejenigen Bestimmungen an sich
trägt, welche die übrigen philosophischen Hymnen des Rig-
veda der Weltursache beilegen. Prajäpati ist der „hauchlos
Atmende" Rigv. 10,129,2 (oben S. 195), der Purusha Rigv.
10,90 (oben S. 197. 199), der Vicvakarman Rigv. 10,81. 82
(Qatap. Br. 7,4,2,5 „fürwahr, Prajäpati ist Vicvakarman"), und
so ist er denn auch der Weltenvater, welchen wir schon in
dem Einheitsliede des Dirghatamas Rigv. 1,104 auftreten sehen.
Von diesem Vater hiefs es Rigv. 1,104,11 — 12, er sei einerseits
verkörpert (purtshin) in des Himmels jenseitiger Hälfte als
das Rad der Weltordnung, auf dem die Tage und Nächte als
720 Söhne stehen, anderseits aber sei er auch der niedern
208 HI. Geschichte des Prajäpati.
Sphäre als weitleuehtendes Opferfeuer eingefügt (oben 8. llOfg).
Auf Anschauungen, wie sie in diesem Liede hervortreten,
welches in der Opferordnung das Abbild der Weltordnung
sieht, beruht es, dafs Prajäpati (nachdem er schon Rigv. 10,190
dem Jahre mit seinen Tagen und Nächten gleichgesetzt worden
war, oben S. 133 — 134), in den Brähmana's einerseits als das
Jahr (samvatsara) , anderseits als das Opfer (yajna), noch
öfter aber als Jahr und Opfer zugleich bezeichnet wird.
Der ursprüngliche Sinn dieser Gleichsetzung mufs gewesen
sein, dafs man in den Jahresprodukten sowie auch in der pro-
duktiven Thätigkeit des Opferns ein Ebenbild der Schöpfer-
thätigkeit des Prajäpati sah; Qatap. Br. 11,1,6,13: „Prajä-
pati erwog: «fürwahr, dieses habe ich als ein Ebenbild
meiner selbst erschaffen, was das Jahr ist»; darum
sagen sie: Prajäpati ist das Jahr, denn als ein Ebenbild seiner
selbst hat er es erschaffen"; und ganz analog heilst es Qatap.
Br. 11,1,8,3, Prajäpati habe sein Selbst den Göttern zum Opfer
hingegeben; „und indem er den Göttern sein Selbst dahingab,
schuf er dieses als Ebenbild seiner selbst, was das
Opfer ist; darum sagen sie: Prajäpati ist das Opfer, denn
als ein Ebenbild seiner selbst hat er es erschaffen". Weiter
aber wird Prajäpati geradezu identifiziert mit dem Jahre
(Catap. Br. 1,5,1,16. 1,6,3,35. 5,1,2,9. 8,4,3,20. 10,4,2,2. 10,4,1,16),
mit dem Opfer (Qatap. Br. 1,1,1,13. 1,5,2,17. 1,6,1,20. 2,5,1,7.
4,3,4,3. 4,5,5,1. 5,1,1,2. 5,1,2,11. 5,1,2,12. 5,1,4,1. 11,5,2,1. Paü-
cav. Br. 7,2,1), mit dem Jahre und dem Opfer zugleich
(patap. Br. 1,5,3,2. 1,9,2,34. 5,4,5,20. 5,4,5,21); vgl. gänkh.
Br. 6,15:
„Dieses, der Pi'ajäpati seiende, vierundzwanzigteilige [in 24
Halbmonate eingeteilte] Jahr ist , was die Viermonatsopfer sind ;
Prajäpati ist das All, und die Viermonatsopfer sind das All;
darum erlangt das All durch das All, wer [die Viermonatsopfer
bringend] solches weifs."
Das Motiv dieser Identifikationen liegt nicht fern; Prajä-
pati, der Herr der Geschöpfe, ist eine Personifikation der
Schöpferkraft der Natur, wie sie im Verlaufe des Jahres durch
die Produkte der Jahreszeiten zum Ausdrucke kommt. Wie
aber die Menschen von den Erzeugnissen des Jahres leben,
Prajäpati = Samvatsara, Yajna. 209
so leben die Götter von den im Kreislaufe des Jahres sich
wiederholenden Opfern (Manu 4,25 — 26: dem agnihotram,
dargapürnarnäsau, nava-sasya-ishti, cdturmäsyäni, dem halbjähr-
lichen pagu, dem jährlichen soma). Nun ist Prajäpati nicht
nur der Erhalter der Menschen, sondern auch der der Götter.
Wie er daher das Jah r und seine Produkte für die Menschen,
so schuf er für die Götter das Opfer, bis er schliefslich sich
in diese seine Schöpfungen auflöst und so (nachdem schon im
Purusha-Hymnus Rigv. 10,90 und in den Vicvakarman-Liedern
die Weltschöpfung als Opfer erschienen war) in strengem
Parallelismus selbst zu dem Jahre und zugleich zu dem
Opfer wird.
5. Anhang zur Geschichte des Prajäpati:
Die Hymnen des Atharvaveda an Kala, Rohita, Anadvän, Vacä*
Die philosophischen Hymnen des Atharvaveda nehmen
den Rigveda-Hymnen, Brähmana's und Upanishad's gegenüber
vielfach eine isolierte Stellung ein, die es nicht immer möglich
macht, sie an Vorhergehendes mit Sicherheit anzuknüpfen;
und noch weniger gelingt es, das Nachfolgende, die Upani-
shadlehre aus ihnen abzuleiten. Sie stehen nicht sowohl inner-
halb des grofsen Entwicklungsganges, als vielmehr ihm zur
Seite, und auch hier macht es den Eindruck, als wenn die
Atharvandichter in Indien nicht ganz „zur guten Gesellschaft"
gezählt worden seien. Sie rächen sich, wie die Exkludierten
sich zu rächen pflegen: sie lassen es an Ehrerbietung gegen das
Hergebrachte fehlen, zeigen sich skeptisch, rationalistisch und
fortschrittlich, und ihre philosophischen Anschauungen werden
dadurch oft excentrisch, bizarr und malslos, was in Indien
gewifs viel heifsen will. Um ihres absonderlichen Charakters
willen verdienen sie eine monographische Behandlung; wir
wollen uns hier auf das Wichtigste beschränken und dasselbe,
so gut es gehen will, an das Grundgewebe anschliefsen. Zur
Lehre von Prajäpati stellen wir die Hymnen über Kala, Rohita,
Anadvän und Vagä, wozu sie schon selbst auffordern, sofern
von jedem dieser Principien versichert wird, dasselbe sei
selbst Prajäpati, oder auch, es habe diesen hervorge-
Deussen, Geschichte der Philosophie. I. 14
210 III. Geschichte des Prajäpati, Anhang.
bracht: so von Kala 19,53,8. 10; von Rohita 13,2,39. 13,3,5;
vom Anadvän 4,11,-7. 11, von der Vagd 10,10,30. Aber auch
innere Gründe treten für diese Anschliefsung ein, sofern Pra-
jäpati als Samvatsara (Jahr) und Yajna (Opfer), wie wir sahen,
auch den Brähmana's geläufig ist. Samvatsara aber ist in
abstrakterer Fassung Kala (die Zeit), an den Atharvav. 19,53. 54
gerichtet sind, während der Rohita Atharvav. 13,1. 2. 3. im
Texte selbst für Kala erklärt wird (13,2,39), somit viel-
leicht die Sonne als konkreter Repräsentant der Zeit ist.
Anderseits lassen sich an Prajäpati als Yajna die Hymnen an
Anadvän (Ochse) 4,11 und Vagä (Kuh) 10,10 insofern an-
knüpfen, als diese Tiere hier als symbolische Vertreter der
in der Natur wie im Opfer verwirklichten zeugenden und
erhaltenden Kraft zu figurieren scheinen.
Zwei Hymnen an Kala, die Zeit.
Atharvav eäa 19,53.
1. Die Zeit fährt hin, ein Rofs mit sieben Zügeln1,
Mit tausend Augen2, ewig, reich an Samen;
Auf ihn [den Wagen] steigen weise Seher 3,
Und seine Räder sind die Wesen alle.
1. Die sieben Planeten (oben S. 111) oder die sieben Aditya's (oben S. 108)?
2. Der durch seine Umdrehung die Zeit regelnde Sternenhimmel. 3. Nur
die Weisen sind Wagenlenker, alle andern Wesen sind die passiven Räder.
2. Es fährt dies Rofs der Zeit der Räder sieben *
Mit sieben Naben, ewig ist die Achse;
Herwärts 2 kommt sie zu allen diesen Wesen ,
So eilt die Zeit hin als der Götter erster.
1. Vielleicht eine der Rigv. 1,164,1 — 5 genannten Siebenheiten, oder blofse
Zahlenspielerei? Jedenfalls ist die Anschauung von v. 1, nach dem alle
Wesen die Räder sind, hier verlassen, vgl. die Anmerkung zu Rigv. 1,164,13
(oben S. 111). 2. Als Zukunft.
3. Es kommt die Zeit mit vollem Krug beladen1,
Wir seh'n ja , wie sie ihn ausschüttet vielfach 2 ;
Und wegwärts 3 geht sie dann von allen Wesen ;
Man rühmt die Zeit im höchsten Himmelsraume.
1. Das Füllhorn der Zeit, wie wir sagen würden. 2. In der Gegenwart.
3. Als Vergangenheit.
Prajäpati als Kala, Atharvav. 19,53. 211
4. Sie hat hervorgebracht 1 die Wesen sämtlich
Und überdauert2 auch die Wesen sämtlich;
Ihr Vater ist sie und zugleich ihr Sohn 3,
Darum ist keine höh're Macht als diese.
1. Eigentlich herbeigebracht. 2. Eigentlich unischritt, überging. 3. Sie ist
vor ihnen und wird nach ihnen sein.
5. Die Zeit schuf einst den Himmel dort,
Die Zeit die Erdenwelten hier;
Was war, was sein wird, durch die Zeit
Getrieben, mufs entfalten sich.
6. Die Zeit erschuf das Erdenrund;
Es glüht die Sonne in der Zeit;
Die Wesen all sind in der Zeit,
In ihr, was nur das Auge schaut.
7. Manas und Präna sind in ihr,
In ihr befafst der Käme ist1;
Und alle Wesen freuen sich,
Wenn ihre Zeit gekommen ist.
1. Bewufstsein (manas), Leben (präna) und Sprache (numan) sind in der Zeit
beschlossen, kommen nur in ihr zur Entwicklung.
8. Das Tapas auch beschlossen ist,
Brahman, das Höchste, in der Zeit;
Sie ist des Weltalls Herrscherin,
War Mutter des Prajäpati 1.
1. Wörtlich: Herrscher und Vater, da Kala, die Zeit, masculinum ist.
9. Durch sie erregt, hervorgebracht,
Bestellt in ihr allein die Welt ;
Die Zeit, Brahman geworden, trägt
In sich den Parameshthin (oben S. 204) selbst.
10. Die Zeit schuf der Geschöpfe Heer,
Schuf anfangs den Prajäpati;
Svayambhü'1 sowie Kacyapa2
Und Tapas 3 wurden durch die Zeit.
1. Svayambhü „der durch sich selbst Seiende", später als Neutruni Beiwort
des Brahman, eine Abstraktion, ähnlich der des Parameshthin, nicht so.wohl
an Rigv. 10,83,4, als vielmehr an die svadhä „Selbstsetzung" Rigv. 10,129,2. 5
anzuschliefsen. 2. Name eines vedischen Sängers, wie auch alter Name
für Schildkröte (kacchapa). Vielleicht auf letzterer Bedeutung beruht (in
dem Sinne wie oben S. 197) die Vorstellung des Kacyapa als eines letzten
14*
212 HI- Geschichte des Prajäpati, Anhang.
Trägers der Welt, analog dem Svayambhü und Parameshthin, und wie diese
vielfach mit andern Principien identisch gesetzt. 3. Tapas als Urprincip
erschien schon Rigv. 10,190 (oben S. 134). — Der Dichter erhebt sein
Princip zum höchsten, indem er alle früher aufgestellten, für welche die ge-
nannten nur als Beispiele dienen, von ihm abhängig macht. — Ebenso im
folgenden Hymnus.
Atharvaveda 19,54.
1. Die Wasser aus der Zeit wurden,
Brahman, Tapas, der Weltenraum ;
Durch sie geschieht der Sonn -Aufgang,
In ihr der Sonne Untergang.
2. Durch sie fährt hin der Wind läuternd,
Durch sie streckt sich die Erde breit,
In ihr der weite Himmel ruht.
3. In ihr, was war und was sein wird,
Schuf ehedem das heilige Wort1;
Die Hymnen aus der Zeit wurden,
Die Opfersprüche aus der Zeit.
1. mantra, d. h. das brahman, die trayi vidyä als schöpferisches Princip in
der Zeit.
4. In ihr Opfer man aufbrachte,
Der Götter unvergänglich Teil ;
In ihr Gandharva's , Apsaras',
Die Welten selbst gegründet sind.
5. In ihr vom Himmel her auftrat
Angiras und Atliarvan hier;
Sie schuf die Erdenwelt, die höchste Welt auch,
Schuf reine Welten , reiner Welt Ausspannung.
6. Die Zeit gewann durch Brahman alle Welten;
So eilt die Zeit hin als der Götter höchster.
Die Hymnen an Rohita.
Taitt. Br. 2,5,2,1—8. Atharvav. 13,1—3.
Als eine andre Umformung des Prajäpati, oder wenigstens
als eine Gestalt, welche wesentliche Züge von ihm entlehnt
hat, ist zu betrachten Rohita, „der Rote" oder (nach der in
seinen Hymnen beliebten Etymologie) „der [am Firmament]
Prajäpati als Rohita. 213
Emporgeführte", das heifst ursprünglich die Sonne, dann
aber, mit Unterscheidung der körperlichen Erscheinung und
der in ihr wirkenden Kräfte, die schöpferische Sonnenkraft,
der Genius der Sonne, welcher mit der Sonne selbst bald
als identisch betrachtet, bald wieder von ihr unterschieden
wird (Taitt. Br. 2,5,2,7 tasmin gigriye aja1 ekapäd = Atharvav.
13,1,6; vgl. Atharvav. 13,1,22 rohita neben rohini = süri, und
v. 25, wo Rohita als die strahlende Kraft erscheint, welche
der Sonne wie dem Feuer gemeinsam ist). — Schon in einer
wichtigen, auch in dem Rohita-Liede Atharvav. 13,2,35 reprodu-
zierten Stelle des Rigv. 1,115,1 heifst es von Sürya, der
Sonne:
Es stieg empor der Götter glänzend Antlitz,
Das Auge Mitra's, Yaruna's und Agni's,
Und überstrahlte Himmel, Erd' und Luftraum,
Siirya, das Selbst (äfman) des, was sich regt und feststeht.
Aus Stellen wie dieser, welche die Sonne als das Selbst, die
Seele der belebten und leblosen Natur feiert, mochte die
Richtung erwachsen, welche den Rohita, die Sonne oder den
Genius der Sonne, für das schöpferische Princip der Dinge
erklärte und ihn demgemäfs mit den wesentlichen Zügen des
Prajäpati ausstattete, sodafs es in den letzten Ausläufern dieser
Entwicklung von ihm heifst, Atharvav. 13,2,39 — 41:
Rohita ward zur Zeit (Kala) anfangs, Rohita zu Prajäpati,
Er ist der Opfer Uranfang, Rohita brachte uns das Licht.
Rohita ist zur Welt worden, er überstrahlt den Himmelsglanz,
Rohita ist's, der durchwandert mit seinen Strahlen Erd' und Meer.
Durchstreifend jede Weltgegend ist er des Himmels Oberherr,
Himmel, Ocean und Meere, alles, was ist, behütet er.
Hier werden auf Rohita nicht nur die Namen Kala und Prajä-
pati übertragen, sondern auch die beiden Grundfunktionen
des letztern, die Schöpfung und Erhaltung der Welt, und
wenn es in scheinbarem Widerspruch dagegen Atharvav.
13,3,23 heifst, die Götter hätten den Rohita erzeugt, so ist
214 HI. Geschichte des Prajäpati, Anhang.
daran so wenig (mit Muir 5,396) Anstofs zu nehmen, wie an
der analogen Äufserung Rigv. 10,90, die Götter hätten durch
Opferung des Purusha die "Welt, zu der sie selbst mit gehören,
hervorgebracht (oben S. 154); an beiden Stellen sind die
Götter nur mythologischer Zierat und nichts andres.
— Leider ist uns diese so naturwahre Lehre von Rohita,
der Sonnenkraft als dem schöpferischen und belebenden Princip
der Dinge, nicht mehr in ihrer ursprünglichen Gestalt erhalten,
sondern nur in zusammengestoppelten und für fremde Zwecke
dienstbar gemachten Fragmenten, nämlich in den beiden
Stücken Taitt. Br. 2,5,2,1—8 und in den Atharvaliedern 13,1—3.
Das Taittiriya-brahmanam 2,5,2,1 — 8 verwendet acht
Verse des Rohitaliedes in liturgischem Sinne; der aus dem
Meere aufsteigende und die Welt schaffende und erhaltende
Rohita soll nach Angabe des Scholiasten der Prajäpatirüpo
"'qvah (p. 600) oder agvarüpah Prajäpatih (p. 602) sein, das
heifst Prajäpati in Gestalt des aus dem Wasser, in dem es
gebadet wurde, herausgeführten, beim Acvamedha zu opfern-
den Rosses, nachdem schon Taitt. Samh. 7,5,25 (sowie später
Brih. Up. 1,1) das Opferrofs mit dem Weltall symbolisch
identifiziert wurde. In dieser Auffassung des Rohita als
Opferrofs, von deren Ursprünglichkeit nach dem ganzen
Charakter des Textes keine Rede sein kann, haben wir einen
neuen und handgreiflichen Beleg für die (oben S. 175 fg.
nachgewiesene) Art, wie die Brähmana's philosophische Texte
für liturgische Zwecke zurechtschneiden und entstellen. Den
besten Beweis werden die Verse selbst bieten, die wir hier
übersetzen:
Taittmya-hrälimavam 2,5,2,1 — 8.
1. Empor, Kraftvoller, der du weilst in Wassern!
Und dieses Reich betritt, das wonnevolle!
Ja, Rohita, der diese Welt erschaffen,
Mach' uns in unsern Reichen wohlbehalten!
2. Der Steigende (rohita) hat Stieg' um Stieg' erstiegen
Wachstum durch Kinder, der Geschöpfe Heimort,
Er, als ihr Inbegriff, fand die sechs Weiten,
Hat, ausschauend nach Bahn, dies Reich erobert.
Rohita, Taitt. Br. 2,5,2. 215
3. Erobert hat sich Eohita das Reich hier,
Zerstreut die Feinde, Freiheit sei von Furcht uns!
Mit mächt'gen Tönen mögt ihr, Erd' und Himmel,
Mit reichen Klängen uns dies Reich ermelken.
-4. Rohita überstreicht die Welt allformig,
"Wenn Anstieg ihm und Aufstieg sich vollenden;
Zum Himmel dringend mit gewalt'ger Gröfse,
Mög* er benetzen uns *das Reich* mit seinem Labtrank.
5. Die Völker, die durch deine Glut getreten
Nach deinem Kalb, der Gäyatri, ins Dasein,
Nimm in dich auf mit ihrer ganzen Fülle,
Zärtlich, wie Sohn und Mutter, komme zu xxns!
6. Und ihr, o Marut's, mächt'ge Pricni- Söhne,
Mit Indra's Hilfe rafft hinweg die Feinde;
Gern hört euch Rohita, ihr Himmelstürmende ,
Ihr dreimal sieben Marut's, Süfstranklustige !
7. Rohita schuf den Himmel und die Erde,
In ihm der Höchste spannt des Opfers Faden,
Auf ihn stützt sich der ewige Einfüfser (die Sonne),
Er hat mit Kraft befestigt Erd' und Himmel.
8. Rohita hat befestigt Erd' und Himmel,
Er hat gestützt des Himmels Licht und Feste,
Im Mittelreich den Luftraum ausgemessen,
Des Himmels Licht fanden durch ihn die Götter.
Noch weniger als das eben mitgeteilte Brähmanastück
können die Rohita-Hymnen des Atharvaveda 13,1. 2. 3
darauf Anspruch machen, die ursprünglichen Texte der Rohita-
Lehre zu sein. Vielmehr sind es Verwendungen gewisser auf
Rohita bezüglicher Bruchstücke zu Zwecken, welche dieser
Lehre ganz fremd sind. — Zunächst nun bedarf es kaum des
Hinweises auf die Verschiedenheit der Versmafse, die Zu-
sammenhanglosigkeit des Inhalts, vielleicht auch die Inkonse-
quenz der Anschauungen, um jedem deutlich zu machen, dafs
alle drei Lieder bunt zusammengewürfelte Fragmente sind.
So unzweifelhaft aber dies ist, so wenig können wir uns die
Schnellfertigkeit mancher Vedaphilologen in Ausscheidung,
Umstellung, Zerlegung solcher überlieferter Trümmer zu eigen
216 HI. Geschichte des Prajäpati, Anhang.
machen, wenn wir uns den Prozefs vergegenwärtigen, dessen
letzte Ergebnisse sie sind. Es wurden, so dürfen wir an-
nehmen, ursprünglich Lieder gesungen, welche den Rohita,
die im rötlichen Schimmer der Sonne wie auch des Feuers
sich offenbarende Kraft, zum Princip der Dinge erhoben und
demgemäfs mit den Zügen des Einheitsliedes Rigv. 1,164, der
Vicvakarmanlieder 10,81. 82 und namentlich des Prajäpati-
Hymnus 10,121 ausstatteten. Die Verschiedenheit der Metra
wie der Anschauungen weist darauf hin, dafs es manche dieser
Lieder gegeben hat. Sie wurden gesungen und wieder ge-
sungen, — von einer schriftlichen Aufzeichnung kann für diese
Zeit keine Rede sein, — und soweit sie Anklang und Ver-
ständnis fanden, prägten sie sich dem Gedächtnisse ein.
Manches ging hierbei verloren, in der Regel wohl das Un-
bedeutendere, mitunter vielleicht auch das Tiefste und Beste,
weil man es nicht verstand. Die in Gedächtnis behaltenen
Verse der verschiedenen Lieder klumpten dann nach und nach
zu gröfsern Ganzen zusammen, wurden mit andern, wirklich
oder nur scheinbar verwandten Reminiscenzen zu Komplexen
verbunden, mit deren Zusammenstimmung man es nicht sehr
genau nahm, und diese Komplexe verdanken ihre Erhaltung
oft nur dem Umstände, dafs sie in den Dienst praktischer,
oft ganz anderartiger Zwecke gestellt wurden, denen dann die
Lieder durch ungehörige Einschiebungen und Abänderungen,
so gut es gehen wollte, angepafst wurden. So verdanken
wir die Erhaltung des besprochenen Fragmentes Taitt. Br.
2,5,2 seiner Verwendung beim Rofsopfer, und ganz ebenso
stehen die im Atharvaveda erhaltenen Bruchstücke im Dienste
der diesem Veda eigentümlichen Zwecke. — Am deutlichsten
ist dies bei dem dritten Liede, Atharvav. 13,3, welches in
schwungvollen, aber sehr unzusammenstimmenden Rhythmen
und mit mannigfacher, teils wörtlicher, Rückbeziehung auf die
philosophischen Hymnen des Rigveda den Rohita feiert, —
nur um, wie der allen Versen angehängte Refrain sagt, diesem
zornmütigen Gotte als ägas, als Objekt des Ärgernisses und
der Rache, als &vdfos[j.a denjenigen zu weihen, der einen Brah-
manen schindet und plagt. Hier kann an der Verwendung
älterer, zum Teil auch anderweit wiederkehrender Verse zu
Rohita, Atharvav. 13,1. 217
einem ihnen ganz fremden Zwecke gar kein Zweifel sein. —
Weniger deutlich ist der Zweck des zweiten Liedes,
Atharvav. 13,2. Dasselbe ist seinem Hauptbestande nach ein
aus vielen Bruchstücken zusammengesetzter und namentlich
auch reichlich mit Rigvedaversen durchflochtener Hymnus an
die Sonne, der seine Aufnahme unter die Rohita-Lieder wohl
nur der Einschiebung einiger Rohita-Verse 13,2,25 — 26 und
39 — 41 verdankt, in denen allein von Rohita die Rede ist. —
Am rätselhaftesten und interessantesten liegen die Verhältnisse
bei dem ersten Liede, Atharvav. 13,1, welches aus 60 Versen
besteht und sehr heterogene Bestandteile enthält. Wir fangen
bei der Analysis am besten von hinten an. Hier lösen sich
zunächst die beiden Gäyatristrophen v. 59 — 60 ab, welche
um Beharrlichkeit im sittlichen und rituellen Wandel den
Indra anflehen, zu Rohita keine nähere Beziehung haben und
hier vielleicht nur gleichsam als Fufsnote zur Erklärung des
zwischen Göttern und Menschen ausgespannten Opferfadens
in v. 6 dienen sollen. — Vorhergehen die Verse 56 — 58, ein
Fluchlied in der Manier des Atharvaveda gegen den, welcher
eine Kuh tritt, lyratyan süryam mehati (welches auch Hesiod
schon verbietet, erga v. 727 [x-qh' dvr" tjsXiou TSTpa,u.[ji.svo<; opj'oc
fyj.r/stv), Feuer und Sonne durch Zwischentreten abschneidet,
ohne weitere Beziehung auf Rohita. — Das vorhergehende Stück
v. 45 — 55 ist ein zusammenhängender, nur wenig verderbter
Hymnus, in welchem der mit Sonne und Feuer identisch ge-
setzte Rohita als Rishi erscheint, der durch sein Gebet die
beiden Opferfeuer, Winter und Sommer, anfacht, auf denen
das Leben der Natur beruht. — Davor steht v. 36 — 44 ein
Abschnitt, welcher, übrigens selbst ein Aggregat von Frag-
menten, das Geheimnisvolle, nur dem Weisen Verständliche
an dem wechselweisen Erscheinen und Verschwinden der Sonne,
des Rohita, mit mehrfacher Anlehnung an Rigv. 1,164,17. 19.
41. 42 feiert., — Endlich bleibt übrig als Hauptbestand des
Liedes der Teil v. 1 — 35, der zwar keine ursprüngliche Ein-
heit bildet, aber in sekundärer Weise zu einem einheitlichen
Zwecke verschmolzen ist; er bezieht sich nämlich auf einen
König, welcher wiederholt (v. 1. 5. 8. 34. 35) angeredet wird,
dann auch wieder selbst zu reden scheint (v. 12. 13. 14. 28.
518 HI. Geschichte des Prajäpati, Anhang.
30. 32), und welchem Rohita, der König der Welt, sein Reich
verleihen, oder erhalten, oder auch wiederherstellen soll.
Hierbei werden auch die acht Verse Taitt. Br. 2,5,2,1 — 8,
denen eine solche Beziehung gänzlich fehlt, verwendet, teil-
weise in anderer, durch die Beziehung auf den König bedingter
Form, ohne dafs sich mit Sicherheit entscheiden liefse, ob
für diese ersten Verse die Beziehung auf den König vom
Atharvaveda später hineingetragen worden, oder ob sie ur-
sprünglich gewesen ist und vom Taittiriya-brähmanam beseitigt
wurde. — Wir übersetzen die Lieder, indem wir versuchen,
die Teile und Unterteile, so gut dies möglich ist, von einander
zu sondern. Die mit einem Kreuz bezeichneten Verse sind
die mit dem Taitt. Br. gemeinsamen; die hervorgehobenen
Stellen beziehen sich auf den König.
Atharvaveda 13,1.
A. Vers 1 — 35.
•}• 1. Empor, Kraftvoller, der du weilst in Wassern,
Und dieses Reich betritt, das wonnevolle!
Ja, Rohita, der diese Welt gemacht hat,
Soll wohlbehalten Dich dem Reich erhalten.
2. Die Kraft erschien, die in den Wassern weilte;
Steig' über Völkern auf, die dir entsprungen!
Soma enthaltend, Wasser, Kräuter, Rinder,
Vierfüfsiges und Zweifüfsiges , bring' es her uns!
■\ 3- Und ihr, o Marut's, mächt'ge Pricni- Söhne,
Zei'malmt mit Indra's Hülfe unsre Feinde!
Gern hör' euch Rohita, ihr Überquellende,
Ihr dreimal sieben Marut's, Süfstranklustige !
f 4. Die Stiege auf, empor stieg Rohita,
Das Ammenkind1, zu der Geschöpfe Heimort;
In Windeln ihn auffanden die sechs Weiten,
Er hat, nach Bahn schauend, dies Reich erobert.
1. Die Ammen sind die Stiege, Anstiege und Aufstiege; Tgl. v. 9.
•f 5. Für Dich hat Rohita dies Reich erobert,
Zerstreut die Feinde; Freiheit ward von Furcht Dir;
Mit mächt'gen Tönen mögen Erd' und Himmel,
Mit reichen Klängen Dir den Wunsch ermelk en.
Koliita, Atharvav. 13,1. 219
*j" 6. Rohita schuf den Himmel und die Erde,
In ihm der Höchste spannt des Opfers Faden,
Auf ihn stützt sich der ewige Einfüfser (die Sonne),
Er hat mit Kraft befestigt Erd' und Himmel.
•\ /l. Rohita hat befestigt Erd' und Himmel,
Er hat gestützt des Himmels Licht und Feste,
Das Mittelreich, den Luftraum ausgemessen,
Unsterblichkeit fanden durch ihn die Götter.
•j* 8. Rohita überstrich die Welt der Formen,
Wenn Anstieg sich und Aufstieg ihm vollenden;
Zum Himmel steigend mit gewalt'ger Gröfse,
So möge er Dein Reich mit Milch, mit Butter salben»
9. Auf deinen Stiegen, Anstiegen, Aufstiegen
Gehst du und füllst den Himmel und den Luftraum,
Genährt durch ihr Gebet, durch ihre Milch, sei
Ein Wächter über Volk und Reich für diesen!1
1. Lies: rohita, asya.
•f" 10. Die Völker, die durch deine Glut getreten
Nach deinem Kalb, der Gäyatri, ins Dasein,
Nimm in dich auf mit mildgesinntem Geiste,
Zärtlich, wie Kalb und Mutter, komme zu uns!
11. Hoch steht nun Rohita am Firmamente,
Jung und doch weise, schafft er alle Formen,
Mit scharfem Lichte glänzt herab sein Feuer,
Im dritten Himmelsraum schafft er uns Freuden.
(Die folgenden Verse scheint der König zu sprechen.)
12. Der Stier mit tausend Hörnern, Wesenkenner,
Besprengt mit Opferbutter, Soma, mannhaft,
Verlasse nicht mich! Nicht lass' ich dich, dein Schützling,.
Gieb mir Gedeihen an Rindern und an Helden.
13. Rohita ist des Opfers Mund und Zeuger,
Ihm bring' ich opfernd Rede, Ohr und Herz dar,
Zu Rohita geh'n Götter, freudigen Gemütes,
Ansehen geb' er in der Ratsversammlune mir!
220 UI. Geschichte des Prajäpati, Anhang.
14. Rohita setzte Vigvakarman's Opfer ein1,
Daher mich diese Kräfte überkamen; —
So weit die Welt ist, deine Nabe2 möcht' ich rühmen!
1. Das Selbst-Opfer des Vifvakarman, als welches Rigv. 10,81. 82 die Welt-
schöpfung erschien. 2. Die Weltnabe, auf deren Rad nach Rigv. 1,164,13.
10,82,6 alle Wesen stehen.
15. Dich hat bestiegen Brihati und Pankti,
Und Kakubh voller Glanz, o Wesenkenner!
Dich, mit der Ushnihä und heil'gem Laut, der Yashat-Ruf,
Dich hat bestiegen Rohita mit seinem Samen l.
1. Wie oben v. 10 die Gäyatri das Erstgeborne des Rohita war (vgl. S. 227.
v. 5), so werden hier die Metra Brikett?, Pankti, Kakubh, Ushnihä, der heilige
Laut Om und der Opferruf Vashat sein Same genannt, mit dem er den Jäta-
vedas, d. h. wohl das (Opfer-)Feuer besteigt. Dürfte man ändern (oder Jäta-
vedas auf den Königsthron beziehen), so könnte es eine Anrede an den
Thron des Königs sein, den nach Ait. Br. 8,6 bei der Königsweihe die
'Götter mit den Metren besteigen, indem der König zum Throne spricht: Agnish
tvä Gäyatryä sayvk chandasä ärohatu , Savitä Ushnihä, Somo Anushtubhä,
Brihaspatir Brihatyä, Miträ-Varunau Panktyä, Indras Trishtubhü, Vipve
devä Jagatyä. Tän aham artu räjyuya, sämräjyäya, bhaujyuya, svärujyäyo,
vairujyäya, pärameshthyäya, räjyuya, mähäräjyäya, udhipatyuya, srävafyäya
•atishthäya ärohämi. Vgl. Ait. Br. 8,12, wonach der Thron des Indra aus
Metren besteht.
16. Er hüllt sich in den Schofs der Erde,
In Himmel sich und Luftraum sich,
Und er durchdringt die Himmelswelten
Nach jenseits vom Lichtrosse aus 1.
Ein isoliertes Fragment eines Rohita- Liedes.
Vers 17 — 20. Anrede des Priesters an den König: Väcas-
pati, der Genius des Lebens, soll alle segnen, besonders aber
soll das überhaupt (parameshthin, hier der König) von Agni,
Rohita und dem Priester mit Kraft und Glanz umkleidet
werden. (Die Verwendung dieser Verse beim godanam ist
wohl erst ganz sekundär.)
Roliita, Atharvav. 13,1. 221
17. 0 Lebensherr! gelincl sei uns die Erde,
Gelind die Heimstätte, das Lager lieblich,
Das Leben auch weil' hier in unsrer Freundschaft, —
Und Dich, o Oberhaupt, soll Agni
Mit Lebenskraft und Lebensglanz umgeben!
18. 0 Lebensherr! unsre fünf Jahreszeiten,
Die Vigvakarman schuf, uns zu umblühen,
Das Leben auch weil' hier in unsrer Freundschaft, —
Und Dich, o Oberhaupt, soll Kohita
Mit Lebenskraft und Lebensglanz umgeben.
19. 0 Lebensherr! Frohsinn und Geist verleih' uns,
Im Kuhstall Rinder, in den Schöfsen Kinder,
Das Leben auch weil' hier in unsrer Fi-eundschaft, —
Und Dich, o Oberhaupt, will selbst ich hier
Mit Lebenskraft und Lebensglanz umgeben.
20. Um Dich sei Savitar, der Gott, und Agni,
Auf Dir Mitra mit Glanz und Varuna,
Alle Unholde niedertretend, nahe,
Du hast dies Reich Dir wonnevoll bereitet.
Vers 21 — 27 folgt ein Fragment, welches keine erkennbare
Beziehung zur Königsweihe zeigt, und in dem neben Roliita
als folgsame Gattin Roliini oder Süri, d. h. wohl der farben-
schillernde (prishati) Sonnenkörper, tritt. Rohita ist der
zeugungskräftige Stier, Roliini die milchreiche, willig gewäh-
rende Kuh der Götter. — Voran steht, gleichsam als Thema,
der stark veränderte Vers Rigv. 8,7,28.
21. Wenn dich im Wagen, Rohita!
Als Vorspannrofs die Bunte fährt,
Wandelst du schön, strömst Wasser aus.
22. Dem Rohita zeigt Rohini sich folgsam,
Die Sonnin, kraftvoll, grofs und schön von Farbe,
Mit ihr lafst uns in allen Kämpfen siegen,
Mit ihr bewältigen alle Feindesheere.
222 HI. Geschichte des Prajäpati, Anhang.
23. Dem Rohita dient Rohini zum Wohnsitz,
Dort ist sein Pfad, wo sie, die Bunte, wandelt,
Sie ziehn Gandharva's, Kagyapa's nach oben,
Und sie behüten Weise unablässig.
24. Der Sonne gelbe, strahlenreiche Rosse
Ziehn ihren leichten Wagen stets, unsterblich,
Und Rohita, von Opferbutter glänzend,
Steigt auf zum Himmel, steigt empor zur Bunten.
25. Rohita ist der Stier mit scharfen Hörnern,
Die um das Feuer, um die Sonne strahlen,
Von ihm, der Erd' und Himmel festgestützt hält,
Von ihm her schaffen Schöpfungen die Götter.
26. Rohita stieg zum Himmel auf
Dort aus dem grofsen Ocean,
Alle Aufstiege Rohita erklomm.
27. Der Milch- und Butterreichen brüll' entgegen,
Sie ist der Götter Milchkuh, unversagend;
Nun trinkt den Soma Indra, Friede walte,
Agni lobsinge, Du treib' weg die Feinde! —
Vers 28 — 32. Diese Verwünschungen der Nebenbuhler
können wechselweise dem Könige (v. 28. 30. 32) und einem
«einfallenden Chore (v. 29. 31) zugeteilt werden.
28. Nun ist entzündet, flammt empor
Agni, mit Butter reich besprengt;
Bewältigend, allbewältigend
Treff' meine Nebenbuhler er!
29. Er treffe sie, versenge den,
Der noch als Feind uns widersteht !
Mit Agni, dem fleischfressenden,
Sengen die Nebenbuhler wir.
30. Schlag' nieder , schlag' zu Boden sie ,
Indra, mit deinem Blitz im Arm,
Durch Agni's Kraft gebunden sind
Jetzt meine Nebenbuhler mir.
Rohita, Atharvav. 13,1, 223
31. Wirf, Agni, seine Nebenbuhler uns zu Füfsen,
Stürz' um, Brihaspati, den stolzen Blutsverwandten,
Hinab lafst fahren sie, Indra und Agni,
Mitra und Varuna! ohnmächtig sei ihr Zürnen.
32. Gott^Sürya, der du steigst empor,
Schlag' meine Nebenbuhler ab,
Mit einem Steinwurf stürze sie
Hinab in tiefste Finsternis! —
Vers 33 — 35 scheint das Königslied mit einem Schlufs-
segen zu Ende zu gehen.
33. Als Kalb der Viräj l und als Stier der Lieder
Bestieg mit lichtem Rücken er den Luftraum;
Lobsingt dem Kalb das Lob mit Butterspende,
Brahman (Gebet) ist es, durch Brahman macht es wachsen!
1. Rohita ist das Kalb der Viräj (Urmaterie) in dem Sinne, den wir oben
S. 153 besprachen. (Eine andre Auffassung wäre, dafs Rohita, wie sogleich
durch das Gebet, so hier durch das Metrum Viräj genährt würde.)
34. Zum Himmel steige und zur Erde steige,
Zum Reiche steige und zum Reichtum steige,
Steig' zu Nachkommen, zur Unsterblichkeit auf,
Mit Rohita mög'st Du Dein Selbst verschmelzen1!
1. Der Angeredete mufs der König sein, so schlecht die erste Vershälfte
auf ihn pafst. Vielleicht hiefs es ursprünglich, in einem Gebete an Rohita:
rohita nah tanvam samsprigasva, „o Rohita, mit uns dein Selbst verschmelze!"
35. Die Götter, reichserhaltende, die um die Sonne kreisen,
Mit diesen im Vereine möge Dir
Wohlwollend Rohita das Reich gewähren! —
B. Vers 36 — 44.
Das Sonnengeheimnis; in Fragmenten.
36. Dich führen Opfer, durch Gebet geläutert,
Empor, als Rosse wandernd ihre Wege;
Über das Meer hin überstrahlst du seine Flut.
224 HI- Geschichte des Prajäpati, Anhang.
37. Auf Rohita beruhen ErcV und. Himmel,
Auf ihm, der Güter, Rinder schafft und Beute;
Du, des Nachkommen tausend sind und sieben1,
So weit die Welt ist, deine Nabe möcht' ich rühmen2!
1. Vielleicht die tausend Fixsterne und die sieben Planeten. 2. Vgl. v. 14.
38. Herrlich durchläufst du Pole, Zwischenpole,
Herrlich der Tiere "Welt und regen Menschen;
Herrlich im Schofs der Aditi, der Erde,
0, möchte schön wie Savitar ich werden.
39. Wenn drüben du, weifst du was hier,
Wenn hier, schaust du was drüben ist;
Weit schaut von hier den Himmel man,
An ihm den weisen Sonnengott.
40. Als Gott sengst du die Götter selbst,
Und dennoch wandelst du im Meer;
Ja, alle zünden Agni an,
Doch nur sehr Weise kennen ihn.
41. Abwärts vom Jenseits, aufwärts doch vom Diesseits
Die Kuh emporklimmt mit dem Kalbe schwanger. —
Wohin gewandt, nach welcher Gegend zog sie?
Wo nur gebiert sie? doch nicht in der Herde!1
1. = Rigv. 1,164,17. Die Erklärung oben S. 112.
42. Einfüfsig und zweifüfsig und vierfüfsig,
Achtfüfsig dann geworden und neunfüfsig
Und tausendsilbig als des Weltalls Metrum,
Von dem herab die Meere sich ergiefsen 1.
1. Vgl. Rigv. 1,164,41—42, oben S. 117.
43. Zum Himmel steigend f ordre, Gott, die Rede mir!
Dich führen Opfer, durch Gebet geläutert,
Empor als Rosse, wandernd ihre Wege.
44. Ich weifs es, o Unsterblicher,
Was dein Aufstieg am Himmel ist,
Und was dein Wohnsitz ist im höchsten Räume !
Rohita, Atharvav. 13,1. 225
C. Vers 45 — 55.
Rohita schafft die Welt durch Opferung; ein zusammen-
hängendes Lied, nachgebildet dem Purusha-Liede Rigv. 10,90,
doch mit bedeutsamer Hervorhebung des Brahmanbegriffes.
45. Die Sonne überschaut Erde und Himmel und die Wasserflut,
Die Sonne als der Welt Auge empor zum hohen Himmel stieg.
46. Die Pole waren Grenzhölzer, die Erde ward zum Opferbett,
Wo als zwei Feuer anfachte Kälte und Hitze Rohita.
47. Als Kalt' und Hitz' er anfachte, zu Opferpfosten Berge schuf,
Als Schmalz Regen gofs lichtkundig in beide Feuer Rohita.
48. Durch Rohita's, des lichtkund'gen, Gebet flammt da das Feuer auf,
Durch ihn Hitze, durch ihn Kälte, durch ihn dies Opfer ward
vollbracht.
49. Durch sein Gebet die zwei Feuer wuchsen, beopfert durch Gebet;
Durch Rohita's Gebet flammten, des lichtkund'gen, der Feuer zwei.
50. Im Satyam x angelegt eines, in Wassern bricht das andre auf,
Durch Rohita's Gebet flammten, des lichtkund'gen, der Feuer zwei.
1. Ob Satyam und Wasser sich hier verhalten wie das Höchste (vgl. das
spätere satyaloka) und Tiefste, oder etwa wie causa efficiens und materialis,
lassen wir dahingestellt.
51. Er, den der Windgott umschönert, Indra und Brahmanaspati,
Durch Rohita's Gebet flammten, des lichtkund'gen, der Feuer zwei.
52. Er, der als Opferbett Erde, als Opfergabe Himmel schuf,
Als Opferfeuer schuf Hitze, Rohita, Regen -Schmalz schaffend,
hat alles ätman -haft gemacht.
53. Regen ward Schmalz, Hitze Feuer, die Erde ward zum Opferbett,
Dann hob die Berge hier Agni durch Lobgesänge hoch empor.
54. Durch Loblieder sie hochhebend, sprach dann zur Erde Rohita:
„Auf dir soll alles dies werden, was ward, und was in Zukunft ist."
55. Und so geschah dies Erst-Opfer, es war und wird fortwährend sein,
Durch ihn erzeugt ist dies Weltall, und alles was hienieden glänzt,
durch den allweisen Rohita.
Deussen, Geschichte der Philosophie. I. 15
226 IU- Geschichte des Prajäpati, Anhang.
D. Vers 56—58.
Angehängte Verfluchungsformeln.
56. Wer eine Kuh tritt mit Füfsen, Wasser abschlägt zur Sonne hin,
Dir hau' ich deine Wurzel ah, wirf künftig keinen Schatten mehr.
57. Der du, beschattend mich, vortrittst zwischen das Feuer ein und
mich,
Dir hau' ich deine Wurzel ab, wirf künftig keinen Schatten mehr.
58. Wenn einer heut', o Gott Sürya, sich eindrängt zwischen dich
und mich,
An dem wischen wir Angstträume und Unrat ab und Ungemach.
E. Vers 59—60.
Schlufsgebet, an Indra.
59. Nicht lafs vom Weg uns weichen ab, vom Somaopfer, Indra, nicht,
lafs nicht Unholde trennen uns!
60. Der Faden, der als Opfer geht bis zu den Göttern ausgespannt,
den lafs uns opfernd fassen an!
Atharvaveda 13,2.
Dieses an die Sonne gerichtete Lied (vgl. oben S. 217)
enthält nur zwei auf Rohita bezügliche Stellen, von denen die
eine schon oben S. 213 mitgeteilt wurde, die andre, v. 25 — 26,
welche einen Vicvakarman-Vers (Rigv. 10,81,3) frei benutzt,
hier noch folgen mag.
25. Rohita ist, an Tapas reich, zum Himmel aufgestiegen,
Und er, im Mutterschofs geboren abermals,
Ist zu der Götter Oberherrn geworden.
26. Der allerregend, von allen Seiten Antlitz ist,
Yon allen Seiten Hand, Handfläche allseits,
Er trägt auf seinen Armen, trägt auf Flügeln,
Der eine Gott, schaffend, Himmel und Erde.
Atharvaveda 13,3.
Obgleich dies Lied eine Anzahl von Rohita -Versen nur
benutzt, um daraus eine Verfluchungsformel zu schmieden
Rohita, Atharvav. 13,3. 227
gegen den, welcher einen Brahmanen bedrängt, so sind doch
jene Verse, die unzweifelhaft älteren Liedern entnommen sind,
zu reich an poetischer Schönheit und philosophischer Be-
deutung, als dafs wir sie hier entbehren möchten.
1. Der Himmel hier und Erde hat erschaffen,
Der in die Dinge sich wie in ein Kleid hüllt,
In dem die Pole, die sechs Weiten ruhen,
Durch die er wie ein Vogel hoch hindurchblickt, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, sei der ein Greuel,
wer den dies wissenden Brahmanen schindet;
erschüttre ihn, o Rohita, zermalm' ihn,
leg' ihn in Fesseln , den Brahmanenschinder !
2. Durch den zu ihrer Zeit die Winde brausen,
Von dem herab die Meere sich ergiefsen, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
3. Der sterben läfst und leben läfst, von dem
Ihr Leben die Geschöpfe alle haben, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
4. Der, wenn er einhaucht, Erd' und Himmel sättigt,
Durch seinen Aushauch füllt den Bauch des Meeres, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
5. In dem Viräj, Parameshthin , Prajäpati,
Agni Vaigvänara und die Pankti ruhen,
Der des Höchsten Odem, des Allhöchsten Kraft besitzt, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
6. In dem beruh'n sechs Weltweiten, fünf Pole,
Vier Meere und des Opfers heil'ger Dreilaut (om),
Des Auge Zorn blickt zwischen Erd' und Himmel, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
7. Der Nahrung nimmt und Herr ist aller Nahrung,
Der Brahmanaspati selbst ist, ...
Der war, was erst noch werden wird, der Herr der Welt, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
8. Der mifst durch Tag und Nacht den dreifsigteiligen (Monat),
Der auch den dreizehnten Schaltmonat ausmifst, —
ihm , dem zornmüt'gen Gott , u. s. w.
15*
228 HI. Geschichte des Prajäpati, Anhang.
9.' Beschwingte Rosse ziehn auf dunklem Wege
Im Wasserkleide neu empor zum Himmel,
Sie kehren wieder her vom Thron der Ordnung, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
1. = Rigv. 1,164,47 (oben S. 118).
10. 0 Kagyapa! Das Schimmernde, Glanzvolle
Prunkhafte, reich an Licht, das du gezimmert,
Und an es setztest alle sieben Sonnen, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
11. Das Brihat-Säman kleidet ihn von Osten,
Es hegt ihn das Rathantaram von Westen,
In Licht ihn kleidend ewig, unablässig, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
12. Sein einer Flügel Brihat war, sein andrer
Rathantaram, kraftvoll zusammenschiefsend,
Als Götter einst den Rohita erzeugten, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
13. Er ist allnächtlich Varuna, ist Agni,
Und er ist Mitra, wenn er morgens aufgeht,
Als Savitar durchwandelt er den Luftraum,
Als Indra glüht er mitten durch den Himmel, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
14. Er spannt die Flügel tausend Tagesweiten,
Wenn er als goldner Vogel fliegt am Himmel,
An seinem Busen hält er alle Götter,
So wandelt er, die Wesen überschauend, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
15. Ja, dieser Gott, wenn er im Wasser weilt, ist
Atri,1 mit tausend Wurzeln, vielen Kräften2,
Er, welcher diese ganze Welt geschaffen, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
1. Schon hier also Deutung des Atri-My thus auf die Sonne. 2. Henry (les
hymnes Rohitas p. 48) will puruqäkho lesen; aber solange die Sonne im
Wasser weilt, kann wohl von ihren Wurzeln und Kräften, nicht aber von
ihren Zweigen die Rede sein.
Roliita, Atharvav. 13,3. 229
16. Den lichten Gott hinführen rasche Rosse,
Wenn er mit Herrlichkeit am Himmel strahlet;
Sein Leib glüht hoch am Himmel, und derselbe
Scheint bis hierher mit goldnen Strahlenstreifen, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
17. Auf des Geheifs die Falben die Aditya's fahren,
Durch dessen Opf'rung viele mit Bewufstsein wandeln,
Das eine Licht nach vielen Seiten glänzend, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
18. x Einrädrig ist der Wagen, den die sieben
Anschirr'n, ihn zieht ein Rofs mit sieben Namen;
Dreinabig ist es, ewig, unaufhaltsam,
Das Rad, auf welchem alle Wesen fufsen, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
1. = Rigv. 1,164,2. Die Erklärung oben S. 108.
19. Achtfach geschürt zieht ein gewalt'ger Renner,
Der Götter Vater, der Gebete Zeuger,
Des Opfers Faden ausmessend im Geiste,
Durchläutert er die Welt als Mätarigvan, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
20. Derselbe Faden läuft durch alle Weiten
In die Gäyatri, die des Ew'gen Schofs ist, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
21. Drei Sonnenuntergänge, drei Aufgänge,
Drei Luftreiche und auch drei Himmel giebt es,
Wir kennen , Agni , deine drei Geburten ,
Wir kennen die drei Ursprünge der Götter, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
22. Der, als geboren er, die Erde aufschlofs,
Ein Wellenmeer [von Licht] im Luftraum setzte, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
23. Du, Agni, angelegt durch Kraft, durch Lichtglanz,
Entflammt als Sonne, glänzest hoch am Himmel;
Wie jauchzten da die Marut's, Pricni- Söhne,
Als Götter einst den Rohita erzeugten, —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
230 III. Geschichte des Prajäpati, Anhang.
24. l Der Odem giebt und Kraft giebt, er, dem alle,
Wenn er befiehlt, gehorchen, selbst die Götter,
Der hier beherrscht Zweifüfsler und Vierfüfsler,
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
1. Ans Rigv. 10,121, v. 2 und 3 (ol.cn S. 132).
25. * Der Einfufs schreitet schneller als der Zweifufs wohl,
Der Zweifufs holt den Dreifufs ein von hinten,
Der Vierfufs kommt auf der Zweifüfs'gen Ruf herbei ,
Schaut auf zu ihnen , ihre Schar umwedelnd , —
ihm, dem zornmüt'gen Gott, u. s. w.
1. = Rigv. 10,117,8 (oben S. 94). Der Einfufs, welcher schneller ist als der
Mann, der Greis am Stabe und der Hund, ist (wie Atharvav, 13,1,6, oben
S. -219) die Sonne.
2G. Aus schwarzer Nacht ward hellglänzend ein junges Kalb ge-
hören uns,
Und hoch am Himmel aufsteigend erstieg die Stiege Rohita.
Die Hymnen an an ad van und vapä.
Atharvaveda 4,11. 10,10.
Das philosophische Denken bewegt sich in Abstraktionen,
und um so mehr, je allgemeinere Verhältnisse es umspannt.
Das Volk hingegen hat nur für das Konkrete Verständnis;
ihm müssen daher jene abstrakten Vorstellungen in Symbole
umgesetzt werden. Prajäpati ist, rein abstrakt gefafst, die
zeugende und gebärende Kraft der Natur. Ein naheliegendes
Symbol für dieselbe ist der zeugende Stier, die gebärende
Kuh. Wir werden daher die beiden Hymnen Atharvav. 4,11,
welcher anadvän, den Ochsen, und Atharvav. 10,10, welcher
wf«, die Kuh, als Princip der Welt feiert, am passendsten
der Prajäpati -Lehre anschliefsen, um so mehr, als beide in
den Hymnen ausdrücklich mit Prajäpati identifiziert werden
(Atharvav. 4,11,7. 11. 10,10,30), Einen Vorgang hat diese Sym-
bolik in dem Hymnus Rigv. 10,31, den wir oben S. 139 — 141
mitteilten, und in welchem die zeugende und gebärende Kraft
der Natur als Stier und Kuli auseinandertraten. Dort hiefs es,
Prajäpati als ana<Jvan, Atliarvav. 4,11. 231
Rigv. 10,31,8: ickshä sa dyäväprithivt bibharti, während der so-
gleich mitzuteilende Hymnus Atharvav. 4,11,1 mit den Worten
beginnt: anadvän dädhdra prithivim uta dydm. Hiernach ist,
eine bewufste Bezugnahme des Jüngern Dichters auf den
altern wohl möglich.
/'rajäpati = anadvän.
Atharvaveda 4, 1 1 .
Von einem Stieropfer (wie wohl behauptet worden) ist
in diesem Hymnus keine Bede; vielmehr heilst es ausdrücklich
v. 3, dafs der von keinem Ochsen essen wird, welcher weifs,
was dieser Hymnus lehrt, dafs Prajäpati als Ochse Erde,
Himmel und Luftraum trägt (v. 1), dafs die sieben Jahres-
zeiten seine Melkungen sind (v. 9), und dafs <lns vratam (die
Observanz) des Prajäpati, vermöge dessen ihm zwölf Nächte
des Jahres heilig sind, ein anaduho vratam, ein diesem Welt-
ochsen geltendes Gelübde, ist. Durch diesen welttragenden
und welterhaltenden Ochsen sind denn auch (wie vormals
durch Prajäpati, oben S. 102. 104) die Götter zur Unsterblich-
keit gelangt (v. 6); unter ihnen ist Indra seine besondere
Erscheinungsform (v. 7 fnd.ro rüpend), „als Indra aber ist er
unter den Menschen gegenwärtig als der heifse Kessel Gharma"
(vielleicht der beim Pravargya gebrauchte), „welcher glüht",
d. h. dessen Glühen mit dem Hervorleuchten der Blitze Indra's
aus den Wolken verglichen wurde, v. 3. Weiter erinnert
dieser Gharma durch seine vier Füfse (die er gehabt haben
mufs, v. 5) an die vier Füfse des Weltochsen, den er vorstellt.
Anderseits entspricht wiederum Agni, das Opferfeuer, dieser
Mittelpunkt der Welt, dem valta des Ochsen, welcher von
vorn und hinten gleich weit entfernt ist (v. 8), somit hier
nicht das Schulterblatt, sondern etwa das llückenkreuz oder
den auf ihm, wie Agni auf der- Erde, ruhenden Teil des
Geschirrs bedeuten mag. Was endlich v. 10 betrifft, so mufs
(falls er nicht ans einem Ackerliede zufällig hierher gelangt
ist) seine Bedeutung sein, da ('s der Weltochse mit sich zugleich
den Pflüger, d. h. den Verehrer, zur höchsten Seligkeit empor-
führt.
232 HI. Geschichte des Prajäpati, Anhang.
Atharvaveäa 4,11.
1. Der Ochse trägt die Erde und den Himmel,
Der Ochse trägt dazu den weiten Luftraum.
Der Ochse trägt die Pole, die sechs Weiten,
Er in die ganze Welt ist eingegangen.
2. Der Ochs ist Indra, ist des Vieh's Behüter l,
Durchmifst als mächfger Gott2 dreifache Wege,
Was war, was sein wird und was ist3, ermelkt er,
Die Satzungen vollbringend aller Götter.
1. Wohl Pdshan. 2. Vielleicht Vishnu. 3. Prajäpati als Kala (Zeit).
3. Als Indra weilt er in der Menschen Mitte,
Erhitzt als Kessel und [wie Indra] glühend; —
Der wird nachkommenreich, geht nicht im Nebel,
Wer, weil er solches weifs, nicht ifst vom Ochsen!
4. Der Ochse melkt im Jenseits die Vergeltung;
Der Wind, von Osten brausend, macht ihn schwellen,
Der Regen ist sein Milchstrom, Sturm sein Euter,
Opfer die Milch, die Melkung Opfergabe.
5. Er, welchen Opfrer nicht, noch Opfer meistert1,
Nicht wer die Gabe giebt, noch wer sie annimmt,
Allsieger er, Allträger und Allschöpfer (Vigvakarma))), —
Sagt, kennt ihr des vierfüfs'gen Kessels Wesen?
1. Die Bedeutung des Kessels wird damit, dafs er beim Opfer dient, nicht
erschöpft, da er Vertreter des Indra und, durch diesen, des Weltoclisen
(Prajäpati, Vigvakarmän) ist.
6. Durch den die Götter auf zum Himmel stiegen,
Des Leibes ledig, zu des Ew'gen Nabe (S. 220),
Der führe uns zu der Vergeltung Welt auf,
Ruhmreich durch Tapas, treu des Kessels Satzung1.
1. gharmasya vratam = anadulio vratam = Prajapater vratam.
7. Indra an Form, an Kreuz des Rückens Agni,
Prajäpati, Parameshthin und Viräj, —
Vigvänara (Indra) habt erstiegen ihr,
Vaigvänara (Agni) habt erstiegen ihr,
Den Ochsen habt erstiegen ihr,
Er ward [der Welt] Befestiger, er der Träger.
Prajäpati als anadväu, Atharvav. 4,11. 233
8. Das ist des Ochsen Mittelpunkt, wo hier ihm liegt des Rückens
Kreuz ,
Von hier liegt ihm so viel rückwärts, wie von ihm vorwärts
liegt von hier.
9. Wer kennt des Ochsen Melkungen, die sieben unversieglichen,
Erlangt Kinder, erlangt Himmel; die sieben Bishi's kannten sie.
10. Was er zertritt, ist Entkräftung, Erquickung was sein Bein
wirft auf,
Zum Himmelstranke durch Mühe geh'n beide, Ochs und Pflüger,
ein.
11. Man sagt ja, diese zwölf Nächte sei'n heilig dem Prajäpati,
Doch wer den Spruch auf sie kennt, weifs, dafs sie dem Ochsen
heilig sind.
12. Er melkt abends, er melkt morgens, er melkt auch um die
Mittagszeit,
Und seine Melkungen alle kennen als unversieglich wir.
Prajäpati = vagä.
Atharvaveda 10,10.
Dafs unter der Kuli (vagä) dieses Hymnus, nicht in den
Anfangsversen, wohl aber von v. 4 an, das schaffende und
tragende Princip aller Dinge zu verstehen ist, ergiebt sich im
allgemeinen aus den ihr beigelegten Prädikaten. Anderseits
aber sind die Aussagen unseres Dichters über die Vagä, über
ihr Verhältnis zu dem Opfer, zu den Göttern, zu den Dingen
so wenig zusammenstimmend, und die über dieselben vorge-
brachten Mythen tragen so sehr das Gepräge des Geheimnis-
vollen, ohne doch eigentlich tiefsinnig zu sein, dafs wir nicht
an den philosophischen Ernst des Verfassers glauben können,
vielmehr in seinem Gedichte ein Stück Philosophie und Ge-
heimnisthuerei im Dienste äufserer, materieller Zwecke zu
erkennen meinen. Welches diese Zwecke sind, darüber giebt
Anfang und Schlufs des Ganzen Aufschlufs. — Die Kuh ist
die gewöhnliche Opfergabe (dakshinä), und sie als solche
anzunehmen, war ein Privilegium der Brahmanen, welches
diese auf alle Weise zu schützen suchten. Diesem Zwecke
234 HI. Geschichte des Prajäpati, Anhang.
dient auch unser Hymnus, denn sein Grundgedanke ist, dafs
nicht jeder würdig ist, die Kuh als Opfergabe entgegen-
zunehmen, sondern nur derjenige, welcher die schon im Eigveda
(z. B. 1,164. 10,31) angedeuteten geheimnisvollen Beziehungen
der Kuh zum Universum versteht. Und nun ergeht sich der
Verfasser in philosophischen Betrachtungen, die zwar dem
Uneingeweihten sehr tief erscheinen mögen, in Wahrheit aber
keinen innern Zusammenhang besitzen und nur darauf berechnet
sind, zu imponieren. — Wenn es der allgemeine Charakter
der Sophistik ist, die Philosophie oder was ihr ähnlich sieht,
im Dienste nicht der Erkenntnis sondern äufserer Zwecke zu
betreiben, so können wir vielleicht unsern Hymnus als ein
Stück indischer Sophistik betrachten. Wir übersetzen ihn
hier, indem wir versuchen, die Teile zu sondern und ihren
Grundgedanken zu bestimmen.
Vers 1 — 3. Nur der darf eine Kuh als Opfergabe annehmen,
welcher in ihre Geheimnisse eingeweiht ist.
1. Ehre sei dir, wenn du entstehst, Ehre, wenn du entstanden bist,
Den Hufen und den Schweifhaaren sei Ehre, Kuh, und der
Gestalt !
2. Nur wer die sieben Höhen kennt und auch die sieben Fernen weifs,
Und wer des Opfers Haupt wohl weifs , soll nehmen zum Ge-
schenk die Kuh.
3. Die sieben Höhen kenne ich, die sieben Fernen weifs ich auch,
Auch weifs des Opfers Haupt wohl ich, und Soma, sichtbar in
der Kuh.
Vers 4—8. Metaphysik der Vaca, ohne innere Zusammen-
stimmung; v. 6 ist sie die Gattin des Parjanya, v. 7 ist der-
selbe ihr Euter; v. 5 atmen die Götter in der Kuh, v. 6
geht sie erst durch die Macht des Gebetes zu den Göttern ein.
4. Durch sie sind Himmel und Erde behütet und die Wasser hier,
Die Kuh mit tausend Milchströmen begrüfsen wir durch unsern
Spruch.
5. Hundert Eimer, hundert sind Melker,
Hundert Behüter sind in ihrem Rücken,
Die Götter, die in ihr atmen, die kennen allzumal die Kuh.
Die va^ä, Atharvav. 10,10. 235
6. Opfer als Fufs, als Milch Labung, Freiheit als Odem hat die Kuh,
Sie geht als Gattin Parjanya's ein zu den Göttern durch Gehet.
7. In dich ging ein der Gott Agni, in dich Soina, o Büffelin,
Euter an dir ist Parjanya, Zitzen, o Hehre, Blitze sind.
8. Wasser war deine Erstmelkung, o Kuh, die zweite Ackerland,
Als dritte hast du Reich, Nahrung und Milch, o Kuh gemolken uns.
Vers 9 — 12. Mythologie der Kuh: Indra tränkt sie mit
Soma, sie aber wendet sich dem Stier (etwa dem Vritra) zu,
worauf Indra erzürnt ihr die Milch raubt und sie in drei
Schalen an den Himmel versetzt; hingegen raubt die Kuh
wiederum vom himmlischen Opfersitze des Atharvan in drei
Schalen den Soma. — Eine zu Grunde liegende Naturan-
schauung, und damit eine Existenzberechtigung des Mythus,,
ist nicht erkennbar.
9. Als du, von Aditi's Kindern gerufen, nahtest, Heilige,
Da reichte dir als Trank Indra in tausend Schalen Soma dar.
10. Als Indra du genaht willig, da rief, o Kuh, der Stier dich an;
Darum hat dir der Feind Vritra's zürnend den Trank, die Milch,
geraubt.
11. Die Milch, die zürnend dir damals der Schätzeherr, o Kuh,
geraubt,
Die hält noch heut' in drei Schalen das Firmament in seiner Hut.
12. Dafür hast du in drei Schalen den Soma, Göttin Kuh, geraubt,.
Dort oben wo Atharvan safs, geweiht auf goldner Opferstreu.
Vers 13 — 17. Alle Götter der drei Weltgebiete, von
Soma, Väta und Sürya geführt und von den entsprechenden
Geschöpfen begleitet, sollen Zeugen der Vermählung der Kuh
mit dem Ocean, d. h. wohl des Eingiefsens der Milch (vaga)
in die Soma -Kufe (samudra) sein, woraus unser Dichter ein
grofses Mysterium macht.
13. Nun kommt herbei mit Gott Soma und allem, was da Füfse hat;
Die Kuh dem Ocean nahte, geführt von Hochzeitsgenien.
14. Xun kommt herbei mit Gott Väta und allem, was da Flügel hat;
Die Kuh dem Ocean zutanzt, indem sie Vers' und Lieder trägt.
236 HI. Geschichte des Prajäpati, Anhang.
15. Nun kommt herbei mit Gott Sürya und allem, was da Augen hat:
Die Kuh den Ocean anschaut, indem die Holde Sterne trägt.
16. Als so umstrahlt von Goldglanze du standest da, o Heilige,
Zum Hengst der Ocean da ward, der dich, o holde Kuh, besprang.
17. Ha scharten sich zur Kuh selig die Freiheit und die Lehrerin,
Dort oben, wo Atharvan safs, geweiht auf goldner Opferstreu.
Vers 18 — 26. Die Kuh, die selbst aus einem dem Gebet
entsteigenden Tropfen entstanden ist, wird hier als die Mutter
aller möglichen Dinge und Verhältnisse gefeiert, wobei der
Dichter seinen andächtigen Zuhörern wieder einigen mystischen
und mythologischen Sand in die Augen streut. Hingegen
nimmt er es mit der Konsequenz der Anschauungen nicht
sehr genau; so war v. 6 das Opfer der Fufs der Kuh; hier
ist dasselbe zur Abwechslung v. 18 ihre Waffe; hingegen ist
v. 24 die Kuh des Opfers Auge; v. 20 wiederum entsteht das
Opfer aus den Weichen der Kuh, während v. 25 die Kuh
selbst das Opfer empfängt.
18. Die Kuh ist Mutter des Kriegers, ist, Freiheit, deine Mutter auch,
Das Opfer ist der Kuh Waffe; aus ihr entstand das Geistige.
19. Empor aus des Gebets Gipfel ein kleiner Tropfe stieg hinauf,
Daraus bist du, o Kuh, worden, daraus der Opferpriester auch.
20. Aus deinem Mund quollen Lieder, aus deinem Nacken, Kuh,
die Kraft,
Das Opfer aus der Bauchgegend, aus deinen Zitzeu Strahlen aus.
21. Aus deinen Schultern und Schenkeln, o Kuh, entstand der
Sonnengang;
Aus deinen Därmen Frefsgeister, aus deinem Bauch die Pflanzen-
welt.
22. Als in Varuna's Bauchhöhle, o Kuh, du eingegangen warst,
Heraus der Beter dich führte, denn dein Leitseil entdeckte er.
23. Und alle vor dem Kind bebten, das der Nichtzeuger zeugte da, —
Er zeugte sie , da nannte Kuh auch ihn man * ,
Durch die Gebete ward er ihr Verwandter.
1. Bizarre Verschleierung des häufigen Gedankens, dafs der Weise (der Beter)
•durch Erkenntnis des Princips der Dinge zu diesem selbst wird.
Die vaca, Atharvav. 10,10. 237
24. Der wird allein im Kampf siegen, der ihrer sich bemächtigt hat;
Die Opfer sind die Obsieger, Obsieger -Auge ist die Kuh.
25. Sie nimmt die Opfer entgegen, sie hält im Lauf die Sonne hoch,
Ja, in die Kuh geht ein selber der Beter mit dem Opferbrei.
26. Die Kuh ehrt als die Gottwelt man, sie als die Welt der Sterb-
lichen ,
Die Kuh allein ward dies Weltall, —
Ward Götter, Menschen, Geister, Manen und Rishi's.
Vers 27 — 34. Schlufsbetrachtung. Nur der "Wissende darf
eine Kuh als Opfergabe annehmen; den übrigen kann dies
sehr gefährlich werden (v. 27 — 28). Wer aber den Brahmanen
eine Kuh schenkt, dem werden als Lohn dafür kurzer Hand
alle Welten versprochen (v. 32 — 33). Untermischt sind diese
Ermahnungen mit fortgesetzten Lobpreisungen der Kuh und
ihrer metaphysischen Herrlichkeit.
27. Wer solches weifs, der darf die Kuh annehmen,
So wird das Opfer vollständig und willig melkend dem, der giebt.
28. Aber blinkend hat drei Zungen in seinem Rachen Varuna,
Zwischen ihnen die Kuh schimmert, als Gabe leicht verhängnisvoll !.
29. Vierfach erstreckt der Kuh Nachkommenschaft sich,
Ein Viertel Wasser und ein Viertel Götter,
Ein Viertel Opfer und das Vieh ein Viertel.
30. Die Kuh ist Himmel, ist Erde, ist Vishnu und Prajäpati,
Der Kuh Gemolkenes tranken die Seligen und Götter all.
31. Der Kuh Gemolkenes trinkend die Seligen und Götter all,
Verehren in dem Jenseits dort vom Himmelsrosse ihren Trank.
32. Manche melken aus ihr Soma, manche schätzen die Butter hoch,
Wer eine Kuh giebt dem, der dies versteht, geht zur Dreiwelt
des Himmels ein.
33. Den Brahmanen die Kuh gebend, erwirbt man alle Welten sich,
Denn in ihr ist Ritam, Brahman beschlossen und das Tapas auch.
34. Die Götter von der Kuh leben, die Menschen leben von der Kuh,.
Die Kuh ward dieses Weltganze, soweit die Sonne niederschaut.
238 HI. Geschichte des Prajäpati, Anhang.
Schlufswort.
Haben wir schon in dem letzten Hymnus die Grenze des
zur Philosophie Gehörigen überschritten, so würde dies noch
viel mehr der Fall sein, wollten wir alle die Stellen des
Atharvaveda herbeiziehen, in welchen irgend einem Gegen-
stande zu dessen augenblicklicher Verherrlichung allerlei philo-
sophische Bestimmungen zugeschrieben werden. Aber hier,
wie überall, müssen wir wohl unterscheiden die echte und
die unechte Philosophie; die eine steht erkenntnisdurstig
vor den Rätseln des Daseins und sucht sich dieselben zu
deuten so gut und so schlecht sie es vermag; die andre hat
praktische Zwecke im Auge und bedient sich der ererbten
philosophischen Begriffe und Formeln nur, um diesen zu
dienen, und an Beispielen dafür ist schon im Atharvaveda
kein Mangel. So wird Atharvav. 9,4 ein Stier (rishabha)
aufs höchste gefeiert: er trägt alle Gestalten in seinen Weichen,
er war zu Anfang ein Abbild der Wasser u. s. w. Aber für
die Philosophie ist dabei nichts zu gewinnen, denn es handelt
sich hier, wie der Zusammenhang beweist, wirklich um einen
Stier, der geopfert werden soll, und um dessen Verherrlichung.
•So wird Atharvav. 7,20 die Anumati, eine Genie der göttlichen
und zugleich der geschlechtlichen Liebe besungen und am
Schlüsse die philosophische Floskel angehängt, dafs Anumati
„zu dieser ganzen Welt geworden ist, zu allem was steht und
geht und sich bewegt". An andern Stellen werden Ingre-
dientien des Kultus mit mafslosen Übertreibungen erhoben;
so die drei Opferlöffel, von denen es Atharvav. 18,4,5 heilst:
„die Jnhü trägt den Himmel, die Upabhrit den Luftraum und
die Dhruvd die Erde"; so das Opfergras (darb/ta), welchem
Atharvav. 19,32,9, mit Reminiscenzen aus dem Rigveda, die
Befestigung der Erde, die Stützung des Luftraums und
Himmels zugeschrieben werden; endlich gehört hierher auch
Atharvav. 4,35, wo jemand durch einen für die Brahmanen
gekochten Reisbrei (brahmaudanam) der Todesgefahr zu ent-
rinnen hofft und dabei in empörender Weise diesem Reisbrei
alle die Bestimmungen beilegt, denen wir nun schon so oft
in den philosophischen Hymnen des Veda begegnet sind.
Prajäpati im Atharveda, Schlufswort. 239
Zu dieser Pseuclophilosophie müfsten wir auch den Hym-
nus an Ucchishta, Atharvav. 11,7, rechnen, könnten wir uns
entschliefsen , der allgemeinen Annahme zu folgen und unter
ucchishta den „Opferrest" zu verstehen. Wir glauben aber,
diesem Hymnus doch einen würdigern und mehr philoso-
phischen Sinn beilegen zu dürfen, und werden demgemäfs in
dem Kapitel über Purusha, Präna und Atman noch auf den-
selben zurückkommen.
IV. Geschichte des Brahman bis auf die Upanishad's.
Die drei Begriffe, in denen sich nach S. 180 das philo-
sophische Denken der Brähmanazeit zwischen Rigveda und
Upanishad's zusammenfassen läfst, waren Prajäpati, Brah-
man, Atman. Bei denselben ist das Vorrücken vom ersten
zum letzten, von Prajäpati zu Atman, ein nach der Analogie
anderer philosophiegeschichtlicher Entwicklungen leicht ver-
ständlicher Prozess. Denn er bedeutet ein Fortschreiten des
Denkens vom Mythologischen zum Philosophischen hin, wie
es überall die Regel ist. So bezeichnet Xenophanes in pole-
mischem Anschlüsse an die griechische Volksreligion sein
Princip als ^sc<;, während von seinen Nachfolgern, Pannenides
und Piaton, ebendasselbe tö cv, tö Svtgxj 5v benannt wird.
So schliefsen sich Descartes und Spinoza der mittelalterlichen
Anschauung insoweit an, als auch sie ihr Princip Dens
nennen, während in der kantischen Philosophie dafür der
bescheidenere und unserm Erkenntnisgrade geziemendere Name
Ding an sich eintritt. Ebenso verhalten sich die Begriffe Pra-
jäpati und Atman. Aber das ist bezeichnend für Indien und
seine Kultur, dafs zwischen den mythologischen und philo-
sophischen Begriff sich ein dritter schiebt, welcher von Haus
aus weder das eine noch das andre, sondern ein rein ri-
tueller ist. Es ist charakteristisch für die Zeit, welche die
gröfsten Ritualwerke der Welt, die gigantischen Lehrgebäude
der Brähmana's, errichtete, dafs auch das philosophische Denken
sich um das Brahman, einen ursprünglich rituellen Begriff',
konzentrierte und denselben so fest erfafste, dafs er auch später,
in der Upanishadzeit und darüber hinaus, ja bis auf die
240 IV. Geschichte des Brahman.
Gegenwart hin, freilich unter Abstreifung des ursprünglichen
rituellen Sinnes, beibehalten wurde, um, als völliges Synonymem
von Ätman, dasjenige zu bezeichnen, was dem Inder als der
letzte Urgrund der Welt und zugleich als das höchste Ziel
alles menschlichen Denkens und Trachtens gilt. Die eigentliche
Geschichte des Brahman liegt, wie die des Atman, auf dem
Gebiete der Upanishadlehre nebst ihren Fortsetzungen, welches
wir erst in einem spätem Abschnitte betreten werden; hier
liegt es uns ob, nur die Vorgeschichte des Brahman-Begriffes
zu liefern, indem wir versuchen, aus Brähmana,s und Atharva-
veda die Stufen aufzuzeigen, auf denen er zur Dignität eines
Weltprincips emporgestiegen ist. Vorher aber werden wir
über das Wort brähman (neutr.) zu handeln haben, während
seiner Personifikation als brahman (masc.) erst in einem spätem
Zusammenhange zu gedenken sein wird, daher wir hier die-
selbe noch ganz aufser Augen lassen.
1. Die Bedeutungen des Wortes Brahman.
Schlagen wir das Petersburger Wörterbuch nach, so finden
wir unter dem Worte Brähman (Neutrum, Nominativ Brahma)
in sorgfältiger Sonderung nicht weniger als sieben Bedeutungen,
die wir verkürzt wiedergeben können als: 1) Gebet, 2) Zauber-
spruch, 3) heilige Rede, 4) heiliges Wissen (Veda), 5) heiliger
Wandel (Keuschheit), 6) das Absolutum, 7) der heilige Stand
(die Brahmanen). — Hier möchten wir die Frage aufwerfen:
ist es möglich, dafs ein Wort so viele Bedeutungen hat? dafs
es überhaupt mehr als eine Bedeutung hat? Eigentlich wohl
nicht! Denn wenn wir von den Homonymen absehen, bei
denen ein zufälliges, durch die Armut der Laute bedingtes
Zusammenfallen des Lautwertes für verschiedene Begriffe statt-
findet, so hat eine jede Sprache von Rechts wegen, und von
besondern, nicht ohne weiteres zuzugestehenden Umständen
abgesehen, für jeden Begriff nur ein Wort und für jedes Wort
nur einen Begriff, und wenn wir beim Übersetzen aus einer
fremden Sprache für dasselbe Wort abwechselnd verschiedene
Ausdrücke wählen müssen, so beruht dies darauf, dafs sich die
Sphären der Begriffe in den verschiedenen Sprachen nicht
völlig decken, dafs vielmehr ein Wort und sein Begriff' oft
Bedeutungen des Wortes brahman. 241
vielerlei Merkmale oder, populär gesprochen, Nebenvorstel-
lungen enthält, von denen bald die eine, bald die andre in
den Vordergrund tritt und dadurch den Übersetzer jedesmal
zur Wahl eines andern Ausdruckes nötigt. Hierbei wird aber
oft die Hauptvorstellung der Nebenvorstellung zuliebe unter-
drückt, während in der Ursprache auch bei dem Hervortreten
der Nebenvorstellung die Hauptvorstellung, ja Gesamtvor-
stellung im Hintergrunde des Bewufstseins stehen bleibt und
von dort das Denken des Redenden oder Hörenden beeinflufst.
Wir wollen davon die Anwendung auf das Wort Brahman
machen und versuchen, die Einheit zu gewinnen, in der seine
sieben Bedeutungen wurzeln.
Zunächst scheidet die Bedeutung 5) heiliger Wandel,
Keuschheit, aus, da sie vergleichsweise selten und spät ist und,
wie wir mutmafsen, sich erst aus den Begriffen des brahma-
cärin und bramacaryam, des Brahmanenschülers und seines
Wandels, abgesetzt hat, welchem unter andern Pflichten die
der völligen Keuschheit auferlegt wurde. — Von den übrigen
Bedeutungen fallen dann weiter die drei ersten : 1) Gebet, 2)
Zauberspruch, 3) heilige Rede zu einem Begriffe zusammen,
der hier in einer für die Religionsentwicklung Indiens sehr
charakteristischen Weise nach verschiedenen Seiten schillert,
und diesen einheitlichen Begriff, der zugleich die einzige Be-
deutung des Wortes brahman im Rigveda an den mehr als
zweihundert Stellen, in denen es vorkommt, ist, können wir
annähernd, wiewohl unzulänglich, wiedergeben durch unser
Wort „Gebet". Unzulänglich, weil das Wort brahman, wie die
Etymologie ergiebt, von einer andern Grundanschauung aus-
geht als seine Äquivalente in den abendländischen Sprachen;
„ursprünglich nämlich bedeutet das Wort brahman (nicht, wie
die Vedäntin's etymologisieren, «das Losgelöste», «das Ab-
solutum» von barh, vettere, sondern vielmehr) von barh, farcire,
«die Anschwellung», d. h. «das Gebet», aufgefafst nicht als ein
Wünschen (evyßc'^a.i) oder Wortemachen (orare, precari) oder
Fordern (bidjan) oder Erweichen (MOMTbca) oder gar Beräuchern
(iny), sondern als der zum Heiligen, Göttlichen empor-
strebende Wille des Menschen" (System des Vedänta
S. 128), wiewohl auch in Indien die Auffassung des brahman,
Detjssen, Geschichte der Philosophie. I. 16
242 I^ • Geschichte des Brahman.
Gebetes, keineswegs jener hohen Intention treu geblieben ist,
die sich in seiner Etymologie ausspricht. Der Begriff des
Gebetes hat ja überall, und so auch hier, zwei Seiten, eine
hohe und edle, und eine niedrige und gemeine; die hohe liegt
darin, dafs wir im Gebete uns zu unserm göttlichen Ursprung
erheben, vorübergehend mit ihm eins werden, wobei wir alle
Sünde und alle Not dieser individuellen Existenz hinter uns
lassen, um sodann, gestärkt und geläutert durch das Geljet,
zu derselben zurückzukehren; die niedrige Seite besteht darin,
dafs wir zu Gott mitbringen was wir dahinten lassen sollten,
unsere individuellen Interessen, um für dieselben von ihm,
gleich als wäre er ein Mensch, gewisse Vorteile für uns zu
erbitten, zu erschmeicheln, oder, wie in Indien, zu erzwingen.
Es gereicht dem Vaterunser zu einer nicht geringen Empfehlung,
dafs jene hohe Seite durch sechs Bitten, die niedrige nur durch
eine (die vierte) vertreten ist. In Indien laufen beide Seiten
nebeneinander her und spiegeln sich in jenen beiden Neben-
bedeutungen wider, welche brahman als heilige Rede (3) und
als Zauberspruch (2) hervorkehrt. Wir wollen jene beiden
Seiten des Gebetes, welche beide für das Verständnis der
indischen Religionsentwicklung im Auge zu behalten sind, als
die überindividuelle und individuelle etwas näher aus-
einanderlegen. In gewissem Sinne schliefsen sie sich an die
beiden Elemente an, aus denen wir oben (S. 77 — 82) die
Religion selbst erwachsen sahen, und die wir als das mora-
lische und mythologische unterschieden.
Die überindividuelle Seite des Gebetes kündigt
sich deutlich in dem Ursprünge des Wortes brahman an. Denn
brahman ist ursprünglich, wie gezeigt, die Anschwellung des
Gemütes, die Erhebung und das Erhabensein über den Indivi-
dualstand, welche wir erleben, wenn wir auf den Schwingen
der Andacht zu einer vorübergehenden Einswerdung mit dem
Göttlichen gelangen. Die Worte des Gebetes sind nur der
Ausdruck dieses Gefühls der Vereinigung mit Gott, sie ge-
hören nicht dem Menschen als solchen an, sondern Gott ist
es, der sie in uns und durch uns redet. Dieses Gefühl der
Inspiration des Betenden ist schon im Rigveda sehr
lebendig entwickelt, wie folgende, aus allen Büchern des
Bedeutungen des Wortes brahman. 243
Rigveda ausgewählte Beispiele zeigen. Rigv. 1,37,4: „singet ein
.von Gott gegebenes Gebet"; 1,105,15: „Varuna wirket die
Gebete; ihn, den Pfadfinder, flehen wir an, dafs er das heilige
Lied durch unser Herz offenbare" (vyürnotu hridä mathn). —
2,9,4: „du bist (o Agni) der Ersinner des glänzenden Lob-
liedes". — 3,34,5: „(Indra) machte diese Lieder dem Sänger
kund". — 4,11,3: „von dir, o Agni, kommen die Dichtergaben,
von dir die Andachtslieder, von dir die Lobgesänge, wenn sie
gelingen sollen". — 5,42,4: „begäbe uns, o Indra, mit dem
Gebete, welches gottverliehen ist". — 6,1,1 : „denn du, o Agni,
warst der erste Ersinner dieser Andacht". — 7,97,3: „(Indra),
welcher der König des gottgeschaffenen Gebetes (brahmano
devakritasya) ist". — 8,42,3: „o Gott Varuna, schärfe diese
Andacht, schärfe die Einsicht, die Tüchtigkeit des Lern-
begierigen". — 9,95,2: „(Soma) als Gott offenbart der Götter
geheimnisvolle Namen (Wesenheiten) auf der Opferstreu, sie
zu verkünden". — 10,98,7: „Brihaspati hat ihm (dem Dichter)
die Rede dargereicht". — Diese Aufsenmgen, welche ihr Ana-
logon in allen Regionen der Religion, Kunst und Philosophie
finden, beweisen, dafs schon die vedischen Sänger sich vielfach
bewufst sind, nicht als Individuen, sondern im Dienste einer
höhern Macht zu reden; und wir lernten in Rigv. 1,164,37 — 39
bereits oben S. 116 eine Stelle kennen, in welcher der Sänger
seiner Ergriffenheit von dem Göttlichen einen fast wunder-
baren Ausdruck giebt. Und weil das Gebet göttlicher Natur
ist, darum ist es auch nicht blofs auf das beschränkt, was der
betende Sänger äufsert; nur ein Viertel der heiligen Rede weilt
unter den Menschen, drei Viertel bleiben im Himmel verborgen
(Rigv. 1,164,45, oben S. 118) als die heilige Rede, welche
Rigv. 10,125 personifiziert auftritt (oben S. 147 — 148). Sie ist
die Sprache der Himmlischen und zugleich der Gegenstand
ihrer Unterhaltung: „die Götter unterredeten sich über das
Brahman" (Taitt. Samh. 3,5,7,2); — „das Brahman redeten
die Gandharven, sangen die Götter" (Taitt. Samh. 6,1,6,6), und
nur ein beschränkter Teil dieses Brahman bildet den Veda:
„beschränkt sind die Ric, beschränkt die Säman, beschränkt
die Yajus, aber dessen ist kein Ende, was das Brahman ist"
(Taitt. Samh. 7,3,1,4). Vgl. auch die schöne Erzählung von
16*
244 IV. Geschichte des Brahmau.
der Unendlichkeit des Veda Taitt. Br. 3,10,11,3. Und diese
unendliche Wesenheit fühlte der Betende in sich erwachen,
trug er in sich; „in den geheimnisvollen Tiefen der eigenen
Brust gewahrte der durch die Andacht des Gebetes (braliman)
über seine eigene Individualität hinausgehobene Beschauer eine
Macht, welche er allen andern Mächten der Schöpfung über-
legen fühlte, eine göttliche Kraft, die, wie er empfand, allem
irdischen und überirdischen Sein als innerlich regierendes
Princip (antaryämin) einwohnt, auf der alle A\Telten und alle
Götter beruhen, aus Furcht vor der das Feuer brennt, die
Sonne leuchtet, das Gewitter, der Sturmwind und der Tod ihr
Werk verrichten (Käth. Up. 6,3), und ohne welche kein Stroh-
halm von Agni verbrannt, von Väyu fortgeführt werden kann
(Kena Up. 3,19. 23). Dieselbe poetische Gestaltungskraft nun,
welche Agni, Indra und Väyu mit Persönlichkeit umkleidet
hatte, eben dieselbe war es, welche dann weiter jene o in
niederer Enge nach allen Seiten sich entfaltende, als Erfreuer
der grofsen [Götter] mit Macht wachsende, als Gott zu den
Göttern weithin sich ausbreitende und dieses Weltall um-
fassende» (Rigv. 2,24,11) Kraft der Andacht zunächst noch in
leicht durchsichtiger Personifikation (als Brihaspati, Brah-
manaspati), dann aber wahrer, kühner, philosophischer als das
Brähman (Gebet), den Atman (Selbst) über alle Götter erhob
und diese mit der ganzen übrigen Welt in zahllos variierten
Phantasiespielen aus ihm hervorgehen liefs." — Ehe wir den
durch diese Worte (aus Syst. des Vedänta S. 18) vorge-
zeichneten Weg weiter verfolgen, müssen wir auf eine andre
Seite der Sache unser Augenmerk richten, welche für die
Entwicklung des Brahmanbegriffes nicht weniger von Einflufs
gewesen ist.
Die individuelle Seite des Gebetes reicht gerade so
weit wie das mythologische Element der Religion (S. 78 fg.),
mit dem sie, wie gesagt (S. 242), ebenso eng verwachsen ist
wie die überindividuelle mit dem moralischen Elemente, sofern
alles Moralische schliefslich auf Entselbstigung, mithin auf
den in der religiösen Andacht vorübergehend erreichten Zu-
stand hinzielt. Im Gegensatze dazu macht die mythologische
Seite der Religion, statt über alle Individualität hinaus und
Bedeutungen des Wortes brahman. 245
mit Gott zusammenzuwachsen, diesen selbst zu einem
Individuum nach Menschenart, welchem nun der Mensch als
ein anderes Individuum, dem Grofsen als Kleiner, dem Mäch-
tigen als Schwacher und Bedürftiger, gegenübertritt. Er
trägt ihm seine Wünsche vor und sucht ihre Gewährung zu
erreichen, indem er sein Gesuch durch allerlei Mittel, wie
Opfergaben, Schmeicheleien (Lob und Dank) u. dgl., unter-
stützt. Zu diesen Mitteln gehört denn auch das wohlgesetzte
Gebet, das brahman selbst, wie es als „wohlgezimmertes Lob-
lied" (2,35,2 mantra sutashtji) von dem vedischen Dichter ge-
baut lind recitiert oder gesungen wird. In der individuellen
Sphäre, mit der wir es hier zu thun haben, ist das Gebet
(entsprechend seinem Etymon in den abendländischen Sprachen,
oben S. 241) einerseits der Träger der menschlichen Wünsche,
anderseits der notwendige Begleiter der Opfergabe, um die
Götter auf diese aufmerksam zu machen und zu ihrem Genüsse
einzuladen. Dafs die Götter am Somatranke sich laben und
aus ihm Begeisterung und Kraft für ihre Thaten gewinnen,
beruht auf ihrer anthropomorphischen Natur und ist voll-
kommen verständlich. Nun aber, wie eine Sache, die immer
mit einer andern zusammenliegt, zuletzt auch deren Geruch
annimmt, so erstreckt sich das Wohlgefallen der Götter von
der Opfergabe aus zugleich auf das sie begleitende Gebet, an
dessen kunstvollem metrischen Gefüge sie eine Art ästhetischer
Freude empfinden. Wie am Soma, so erquicken und stärken
sie sich auch an dem Gebete (brahnanä vävridhänäh) , wie
Soma und Butter, so ist auch das Gebet der Frommen für sie
ein Stärkungsmittel (yasya brahma vardhanam, yasya somo,
hiefs es in dem Sajanäsa-Hymnus an Indra 2,12,14, vgl. oben
S. 96), „durch welches Indra seine Kraft erhält" (jjena Indrah
qushmam id dadhe, 8,6,11); — „dann erst hast du (o Indra)
deine grofse Heldenthat verrichtet, nachdem du vor derselben
(asya agre) dein Ungestüm durch das Gebet aufgeregt hast"
(2,17,3); — „möge unser Gebet in den Kämpfen obsiegen"
(1,152,7); — hier sehen wir schon das Gebet von der ästhe-
tischen Einwirkung auf die Götter zu einer magischen
Kraftwirkung aufsteigen, und diese wird noch deutlicher in
den Hymnen an Brahmanaspati, der ja selbst eine Verkörperung
246 IV. Geschichte, des Brahmau.
dieser magischen Kraft ist, und von dem es daher z. B. 2,24,3
heilst: „er trieb die (Wolken -)Kühe aus, indem er die Höhle
durch das Gebet spaltete"; — noch weiter geht ein später
Hymnus, 10,162,1 — 2, in welchem das Gebet nicht mehr an
Agni gerichtet, sondern vielmehr gewünscht wird, dafs Agni
mit dem Gebete sich verbünden soll, um eine Krank-
heit auszutreiben. Hier ist die ursprüngliche Bedeutung des
Gebetes schon völlig verschoben. Früher waren es die Götter,
welche durch das Gebet angetrieben wirkten, jetzt wird das
Gebet das eigentliche Agens, welches vermittelst der Götter
die gewollte Wirkung übt oder auch sie ganz beiseite läfst,
in dem einen wie dem andern Falle aber nicht mehr an den
guten Willen der Götter gebunden ist, sondern, durch sie
oder ohne sie, mit magischer Kraft, als Zauberformel ge-
sprochen, den gewollten Zweck unfehlbar bewirkt. Dies ist
der Standpunkt des Atharvaveda, der von Beispielen davon
voll ist, wie durch das Gebet (brahmanä) eine Krankheit ge-
heilt oder eine sonstige Wirkung erzielt wird; aber auch
aufserhalb desselben ist diese Auffassung zu finden; Väj.
Samh. 11,82: „ich vernichte die Feinde durch das Gebet";
Catap. Br. 5,2,4,18: „durch das Gebet tötet er die Unholdinnen,
die Kobolde"; und wenn dieses Gebet ohne Götter von
Ric, Säman und Yajus unterschieden und ihnen als Brahman
(Zauberspruch) koordiniert wird, so nehmen doch alle Gebete
des Veda in dieser Periode den Charakter von Zauberformeln
an; die Götter sind nur der Durchgangspunkt ihrer Wirkung,
sie haben keinen andern Willen als denjenigen des das Gebet
sprechenden Priesters: „der Brahmane, der solches weifs, in
dessen Gewalt sind die Götter", wie der schon oben
S. 168 aus Väj. Samh. 31,21 citierte Ausspruch lautet, in dem
diese Subordination der Götter unter das brahman, das Gebet,
zum schärfsten Ausdruck kommt.
— Wir haben gesehen, wie in den drei ersten Bedeutungen
von brahman als 1) Gebet, 2) Zauberspruch, 3) heilige Pede
nicht sowohl drei verschiedene Begriffe, als vielmehr ein Stück
Entwicklungsgeschichte des einen und einheitlichen Begriffs
des Gebetes vorliegt, welches sich einerseits nach der über-
individuellen Seite hin entwickelt zu dem unendlichen Gottes-
Bedeutungen des Wortes brahman. 247
worte, von dem der Veda nur ein Teil ist, mit welchem der
Betende verschmilzt und welches im Grunde nur der Aus-
druck des göttlichen Willens ist, und anderseits nach der
individuellen Seite hin aus einem blofsen Ausdrucke der
menschlichen Wünsche zu der diese Wünsche mit oder ohne
Vermittlung der Götter verwirklichenden Kraft wird.
Ein weiteres Stück Entwicklungsgeschichte liegt in zwei
andern Bedeutungen von brahman als 4) heiliges Wissen
(Veda), 7) heiliger Stand (Brahmanen). Wir besprachen oben
S. 159 fg. die Einwanderung der Arya's in die Gangesebene
und sahen, wie infolge dieser Völkerwanderung nicht nur
ein Versiegen der Liederdichtung, sondern auch das Aufkommen
der Vorstellung bedingt war, dafs nur durch jene alten, aus
dem Pendschäb mitgebrachten und im Besitze bestimmter
Familien befindlichen Gebete und die zugehörigen Ceremonien
eine richtige und wirksame Verehrung der Götter möglich
sei; wir zeigten auch, wie jene Liederschätze durch Austausch
zu Samhitä's, d. h. gröfsern Ganzen, verschmolzen, wie an sie,
als das brahman, sich anschlofs das brahniänam, d. h. die theo-
logische Auslegung und Gebrauchsanweisung für jene Gebete,
und wie Samhitä und Brdhmanam, nach Bic, Säman und Yajus
gegliedert, sich zur trayi vidyä, der „dreifachen Wissenschaft",
d. h. dem Veda, zusammenschlofs, dessen Besitz und Anwendung
in den Angelegenheiten der Fürsten und Völker das Privi-
legium eines bestimmten Standes, der brähmana's, d. h. der
Verwalter des brahman, „der Beter", wurde. Es ist sehr be-
deutungsvoll für die Keligionsentwicklung Indiens, dafs die
Brahmanen den Gesamtkomplex der kanonischen Urkunden
(samhita's und brälimanah) mit jenem alten Ausdrucke als
brahman, d. h. Gebet, bezeichneten und wie jenes durchaus für
inspiriert erklärten, sich selbst aber so sehr als Träger dieser
göttlichen Offenbarung betrachteten, dafs sie den Namen
brahman auch auf die Brahmanenkaste, als den Vertreter des
Göttlichen auf Erden, ja als die Personifikation desselben,
ausdehnten, so sehr, dafs sie sich als die deväh pratyaksham,
als die offenbar gewordenen Götter betrachteten. — Nunmehr
bedeutet brahman nicht nur das Gebet, sondern auch zugleich
den Veda als Inbegriff des Gebetes und die Brahmanen
248 IV. Geschichte des Brahman.
als Träger desselben, und wenn auch bald die eine oder andre
Bedeutung in den Vordergrund tritt, so ist doch an hundert
Stellen nicht zu entscheiden, ob die wirkungskräftige, zauber-
kräftige Gebetsformel, oder das ganze corpus canonicum, oder
die es handhabenden canonici gemeint sind, und es liegt in
dem gemeinsamen Namen brahman gleichsam die Aufforderung,
überall, wo dasselbe in der Brähmanalitteratur vorkommt, an
alle drei zu denken und in den Begriff des Brahman als Geljet
den des Veda und den der Brahmanen so viel wie möglich
mit einzuschliefsen.
— Noch bleibt uns eine Bedeutung des Wortes brahman
übrig, welche nicht, wie die bisher besprochenen, nur ver-
schiedene Seiten eines einheitlichen Begriffes ausdrückt, sondern
dieses seiner bisher besprochenen Entwicklung nach so durch-
sichtige Wort in einem neuen und auf den ersten Blick höchst
befremdlichen Sinne gebraucht. — Denn wie kommt das Wort
brahman, welches das Gebet, einerseits als Zaubermittel,
anderseits als göttliche Offenbarung, ferner den Veda als
Inbegriff und endlich die Brahmanen käste als Verkör-
perung des Gebetes und der göttlichen Offenbarung bedeutet, —
wie kommt dieses Wort nun weiter dazu, den göttlichen Ur-
grund aller Dinge, das schaffende und erhaltende Princip der
Welt, das Ab solu tum zu bezeichnen? —
Um dies zu verstehen, müssen wir auf die Philosophie des
Rio'veda zurückgehen.
2* Brahmanaspati und Brahman*
Wir sahen S. 141 — 143, wie schon in einer Reihe späterer
Hymnen des Rigveda unter dem Namen Brihaspati und (damit
wechselnd) Brahmanaspati eine Gottheit auftaucht, welche,
ursprünglich ein blofser Genius des Gebetes, in dem Mafse,
wie dessen Bedeutung als Stärkungsmittel der Götter sich
steigerte, immer höher wuchs bis zu einem Vater der Götter,
welchem nunmehr deren Grofsthaten, namentlich die des Indra,
mit Vorliebe zugeschrieben werden, ohne dafs doch seine ur-
sprüngliche Bedeutung vergessen wird (S. 142), wie ja auch
die Namen Brihaspati und Brahmanaspati nur lockere Kompo-
sita bilden, da jedes derselben zwei Accente trägt. In der
Brahmanaspati und brahman. 249
That ist dieser neue Gott blofs eine ganz durchsichtige Per-
sonifikation des brahman oder Gebetes, und kaum hat in der
Brähmanazeit die Interpretation der Hymnendenkmäler be-
gonnen, als auch von allen Seiten die Behauptung auftritt,
Brihaspati sei in Wahrheit das Gebet. So Ait. Br. 1,19,1
brahma vai Brihaspatih; Ait. Br. 1,30,6 brahma vai Brihaspatih;
Taitt. Samh. 3,1,1,4 brahma vai devänäm Brihaspatih', Catap.
Br. 13,5,4,25 brahma vai Brihaspatih; Catap. Br. 3,9,1 findet
sich in § 11. 12. 14 dreimal diese Formel hintereinander, und
zum Schlüsse heifst es: „das Brahman wahrlich ist Brihaspati,
ist dieses Weltall, ist alle Götter, das Brahman [nicht «the
priesthood», die ja sogleich erst folgt] macht er zum Haupte
dieses Weltalls; darum ist der Brahmane das Haupt dieses
Weltalls"; während in Catap. Br. 11,4,3,13 Brihaspatir, Brahma,
Brahmapatih eine Interpretation vorzuliegen scheint: „Brihaspati,
welcher Brahman, nämlich Brahma- pati ist". Hand in Hand
mit dieser Identifikation von Brahman und Brihaspati geht
die Erhebung des Brahman zum obersten göttlichen Princip:
Catap. Br. 2,3,2,9 — 13 erscheint es als ebenbürtig in einer Reihe
neben Rudra, Varuna, Indra undMitra; nach Catap. Br. 3,3,4,17
„treibt das Brahman die Götter vorwärts" (wenn nicht mehr,
pracyävayati); und Catap. Br. 12,8,3,29 erscheint es, weil iden-
tisch mit Brihaspati, als Hauspriester (purohita) der dreiund-
dreifsig Götter: „es heifst: die dreiunddreifsig Götter haben
Brihaspati als Purohita; aber Brihaspati ist Brahman; also be-
deutet es: sie haben das Brahman als Purohita". Nach Ca-
tap. Br. 2,1,4,10 wird beim Agnyädhänam das Feuer durch das
Brahman angelegt; „denn Brahman ist die Rede (väc, vgl. oben
S. 146 fg.), und die Wahrheit (satyam , die metaphysische Reali-
tät) dieser Rede ist das Brahman"; und nach Catap. Br. 4,1,4,10
wird es mit dem ritam, mit der ewigen Weltordnung gleich-
gesetzt, welche auch über den Göttern steht (oben S. 92).
Auch an andern Gleichsetzungen ist kein Mangel. So
ist im brahmanah parimarah Ait. Br. 8,28 das Brahman der
Wind, in welchem die fünf Gottheiten, Blitz, Regen, Mond,
Sonne, Feuer, ersterben, um wieder aus ihm hervorzugehen;
nach Qatap. Br. 8,4,1,3 sind die Präna's Brahman, während
dieselben in der Upanishad Catap. Br. 14,9,2,7 zum Brahman
250 IV- Geschichte des Brahman.
als Schiedsrichter ihres Rangstreites gehen, wie vordem zu
Prajäpati (oben S. 194). — Am häufigsten aber ist in dieser
Periode, wo man noch nicht fähig war, den Begriff des
Brahman in seiner Abstraktheit festzuhalten, die Gleich-
setzung des Brahman mit der Sonne (vgl. Praiäpati und
Rohita, oben S. 212 fg.). Catap. Br. 7,4,1,14: „wenn es heifst
«Brahman zuerst im Osten ward geboren», so wird als jene
Sonne das Brahman Tag für Tag im Osten geboren"; — Catap.
Br. 8,5,3,7: „was dieses Brahman ist, das ist eben das, was
als jene Sonnenscheibe glüht"; Taitt. Samh. 5,3,4,4: „das Brah-
man ist der Gott Savitar"; — Väj. Samh. 23,48: „das Brahman
ist ein sonnengleiches Licht"; — Shadv. Br. 1,2: „jenseits des
Luftraums ist der Ort des Brahman"; — Cänkh. Br. 8,3: „jener
Mann (piirasha), den sie in der Sonne zeigen, der ist Indra, ist
Prajäpati, ist Brahman"; und so noch später, Taitt. Ar. 10,63,15:
„jener Mann in der Sonne ist Parameshthin, Brahman, Atman". —
Catap. Br. 14,1,3,3 (und fast gleichlautend Cänkh. Br. 8,4):
„Wenn es heilst: «Brahman zuerst im Osten ward ge-
boren», so wird als jene Sonne das Brahman Tag für Tag
im Osten geboren." Hier werden die Anfangsworte eines viel
erwähnten Liedes citiert, das wir im Folgenden mitteilen wollen;
dasselbe scheint also auch von der Anschauung des Brahman
als Sonne auszugehen, doch wohl mehr symbolisch, indem das
Erstgeborne des Tages nur als sinnlicher Vertreter für
das Erstgeborne der Schöpfung auftritt, als welches das
Brahman in den nunmehr zu besprechenden Stellen erscheint.
3. Brahma prathamajam,
das Brahman als Erstgebornes.
Dafs die älteste Philosophie in Bildern denkt, haben wir
schon oben S. 182 fg. an den mannigfachen Versuchen kennen
gelernt, die Weltentwicklung als die Bebrütung eines vor-
weltlichen Eies anzuschauen. Ein weiterer Beleg dazu ist es,
wenn die Entstehung der Welt aus dem chaotischen Urzustand
gleichnis weise als der Anbruch des Tages, als der Aufgang
der Sonne geschildert wird, welche aus dem unterschiedslosen
Dunkel der Nacht die Gestalten zu schaffen scheint, indem
sie dieselben sichtbar macht. Diese Anschauuno; blickt schon
Irahma prathccmajam. 251
in dem Schöpfungsliede Rigv. 1,129 durch, wenn daselbst V. 3
der Urzustand als Finsternis, als ein von Finsternis bedecktes,,
lichtloses Gewoge geschildert wird (oben S. 122); und dieselbe
Anschauung liegt, nach den S. 250 erwähnten Stellen Catap.
Br. 14,1,3,3 und Cänkh. Br. 8,4, einem alten, nur in Trümmern
erhaltenen Liede mit den Anfangsworten: „braltma jajnänam
prathamam purastäd" zu Grunde, welches ursprünglich nur
das B rahm an als Sonne zu feiern scheint, während in
spätem Verwendungen desselben unter dem Tage, welchen
das Brahman durch seinen Aufgang herbeiführt, der grofse
Welttag mit seiner Ofi'enbarmachung aller Namen und Ge-
stalten zu verstehen ist, wie denn auch purastät sowohl „im
Osten" als auch „vormals, vor Zeiten" bedeutet. Dieses Lied
wird, teils nur nach den Anfangsworten, teils in mannigfacher
Verbindung mit verschiedenen Versen der philosophischen
Hymnen des Eigveda, vielfach citiert; so in den angeführten
Stellen: Catap. Br. 7,4,1,14. 14,1,3,3. Cänkh. Br. 8,4; ferner:
Ait. Br. 1,19,1. Taitt. Samh. 4,2,8,2. 5,2,7,1; Taitt. Br. 2,8,8,8.
3,12,1,1. Taitt. Ar. 1,13,3. 10,1,10. Atharvav. 4,1. Äcval. Cr.
4,6,3; Cänkh. Cr. 5,9,9. Längere Stücke daraus geben die
beiden letzterwähnten Sütrastellen, sowie Taitt. Br. 2,8,8,8 und
Atharvav. 4,1. Wir beschränken uns darauf, diese beiden
letztern Stellen wiederzugeben.
Taittiriya - brähmanam 2}8,8,8 — 10.
Die Stelle zerfällt, wie sie vorliegt, in zwei schon durch
das Metrum geschiedene Teile, indem in den beiden ersten
Trishtubh -Versen Brahman als Sonne, in den drei ange-
hängten Anushtubh -Versen Brahman als Princip der Welt
besungen wird.
1. Brahman zuerst im Osten ward geboren;
Vom Horizont deckt auf den Glanz der Holde;
Die Formen dieser Welt, die tiefsten, höchsten,
Zeigt er, die Wiege des, was ist und nicht ist.
2. Vater der glänzenden, der Schätze Zeuger,
Ging ein er in den Luftraum allgestaltig ;
Ihn preisen sie durch Lohgesang; das Junge,
Das Brahman ist, durch Brahman (Gebet) wachsen machend.
252 IV- Geschichte des Brahman.
3. Das Brahman hat die Gottheiten, Brahman die Welt hervor-
gebracht;
Die Kshatriya's brahman-erzeugt sind, Brahman Brahmanen durch
ihr Selbst.
4. In ihm sind diese Welträume, in ihm die ganze Lebewelt,
Der Wesen Erstling ist Brahman; wer wagt, ihm zu vergleichen
sich?
5. In ihm die dreimal zehn Götter, in ihm Indra, Prajäpati,
In Brahman sind die Weltwesen beschlossen wie in einem Schiff'.
Einen etwas andern Sinn als in diesem Fragment zeigen
•die Verse des Liedes bralima jajnänam in ihrer Verwendung
Atharvav. 4,1, wo unter dem vena „dem Holden" nicht mehr
die Sonne, auch nicht mehr Brahman als das geistige,
die Welt offenbarende Licht, sondern vielmehr der
Seher als Träger dieser göttlichen Offenbarung zu
verstehen ist, dessen Verherrlichung hier (wie schon Rigv.
10,129,5) der Zweck ist. Diese Entwicklung hat eine Vor-
geschichte, deren Hauptmomente in den Liedern Rigv. 10.123
(nebst dem verwandten Stücke Rigv. 10,139,4 — 6) und Atharvav.
2,1 liegen und, als zum Verständnis unentbehrlich, hier kurz
zu skizzieren sind.
Venas (von van, veix), d. h. der Liebende, der Holde, ist
Rigv. 1,83,5 ein Beiwort der Sonne, ward aber dann Rigv.
10,123 als Bezeichnung des Gandharva gebraucht, unter dem
wir in diesem Liede und Rigv. 10,139,4 — 6 (nicht sowohl
nach Cäükh. Br. 8,5 Indra, als vielmehr) nach Roths und
Grafsmanns sehr annehmbarer Vermutung den Regenbogen
„gleichsam als Sohn der Sonne" (sitryasya qigum na) zu verstehen
haben werden. So passend nun die Sonne, schon in der
Gäyatrl (clhiyo yo nah pracodayat), namentlich aber seit ihrer
Identifikation mit dem Brahman, als Quelle der göttlichen
Offenbarung erschien (oben S. 250), ebenso passend würde
der von der Sonne abhängige und vom Himmel zur Erde
sich spannende Regenbogen (Vena, Gandharva) als Ver-
mittler dieser Offenbarung an die Menschen erscheinen, und
bralima prathamajam; der Vena, Atharvav. 2,1. 253-
diese Rolle spielt der Gandharva in der That schon im Rig-
veda in den genannten Liedern und auch anderweit; 10,123,4:
„der Gandharva fand Unsterbliches"; 10,123,7: „er erzeugte
was lieblich wie das Sonnenlicht ist"; 10,139,6: „der Gan-
dharva möge das Unsterbliche jener (Ströme) verkünden";.
10,139,5: „mit allem, was wahr ist, und was wir nicht wissen,
damit möge er (der Gandharva), der die Einsicht fördert, uns-
zar Einsicht helfen"; 10,177,2: „der (Sonnen-) Vogel trägt die
Rede in seinem Geiste; der Gandharva hat sie verkündet
schon im Mutterleibe" (nämlich des Sehers, — wenn es nicht
zu kühn ist, die auf Rigv. 4,26,1. 27,1 beruhende spätere
Vorstellung, Cankara ad Brahmas. 3,4,51 p. 1044,10: garbha-
stha* eva ca Vämadevah pratipede brahma-bhävam , schon hier
zu finden).
An das Gandharva-Lied Rigv. 10,123 knüpft zunächst an
Atharvav. 2,1, wie nicht nur durch den gemeinsamen Gebrauch
mehrerer Ausdrücke (Prigni, samänam yonim, abhyanüshata
vrah) wahrscheinlich wird, sondern mehr noch dadurch, dafs
in beiden Stücken Vena und Gandharva als identisch er-
scheinen; nur dafs in dem Jüngern Texte die physische Be-
deutung des Vena, Gandharva verschwunden ist, sodafs er
nur noch als derjenige erscheint, welcher die himmlischen
Geheimnisse schaut und sie dem Sänger offenbart, der daher
als der Sohn des Gandharva , als sein natürlicher Vertreter
auf Erden erscheint.
Atharvaveda 2,1.
1. Der Vena schaut das Höchste, das verborgen,
In dem die ganze Welt ist eingestaltig *;
Prigni2 ermolk die Welt, und die gebornen,
Des Lichts teilhaftig, jauchzten auf, die Scharen3.
1. Die Einheit, von der die Einheitslieder Rigv. 1,164. 10,129 reden. 2. Wie
beim Gandharva, so ist auch bei der Prigni die ursprüngliche Bedeutung
als bunte Wolke (Rigv. 10,123) verlassen; sie ist das Princip der Vielheit,
ähnlich wie sonst die Urwasser, und so mag sie allerdings (mit Weber,
Ind. Stud. 13,130) als Vorläuferin der Mulaprakriti angesehen werden.
3. In einem Optimismus , wie er der unerfahrnen Menschheit eigen ist,
preisen hier (vgl. auch Rigv. 1,164,8, oben S. 110) die Geschöpfe ihre eigene
Erschaffung, ähnlich wie Hiob 38,7: ,,da mich die Morgensterne mit einander
lobeten, und jauchzeten alle Kinder Gottes".
254 IV- Geschichte des Brahman.
2. Uns soll, des Ew'gen kundig1, der Gandharva
Kund thun das Reich, das höchste, das verborgen:
Drei Viertel davon bleiben im Geheimen2;
Wer diese weifs, wäre des Vaters Vater3!
1. amritasya vidvän, wie Bigv. 10,123,4 vidad Gandharvo amritäni ndma.
2. Die Erklärung liegt in Stellen wie Bigv. 1,164,45 und 10,90,3, oben
'S. 118. 153. 3. Dafs der Vater des Sängers der Gandharva ist, sagt ja
der folgende Vers; des Vaters Vater mufs also der schon Bigv. 1,164,22
genannte Weltvater sein, welcher alle Geheimnisse kennt (so anga veda,
Bigv. 10,129,7), während auch das Wissen des Gandharva ein beschränktes
ist. Innerhalb dieser Schranken aber weifs der Gandharva alles, wie der
folgende aus dem Vicvakarmanlied 10,82,3 (oben S. 138) entlehnte und
-etwas adaptierte Vers besagt.
3. Er unser Vater, Zeuger und Verwandter1
Kennt die Wohnstätten und die Wesen alle;
Er gab allein den Göttern ihre Namen2,
Von ihm erfragten sie die Wesen alle.
1. Der Gandharva ist das himmlische Urbild des Dichters. 2. Diese ursprüng-
lich Rigv. 10,82,3 von Vigvakarman gesagten Worte konnten um so leichter
auf den Gandharva bezogen werden, als man in seinem Liede Bigv. 10,123,4
und 7 die Worte: vidad Gandharvo amritäni »«ma und svar na näma janata
priyäni, wenn man von dem Zusammenhang absieht, auch übersetzen konnte:
„der Gandharva erfand die unsterblichen Namen", und: „er erzeugte die
wie das Sonnenlicht lieblichen Namen". — Die Verherrlichung des Gan-
dharva geht in den folgenden Versen in eine solche des Dichters über, welcher,
von ihm ergriffen, sich durch die ganze Welt und unmittelbar zu dem pra-
thamajä ritasya geführt fühlt, d. h. wohl zu dem Brahman als Erstgebornem
des Ewig-Einen und als gemeinsamem Mutterschofse der Götter.
4. Mit eins umwandelt hab' ich Erd' und Himmel,
Mich der Weltordnung Erstgebornem naht' ich,
Wie einer Stimme des, der spricht; — der durstig
In allem Sein weilt, — ist's der hier? ist's Agni?1
1. Wie oben S. 199 — 201 Prajäpati als Agni (Agri) aus dem Weltei hervor-
trat, so wandelt es hier den Dichter an, den Erstgebornen der Weltordnung,
d. h. das Brahman, als unmittelbar gegenwärtig in dem trinklustigen (dhusyu)
öpferfeuer anzuschauen.
5. Umwandelt hab' ich alle Wesen, ob ich
Gespannt den Faden der Weltordnung sähe,
Da wo die Götter, Ewigkeit erlangend,
Entsprangen aus dem allgemeinen Schofse.
Die Fortbildungen unseres Liedes, Vaj. Sainh. 32,8 — 12
und Taitt. Ar. 10,1,1, welche schon ganz auf dem Upanishad-
brahma prathamajam) der Vena, Atharvav. 4,1. 255
Standpunkte stellen, werden wir später besprechen. Ihnen
gegenüber erscheint die Fassung Atharvav. 2,1 ursprünglicher,
wie sie denn auch die Voraussetzung des schwer zu beur-
teilenden Liedes Atharvav. 4,1 zu sein scheint. Dasselbe ist
zum gröfsten Teil aus Fragmenten des Liedes brahma jajnänam
und vielleicht noch anderer zusammengesetzt (v. 1 — -2 = Acv.
Qr. 4,6,3 und Cänkh. Cr. 5,9,9; v. 3 = Taitt. Samh. 2,3,14,6;
v. 4a ist Einschiebsel, den Übergang zu gewinnen; v. 4b 5a —
Taitt. Samh. 2,3,14,6 und Acv. Cr. 4,6,3), welche jedoch der
Form wie dem Sinne nach unter dem Einflüsse von Atharvav. 2,1
zu stehen scheinen; der Form nach, sofern die Abänderungen
vorwiegend als von dort herübergenommen erscheinen (bhuva-
neshthäh, dhäsyave, bandhur), dem Sinne nach, sofern auch hier
der Zweck eine Verherrlichung der göttlichen Offen-
barung an die Menschen ist; aber während Atharvav. 2,1
diese Offenbarung des Brahman an den Sänger durch Ver-
mittlung des Gandharva geschieht, so scheint Atharvav. 4,1
dieser Mittler zu fehlen und die Offenbarung direkt an den
Sänger zu ergehen, der unter dem kävya v. 6, dem deva kavi
v. 7, dem asya (brahmano) bandhuh v. 3 und so wohl auch schon
unter dem vena v. 1 zu verstehen ist. Die pitryd räshtri, nach
Ait. Br. 1,19 die Fac, scheint diese als Trägerin der Offen-
barung zu sein, sofern sie, ganz ähnlich wie Atharvav. 2,1,4
(oben S. 254) und nur noch bestimmter, als in dem Opferfeuer
verkörpert und gegenwärtig vorgestellt wird. — Der ver-
änderten Beziehung entsprechend wird auch die Übersetzung
von v. 1 eine andre als oben S. 251 sein müssen.
Atharvaveda 4,1.
1. Brahman zuerst vor Zeiten ward geboren;
Und später deckt' es auf der Seher, glanzvoll1,
Indem er seine tiefsten, höchsten Formen,
Den Schofs des, was da ist und nicht ist, aufschlofs.
1. vena, purastät, srm atah und suruco (nom. sing.) zeigen hier veränderten Sinn.
2. Die Fürstin hier, des Vaters Kind, voran geh'
Zur Erstgeburt als der In- Wesen- Weiler x;
Für ihn spornt' an ich diese Schlange, funkelnd,
Ihm kocht zuerst, dem Durstigen, den Gluttrank.
1. Die Vue erscheint zuerst in der Form als Agni, dem dann, als ihrer
256 IV. Geschichte des Brahman.
Erscheinungsform, die leuchtende Schlange des Feuers entzündet und der
Milchtrank gekocht (oder gemischt) wird.
3. Der Wissende entstand, der Ihm Verwandte,
Alle Geburten kund zu thun der Götter;
Er rifs heraus das Brahman aus dem Brahman,
Tief, hoch, zu seinen Satzungen drang durch er.
4. Denn Er, als Ruhesitz, der Heil'ge stützte
Des Himmels und der Erde grofse Ufer;
Als grofser stützt die grofsen Er, sich wandelnd
Zur Himmels wohnung, zu der Erde Bäumen.
5. Vom Urgrund auf bis zu der Wesen Spitze
Reicht Gott Brihaspati, der Fürst des Weltalls; —
Drum, wie der lichte Tag aus Licht entstanden,
So sollen glanzumstrahlt die Weisen leuchten.
6. Und jetzo wirbelt sie der Weise auf,
Des grofsen, vorgewes'nen Gottes Schöpfung,
Wiewohl er mit den Vielen ward geboren,
Noch schlummernd, als sie vormals ward entbunden.
7. Er, der den Vater, Götterfreund Atharvan,
In Ehrfurcht, den Brihaspati erkannt hat, —
So wahr du dieses Weltalls Vater bist , .
Lafs leiden nicht den göttlich Weisen, Treuen!
Ein Vergleich der beiden von uns mitgeteilten Verwen-
dungen des Liedes brahma jajnänam (S. 251 fg., 255 fg.) wird
lehren, dafs dasselbe ursprünglich in der Anschauung des
Brahman unter dem Symbol der Sonne (S. 250) wurzelt, dafs
aber in der weitern Geschichte dieses Liedes mehr und mehr
unter dem von der Brahmansonne heraufgeführten Tage
der grofse Welttag, unter dem Brahman aber nicht mehr das
Erstgeborne des Tages, sondern das Erstgeborne der ganzen
Schöpfung verstanden wurde, von welchem die ganze Welt
abhängt, während es selbst doch noch nicht svayambhu (durch
sich selbst seiend) sondern nur prathamajam (zuerst geboren),
d. h. noch von einem höhern Princip abhängig ist. Dieser
Brahma prathamajam, £atap. Br. 10,3,5,10 u. s. w. 257
Standpunkt wird auch von vielen Stellen der Brähmana's
vertreten. So wenn es heifst, Qatap. Br. 10,3,5,10: „dieses
Brahman ist das Vornehmste (Alteste); denn nicht giebt es
ein Vornehmeres als dieses; — dieses Brahman ist ohne
Früheres und ohne Höheres"; — Catap. Br. 8,-6,1,5: „dieses
Brahman ist das Erstgeborne"; — Catap. Br. 13,6,2,7: „darum
sagen sie: das Brahman ist das Oberste dieser ganzen Welt"; —
Catap. Br. 8,4,1,3: „darum sagen sie: durch das Brahman sind
Erde und Himmel gestützt worden"; — Catap. Br. 7,3,1,42:
„die ganze Welt ist Brahman". — In Stellen wie diesen sehen
wir das Brahman mehr und mehr zum alleinigen Princip aller
Dinge erwachsen, und doch bleibt es dabei immer noch das,
was es ursprünglich war, das Gebet und der Veda als der
Inbegriff alles Gebetes. Das Brahman ist also in den vorher-
gehenden wie in den nachfolgenden Stellen stets zu denken
nicht als eine transscendente , schwer erreichbare Abstraktion,
sondern als jenes konkrete, allem übermächtige Wunderding
(yaksham, Kena Up. 15), welches der Betende in sich trägt
und fühlt, und dessen Edukt der Veda oder auch die Silbe
Om als Inbegriff des Veda ist; Catap. Br. 10,2,4,6 : „(jene Sonne)
ist gegründet in dem siebensilbigen Brahman; denn das Brah-
man ist siebensilbig; nämlich Ric ist eine Silbe, Yajus zwei
Silben, Säman zwei Silben, und was aufser diesen noch an
Brahman vorhanden, das ist als Brahman zweisilbig; darum
ist das ganze Brahman siebensilbig, und in ihm ist jener (die
Sonne) gegründet"; — Catap. Br. 10,4,1,9: „Dieses erkennend
hat der Rishi gesprochen:
Was war und sein wird, das preis' ich, Brahman, das eine Silbe nur,
So grofs, und eine Silbe nur!
denn in diese Silbe gehen alle Götter und alle Wesen ein."
Unter der einen Silbe ist nach dem Brähmanam die Silbe
Vauk für Väc (die heilige Rede), vielleicht aber schon die
Silbe Om zu verstehen; vgl. Taitt. Ar. 7,8: „Die Silbe Om ist
das Brahman, die Silbe Om ist diese ganze Welt"; ib. 10,33
(A.), p. 914: „diese eine Silbe Om ist das Brahman".
Deussen, Geschichte der Philosophie. J. 17
258 IV. Geschichte des Brahmaii.
Der weitere Übergang von Brahman als dem Erstgebornen
(prathamaja) zu Brahman als dem Absolutum (svayambhu)
läfst sich schrittweise verfolgen in den Schöpfungsberichten,
in denen zuerst das Brahman unter Prajäpati steht, dann ihm
gleichgesetzt wird, dann über ihn tritt und endlich als das
schlechthin oberste Urprincip erscheint.
1) Brahman von Prajäpati abhängig. Wir teilten
oben S. 199 — 202 den Schöpfungsbericht aus Qatap. Br. 6,1,1
mit, in dem es von Prajäpati hiefs (S. 200): „nachdem er sich
abgemüht und Tapas geübt, schuf er als Erstgebornes (pra-
ihamajam) das Brahman, das heifst die dreifache Wissenschaft
\trayi vidyä, die drei Veden]; die ward ihm zur Grundlage;
darum sagt man: das Brahman ist die Grundlage dieser
ganzen Welt". Hier sehen wir recht deutlich, wie zwischen
dem Schöpfer und der Welt als Mittelglied das Brahman,
d. h. der Veda, steht. Das Brahman dient weiter dem
Schöpfer als Grundlage, auf der er steht, indem er aus der
Väc als Ort, d. h. wiederum aus dem Brahman, dem Veda,
die Wasser schafft, in sie mitsamt dem Veda als Weltei ein-
geht, worauf sich abermals aus dem Weltei als (empirisch)
Erstgebornes das Brahman ergiefst und nach ihm erst Prajä-
pati selbst als Agni (S. 200), worin wir schon oben (S. 202)
eine erste Anwandlung erkannten, dem Brahman die Priorität
vor Prajäpati zu geben.
2) Brahman identisch mit Prajäpati. Diese An-
schauung ist vertreten durch den Schöpfungsmythus Taitt.
Ar. 1,23 (oben S. 196 — 198), nach welchem Prajäpati als
Brahma svayambhu die Welt schafft (oben S. 197 fg.); und
demselben Standpunkte entsprechen die Stellen, in welchen
Prajäpati dem Brahman gleichgesetzt, oder auch beide im Dual
koordiniert werden. So Catap. Br. 13,6,2,8: „wahrlich Prajä-
pati ist Brahman, denn Prajäpati ist von Brahmanart"; —
Taitt. Ar. 10,31: „du bist Brahman (hier personifiziert), du
bist Prajäpati"; — Taitt. Ar. 4,1,1,3: „Schutz seien mir
Brahma -Prajäpati".
3) Prajäpati von Brahman abhängig. Auch diese
Stufe lernten wir bereits kennen in dem Schöpfungsmythus
Brahma svayambhu, Qatap. Br. 11,2,3. 259
Tai tt. Br. 2,2,9 (oben S. 202 — 204), nach welchem (vgl. die
Rekapitulation am Schlüsse, oben S. 203) das Manas den
Prajäpati schafft; das Manas aber ist das Qvovasyasam ndma
Brahma, d. h. „das für die Zukunft das Bessere bringende
Gebeti'. (Dieser Unterordnung entspricht es, wenn Catap.
Br. 10,6,5,9 das Brahman zum Lehrer des Prajäpati gemacht
wird, während in den Listen Catap. Br. 14,5,5,22 und 14,7,3,28
Prajäpati ganz beseitigt und durch Parameshthin ersetzt ist.) —
Aber auch in dem erwähnten Schöpfungsmythus ist das Brah-
man-Manas zwar Schöpfer des Prajäpati, selbst aber noch
von dem Asad hervorgebracht worden. Nach Übersteigung
dieser letzten Schranke wird es zu dem, was es in der Folge
immer geblieben ist, zum brahma svayambhu.
4. Brahma svayambhu,
das dnrch sich selbst seiende Brahman.
4) Das Brahman als höchstes schöpferisches
Princip. Welche grofse Veränderung hier vor sich gegangen
ist (unbeschadet dessen, dafs das Alte, Abgestorbene als Schale
und Schlacke daneben fortbesteht, worüber oben S. 180), das
wird fühlbar, wenn man mit dem alten: „Prajäpati war allein
zu Anfang; er begehrte" u. s. w., folgende beiden Kosmogonien
aus den letzten Büchern des Catapatha-brähmanam vergleicht.
Qatapatha - brähmanam 11,2,3 :
„Brahman fürwahr war diese Welt zu Anfang. Dasselbe schuf
die Götter. Nachdem es die Götter geschaffen, setzte es sie über
diese Welten: den Agni über diese AVeit, den Väyu über den Luft-
raum, den Sürya über den Himmel. Was aber die Welten betrifft,
die noch höher als diese sind, so geschah es, dafs es die Götter,
welche noch höher als diese sind, diese über jene Welten setzte;
und so wie diese Welten hier offenbar sind und diese Gottheiten,
so sind auch jene Welten offenbar und jene Gottheiten, welche es
über dieselben setzte. — Es selbst aber, das Brahman, ging ein
in die jenseitige Hälfte [die nicht wie alle jene Welten und
Götter „offenbar", d. h. zur empirischen Realität gehörig ist; —
welcher Tief blick in diesen Worten!]. Nachdem es in die jenseitige
Hälfte eingegangen, erwog es: «wie kann ich nun in diese AVeiten
hineinreichen?» Und es reichte in diese Welten hinein durch zwei,
17*
260 IV. Geschichte des Brahman.
durch die Gestalt (rüpam) und durch den Namen (ndman): darum,
was immer eines Dinges Name ist, das ist sein Name; und welches
Ding keinen Namen hat, und das man an der Gestalt erkennt
und spricht: «so ist seine Gestalt», das ist seine Gestalt. Denn
diese Welt reicht so weit, wie die Gestalt und der Name reicht.
Diese beiden sind die beiden grofsen Ungetüme (abliva)
des B rahm an; wer diese beiden grofsen Ungetüme des Brahman
weifs, der wird zum grofsen Ungetüm; diese beiden sind die
beiden grofsen Erscheinungen (i/aJcsha) des Brahman;
wer diese beiden grofsen Erscheinungen des Brahman weifs, der
wird zur grofsen Erscheinung. [Man vergleiche den Dens des Spinoza
mit seinen beiden unendlichen Attributen der Extensio und Cogitatio.]
Von diesen beiden ist das Edlere von beiden die Gestalt; denn
auch was Name ist, das ist Gestalt. Wer das Edlere der beiden
weifs, der wird edler als der, edler als welcher er zu sein wünscht. —
Denn sterblich waren zu Anfang auch die Götter; und erst als sie
es durch das Brahman erlangten, da wurden sie unsterblich. Wer
nun aus dem Manas (Verstand) sprengopfert, — denn Manas ist
die Gestalt, denn durch das Manas weifs man, dafs es diese Gestalt
ist, — der erlangt dadurch die Gestalt; und wer aus der Väc
(Rede) sprengopfert, — denn die Väc ist der Name, denn durch die
Väc greift man den Namen, - — der erlangt dadurch den Namen; es
erstreckt sich aber diese ganze Welt nur so weit, wie sich Gestalt
und Name erstreckt; somit erlangt er das Ganze; das Ganze aber
ist unvergänglich; dadurch behält er unvergänglich sein gutes Werk,
unvergänglich seine Welt."
(Jatapatha-brähmanam 13,7,1,1:
„Brahman, das durch sich selbst Seiende (brahma svayambhu),
übte Tapas. Da erwog es: «fürwahr, in dem Tapas ist die Un-
endlichkeit nicht! Wohlan, so will ich in den Wesen mein Selbst
opfern und die Wesen in meinem Selbst». Da opferte es in allen
den Wesen sein Selbst und die Wesen in seinem Selbst. Dadurch
erwarb es den Vorrang, die Alleinherrschaft, die Oberherrlichkeit
über alle Wesen."
An Stellen wie dieser sehen wir die spätere Lehre, wonach
durch Brahman der Ursprung, der Bestand und der Ver-
gang der Wesen ist, keimartig sich entwickeln. 1) Brahman
opfert sein Selbst in den Wesen, d. h. es schafft sie, jedoch
nicht als äufseres Machwerk, sondern indem es sich in sie
Brahma svayamblm, Qatap. Br. 13,7,1,1 u. s. w. 261
verwandelt. Daher auch alle Wesen 2) durch Brahman und
in Brahman ihren Bestand haben. Als eine andre Stelle, die
dies in ihrer Weise lehrt, haben wir schon oben (S. 178 — 179)
die Libationsformel Taitt. Br. 3,10,8 kennen gelernt, nach
welcher alle Kräfte der Natur, oder, indisch zu reden, alle
Götter (Agni, Väyu, Süryo, Candramäs, Digos, Apas, Prithivi,
Oshadhi-vanaspatayas, Jndra, Parjanya, Igäna und der kosmische
Atman) in den entsprechenden menschlichen Kräften (Rede,
Odem, Auge, Manas, Ohr, Samen, Leib, Haare, Kraft, Haupt,
Zornmütigkeit und dem psychischen Atman), diese aber wieder
im Herzen, durch dieses im Ich und durch dieses im Brahman
beruhen (brahnani grita). Endlich 3) wenn es in obiger
Stelle hiefs, dafs das Brahman alle Wesen in seinem Selbst
opfert, so ist damit seine dritte spätere Eigentümlichkeit be-
zeichnet, wonach alle Wesen mit dem Tode wieder in Brahman
vergehen; und ebenso heifst es Catap. Br. 11,3,3,1 : „das Brahman
überlieferte die Geschöpfe dem Tode".
Aber diese völlige Abhängigkeit der Wesen, nach Ent-
stehen, Bestehen und Vergehen, von Brahman erweckte auch
die Hoffnung, nach dem Tode in Lebensgemeinschaft mit dem
Brahman einzugehen. So sind nach Catap. Br. 11,4,4 Agni,
Väyu, Apas, Candramäs, Vidyut, Aditya die sechs Pforten
des Brahman, durch welche man, bei richtigem Opfern, „ein-
gehend, Lebensgemeinschaft, (Himmels-)Weltgemeinschaft mit
dem Brahman erwirbt" (vgl. Pancav. Br. 25,18,6), und Catap.
Br. 11,5,6,9 wird dem, welcher richtig den Veda studiert, ver-
heifsen, dafs er „von dem Wiedersterben (punarmrityu) erlöst
werden und mit Brahman in Wesensgemeinschaft (sätmatä)
eingehen" soll. Ob dieses „Wiedersterben" schon die Theorie
von der Seelenwanderung voraussetzt oder nur eine unbestimmte
Furcht vor einem möglichen abermaligen Sterben im Jenseits
ist, wird später zu untersuchen sein.
Nachdem das Brahman in dieser Weise zum absoluten
Princip der Welt erhoben war, wurden auf dasselbe natur-
gemäfs die Gedanken der Schöpfungshymnen des Rigveda
übertragen. Die Hauptstelle hierfür ist Taitt. Br. 2,8,9,3 — 7,
wo zunächst das Ndsaddsrya-'Lied Rigv. 10,129 recitiert wird
(die Abweichungen sind wohl nur Druckfehler) und, sofort
262 IV. Geschichte des Brahman.
daran anknüpfend, in den Worten des Vigoaharfndn- Liedes
Rigv. 10,81,4 die grofse Frage gestellt wird:
Was ist das Holz, was ist der Baum gewesen,
Aus dem sie Erd' und Himmel ausgeliauen?
Ihr Weise, forscht im Geiste diesem nach, worauf
Er sich gestützt hat, wenn er trägt das Weltenall!
Im Rigveda bleibt diese Frage, wenigstens scheinbar, unbe-
antwortet (oben S. 136). Jetzt aber, im Brähmanam, nach-
dem man die lange gesuchte ewige Einheit endlich da gefunden
hat, wo sie allein zu finden ist, im eigenen Innern, bricht der
Dichter mit einer Freudigkeit, der man das Neue dieser Er-
kenntnis anzufühlen glaubt, in die Worte aus:
Das Brahman ist das Holz, der Baum gewesen,
Aus dem sie Erd' und Himmel ausgehauen!
Ihr Weise, euch, im Geiste forschend, melde ich:
Auf Brahman stützt er sich und trägt das Weltenall.
Das heifst: der Stoff, aus dem die Welt besteht, und zugleich
der Grund, auf dem ihr Träger (Prajäpati, Rigv. 10,121,1)
selbst wieder ruht, ist Brahman, — ist das Gebet. — Wer
begreift, dafs das Gebet im Grunde nichts andres ist als eine
vorübergehende Abstreifung der Individualität, eine Rückkehr
des im Beter verkörperten individuellen Willens zu Gott
als seinem eigenen, raumlosen, zeitlosen, individualitätslosen
Selbst, — dem wird die Thesis des indischen Weisen: „das
Gebet ist der Urgrund der Dinge" nicht allzu paradox er-
scheinen. Ihm fehlt zur vollen Erkenntnis nur noch ein Kleines:
dieses nämlich, zu begreifen, dafs das Wesen des Gebetes,
dafs das, was er an ihm so über alles andre schätzt, eben
jene Rückkehr von der Verirrung ins individuelle Sein zu
unserm wahren, metaphysischen, göttlichen Selbst, — mit
andern Worten, dafs das Brahman der Atman ist.
Auch diese Erkenntnis, mit der der Upanishadstandpunkt
erreicht wird, vollzieht sich schon auf dem Boden der Bräh-
mana's; als zwei Hauptstellen haben wir dafür anzuführen
Taitt, Br. 3,12,9 (vgl. Pancav. Br. 25,18,5) und Catap. Br. 10,6,3.
Brahma svayambhu, Taitt. Br. 3,12,9. 263
Taittiriya - brähmanam, 3,12,9.
1. Den Rig -Versen gehört der grofse Osten,
Den Yajus - Sprüchen uferlos der Süden,
Den Atharvan's und Angiras' der Westen,
Der weite Nord gehört den Sänia- Liedern.
2. Durch Ric's geht morgens auf der Gott am Himmel,
Im Yajur-Veda steht zur Mittagszeit er,
Strahlt, untergehend, durch den Säma-Veda,
So zieht die Sonne stets durch die drei Veden.
3. Die Formen all sind aus den Ric's geboren,
Alle Bewegung stammt nur aus den Yajus',
Und alle Kräfte stets sind sänia- artig;
Die ganze Welt durch Brahman ist geschaffen.
4. Die Vaigya- Kaste ist aus Ric's entstanden;
Der Kshatriya entsprang dem Yajur-Veda;
Der Brähmana ward aus dem Säma-Veda;
So sagten schon die Alten zu den Alten.
Nach dieser Darlegung, wie alles aus dem Veda als dem In-
begriffe des Brahman oder Gebetes entstanden ist, folgt die
Erzählung, wie die Götter vor der Schöpfung das Opfer der
Allschöpfer (vigvasrij) vollbringen, bei welchem Tapas, Brah-
man, Satyam u. s. w. als Priester funktionieren. Dann heifst
es (p. 292):
1. Als sie zuerst als Allschöpfer begingen
Die tausendjähr' ge Sitzung, Soma kelternd,
Da ward geboren, als der Welt Behüter,
Der goldne Vogel, der da heifset Brahman.
2. Durch den die Sonne scheint, durch Glut entzündet,
Der Vater wird durch jeden Sohn, der geboren,
Nur wer den Veda kennt, versteht den grofsen
Allgegenwärt'gen Atman beim Hinscheiden.
3. Er, der als Grofsheit einwohnt dem Brahmanen,
Wird nicht vermehrt durch Werke, noch vermindert.
Das Selbst ist sein Pfadfinder, wer ihn findet,
Wird durch das Werk nicht mehr befleckt, das böse.
264 IV. Geschichte des Brahman.
Die hier gelehrte Identität des Brahman mit dem all2re2;en-
wärtigen Ätman, die Auffindung dieses Ätman mittels des
individuellen Ätman als Pfadfinder, die Befreitheit dessen, der
ihn gefunden, von den Werken, sind schon Grundgedanken
der Upanishad's, wie denn auch der letzte Vers an einer der
schönsten Stellen derselben (Brih. Up. 4,4,23) wiederkehrt.
Ebenso ist die nunmehr noch mitzuteilende Stelle zum Grund-
gewebe eines Hauptkapitels der Chändogya -Upanishad (3,14)
geworden.
Qatapatha - brähmanam 10,6,3.
„«Als die Realität (satyam) soll man das Brahman verehren.
Ja fürwahr, aus Wille (Tcratu) ist der Mensch gemacht, und welches
Willens er aus dieser Welt dahinscheidet, nach diesem Willen
wird er, in jene Welt hinübergehend, gestaltet. Ja, den Atman
soll man verehren; Geist ist sein Stoff, Leben sein Leib, Licht
seine Gestalt, das Unendliche sein Selbst. Nach Wunsch sich ge-
staltend, schnell wie der Gedanke, wahrhaften Vorsatzes, wahrhaften
Beschlusses, allriechend ist er, allschmeckend, alle Weiten erfüllend,
alle Welt durchdringend, schweigend, unbekümmert. Wie ein Reis-
korn, oder Gerstenkorn, oder Hirsekorn, oder eines Hirsekornes
Kern, so ist dieser Geist (purusha) im innern Selbst, golden wie
eine Flamme ohne Rauch; und er ist gröfser als der Himmel,
gröfser als der Raum, gröfser als diese Erde, gröfser als alle
Wesen. Er ist des Lebens Seele, er ist meine Seele; zu ihm, von
hier, zu dieser Seele werde ich hinscheidend eingehen. Wem dieses
ward, fürwahr der zweifelt nicht!» — Also sprach Cändilya: «so
ist es!»".
5. Anhang zur Geschichte des Brahman:
Die Hymnen des Atharvaveda über Brahman und den Brahmacärin.
Die hierher gehörigen Hymnen des Atharva-Veda, 10,2
11,8 und 11,5 erlauben zwar nicht, wie die bisher besprochenen
Brähmanastellen , die Entwicklung des Brahmanbegrifi'es
von seiner ursprünglichen Bedeutung bis zu der, welche er
später immer behalten hat, von seiner Geltung im Rigveda
bis zu seiner Geltung in den Upanishad's, stufenweise zu ver-
folgen, setzen vielmehr (wodurch sie ihre Posteriorität be-
kunden) den fertig entwickelten Brahmanbegriff voraus, liefern
Brahman als teleologisches Princip, Atharvav. 10,2. 265
aber doch einen sehr dankenswerten Beitrag zu demselben,
sofern sie als Thema die Verwirklichung des B rahm an
im Menschen behandeln, und zwar 10,2 mehr von der phy-
sischen, teleologischen, 11,8 mehr von der psychischen
Seite her, während der Hymnus 11,5 das Brahman dadurch
verherrlicht, dafs er den Menschen, welcher und solange er
ein Träger und gleichsam eine Inkarnation des Brahman ist,
d. h. den Brahmacärin, über alles andre hinaushebt.
Atharvaveda 10,2.
Das Brahman als teleologisches Princip.
Seiner Form nach erscheint dieser Hymnus als eine Nach-
bildung von Rigv. 10,121. Dort wurde von dem vedischen
Rishi auf die mannigfachen Wunder der Natur hingewiesen
und als Urheber derselben zuletzt Prajdpati genannt, — hier
vertieft sich ein mehr nüchterner, aber darum nicht weniger
interessanter Dichter in Bau und Funktionen des menschlichen
Organismus und weist schliefslich zur Erklärung seiner Wunder
auf das Brahman hin, das ihn gebildet und in ihm seinen
Wohnsitz genommen hat. — Der Hymnus gliedert sich in vier
Teile, jeder zu acht bis neun Versen:
1) Vers 1—8. Der Bau des Leibes.
2) Vers 9 — 17. Die Funktionen des Leibes in Zu-
sammenhang mit der Zweckmässigkeit der übrigen Natur,
v. 16. (Wer diesen Vers ausscheiden wollte, würde vier voll-
kommen gleiche Teile gewinnen.)
3) Vers 18 — 25. Übermacht des Menschen über die Welt
und die Götter. Bei dieser letzten Darstellung wird auf
Brahman als Urheber der Macht des Menschen hingewiesen
(v. 21. 23. 25).
4) Vers 26 — 33. Nachtrag. Das Haupt als Behälter
von Göttern, der Leib als die Burg des Brahman, das Herz
als der Wohnsitz desselben. Wer so sich selbst als Ver-
körperung des Brahman erkennt, wird zu Brahman und
dadurch zum Princip aller Dinge (v. 28).
266 IV. Geschichte des Brahman, Anhang.
Vers 1 — 8. Bau des Leibes.
1. Von wem geschaffen sind des Menschen Fersen?
Von wem das Fleisch? von wem der Füfse Knöchel?
Wer schnf die Öffnungen, der Finger Zierde,
Die Strecker1 aus der Mitte, das Gestell wer?
1. uechlakkdu ist unbekannt; Ludwig rät auf ,,Fufssohlen". Da aber madhyatas
dazu gezogen werden mufs, können nur zwei parallel vorhandene, von der
Mitte ausgehende Glieder gemeint sein, also vielleicht die Arme; denkbar
wäre für diese ucchlälchau (von gläkh nach Dhätupätha 5,13 = vyäptaii), „die
von der Mitte aus sich streckenden".
2. Wie kommt's , dafs sie Fufsknöchel unten schufen
Und oberhalb die Kniescheiben am Menschen?
Dafs sondernd sie die Beine bauten? Wo sind
Der Kniee Angeln? Wer hat das ergründet?
3. Vier sind gefügt, dafs sie zusammenlaufen 1,
Als Last den Knie'n, zur leichtbewegten Tonne.
Wer macht, dafs Hüften sind und Schenkel, sodafs
Des Rumpfes Masse wohlgefestigt dasteht?
1. Einer ähnlichen Anschauung über die Entstehung des Rumpfes begegneten
wir oben S. 199.
4. Wie viel Götter und welche sind's gewesen,
Die Brust und Nacken ausgedacht des Menschen?
Wer brachte die Brustzitzen an, die Schultern,
Die Ellenbogen1? wer erfand die Rippen?
1. kaphaudau wahrscheinlich = kapho?u, Ellbogen.
5. Wer fügte seine Arme wohl zusammen,
Dafs er mit ihnen Mächtiges vollbringe ?
Und welcher Gott hat weiterhin an ihm
Die Schulterblätter auf. den Rumpf gesetzt?
6. Wer hat am Kopf die sieben Offnungen gebohrt,
Die Ohren hier , die Nase , Augen und den Mund ,
In deren Thatkraft mannigfacher Mächtigkeit
Vierfüfsler und Zweifüfsler finden ihren Weg ?
7. In Kinnladen die vielgewandte 1 Zunge
Baut er, der Rede Kunst in sie zu legen.
Er regt sich eifrig in der Wesen Innerm,
Mit Wasser sich bekleidend 2. Wer versteht das ?
1. purüci' (von PW. mit Hinweisung auf Rigv. 3,57,5 ohne Not für verdorben
aus urüci' erklärt) fem. eines fehlenden puruvyanc, wie urüci von uruvyanc.
2. Vgl. Rigv. 10,121,7 (oben S. 132).
Brahman als teleologisches Princip, Atliarvav. 10,2. 267
8. Der Gott, der sein Gehirn anfänglich baute,
Die Stirn, des Haargeflechtes Wulst1, den Schädel,
Der, auf das Kinn auftürmend dieses Bauwerk,
Himmelwärts aufstieg 2, welcher Gott ist dieser?
I. kakutikä; die Nennung der andern Teile läfst auf das Hinterhaupt, die
i mutmafsliche Verwandtschaft mit kata Geflecht, kati Hüfte auf den Haar-
wnlst desselben raten. 2. Wohl nur hyperbolisch für: nach oben baute.
(Your ladyship is nearer to heaven than ichen I saw you last by the altitude
of a chopine, Shakspere, Hamlet 2,2.)
Vers 9 — 17. Funktionen des Organismus.
9. Die Lust und Unlust vielzweigig, Schlaf, Angstgefühl und
Mattigkeit ,
Die Freuden alle und Wonnen, woher nimmt's der gewalt'ge
Mensch?
10. Not, Niedergang, Zugrundgehen und Dürftigkeit, woher sind sie?
Und Glück, Gedeihn, Nichtfehlschlagen, Verstand und alle Art
Erfolg?
II. Wer schuf in ihm den Stromkreislauf, allwärts verzweigt, der
Flüssigkeit,
Scharf, hellrot, dunkelrot, schwärzlich, aufwärts, abwärts und
seitenwärts ?
12. Wer war's, der ihm Gestalt schenkte, wer gab Beleibtheit, Namen
ihm ,
Den Gang, des Intellekts Leuchte, der Beine kunstvoll Gehewerk?
13. Wer wob in ihm den Aushauch ein, den Einhauch und den
Zwischenhauch,
Den Allhauch auch? Wer war der Gott, der sie im Menschen
setzte ein?
14. Wer war es, der ihm einpflanzte als ein'ger Gott des Opfers
Dienst?
Wer gab ihm Wahrheit, Unwahrheit, wer Tod, wer die Un-
sterblichkeit?
15. Wer war's, der ihm verlieh Kleidang, wer schuf des Lebens
Dauer ihm,
Wer reichte ihm der Kraft Gabe, wer schenkte ihm die Schnellig-
keit?
268 IV". Geschichte des Brahman, Anhang.
16. Wodurch hat er gespannt Wasser, wodurch macht leuchten er
den Tag,
Liefs Morgenröten aufflammen und gab der Abendwerdung Gut?
17. Wer, dafs er des Geschlechts Faden fortspinne, pflanzt' ihm
Samen ein,
Wer häufte auf ihn Geistkräfte, gab Stimme ihm und Mienenspiel?
Vers 18 — 25. Übermacht des Menschen
und i h r G r u n d.
18. Wodurch bevölkert die Erde, wird selbst des Himmels Meister er
Und überwächst die Berghöhen, — wer gab ihm dieses Opfer-
werk x ?
1. Durch die Opfer beherrscht er Erde und Himmel (die Götter) und wächst
höher als Berge, wie er nach biblischer Hyperbel durch den Glauben Berge
versetzt.
19. Wodurch erreicht er Parjanya und Soma, den weitschauenden,
Wodurch das Opfer, den Glauben, wer hat ihm eingepflanzt den
Geist ?
20. Wodurch erlangt er Schriftwissen, wodurch den Parameshthin
hier ,
Wodurch erlangt er dies Feuer, Avodurch mafs er den Jahreslauf?
Bevor der Dichter in die Antwort auf v. 1 — 20 ausbricht, erscheinen hier
als höchste Leistungen, die er am unmittelbarsten dem Göttlichen in ihm
verdankt: 1) ^rotriyain sc. jnunam, das Wissen des Schriftkundigen, 2) Para-
meshthin, der höchste Geist, d. h. die Kenntnis desselben, 3) asau agnih dies
Feuer, mit Hinweisung auf das Opferfeuer, 4) die Ausmessung des Jahres
als Voraussetzung des jährigen Opfercykl.us. Und nun endlich die Antwort:
21. Als Brahman1 hat er Schriftwissen, als Brahman Parameshthin
hier ,
Als Brahman hat er dies Feuer, als Brahman mafs er aus das Jahr.
1. Als Brahman, d. h. vermöge des ihm einwohnenden Brahman, welches
zwar hier noch das im Menschen wohnende „Gebet", jedoch schon als eine
weltbauende und weltbeherrschende Macht, bezeichnet. — Charakteristisch
ist im Folgenden der Wechsel zwischen brahma und brahmanä; der Mensch
erlangt seine Übermacht durch das Brahman, ist aber, seinem bessern
Teile nach, dieses Brahman selbst.
22. Durch wen wohnt unter Göttern er und unter Menschen, gott-
entstammt?
Durch wen heifst jenes Nicht-Kshatram, und dies der Kshatra
edler Stand?
Brahman als teleologisches Princip, Atharvav. 10,2. 269
23. Als Brahman1 wohnt er bei Göttern und unter Menschen, gott-
entstammt ,
Als Brahman heilst dies Nicht -Kshatram, jenes der Kshatra
edler Stand.
1. Die vier Kasten werden, wie Rigv. 10,90 auf den Purusha, so hier auf
das Brahman zurückgeführt: der Mensch xax' c^o^v, d. h. der Brahmane,
wohnt unter Göttern, die ihn umgeben und schützen, und er wohnt unter
den gottentsprofsnen Stämmen: Kshatra, Vaigya, Qüdra. Sowohl das edle
Kshatram (sät kshatram) als auch das Übrige (ndkshatram oder, wenn man
ändern will, na kshatram), nämlich Vaiqya und Qüdra, hat von Brahman
seine Benennung und durch diese seine sociale Ordnung empfangen.
24. Wer schuf hier diesen Erdboden, wer baute hoch den Himmel auf?
"Wer hat in Höhe und Breite des Luftraums Weite ausgespannt?
25. Brahman1 schuf hier den Erdboden, Brahman baute den Himmel
auf,
Brahman2 in Höhe und Breite ist als der Luftraum ausgespannt.
1. Als causa efficiens (brahmand). 2. Als causa materialis (brahma).
Vers 26 — 33. Nachtrag (über Haupt, Leib, Herz).
26. Als zusammen sein Haupt nähte Atharvan und das Herz in ihm,.
Regt' er über dem Hirn ihn an als Läuterer vom Haupte her1.
1. Atharvan, als Soma (pavamäna) zu Kopfe steigend, nimmt seinen Sitz
oberhalb des Hirns, von wo er den Menschen (d. h. den Brahmanen) anregt.
27. Dem Atharvan gehört dies Haupt, ein Fafs mit Göttern voll-
gestopft 1,
Es schützen dieses Haupt Präna, Nahrung und Manas im "Verein'2.
1. Mund, Nase, Auge, Ohr sind der Sitz von Agni, Väyu, Aditya, Digas,.
Ait. Up. 1,1,4. Vgl. den Vers Atharvav. 10,8,9, Brih. Up. 2,2,3. 2. Vgl. den
pränamaya, annamaya, manomaya koga, Taitt. Up. 2.
28. Der Mensch wächst aufwärts, wächst seitwärts, wird gegenwärtig
allerwärts ,
Der erkannt hat die Burg Brahman's, deren Bürger er selber ist1.
1. Der Leib ist die Burg (pur) des Brahman, der Mensch ihr Bürger (purusha);
wer sich so als das Brahman erkennt, wird, wie dieses, allgegenwärtig.
29. Fürwahr, wer diese Burg Brahman's umhüllt weifs von Un-
sterblichem x,
Dem schenkt Brahman und sein Anhang2 Gesicht, Leben und
Nachkommen.
1. Von den v. 27 erwähnten Göttern. 2. Eben die genannten Götter.
270 IV. Geschichte des Brahman. Anhang.
30. Fürwahr, dem fehlt die Sehkraft nicht und Lehen his zum Alter
hin ,
Der erkannt hat die Burg Brahman's, deren Bürger er seiher ist.
31. Acht Räder1 sind und neun Pforten2 an dieser festen Götterburg,
In ihr ist ein Gefäfs3, goldig, himmlisch, von Lichtglanz rings
umhüllt.
1. Vermutlich die Arme, Beine, Hände und Fiifse (vgl. ashtanga). 2. Die
neun Öffnungen des Körpers. 3. Das Herz.
32. In diesem goldigen Gefäfs, das drei Speichen1, drei Stützen2 hat.
Da wohnt ein Wunderding, selbsthaft3; das kennt nur, wer das
Brahman kennt.
1. und 2. Wird sich auf anatomische Verhältnisse beziehen, also etwa die
beiden Herzohren nebst der Herzspitze und die drei entsprechenden Stellen
des Perikardium bedeuten. 3. Ein yaksham utmanvat, nämlich das Brahman.
33. In die strahlende, goldgelbe, mit Herrlichkeit umgeb'ne Burg,
Die goldne, unbezwingbare, — in diese ging das Brahman ein.
Ätharvaveda 11,8.
Die Entstehung des Menschen.
Von verwandtem Inhalte wie das vorige Stück, nur weniger
ernsthaft und daher auch weniger ernst zu nehmen, ist das Lied
Atharvav. 11,8, das die ursprüngliche Entstehung des Menschen
durch ein Zusammenfahren psychischer und physischer, übrigens
insgesamt von Brahman abhängiger Faktoren schildert. Der
Verfasser ist einer jener geistreichen aber paradoxen Gesellen,
von denen oben S. 209 die Rede war, und die an der heiligen
Überlieferung ihren Mutwillen üben. Aus den Göttern (Indra,
Agni, den Acvin's, Soma, Tvashtar und selbst dem Schöpfer
Brihaspati, v. 5. 8. 9) macht er sich sehr wenig; sie sind nur
Epigonen, sind nur die Nachkommen ihrer gleichnamigen Vor-
fahren (v. 9), und auch diese Vorfahren (denen allenfalls auf
den Bau des Leibes ein Handlangereinfluss zugestanden wird,
v. 18) sind nicht ursprünglich sondern aus Tapas, Karman
und zuhöchst aus Brahman entstanden, ebenso wie die zehn
Götter, cl. h. psychischen Kräfte, die durch ihre Verbindung
den Menschen hervorbringen (v. 4. 26), und neben denen noch
eine grofse Zahl andrer, auch übler Götter (v. 19 papmano
nama devatäli) zum Aufbau des menschlichen Organismus bei-
Die Entstehung des Menschen, Atharvav. 11,8. 271
tragen. Dieser Leichtigkeit, mit der aus der Hand unseres
Dichters allerlei neue Götter hervorgehen (zu denen auch die
Samdhä v. 15. 16 und das kurzer Hand kreierte Ehepaar lgä
und Vaga v. 17 gehören), entspricht die Leichtfertigkeit,
mit der er die anerkannten Götter, Agni, Indra u. s. w., be-
handelt, ohne dafs er doch versuchte, ihre Stellung gegenüber
dem Brahman und den im Menschen wohnenden Göttern
ernstlich zu fixieren; und nehmen wir hierzu noch die Re-
nommistereien in v. 3 und 7, den humoristischen Eingang
v. 1 — 2, die Parodie v. 29, und den schlechten Witz, mit dem
er schliefst, so dürften wir so ziemlich alles zu seiner Charakte-
ristik Nötige beisammen haben.
Seine Grundanschauung, soweit bei ihm von einer solchen
die Rede sein kann, ist folgende. Oberstes Princip ist das
Brahman, das im Menschen verkörpert ist, in dem daher auch
alle Götter wohnen „wie die Kühe im Kuhstall" (v. 32).
Neben dem Brahman steht (ob von ihm abhängig, wird nicht
gesagt) „der grofse Ocean" (v. 2. 6), „die Viräj" (v. 30), „die
alten, trägen Wasser" (v. 34), mit andern Worten, die uns
wohlbekannten Urwasser. Aus ihnen gingen hervor als älteste
Götter Karman und Tapas (v. 2. 6). Von diesen dreien,
Brahman, Karman und Tapas, geht nun, wie es scheint, eine
doppelte Genealogie von Göttern aus, die wir als die mytho-
logische und die psychologische unterscheiden wollen.
a. Die mythologischen Götter: als Beispiele werden
genannt v. 5 der Schöpfer Brihaspati, Indra, Agni, die Agvi'/i's ;
v. 9 Indra, Soma, Agni, Tvashtar; v. 31. 33 Agni, Väyu, Sürya.
Zu ihnen dürfen wir wohl auch die Ritte's (Jahreszeiten) v. 5,
die Bhumi (Erde) v. 7, die Samdhä (Harmonie) v. 15. 16, end-
lich Vaga (Wille) und lga (Macht) v. 17 rechnen. Hingegen
wird Prajäpati nicht anerkannt, sondern in v. 30 durch Identi-
fikation mit Brahman wegerklärt. Woher nun diese Götter?
Diese Frage wird v. 5 — 9, und zwar höchst ungenügend, be-
handelt. Nach v. 9 stammen sie von gleichnamigen frühern,
also Indra von einem Ur- Indra, Tvashtar von einem Ur-
Tvashtar, Bhümi von einer Ur-Bhümi (v. 7) u. s. w. Diese
Urgötter scheinen höher zu stehen als die jetzigen; mit der
Kenntnis der Ur-Bhümi thut der Dichter v. 7 sehr wichtig,
272 XV. Geschichte des Brahman, Anhang.
ohne dafs etwas dahinter wäre; vielleicht denkt er sie als
identisch mit dem Urwasser. Ur-Tvashtar leistet nur bei dem
Bau des Leibes, und auch hier nur einen nebensächlichen
Dienst, indem er die Höhlungen desselben bohrt v. 18; das
übrige baut nicht er, sondern die Samdhä oder Harmonie
v. 15. 16. Weiter ist kein Einflufs dieser Götter, weder der
jetzigen noch der ursprünglichen, auf den Menschen zu er-
kennen, nur dafs Sürya, Väyu, Agni sich nach dem Tode in
der üblichen Weise in den Leib teilen v. 31. 33. Ohne Zweifel
stammen sie von Brahman, Karman, Tapas, v. 5. 6, aber in
welcher Weise, das bleibt unklar. Dürften wir v. 10 pressen,
nach welchem die mythologischen Götter Kinder (putrd/j) der
zehn psychologischen zu sein scheinen, so liefse sich folgende
Genealogie herstellen:
1) Brahman, Satyam und Tapas,
2) die zehn psychologischen Götter,
3) die mythologischen Urgötter,
4) die jetzigen mythologischen Götter.
Dadurch würden wir den wertvollen Gedanken gewinnen, dafs
die zehn psychologischen Urprincipien, von denen sogleich zu
reden sein wird, nicht nur den Menschen, sondern auch den
Göttern zu Grunde liegen; aber dieser Gedanke ist kaum an-
gedeutet (v. 10), und so läfst sich aus dem ganzen Abschnitt
v. 5 — 9 nur so viel entnehmen, dafs die Götter der Mythologie
nicht über, sondern neben dem Menschen stehen, auf dessen
Genesis der Dichter seine ganze Aufmerksamkeit richtet.
b. Die zehn psychologischen Götter und der
Mensch. Der erste Knoten zum Wesen des Menschen wird
dadurch geschürzt, dafs Manyu (^uoc) v. 1 eine Gattin aus
dem Hause des Sainkalpa (Entschlufs), und zwar die Aküti
(Absicht) v. 4, als Braut heimführt, wobei Brahman, Tapas
und Karman Brautführer sind. Der Mensch als eine Ehe
zwischen Manyu und Aküti, zwischen Wille und Intellekt, das
wäre ein eines Philosophen nicht unwürdiger Gedanke. Nur
ist das Bild insofern hinkend, als die drei Brautführer in
Wahrheit die Schöpfer des Manyu oder vielmehr der zehn
Kräfte sind, die nach v. 4 die Braut heimführen (acahan, nicht
Die Entstehung des Menschen, Atharvav. 11,8. 273
„zuführen", da die Brautführer ja Brahman, Tapas, Karman
sind, auch dvah in v. 1 und 4 nicht wohl in verschiedener
Bedeutung genommen werden kann), und die wir daher mit
Manyu identifizieren müssen. Diese zehn Kräfte sind 1 — 4
die vier Lebenshauche, Präria, Ap'ana, Vydna, Udana, 5 — 8
Auge, Ohr, Bede, Monas, 9. Akshiti, wohl die den Menschen
zusammenhaltende, und 10. Kshiii, die ihn beim Tode trennende
Kraft (wie ja auch die spätere Philosophie für die Funktion
des Sterbens eine eigene Seelenkraft, den Udäna, annahm).
Diese zehn psychischen Götter, welche nach v. 4 die Aküti
(das Bewufstsein) heiraten und daher nach v. 1 mit Manyu
identisch sind, sind nach v. 10 von frühern Göttern (Brahman,
Tapas, Karman) geboren; sie überlassen die Welt „den Kindern"
(den mythologischen Göttern) und schaffen sich eine eigene
Welt in Gestalt des Menschen, v. 10. Zu diesem Zwecke
tragen sie (v. 11) oder giefsen sie (v. 13) die v. 11 — 15 ge-
nannten Körperteile zusammen, welche dann von der Göttin
Samdhä (Harmonie) gefügt (v. 15), von der Iqa mit Farbe be-
kleidet (v. 17), und von JJr-Tvashtar mit Bohrlöchern versehen
werden (v. 18), worauf der Leib fertig ist und die Götter, näm-
lich zunächst die genannten zehn, in ihn eingehen (v. 10.
11. 13. 18. 26. 29). Ferner aber gehen aufser ihnen noch eine
grofse Zahl, nämlich über fünfzig andre Götter (psychische
Kräfte) in den Menschen ein, die v. 19 — 27 aufgezählt werden,
wobei v. 26 auch jene zehn ersten wieder mit erscheinen. Es
werden dann v. 28 noch die acht Wasser des Leibes aufgezählt,
v. 29 wird eine kleine Parodie auf Kigv. 10,90,6 eingeflochten,
und dann zum Schlüsse heilst es v. 30: als die Wasser (die
acht v. 28 genannten), als die Gottheiten (die zehn erstem
und die mehr als fünfzig andern), und als die mit dem Brah-
man verbundene Viräj (der grofse Ocean v. 2. 6, die Urwasser,
aus denen nach v. 34 der Leib und seine v. 11 — 15 genannten
Teile stammen) fährt das Brahman in den Leib, in welchem
es „der dem Leibe vorstehende Prajäpati" ist. Darum ist
(v. 32) „dieses (Ganze des Menschen) Brahman", denn im
Menschen wohnen alle Götter, die Götter aber in Brahman.
Die Verse 31 und 33 handeln vom Tode, v. 34 von der ersten
Entstehung des Körpers im Urwasser.
Deussen, Geschichte der Philosophie. I. 18
274 IV- Geschichte des Braliman, Anhang.
Vers 1 — 4. Die Seele als Brautpaar.
1. Als sich Manyu eine Gattin aus des Samkalpa Haus erkor,
Wer war Brautführer, wer Werber, wer war der Werber oberster?
2. Tapas und Karman waren da tief in dem grofsen Ocean,
Die waren Brautführer, Werber, Braliman der Werber oberster.
3. Zehn der Götter1 geboren sind vordem von Göttern2 allzumal,
Wer diese kennt von Angesicht, der mag wahrlich sich rühmen
laut.
1. Die im folgenden Verse genannten: Prdna, Apdna, Cakshuh, CJrotram,
Akshiti, Kshiti, Vydna, Uddna, Vdc, Manas; sie sind zusammen der v. 1
genannte Manyu, da sie v. 4 die Äküti heimführen. 2. Von Tapas, Karman
und zuhöchst von Braliman.
4. Einhauch und Aushauch, Aug' und Ohr, der Unvergang
und der Vergang,
Querhauch, Aufhauch, Wort und Verstand führten als
Braut die Absicht da.
Vers 5 — 9. Episodisch. Die Naturgötter
und ihr Ursprung.
5. Damals gab's noch nicht Jahrzeiten, nicht den Schöpfer Brihaspati,
Nicht Indra, Agni, nicht Agvin's; — wen ehren die als Ältestes?
6. Tapas und Karman da waren tief in dem grofsen Ocean,
Auch Tapas ward erst aus Karman; dies ehren sie als Ältestes.
7. Und die Erde, die vor dieser, die nur Wahrwissern ist bekannt,
Wer all diese1 kennt mit Namen, der dünke sich der Urzeit
kund.
1. Tapas, Karman und die Vr-Bhumi; diese Zusammenstellung läfst vermuten,
dafs unter letzterer der Urstoff (v. 2. 6 mahän arnavah, v. 30 Virdj, v. 3-4
vriddhdh stimu äpas) zu verstehen ist. Die Unterscheidung der Urerde von
der jetzigen könnte dann das Motiv gewesen sein zu der wunderlichen Unter-
scheidung des Indra und Ur-Indra u. s. w. in den beiden folgenden Versen.
8. Woraus stammt Indra und Soma, und Agni, woraus stammt er
her?
Woraus Tvashtar, der bildende, woraus entstammt der Schöpfer
selbst?
9. Indra aus Indra, Soma aus Soma, Agni aus Agni stammt:
Tvashtar entsprang nur aus Tvashtar, der Schöpfer aus dem
Schöpfer nur.
Die Entstellung des Menschen, Atharvav. 11,8. 275
Vers 10 — 18. Zusammenschüttung des Körpers
durch die zehn v. 4 genannten Götter.
10. Doch jene zehn geborenen Götter1 von Göttern2 ehedem,
Diesen Kindern3 die Welt lassend, in welcher Welt 4 verweilen
die?
1. Prtaia, Apuna u. s. w. v. 4. 2. Brahman, Karman, Tapas. 3. Indra,
Soma u.s. w. 4. Der menschliche Leib ist ihre "Welt (ihr Ort, loka).
11. Als man Haare, Knochen, Sehnen und Fleisch und Mark zusammen-
trug ,
Den Leib nebst seinem Fufsgestell, in welche Welt ging da man
ein?
12. Woher1 trug man sie zusammen, die Haare, Knochen, Sehnen da,
Wer2 trug zusammen und woher Glieder, Gelenke, Mark und
Fleisch ?
1. Aus dem Urstoffe, vgl. v. 7. 2. Die zehn Götter v. 4.
13. Zusammengiefser heifsen sie, die Götter, die dies sammelten,
Zusammen gössen ihn Götter und gingen in den Menschen ein.
14. Die Schenkel, Füfse, Kniescheiben, das Haupt, die Hände und
den Mund,
Die Rippen, Brustwarzen, Seiten, wer hat so weise das gefügt?
15. Haupt, Hände und den Mund ferner, Zunge, Halswirbel, Brust-
korb auch ,
Das hat, in Haut es einhüllend, die grofse Harmonie gefügt.
16. Als fertig dieser Leib vorlag, grofs durch die Harmonie gefügt,
Wer hat, durch die er glänzt heute, auf ihn die Farbe aufgelegt?
17. Alle Götter sich abquälten, das merkte da ein trefflich Weib,
Icä (die Macht) des Vaga (Willens) Eh'gattin, die legte ihm
die Farbe auf.
18. Thüren bohrte dann ein Tvashtar, Tvashtar's Vater, der höhere,
So ward als sterblich Haus der Mensch, in den die Götter
gingen ein.
Vers 19 — 27. Einzug der Seelenkräfte.
19. Schlaf, Mattigkeit und Auflösung, — Götter, die Übel sind ge-
nannt, —
Alter, Kahlheit und Grauwerden, die gingen in den Körper ein.
18*
276 IV. Geschichte des Brahman, Anhang.
20. Stehlsucht, Unthat und Ränkelust, Wahrheit, Opfer und grofser
Ruhm ,
Kraft, Herrschaft und Gewalthaben, die gingen in den Körper ein.
21. Da kamen Übermacht, Ohnmacht, Wohlwollen, Übelwollen auch,
Des Hungers und des Dursts Heerschar, die gingen in den
Körper ein.
22. Tadelsucht und Nichttadelsucht, was spricht 'so nimm!' und
spricht 'o nein!',
Glauben, Spenden und Unglauben, die gingen in den Körper ein.
23. Die Wissenschaften, Nichtwissen und alles, was erlernbar ist,
In den Körper sodann gingen, Brahman, Ric, Säman, Yajtts, ein.
24. Der Wonnen, Freuden, Lust Heerschar sowie des Jubels froher
Schall,
Das Lachen, Scherzen und Tanzen, die gingen in den Körper ein.
25. Geplauder und Geschwätzigkeit sowie des Jammers Klagelaut,
Die gingen ein in den Körper, Ansporn und Triebe allerlei.
26. Einhauch und Aushauch, Aug' und Ohr, der Unvergang und der
Vergang ,
Querhauch, Auf hauch, Wort und Verstand1 mit dem Körper
verbanden sich.
1. Die zehn Grundkräfte aus v. 4, deren Voraustellung man erwartet hätte.
Pedanterie ist der Fehler unseres Dichters nicht.
27. Wunschäufserung und Anordnung, Einzelbefehl und Allbefehl,
Vorsätze und Entschliefsungen, die gingen in den Körper ein.
Vers 28 — 29. Die acht Körperwasser.
28. Das Blasenwasser, Blutwasser, Schweifswasser, Thränenwasser
auch ,
Darm-, Same-, Kot-, Gemein -Wasser verlegten sie an ekeln Ort.
29. Einlegend so die acht Wasser, Gebein zum Brennholz1 machten
sie,
Zum Schmalz1 den Samen, so gingen die Götter in den Menschen
ein.
1. Dieser plötzliche Einfall (da doch nirgends vorher von einer Auffassung
der Menschenschatfung als Opfer die Rede war), wird wohl nur als eine
scherzhafte Parodie von Rigv. 10,90,6 (oben S. 157) aufzufassen sein.
Der Brakmanschüler, Atharvav. 11,5. 277
Vers 30. 32. Die Summa.
(Wir stellen v. 31 und 32 um.)
30. Als die Wasser und Gottheiten und Viräj, die mit Bramnan war,
Ging Brahman in den Leib ein, ihm als Prajäpati vorzustehn.
32. Drum, wahrlich, wer den Menschen kennt, weifs, dafs der Leib
hier Brahman ist,
AH' jene Götter sind in ihm, wie im Kuhstall die Kühe sind1.
1. Auch dies dürfte scherzhaft zu nehmen sein.
Vers 31. 33. Das Sterben.
31. In Aug' und Odem des Menschen teilten dann Sonne sich und
Wind;
Was sonst von ihm noch bleibt, reichten die Götter da dem
Agni dar.
33. Sobald das Sterben ihn ankommt, geht dreifach auseinander er,
Nach dorthin geht mit einem er (zur Sonne),
Nach dorthin geht mit einem er (zum Winde),
Hienieden bleibt mit einem er (bei Agni).
Vers 34. Nachträglicher Wortwitz.
34. Im Gerinnsel der Urwasser war sein Körper verborgen einst;
In ihm ward er gelaicht gleichsam, darum wird Leichnam1 er
genannt.
1. Anders (zwischen oava Leichnam und faras Kraft), aber nicht besser ist
das Wortspiel im Original.
Atharvaveda 11,5.
Der Brahmanschüler als Inkarnation des Brahman.
Das Brahman bringt diese Welt hervor; aber es ist darum
doch nicht diese Welt; wollen wir daher zu Brahman gelangen,
so müssen wir uns dieser Welt entäufsern, uns von ihr los-
lösen, ihr entsagen, kurz, dasjenige üben, was der Inder tapas
(Askese) nennt. Daher gehören Brahman (Erhebung über das
Individuelle) und Tapas (Entsagung dem Individuellen) eng
zusammen, wie Theorie und Praxis, das Tapas ist die Ver-
wirklichung des Brahman im Leben, ist das praktisch gewor-
dene Brahman selbst.
278 IV. Geschichte des Brahman, Anhang.
Der Mensch hat das Bedürfnis, dieses Höchste (brahman)
und seine Verwirklichung (tapas) nicht nur in Geist und
Gemüt zu erstreben, er will es auch, wenn möglich, im
Menschen verwirklicht anschauen, weil er nur so der Mög-
lichkeit, es auch selbst zu verwirklichen, sicher zu sein glaubt,
worauf ja auch die Bedeutung der Christusidee in unserer
Kirche beruht. In Indien, wo man weniger individuell denkt
als bei uns, ist es nicht eine Person, in der der Dichter
unseres Hymnus das Göttliche verwirklicht sieht, sondern eine
ganze Menschenklasse, der jeder einmal angehören soll, die
Klasse der Brahmacärin's oder Brahmanschüler.
Jeder Dvija (Brähmcma, Kshatriya und Vaigya) soll in
seiner Jugend eine Reihe von Jahren Brahmacärin sein, einer-
seits um das Brahman in Gestalt des Veda in sich aufzunehmen,
anderseits um es als Tapas durch eine Reihe von Entsagungen
praktisch zu üben, worauf alle Vorschriften für den Brah-
macärin (Keuschheit, Gehorsam gegen den Lehrer, Bedienung
desselben im Hause durch Pflege der heiligen Feuer, aufser
dem Hause durch Betteln für ihn u. s. w.) hinauslaufen. So
ist dieser Stand, wie schon der Name brahma-cärin „der in
Brahman Wandelnde" besagt, recht eigentlich dem Brahman
und seiner Verwirklichung im Erkennen und Handeln ge-
widmet; in beiden Richtungen soll der Brahmanschüler nur
Brahman und nichts andres sein. Insofern er aber dieses
ist, ist er nicht mehr Individuum, sondern das Princip aller
Dinge selbst (aham bralima asmi), ist er Schöpfer und Beieber
von allem im Himmel und auf Erden, wie unser Hymnus es
ausführt, und wenn in demselben für den, welcher mehr an
das Individuum als an die Idee denkt, deren Träger es ist,
manches übertrieben, ja ungeheuerlich erscheinen mag, so
liegt in ihm doch der sehr wahre Gedanke, dafs wir das
Princip der Dinge, das Brahman, nicht in irgendeinem Wolken-
kuckucksheim zu suchen haben, sondern in unserm eigenen
Innern, und zwar nicht in der individuellen Seite desselben,
sondern in derjenigen, welche in uns in dem Mafse lebendig
wird, in welchem wir in der Weise des Brahmacärin durch
Tapas uns über die ganze Sphäre des Individuellen, ihm ent-
sagend, erheben.
Der Brahmanschüler , Atharvav. 11,5. 279
Wir übersetzen den Hymnus, indem wir versuchen, seine
Teile zu sondern, bemerken aber im voraus, dafs manches
in demselben auch uns problematisch bleibt.
Vers 1—2. Der Brahmacärin als Inbegriff der
Gottheit.
1. Der Brahmanschüler belebend beide Welten geht.
In ihm sind einmütig die Götter alle.
Er hält und trägt die Erde und den Himmel,
Er sättigt durch sein Tapas selbst den Lehrer 1.
1. Das Betteln für den Lehrer ist Tapas.
2. Dem Brahmanschüler nah'n, ihn zu besuchen,
Väter und Götter, einzeln und in Scharen;
. . . ihm folgen die Gandharven l . . .
Sechstausend und dreihundertdreiunddreifsig 2 ,
Und alle Götter sättigt er durch Tapas 3.
1. Vermutlich Glosse. 2. Nach Rigv. 3,9,9 giebt es 3339, nach Brih. Up. 3,9,1
3306 Götter. 3. Die Pflege der heiligen Feuer ist Tapas.
Vers 3 — 4. Bedeutung der Einführung und der
Holzscheite.
3. Der Lehrer, der den Brahmanschüler einführt,
Nimmt ihn wie eine Leibesfrucht in sich auf;
Drei Nächte 1 trägt er ihn im Mutterleib , dann
Gebiert er, den zu schauen Götter kommen.
1. Vielleicht auf die (freilich nicht allgemeine) Vorschrift bezüglich, nach
welcher der Lehrer drei Nächte nach der Einführung (upanayanam) dem
Schüler als Erstes die Gäyatri lehrt, Cänkh. Grihyas. 2,5.
4. Ein Brennholz ist die Erde, eins der Himmel,
Und mit dem dritten füllt er an den Luftraum.
Durch Brennholz, Gürtel, Studium1, — durch das Tapas
Sättigt die Welträume der Brahmanschüler.
1. Alle diese Dinge sind für den Schüler nach einer Vorschrift geregelt,
der er sich unterwerfen mufs, und folglich Tajjas.
Vers 5 — 6. Der Brahmanschüler, als Brahman,
macht Tag und Nacht.
5. Der Brahmanschüler, im Ost brahmangeboren,
In Glut sich kleidend, steigt empor durch Tapas,
Aus ihm ward Brahmankraft , das höchste Brahman,
Die Götter all, und was sie macht unsterblich.
280 IV. Geschichte des Brahman, Anhang.
6. Der Brahmanschüler zieht, brennholzerleuchtet,
Geweiht, schwarzfellgekleidet , langen Bartes1;
Zieht täglich von der Ostsee zu der Nordsee2,
Verschlingt die Welt und heifst sie wiederkehren.
1. Poetische Schilderung der Nacht. 2. Auch wir nennen ja so das west-
liche Meer.
Vers 7 — 9. Der Brahmanschüler als Welthüter.
7. Er zeugte Brahman, Urwasser und Weltraum,
Er den Prajäpati, Parameshthin , Viräj;
Als Keim *, verborgen in des Ew'gen Schofse,
Hat er zermalmt als Indra die Dämonen.
1. Als Blitz. — Im folgenden Verse erscheinen Lehrer und Schüler, die ja
beide Träger des Brahman und Tapas sind, als Schöpfer und Erhalter der Welt.
8. Der Lehrer baute diese beiden Welten,
Die weiten, tiefen, Erde und den Himmel.
Der Brahmanschüler schützt sie durch sein Tapas,
In ihm sind einmütig die Götter alle.
9. Als Bettelgabe hat die breite Erde
Vormals erbracht der Schüler und den Himmel ;
Auf ihnen, die er als Brennhölzer ehrte,
Sind angesiedelt alle diese Wesen.
Vers 10 — 16. Feuer, Sonne, Gewitter und Regen;
Gewinnung des Lichts.
10. Hier einer, über des Himmels Rücken der andere,
Sind zwei Behälter1 der Brahmankraft verborgen;
Durch Tapas hütet sie der Brahmanschüler;
Nur weil er kennt das Brahman, thut er dieses.
1. Die Behälter des Opferfeuers und des Sonnenfeuers, aus deren Verbindung
nach dem Folgenden, wie es scheint, das Blitzfetier entspringt.
11. Eins hier, jenseits das andre von der Erde,
Zwei Feuer treffen sich zwischen Erd' und Himmel;
In ihnen ruhen gar gewalt'ge Strahlen,
Durch Tapas meistert sie der Brahmanschüler.
12. Er brüllt, er donnert, züngelt rot und weifslich,
Mit mächt'gem Gliede dringt er in die Erde,
Mit seinem Strom benetzt er ihren Rücken .
Davon die vier Weltweiten alle leben.
Der Brahmanschüler, Atharvav. 11,5. 281
13. In Feuer, Sonne, Mond, in "Wind und Wasser
Legt er sein Brennholz an, der Brahmanschüler,
Davon die Funken in der Wolke stieben,
Als Opferschmalz Dunst1, Kegen, Wasser abtrieft.
1. purisham statt purusho , mit Ludwig.
14. Tod, Varuna war ihm Lehrer, Soma war Kräuter ihm und Milch,
Die Wolken seine Heerhaufen, durch die dies Licht er hat erbracht.
15. Varuna selbst als sein Lehrer nährt ihn daheim mit Butterseim,
Um was man bittet bei Prajäpati,
Das reicht der Brahmanschüler dar als Freund aus seinem
eignen Selbst.
16. Der Brahmanschüler ist Lehrer, ja, ist Prajäpati sogar,
Als solcher herrscht er, als Herrscher ward Indra er, der waltende.
Vers 17 — 19. Kraft des brahmacaryam, Brahman-
wandels.
17. Durch Brahmanwandel, durch Tapas beschützt der Fürst sein
Königreich ,
Aus Brahmanwandel der Lehrer wünscht einen Brahmanschüler
sich.
18. Durch Brahmanwandel die Jungfrau erlangt den Jüngling zum
Gemahl ;
Durch Brahmanwandel der Ochse, das Pferd1 erkämpft die
Nahrung sich.
1 Alle Arbeit (Karman) ist als solche , und wenn man von dem Zweck
absieht, Tapas. Daher die häufige Zusammenstellung von Brahman, Tapas,
Karman.
19. Durch Brahmanwandel, durch Tapas wehrten die Götter ab den
Tod,
Durch Brahmanwandel hat Indra das Licht den Göttern zugebracht.
Vers 20 — 22. Nochmals der Brahmanschüler als
Schöpfer.
20. Vergangenes und was künftig, Tag und Nacht, Kräuter und
der Baum,
Das Jahr mitsamt den Jahrzeiten vom Brahmanschüler sind erzeugt.
21. Der Erde und der Luft Tiere, wilde Tiere und zahme auch,
Die ohne Flügel, mit Flügeln, vom Brahmanschüler sind erzeugt.
282 V. Geschichte des Ätman.
22. Alle Kinder Präjäpati's tragen in sich des Lebens Hauch,
Doch alle diese schützt Brahman, wie es im Brahmanschüler wohnt.
Vers 23 — 24a. Nochmals Brahman als Sonne.
23. Von Göttern angetrieben glänzt unüb erragt die Sonne dort;
Aus ihr ward Brahmankraft , das höchste Brahman,
Die Götter all, und was sie macht unsterblich.
24 a. Der Brahmanschüler trägt das Brahman glanzvoll,
Ihm sind die Götter alle eingewoben.
Vers 24 b — 25. Gebet (wohl an Brahman).
24 b. Einhauch, Aushauch und Zwischenhauch verleihend,
Rede und Geist, Herz und Gebet und Einsicht,
25. Gieb Auge uns und Ohr, gewähre Ruhm uns,
Nahrung und Samen, Blut und Leibessegen.
Vers 26. Das Brahman als Urprincip über den
Urwassern schwebend — und zugleich in der
Erscheinung der Brahmanschüler verwirklicht.
26. Dies schuf der Brahmanschüler, über der Wasser Rücken
Stand er und übte Tapas in dem Urmeer, —
Und er, gebadet, braun und gelb gekleidet, glänzt im Land
umher.
V. Geschichte des Ätman (und der verwandten Begriffe,
Purusha und Präna) bis auf die Upanishad's.
Soll über das Rätsel, als welches die Welt dem philoso-
phierenden Menschengeiste sich darstellt, ein Aufschlufs über-
haupt möglich sein, so wird derselbe wesentlich und vor allem
aus unserm eigenen Innern geschöpft werden müssen. Denn
erstlich ist der Mensch die oberste Stufe der Natur, auf welcher
dasjenige, was im Unorganischen, in der Pflanze, im Tiere in
gradueller Steigerung erscheint, seinen vollkommensten Aus-
druck findet; — zweitens aber ist unser eigenes Sein der
einzige Punkt der Welt, in welchem sich uns die Natur von
innen öffnet und einen, wenn auch nur beschränkten, Blick in
ihre abgründlichen Tiefen gestattet.
Begriff des Atman. 9g->
Hierauf beruht es, dafs unter den Begriffen, durch welche
das indische Denken über die schon im Rigveda erkannte ewige
Einheit einen nähern Aufschlufs zu gewinnen sucht, diejenigen
am bedeutsamsten und erfolgreichsten gewesen sind, welche
zum Naturganzen' den Schlüssel in der Anschauung des eigenen
Selbstes finden, also namentlich die Auffassung jenes ewigen
Einen als der Purusha (Mann, Geist), der Präna (Leben) und
vor allem andern als der Atman, d. h. als „das Selbst"; ja,
man kann sagen, dafs für das Princip der Welt in allen Zeiten,
Ländern und Sprachen kein glücklicherer Ausdruck gefunden
worden ist, als die Bezeichnung desselben als der Atman, das
Selbst, welche in den Upanishad's und weiterhin ganz über-
wiegend und völlig synonym mit Brahman gebraucht wird.
Inzwischen ist eine Geschichte des Wortes atman von
seinem ersten Auftreten an bis zu den Upanishad's hin, in
denen es neben brahman der gewöhnliche Ausdruck für das
innerste Wesen sowohl des Menschen als auch der gesamten
Natur ist, mit grofsen Schwierigkeiten verknüpft und läfst
sich in der Weise, wie wir die Geschichte des brahman ge-
liefert haben, gar nicht gewinnen, indem bei diesem Worte
die Verhältnisse wesentlich anders liegen.
Oldenberg, der sich, unseres Wissens, am eindringendsten
mit dieser Frage beschäftigt hat, unterscheidet zwei parallele
Strömungen der Gedanken, von denen die eine das brahman,
die andre den atman zum Princip erhob, und welche beide
innerhalb ihres Gebietes immer mehr und mehr sich erweiterten,
bis sie schliefslich zur Einheit der Brahman-Atman-Lehre, wie
sie in den Upanishad's vorliegt, verschmolzen. „Es hat", sagt
er (Buddha, l.Aufl., S. 30. 31), „etwas von der ruhig unaufhalt-
samen Notwendigkeit eines Naturprozesses, dieses Vordringen
oder dieses Anschwellen jener beiden Vorstellungen, des Atman
und des Brahma, von denen jede erst in ihrem Kreise
den Herr seh er platz gewinnt und dann von dem vorwärts-
dringenden Gedanken in Weltweiten hinausgetragen wird und
auch da eine immer wachsende Macht bethätigt .... Der be-
stimmte, selbstverständlich gegebene und begrenzte Inhalt, den
einst das einfache Bewufstsein in der Vorstellung des Atman
wie in der des Brahma gedacht hatte, dehnt sich zu unbe-
284 V. Geschichte des Atman.
stimmten Weiten aus, und damit schwindet zugleich die Unter-
schiedenheit beider Vorstellungen immer mehr und mehr ....
Und endlich feilen die letzten Schranken . . . Atman und Brah-
man strömen zusammen zu dem Einen, bei dem der suchende
Geist, müde von dem Durchirren einer Welt düster gestalt-
loser Phantasmen, seine Rast findet." (Für die letzten Worte
möchten wir die Verantwortung nicht tragen, und wir hofi'en,
durch unsere Darstellung im Vorhergehenden und Nachfolgen-
den zu zeigen, dafs der indische Genius weder so düster noch
so phantastisch ist, wie er manchen bisher erschien.) — Schon
vor Jahren trugen wir Bedenken dieser Ansicht Oldenbergs
beizutreten, indem wir derselben eine zweite Auffassung als
ebenso möglich zur Seite stellten und es unentschieden liefsen
(System des Vedänta, S. 50): „ob der Begriff des Atman aus
dem das Brahman durch eine blofse Verschärfung des sub-
jektiven Momentes, welches in ihm liegt, sich entwickelt hat,
oder ob wir vielmehr zwei Strömungen zu unterscheiden haben,
eine mehr priesterliche, welche das Brahman, und eine mehr
philosophische, welche den Atman zum Princip erhob, bis
dann beide, ihrer Natur nach nahe verwandt, in ein gemein-
sames Bette geleitet wurden". — Fortgesetzte Beschäftigung
mit der Frage hat uns bestimmt, mehr und mehr der erstem
Ansicht zuzuneigen, indem, wie wir jetzt glauben, die letztere,
von Oldenberg aufgestellte, an den Quellen nicht durchführbar
ist. In der Weise nämlich, wie wir die Geschichte des Brah-
man geschrieben haben, läfst sich eine Geschichte des Atman
nicht konstruieren. Vielmehr ergiebt sich, dafs atman ur-
sprünglich gar kein philosophischer Begriff ist und erst ganz
allmählich zu einem solchen wird, in dem Mafse wie das
philosophische Denken sich der in ihm liegenden Vorteile be-
wirfst wird. So sehen wir das Wort atman als Bezeichnung
des Princips der Dinge zuerst hie und da gleichsam blitzartig
aufleuchten und wieder verschwinden; es ist, als ob es dem
noch ungeschulten Denken schwer würde, die hohe Abstraktion,
zu welcher dieser Begriff auffordert, festzuhalten, bis erst ganz
allmählich die Kraft des abstrakten Denkens so weit erstarkt,
um sich mehr und mehr des Wortes atman als des treffendsten
Ausdruckes für das, was man von je her suchte, bewufst zu
Das Wort ätman. 285
werden, worauf er dann (erst mit den Upanishad's) in den
Mittelpunkt der indischen Gedankenwelt tritt, von dem aus
alle andern, synonym damit und nebenher gebrauchten Begriffe,
Purusha, Präna und selbst Brahman, ihr rechtes Licht er-
halten.
Um diese schwierigen Verhältnisse zu entwickeln, müssen
wir zunächst nach der Etymologie und ursprünglichen Bedeu-
tung des Wortes ätman fragen.
1. Etymologie und Bedeutung des Wortes ätman.
Als Bedeutungsentwicklung des Wortes ätman pflegt ge-
wöhnlich „Hauch ■ — Seele — Selbst" angesetzt zu werden,
sei es, dafs man ätman von an „atmen" (P.W.), oder at „gehen"
(Weber), oder av = vä „wehen" (Curtius, Grafsmann u. a.)
herleitet und mit griechischem &x|j.6c, dÜTjrrjv, aÜTfJL^, germa-
nischem ätum, äthom, aedm vergleicht. So verlockend diese
Zusammenstellung ist, so steht ihr doch neben lautlichen
Schwierigkeiten das Bedenken entgegen, dafs ätman in der
Bedeutung „Hauch", vom Winde gebraucht, nur an vier
Stellen des Kigveda und vorwiegend in Jüngern Hymnen vor-
kommt und möglicherweise nur eine sekundäre durch „Selbst
— Seele — Lebenshauch" vermittelte Bedeutung sein könnte;
sowie das schwerere Bedenken, dafs neben ätman im Riffveda
das häufigere und anscheinend ältere, überall (auch 1,63,8)
pronominal oder adverbial gebrauchte tman (in den Casus-
formen tmanam, tmanä, tmane, tmani, tman) steht. — Sollten
nicht in ätman, wie vielleicht auch in olutcc, zwei pronominale
Stämme, a (in a-hani) und ta stecken, und als ursprüngliche Be-
deutung „dieses Ich", das eigene Selbst sich festhalten lassen?
Diese Bedeutung wäre dann in verschiedene auseinanderge-
gangen, je nachdem man das Selbst im seelischen oder (mit
Homer: tcoXaocs 5'Ü9^i;j.ouc 4;uX°t? 'A'iSi Tcpota^sv vjpoov, auTou?
5s e\(5pta tsux.£ xuvsaaiv) im körperlichen Teile des Menschen
erblickte, und der Bedeutungsgang würde sein:
Das Selbst (dieses Ich) als :
I. Leib. II. Rumpf. III. Seele, Lebenshauch. IV. Wesen.
286 V\ Geschichte des Atman.
Wie dem auch sein mag, Thatsache ist, dafs eine schon
sehr früh auftretende, möglicherweise die älteste, jedenfalls aber
die hauptsächlichste Bedeutung des Wortes ätman „das Selbst"
ist, und zwar
„das Selbst im Gegensatze zu dem, was nicht das
Selbst ist".
Diese Grundbedeutung zieht sich durch alle gebräuchlichem
Anwendungen des Wortes ätman hindurch, sofern durch das-
selbe bezeichnet wird:
I. die eigene Person, der eigene Leib, im Gegensatze
zur Aufsenwelt;
IL der Rumpf des Leibes im Gegensatze zu den Aufsen-
gliedern;
III. die Seele im Gegensatze zum Leibe;
IV. das Wesen im Gegensatze zu dem Nichtwesentlichen.
Belege zu allen diesen Bedeutungsvariationen werden weiter
unten folgen. Hier wollen wir zunächst nur konstatieren,
dafs ätman wesentlich und von Haus aus ein relativer Be-
griff ist, sofern dabei immer etwas vorschwebt, was nicht der
Atman ist, und ein negativer Begriff, sofern der positive
Inhalt nicht in ihm, sondern in dem liegt, was ausgeschlossen
wird. Solche relativ-negativen, oder, wie man auch sagen
könnte, limitierenden Begriffe sind häufig von den Philo-
sophen und mit grofsem Vorteile gebraucht worden, um das
unerkennbare Princip der Dinge dadurch zu kennzeichnen,
dafs man den ganzen Inhalt der erkannten Welt von ihm
ausschliefst. Solcher Art ist schon die agyr\ des Anaximandros
im Gegensatze zu allem Dasein, dem ein andres vorhergeht;
das ov des Parmenides im Gegensatze zu der yhzac und dem
OAs^poc, welche die Sinnenwelt beherrschen; das c'vtci>? ov des
Piaton im Gegensatze zu dem Y!/yvc;j.£vov xcd (xtcoXXij;j.£vov; die
mbstantia des Spinoza im Gegensatze zu den modi, aus denen
•die ganze Welt, die körperliche wie die geistige, besteht;
endlich das Ding an sich Kants im Gegensatze zur ganzen
Erscheinungswelt, welche nur die Dinge enthält, wie sie für
uns, d. h. für unsern, aus Raum, Zeit und Kausalität ge-
wobenen Intellekt sind. Alle diese Begriffe: apy^, ov, 6'v-rwr
Das Wort ätman. 287
Sv, sitbstantia, Ding an sich, sind negativ, d. h. sie sagen
von dem Princip nur aus, was es nicht ist, nicht aber, was es
ist; sie sind daher inhaltsleer, und gerade hierin liegt ihr
Wert für die Metaphysik, die es mit einem ewig Unerkenn-
baren zu thun hat. Solcher Art ist auch der Begriff Ätman,
welcher uns auffordert, das Selbst der eigenen Person, das
Selbst jedes andern Dinges, das Selbst der ganzen Welt ins
Auge zu fassen und hinwegzuthun alles, was nicht streng
genommen zu diesem Selbst gehört; es ist der abstrakteste
und darum der beste Name, den die Philosophie je für ihr
eines, ewiges Thema gefunden hat; alle jene andern Namen,
ocpyjl, Bv, 8vto£ 6'v, substantia , Ding an sich, schmecken noch
nach der Erscheinungswelt, der sie doch schliefslich entstammen;
ätman allein trifft den Punkt, an dem das innere, dunkle,
nie erscheinende Wesen der Dinge sich uns öffnet. — Es ist
kein Zufall, dafs gerade die Inder zu dieser abstraktesten und
daher besten Benennung des ewigen Gegenstandes aller Meta-
physik gelangt sind; denn dem indischen Genius wohnt ein
rastloses Dringen in die Tiefe, ein Verlangen ein, hinauszu-
kommen über alles, was noch als ein Aufserliches , Un-
wesentliches erscheint, wie sich dies, um nur ein Beispiel
anzuführen, so schön im zweiten Teile der Taittiriya-Upanishad
bethätigt. Dort wird vor uns gestellt der Mensch, zunächst
in seiner äufserlichen , körperlichen Erscheinung; als solcher
ist er aus Nahrungssaft bestehend (annarasamaya purusha);
aber dieser Körper ist nur eine Hülle (koca), die uns das
innere Wesen verdeckt; ziehen wir sie ab, so gelangen
wir zum lebenshauchartigen Selbst (pränamaya ätman); aber
auch dieses wird wieder zur Hülle, nach deren Abzug wir
zum verstandartigen Selbst (manomaya ätman) gelangen, und
so von diesem, auf demselben Wege immer tiefer dringend,
zum erkenntnisartigen Selbst (vijnänamaya ätman) und von
ihm endlich zum letzten Kern, zum wonneartigen Selbst
(änandamaya ätman). Hier sind wir im Centrum angelangt,
und es ist höchst charakteristisch, dafs der Philosoph zum
Schlüsse eine Warnung hinzufügt, von hier nicht noch tiefer
dringen zu wollen und nicht auch dieses letzte Innere der
Natur noch zum Objekte der Erkenntnis zu machen: „denn
288 V. Geschichte des Atman.
er ist es, der Wonne schaffet; denn wenn einer in diesem
Unsichtbaren, Unkörperlichen, Unaussprechlichen, Unergründ-
lichen den Frieden, den Standort findet, dann ist er zum
Frieden eingegangen; wenn er hingegen in ihm noch einen
Unterschied, einen Zwischenraum [zwischen Subjekt und Ob-
jekt] annimmt, dann hat er Unfrieden; es ist der Unfriede
des, der sich weise dünket".
Bei dieser Beanlagung des indischen Geistes, in die Tiefe
zu dringen und durch alles Schalenartige hindurch den innersten
Kern zu erfassen, wird es begreiflich, wie die indische Philo-
sophie, um dasjenige auszudrücken, was sie sagen wollte,
sich des aus dem gewöhnlichen Leben aufgenommenen, ja
schon zum pronomen reflexivum verblafsten Wortes atman
bemächtigte, zuerst schüchtern und tastend, dann immer
häufiger und zuversichtlicher; — es wird begreiflich, wie in
den Händen der indischen Denker alle jene andern mytho-
logischen, anthropomorphischen , rituellen Benennungen des
höchsten Wesens zur Schale wurden, durch welche hindurch,
hier mehr, dort weniger deutlich, als innerster Kern der Atman
hindurchleuchtet, bis das Denken so weit erstarkt ist, im
Atman den reinsten Ausdruck für das Princip der Dinge zu
finden und alle jene andern, durch die Tradition geheiligten
Namen, Prajäpati, Purusha, Präna, ja selbst den am festesten
haftenden Begriff Brahman nur nebenher zu gebrauchen.
Von Prajäpati und Brahman war in diesem Sinne schon
oben (S. 198. 262—264) die Rede. Es bleibt noch übrig,
dafs wir auf die Geschichte des Purusha und des Prdna
einen Blick werfen, um auch bei ihnen jenes allmähliche
Durchschimmern des Atman durch sie hindurch bestätigt zu
finden.
2. Der Purusha.
Schon mehrfach sind wir bedeutsamen Fortbildungen des
im Rigv. 10,90 (oben S. 150 — 158) gefeierten, weltschöpfe-
rischen Purusha begegnet: so, wenn in dem Mythus Taitt.
Ar. 1,23 Prajäpati die Rolle des Weltschöpfers an den Purusha
abgiebt (oben S. 197 fg.), oder wenn Qatap. Br. 6,1 aus
dem Asad die sieben Purusha? s hervorgehen, die, zu einem
Der Purusha. 289
zusammenfahrend, Prajäpati sind (oben S. 199 fg.). Hier wollen
wir nur noch das bedeutendste Denkmal aus der Geschichte
des Purusha zwischen Rigveda und Upanishad's vorführen
aus Väjasaneyi-Samhitä 31 (parallel mit Taitt. Ar. 3,12 — 13),
woran sich das folgende, nahe verwandte Stück Väj. Samh.
32,1—12 (parallel mit Taitt. Ar. 10,1,2—4) anschliefsen mag.
Hier wird zunächst das Rigvedalied des Purusha, d. h. des
Naräyana (oben S. 153, Anm.) mit einigen Abweichungen
wiederholt; an dasselbe aber schliefst sich sodann als „zweiter
Teil des Purushaliedes", Uttaranäräyanam, ein Nachtrag Väj.
Samh. 31,17 — 22 (Taitt. Ar. 3,13), welcher nebst dem fol-
genden, Tadeva genannten Abschnitte Väj. Samh. 32,1 — 12
(Taitt. Ar. 10,1,2—4) eine wesentliche Fortbildung des Purusha
enthält, in der wir, wenn auch noch undeutlich, in dem Be-
griffe des Purusha den des Atman durchblicken sehen. — -
Wir halten uns an die Recension der Väjasaneyin's und
berücksichtigen die der Taittiriyaka's nur, wo sie ein beson-
deres Interesse bietet.
Was zunächst die Form betrifft, ? so haben wir im Uttara-
närayanam (wie die Verschiedenheit des Metrums und die
Wiederkehr einzelner Verse und Versteile an andern Veda-
stellen zeigt) keine originale Komposition, sondern ein durch
die Einheit des rituellen Zweckes zusammengehaltenes Aggregat
von umlaufenden Versen vor uns. Dasselbe gilt noch mehr
vom Tadeva, welches nach einem ihm eigenen Anfange (Väj.
Samh. 32,1 — 3a) zu einzelnen Versen des Prajäpatiliedes
(Rigv. 10,121, oben S. 128 fg.) und dann zum Venaliede
(Atharvav. 2,1, oben S. 253 fg.) greift, um dieselben unter
Einschiebungen und merkwürdigen Modifikationen zu re-
produzieren.
Für den Inhalt ist zunächst charakteristisch, dafs der
Purusha als erste Schöpfung des Vicvakarman (Väj.
Samh. 31,17), als identisch mit Prajäpati (Väj. Samh. 31,19.
32,1. 3. 5) sowie mit Brahman (brahma 32,1; ruca brahma
31,21; ruca brdhmi 31,20) erscheint und wie letzteres (oben
S. 250 — 252) mit Vorliebe als verkörpert in der Sonne an-
geschaut und verehrt wird. Hierbei sehen wir schon einige
Grundgedanken der Upanishad's ziemlich deutlich durch-
Devssen, Geschichte der Philosophie. I. 19
290 "V- Geschichte des Ätman.
brechen; so die Erlösung durch Erkenntnis des Purusha (tan/
eva viditvä ati mrityum eti, 31,18), die Identität seiner Ver-
körperung im Menschen und im Weltall (31,19. 32,4), die
Verschiedenheit desselben von der ganzen Erscheinungswelt
(na tasya pratimä asti 32,3) und die Einswerdung mit ihm
auf dem Wege der Erkenntnis (tad apaqyat, tad abhavat, tad
äsit 32,12). Hierbei kommt es zu dem Ausspruche, dafs der
die Welt durchsuchende und so zu Gott gelangende Weise
ätmanä ätmänam abliisamvivega „mit seinem Selbst völlig
aufgeht in dem göttlichen Selbst" (32,11), worin eine, wenn
auch noch undeutliche Überführung des Purusha -Begriffes in
den Atman in seiner doppelten Bedeutung als Einzelseele und
Weltseele gefunden werden kann.
Uttaranäräyanam , Vaj. Samh. 31,17 — 22 (Taut. Ar. 3,13).
Vers 17. Der Purusha ist aus den Urwassern von Vicva-
karman geschaffen und von Tvashtar gebildet worden.
Aus Wassern und der Erde Saft geschaffen,
Ging er hervor aus Vicvakarman anfangs;
Tvashtar kommt, auszubilden die Gestalt ihm;
So ist des Menschen erster Ursprung Gottheit 1.
1. Taitt. Ar. 3,13,1: so ist das All des Menschen erster Ursprung.
Vers 18. Der Purusha ist sonnenartig; nur wer ihn er-
kennt, bleibt vor dem Wiedersterben bewahrt.
Ich kenne jenen Purusha, den grofsen,
Jenseits der Dunkelheit wie Sonnen leuchtend;
Nur wer ihn kennt, entrinnt dem Reich des Todes,
Nicht giebt es einen andern Weg zum Gehen 1.
1. = Taitt. Ar. 3,13,1, v. 2. Derselbe Vers war schon vorher, im Purushaliede,
eingeflochten worden, Taitt. Ar. 3,12, v. 16 — 17, wo jedoch zwischen der zweiten
und dritten Zeile folgende vier merkwürdigen Zeilen eingeschoben werden:
Den, als er, weise alle Formen denkend
Und Namen zuteilend, noch müfsig dasafs,
Der Schöpfer hat hervorgebracht als Erstes,
Machtvoll , vorauswissend die vier Weltpole , —
Nur wer ihn kennt u. s. w.
Vers 19. Er, als Prajäpati, ist das belebende Princip im
Mutterleibe und in der o-anzen Natur.
Der Purusha, Yäj. Samh. 31,17 — 22. 291
Prajäpati wirket im Mutterleibe ,
Der Ungeborne vielfach wird geboren;
"Wie er entsprungen, sehen nur die Weisen,
In ihm gegründet sind die Wesen alle 1.
1. Die letzte Zeile aus Rigv. 1,164,13. Statt derselben hat Taitr. Ar. 3,13, v. 3 :
„die Frommen suchen seiner Strahlen Stätte" (was der Komm, ganz falsch
versteht).
Vers 20 — 21. Der Purusha ist das unter dem Symbol
der Sonne angeschaute Brahman (ruca brährna v. 21, oder,
des Metrums halber, v. 20 ruca brähmi). Dasselbe war schon
vor den Göttern vorhanden (v. 20) und wurde dann wiederum
von den Göttern erzeugt (v. 21), die sich dabei freiwillig dem
Brahmanen, als Träger des Brahman, als unterthan erklären.
20. Verehrung ihm, der wärmend strahlt
Den Göttern, der ihr Priester ist,
Der vor ihnen entstanden war,
Dem leuchtenden, von Brahmanart.
21. Den leuchtenden, von Brahmanart
Zeugend, sprachen die Götter dann:
„Dem Priester, der dich also weifs,
„Seien die Götter unterthan!"
Vers 22. Schlufsgebet in Prosa.
Schönheit und Glück sind deine Gattinnen, Tag und Nacht
deine Seiten, die Gestirne dein Leib, die Acvin's dein Rachen.
Fördernd fördere, jene [Welt] für mich fördere, die Allwelt für
mich fördere!
Tadeva, Vaj. Samh. 32,1—12. (Parallel Taitt. Ar. 10,1,2—4.)
Vers 1. Der Purusha ist identisch mit den Göttern des
Feuers und Windes, der Sonne und des Mondes, mit dem
Reinen, d. h. dem Brahman, mit den Wassern (dem Urstofte)
und Prajäpati (der Urkraft).
Das ja ist Agni, Aditya, das ist Väyu und Candramas,
Das ist das Reine, das Brahman, die Wasser und Prajäpati.
Vers 2 — 3. Der Purusha ist, wiewohl selbst zeitlos (ein
Blitz), doch der Ursprung aller Zeit; er ist nach allen
Richtungen unendlich, und kein Abbild vermag, seine Herr-
19*
292 v". Geschichte des Ätman,
lichkeit wiederzugeben. Hieran schliefsen sich Citate früherer
Prajäpati -Verse.
2. Alle Zeitteile entsprangen aus dem Blitze*, dem Puruslia;
Nicht in der Höhe, noch Breite, noch Mitte ist umspannbar er.
3. Nicht ist ein Ebenbild dessen, der da heilst: grofse Herrlichkeit.
Als goldner Keim etc. (Rigv. 10,121,1, oben S. 132).
Der, wenn sie atmet etc. (ib. v. 3, S. 132).
Durch dessen Macht etc. (ib. v. 4, S. 132).
Der Odem giebt etc. (ib. v. 2 , S. 132).
Nicht schäd'ge er uns etc. (ib. v. 9 , S. 133). [S. 19.1).
Er, über dem nichts etc. (Väj. Samh. 8,36 — 37, v. 36 oben
Vers 4 — 7. Der Purusha (Prajäpati) ist der Erstgeborne
der Schöpfung und wird in jedem Mutterleibe wieder neu
geboren; er ist im Innern der Menschen (lies: pratyän jänäns
und vgl. pratyag ätman) und allgegenwärtig, ist das beseelende
Princip in jedem einzelnen und die Seele (shodagi, das sech-
zehnteilige psychische Organ) des Weltalls (der drei Lichter,
Agni, Väyu, Sürya als Regenten von Erde, Luftraum und
Himmel). Zum Schlufs wieder Citate aus dem Prajäpatiliede
Rigv. 10,121.
4. Er ist der Gott in allen Weltenräumen,
Vordem geboren und im Mutterleibe;
Er ward geboren, wird geboren werden,
Ist in den Menschen und allgegenwärtig.
5. Er, der entstanden ist vor allem andern,
Der sich zu allen Wesen umgestaltet,
Prajäpati, mit Kindern sich beschenkend,
Durchdringt die drei Weltlichter sechzehnteilig (vgl. oben S.191).
6. Durch den der Himmelsraum etc. (Rigv. 10,121,5, oben S. 132).
7. Zu dem aufschaun etc. (ib. v. 6, S. 132).
Als ehemals etc. (ib. v. 7, S. 132).
Der machtvoll selbst etc. (ib. v. 8, S. 132).
Vers 8 — 12. Nachdem die Identität der Einzelseele und
der Weltseele schon im Vorigen ausgesprochen war, blieb
Der Blitz als Symbol der Zeitlosigkeit, wie Kena Up. 29.
Tadeva, Väj. Samh. 32.1— 12. 293
dem Dichter nur noch ein letzter Schritt übrig, um zu dem
Gedanken zu gelangen, den Anquetil Duperron mit Recht
seiner Upanishad -Übersetzung als Motto vorsetzte: quüquis
Deum intelligit, Dens fit. Der Weise, indem er Gott erkennt
(tad apagyat), wird zu Gott (tad abhavat), weil er in Wahr-
heit Gott von je her war (tad äsit), v. 12. Oder, v. 11: die
Erkenntnis des Urgrundes aller Dinge ist in Wahrheit nur
eine Erkenntnis unser selbst; wir gehen dadurch mit unserm
(physischen) Selbst in unser (metaphysisches) Selbst ein
(ätmanä ätmänam abhisamviveca). — Um diesen grofsen Ge-
danken zum Ausdrucke zu bringen, greift der Dichter zum
Vena -Jjiede, dessen Entwicklungsgeschichte von Rigv. 1,83,5
durch Rigv. 10,123 und 10,139 zu Atharvav. 2,1 und endlich
zu Atharvav. 4,1 wir oben verfolgten (S. 252 — 256). Unser
Dichter schliefst sich an Atharvav. 2,1 an, bietet aber dieses
Lied (dessen Übersetzung, oben S. 253 — 254, man zum Fol-
genden vergleichen wolle) in einer Umformung, die weit über
den ursprünglichen Gedanken hinausgeht. Die Deutung des
Liedes in dieser neuen Form ist nicht ohne Schwierigkeit.
Der Scholiast bezieht v. 8 (vena), v. 9 (gandharva) und wieder-
um v. 11 — 12 auf den Weisen, hingegen v. 10 auf den Para-
Tnätman. was auch uns als das Annehmbarste erscheint, wiewohl
der Wechsel der Subjekte ein sehr harter ist und die Concin-
nität des Liedes bei dem Versuche, den neuen Gedanken in
ererbte Verswendungen (den neuen Most in alte Schläuche) zu
kleiden (sogar v. 11 wird durch Umdeutung von Taitt. Ar. 1,23
v. 14=10,1, v. 19, oben S. 198, gewonnen), ganz verloren geht.
Hiernach wäre der Vena, Gandharva nicht mehr wie in
Atharvav. 2,1 ein himmlischer Träger der Offenbarung, sondern
(ähnlich wie in der Fortbildung Atharvav. 4,1, oben S. 255 — 256)
der irdische Seher selbst, und der Gedankengang würde fol-
gender sein: v. 8: der Seher schaut die ewige Einheit; v. 9:
er soll sie uns verkünden, obwohl sie nur der wissen kann,
welcher seines Vaters Vater, d. h. identisch mit dem Urwesen
ist (womit der Gedanke der Schlufsverse vorbereitet wird);
v. 10: hierzu ist Hoffnung, denn das allwissende Urwesen ist
ja für uns kein Fremdes, sondern unser Verwandter, Vater
und Fürsorger; v. 11: der Weise durchforscht alle Welten
294 V. Geschichte des Atman.
und dringt so durch bis zu dem prathamajäs des ritam, d. h.
zum Urprincip, wie es als Erstling in der Schöpfung geboren
wird und (als himmlischer Hotar, Rigv. 1,164,37, oben S. 116,
als prathamotpanna trayirüpä väk. Komm, zu Väj. Samh. 32,11)
die Quelle der Offenbarung ist; in dieses dringt er ein und
findet sich mit ihm identisch (ätmana ätmdnam abldsamvivega);
v. 12: so löst er das verschlungene Gewebe der Weltordnung
(vom Komm, rituell gedeutet, was uns jedoch hier nicht an-
geht) in seine Elemente auf, erkennt dieselben und sich mit
ihnen als identisch (tad apaqyat, tad abhavat, tad dslt).
8. Der Vena schaut das Höchste, das verborgen,
In dem die ganze Welt ihr einzig Nest hat,
Einheits- und Ausgangspunkt der Welt, den Wesen
Allgegenwärtig ein- und angewoben.
9. Des Ew'gen kundig künde der Ganclharva
Sein als Welt ausgebreitetes Geheimnis;
Drei Viertel davon bleiben uns verborgen,
Wer diese weifs, wäre des Vaters Vater.
10. Er, der verwandt uns, Vater und Vorseher ,
Kennt die Wohnstätten und die Wesen alle ;
Da wo die Götter, Ewigkeit erlangend,
Zum dritten Welträume empor sich schwangen.
11. Umwandelnd alle Wesen, alle Welten,
Umwandelnd alle Gegenden und Pole,
Drang durch er zu der Ordnung Erstgebornem ,
Ging ein mit seinem Selbste in das Selbst er.
12. Mit eins umwandelt hat er Erd' und Himmel,
Umwandelt Welten, Pole und das Lichtreich;
Er löste auf der Weltordnung Gewebe:
Er schaute es und ward es, denn er war es.
3. Der Präna.
Unter den Begriffen, welche in den Upanishad's zur Be-
zeichnung des höchsten Wesens dienen, findet sich neben
Brahman, Atman und Purusha nicht selten auch der des Präna
(so namentlich in der Kaushitaki-Up.), ein Wort, welches ur-
sprünglich den „Odem", dann das durch denselben bedingte
Der Präna. 295
„Leben" bedeutet. In der Mehrzahl gebraucht, sind die
Präna's die einzelnen „Lebenskräfte" (z. B. Manäs, Rede,
Augen, Ohren, die später sogenannten Indriya's') oder auch
die „Lebenshauche" (später Präna's genannt; ihre einzelnen
Namen sind: präna, apäna, vyäna, itdäna, samäna). In den
Brähmana's ist die erstere Bedeutung von Präna's überwiegend,
während die letztere, später ausschliefslich herrschende, sich
erst zu bilden beginnt.
In der Entwicklungsgeschichte der Bezeichnungen für
das höchste Wesen nimmt Präna naturgemäfs seine Stellung
zwischen Purusha und Atmun ein, da der Versuch, dasjenige,
was man wollte, immer schärfer zu bezeichnen, vom Purusha
auf den Präna^ wie von diesem weiter auf den Atman führen
mufste.
Schon dem Purusha-Liede, Rigv. 10,90 lag der Gedanke
einer innern Identität des Menschen und des Weltalls zu
Grunde, wenn dort aus Manas, Auge, Mund, Odem, Nabel,
Haupt, Füfsen und Ohren des Purusha Mond, Sonne, Indra-
Agni, Väyu, Luftraum, Himmel, Erde und Himmelsgegenden
werden. Aber dies war von vornherein doch nur eine po-
etische, bildlich zu verstehende Anschauungsweise, denn die
Weltteile sind von den Gliedern des menschlichen Leibes doch
sehr verschieden, und die Übereinstimmung liegt nicht in der
äufsern Gestalt, sondern darin, dafs in beiden dasselbe Lebens-
princip herrscht. Hierzu kam die täglich zu machende Be-
obachtung, dafs bei Menschen und Tieren das Wesen nicht in
den Leibesgliedern, sondern in dem sie erfüllenden Leben
(präna) liegt, wie dies z. B. Qatap. Br. 3,8,3,15 seinen dra-
stischen Ausdruck findet:
„Das Tier ist Präna (Odem, Leben); denn solange es durch
den Odem atmet, ist es ein Tier; wenn aber der Odem aus ihm
entweicht, so liegt es, zu einem blofsen Klumpen (däru, eigentlich
Klotz) geworden, zwecklos da."
Erwägungen und Beobachtungen wie diese mochten dazu
überleiten, dafs man anfing, das Wesen des Menschen und
analog damit das Wesen der Welt nicht mehr in der äufsern
Gliederung und Gestaltung, sondern in dem sie durchwaltenden
(anusamcaran) Leben zu sehen, wie es beim Menschen an
296 V. Geschichte des Atman.
den Atmungsprozefs gebunden erschien. Aber nicht nur der
Odem (präna) gab Kunde von einer das Leben erhaltenden
Kraft; auch das bewegliche Auge, die rufende Stimme, das
sie vernehmende Ohr, ja der sie regierende Verstand gingen
auf ähnliche Kräfte zurück, die dann mittels denominatio a
potiori ebenfalls pränäh „Lebenskräfte" hiefsen, deren man
somit eine Anzahl unterschied. Ein zweiter Schritt war dann,
die Einheit zu erkennen, in der alle jene präncfs wurzeln, und
die man den Lebenskräften als das Leben, den präna kv.-'
s^oxVjv oder, wie die Upanishad's sagen, den Hauptlebensodem
(mukhya präna) unterlegte. Ein dritter Schritt war, dieses
auf die gesamte Natur zu übertragen und, nachdem man in
ihr so oft Analogien für Auge, Ohr, Verstand u. s. w. ge-
funden, alle Kräfte der Natur, indisch gesprochen alle Götter,
aus einem allgemeinen Princip des Lebens, einem Präna ent-
springen zu lassen, welchen man dann gelegentlich schon für
das eigentliche Wesen, das Selbst, den Atman des Menschen
wie der ganzen Natur erklärte.
Wir wollen diesen Entwickluno-so-ano; durch Stellen aus
dem reichhaltigsten Brähmanam, dem Catapatha - brähmanam
illustrieren und zum Schlüsse zwei Hymnen der spätem Sam-
hitä's anfügen.
1) Von den Präna^s als den das Leben tragenden Lebens-
kräften ist sehr häufig die Rede. Ihre Anzahl steht noch nicht fest,
wie am besten daraus ersichtlich, dafs z. B. Qatap. Br. 12,3,2,1,
um die Analogie des Menschen mit dem Jahre durchzuführen,
hintereinander willkürlich zwei, drei, fünf, sechs, sieben, zwölf
und dreizehn Prana's angenommen werden. Gewöhnlich jedoch
werden neun Pnma's, nämlich sieben am Haupte und zwei
unterhalb gezählt. Catap. Br. 6,4,2,5: nava vai pränäh, sapta
girshan, aväncau dvau; — 12,2,2,15: nava vai pranäh; — 7,5,2,9:
sapta vai girshan pränäh; — 13,1,7,2: sapta vai girshanyah
pränäli; — 12,5,2,6: saptasu präna- äyataneshn; — 11,1,6,29:
panca wie purushe präna, rite cakshurbhyäm ; — 6,1,1,2: te
(pränäh) icldhäh sapta nänä purushän asrijanta. — Diese neun
Präna1 s sind, wie sich aus der Kombination der Stellen er-
giebt, folgende: die sieben am Haupte: manas, väc, präna,
cakshusM, grotre, Verstand, Rede, Odem, Augen und Ohren:
Der Präna. 297
die zwei unterhalb: das Zeugungs- und das Entleerungsorgan;
9,2,2,5: pancadhä vihito va1 ayam prshan präno , memo, väk,
pränag, cakshuh, c-rotram-, diese sind auch 10,1,3,4 die ürddhväh
pränäh des Prajäpati, aus denen er die Götter schafft; denn
die Götter sind die einzelnen Lebenskräfte der Natur, 7,5,1,21:
präna deväh. Etwas abweichend ist 12,9,1,9: shad vcV ime qirshan
pränäh (nämlich cakshusM, näsike, qrotre). Hingegen einer
andern Anschauung entspringt es, wenn 12,7,3,22 zweiPräna's
(präna und udäna), oder 1,1,3,3. 8,4,3,4 drei (präna, udäna,
vyäna) gezählt werden, wovon später.
2) Alle diese präna's oder Lebenskräfte wurzeln in einer
Centralkraft, welche der Präna schlechthin, später auch, zum
Unterschiede von den übrigen, der Mukhya präna („der Haupt-
lebensodem", ursprünglich wrohl „der Odem im Munde", vgl.
äsanya präna) heifst, und dessen Rangstreit mit den übrigen
präna^s und Übermacht über dieselben ein beliebtes Thema
der Upanishad's bildet. Dieser Präna scheint nach Catap.
Br. 7,2,5,2 in der Mitte des Leibes zu wohnen (tasmäd ayam
ätman präno madhyatah), von wo aus er alle Glieder durch-
waltet (1,3,2,3: so ''yam pränah sarväni angäni anusamearati).
Gelegentlich wird ein Versuch gemacht, ihn mit dem Manas
(dem spätem Centralorgane der Indriyd's) zu identifizieren
(7,5,2,6: tnano vai sarve pränä, manasi hi sarve pränäh prati-
shthiiäli); meist aber heifst er kurzweg der Präna, sei es, dafs
man ihn mit dem Präna im engern Sinne, dem Odem, und
sein kosmisches Äcpaivalent mit dem Winde identifiziert (wie
in den sogleich mitzuteilenden Stellen 10,3,3,6. 11,1,6,17), sei
es, dafs man ihn allen übrigen Präna's als „den unbestimmten
Präna" (4,2,3,1 aniruktah pränali) gegenüberstellt. Dies ge-
schieht auch in dem (schon oben S. 199 fg. mitgeteilten)
wichtigen Schöpfungsmythus Catap. Br. 6,1,1, wo die sieben
Präna's als sieben Rishi's aus dem Asat entspringen und von
dem, Indra genannten, „Lebenshauche in der Mitte" (madhye
pränah) entzündet werden, worauf sie sieben Purusha's aus
sich hervorgehen lassen, welche sodann zu dem einen Purusha
zusammenfahren, welcher Prajäpati ist. Hierin liegt die Priori-
tät der Präna's vor dem Purusha und der Primat des Haupt-
lebensodems über die andern deutlich ausgesprochen. Er
298 V. Geschichte des Aiman.
verhält sich zu ihnen nach Catap. Br. 7,5,1,21 wie Prajäpati zu
den übrigen Göttern.
3) AVie zu den Lebenskräften im Menschen die centrale
Lebenskraft, so verhält sich zu den Naturkräften die Central-
kraft der Natur, und nachdem man schon in dem Punishaliede
die Lebenskräfte und Naturkräfte gleichgesetzt hatte, so lag es
nahe, einen centralen Präna wie dem Menschen, so der Natur
unterzulegen und beide miteinander zu identifizieren. Dies ge-
schieht in folgender, hochbedeutsamen Stelle (einer Vorläuferin
der Samvarga-vidyä, Chänd. Up. 4,3), in welcher der Präna
als Lebensprincip noch mit dem Odem, und dementsprechend
der kosmische Präna mit dem Winde identisch erscheint.
Qatapatha - brähmanam 10,3,3,6.
„Jenes Feuer (das dieses Weltall ist), das ist der Präna (das
Leben). Denn wenn der Mensch schläft, so geht in das Leben ein
die Rede, in das Leben das Auge, in das Leben das Manas, in
das Leben das Ohr. Und wenn er erwacht, so werden sie aus
dem Leben wieder geboren. So viel in Bezug auf das Selbst. —
Nunmehr in Bezug auf die Gottheit. Was diese Rede ist, das ist
Agni, was dieses Auge, das Aditya, was dieses Manas, das Can-
dramas, was dieses Ohr, das die Himmelsgegenden; aber was dieses
Leben (präna) ist, das ist jener Wind, der dort läuternd weht. —
Wenn nun das Feuer ausgeht, so verweht es in den Wind; darum
sagt man , es ist in ihn verweht , denn in den Wind verweht es.
Und wenn die Sonne untergeht, so geht sie in den Wind ein, und
so in den Wind der Mond, und in dem Winde sind die Himmels-
gegenden gegründet, aus dem Winde also werden sie auch wieder
geboren. — Und wer dieses wissend aus dieser Welt abscheidet,
der gehet mit der Rede ein in das Feuer, mit dem Auge in die
Sonne, mit dem Manas in den Mond, mit dem Ohre in die Himmels-
gegenden und mit dem Präna (Odem, Leben) in den Wind; und
so ihres Wesens geworden, in welcher dieser Gottheiten er will,
zu der geworden kommt er zur Ruhe." —
Folgende Stelle zeigt, wie man alsbald diese grofse, neue
Erkenntnis mit der Mythologie zu verknüpfen wufste.
Qatapatha - brähmanam 11,1/1,17.
„Er (Prajäpati), nachdem er geopfei't hatte, begehi'te: «möge
ich dieses Weltall sein!» Da ward er zum Präna, denn der Präna
Der Präna, Qatap. Br. 4,2,3,1. 299
ist dieses Weltall. Aber dieser Präria ist er, der dort läuternd
weht, und der ist Prajäpati. Und seine Anschauung ist, dafs man
eben weifs: «so und so wehet er»; — Aber auch alles, was lebend
(präni) ist, das ist Prajäpati; und wer also diese Anschauung des
Prajäpati weifs, der wird gewisserniafsen [sich selber] offenbar." —
"Wie in dieser Stelle der Präna mit den Anschauungen
der Vergangenheit verknüpft wird, so glauben wir an einer
andern Stelle schon die Philosophie der Zukunft aus dem
Präna -Begriffe hervorblinken zu sehen, wiewohl wir dieser
Stelle bei ihrer Kürze und Verwachsenheit mit dem Ritual
nicht allzuviel Gewicht beilegen möchten.
Qatapatha-'brähmanam 4,2,3,1.
„Der JJMliya [eine bestimmte Libation] fürwahr, das ist sein
[des Spendenden] unbenannter Lebenshauch (aniruktah pränah?
Känva-Rec), und dieser ist sein Atman (Selbst); denn dieser un-
benannte Lebenshauch ist der Atman, und der ist seine Lebens-
kraft (äyur). Darum auch schöpft er diese Spende mittels der
Erde, denn aus Erde ist das Gefäfs, und mit dem Gefäfse schöpft
er sie; denn nichtalternd ist die Erde und unsterblich, und nicht-
alternd und unsterblich ist die Lebenskraft, darum schöpft er mit
der Erde."
W eitern Identifikationen des Präna mit dem Atman wer-
den wir erst auf dem Boden der Upanishad's begegnen. Hier
wollen wir zum Schlüsse nur noch den schönen Hymnus
Atharvav. 11,4 mitteilen, welcher den Präna als das Princip
alles Lebens der Natur feiert; als Brücke zu ihm, vom indi-
viduellen zum kosmischen Präna, mag vorher noch das Stück
Taitt. Ar. 3,14 eine Stelle finden, wiewohl die Haltung des-
selben nur teilweise philosophischer Art ist.
Der individuelle Präna.
Taitt. Ar. 3,14.
1. Als Träger wird getragen er und trägt selbst,
Der eine Gott, der einging in die vielen;
Wenn er es müde wird, die Last zu tragen,
Wirft er sie ab und rüstet sich zur Heimkehr.
300 V. Geschichte des Attnan.
2. Er heifst des Todes Ursach' und des Lebens,
Er heifst der Träger, und er heifst der Hüter; —
Der ward getragen, wird getragen, trägt selbst,
Der ihn erkennt in Wahrheit als den Träger.
3. Manchen verläfst er, kaum dafs er geboren,
Und manchen nicht, selbst wenn er alt geworden;
Oft rafft er viele weg an einem Tage,
Der nimmermüde Gott, stets anzuflehen.
4. Wer das versteht, woher er ist entsprungen,
Und wie er mit dem Brahman hängt zusammen,
Den macht er froh, selbst wenn er alt und krank ist,
Den wird er nicht schon vor der Zeit verlassen.
Vers 5 — 6. Übergang zu dem kosmischen Präna, der von
den Urwassern, wie ein Kalb von den Kühen, gepflegt wird.
Er ist gleichsam das Opfer, der Soma (tvam v vd iva asi
somah), von dem die Götter alle leben.
5. Zu dir hin eilen die Gewässer alle,
Als Kalb dich wissend, Milchtrank hell ausströmend;
Du zündest an Agni, des Opfers Fährmann,
Du bist als Wind der Träger der Geschöpfe.
6. Du bist das Opfer, bist der Soma gleichsam,
Die Götter alle folgen deinem Rufe,
Du bist der eine und durchdringst die vielen,
Verehrung dir, sei gern mir zu erhören.
Vers 7 — 8. Gebet an Präna und Apäna um Vernichtung
der Feinde.
7. Verehrung sei euch, höret auf mein Kufen,
Einhauch und Aushauch, die ihr streicht so eilig,
Ich rufe betend euch, schnell herzukommen;
Den, der mich hafst, verläfst, ihr ewig jungen.
8. Verläfst ihn einmütig, Einhauch und Aushauch,
Vereint euch nicht mit seinem Lebensodem;
Zustimmend meiner Bitte übergebt ihn
Dem Tod, o Götter, den ich hiermit töte.
Der Präna, Atharvav. 11,4. 301
Vers 9 — 10. Schlufsvers, zu dem Anfangsgedanken zurück-
kehrend, und Nachtrag. Das Nichtseiende soll nach dem
Kommentator das Avyaktam. das Seiende der Akäqa sein, aus
dem Väyu hervorgeht. Die neun Götter sind natürlich die oben
S. 296 besprochenen neun Lebenskräfte.
9. Nichtsein gebar das Sein; aus dem entsprang er.
Wen er erzeugt, der ist auch sein Behüter.
Wenn er es müde wird, die Last zu tragen,
Wirft er sie ab und schickt sich an zur Heimkehr.
10. Damals warst du zur grofsen Lust,
0 Präna, dem Prajäpati,
Als du, der Lust zu schaffen viel,
Nenn Götter hast hervorgebracht.
Der kosmische Präna.
Atharvaveda 11,4.
Weit hinaus über das eben mitgeteilte Stück geht der
Hymnus Atharvav. 11,4, indem er den Präna 1) als Urprincip
und Erstgebornen der Schöpfung, 2) als belebendes Princip
in der ganzen Natur, 3) als das Beseelende im Menschen
feiert.
1) Der Präna ist, nach v. 22 (der allerdings aus Athar-
vav. 10,8,7 herübergenommen sein könnte), das Urprincip,
dessen eine Hälfte im Verborgnen bleibt, während er mit der
andern Hälfte die ganze Welt hervorgebracht hat und die
Umdrehung der Sterne (der sieben Planeten und des Fixstern-
himmels mit seinen tausend unversiegbaren Lichtquellen) ver-
anlafst, v. 22. Zugleich aber ist der Präna auch (wie Prajäpati
Rigv. 10,121) der Erstgeborne der Schöpfung (bhüta v. 1,
apäm garbha v. 26). Als solcher steht er v. 21 als Gans in
den Urwassern ; wollte er aus denselben auch nur einen seiner
beiden Füfse (vielleicht präna und apänd) herausziehen, so
würde es kein Heute und kein Morgen mehr geben, Nacht,
Tag und Morgenröte würden für immer vergehen (vgl. Chänd.
Up. 5,1,12). Wie der Iiiranyagarbha Rigv. 10,121, ist hier der
Präna der Träger der ganzen Welt (v. 1. 15, anadvän v. 13,
302 V. Geschichte des Ätman.
oben S. 231 fg.) und ihr Beherrscher (v. 1. 10); er ist Ver-
gangenheit, Gegenwart und Zukunft (v. 15. 20), ist diese ganze
Welt (sarvam idam, ungrammatisch sarvasmai te idam namah
v. 8). Die Götter verehren ihn v. 11; ja, er ist selbst Virdj,
Deshtri (Personifikation der göttlichen Unterweisung), Svrya,
Candramas, Prajäpati (v. 12), Mätarigvan, Väta (v. 15) und
vielleicht Purusha (v. 14).
2) Weiter ist der Präna das belebende Princip der
Natur; als solcher erquickt er durch Donner, Blitz und
Regen die Pflanzenwelt und Tierwelt, wie v. 2 — 6. 16 — 17
eingehend geschildert wird. Seine beiden Seiten, Präna und
Apäna werden symbolisch den beiden Hauptnahrungsmitteln,
Reis und Gerste, gleichgesetzt, v. 13. Er ist der Vater der
Geschöpfe (v. 10), der in sie als Kinder mit seinen helfenden
Kräften eingeht (v. 20).
3) Endlich ist der Präna auch das Beseelende im Menschen,
•den er als Purasha im Mutterleibe bildet, v. 20, und dessen
Geburt er sodann veranlafst, v. 14. 20. Als Lebensprincip
ist er unermüdlich (v. 24), der auch im Schlafenden nicht liegt
sondern aufrecht steht und wacht (v. 25, vgl. Kätk. Up. 5,8).
Er kommt und geht, er steht und sitzt in dem Menschen und
ist in allen diesen Lagen zu verehren (v. 7 — 8). Er hat eine
freundliche Gestalt als die Heilkraft der Natur (v. 9), und er
hinwiederum ist Krankheit und Tod (v. 11), wenn er mit
schnellendem Bogen naht (v. 23). Er versetzt den Wahrheit-
redenden in die höchste Welt (v. 11), und das Wissen des
Präna erhebt über alle Wesen (v. 18 — 19). Dafs er der
Atman im Menschen ist, wird nirgendwo gesagt und vielleicht
nur in den Worten na mad anyo bhavishyasi v. 26 dunkel an-
gedeutet.
1. Verehrung dein Präna! in dessen Macht die ganze Welt,
Der entstand als des Weltalls Herr, in dem alles gegründet ist.
Vers 2 — 6. Der Präna in der Natur.
2. Verehrung sei dir, o Präna, wenn du als Donner dröhnend brüllst,
Verehrung, Präna, als Blitz dir, Verehrung dir als regnendem.
Der Präna, Atharvav. 11,4. 303
3. Wenn du als Donner, o Präna, über die Pflanzen tosest hin,
Befruchtet dann, keimaufnehmend, werden vielfach geboren sie.
4. Wenn du zur Zeit der Empfängnis über die Pflanzen tosest hin,
Dann schauert wonnevoll alles, was auf der Erde Boden lebt.
5. Und wenn der Präna ausschüttet den Regen auf der Erde -weit,
Dann fühlt Wonne die Tierwelt auch, dann wird uns Überflnfs
zu teil.
6. Von Regen überströmt, rufen dem Präna dann die Pflanzen zu:
Du schaffest, dafs wir lang leben, du füllest alle uns mit Duft.
Vers 7 — 9. Der Präna unter den Menschen.
7. Verehrung dir, wenn du herkommst, Verehrung auch, wenn du
entweichst ,
Verehrung, wenn du stehst aufrecht, und wenn du sitzst, Ver-
ehrung dir!
8. Verehrung, wenn du einatmest und ausatmest, o Präna, dir,
Verehrung, wenn du abwendest und wenn du uns zuwendest dich,
Dir, der du dieses Weltall bist!
9. Was deine Huldgestalt, Präna, und was die noch huldvollere,
Und was an dir die Heilkraft ist, von der verleih zum Leben uns!
Vers 10 — 15. Macht des Präna.
10. Der Präna hüllt ein die Wesen wie ein Vater den lieben Sohn,
Der Präna ist des Weltalls Herr, des, das atmet, und des, das nicht.
11. Präna ist Tod, Präna Krankheit, ihn verehren die Götter selbst;
Den Wahrheitsfreund erhob Präna empor zur höchsten Himmels-
welt.
12. Der Präna ist Viräj, Deshtri, er, der Präna, den alles ehrt,
Er ist Sürya und Candramas, ihn auch nennt man Prajäpati.
13. Einhauch ist Reis, Aushauch Gerste, Präna auch jener Ochse
(S. 232) ist;
Denn in der Gerste wohnt Präna, Apäna wird der Reis genannt.
14. Einatmend ist und ausatmend im Mutterleib der Purusha,
Wenn du, o Präna, ihn antreibst, wird aufs neue geboren er.
304 V. Geschichte des Atman.
15. Der Präna keifst Mätarigvan, der Plana Väta wird genannt,
Er ist Vergangenheit, Zukunft, in ihm alles gegründet ist.
Vers 16 — 17. Nochmals Präna und die Pflanzen.
16. Kräuter, heilig dem Atharvan, dem Angiras und Göttern auch
Und für Menschen geborene, entstehn, wenn Präna sie belebt.
17. Denn wenn der Präna avisschüttet den Regen auf der Erde weit,
Ja, dann schiefsen empor Kräuter und Gewächse von aller Art.
Vers 18 — 19. Lohn des, der den Präna weifs
und von ihm hört.
18. Wer dieses von dir weifs, Präna, und worin du gegründet bist,
Dem bringen alle dar Spenden dort in der höchsten Himmelswelt.
19. Und wie, o Präna, dir bringen Spenden alle Geschöpfe hier,
Lafs sie spenden auch dem, der dich, gerngehörten, verkünden
hört.
Vers 20 — 22. Drei nachträgliche Verse,
verschiedenen Metrums.
20. Als Keim im Leibe weilt er unter Göttern,
Geformt, gebildet, wird aufs neu geboren er;
Er, der da war, was ist und was da sein wird,
Der Vater, hülfreich, ging in seinen Sohn ein.
21. Nicht einen Fufs darf herausziehn der Wandervogel aus der Flut,
Denn zöge diesen er heraus, so war' nicht heut nicht morgen
mehr ,
Es gäbe nicht mehr Nacht und Tag, nie mehr erschiene Morgenrot.
22. Acht Räder wälzen sich in einem Umkreis,
Auf östlich, unter westlich, tausendfältig;
Mit einer Hälfte zeugte er das Weltall, —
Kein Schimmer ist von seiner andern Hälfte.
Vers 23 — 26. Schlufs gebet an Präna.
23. Der du Herr hier über alles, was entsteht und sich reget, bist,
Der auf andre du den Bogen abschnellst, Präna, Verehrung dir!
24. Der du Herr hier über jedes, was entsteht und sich reget, bist,
Unermüdlich und treu bleibend durch Gebet, Präna, steh' mir bei.
Ucchishta und Skamblia. 305
25. Aufrecht, in dem der schläft, wachend, steht er, nimmer liegt
nieder er,
Dafs er in dem, der schläft, schliefe, das hat keiner noch je gehört.
26. Präna, sei mir nicht abwendig, nicht sei ein andrer du als ich,
Zum Leben, als der Flut Spröfsling, o Präna, bind' ich dich
in mir!
4. Suchen nach einer noch schärfern Fassung des Princips:
Ucchishta und Skambha als Anzeichen desselben.
Wir konnten, von Prajäpati ausgehend, durch die Begriffe
des Brahman, Purusha, Präna hindurch schrittweise verfolgen,
wie das Denken der Inder mehr und mehr eine subjektive
Wendung nahm, um das Princip der Dinge da zu suchen, wo
es allein, wenn überhaupt, uns unmittelbar bewufst werden
kann, nämlich im eigenen Selbst. Aber alle jene Begriffe, so
treffend die Richtung war, die sie einschlugen, boten doch
keine völlige Befriedigung. Denn sie alle blieben immer noch
bei der Aufsenseite der Sache stehen, und man fühlte, dafs
man tiefer zu gehen, dafs man sie alle als Schale zu beseitigen
habe, um zu dem, was man eigentlich suchte, zum letzten und
innersten Selbst des eigenen Ichs sowohl wie der Aufsenwelt
zu gelangen. Ehe wir zeigen, wie man im Begriffe des Atman
dieses erstrebte Ziel und damit den Standpunkt der Upani-
shaci's erreichte, haben wir noch zweier Denkmäler zu ge-
denken, in denen jene Unbefriedigtheit, jenes Streben, alle
Schalen abzulösen und zu dem Grund aller Gründe durchzu-
dringen, einen ganz merkwürdigen Ausdruck fand. Es sind
dies: 1) Atharvav. 11,7 der Hymnus auf den Ucchishta, d. h.
den, welcher übrig bleibt, wenn man alles abzieht, was ab-
ziehbar ist, und 2) Atharvav. 10,7 — 8 die beiden Hymnen auf
den Skambha, die Stütze, nach welcher zu suchen man auch
dann noch fortfuhr, als man, wie der Dichter dieser Hymnen,
die Erkenntnis des Brahman als Princips der Dinge bereits
besafs.
1) Der Ucchishta. Atharvav. 11,7.
Dieser seltsame, nicht ohne Absicht rätselhafte Hymnus
betrachtet die ganze Welt der Namen und Gestalten, die
Deussen, Geschichte der Philosophie. I. &J
306 "V. Geschichte des Ätman.
Gesamtheit alles dessen, was im Himmel und auf Erden
vorhanden ist, als hervorgehend aus und beruhend auf dem
Ucchishta, „dem Übrigen" oder „dem Reste", worunter man
bisher, soweit wir wissen, allgemein „den Opferrest" verstanden
hat. Aber Ucchishta bedeutet zunächst nur den Rest im all-
gemeinen; dafs darunter der Rest des Opfers verstanden
werden solle, müfste doch aus dem Hymnus selbst erst er-
wiesen werden, der jedoch hierzu nicht die mindeste Handhabe
bietet. Vielmehr werden, neben allen andern Dingen, auch
alle möglichen Opfer mit ihren Teilen und Vorgängen aus
dem Ucchishta abgeleitet. Dafs überdies das Wort an den
einzigen Stellen, wo das Genus bestimmbar ist (v. 15. 16),
nicht Neutrum sondern Maskulinum ist, ist eine weitere
Gegeninstanz, wiewohl darauf kein grofses Gewicht zu legen
ist, da der Ucchishta hier als Vater des Weltalls nur vorüber-
gehend personifiziert sein könnte. Zwar kann man sich, zur
Stütze jener Ansicht, auf die S. 238 erwähnten Stellen des
Atharvaveda berufen, in denen, im Geiste der Brähmana-
Theologie, das Opfer oder einzelne Teile und Geräte desselben
über alles erhoben und als Princip der Dinge gepriesen werden.
Aber wenn dort der Opfernde sein heiliges Gras oder seine
Löffel in indischer Weise überschwenglich feiert, oder wenn
Atharvav. 11,3,21 von einem Reisbrei geredet wird, der so
heilig ist, dafs sogar aus seinem Reste (ucchishta))}) noch
sechsundachtzig Götter werden, so ist das etwas ganz andres,
als wenn hier ein Dichter in einem eigenen, längern Liede
zeigt, wie alle Dinge und mit ihnen das ganze Opferwesen
aus einem absichtlich ohne alle Bestimmung gelassenen Uc-
chishta entspringen. Und wie sollte dieser Ucchishta nicht
ohne Bestimmungen sein, da der Dichter gleich im ersten
Verse „Name und Gestalt", d. h. die ganze Welt der Formen
und Bestimmungen, im Ucchishta gegründet sein läfst. Ähnlich
daher, wie schon Rigv. 1,164,4 alles Knochenhafte (gestaltete
Sein) von einem Knochenlosen (Gestaltlosen) getragen wird
(oben S. 109), beruhen nach unserm Dichter alle Namen und
Formen der Welt auf dem ucchishta, d. h. dem was übrig
bleibt, wenn wir alle Formen der Erscheinungswelt in Abzug
bringen. Der Beoriff des ucchishta ist sonach in ähnlicher
Der Ucchishta-, Atharvav. 11,7. 307
Weise negativ und zugleich relativ, wie (oben S. 286) der
des Atman und diesem auf das nächste verwandt. Es ist
als wenn der Dichter, von der richtigen Erkenntnis durch-
drungen, dal's das Princip der Welt keiner seiner Erscheinungen
ähnlich sehen könne, nach einem treffenden Ausdrucke dieser
Erkenntnis ringt, ein Ringen, aus welchem bald darauf die
Bezeichnung des Princips als Atman hervorgehen sollte. Bei
der Bezeichnung ucchishta mag dann die Bedeutung „Opfer-
rest" insofern mitgewirkt haben, als z. B. nach Rigv. 10,90
die Welt aus einer Opferung des Purusha hervorgegangen
ist, wobei jedoch drei Viertel des Purusha nicht in die
Wesen eingehen, sondern unsterblich im Himmel bleiben
(Rigv. 10,90,3 — 4), somit allerdings als das tccchishtam, der
nicht geopferte „Rest" bei diesem grofsen Weltopfer ange-
sehen werden konnten. Doch enthält der Hymnus keine
Andeutung hierauf, sondern nur die Aufforderung, unsere
Aufmerksamkeit auf das zu richten, welches übrig bleibt,
wenn wir alle Welten, alle Wesen, alle Opfer u. s. w. hinweg-
denken. Zu dem, was wir als blofse Erscheinung und Schale zu
beseitigen haben, gehört nach v. 4 auch „das Brahman nebst
den zehn Weltschöpfern", worunter in diesem Zusammenhange
wohl nur das Brahman als höchstes schöpferisches Princip
(oben S. 259 fg.) verstanden werden kann, über welches
hinaus somit unser Dichter zu einer tiefern Fassung der
Sache drängt, ohne doch schon im Atman den treffendsten
Ausdruck dafür erreichen zu können. Wie nahe aber unser
Dichter demselben ist, geht besonders daraus hervor, dafs
mit allem andern aus dem ucchishta auch das Innere des
Menschen hergeleitet wird, welches kurz und rätselhaft dreimal
(v. 5. 12. 14) als „das in mir" (tan mäyi), einmal (v. 3) als
„der Glanz in mir" (cri'r mäyi) bezeichnet wird. Die
Wesensverwandtschaft des nach Abzug aller Namen und
Gestalten „Übrigen" mit „dem in mir" und die Un-
bestimmtheit, weil Unbestimmbarkeit, beider sind Gedanken,
durch die sich unser Hymnus als ein ziemlich unmittelbarer
Vorläufer der Atman-Liehve der Upanishad's bekundet. — Die
Übersetzung kann, bei so manchen rätselhaften Ausdrücken
(wie vra dra v. 3 u. s. w.) und bei der Notwendigkeit, viele
20*
308 V. Geschichte des Ätman.
specielle Termini des Rituals im engen Rahmen des Metrums
wiederzugeben, nur als ein Versuch gelten, von dem Inhalte
eine ungefähre Vorstellung zu geben.
1. Im Rest ist Name und Gestalt, im Rest die Welt enthalten ist,
Im Rest ist Indra, ist Agni, vom Rest umschlossen wird das All.
2. Im Rest sind Himmel und Erde nebst allem, was geworden ist;
Im Rest die Wasser und Meere, der Mond und Wind beschlossen
sind.
3. Beide, wer ist und wer nicht ist, im Rest, Tod, Kraft, Prajäpati,
Im Rest wurzeln aller Welten Häuf und Lauf, — auch der Glanz
in mir.
4. Wer fest, unfest, steht uud nicht steht, Brahman und die Welt-
schöpfer zehn,
Allwärts wie an der Radnabe am Rest stecken die Götter fest.
5. Ric, Saman, Yajus im Rest sind, Udgitha, Preisgesang und Preis,
Im Rest der Hin-Ruf und Ton sind, Gesangs Brausen, — und
das in mir.
6. Indra's und Agni's, Soma's Preis, Nennverse, Hochamtsliturgie,
Des Opfers Glieder im Rest sind, wie der Keim ist im Mutterleib.
7. Königsweihe und Krafttrinkung , Feuerpreisung und Opferfest,
Im Rest sind Preis und Rofsopfer, herzerfreuend auf grüner Streu.
8. Feueranlegung, Einweihung, Wahrwunschopfer und Zauberlied,
Aussetzende, fortlaufende Opfer im Rest enthalten sind.
9. Das Feueropfer, der Glaube, Gelübd', Askese, Vashat-Ruf,
Opferlohn, Werk und Vergeltung im Rest alle beschlossen sind.
10. Einnachtfeier, Zweinachtfeier, Gleichkauf-, Vorkauf-Fest, Uktha-
Gufs
Sind eingewebt dem Rest alle, Opferfeinheiten, wer sie kennt.
11. Viernachtopfer, Fünfnachtopfer, Sechsnachtopfer mitsamt den
zwein ,
Sechzehnpreis , Siebennachtopfer ,
Aus dem Rest all sind entstanden, in ihm befafst, dem ewigen.
12. Einfallender Gesang, Schlufsvers, Siegopfer, Allsiegopferung,
Tag- und Nacht-Opfer im Rest sind, Zwölftagsopfer, — und das
in mir.
Der UcchisJita, Atharvav. 11,7. 309
13. Frohsinn, Gewogenheit, Friede, Labung, Kraft, Macht, Unsterb-
liches
Zusammen all im Rest laufen, wo Liebe sich an Liebe labt.
14. Die neun Erden, die Weltmeere, auch die Himmel im Rest be-
ruhn ,'
Im Rest die Sonne strahlt niedei*, Tag' und Nächte, — und das
in mir.
15. Anrufungsfest und Mittelfest und Opfer, deren Dienst geheim,
Sie alle trägt des Alls Träger, der Rest, des Vaters Vater, er.
16. Ja, Vaters Vater ist der Rest, des Lebens kinderreicher Ahn,
Er thront als Herr des Alls kraftvoll, als höchster Gipfel dieser
Welt.
17. Recht, Wahrheit, Büfsertum, Herrschaft, Anstrengung, Pflicht-
erfüllung, Werk,
Im Rest Vergangenheit, Zukunft, Heldenmut, Schönheit, Kraft in
Kraft.
18. Absicht, Gedeihen, Kraftfülle, Macht, Reich, die sechs Welt-
richtungen ,
Des Jahres Kreis im Rest wurzelt, Gufs, Aufruf, Opfer-Speis' und
-Trank.
19. Vierpriesteropfer, Gunstopfer, Viermonatsopfer, Laderuf,
Im Rest sind Opfer und Opfrer, Tieropfer und wes Teil sie sind.
20. Halbmonate und Monate, Jahres Teile und Zeiten sind
Im Rest, die brausenden Wasser, Donner und Vedaworte grofs.
21. Sand und Kieselgeröll, Steine, Pflanzen, Sträuche und Gräser viel
Mitsamt Wolken, Blitz und Regen im Rest ruhend beruhen sie.
22. Glück und Gelingen, Durchhalten, Erreichen, Fülle und Gedeihn,
Vollendung, Wohlfahrt, all dieses enthält, erhält und hält der Rest.
23. Was immer mit dem Hauch atmet, was immer mit dem Auge
schaut ,
Aus dem Rest sind sie entstanden, alle Götter im Himmel hoch.
24. Die Ric's, die Säman's und Chandas', die Puräna's, die Yajus'
auch,
Aus dem Rest sind sie entstanden, alle Götter im Himmel hoch.
310 V- Geschichte des Atman.'
25. Einhauch, Aushauch, Ohr und Auge, was nicht vergeht und was
vergeht ,
Aus dem Rest sind sie entstanden, alle Götter im Himmel hoch,
26. Wonne, Freuden, Erfreuungen, und die sich fröhlich jauchzen zu,
Aus dem Rest sind sie entstanden, alle Götter im Himmel hoch.
27. Die Götter, Väter und Menschen, die Gandharven und Apsaras',
Aus dem Rest sind sie entstanden, alle Götter im Himmel hoch.
2) Der Skambha, Atharvav. 10,7 und 8.
Ahnlich wie der eben besprochene Ucchishta- Hymnus,
und nur in viel gröfserm Stile, streben die beiden Skambha-
Lieder nicht nur über den mit Geringschätzung behandelten
Volksglauben, sondern auch über die bisher üblichen philoso-
phischen Begriffe, Prajäpati, Purvsha und Brahman hinaus,
um nach demjenigen zu forschen, was ihnen, wie allen Göttern
und Welten, als letzter Grund dient und daher völlig unbe-
stimmt als der Skambha, d. h. „die Stütze" bezeichnet wird,
welche alle Dinge trägt und in ihnen zur Erscheinung kommt,
ohne doch in diesen ihren Erscheinungen aufzugehen. Charakte-
ristisch ist dabei die Unzufriedenheit mit allem Bisherigen und
das Suchen nach einer neuen, tiefern Fassung des Princips
der Dinge, ähnlich wie in dem Prajäpati-Liede, Rigv. 10,121,
welches wohl als Vorbild vorschwebte. Denn so wie dort
als Refrain immer wieder die Frage gestellt wurde: Jkasmai
devdya havishd vidhema? „wer ist der Gott, dafs wir ihm
opfernd dienen?", bis sich endlich im letzten Verse Prajäpati
als das lösende Wort einstellte, ebenso, und nur von einem
ungleich entwickeitern Standpunkte aus, wird hier im ersten
Hymnus sechzehnmal hintereinander die Frage nach dem
Wesen des Skambha aufgeworfen: Skambham tarn brfthi ka-
tamah svid eva sa! „verkünde diesen Skambha, wer er wohl
mag sein", bis dann, nach mancherlei zwischengeschobenen,
aber der Sache nicht fernstehenden Betrachtungen, am Schlüsse
des zweiten Hymnus als die endgültig befriedigende Lösung
sich das Wort Atman einstellt, und damit der Standpunkt der
UpanishacTs erreicht wird.
Der Skambha, Atharvav. 10,7—8. 311
Allerdings ist es mit der Komposition dieser beiden Lieder
eine eigene Sache. Zunächst ist jedenfalls die Trennung in
zwei Lieder zu je 44 Versen (die wohl nur, ähnlich wie die
Zerlegung von Rigv. 1,164 in die beiden Lieder Atharvav. 9,9
und 9,10, auf äufsern Gründen beruht) aufzuheben, da das
Thema des ersten Liedes in den beiden Anfangsversen des
zweiten sich fortsetzt; — von da an aber kommen freilich
weder das Wort Skambha noch die beiden Refrains des ersten
Liedes (skambliam tarn brühi katamah svid eva s«, v. 4. 5. 6.
7. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 18. 19. 20. 22. 39, und tasmai
jyeshthäya brahmane namah, v. 32. 33. 34. 36. 8,1) weiter vor
(statt dessen die Frage nach dem brähmcmam mahad 8,20. 33.
37. 38), der bisher leidlich strikte Zusammenhang lockert sich,
und der Hymnus verläuft des weitern in einer Reihe von
Versen und Versgrnppen, welche keine Kontinuität zeigen und,
ähnlich wie so viele Upanishadsprüche, deren Charakter sie
schon fast ganz annehmen, nur durch den einen grofsen Grund-
gedanken, um den sie kreisen, und den sie in mannigfacher Weise
beleuchten, zusammenhängen. Wir werden uns begnügen, diese
angehängten Sprüche (8,3—44) durch besondere Überschriften
zu kennzeichnen und wollen hier nur eine Charakteristik des
ersten Teiles dieses Liederkomplexes (7,1 — 8,2) unternehmen.
Den Volksglauben behandelt der Dichter dieses Stückes
sehr geringschätzig. Die dreiunddreifsig Götter sind, wie alles
andere, in Skambha enthalten (7,13), sind nur ein Glied von
ihm und aus dem Nichtseienden entstanden (7,25. 27); als
solche, als Glied des Skambha, sind die Götter nur dem Brah-
man wissenden, nicht aber dem Volke richtig bekannt (7,27).
Sie sind die Hüter des Skambha (7,23), den sie verehren
(7,24), dem sie Spende darbringen (7,39), zu dem sie sich
verhalten wie die Zweige zum Baume (7,38); nur gemeine
Menschen (avare) halten sie für das Reale und verehren als
das Höchste, was doch nur ein unwesentlicher Zweig (asac-
chdkhä) des Skambha ist (7,21); sie rufen bei der Frühspende
blofse Namen durch Namen eifrig an (ndma nämnd johaviti),
statt den Ewigen (aja) zu verehren (7,31; ebenso 8,41: „wie
kann der Ewige von denen geschaut werden, welche Opfer-
lieder auf Opferlieder ersinnen!"). Etwas unkonsequent ist
312 V- Geschichte des Ätman.
es, wenn daneben doch Skambha für die Anschauung als durch
Indra vertreten erscheint (7,29 — 30).
Wie gegen den Volksglauben, so macht unser Dichter
auch gegen die bisher herrschenden philosophischen Anschau-
ungen Opposition. 7,28: „die Leute halten Hiranyagarbha,
den Goldkeim (welcher Rigv. 10,121 mit Prajäpati identifiziert
wurde), für das Höchste, nicht mehr durch Reden Überbietbare;
aber dieses Gold hat der Skambha zu Anfang in die Welt
gegossen." Er ist daher 7,41 das goldne Rohr, welches in
der Mitte der Urwasser wuchs, er ist „der esoterische Prajä-
pati" (guhyah Prajäpatih) selbst. In ihm sind folgerecht die
drei Lichter, die in Prajäpati sind, 7,40 (nämlich Agni, Vayu
und Surya, vgl. Väj. Samh. 8,36, oben S. 191). In Skambha
(als Urprincip) stützt Prajäpati die Welten, 7,7; und Skambha
(als Erstgeborner) geht in die von Prajäpati geschaffenen
Welten mit einem Teile von sich ein, 7,8. Prajäpati, als von
Skambha verschieden, ist hier nur mythologischer Zierat
(ähnlich wie Rigv. 10,90 die Götter, die den Purusha opfern,
aus dessen Gliedern sie doch selbst entstehen); in Wahrheit
ist der Skambha eben Prajäpati. Und ebenso ist er der
Purusha. Denn Skambha ist es, „in welchem als dem Purusha"
(yatra purushe adhi) Tod und Unsterblichkeit enthalten sind,
und als dessen Adern der Ocean sich in dem Purusha befindet,
7,15. — Der Skambha ist ferner das höchste Brahman, wie
der Refrain 7,32. 33. 34. 36. 8,1 fünfmal versichert: tasmai
jyeshthäya brahmane namah, welches nicht heilst: „reverence be
to that greatest Brahma" (Muir), oder „diesem höchsten Brahma
sei Verehrung" (Ludwig), denn brahman ist Neutrum, tasmai
aber nimmt ein vorhergehendes Maskulinum wieder auf, — son-
dern: „ihm als dem höchsten Brahman sei Verehrung".
Also Skambha ist Prajäpati, ist Purusha, ist Brahman, wie dies
ausdrücklich 7,17 zusammenfassend bestätigt wird: „wer in dem
Purusha (nicht dem Menschen, sondern dem Weltpurusha, da
vorher der Ocean seine Adern sind) das Brahman weifs, der
weifs Parameshthin; wer aber Parameshthin weifs und wer
Prajäpati weifs, der weifs die höchste Brahmankraft (bräli-
manam = brahman, wie auch 8,20. 33. 37. 38), der weifs in ihnen
und mit ihnen (anusamviduh) den Skambha.
Der Skambha, Atharvav. 10,7—8. 313
Dieser Skambha, in welchem Prajapati, Purusha, Brah-
man zusammenfallen, ist folgerecht das höchste Princip
(der Ungeborne, über welchen hinaus es nichts Höheres giebt,
7,31, welcher nur mit einem Teile von sich in alle Wesen
eingeht, 7,8. 8,7, wodurch die Fülle seines Wesens nicht ge-
mindert wird, 8,29) und wiederum der Erstgeborne der
Schöpfung (der Hiranyagarbha, 7,28.41, der in sein eigenes
Reich eingeht, 7,31; der, aus crama und tapas geboren, alle
Welten durchdringt 7,36; der im tapas sich auf den Rücken
des Urwassers schwang, 7,38). Er enthält in sich als Glieder
(wie in ermüdenden Wiederholungen versichert wird) alle
Räume und Zeiten, alle Welten und Weltwesen, alle
Götter, Veden und moralischen Kräfte. Alles dies be-
ruht auf ihm, ist in ihm als Glied enthalten, wird durch ihn
getragen oder strebt ihm zu. So namentlich: die AVeiten und
Behälter, Urwasser, Brahman, Seiendes und Nichtseiendes 7,10;
Tod und Unsterblichkeit 7,15; der Ocean als Adern 7,15; die
vier Himmelsgegenden als Hauptadern 7,16; Vergangenheit
und Zukunft 7,9. 22; 8,1; Jahre, Jahreszeiten, Monate, Halb-
monate, Tage und Nächte 7,5, die er in ihrem Wechsel als
Puman (Purusha) lenkt 7,42 — 44; ferner Erde, Luftraum,
Himmel und was jenseits des Himmels ist, 7,3; 8,2; 7,35. 32;
auch die Vorwelt ist nur ein Glied von ihm 7,26. Von
Göttern, die in ihm enthalten sind, werden genannt: Agni,
Mätaricvan, Canclramas 7,2; Agni, Matarigvan 7,4; Agni, Can-
dramas, Sürya, Väta 7,12; Sürya, Canclramas, Agni 7,33; Väta,
Z%as7,34; Vaigvänara, Afigiras'' , Yätii's, Viräj 7,18 — 19; Aditya's,
Rudra\ Vasu's, 7,22. In ihm sind ferner: ris/ifs, ric, säman,
yajus, ekarshi 7,14; ric, yajus, säman, atharvangiras 7,20; sowie
auch: tapas, ritam, vratam, craddhä -7,1; tapas, vratam, ritam,
craddhä, äpas, brahma 7,11.
Durch alles dies ist die Stellung des Skambha klar ge-
kennzeichnet. Als Urprincip, als Erstgeborner, als Träger,
Umfasser, Erhalter der Dinge, die ihm alle zustreben (7,4 — 6),
als der über Finsternis und Übel Erhabene (7,40) tritt er an
die Stelle der frühern Begriffe Prajapati, Purusha, Brahman.
Der Dichter verwirft diese nicht, ringt aber nach einer tiefem
Fassung dessen, was sich in ihnen ausspricht, und darum fragt
314 V. Geschichte des Atman.
er immer wieder nach dem Skambha, „der Stütze", d. h. dem
Stützer, der alle Räume, Welten und Wesen trage, in dem
alles selbsthaft (ätmanvat) sei 8,2, welcher als ein seltsam
Wunderding in dem Herzen selbsthaft (ätmanvat) sei 8,43, —
bis endlich nach so mannigfachen durch die WTolke durch-
schimmernden Lichteffekten im Schlufsverse mit dem Worte
Atman die Sonne durchbricht und eine Fassung des Urwesens
gewonnen wurde, über welche nicht mehr, wie über alle jene
andern, hinausgegangen werden konnte.
Wir übersetzen die beiden Hymnen, bemerken aber, dafs
namentlich der letztere viele Rätselspiele enthält, deren Deutung
hier, wo sie unseres Wissens zum erstenmal versucht wird,
vielfach eine mehr oder weniger problematische ist.
Atharvaveda 10,7. Skambha.
Skambha und seine Glieder.
1. In welchem Glied von ihm thront die Kasteiung,
In welchem Gliede ist das Recht gegründet,
Wo weilt in ihm Gelübde , wo der Glaube ,
In welchem Gliede von ihm wohnt die Wahrheit?
2. Aus welchem seiner Glieder strahlt das Feuer,
Von welchem Glied her läutert Mätarigvan (der Wind),
Aus welchem Gliede mifst der Mond die Zeiten,
Wenn wacker er den Leib des Skambha ausmifst?
3. In welchem seiner Glieder steht die Erde ,
In welchem seiner Glieder steht der Luftraum,
In welchem Gliede steht gestützt der Himmel,
In welchem Gliede, was vom Himmel jenseits?
Skambha als Ziel.
4. Zu wem hinstrebend flammt empor das Feuer,
Zu wem hinstrebend läutert Mätarigvan?
Ihn, zu dem strebend ihre Wege gehen, —
Verkünde diesen Skambha, wer er wohl mag sein!
5. Zu wem geh'n Monate und Monatshälften,
Zu wem mit ihnen geht der Lauf des Jahres?
Er, zu dem Jahres Teil' und Zeiten wandeln, —
Verkünde diesen Skambha, wer er wohl mag sein!
Der Skambha, Atharvav. 10,7. 315
6. Zu wem hinstrebend wandeln zwiegestaltig
Als Jungfrau'n Tag und Xacht in holder Eintracht?
Er, zu dem hin auch die Gewässer eilen, —
Verkünde diesen Skambha, wer er wohl mag sein!
Skambha und die Welt.
7. Er, in welchem der Welt Ganzes stützend hegte Prajäpati, —
Verkünde diesen Skambha, wer er wohl mag sein!
8. Als Höchstes , Tiefstes und was in der Mitte
Prajäpati geschaffen allgestaltig,
Mit welchem Teil ging Skambha in die Welt ein?
Und was von ihm nicht einging, was war das wohl?
9. Mit welchem Teil erfüllte er Vergangnes,
Mit welchem Teil reckt er sich in die Zukunft, —
Als er den einen Leib gestaltet tausendfach ,
Mit welchem Teil ging er da in die Welt ein?
10. In dem Welten und Welträume, Wasser und Brahman jeder weifs,
In dem, was ist und was nicht ist, —
Verkünde diesen Skambha, wer er wohl mag sein!
11. In dem Kasteiung fortschreitend hoch und höher Gelübde hält,
In dem beschlossen Recht, Glaube, die Wasser und das Brahman
sind, —
Verkünde diesen Skambha, wer er wohl mag sein!
12. In welchem Erde und Luftraum samt dem Himmel gegründet sind,
In dem Feuer, Mond und Sonne und der Wind eingebettet sind, —
Verkünde diesen Skambha, wer er wohl mag sein!
13. Von dem ein Glied alle dreiunddreifsig Götter enthält in sich, —
Verkünde diesen Skambha, wer er wohl mag sein!
14. In dem Rishi's, erstgeborne, Ric, Säman, Yajus und die Welt,
Und der eine Rishi einwohnt, —
Verkünde diesen Skambha, wer er wohl mag sein!
Skambha und frühere Principien.
15. In dem, als in dem Purusha, wohnen Unsterblichkeit und Tod,
In dem, als in dem Purusha, die Adern sind der Ocean, —
Verkünde diesen Skambha, wer er wohl mag sein!
316 V. Geschichte des Ätmcoi.
16. In welchem die vier Weltpole als Hauptadern enthalten sind.
In dem das Opfer wirkt machtvoll , —
Verkünde diesen Skambha, wer er wohl mag sein!
1 7. Wer im Purusha kennt Brahman, ja der kennt Parameshthin auch,
Wer aber kennt Parameshthin, und wer kennt den Prajapati,
Und kennt die höchste Brahmankraft, der kennt mit ihnen Skam-
bha auch.
18. Er, dessen Haupt Vaicvänara, dessen Auge die Angiras",
Des Glieder selbst die Kobolde, —
Verkünde diesen Skambha, wer er wohl mag sein!
19. Dessen Mund die Brahmanenschaft, Zunge die Süfstrankpeitsche
heilst,
Als des Euter die Viräj gilt,
Verkünde diesen Skambha, wer er wohl mag sein!
20. Von dem Ric's sie abhobelten, von dem Yajus' sie schabten ab,
Dessen Haare Säman-Lieder, des Mund Atharva-Lieder sind, —
Verkünde diesen Skambha, wer er wohl mag sein!
Skambha und die Götter.
21. Ein nichtrealer Zweig vorragt, der als Höchstes den Leuten gilt,
Ihn als real wähnt der Pöbel, wenn er den Zweig an dir verehrt.
22. In dem Aditya's und Rudra's und die Vasu's beschlossen sind,
In dem Vergangenheit, Zukunft und die Welten gegründet sind,
Verkünde diesen Skambha, wer er wohl mag sein!
23. Dessen Schatz alle die dreiuncldreifsig Götter behüten stets,
Wer kennt wohl diesen Schatz heute, dessenHüter ihr Götter seid?
24. Wo, ihr Götter, [besser: devä', wo Götter als] Brahmankenner
dem höchsten Brahman ehrend nah'n ,
Wer diese kennt von Angesicht, der Priester ist ein Wissender.
25. Grofs sind freilich auch die Götter, die dem Nichtseienden ent-
stammt ,
Doch sind sie nur ein Glied Skambha's; — was jenseits, ist dem
Pöbel nichts.
26. Und wenn in Zeugungskraft Skambha die Vorwelt liefs ent-
wickeln sich,
So stellt nur als ein Glied Skambha's die ganze Vorwelt sich
heraus.
Der Skambha, Atharvav. 10,7. 317
27. Ein Glied von ihm teilten dreiunddreifsig Götter als Leiber sich,
So freilich kennt nur die dreiunddreifsig Götter, wer Brahman
kennt.
28. Der „goldne Keim" sei als Höchstes unübersagbar, meint das Volk;
Nun, Skambha hat dies Gold anfangs gegossen in die Welt hinein.
29. Auf Skambha sind gestützt Welten, auf ihn Kasteiung und das
Recht ,
Und dich, o Skambha, sichtbarlich in Indra weifs verkörpert ich.
30. Auf Indra sind gestützt Welten, auf ihn Kasteiung und das Recht,
Und dich, o Indra, sichtbarlich in Skambha weifs verkörpert ich.
31. Mit Namen eifrig ruft Namen vor Sonne man und Morgenrot, —
Doch als der Ewige ward zuerst geboren,
Ist eingegangen er in dies, sein Weltreich,
Er über den nichts Höheres ist vorhanden.
Skambha und Brahman.
32. Dem die Erde als Grundmafse, dem der Luftraum als Körper dient,
Der den Himmel zum Haupt schuf sich, —
Ihm als dem höchsten Brahman Ehre sei!
33. Dessen Augen sind die Sonne und der stets wieder neue Mond,
Dessen Rachen das Feuer ist , —
Ihm als dem höchsten Brahman Ehre sei!
34. Dem der Wind Einhauch und Aushauch, dem die Angiras' Auge
Der den Weltpolen gab Weisheit, — [sind,
Ihm als dem höchsten Brahman Ehre sei!
35. Der Skambha trägt Himmel und Erde, beide,
Der Skambha ist des weiten Luftraums Träger,
Der Skambha der sechs weiten Himmelspole ,
In Skambha ist die ganze Welt enthalten.
36. Der, aus Abmühung, Kasteiung geboren, diese Welt durchdrang,
Der den Soma erschuf eigens , —
Ihm als dem höchsten Brahman Ehre sei!
Skambha, Welt und Götter.
37. Wie kommt's, dafs nie der Wind ausruht, wie kommt's, dafs
niemals ruht der Geist?
Wie, dafs die Wasser, nach Wahrheit strebend, nimmer zur Ruhe
e'eh'n?
318 V. Geschichte des Atman.
38. Ein grofses Wunderding in "Welten Mitte
Kasteiend schwang sich auf der Wasser Rücken ,
Auf ihm beruh'n die Götter samt und sonders,
Wie auf dem Stamm des Baumes rings die Zweige.
39. Ihn, dem mit Händen und Füfsen, mit der Rede, mit Aug' und Ohr
Die Götter Spende stets bringen im engen Raum unendliche, —
Verkünde diesen Skambha, wer er wohl mag sein!
40. Ihm naht die Finsternis nimmer, frei ist von allem Übel er,
In ihm glänzen die drei Lichter, die da sind in Prajäpati.
Erläuterung zu Vers 28 (vgl. Rigv. 4,58,5).
41. Das goldne Rohr, wer das erkennt,
Wie es im Wasser wächst, das ist
Der heimliche Prajäpati.
Erläuterung zu Vers 6 (vgl. Rigv. 10,130,2).
42. Zwei Jungfrau'n, zwiegestaltig , weben einzeln
Umschichtig am Gespannten durch sechs Pflöcke (v. 35) :
Die übergiebt die Fäden, und die nimmt sie,
Nicht brechend sie, nicht spinnend sie zu Ende.
43. Wenn diese beiden so herum sich schwingen,
So weifs ich nicht, welche nachfolgt der andern,
Ein Mann mufs sein, der dies dort webt und schürzte,
Ein Mann, der es am Himmel ausgebreitet.
44. Dies sind die Pflöcke, die den Himmel stützen dort,
Und Säma- Lieder sind die Weberschiff lein.
Atharvaveda 10,8. Skambha und anderes.
Fortsetzung über Skambha.
1. Der dem Vergangnen und Künft'gen und allem vorsteht, was da ist,
Dessen Wesen lauter Licht ist, —
Ihm als dem höchsten Brahman Ehre sei!
2. Durch den Skambha gestützt stehen beide, Himmel und Erde, fest,
In ihm ist alles dies selbsthaft (ätmanvat) was atmet und die
Ausren schliefst.
Der Skambha, Atharvav. 10,8. 319
Vergängliches und Ewiges (vgl. Rigv. 8,101,14).
3. Drei Weltgeschlechter zogen schon vorüber,
Und andre scharten nen sich um die Sonne,
Doch er bestand, den Luftraum grofs durchmessend,
Als goldner ging er ein in goldne Kräuter.
Jahre, Monate, Tage (vgl. Rigv. 1,164,48, oben S. 119).
4. Zwölf Felgen sind an einem Rad befestigt,
Drei Naben auch, wer weifs das zu verstehen?
Auf ihm befestigt sind dreihundert Zapfen
Und sechzig, eingekeilt, dafs sie nicht wanken.
Der Schaltrnonat.
5. Das versteh', weiser Savitar: sechs Zwillingspaar', ein Einzelner;
Mit dem wünschen die zwölf Freundschaft, der neben ihnen einzeln
steht.
Das Unendliche.
6. Offen ist's, und geheim bleibt es, „Uralt" heilst es, ein grofses Land,
In ihm steht dieses Weltganze, was lebt und webt, gegründet fest.
Welt und Weltprincip (vgl. Atharvav. 11,4,22, obenS.304).
7. Acht Räder wälzen sich in einem Umkreis,
Auf östlich, unter westlich, tausendfältig; —
Mit einer Hälfte zeugte er das Weltall,
Doch wo befindet sich die andre Hälfte? —
Der Sternenhimmel.
8. Ein Fünfgespann1 fährt an des Ganzen Spitze,
Geschirrte Seitenrosse 2 helfen ziehen;
Dafs es stillstände, ist nie dagewesen,
Hohes ist näher hier und Tiefes fexmer3.
1. Vielleicht die fünf Planeten, wie Rigv. I,lß4,12—13 (oben, S. 111). —
2. Etwa: Sonne und Mond. — 3. Gewöhnlich ist das Obere weiter als
das Untere; hier, bei dem unter der Erde durchgehenden Sternenhimmel, ist
es umgekehrt.
320 V. Geschichte des Atnian.
Der Kopf.
9. Die Öffnung seitwärts und den Boden oben,
Ist eine Schale , aller Herrlichkeit voll ,
Und sieben Bishi's l sitzen ihr verbunden,
Dieselben, die des grofsen Weltalls Hüter.
1. Augen, Ohren, Nasenlöcher und Mund (vgl. Brih. Up. 2,2,3), denen in
kosmischem Gebiete Sonne, Mond, Himmelsgegenden, Wind und Feuer ent-
sprechen (vgl. Ait. Up. 1,1,4). Das Ganze könnte vielleicht auch auf das
Himmelsgewölbe gedeutet werden.
Ein mystischer Vers.
10. Der Vers1, der vorher wird verwandt und nachher,
Der überall und allerwärts verwandt wird,
Durch den das Opfer voran wird gewoben, —
Das frag' ich dich, welcher wohl dieser Vers ist?
1. Wie alle Götter auf eine Einheit, so gehen auch alle beim Opfer ge-
brauchten Verse auf einen Urvers zurück, in dem sie alle enthalten sind.
Ob darunter ein imaginärer oder wirklicher Vers zu verstehen, und welcher
im letztern Falle, wüfsten wir nicht zu sagen. (Vgl. Atharvav. 9,10,19.)
Die coincidentia oppositorum (vgl. Icä-Up. 5).
11. Was regsam ist, was fliegt und dennoch stillsteht,
Was atmet und nicht atmet, was die Augen schliefst,
Das trägt die ganze Erde allgestaltig,
Und das, zusammengehend, wird zur Einheit.
Unendliches und Endliches (etwa: Himmel und Erde).
12. Das Endlose ist vielfach ausgebreitet,
Endlos und Endlich grenzen aneinander;
Des Himmels Hüter wandelt beide scheidend,
Er kennt, was dagewesen und was sein wird.
Die Zeugungskraft der Natur (vgl. Väj. Samh. 31,19,
oben S. 291 und Atharvav. 11,4,20, oben S. 304).
13. Prajäpati wandelt im Mutterleibe,
Der Unsichtbare vielfach wird geboren;
Mit einer Hälfte zeugte er das Weltall,
Kein Schimmer ist von seiner andern Hälfte.
Der Skambha, Atharvav. 10,8. 321
Die Verdunstung des Wassers durch die Sonne
(vgl. Rigv. 1,164,7, oben S. 110).
14. Ihn, der das Wasser trägt aufwärts wie Wassertragende im Krug,
Mit ihren Augen seh'n alle, doch nicht alle im Geist versteh'n.
Das höchste Wesen.
15. Fern dort verweilt es in Fülle, fern dort, von allem Mangel frei,
Das grofse Wunderding in Welten Mitte ,
Ihm bringen dar auch Könige die Spende.
16. Woher der Sonne Aufgang ist, worein sie wieder untergeht,
Das, meine ich, ist das Höchste, das überragt kein Wesen je.
Der dreifache Vogel (Sonne, Wind, Feuer).
17. Die jetzt und vordem und in alten Zeiten
Um's weise Vedawort in Reden kreisen,
Sie alle kreisen redend um die Sonne
Und um den zweiten Agni *, den dreifachen Vogel.
1. agni scheint interpoliert zu sein.
18. Er spannt die Flügel tausend Tagesweiten,
Wenn er als goldner Vogel fliegt am Himmel ,
An seinem Busen hält er alle Götter;
So wandert er, die Wesen überschauend (== Atharvav. 13,3,14
oben S. 228).
19. Durch Wahrheit glüht er dort oben, schaut aus durch das Gebet
von hier (als Opferfeuer);
Durch Odem atmet quer durch er, auf den das Höchste ist gestellt.
20. Wer da kennt die zwei Reibhölzer, durch die das Gut uns wird
gequirlt ,
Der dünke sich Höchstes wissend, er weifs die grofse Brahman-
kraft i.
1. Das mahad brähmanam , d. h. Brahman, ist die Quelle alles Feiirigen,
Lebendigen im Universum, ist gleichsam die Reibhölzer, aus denen das Feuer
der Sonne u. s. w. stammt.
Die Sonne und die Jahreszeiten.
21. Er entstand anfangs einfüfsig, er brachte anfangs her das Licht,
Vierfüfsig als Genufsspender nahm er allen Genufs in sich.
Deussen, Geschichte der Philosophie. I. 21
322 V. Geschichte des Atman.
22. Der wird teilhaft . . ., dem wird zu teil der Nahrung viel,
Der diesem Gott, dem hochhehren, Verehrung zollt, dem ewigen.
23- Der ewige, ja, so heilst er, und doch heut' immer wieder neu,
Tag und Nacht forterzeugt werden immer eins aus dem anderen.
24. Sein Gut ist hundert, tausend, zehnmal tausend,
Tausendmal hunderttausend, ist unzählig;
Und das vertilgen sie vor seinen Augen !
Und daran hat der Gott nur seine Freude !
Gott, unendlich klein und unendlich grofs.
25. Das eine, als ein Haar feiner, unsichtbar fein das eine ist,
Und doch umfassender als dies Weltall, — der Gott ist teuer mir!
Ein Rätsel wort.
26. Diese Schöne, die nicht altert, unsterblich in des Menschen Haus, —
Müfsig Hegt, wem sie erzeugt ward, wer sie zeugte, der altert hin1.
1. Vielleicht ursprünglich die Flamme des Opferfeuers, bei der der Yaja-
mäna müfsig ist, während der Priester sich abmüht. — Hier könnte es, nach
dem Zusammenhang, auch die vom alternden Vater erzeugte, unsterbliche
Seele des dabei müfsigen Kindes sein.
Das Göttliche im Menschen.
27. Du bist das Weib, du bist der Mann,
Das Mädchen und der Knabe ,
Du wh'st, geboren, allerwärts,
Du wankst als Greis am Stabe.
28. Du bist der Leute Vater und ihr Sohn auch,
Der älteste von allen und der jüngste.
Der eine Gott, den ich im Geiste trage,
Ist Erstgeborner und im Mutterleibe.
Die Unerschöpflichkeit Gottes (vgl. Brih. Up. 5,1,1).
29. Aus Fülle giefst er aus Fülle, Fülle fliefst aus der Fülle ab ;
Das möchten heute wir wissen, woraus dies ausgegossen wird !
30. Die ewige, vor ew'ger Zeit geborne,
Die grofse Gottheit, uralt, allumfassend ,
Sie strahlt herab aus jeder Morgenröte
Und schaut aus allem, was da blickt mit Augen.
Der SkambJia, Atharvav. 10,8. 323
31. „Die Labende" heifst die Göttin, die umkleidet vom Rechte thront,
Wenn sie erscheint, in Laubkränzen ergrünen diese Bäume hier.
32. Er ist zu nah, zii entweichen; er ist zu. nah, zu zeigen sich.
0, seht die Kunst dieses Gottes, er stirbt nicht, und er altert nicht.
33. Von ihm erregt, dem Urersten, strömt nach Mafs heil'ger Rede
Laut ,
Wo sie hinwandert ausströmend, das heilst die grofse Brahmankraft.
Des Wassers Blume (Hiranyagarbha) und Führer.
34. Woran die Götter und Menschen wie Speichen an der Nabe steh'n,
Nach des Wassers Blume frag' ich, wo sie in Zauberkunst versteckt.
35. Durch die der Wind dahinbraust angetrieben,
Die die fünf Weltpole zusammenhalten,
Die Götter, die gering die Spende achten,
Des Wassers Anführer, wer waren diese? —
36. In diese Erde kleidet sich der eine (Agni),
Der andre kreiset um den weiten Luftraum (Väyu) ,
Als Träger lädt sich einer auf den Himmel (Süri/a),
Noch andere behüten alle Räume (Digas).
Gott als Innerstes der Dinge (vgl. Brih. Up. 3,7,1).
37. Wer den Faden ausgespannt weifs, dem die Wesen sind angewebt,
Ja, wer kennt des Fadens Faden, der weifs die grofse Brahman-
kraft.
38. Ich weifs ausgespannt den Faden, dem die Wesen sind angewebt,
Ja, ich weifs des Fadens Faden, ich weifs die grofse Brahmankraft.
Priorität des Sonnenfeuers vor den Göttern.
39. Als einstmals brennend zwischen Erd' und Himmel
Agni, versengend alles, hingewandelt,
Als fernab standen noch die treuen Frauen (die Wasser?),
Wo war da Mätaricvan, ihn zu bringen? —
40. Ins Wasser war gegangen Mätarigvan,
In dem Gewoge alle Götter steckten, —
Nur er stand grofs da und durchmafs den Luftraum,
Und er ging in die Kräuter ein als Soma.
21*
324 V. Geschichte des Atman.
Unzulänglichkeit der Hymnensänger.
41. Noch höher als die Gäyatri schritt er aus im Unsterblichen;
Wer Lied auf Lieder nur ersinnt , wie kann der schau'n den
Ewigen '?
Er vereinigt die Eigenschaften der Götter
(nach Rigv. 10,139,3).
42. Der alle Güter birgt und in sich aufhäuft,
Er, wie Gott Savitar, wahrhafter Satzung,
Als Indra steht er da im Schlachtgetümmel.
Gott im Herzen.
43. Die Lotosblume, neunthorig und in drei Schichten wohlverwahrt,
Welch Wunderding in der selbsthaft (ätmanvat), das weifs nur,
wer das Brahman kennt.
Und er ist der Atman!
44. Begierdelos, treu, ewig, durch sich selbst nur,
Genufsdurchsättigt , keinem unterlegen ,
Wer diesen kennt, der fürchtet nicht den Tod mehr,
Den weisen, alterlosen, jungen Atman.
5. Der Atman«
Es ist verdriefslich , dafs die Etymologie des Wortes
atman nicht mit Sicherheit festzustellen und dadurch in der
Entwicklungsgeschichte dieses wichtigsten Begriffes der indi-
schen Philosophie keine volle Klarheit zu gewinnen ist. Stammt,
wie wir oben, S. 285, als möglich hinstellten, das Wort von
Pronominalwurzeln, so würde die ursprüngliche Bedeutung
„das eigene Ich, das Selbst" sein, und diese würde sich,
je nach einer mehr materiellen oder ideellen Anschauung, einer-
seits zu den Begriffen „die eigene Person, der Leib, der
Rumpf", anderseits zu „Lebenshauch, Seele, Wesen"
weiter entwickelt haben. Geht hingegen atman zurück auf
eine Wurzel, welche „atmen, wehen" bedeutet, so würde
die ursprüngliche Bedeutung „Hauch, Lebenshauch" sein,
die zweite „das Selbst", und aus dieser müfsten sich dann
nach zwei S eiten hin einerseits „Person, Leib, Rumpf",
Bedeutungen von ätman. 325
anderseits „Seele, Wesen" entwickelt haben. Dieser letztern
Auffassung steht, wie bereits bemerkt (S. 285), nicht nur das
neben ätman im Rigveda bestehende, stets pronominale tman
entgegen, sondern auch die Schwierigkeit, den Begriff„Selbst",
wenn er nicht der ursprüngliche, sondern erst sekundär aus
Lebenshauch gewonnen war und somit die Materialität schon
abgestreift hatte, wieder in die grobmateriellen Vorstellungen
von Person, Leib und gar Rumpf verlaufen zu lassen. In-
dessen ist anzuerkennen, dafs ätman im Rigveda überwiegend
„den Lebens hauch" und an vier Stellen sogar „den Wind
als Hauch" bezeichnet, welches aus „Selbst, Lebenshauch",
sekundär abzuleiten wiederum sehr schwierig ist. Wir wollen
daher, indem wir unsere obige Hypothese (S. 285) dem Wohl-
wollen der Etymologen empfohlen sein lassen, im übrigen
doch für jetzt bei dem Hergebrachten stehen bleiben und,
wenn auch nicht ohne Bedenken, die übliche Entwicklungsreihe:
I. Hauch
IL Lebenshauch
III. Lebenshauch, Seele, Selbst
IVa. Selbst, Person, Leib IVb. Selbst,Wesen, sowohl andrer Dinge
als auch der eigenen Person
Va. Rumpf ~Vb. Wesen der Welt, Princip der Dinge
zu Grunde legen, um sie durch eine Beispielsammlung aus
den vedischen Schriften zu belegen, welche für die Samhitä
des Rig- und Atharva- Veda alle Stellen beibringen soll, in
denen das Wort überhaupt vorkommt.
I. ätman „der Hauch".
Rigv. 7,87,2: (Vartoia!) ätmä te väto rajct ä navinot. —
10,168,4: (VätaJt) ätmä devänäm. — 1,34,7: ätmä iva vätah. —
10,92,13: ätmänam, vasyo abhi, vätam arcata (den Wind, der
euer Lebenshauch ist).
IL ätman „der Lebenshauch".
Rigv. 10,16,3: svryam cahshur gacchatu, vätam ätmä (des
Toten). — 1,162,20: mä tvä tapat priya1 ätmä apiyantam (dich,
Opferrofs). — 10,97,4. 8: ätmänam tava pvrusha (dein Leben). —
326 V- Geschichte des Ätman.
10,121,2: (Prajapati ist) ätmadä, baladd. — 1,73,2: (Agni)
ätmä iva gevo didhishäyyo bhüt. — Auch übertragen: 9,85,3:
(du, Soma) ätmd Indrasya bhavasi. — 8,3,24: ätmd pitus (der
Trank ist mir Lebenshauch). — 10,107,7: dakshinä — yo nci
ätmd.
Atharvav. 19,27,8: pränena ätmanvatdm jiva! — 5,5,7: (o
Arundhati), väto ha ätmd babhüva te (dein Lebenshauch). —
7,111,1: ätmd devänäm uta mänushänäm (asi). — 9,4,10: (o
Stier) Tvashtur, Väyoh pari ätmä te äbhritah. — 16,3,5: Bri-
haspatir me ätmd.
Väj. Samh. 19,48: ätmasani, prajäsani, pagusani.
III. ätman „Lebenshauch, Seele, Selbst".
Rigv. 10,33,9: na devänäm ati vratam gatdtmä cana jtvati. —
1,149,3: Agni ist catätmä (hundert Leben schenkend). — 9,98,4:
rayim gatätmänam. — Der Soma ist 9,2,10. 9,6,8: ätmd yajna-
sya (die Seele, des Opfers). — 7,101,6: tasmin (Parja?iye) ätmd
jagatas tastlmshac ca. — 1,115,1 : süryo ätmd jagatas tasthushag
ca. — 1,164,4: bhümya' asur, asrig , ätmä kva svidf — 1,116,3:
naubhir ätmanvatibhir (mit Schiffen, die, wunderbarerweise,
beseelt waren). — 1,182,5: yuvam (o Acvin's) etam ca/crathuh
sindhusliu plavam ätmanvantam. — 9,74,4: ätmanvad nabho
(wohl die Kuh als beseelte Wolke).
Atharvav. 4,10,7: tad (kriganam^ Perlmutter) ätmanvac
(beseelt) carati apsu antali. — 14,2,14: ätmanvati urvarä ndrl
iyam (das Weib ist ein beseeltes Ackerland). — 4,25,1: yau
ätmanvad vigathah (die ihr in alles Beseelte eingeht). — Seele
im Gegensatz zum Leibe: 1,18,3: yat te ätmani, tanvdm gho-
ram asti. — 5,6,11 — 14: sarvätmä, sarvatanüh. — 16,1,3: ätma-
düshis, tanüdüshis (seeleverderbend, leibverderbend).
Taitt. Samh. 1,1,10,2: sam ätmä tanuvä mama. — Taitt.
Samh. 2,3,11,1: ätmd (neben gariram, raso, väg~). — Qatap. Br.
14,3,2,5: Agnir vai sarveshäm devänäm ätmä, etc.
IV a. ätman „das Selbst, die eigene Person, der eigene
Leib".
Rigv. 9,113,1: (Indra durch den Soma) balam dadhänci
ätmani. — 1,163,6: ätmänam te (dein eigenes Selbst, o Rofs,
Bedeutungen von ätman. 327
im Gegensatz zu Striegel, Huftritten, Zügel) manasä äräd
ajänäm. — 10,163,5. 6: yakshmam sarvasmäd ätmanas tarn idam
vi vrihämi te (aus deinem ganzen Leibe).
Atharvav.: „Das Selbst, die eigene Person" (oft
zum pronomen reflexivum verblafst): 9,5,30: ätmänam (mich
selbst), pitaram, putram. — 5,29,6 — 9: ätmanä, prajayä. —
8,2,8: ätmanä (an seiner Person) bhujam agnutäm. — 9,5,31 — 36:
bhavati ätmanä. — 19,33,5: ätmanä mä vyathishthäs (Gegensatz:
anyän). — 12,2,34: priyam pitribhycC , ätmane, brahmäbhyah
krinuta. — 7,57,1 : yad ätmani tanvo me virishtam (was an mir
von meinem Leibe verrenkt ist). — 11,5,15: sväd adhi ätma-
nah. — 12,3,54: yathä vida1 ätman anyavarnäm (tanvam). —
19,48,5: te na'' ätmasu jägrati, te nah pacushu jägrati. — Blofses
pronomen reflexivum 5,9,7: sa ätmänam ni dadhe. — 16,7,5:
yo asmän dveshti, tarn ätmä dveshtu, yam vayam dvishmah, sa
ätmänam dveshtu. — 4,20,5: mä ätmänam apagühathäs. —
6,16,2: yas tvam ätmänam ävayah. — 8,6,13: ye ätmänam ati-
mätram ahsa? ädhäya bibhrati (ihr eigenes Selbst). — 12,4,30:
ävir ätmänam krinute. — 19,17,1 — 10: tasmai ätmänam pari-
dade. — 4,18,6. 12,1,10: ätmane. — 15,10,2: creyänsam ätmano. —
7,53,3: ätmani (an dir). — 9,1,11 — 13. 16: ätmani (an mir). —
9,6,21: ätman juhoti. — 11,5,22: ätmasu. — ■ 5,9,8: ätmasadau
(in mir wohnend, präna und väc). — 5,18,2: ätmaparäjita,
durch sich selbst besiegt. — Mehr und mehr deutlich nimmt
dann ätman die Bedeutung des eigenen Leibes an, so nament-
lich, wo es nicht nur im Gegensatz zu Dingen der Aufsenwelt,
sondern auch des eigenen Lebenshauches (jetzt präna genannt)
steht. 6,53,2: punah pränah, punar ätmä na? aitu, punag cak-
shuh, punar asur nci aitu. — 3,29,8: mä aham pränena, mä
ätmanä, mä prajayä vi rädhishi. — 3,15,7: sa nah prajäsu,
ätmasu, goshu, präneshxi jägrihi. — 7,67,1 : punar mä aitu indri-
yam, punar ätmä, dravinam brähmanam ca. — 19,51,1: ayuto
''harn; ayuto me ätmä, ayutam me cakshur, ayutam me grotram,
ayuto me präno, \juto me 'päno, ryuto me vyäno, 3yuto ''harn
sarvah. — 11,8,31 : atha asya itaram ätmänam (aufser cakshuh,
pränah') deväh präyacchan agnaye. — 12,3,30: adbhir ätmänam
abhi sam sprigantäm. — 12,3,51: kshatrena ätmänam pari dhä-
payäthas. — 5,29,5: ätmano jagdham yatamat Pigäcaih. —
V. Geschichte des Atman.
9,8,9: yakshmodhäm antar ätmanah. — 4,12,2: (was verletzt,
gebrochen, gequetscht) te ätmani. — 15,1,2: Prajäpatih suvar-
nam atman apacyat. —
Brähmana's. a. „Das Selbst, die eigene Person".
Qatap. Br. 9,1,1,33: tata"1 eva etad ätmänam apa-uddharate ji-
vätvai, tathä u ha anena ätmanä sarvam äyur eti. — 11,1,1,7:
ätmani eva etat prajäyäm pacushu pratitishthati. — 10,4,2,3 : ha-
tham nu aham eva eshäm sarveshäm bhütänäm punar ätmä syämf —
6,6,4,5: daivo vd^ asya esha ätmä, mänusho ''yam. b. Blofses
pronomen reflexivum. Taitt. Br. 1,7,1,5: Prajäpatir ätmano
devatä niramimita. — 3,10,11,1 : haccid dha m' asmäd lohät pretya
ätmänam (sich selbst) veda, aayam aham asmi» iti. — Ait. Br.
2,3,9: sarväbhya' eva tad devatäbhyo ya^amänd ätmänam nish-
krinite. — 6,27,5: ätmasamskritir väva gilpäni, chandomayam
vä' etair yajamänd! ätmänam samskurute (er weiht sein Selbst,
sodafs es nur aus Hymnen besteht). — Qatap. Br. 10,4,2,22:
Sa aikshata Prajäpatih: trayyäm väva vidyäyäm sarväni bhii-
täni; hanta trayim eva vidyäm ätmänam abhimmskaravail iti. —
10,5,1,5: rinmayam, yajurmayam, sämamayam ätmänam samsku-
rute (er weiht sein Selbst, sodafs es nur aus Ric, Yajus,
Säman besteht; nicht wie Oldenberg, Buddha S. 30, übersetzt:
„aus Hymnus, Spruch und Lied besteht des Atman Natur".) —
c. „Der eigene Leib". Taitt. Samh. 5,5,8,3: apätmä amushmin
lohe bhavati, . . sätmä amushmin lohe bhavati. — patap. Br.
3,8,3,37: so asya hritsno amushmin lohe ätmä bhavati. — 11,2,2,6:
eshä ha vä' asya ähutir amushmin lohe ätmä bhavati. — 10,5,3,3 :
tad idam manah srishtam ävir abubhüshat, niruhtataram, mür-
tataram, tad ätmänam anvaicchat (wünschte einen Leib). —
6,7,1,21: manasi hi ayam ätmä pratishtliitah. — Taitt. Samh.
7,5,25,1: samvatsara"1 ätmä (acvasya medhyasya). — Väj. Samh.
11,20: ätmä antarihsham (acvasya). — Catap. Br. 4,6,1,1: Prajä-
patir vä' esha yad ancuh; so asya esha ätmä eva. — 7,2,2,20:
ho hi tad veda, yävanta' ime antar ätman pränäh ? — 10,3,5,7 =
13,3,8,4: cahshushä hi ayam ätmä carati. — 6,2,1,24: madhye
hi ayam ätmä, abhitah pränäh. — 7,3,1,2: tasmäd ayam ätman
präno madhyatah. — 4,2,2,1: so asya esha sarvam eva; sarvam
hi ayam ätmä (denn dieser Leib ist sein Ganzes).
Bedeutungen von atman. 329
Va. atman „der Rumpf" (Gegensatz: angäni „die
Glieder").
Väj. Samh. 19,93: angäni atman bhishajau tad Äqvinau
(samadhätäm). — Catap. Br. 1,3,2,2: ätmana? eva imdni sarväni
angäni prabhavanti (nicht: „aus dem Atman heraus kommen
alle diese Glieder zum Dasein", wie Oldenberg, Buddha S. 26,
übersetzt). — 7,1,1,21 und 8,7,2,13: ätmänam agre samchä-
dayati; ätmä hi eva agre sambhavatah sambhavati; atha dakshi-
nam pakshäm, atha puccham etc. (falsch 1. c. S. 26 und noch-
mals S. 30: „von dem, was da wird, wird zuerst der At-
man"!). — 12,2,4,8: plavata1 iva hi ayam angais, tishthati iva
ätmanä. — 12,2,3^6: yatra va' ätmä, tad angäni, yatra angäni,
tad ätmä etc. — 7,2,2,8: sa va? ätmänam eva vikrishati, na
paksha-pucchäni. — 9,5,2,16: ätmä vai yajnasya yajamänah,
angäni ritvijah.
IVb. atman „das Selbst, das Wesen".
Ebenfalls aus der Bedeutung III. des Wortes atman als
„Lebenshauch, Seele, Selbst" entspringt eine Fortent-
wicklung desselben in gerade entgegengesetzter Richtung,
sofern sie, weit entfernt, sich in das Körperliche und Grob-
materielle zu verlieren, von dem Begriffe des atman den letzten
Rest der Materialität abstreift und darunter nicht mehr den
Lebenshauch, die Seele als Princip des Lebens, sondern rein
abstrakt „das Selbst" als das eigentliche, innerste, von einer
Sache unabtrennbare „Wesen" derselben versteht, mag es
sich nun um andre Dinge oder das eigene Selbst dabei
handeln. Ersteres dürfte dabei das Frühere sein; denn das
Auge sieht alles andre eher als sich selbst, und so mochte
man jene Abstraktion des reinen Wesens einer Sache zuerst
an andern Dingen üben, bis man dann lernte, sie auch in
Bezug auf das eigene Ich zu machen.
Hier ist zunächst nochmals das Wort aus dem Dirgha-
tamas-Liede Rigv. 1,164,4 zu erwähnen (oben S. 109),
bhümyä' asur, asrig, ätmä kva svid?
330 V. Geschichte des Ätman.
welches , indem es in steigender Dringlichkeit nach dem
Lebenshauche, dem Blute, dem Selbste der Erde (d.h.
der Welt) fragt, gleichsam prophetisch die ganze folgende
Entwicklung überschaut. — Von Einzelwesen gebraucht findet
sich ätman auch noch Rigv. 10,97,11: ätmä yakshmasya nagyati,
wo vom ätman, Wesen, des Yakslima, einer auszehrenden
Krankheit, die Rede ist; Atharvav. 8,7,9 heifsen die Pflanzen
udaka-ätmänas, „deren Wesen aus Wasser besteht", und Athar-
vav. 9,6,38 wird gelehrt, was zu thun sei yajnasya sätmatväya,
„damit das Opfer wesenhaft" d. h. real, wirksam werde. Das
Opfer wird dann auch, im Sinne und Stile der Brähmana's
Catap. Br. 14,3,2,1: sarveshäm vä"1 esha bhütänärn, sarveshäm
devänäm ätmä yad yajnas, für das Wesen aller Geschöpfe und
Götter erklärt; und Catap. Br. 2,2,2,8 heifst es, Götter und
Dämonen seien anfangs, weil sterblich, anätmänas wesenlos,
ohne innere Realität gewesen. Hierher gehört auch das öfter
vorkommende ätmanvat „wesenhaft", in Stellen wie: Taitt.
Br. 2,1,6,1: Prajäpatir akämayata, ätmanvad nie syad! iti; —
Atharvav. 13,1,52: (Rohitah) cakära vicvam ätmanvad; — 11,2,10:
tava (Pacupate) idam sarvam ätmanvad; 10,2,32 = 10,8,43: tas-
min (im Herzen) yad yaksham ätmanvat; — 10,8,2: Skamblui'
idam sarvam ätmanvat.
Bald lernte man diese Abstraktion auch auf das eigene
Ich anwenden und sprach von einem ätman, Selbst, im Unter-
schiede vom Leibe und den psychischen Organen. Athar-
vav. 5,9,7: süryo me cakshur, vätah präuo , antariksham ätmä,
prithivi gariräm; — 5,1,7: asur ätmä tanuas tat sumadguh.
An diesen beiden Stellen wird, wie es scheint, der Ätman vom
Leibe (gariram, tanu) und Leben (präna, asur) ausdrücklich
unterschieden. Andre Stellen sind, bei der Vieldeutigkeit
des Wortes ätman, zweifelhaft.- In diesen Zusammenhang
dürfen wir denn wohl, wenn auch zweifelnd, zwei schon von
Oldenberg citierte Stellen aufnehmen, während wir die fünf
übrigen, von ihm für die Entwicklungsgeschichte des Atman
(Buddha S. 26—30) verwerteten Citate (es sind £atap. Br. 1,3,2,2.
4,5,9,8. 7,1,1,21 = 8,7,2,13. 10,5,1,5) als mifsverstanden ableh-
nen mufsten (oben S. 328— 329 und 173—174). Catap. Br. 4,2,3,1
(vgl. oben S. 299): „Der Ukthya (eine Grahaspende) ist sein
Bedeutungen von ätman. 331
imbenannter Lebenshaiich (präna, mit den Känva's zu lesen),
und der ist sein Atman; denn der Ätman ist dieser unbenannte
Lebenshauch; dieser ist seine Lebenskraft (äyur)LL. (Sogleich
darauf freilich 4,2,3,3 ist ätman wieder der Leib). Nicht
sicherer ist die zweite Stelle Catap. Br. 11,2,1,2: „denn zehn
Lebenshauche (pränäh) sind im Menschen, und der Atman ist
der elfte, in welchem jene Lebenshauche gegründet sind".
Als gesichert dürfen wir festhalten, dafs man allmählich anfing,
von allen physischen und psychischen Organen den Atman,
das eigentliche Selbst, zu unterscheiden, welches man dann
bald als vijnänam, bald als manas zu fassen suchte: Catap.
Br. 10,3,5,13: „denn die Wonne ist sein Bewufstsein, ist sein
Selbst (ätman)'-'-; : — 3,8,3,8: „zuerst beträufelt er das Herz (des
Opfertieres); denn das Herz ist der Atman, nämlich das Manas,
und das Opferschmalz ist der Prcma; damit also legt er in
den Atman, in das Manas, den Pränä."
Vb. ätman „das Wesen des Menschen und der Welt".
Nachdem man den Atman von allen Lebensorganen zu
unterscheiden gelernt hatte, so geschah nun der letzte grofse
Schritt dadurch, dafs man der ganzen Natur, in deren Göttern
man schon längst die eigenen Lebensorgane wiedergefunden
hatte (das Auge in Sürya, den Odem in Väyu u. s. w.), nun
auch, wie den Organen im eigenen Ich, einen Atman unterlegte
und diesen entsprechend mit dem eigenen, individuellen Atman
identifizierte. Vorbereitet war dieser Schritt von lange her
durch die Entwicklung, welche die Begriffe Prajäpati, Purusha,
Brahman durchlaufen hatten, in denen wir nun schon so oft
den Atman durchschimmern sahen, dafs uns hier nur übrig
bleibt, die wesentlichen, entscheidenden Momente zusammen-
zufassen.
1) Prajäpati war ein persönlicher Gott, der jedoch die
Welt nicht aufser sich schuf, sondern sich selbst, nach einem
Teile, in die Welt umwandelte, um dann in dieses sein eigenes
Selbst als Erstgeborner (Hiranyagarbha) einzugehen. Daher
eine von dem allerdings späten Taittiriya-äranyakam citierte
Dichterstelle sagt (1,23, den Zusammenhang siehe oben,
S. 196—198):
332 V". Geschichte des Atman.
Die "Welten bauend, die Wesen bauend,
Die Zwischenpole bauend und die Pole,
Prajäpati, der Ordnung Erstgeborner,
Ging mit dem eignen Selbst (ätmanä) ins eigne Selbst
(ätmänam) ein.
Wenn das Äranyakam hinzufügt: „Der durchdringt diese
ganze Welt, der umschliefst sie und geht in dieselbe ein, wer
solches weifs", — so zieht es von seinem Upanishadstandpunkte
eine Konsequenz, die vorher schon im Anschlufs an jenes
Dichterwort, dasselbe umformend, der Dichter des Tadeva-
Liedes (Väj. Samh. 32,11, vgl. Taitt. Ar. 10,1, v. 19, oben S. 294)
gezogen hatte, wenn er von dem Weisen sagt:
Umwandelnd alle Wesen, alle Welten,
Umwandelnd alle Gegenden und Pole,
Drang durch er zu der Ordnung Erstgebornem,
Ging ein mit seinem Selbste (ätmanä) in das Selbst (ät-
mänam) er.
2) Vom Purusha war schon Rigv. 10,90,13 — 14 gelehrt
worden, dafs sein Manas zum Monde, sein Auge zur Sonne,
sein Mund zu Indra und Agni, sein Odem zum Winde, sein
Nabel zum Luftraum, sein Haupt zum Himmel, seine Füfse
zur Erde, seine Ohren zu den Himmelsgegenden geworden
seien. Diese Auseinandersetzung mochte befriedigen, solange
man den Menschen als ein Kompositum aus Manas, Auge,
Mund, Odem, Nabel, Haupt, Füfsen, Ohren betrachtete.
Sobald man jedoch anfing, in der S. 330 fg. besprochenen
Weise von allen diesen Lebensorganen den Atman zu unter-
scheiden, — sobald man anfing zu fragen (wie es später des
Ritabhäga Sohn Brih. Up. 3,2,13 thut), „wenn der Mensch
stirbt und seine Rede eingeht zum Feuer, sein Odem zum
Winde, sein Auge zur Sonne, sein Manas zum Monde, sein
Ohr zu den Himmelsgegenden, sein Leib zur Erde, sein Rumpf
zum Äther, wenn seine Haare in Kräuter, sein Haupthaar in
Bäume, sein Blut und Same in Wasser verwandelt wird, —
wo ist dann der Mensch?" — so lag es nahe, ebenso in
betreff des Weltpurusha zu fragen (wiewohl wir keinen Beleg
dafür haben): als seine Glieder in die Weltteile umgewandelt
Das Brahman als Ätman. 333
wurden, wo blieb er da selbst? — und die Folge mufste sein,
dafs man, wie den Körperteilen die Weltteile, so dem indivi-
duellen Atman einen kosmischen Ätman entsprechen liefs und
gleichsetzte. Die älteste, uns bewufste, Stelle, in der dies zu
geschehen scheint, ist die schon oben S. 178 fg. besprochene
Libationsformel an Mrityu, Taitt. Br. 3,10,8, nach welcher Agni
in meiner Rede, Väyu in meinem Odem, Sürya in meinem
Auge, der Mond in meinem Manas, die Himmelsgegenden in
meinen Ohren, die Wasser in meinem Samen, die Erde in
meinem Leibe, die Kräuter und Bäume in meinen Haaren,
Inclra in meiner Kraft, Parjanya in meinem Haupte, Icäna in
meiner Zornmütigkeit, und so auch der Ätman in meinem
Atman beruht. (Hiefse hier ätman „Rumpf", so würde es
wohl, wie oben, Brih. Up. 3,2,13, mit äkäga oder antariksham
parallelisiert werden.)
3) Das Brahman ist, wie wir S. 241 fg. entwickelten,
die „Anschwellung" und Erhebung des Gemütes über den
Individuaistand, in der uns unser wahres, metaphysisches,
göttliches Selbst zum Bewufstsein kommt (in der Kindheit
der Völker zu einem besondern, der Individualität gegenüber-
stehenden Individuum hypostasiert, zu dem man redet). Dieses
Bewufstsein der Wesensidentität des Menschen, vor allem des
Brahmanen, mit dem Brahman sprach sich in dem schon oben
S.251fg. mitgeteilten Liede aus, in dem es hiefs(Taitt.Br.2,8,8,9):
die Götter, die WTelten seien von Brahman erzeugt, die Ksha-
triya's von ihm gebildet worden, hingegen: bralvma brähmana'
dtmanä, „der Brahmane ist Brahman durch sein eigenes
Selbst". Dem entsprechend wird Catap. Br. 11,5,6,9 dem-
jenigen, der das Brahmanopfer, d. h. das Vedastudium betreibt,
verheifsen: „er wird fürwahr von dem Wiedertode befreit, er
geht ein mit dem Brahman zur Wesensgemeinschaft (sa-
ätmatä)LL. — Man fühlte, wie Stellen dieser Art bekunden,
dafs man im Brahman nur das eigene Selbst nach seiner gött-
lichen Seite hin besafs. Aber man besafs es in ritueller Hülle
und war bemüht, dieselbe abzustreifen. Wir sahen, wie in
dem freisinnigern Atharvaveda in den Hymnen auf Ucchishta
und Skambha diese Unbefriedigtheit sich äufserte. Die Dichter
derselben stehen auf dem Standpunkte der Brahmanlehre,
334 V~. Geschichte des Atman.
streben aber zu einer tiefern Fassung des Brahman; sie fragen
nach dem „Rest", welcher bleibt, wenn man alles, auch das
Rituelle, abgestreift hat, und auf dessen Verwirklichtsein im
eigenen Selbst dunkel durch das tan mayi hingedeutet wird
(oben S. 307), — sie fragen nach dem „Stutzer", auf dem
Purusha, Brahman, Parameshthin, Prajäpati beruhen (S. 312),
und dem als dem höchsten Brahman die Verehrung zu zollen
ist, — und die volle Antwort darauf giebt der Schlufsvers
der Skambha -Lieder, er ist die erste und älteste Stelle, die
wir kennen, in der rückhaltlos der Atman als Weltprincip
proklamiert wird, Atharvav. 10,8,44:
Begierdelos, treu, ewig, durch sich selbst nur,
Genufsdurchsättigt, keinem unterlegen, —
Wer diesen kennt, der fürchtet nicht den Tod mehr,
Den weisen, alterlosen, jungen Atman!
— Und bald ergriif diese grofse Erkenntnis auch die Kreise
der Orthodoxie; man glaubt, die Prätension durchzufühlen,
mit der sie diese Lehre als ihr Privilegium in Anspruch
nahm, in den schon oben (S. 263) mitgeteilten "Worten, Taitt.
Br. 3,12,9,7:
Durch den die Sonne scheint, durch Glut entzündet,
Der Yater wird durch jeden Sohn, der geboren,
Nur wer den Veda kennt, versteht den grofsen
Allge gen wärt 'gen Atman beim Hinscheiden.
Er, der als Grofsheit einwohnt dem Brahmanen,
Wird nicht vermehrt durch Werke, noch vermindert.
Das Selbst ist sein Pfadfinder, wer ihn findet,
Wird durch das Werk nicht mehr befleckt, das böse.
Ist die Lesart tasya eva dtmd padavit richtig (Catap. Br.
14,7,2,28 = Brih. Up. 4,4,23 hat freilich tasya eva syät padavit},
so liegt darin der wertvolle Gedanke, dafs der individuelle
Atman der „Pfadfinder" des höchsten Atman ist (vgl. Brih.
Up. 1,4,7). Die Identität -beider wird, wie in den Upani-
shad's unzähligemal , so z. B. auch schon ausgesprochen in
den Versen, Taitt. Ar. 3,11,1:
Erreichung des Upauishad - Standpunktes. 335
Der in uns wohnt als Menschenregierer,
Der einer ist, vielfach verbreitet,
In dem des Himmels hundert Lichter eins sind,
In welchem auch die Yeden alle eins sind,
In dem auch alle Opferpriester eins sind,
Der ist das geistigartige Selbst (mänasina1 ätmä) der Menschen!
Eine schöne Stelle verwandten Inhalts, die unter dem
Namen Qivasamkalpa auch unter den Upanishad's Aufnahme
gefunden hat, befindet sich Väj. Samh. 34,1 — 6:
1. Der göttliche, der in die Ferne schweifet
Beim Wachenden, der auch im Schlafe schweifet,
Fernwandernd, das alleine Licht der Lichter,
Der Geist sei mir von freundlicher Gesinnung!
2. Durch den werktüchtig ihre Werke Weise
Beim Opfer und der Festversammlung üben,
Der als vorzeitlich Wunder wohnt im Menschen,
Der Geist sei mir von freundlicher Gesinnung!
3. Der als Bewufstsein, Denken und Entschliefsen ,
Der als unsterblich Licht verweilt im Menschen,
Ohn' dessen Zuthun keine Hand sich reget,
Der Geist sei mir von freundlicher Gesinnung!
4. Der diese Welt, Vergangenheit und Zukunft,
Der alle Dinge in sich schliefst, unsterblich,
Durch den das Opfer flammt mit sieben Priestern,
Der Geist sei mir von freundlicher Gesinnung!
5. In dem die Ric's, die Säman's und die Yajus'
Befestigt sind wie Speichen in der Nabe,
Dem eingewebt alles, was Menschen denken,
Der Geist sei mir von freundlicher Gesinnung !
6. Der, wie ein guter Lenker seine Rosse,
Die Menschen wie an Zügeln sicher leitet,
Im Herzen fest und doch des Schnellen Schnellstes,
Der Geist sei mir von freundlicher Gesinnung!
Wir sind am Ziele eines langen, schwierigen und, bei
dem Charakter der Brähmana's, nicht selten dunkeln Weges
336 V- Geschichte des Atman.
angelangt und haben nur noch die Stelle zu kennzeichnen,
in der in den Brähmana's zum erstenmal mit voller Deutlich-
keit der ganze Grundgedanke der Upanishad's, die Identität
des individuellen mit dem höchsten Atman, oder, wenn
man letztern mit Brahman bezeichnen will, die Identität
des Atman mit dem Brahman, der Seele mit Gott,
zum Ausdrucke kommt. Es ist dies die Qändilya-vidyä, die
wir aus Catap. Br. 10,6,3 schon oben S. 264 mitteilten. Indem
wir ihr hier zum Vergleiche die Form gegenüberstellen, in
der sie innerhalb der Upanishad's Chänd. Up. 3,14 erscheint,
nehmen auch wir Abschied von dem dunkeln, noch so wenig
durchwanderten Urwalde der Brähmana's und betreten die
sonnige Hochebene der Upanishad's mit ihrer Rundsicht über
Welt und Leben, — der höchsten, welche Indien zu bieten
vermag.
Chänd. Up. 3,14.
„«Gewifslich, dieses Weltall ist Brahman; als Tajjaldn [in ihm
werdend, vergehend, atmend] soll man es ehren in der Stille.
Fürwahr, aus Willen (Jcratn) ist der Mensch gebildet; wie
sein Wille ist in dieser Welt, darnach wird der Mensch, wenn er
dahingeschieden ist; darum möge man trachten nach [gutem]
Willen !
Geist ist sein Stoff, Leben sein Leib, Licht seine Gestalt; sein
Ratschlufs ist Wahrheit, sein Selbst die Unendlichkeit [wörtlich:
der Äther]; all wirkend ist er, allwünschend, allriechend, allschmeckend,
das All umfassend, schweigend, unbekümmert: — dieser ist meine
Seele (atman) im innern Herzen, kleiner als ein Reiskorn, oder
Gerstenkorn, oder Senfkorn, oder Hirsekorn, oder eines Hirsekornes
Kern; — dieser ist meine Seele im innern Herzen, gröfser als die
Erde, gröfser als der Luftraum, gröfser als der Himmel, gröfser
als diese Welten. —
Der Allwirkende, Allwünschende, Allriechende, Allschmeckende,
das All Umfassende, Schweigende, Unbekümmerte, dieser ist meine
Seele im innern Herzen, dieser ist das Brahman, zu ihm werde
ich, von hier abscheidend, eingehen. — Wem dieses ward, fürwahr,
der zweifelt nicht ! »
Also sprach Cändilya, Cändilya." —
LIBRARY OF CONGRESS