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Full text of "Amerikanische Skizzen; Vorträge gehalten im Grazer Juristenverein"

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MAHZ   VERLAß    WIE^^ 


THE  LIBRARY 

OF 

THE  UNIVERSITY 

OF  CALIFORNIA 

LOS  ANGELES 


Amerikanische  Skizzen 


Vorträge 

gehalten  im  Grazer  Juristenverein 


von 


Dr.  Gustav  Hanausek 

k.  k.  Hofrat,  Professor  an  der  Universität  Graz. 


Wien,  1913. 

Manzsche  k.  u.  k.  Hof-Verlags-  und  Universltats-Buchhandlnng. 

I.,  Kohlmarkt  20. 


Vorwort. 


Die  folgenden  Skizzen  geben  in  erweiterter  Gestalt 
und  mit  Zusätzen  Vorträge  wieder,  welche  ich  im  ab- 
gelaufenen Winter  im  Grazer  Juristenverein  gehalten 
habe.  Zwei  kurzen  Aufenthalten  in  Amerika i)  von 
zusanunen  wenig  mehr  als  zwei  Monaten  verdanke 
ich  eine  überwältigende  Fülle  von  Anregungen  und 
Eindrücken.  Ich  habe  lange  gezögert,  die  reiche  Li- 
teratur über  Amerika  durch  ein  neues  Buch  zu  ver- 
mehren. Allein  schließlich  hat  der  Wunsch  über- 
wogen, mir  wenigstens  über  einige  Gruppen  von  Be- 
obachtungen und  Eindrücken  dadurch  Rechenschaft  zu 
geben,  daß  ich  sie  fixiere. 2)  Gegenstand  meiner  Studien 
waren  vor  allem  Unterrichtswesen  und  Wohlfahrts- 
einrichtungen, Verfassung  und  Verwaltung,  Rechtspflege 
und  Rechtsgang,  Besserungs-  und  Strafanstalten  in  den 
Vereinigten  Staaten.  Schon  aus  dieser  Aufzählung  geht 
hervor,  daß  ich  an  eine  systematische  und  vollständige 
Darstellung  der  behandelten  Probleme  nicht  gedacht  habe. 
Ich  habe  deshalb  auch  meine  Ausführungen  Skizzen 
genannt. 


^)  Mit  Amerika  bezeichne  ich  dem  herrschenden  Sprachgebrauche 
gemäß  Nordamerika,  und  zwar  speziell  die  Vereinigten  Staaten,  Vgl. 
Bambeau,  "Aus  und  über  Amerika",  S.  2. 

^)  Bryce,  "The  American  Commonwealth",  I.,  p.  2:  "It  is  such 
a  feeling  as  this,  a  sense  of  the  immense  curiosity  of  Europe  regarding 
the  social  and  political  life  of  America,  and  of  the  incomparable  signi- 
ficance  of  American  experience,  that  has  led  and  will  lead  so  many 
travellers  to  record  their  impressions  of  the  Land  of  the  Future.  Yet 
the  very  abupdance  of  descriptions  in  existence  seems  to  require  the 
author  of  another  to  justify  himself  for  adding  it  to  the  list". 

I* 


Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

Vorwort V— VII 

Literatur 1 — 13 

/.  Kapitel:   Colleges^    Universitäten,  Rechtsschulen  .     .     .  14—47 

Welche  amerikanischen  Universitäten  sind  den  Univer- 
sitäten in  Deutschland  und  Österreich  im  wesentlichen  gleich- 
zuhalten? —  Qraduate  Schools  und  Fachschulen  (Law  Schools, 
Medical  Schools).  —  Die  Rockefeller-Universität  in  Chicago.  — 
Gottesdienst  in  der  Leon  Mandel  Assembly  Hall.  —  Professor 
Henderson.  —  Amerikanische  Universitätsvorträge.  —  Uni- 
versitätslehrer in  Chicago.  —  Fakultäten  der  Universität 
Chicago.  —  Konzentration  des  gesamten  Unterrichts.  — 
Frauenstudium.  —  Koedukationalsystem  (Anmerkung  11).  — 
Frequenz  der  Universität  Chicago.  —  Bedingungen  für  die 
Zulassung  zu  den  Junior  Colleges  und  zu  den  Senior  Colleges. 
—  Die  Erlangung  des  Grades  eines  Bachelor  of  Arts.  — 
Einteilung  des  Universitätsjahres  in  vier  Quarters.  —  Vor- 
lesungskataloge, Unterrichtsgelder  und  Studienkosten  (An- 
merkung 13).  —  Vorlesungen  an  der  Law  School.  —  Vor- 
lesungen des  Professor  Freund.  —  Die  Harvard-Universität 
in  Cambridge  bei  Boston.  —  Präsident  A.  L.  Lowell.  — 
Keine  weiblichen  Studenten  in  Harvard.  —  Das  Harvard- 
College  und  die  fünf  Fakultäten.  —  Unterrichtsgeld  und 
Studienkosten.  —  Frequenzziffem.  —  Die  amerikanischen  Law 
Schools.  —  Lecture  System.  —  Textbook  System.  —  Cases 
System.  —  Bedingungen  für  die  Zulassung  als  ordentlicher 
Hörer  und  als  Special  Student  an  der  Harvard  Law  School, 
für  die  Erlangung  des  Bachelor  of  Law  und  des  Doktorgrades 
der  Rechte.  —  Strenge  Examina.  —  Moot  Courts.  —  Law 
Clubs.  —  Fleiß  der  Juristen  in  Harvard.  —  606  beziehungs- 
weise 581  Anstalten  mit  dem  Titel  Universities,  Colleges  and 
Technical  Schools,  davon  139  Universitäten,  von  welchen 
aber  nur  22  oder  23  mit  europäischen  Universitäten  in  Ver- 
gleich zu  ziehen  sind.   —    Colleges.   —    Bildungsgang  eines 


—     IX     — 

Seite 
amerikanischen  Studenten.  —  Staats-  und  Privatuniversitäten, 

Leitung  der  Universitäten.  —  Besetzung  der  Professuren.  — 

Anstellung  der  Professoren.  —  Amerikanisches  Studentenleben. 

//.  Kapitel:  Bund  und  Staaten.  —  Gerichte  und  Anwälte  .  48—104 

§  1 48—60 

Gebiet  der  Vereinigten  Staaten,  Area,  Bevölkerung.  — 
Naturschätze  der  Vereinigten  Staaten.  —  Kongreß.  —  Vor- 
herrschaft der  Juristen  in  den  gesetzgebenden  Körperschaften. 

—  Schwierigkeit  der  Eechtskenntnis  und  die  dadurch  ge- 
förderte Herrschaft  der  Juristen.  —  Legislaturen  der  Einzel- 
staaten und  Bezüge  der  Mitglieder  des  Kongresses  und  der 
Legislaturen.  —  Verteilung  der  Gewalt  zwischen  Staaten 
und  Bund.  —  Kompetenz  des  Bundes.  —  Hauptstädte  sind 
häufig  nicht  die  größten  Städte  (Anmerkung  15).  —  Kompetenz 
der  Staaten  zur  Gesetzgebung  in  Ehesachen.  —  Jedes  Mit- 
glied des  Kongresses,  nicht  aber  der  Präsident  und  die  Re- 
gierung, hat  das  Recht,  Gesetzesvorschläge  zu  machen.  — 
Bills  und  Vetorecht  des  Präsidenten.  —  Botschaften  des 
Präsidenten.  —  Vetogewalt  des  Gouverneurs.  —  Verweisung 
zur  Volksabstimmung  (Referendum)  und  Initiative  zur  Volks- 
abstimmung in  einer  Reihe  von  Einzelstaaten. 

§2 60—73 

Duplizität  der  Gerichte.  —  Recht  der  Gerichte,  die 
Verfassungsmäßigkeit  der  Gesetze  zu  prüfen  und  Begründung 
desselben.  —  Beispiele  von  Fällen,  in  denen  das  Bundes- 
gericht dieses  Prüfungsrecht  geübt  hat.  —  Shermann-Akte 
und  Bureau  of  Corporations.  —  Überordnung  der  ordent- 
lichen Gerichte  über  die  Verwaltung.  —  Distriktsgerichte 
und  Bezirksgerichte.  —  Circuit  Courts  of  Appeals.  —  Court 
of  Claims.  —  Court  of  Customs  Appeals.  —  Commerce  Court. 

—  Ernennung  der  Bundesrichter,  Bezüge  der  Bundesrichter, 
des  Präsidenten  der  Vereinigten  Staaten  und  des  Vizepräsi- 
denten der  Vereinigten  Staaten  und  der  Minister.  —  Im- 
peachment  of  Executive  Officers  und  of  Judges.  —  Districts 
Attorney.  —  Der  General  Attorney, 

§  3   .     .     .     , 73—81 

Gerichte  der  Einzelstaaten.  —  Gerichtshöfe  erster  Instanz 
(Supreme  Courts),  Zwischenberufungsgerichte  (Appellate 
Courts),  Oberster  Gerichtshof  (Court  of  Appeals,  häufig  auch 
Supreme  Court  genannt).  —  Gerichtsverfassung  der  Staaten 
New  York  und  Illinois.  —  Bestellung  der  Richter.  —  Amts- 
periode der  Gouverneure  und  der  Richter.    —    Bezüge  der 


Seite 
Richter  und  Gouverneure.  —  Ruhegenüsse  von  Bundesrichtern. 

—  Staatsanwälte,  Sheriffs  und  Clerks  of  Court  werden  durch 

das  Volk  gewählt.  —  Friedensrichter  ohne  juristische  Vor- 

hildung. 

§4 81—88 

Enger  Kontakt  zwischen  dem  englischen  und  dem 
amerikanischen  Rechte.  —  Englische  Gerichtsentscheidungen 
genießen  in  Amerika  das  größte  Ansehen.  —  Weitgehende 
materielle  Rechtsgleichheit  des  Rechts  in  den  einzelnen 
Staaten.  —  Unterscheidung  von  Law  und  Equity.  —  Zivil- 
geschworne  nur  in  Common  Law-Sachen.  —  Kodifikationen 
des  Zivilprozeßrechts  und  des  Strafrechts,  nicht  des  Zivil- 
rechts. —  Schwurgerichtsverfahren  in  Strafsachen.  — 
Befehlsgewalt  der  amerikanischen  Gerichte.  —  Die  Richter 
werden  dem  Anwaltstande  entnommen.  —  Vertrauen  und 
Respekt  vor  dem  Richterstande. 

§5 89—99 

Anwaltschaft.  —  Unterschied  zwischen  Solicitors  und 
Barristers  nicht  übernommen.  —  Qualifikation  zur  Anwalt- 
schaft. —  Anwaltsvereine.  —  Disziplinargewalt  des  Ge- 
richtshofes gegenüber  Anwälten.  —  Ämterfähigkeit  und 
Wahlrecht  der  Frauen  (Anmerkung  7).  —  Stellung  der 
amerikanischen  Anwaltschaft.  —  Kein  Anwaltszwang.  — 
Keine  formelle  Prozeßvollmacht.  —  Honorare  der  Advokaten 
(Contingent  Fee,  Retainer  Fee).  —  Ausbeutung  von  Ein- 
wanderern aus  Österreich-Ungarn  durch  Foreign  Bankers 
(Anmerkung  14).  —  Besuch  von  Verhandlungen  eines  Night 
Court.  —  Besuch  des  Court- Hauses  in  Chicago,  in  Pitts- 
burg, in  Boston. 

§6 , 99—104 

Geringe  Voraussetzungen  für  die  Erlangung  des  Amts 
eines  Notary  Public.  —  Notariatsurkundeu.  —  Titel 
Guaranty  Companies.  —  Die  Chicago  Title  and  Trust 
Company.  —  Grundbücher  in  Chicago.  —  Burnt  Record 
Proceedings.  —  Torrens-System. 

///.  Kapitel:  Amerikanische  Jugendgerichte  .  .  .  .  104 — 111 
Circuit  Court  of  Cook  County  Juvenile  Court.  — 
Dr.  Healey  und  Richter  Pinckney.  —  Dependent  Days, 
Truancy  Days,  Delinquent  Days.  —  Probation  Officers.  — 
Haftung  Erwachsener,  insbesondere  der  Eltern  für  Delikte 
von  Kindern  (Anmerkung  7).  —  Jurisdiktion  des  Jugend- 
gerichts. —  Industrial  Schools.  —  Die  George  Junior 
Republic  in  Freeville. 


—     XI     — 

Seite 
IV.  Kapitel:  Die  Strafanstalt  Sing  Sing      .     .     .     .111—122 

V.  Kapitel:  Das  Reformatory  von  Elmira       .     .     .  122 — 146 
I.  Geschichte  und  Organisation  dieses  Reformatory, 
—  II.  Die  Entlassung  gegen  Parole.  —  in.  Innere 
Einrichtung. 

VI.  Kapitel:  Das  Hüll  Hoiise  und  die  Parks  in  Chicago  147 — 155 

VII.  Kapitel:  Ellis  Island 155—165 

VIII.  Kapitel:  Miszellen 166—176 

Taylor-System.    —   Amerikanische  Gleichheit   und 
Disziplin.  —  Wolkenkratzer. 

Bemerkungen  und  Nachträge 177 — 178 


Literatur. 

Das  folgende  Verzeichnis  enthält  eine  größere  An- 
zahl von  Werken  und  Schriften,  auf  welche  in  den 
folgenden  Ausführungen  Bezug  genommen  wird.  Die  Zu- 
sammenstellung soll  kurze  Zitate  ermöglichen  und  dem 
Leser  eine  orientierende  Übersicht  über  eine  Anzahl  von 
Büchern  der  Amerikaliteratur  geben.  Bei  einigen  Werken 
ist  eine  Inhaltsangabe,  bei  anderen  sind  kritische  Bemer- 
kungen beigefügt. 

Ich  nenne  im  Abschnitt  I  Werke  von  amerikanischen, 
deutsch  -  amerikanischen  und  in  Amerika  wirkenden 
Schriftstellern,  im  Abschnitt  II  Werke  englischer  und 
französischer  Autoren,  in  den  Abschnitten  III  und  IV 
Bücher  deutscher  und  österreichischer  Schriftsteller;  im 
Abschnitt  IV  führe  ich  Schriften  an,  welche  spezielle 
Themen  und  einzelne  Probleme   behandeln. 


Dr.  Woodrow  Wilson,  Präsident  der  Vereinigten  Staaten  von 
Amerika,  Der  Staat,  Elemente  historischer  und  praktischer  Politik, 
autorisierte  Übersetzung  von  Günther  Thomas,  1913.  —  Die  letzte 
Ausgabe  des  Werkes,  das  uns  nunmehr  in  deutscher  Ausgabe  vorliegt, 
ist  1894  erschienen.  Das  Buch  war  ursprünglich  als  Leitfaden  für  die 
Vorlesungen  gedacht,  welche  Wilson  an  der  Princeton- Universität 
für  die  reifere  akademische  Jugend  gehalten  hat.  "Wilson  hat  diesen 
Leitfaden  bis  zur  Aufgabe  seiner  akademischen  Tätigkeit  verwendet 
und  derselbe  wird  von  anderen  akademischen  Lehrern  in  Amerika  noch 
heute  benutzt."  (Vgl.  Vorwort  des  Übersetzers,  S.  IV.)  Die  Kapitel- 
überschriften dieses  großen  Werkes  lauten:  I.  Der  Ursprung  der 
Eegierungsgewalt,  S.  Iff.  11.  Das  Eegierungssystem  der  Griechen, 
S.  26 ff.  m.  Die  Regierung  Roms,  S.  83 ff.  IV.  Römische  Herrschaft 
und  römisches  Recht,  S.  129  ff.  V.  Germanische  Verfassung  und  Regierung 
im  Mittelalter,  S.  146ff.  In  diesem  Kapitel  spricht  Wilson  von  der 
Hanaasek,  Amerikanische  Skizzen.  1 


—     2     — 

Verbreitung  des  römischen  Rechts  in  Europa  und  dem  Eindringen 
desselben  in  die  Rechtssysteme  Europas.  Aufgefallen  ist  mir,  daß 
Wilson  S.  178  sagt,  wir  wissen,  daß  Papinian,  der  größte  römische 
Jurist,  selbst  in  Britannien  Eecht  gesprochen  hat,  und  wir  haben  nun 
Grund  zur  Annahme,  daß  das  römische  Recht  in  einer  400jährigen 
Herrschaft  tief  Wurzel  geschlagen  hat.  "Doch  läßt  sich  sagen,  daß 
römische  Einflüsse  fast  ausschließlich  nur  die  äußere  Form  der  Recht- 
sprechung berührt  haben,  während  das  Wesen  des  englischen  Rechts 
durchwegs  germanisch  ist."  VI.  Die  Regierung  Frankreichs,  S.  179  ff. 
VII.  Die  Regierungen  Deutschlands,  S.  217 ff.  VIII.  Das  Regierungs- 
system der  Schweiz,  S.  263 ff.  IX.  Die  Doppelmonarchie  Österreich- 
Ungarn,  S.  290 ff.  X.  Die  Regierung  Großbritanniens,  S.  302  ff. 
XI.  Die  Regierung  der  Vereinigten  Staaten,  S.  342 ff.  XII.  Übersicht: 
Entwicklung  von  Verfassung  und  Verwaltung,  S.  412  ff.  XIII.  Natur 
und  Form  der  Regierung,  S.  426  ff.  XIV.  Das  Recht:  Seine  Natur 
und  Entwicklung,  S.  441  ff.  XV.  Die  Funktionen  der  Regierung, 
S.  460  ff.  XVI.  Der  Zweck  der  Regierung,  S.  472  ff.  —  In  den  fol- 
genden Ausführungen  wird  vor  allem  auf  die  Ausführungen  des 
XI.  Kapitels  Bezug  zu  nehmen  sein.^) 

Dr.  Ernst  Freund,  Professor  an  der  Universität  Chicago,  Das 
öffentliche  Recht  der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika,  in  der  Sammlung 
"Das  öffentliche  Recht  der  Gegenwart",  von  Jellinek,  Laband  und 
Piloty,  12.  Band,  Tübingen  1911,  ein  hervorragendes  Werk  deutscher 
Gelehrtenarbeit,  ein  wahrhaft  monumentales  Buch.  Die  plastische 
Schilderung  der  komplizierten  amerikanischen  staatlichen  und  recht- 
lichen Einrichtungen,  die  großartige  Beherrschung  des  ungeheuren 
Materials  in  knapper  Darstellung  macht  die  Lektüre  dieses  Werkes  zu 
einer  ebenso  lehr-  wie  genußreichen. 

Hugo  Münsterberg,  Professor  an  der  Harvard -Universität, 
Die  Amerikaner,  4.  Auflage,  1912.  Daß  Münsterbergs  Buch  eine 
sehr  fleißige  und  sympathische  Zusammenfassung,  eine  mit  klugem 
Urteil  geschehene  literarische  Zusammenstellung  bietet,  gibt  auch  ein 
so  scharfer  Kritiker  wie  PI  enge,  "Die  Zukunft  in  Amerika"  (S.  27)  zu. 
Selbst  wenn  Münsterberg,  wie  dies  PI  enge  behauptet,  mit  naiven 
Mittelstandsaugen  gesehen  hätte,  wäre  dies  in  den  Augen  desjenigen 
kein  Vorwurf,  der  auch  diese  Betrachtungsweise  für  eine  durchaus 
berechtigte  hält.  Um  so  erfreulicher  ist  mir  das  achtungsvolle,  sym- 
pathische Urteil,  welches  der  weitblickende  Engländer  Wells  über  das 
Buch  in  der  unten  S.   7    zu   besprechenden  Schrift    "Die  Zukunft  in 


^)  Die  Programmrede  des  Präsidenten  Wilson  finde  ich  in  der 
Morgenausgabe  der  "Täglichen  Rundschau",  Berlin,  5.  März  1913. 
Über  diese  Programmrede  ist  der  überaus  interessante  Aufsatz  von 
Franz  Klein  im  "Neuen  Wiener  Tagblatt"  vom  28.  März  1913  zu 
Vergleichen. 


—     3     — 

Amerika"  fällt,  in  dem  er  insbesondere  hervorhebt,  Münsterberg 
habe  viel  für  die  Verbreitung  der  Auffassung  getan,  daß  zwischen 
Amerika  und  Deutschland  eine  Wesens-  und  Sympathiegemeinschaft 
besteht.  Auch  macht  schon  die  Fülle  des  verarbeiteten  Materials 
Münsterbergs  Buch  für  jeden,  der  sich  mit  amerikanischen  Dingen 
beschäftigt,  zu  einem  überaus  lehrreichen.  Das  Buch  Münsterbergs 
ist  meines  Erachtens  gerade  darum  so  gut,  weil  sich  Münsterberg, 
wie  auch  Wells  (a.  a.  0.,  S.  186)  hervorhebt,  noch  nicht  assi- 
miliert hat. 

Nicholas  Murray  Butler,  Die  Amerikaner.  Die  kleine  Schrift 
des  Präsidenten  der  Columbia  University  ist  in  der  Sammlung  "Aus 
Natur  und  Geisteswelt",  Leipzig,  Teubner,  1910,  veröffentlicht.  Die 
Schrift  enthält  drei  Vorträge,  die  auf  Einladung  des  Rektors  und  der 
Fakultäten  der  Universität  in  Kopenhagen  im  September  1908  gehalten 
wurden-),  und  ist  von  dem  ausgezeichneten  Amerikakenner,  Vorstand 
der  akademischen  Auskunftsstelle  der  Universität  Berlin,  Professor 
Dr.  W.  Paszkowski,  bearbeitet. '^j 

Benjamin  Ide  Wheeler,  Präsident  der  University  of  California 
(Berkeley-Universität),  Inhaber  der  Rooseveltprofessur  an  der  Universität 
in  Berlin  im  Wintersemester  1909/10,  hat  seine  an  der  Berliner 
Universität  gehaltenen  Vorlesungen  unter  folgendem  Titel  erscheinen 


^)  Butler  sagt  auf  S.  14:  "Dieses  Vorherrschen  des  Rechts  und 
der  Grundsätze,  nicht  der  Menschen,  beseelt  jede  amerikanische  politische 
Handlung."  So  könne  man  es  verstehen,  "wie  es  kommt,  daß  die 
90  Millionen  Amerikaner  trotz  klimatischer  Unterschiede,  so  groß  wie 
zwischen  Dänemark  und  Griechenland,  trotz  Entfernungen,  größer  als 
zwischen  England  und  Sibirien,  trotz  Rassenunterschiede,  größer  als  die 
des  gesamten  Europa,  im  Grunde  ein  einziger,  erkennbarer  politischer 
Typus  sind." 

^)  Im  Verlage  Gustav  Schade  (Otto  Franke),  Berlin,  erscheinen 
die  von  Professor  Dr.  Paszkowski,  Leiter  der  akademischen  Aus- 
kunftsstelle der  Berliner  Universität  herausgegebenen  Berliner  aka- 
demischen Nachrichten.  In  diesen  Nachrichten  erscheinen  (neben  einem 
Wohnungsanzeiger  für  Studierende  und  neben  zahlreichen  Annoncen) 
zunächst  Bekanntmachungen  der  Universitätsbehörden,  ferner  Aufsätze 
und  Universitätsnachrichten.  Die  Berliner  akademischen  Nachrichten 
enthalten  in  den  meisten  ihrer  Nummern  auch  Aufsätze,  welche  die  Pflege 
der  wissenschaftlichen  Beziehungen  zwischen  Amerika  und  Deutschland 
bezwecken.    So  enthält  zum  Beispiel  die  Nummer  vom  1.  November 

1912  (VII,  2)  eine  Mitteilung  "Die  amerikanischen  Gäste  der  Universität". 
In  der  Nummer  vom  11.  November  1912  (VII,  3)  werden  dann  die 
Antrittsvorlesungen  der  amerikanischen  Gäste  der  Universität  mitgeteilt. 
In  der  Nummer  vom  12.  Dezember  1912  (VII,  6)  wird  das  amerikanische 
Bildungswesen,  der  Jahresbericht  des  Deutschen  Hauses  in  Columbia 
und  der  Chirurgenkongreß  in  New  York,  in  der  Nummer  vom  10.  Jänner 

1913  unter  demselben  Schlagwort  das  dramatische  Museum  der  Columbia 
University  in  New  York  sowie  der  deutsche  Unterricht  in  den  öffent- 
lichen Schulen  der  Vereinigten  Staaten  besprochen. 

1* 


—     4     — 

lassen:  Unterricht  und  Demokratie  in  Amerika.  —  Die  Quellen  der 
öffentlichen  Meinung,  das  College,  die  Universitäten,  Studentenleben, 
Schule  und  Kirche  in  den  Vereinigten  Staaten,  1910.  "Grundgedanke 
der  Vorlesungen  war,  als  Fortsetzung  der  Berichte  über  amerikanische 
Verhältnisse  unser  Unterrichtswesen  zu  behandeln,  wie  es  einerseits 
aus  dem  Geiste  einer  demokratischen  Verfassung  emporgewachsen  ist 
und  wie  es  anderseits  die  Basis  einer  von  der  öffentlichen  Meinung 
getragenen  und  bestimmten  Volksregierung  darstellt."  (Vorwort.) 
Auf  die  Ausführungen  dieses  ausgezeichneten  Buches  wird  im  Kapitel  I. 
der   folgenden   Darstellung   besonders   häufig  Bezug  zu  nehmen  sein. 

E.  D.  Perry,  Die  amerikanische  Universität  in  der  Sammlung 
"Aus  Natur  und  Geisteswelt",  Leipzig,  1908,  übersetzt  von  Professor 
Dr.  Bahlsen. 

David  Starr  Jordan,  Präsident  der  Stanford  University  California, 
Universität  und  "College"  in  Amerika  in  der  "Internationalen  Wochen- 
schrift für  Wissenschaft,  Kunst  und  Technik",  herausgegeben  von 
Hinneberg,  Berlin,  1909,  S.  1209ff. 

Adolf  von  Noe,  Professor  der  deutschen  Sprache  und  Literatur 
an  der  Universität  Chicago,  Die  Stellung  des  College  im  amerikanischen 
Unterrichtssystem  in  derselben  Wochenschrift,  1908,  S.  918  ff. 

Adolf  von  Noe,  Leitgedanken  zum  Professorenaustausch  in 
derselben  Wochenschrift,  1909,  S.  937  ff. 

Simeon  E.Baldwin  L.L.D.,  The  American  Judiciary,  New  York, 
The  Century  Co.,  1905.  Das  Werk  enthält  eine  knappe,  überaus  lehr- 
reiche Darstellung  der  Entwicklung  und  der  gegenwärtigen  Gestaltung 
des  amerikanischen  Gerichtswesens. 

Henry  Lauren  Clinton,  Extraordinary  Cases,  New  York 
{Harper  and  brothers,  1896). 

Henry  Lauren  Clinton,  Celebrated  Cases,  New  York  {Harper 
and  brothers,  1897). 

Frederik  Trevor  Hill,  Dedsive  hattles  of  the  law,  Narrative 
studies  of  eight  legal  contests,  affecting  the  History  of  the  United 
States  between  the  Years  1800  and  1886,  New  York  and  London 
{Harper  and  brothers,  1906/07). 

Die  drei  eben  zitierten  Sammlungen  von  Eechtsfällen  geben  dem 
europäischen  Juristen  ein  vortreffliches  Bild  einerseits  der  Recht- 
sprechung und  Rechtsbildung,  anderseits  der  politischen  Entwicklung 
in  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika. 

Vocke,  Handbuch  der  Rechtspflege  in  den  Vereinigten  Staaten 
von  Nordamerika,  Gerichtsverfassung,  Prozeßverfahren  und  freiwillige 
Gerichtsbarkeit,  mit  einem  Anhang:  Der  Erwerb  von  Grundeigentum 


—     5     — 

durch  Ausländer.     Dieses  kleine  Bach  bringt  in  knapper  Form  eine 
Fülle  von  für  den  europäischen  Juristen  lehrreichen  Gesetzesmaterials. 

Hannis  Taylor,  Jurisdiction  and  Procedure  of  the  Supreme 
Court  of  the  United  States,  Kochester,  The  Lawyers  Co-operative 
Publishing  Company,  1905. 

Dr.  O.  W.  Holmes  Jr.,  Mitglied  des  Obersten  Gerichtshofes  der 
Vereinigten  Staaten  in  Washington,  Das  gemeine  Recht  Englands  und 
Nordamerikas  (The  Common  Law),  in  der  vortrefflichen  Wiedergabe 
Von  Rudolf  Leonhard,  Professor  in  Breslau,  Leipzig,  1912. 

Frank  J.  Goodnow  L.  L.  D.,  Eaton  Professor  of  Administrative 
Law  and  Municipal  Science  in  Columbia  University,  The  Principles  of  the 
Administrative  Law  of  the  United  States,  New  York  and  London,  1905. 

Report  of  the  Comraissioner  of  Education,  for  the  Year  ended 
June  30th  1911,  Washington,  Government  Printing  Office.  Der  gegen- 
wärtige Commissioner  ist  seit  dem  8.  Juli  1911  Philander  Priestley 
Claxton,  Litt.  Dr.  Das  Bureau  of  Education  ist  ein  Teil  des  dem 
Secretary  of  the  Interior  unterstellten  Departement  of  Interior. 

Die  Reports  des  Commissioner  of  Education  enthalten  eine  sehr 
wertvolle  Darstellung  der  gesamten  Entwicklung  und  des  jeweiligen 
Standes  des  amerikanischen  Unterrichtswesens.  In  diesen  Reports  sind 
auch  zahlreiche  Aufsätze  über  ausländische  Unterrichtsverhältnisse  und 
Fragen  enthalten.  Der  zweite  Band  des  Reports  enthält  eine  Fülle 
statistischen  Materiales.  Die  Stellung  des  Commissioner  of  Education 
ist  der  eines  Unterrichtsministers  nicht  vergleichbar,  weil  demselben 
keine  Einflußnahme  auf  das  ausschließlich  der  Kompetenz  der  Einzel- 
staaten unterstellte  Unterrichtswesen  zusteht. 

Ein  statistisches  Werk  größten  Stils  ist  The  American  States- 
man's  Yearbook,  From  official  reports  of  the  United  States  Government, 
State  Reports,  Consular  Advices  and  Foreign  Documents,  Edited  by 
J.  Walker  Mo  Spadden,  New  York,  Mc  Bridge  Nast  and  Company, 
Publishers,  1912. 

Über  das  Ergebnis  des  letzten  Zensus  von  1910  gibt  das  eben 
zitierte  Werk  wertvolle  Aufschlüsse.  Außerdem  lagen  mir  folgende, 
drei  Ergebnisse  des  letzten  Zensus  veröffentlichende  Hefte  vor:  Thirteenth 
Census  of  United  States,  Bulletin  (Department  of  Commerce  and 
Labor,  —  Bureau  of  the  Census,  E.  Dana  Durand,  Director). 
Population:  1.  Total  Population  and  Area  by  States  and  Territories, 
2.  Population  of  Cities,  3.  Abstract  of  Statistics  of  the  number  and 
distribution  of  inhabitants. 

Frederick  Winslow  Taylor,  M.  E.,  Sc.  Dr.,  The  Principles 
of  Scientific  Management,  New  York  and  London,  1913.  F.  W.  Taylor 
ist   Ehrenpräsident    der   American   Society   of   Mechanical   Engineers. 


—     6     — 

Sein  Buch  erschien  in  einer  deutschen  autorisierten  Ausgabe  von 
Dr.  jur.  Rudolf  Roesler,  Diplomingenieur,  unter  dem  Titel  "Die  Grund- 
sätze wissenschaftlicher  Betriebsführung",  München  und  Berlin,  1913. 

Georg  von  Skal,  Das  amerikanische  Volk,  Berlin,  1908.  Von 
Skal  ist  ein  deutsch-amerikanischer  Schriftsteller,  kam  mit  22  Jahren 
nach  Amerika,  lebte,  wie  er  im  Vorwort  ierzählt,  drei  Jahre  von  der 
Hand  in  den  Mund,  war  dann  10  Jahre  in  kaufmännischen  Geschäften 
verschiedener  Art  tätig  und  dann  16  Jahre  laug  in  der  Redaktion  der 
"New  Yorker  Staatszeitung".  Das  ausgezeichnete  und  anregende  Buch 
"möchte  zeigen,  wie  der  Amerikaner  ist,  denkt  und  lebt,  und  weshalb 
er  so  geworden,  wie  er  ist". 

Etnily  Kempin,  Doktor  beider  Rechte  der  Universität  Zürich, 
Dozent  der  Rechtswissenschaft  an  der  Universität  der  Stadt  New  York, 
Professor  für  gerichtliche  Medizin  am  New  York  Medical  College  und 
Hospital  for  Women,  Die  Rechtsquellen  der  Gliedstaaten  und  Territorien 
der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika  mit  vornehmlicher  Berücksichtigung 
des  bürgerlichen  Rechtes.  Zürich  1892. 

Emily  Greene  Balch,  Professor  der  politischen  Ökonomie, 
Wellesley  College,  Wellesley,  Massachusetts,  Die  slawische  Ein- 
wanderung in  den  Vereinigten  Staaten,  übersetzt  von  Dr.  Stephan 
V.  Philippovich,  1912.  Eine  Übersetzung  des  zweiten  Teiles  eines 
Buches,  das  Miss  Emily  Greene  Balch  im  Jahre  1910  unter  dem  Titel 
"Our  Slavic  Fellow  Citizen"  (unsere  slawischen  Mitbürger)  veröffentlicht 
hat  (Vorwort,  S.  III).  In  diesem  zweiten  Teile  beschreibt  Miss  Balch 
die  Schicksale,  die  den  Auswanderer  erwarten,  auf  Grund  von  Be- 
reisungen der  hauptsächlichsten  Einwanderungsgebiete  in  den  Vereinigten 
Staaten.  Ihre  Schilderungen  der  Hoffnungen,  Leiden  und  Erfolge  unserer 
slawischen  Mitbürger  in  dem  Suchen  nach  einem  neuen  Leben  in  einem 
fremden  Lande  wird  niemand  ohne  Interesse  lesen,  dem  die  Schicksale 
seiner  Mitmenschen  nicht  gleichgültig  sind  (Vorwort,  S.  IV). 

n.  : 

James  Bryce,  The  American  Commonwealth  (two  volumes, 
new  edition  completely  revised  throughout  with  additional  chapters, 
1911).  In  dem  im  Jahre  1888  geschriebenen  Vorwort  zur  ersten  Auflage 
dieses  großen  Werkes  wird  als  dessen  Aufgabe  die  Darstellung  der  wich- 
tigsten (the  more  salient)  sozialen  und  intellektuellen  Phänomene  des 
heutigen  Amerikas  bezeichnet.  Das  Werk  behandelt  in  sechs  Teilen 
nachstehende  Materien:  The  National  Government,  The  State  Governments, 
The  Party  System,  Public  Opinion,  lUustrations  and  Reflections,  Social 
Institutions.  Der  Verfasser  dieses  ausgezeichneten  und  grundlegenden 
Werkes  war  bis  vor  kurzem  englicher  Botschafter  in  Washington. 


H.  G.  Wells,  The  Future  in  America,  A  search  after  realities, 
Leipzig,  Tauchnitz  Collection,  1907.  In  deutscher  Übersetzung  unter 
dem  Titel  "Die  Zukunft  in  Amerika"  in  der  Sammlung  "Politische 
Bibliothek",  Jena,  1911,  erschienen.  Dieses  überaus  interessante  Werk 
eines  hervorragenden  Soziologen  ist  nach  einem  etwa  dreimonatigen 
Aufenthalt  im  Lande  geschrieben. 

James  Fullarton  Muirhead,  America,  The  Land  of  Contrasts, 
a  Briton's  View  of  bis  American  Kin.  London  und  New  York,  1909. 
Muirhead  ist  der  Verfasser  der  "Baedeker"  für  Großbritannien  und 
die  Vereinigten  Staaten. 

Alexis  de  Tocqueville,  De  la  ddmocratie  en  Amerique,  vier 
Bände.     Dieses  berühmte  Buch  ist  zum  erstenmal  1835  erschienen. 

Paul  Bourget,  Outre-Mer,  Notes  sur  l'Amörique.  Paris,  1894. 
Rambeau  bezeichnet  dieses  Buch  als  das  interessanteste,  geistreichste 
und  literarisch  wertvollste,  das  er  über  das  heutige  Nordamerika  gelesen 
habe.  Bourget  beschreibt  einerseits  als  Meister  desRomanpsychologique 
das  Leben  der  hohen  und  höchsten  Gesellschaft,  der  Millionäre  und 
Multimillionäre,  anderseits  die  Tummelplätze  und  Vergnügungsorte, 
das  Tun  und  Treiben  des  dunkelsten  New  York.  Das  eigentliche 
arbeitende  und  zur  Kirche  gehende,  nüchtern  denkende  amerikanische 
Volk  hat  Bourget  kaum  kennen  gelernt  (Rambeau,  a.a.O.,  S.  29). 


m. 

K.  Dove,  Professor  in  Jena,  Die  angelsächsischen  Riesenreiche, 
eine  wirtschaftsgeographische  Untersuchung;  II.  Die  Vereinigten  Staaten 
von  Nordatneriha,  1907.  Dove  zeigt  in  seiner  kleinen  Schrift  insbesondere, 
daß  die  Gliederung  der  Gebirge  in  Nordamerika  (von  Norden  nach 
Süden  mit  niedrigem  Anstiegfwinkel)  für  die  Erschließung  des  Verkehrs 
von  Osten  nach  Westen  von  nicht  genug  hoch  zu  wertender  Bedeutung 
gewesen  sei.^)  Das  Fehlen  großer,  von  Westen  nach  Osten  streichender 
Gebirgszüge  ist  in  dieser  Richtung  gewiß  ein  unbestreitbarer  Vorzug, 
das  Fehlen  aber  starker  Gebirgsabschlüsse  im  Norden  wie  im  Süden 
beeinflußt  das  Winter-  und  Sommerklima  zweifellos  in  nachteiligster 
Weise. 

Wilhelm  von  Potenz,  Das  Land  der  Zukunft,  2.  Auflage,  1903. 
Dieses  fein  geschriebene  Buch  enthält  interessante  historische,  politische, 
wirtschaftspolitische  und  kulturhistorische  Beobachtungen  und  Skizzen. 

^)  "Diese  bisher  kaum  gewürdigten  Unterschiede  der  Straßen  in 
diesem  Teile  der  Neuen  Welt  gegenüber  den  Hochgebirgsbahnen 
Europas  zeigen  uns  abermals,  wie  die  Natur  selbst  hier  einer  schnellen 
Erschließung  des  Landes  in  einer  Weise  vorgearbeitet  hat,  die 
gläubige  Gemüter  wie  eine  höhere  Bestimmung  anzumuten  vermag".  (S.  15.) 


—     8     — 

S.  2 ff.  heißt  es:  "Die  Rollen  scheinen  vertauscht  zu  sein.  Während 
früher  Europa  die  Welt  europäisiert  hat,  will,  wie  es  scheint,  Amerika 
nunmehr  seine  Mutterländer  amerikanisieren."  —  "Es  gibt  nicht  zwei 
Völker  auf  dem  ganzen  Erdenrunde,  die  so  viel  voneinander  lernen 
können  wie  das  amerikanische  und  das  deutsche."  Auf  S.  4  sagt  der 
Autor:  "Die  Besiedlung  Nordamerikas  durch  die  Europäer,  die  Ent- 
stehung einer  neuen,  großen  Nation  im  hellen  Lichte  der  Weltgeschichte 
wird  kommenden  Geschlechtem  vielleicht  als  die  wichtigste,  jedenfalls 
aber  als  die  außerordentlichste  Erscheinung  der  Weltentwicklung  in 
der   neueren  Zeit   erscheinen." 

Dr.  Hintrager,  Wie  lebt  und  arbeitet  man  in  den  Vereinigten 
Staaten,  1904.  Der  Zweck  des  Buches  ist,  ein  anschauliches  Bild 
des  Lebens  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika  auf  Grund  von 
Aufzeichnungen  während  dreimaliger  längerer  Studienreisen  zu  geben. 
"Das  Buch  enthält  eine  möglichst  vorurteilslose  Darstellung  einzelner 
Gelegenheitsbilder."  Es  beschreibt  das  Leben  auf  der  Farm,  in  der 
Schule,  auf  dem  Bureau  des  Rechtsanwalts,  im  Gerichtssaal,  in  den 
Strafanstalten  und  charakterisiert  in  treffender  Weise  Amerika  als  das 
Land  der  Arbeit  (S.  210 ff.).  In  den  knappen  und  feinen  Schluß- 
betrachtungen finden  sich  folgende  treffende  Bemerkungen:  "Die 
gebildeten  Amerikaner  geben  sich  keinen  Illusionen  darüber  hin,  daß 
ihnen  das  Glück  in  wunderbarer  Weise  gelächelt  hat  und  daß  die 
Tage  der  Prüfungen  und  der  großen  Aufgaben  noch  im  Schöße  der 
Zukunft  liegen.  —  Als  die  nächsten  Probleme  erscheinen  ihnen  die 
Negerfrage  und  die  Anhäufung  der  Geldmacht  in  wenigen  Händen. 
—  Wozu  wird  der  Kampf  zwischen  den  modernen  Feudalherren  des 
Großkapitals  und  den  Massen  führen?  Solange  die  Massen  hier  immer 
noch  mehr  um  Komfort  kämpfen  als  um  das  Dasein,  solange  ist  dieser 
Kampf  noch  immer  nicht  auf  seiner  Höhe.  Es  wird  erst  dann  zu 
seinem  vollen  Ernste  gelangen,  wenn  die  Bevölkerung  dichter  geworden 
ist.  —  Dann  erst  werden  die  wirtschaftlichen  und  staatlichen  Grund- 
lagen der  Vereinigten  Staaten  die  Feuerprobe  zu  bestehen  haben." 

Ludwig  Max  Goldberger,  Das  Land  der  unbegrenzten  Möglich- 
keiten, 8.  Auflage,  1911.  Dieses  Werk  eines  hochgebildeten  KaufmanneSj 
Nationalökonomen  und  Statistikers  ist  nach  einem  achtmonatigem 
Aufenthalt  in  den  Jahren  1901  und  1902  in  den  Vereinigten  Staaten 
geschrieben  und  gibt  vorzugsweise  Beobachtungen  über  das  Wirtschafts- 
leben der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika.  Das  Buch  enthält  unter 
anderem  eine  allerdings  schon  mit  1.  September  1903  abschließende  Über- 
sicht über  die  in  den  Vereinigten  Staaten  arbeitenden  Trusts  (S.  225  ff.) 
eine  Kritik  des  Trustwesens  (S.  204  ff.),  ausgezeichnete  Ausführungen 
über  die  Arbeiterfrage  (S.  189  ff.).  Wir  sehen  in  diesem  Buch,  und  ich, 
halte  dies,  abweichend  von  Plengö  ("Die  Zukunft  in  Amerika",  S.  27) 
für  ein  Verdienst  desselben,  das  Amerika  der  großen  Zahlen. 


—     9     — 

Karl  Lamprecht,  Professor  in  Leipzig,  Americana,  Reise- 
eindrücke, Betrachtungen,  geschichtliche  Gesamtansicht,  1905.  Einer 
meiner  amerikanischen  Freunde  war  über  so  manches  schroffe  Urteil 
in  den  Reiseeindrücken  schmerzlich  entrüstet  und  hat  dadurch  die 
Geduld  verloren,  Lamprechts  Reiseeindrücke  weiterzulesen.  Auch 
in  Plenge  ("Die  Zukunft  in  Amerika",  S.  27  und  S.  44)  sowie  in 
Rambeau  ("Aus  und  über  Amerika",  S.  32ff.)  hat  Lamprecht 
scharfe  Kritiker  gefunden.  Die  Urteile  Lamprechts  sind  überall, 
auch  wo  sie  scharf,  und  nicht  ganz  gerecht  sind,  infolge  ihrer  starken 
Subjektivität  überaus  interessant.  Die  historische  Gesamtansicht,  mit 
welcher  der  große  Historiker  sein  Buch  schließt,  wird  auch  den 
empfindlichsten  Amerikaner  versöhnen  und  gehört  zu  dem  glänzendsten, 
was  über  Amerika  geschrieben  wurde. 

Johann  Plenge,  Professor  in  Leipzig,  hat  in  einer  eigenen 
Abhandlung  Die  Zukunft  in  Amerika,  1912  (Sonderabdruck  aus 
"Annalen  für  Sozialpolitik  und  Gesetzgebung",  I.  Band)  zu  dem  oben 
■erwähnten  Buche  von  Wells  Stellung  genommen.  Plenge  nennt 
"Wells  den  Dichter  des  konstruktiven  Sozialismus  und  einen  Dichter 
von  leidenschaftlichem  Überschwang.  Es  bleibe  ihm  die  Poetenaufgabe, 
die  Gemüter  für  große  Aufgaben  zu  begeistern  (S.  26).  Die  sozial- 
wissenschaftliche Betrachtungsweise  sei  eine  seltene  Kunst  und  "Wells 
sei  einer  der  wenigen,  die  in  der  echten  Kunst  sehr  weit  gekommen 
sind  (S.  28). 

Dr.  Adolf  Rambeau,  Professor  der  romanistischen  Philologie 
an  der  Universität  Berlin,  Lehrer  des  Englischen  im  Seminar  für 
orientalische  Sprachen,  Aus  und  über  Amerika,  Studien  über  die  Kultur 
in  den  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika,  1.  Serie,  1912.  Rambeau 
verdankt  seine  Kenntnis  amerikanischer  Verhältnisse  einem  im  ganzen 
14  jährigen  Aufenthalt  in  Amerika  iind  einem  noch  viel  längeren 
intimen  Verkehr  mit  Amerikanern.  Rambeau  ist  Professor  der 
romanischen  Sprachen  an  einer  bedeutenden  Universität  Nordamerikas, 
Professor  der  neueren  Sprachen  und  Leiter  der  diesbezüglichen  Abteilung 
(Head  of  department)  an  einem  großen  technologischen  Institut  sowie 
Direktor  des  fremden,  alten  und  neueren  Sprachunterrichts  an  der 
doppelten  volkstümlichen  Hoch-  oder  Oberschule  gewesen. 

Arthur  Holitscher,  Amerika  heute  und  morgen,  1912,  das 
interessante  Buch  eines  geistreichen  Schriftstellers,  ausgezeichneten 
'Beobachters  und  scharfen  Kritikers.  Das  uns  jetzt  nähergerückte 
Kanada  wird  uns  in  einer  Reihe  von  Aufsätzen  geschildert. 

Theodor  Barth,  Amerikanische  Eindrücke.  Berlin,  1907.  Eine 
impressionistische  Schilderung  amerikanischer  Zustände  in  Briefen. 
'Wie  schwer  es  ist,  die  Chancen  von  Präsidentschaftskandidaten  ein- 
zuschätzen, zeigt  das  interessante  Nachwort. 


—    10    - 

Oskar  Lohan,  Das  Deutschtum  in  den  Vereinigten  Staaten  von 
Amerika,  Berlin  und  New  York  1913.  Der  Autor  ist  durch  25  Jahre 
Konsularbeamter  des  Deutschen  Reiches  in  den  verschiedensten  Teilen 
der  Vereinigten  Staaten  gewesen  und  seine  treffenden  Schilderungen 
des  Deutschtums  in  Amerika  fußen  daher  auf  eigenen  Erlebnissen. 

Dr.  Karl  Ritter  von  Englisch,  Die  Lehren  der  amerikanischen 
Einwanderungsstatistik,  "Statistische  Monatsschrift",  XXXVII.  Band 
1911,  S.  345  ff. 


IV. 

Dr.  J.  M.  Baernreither,  Jugendfürsorge  und  Strafrecht  in  den 
Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika.  Ein  Beitrag  zur  Erziehungs- 
politik unserer  Zeit,  1905. 

Professor  Dr.  Adolf  Lenz,  Die  angloamerikanische  Reform- 
bewegung im  Strafrecht.  Eine  Darstellung  ihres  Einflusses  auf  die 
kontinentale  Rechtsentwicklung,  1908. 

Dr.  Oskar  Hintrager,  Amerikanisches  Gefängnis-  und  Strafen- 
wesen, Tübingen  1900. 

Dr.  Paul  Herr,  Das  moderne  amerikanische  Besserungssystem. 
Eine  Darstellung  des  Systems  zur  Besserung  jugendlicher  Verbrecher 
im  Strafrecht,  Strafprozeß  und  Strafvollzug  (The  Reformatory  System) 
in  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika.  Ergebnisse  einer  Studien- 
reise und  zugleich  ein  Beitrag  zur  Reform  der  deutschen  Straf- 
gesetzgebung, 1907. 

Professor  Graf  Gleispach,  tlber  amerikanische  Jugend- 
strafanstalten. Ein  Vortrag,  gehalten  am  3.  Jänner  1912  über 
"Einladung  der  Zentrale  für  Kinderschutz  und  Jugendfürsorge  in  Wien. 
Separatabdruck  aus  Nr.  2  und  3,  IV.  Jahrgang  der  "Zeitschrift  für 
Kinderschutz  und  Jugendfürsorge". 

Georg  Stamm  er.  Amerikanische  Jugendgerichte,  ihre  Entstehung, 
Entuncklung  und  Ergehnisse,  Berlin,  1908. 

Gudden,  Professor  der  Psychiatrie,  Die  Behandlung  der  jugend- 
lichen  Verbrecher  in  den   Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika,  1910. 

Dr.  Heinrich  Reicher,  Kinderschutz  und  Kinderfilrsorge  in 
der  alten  und  neuen  Welt.  Sonderbeilage  zu  Nr.  22,  II.  Jahrgang  des 
"Zentralblattes  für  Vormundschaftswesen,  Jugendgerichte  und  Fürsorge- 
jerziehung".  Diese  kleine,  aus  dem  literarischen  Nachlasse  des  ausge- 
zeichneten, viel  zu  früh  verstorbenen  Philanthropen  und  Sozialpolitikers 


—    11    — 

von  der  Eedaktion  des  zitierten  Zentralblattes  veröffentlichte  Schrift 
enthält  unter  anderem  sehr  interessante  Mitteilungen  über  eine  Studien- 
reise in  Amerika.  Dr.  Heinrich  E  ei  eher  ist  der  bekannte  Autor  des 
großen  dreibändigen  Werkes  "Die  Fürsorge  für  die  verwahrloste 
Jugend",  1904  bis  1908,  sowie  der  Schrift  "Das  IVIindestmaß  an 
Erziehung",   1909. 

Dr.  jur.  E.  Münsterberg,  Amerikanisches  Armenwesen,  in  den 
Schriften  des  Deutschen  Vereines  für  Armenpflege  und  Wohltätigkeit, 
77.  Heft.    Leipzig,  1906. 

Heinrich  Waentig,  Professor  in  Halle  a.  S.,  Die  amerikanischen 
Law  Schools  und  die  Reform  des  Rechtsunterrichts  in  Preußen. 
Schmollers  Jahrbuch,  1902,  4.  Heft,  S.  79  ff. 

Rudolf  Leonhard,  Austauschgedanke  auf  juristischem  Gebiete 
in  der  "Internationalen  Wochenschrift  für  Wissenschaft,  Kunst  und 
Technik",  herausgegeben  von  Hinneb erg,  Berlin,  1908,  S.  833ff. 
R.  Leonhard  war  "Kaiser  Wilhelm- Professor"  an  der  Columbia 
üniversity  im  Wintersemester  1908.  Von  ganz  besonderem  Interesse 
sind  seine  Ausführungen  über  das  römische  Recht  als  Gegenstand  des 
amerikanischen  Eechtsunterrichts. 

D.    W.    Böttger,    Amerikanisches   Hochschulwesen ,    Eindrücke 

und  Betrachtungen,  1906.  .    i.,  \t>. 

D.  h.  c.  Max  Walter,  Beobachtungen  über  Unterricht  und 
Erziehung  in  den   Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika,  1912. 

Dr.  Paul  Cohn,  Das  Bildungswesen  in  den  Vereinigten  Staaten 
von  Nordamerika,  Wien,  1906. 

Sigmund  Müller,  Professor  an  der  königlichen  Technischen 
Hochschule  in  Berlin,  Technische  Hochschulen  in  Nordamerika  in  der 
Sammlung  "Aus  Natur  und  Geisteswelt",  1908. 

Dr.  Heinrich  Schwegel,  k.  u.  k.  Vizekonsul  in  Chicago,  Die 
Einwanderung  in  die  Vereinigten  Staaten  von  Amerika,  mit  besonderer 
Rücksicht  auf  die  österreichisch-ungarische  Auswanderung,  "Zeitschrift 
für  Volkswirtschaft,  Sozialpolitik  und  Verwaltung",  1904,  XIIL,  S.  160 
bis  207. 

Derselbe  Autor,  "Über  die  neue  deutsche  Amerikaliteratur,  Bei- 
trag zu  den  'Beiträgen  zum  Verständnis  Amerikas',"  Vortrag,  gehalten 
am  15.  Dezember  1903  in  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte 
zu  Wien,  Separatabdruck  aus  der  "Volkswirtschaftlichen  Wochenschrift" 
von  Alexander  Dorn,  Wien,  1904. 

Dr.  Franz  Ritter  von  Srbik,  Die  Auswanderungsgesetzgebung. 
"I.  Die  Grundzüge  der  wichtigsten  europäischen  Auswanderungsgesetze 


—     12     — 

(mit  Berücksichtigung  der  beiden  österreichischen  Entwürfe).  EL.  Die 
wichtigsten  europäischen  Auswanderungsgesetze  (mit  Berücksichtigung 
der  beiden  österreichischen  Entwürfe)  und  ihre  wichtigsten  Vollzugs- 
vorschriften." Im  Auftrage  des  k.  k.  Handelministeriums  dargestellt 
und  gesammelt,  1911. 


Anhang. 

Columbia  University  Bulletin  of  Information,  Catalogue  and 
General  Announcements  for  1911 — 1912. 

Harvard  University  Catalogue,  1911—1912,  sowie  eine  Anzahl 
von  Nummern  des  Official  Register  of  Harvard  University  und  von  in 
der  Graduate  School  of  Business  Administration  der  Harvard  Univer- 
sity benützten  Final  Examination  Papers,  femer  A  brief  Guide  to  the 
Grounds  and  Buildings  of  Harvard  University  including  a  description 
of  Harvard  College  and  the  Graduate  Sehools. 

Annual  Register  for  July  1910  tili  July  1911,  with  Announce- 
ments for  1911/12,  der  Universität  Chicago  (sowie  eine  Anzahl  von 
Heften,  Announcements,  Bulletins  of  Information,  Circulars  of  In- 
formation). 

A  Sketch  of  the  History  and  Organization  of  Harvard  Uni- 
versity, Reprinted  in  revised  form,  by  permission,  from  Cyclopedia  of 
Education,  volume  111,  edited  by  Paul  Monroe,  Ph.  Dr.  (New  York, 
the  Macmillan  Company,  Copyright,  1912),  1913. 

Hüll  House  Year  Book,  January  Ist,  1913, 

Jane  Addams,  Twenty  Years  at  Hüll  House,  with  Autobiographical 
Notes,  New  York,  1912. 

Stephan  A.  Foster  of  the  Chicago  Bar,  Formerly  Associate  Judge 
of  the  Municipal  Court  of  Chicago,  The  Municipal  Court  of  Chicago, 
Chicago,  1912. 

The  Code  of  Criminal  Procedure  of  the  State  of  New  York 

being  Chapter  442,  Laws  of  1881,  as  amended  by  Laws  of  1882 — 1912 
inclusive,  with  Notes  of  Decisions,  Forms  and  Indices.  Edited  by 
Lewis  R.  Parker  of  the  Albany  Bar.  Twelfth  edition  by  Amasa 
J.  Parker,  Jr.,  of  the  Albany  Bar,  1912. 

Penal  Law  of  the  State  of  New  York  being  Chapter  88  of 
the  Laws  of  1909,  as  amended  by  the  Laws  of  1909—1912,  with  Notes, 
Forms  and  Index,  Fourth  edition,  edited  by  Amasa  J.  Parker,  Jr.,  of 
the  Albany  Bar,  1912. 


—     13     — 

«The  Delinquent  Child  and  the  Home."  Dieses  von  der  Rüssel 
Sage  Fundation  1912  veröffentlichte,  im  Kapitel  III  näher  zu  besprechende 
Werk  enthält  auf  p.  247  sq.  einen  vortrefflichen  Abstract  of  Juvenile 
Court  Laws. 

Der  54.  Jahresbericht  der  Berliner  Juristischen  Gesellschaft  für 
die  Zeit  vom  1.  April  bis  31.  Dezember  1912,  S,  29  ff.,  enthält  ein 
Referat  über  den  Vortrag  von  P.  S.  Reinsch,  Professor  an  der  Uni- 
versität Madison  im  Staate  Wisconsin,  Die  Stellung  des  Richterstandes 
in  den  Vereinigten  Staaten. 

Hand  Book  of  the  New  York  State  Reformatory  at  Elmira, 
compiled  by  Fred  C.  Allen  of  the  Administration  Staff  (The  Summary 
Press,  1906). 

Report  of  the  State  Board  of  Managers  of  Reformatories, 

1909;  ferner  die  Reports  der  Jahre  1910,  1911,  1912,  gedruckt  in  der 
Summary  Press  des  Reformatory. 

Annual  Report  of  the  Superintendent  of  State  Prisons  for  the 
Year  Ending  September  30th,  1910  (January  1911)  und  derselbe  Report 
for  the  Year  Ending  September  30*,  1911  (January  1912). 

Die  Verfassung  der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika  sowie 
die  Verfassung  des  Staates  New  York  sind  nach  der  bei  Freund, 
a.  a.  0.  (vgl.  oben  S.  2),  S.  339 ff.,   mitgeteilten  Übersetzung  zitiert. 


I.  Kapitel. 

Colleges,  Universitäten,  Rechtsschulen. 

Während  die  amerikanische  Universität  ihren  An- 
stoß und  in  hohem  Maß  ihre  Form  von  Deutschland 
empfing,  hat  das  amerikanische  College  ohne  Frage 
seine  Wurzel  in  englischer  Tradition  (Wheeler  in 
der  oben  S.  3  zitierten  Schrift,  S.  63).  Der  Euro- 
päer, der  von  amerikanischen  Universitäten  sprechen 
hört,  muß  sich  vor  allem  hüten,  das  Wort  Uni- 
versity  ohneweiters  in  unserem  Sinne  zu  verstehen. 
Das  Wort  University  wird  vielmehr  sehr  häufig  identisch 
mit  College  gebraucht  und  für  jede  Schule  angewendet, 
welche  über  die  sogenannte  High  School,  Oberschule 
(einer  etwa  dem  österreichischen  Gymnasium  bis  ein- 
schließlich der  Quinta,  dem  deutschen  Gymnasium  bis 
einschließlich  der  Untersekunda  entsprechenden  Schule), 
hinausgeht.!)  Institute,  die  man  in  unserem  Sinn  als 
Universitäten    ansehen    kann,    und    welche    ein    starkes 


^)  Im  Staate  Illinois  gibt  es  zum  Beispiel  29  Colleges  and  Higher 
Institutions  of  learning,  von  welchen  7  Universitäten  heißen  (zu  diesen 
gehört  neben  der  Rockefeiler  University  in  Chicago  unter  anderen  auch 
die  römisch-katholische  Loyola-Universität  in  Chicago,  The  American 
States  man's  Year  Book,  p.  113).  Im  Staate  New  York  gibt  es  neben  der 
Columbia-Universität  noch  folgende  Universitäten:  eine  New  York 
University,  dann  die  Union  University  in  Schenectady,  die  Alfred 
University  in  Alfred,  die  Fordham  University  in  New  York,  die 
University  of  Eochester,  die  Niagara-Universität,  die  St.  Lawrence 
University  in  Canton,  die  Cornell  University  in  Ithaka,  die  Syracuse 
University  in  Syracuse  (Year  Book,  p.  228 sq.). 


—    15    — 

Element  dessen  in  sich  vereinen,  was  man  in  Deutsch- 
land und  Österreich  unter  Universitätsstudium  versteht, 
haben  Graduate  Schools  von  mehreren  hundert  Teil- 
nehmern und  eine  oder  mehrere  Fachschulen, 2)  Die 
Graduate  Schools  kommen  unseren  philosophischen 
Fakultäten  nahe.  Den  Abschluß  des  Studiums  an  den- 
selben bildet  der  Doctor  philosophiae  (Ph.  Dr.),  den 
Abschluß  des  Collegestudiums  der  B.  S.  (Bachelor  of 
Science).  Die  meisten  Studierenden  der  Graduate  Schools 
haben  also  bereits  den  Grad  eines  Bachelor  erlangt.  Zum 
Eintritt  in  das  juristische  oder  medizinische  Fachstudium 
bedarf  es  an  vielen  Universitäten  des  Abschlusses  des 
Collegestudiums  nicht,  sondern  es  genügen  zwei  oder  drei 
Jahre  des  vierjährigen  Collegestudiums  zum  Eintritt  in  die 
Law  School  oder  in  die  Medical  School.  Der  Jurist  oder 
Mediziner  ist  also  an  diesen  Universitäten  in  der  Lage, 
den    das    Collegestudium    abschließenden    Degree    eines 


Im  Columbia  District  gibt  es  neben  der  Catholie  University  of 
America  in  Washington  die  Georgetown  University,  dann  die  (reo. 
Washington  University  und  Harvard  University  sowie  vier  Colleges 
(Year  Book,  p.  89). 

In  West  Point,  im  Staate  New  York  befindet  sich  die  United 
States  Military  Academy.  In  Annapolis  im  Staate  Maryland  befindet 
sich  die  United  States  Naval  Academy,  die  Marineakademie. 

^)  Die  amerikanischen  Universitäten  sind  also  nicht  wie  die 
englischen  Universitäten  in  Oxford  und  Cambridge  bloß  eine  Ver- 
bindung einer  Anzahl  von  Colleges.  Auch  den  Typus  einer  bloßen 
Examining  University  gibt  es  in  Amerika  nicht.  Solche  Examining 
Universities  sind  ziim  Beispiel  die  Universitäten  in  Britisch-Indien 
von  Bombay,  Calcutta  und  Allahabad.  In  dem  oben  (S.  4)  zitierten 
Aufsatze  von  David  Starr  Jordan,  "Universität  und  College  in 
Amerika"  findet  sich  (S.  1212)  folgende  Bemerkung:  "In  Oxford  und 
Cambridge  ist  die  Universität  nichts  als  eine  Verbindung  der  ver- 
schiedenen Colleges  zum  Zwecke  der  Verleihung  von  Degrees.  Es  ist 
die  Prüfungsbehörde  der  verschiedenen  Colleges".  Die  Universität 
Cambridge  sei  neben  einer  Examining  University  im  besten  Sinne  des 
Wortes  eine  Teaching  University  geworden.  Die  University  of  London, 
welche  allerdings  vor  kurzem  eine  Reihe  bisher  selbständiger  Lehr- 
anstalten sich  angegliedert  hat,  ist  in  erster  Linie  eine  Prüfungs- 
behörde. 


—     16    — 

B,  A.  oder  B.  S.  erst  zu  erwerben,  nachdem  er  bereits 
ein  oder  zwei  Jahre  gleichzeitig  an  seiner  Berufsfakultät 
studiert  hat.  Ich  werde  später  näheres  über  den  Bildungs- 
gang eines  amerikanischen  Juristen  oder  Mediziners, 
sowie  über  Colleges  und  Universitäten  zu  sagen  haben. 
Zunächst  möchte  ich  aber  von  meinem  Besuche  der 
jungen  Rockefeller-Universität  in  Chicago  und  der  alten 
Harvard-Universität  in  Cambridge  bei  Boston  erzählen.3) 

Die  Universität  in  Chicago  ist  an  die  äußerste  Stadt- 
peripherie gelegt.  Die  Universität  ist  so  reich  mit  Gründen 
ausgestattet,  der  "Campus"  der  Universität  ist  so  groß, 
daß  ihr  ein  selbständiges  Dasein  als  Universitätsstadt 
und  der  Universitäts- Campus  vor  einer  völligen  Ein- 
engung durch  die  hinausrückende  Großstadt  gesichert 
erscheint.*) 

Ich  fuhr  am  Donnerstag  den  11.  April  1912  mit  der 
Illinois  Central-Eisenbahn,  deren  Station  in  der  Michigan 
Avenue  ganz  nahe  den  großen  Hotels  liegt,  nach  der 
57.  Straße.  Von  da  hatte  ich  noch  reichlich  15  Minuten 
bis  zur  Mandel  Hall.  In  der  Leon  Mandel  Assembly  Hall 
hatte  ich  verabredungsgemäß  mit  Professor  Henderson 
zusammenzutreffen.  In  dieser,  nach  ihrem  Stifter,  einem 
Großkaufmanne  von  Chicago  benannten  Hall,  welche  seit 
1903  in  Verwendung  steht,  werden  Orchesterkonzerte 
und  dramatische  Aufführungen  abgehalten ;  in  dieser  Hall 
finden  auch  die  täglichen  Chapel  Assemblies,  sowie  die 
Sonntagsgottesdienste  statt. 


^)  Die  Columbia  Üniversity  in  New  York  konnte  ich  leider  nicht 
besuchen,  ich  mußte  mich  darauf  beschränken  —  es  war  an  einem 
Karsamstag  nachmittag  —  einige  der  Gebäude,  eine  Anzahl  von  Hör- 
sälen und  die  Bibliothek  zu  besichtigen. 

*)  The  William  Rainey  Harper  Memorial  Library  ist  am  10.  und 
11.  Juli  1912  eröffnet  worden.  Die  schön  ausgestattete  Festschrift  ist 
mir  durch  die  Freundlichkeit  der  üniversitätsbehörden  zugesendet 
worden.  Aus  dieser  Festschrift  entnehme  ich,  daß  die  Gründe  der 
Universität  100  Acres  betragen  und  daß  die  Längsseite  des  Viereckes 
der  Universitätsgründe  gegen  drei  Viertel  Meilen  betragen  (ungefähr 
1200  Meter). 


—     17     — 

Professor  Henderson  erschien  pünktlicü  um  halb 
elf  Uhr.^)  Mit  ihm  zugleich  erschien  der  Dean  der  Junior 
Colleges,  R.  M.  Lovett.^)  Schon  vorher  war  der  Univer- 
sitätsorganist gekommen.  Wir  begaben  uns  in  die  Hall 
zum  Gottesdienst.  Ich  hatte  ebenso  wie  die  beiden 
anderen  Herren  einen  Professoren-Gown  anzulegen.  Es 
war  ein  Gottesdienst  des  Junior  College,  und  zwar  ein 
Gottesdienst  für  Frauen.  Es  wurden  Lieder  unter  Orgel- 
begleitung gesungen.  Junge  Damen  in  Gown  standen 
auf  der  Estrade  neben  der  Orgel.  Auf  der  anderen  Seite 
standen  wir  drei  Professoren.  Dann  sprach  der  Dean  und 
dann  der  Chaplain  Henderson  erbauliche  Worte.  Es  war 
dies  das  erste  und  einzige  Mal  in  meinem  Leben,  daß 
ich  einen  Professoren-Talar  angelegt  habe.  Dann  wurde 
es  elf  Uhr  und  wir  gingen  in  die  Vorlesung  (Class)  des 
Professor  Henderson.  Der  Titel  der  Vorlesung  war,  wie 
ich  glaube,  folgender :  Contemporary  Charities.  —  Studies 
of  the  nature  and  origin  of  depressed  and  defective 
classes;  principles  and  methods  of  relief;  Organisation 
of  benevolence.  Mj.  Spring  Quarter,  11:00  (Annual  Re- 
gister, p.  250).  Henderson  ließ  mich  zu  seiner  Rechten 
Platz  nehmen  und  teilte  der  Versammlung  mit,  daß  ich  ihm 
von  Baernreither  empfohlen  sei,  dessen  Buch  "Jugend- 
fürsorge und  Straf  recht  in  den  Vereinigten  Staaten  von 
Amerika"  er  übersetzt  habe  (oder  übersetzen  wolle). 
Reichlich  zwei  Drittel  des  Auditoriums  waren  Damen. 
Er  sprach  von  den  amerikanischen  Jugendgerichten  und 
fragte   mich,    ob   wir   in   Österreich   solche  hätten.    Ich 


:*)  Professor  Charles  Kichmond  Henderson  ist  Universitäts- 
kaplan (Chaplain)  und  Professor  der  Soziologie  an  der  theologischen 
Fakultät  (Professor  and  Head  of  the  Department  of  Ecclesiastical 
Sociology  —  Annual  Register  of  the  üniversity  of  Chicago,  1910/11, 
p.  133).  Henderson  ist  auch  Mitglied  der  Faculty  of  the  Colleges 
of  Arts,  Literature  and  Science  (Annual  Register,  p.  76). 

')  Dieser  sehr  liebenswürdige  Kollege  begrüßte  mich  sofort  mit 

den  Worten,  daß  er  einmal  auf  einer  Reise  mehrere  angenehme  Tage 
in  Graz  verlebt  habe. 

Hanaasek,  Amerikanische  Skizzen.  2 


—     18    — 

führte  in  längerer  Darstellung  aus,  in  welchem  Sinne  es 
nach  dem  gegenwärtigen  Stande  der  österreichischen  Ge- 
setzgebung ein  Jugendstrafrecht  gebe,  und  sprach  von  der 
Begnadigung  Jugendlicher  sowie  über  die  Jugendfürsorge- 
bestrebungen in  Österreich.  Henderson  ließ  dann  eine 
junge  Dame  eine  Art  Bericht  vortragen.  Der  Gegenstand 
war  die  Schilderung  des  Lebenslaufes  eines  jungen 
Burschen,  das  Milieu  des  Elends  seiner  Familie  und 
dessen  Rückwirkung  auf  die  Sittlichkeit  des  jungen 
Burschen.  Dann  sprach  Henderson  selbst  über  die  Für- 
sorge für  die  Jugend.  Die  Stunde  war  rasch  um.  Hen- 
derson sprach  wie  ein  hochgebildeter  Pädagoge  und 
Soziologe,  erfüllt  von  hochsinnigen  Ideen  der  Humanität. 
Er  erzählte  unter  anderem,  daß  am  vergangenen  Abend 
im  Auditorium'^)  eine  Versammlung  stattgefunden  habe, 
die  sich  mit  der  Frage  der  Jugendfürsorge  beschäftigt  und 
insbesondere  die  Frage  der  Verantworthchkeit  der  Eltern 
in  Betracht  gezogen  habe.^) 

Die  Universitätsvorträge  sind  in  Amerika  vielfach 
Diskussionen  und  an  die  Unterrichtsform  in  unseren 
Seminarien  erinnernd.  Die  dialogisch-konversatorische 
Methode  ist  an  die  Stelle  der  bloßen  Vorträge  getreten. 
Um  zwölf  Uhr  ging  Henderson  eine  andere  Vorlesung 
zu  halten  und  übergab  mich  einem  jungen  Manne,  welcher 
mich  eine  Stunde  und  länger  in  den  Gebäuden  der  Univer- 
sität herumführte.  Ich  sah  unter  anderem  die  Law 
School,  die  in  dem  Law  Building  untergebracht  ist.  In 
den  Hörsälen  hingen  eine  Menge  Bilder  von  Judges. 

Nach  ein  Uhr  traf  ich  meinen  Gastgeber  im 
Quadrangle  Club,  dem  Klub  der  Universitätsprofessoren. 
Die  sehr  einfachen  Klublokalitäten  bestehen  aus  Lese- 


')  Das  Auditorium  in  Chicago  enthält  ein  großes  Hotel  und 
ein  schönes  Theater  mit  4200  Sitzen.  In  diesem  Theater  werden 
Konzerte  und  an  Sonntagen  gottesdienstliche  Versammlungen  ab- 
gehalten. 

*)  Vgl.  hiezu  unten  S.  108,  Anmerkung  7. 


—     19    — 

zimmern  und  Speisesälen,  welche  behaglich  und  kom- 
fortabel eingerichtet  sind.  Es  gibt  natürlich  auch  Dining 
Halls  für  die  Studenten,  Lesehallen  mit  Billards,  Dor- 
mitories  für  die  männlichen  und  weiblichen  Studenten. 
Ich  nahm  an  dem  Lunch  als  Gast  Hendersons  :teil, 
mit  uns  speiste  Professor  von  Noe,  ein  Grazer,  welcher 
Professor  der  deutschen  Literatur  an  der  Universität 
Chicago  ist.  Geistige  Getränke  sind  im  Universitätsbezirke 
verboten. 

Die  Universitätslehrer  in  Chicago  sind  in  folgender 
Weise  eingeteilt:  The  Professor  oder  Professor  of  füll 
rank,  unseren  ordentlichen  Professoren  gleichkommend. 
Der  Universitätssenat  besteht  aus  allen  Professoren  of 
füll  rank.  Dann  gibt  es  den  Associate  Professor,  welcher 
auf  Lebenszeit  ernannt  wird,  und  den  von  vier  zu  vier 
Jahren  ernannten  Assistant  Professor,  welche  ungefähr 
unseren  außerordentlichen  Professoren  gleichstehen.  Dann 
gibt  es  Instruktoren,  welche  auf  drei  Jahre  ernannt 
werden,  ferner  Associates,  Assistants  und  Readers,  welche 
ungefähr  den  deutschen  Universitätsassistenten  ent- 
sprechen (A.  R.,  p.  7).  Es  gibt  auch  einige  wenige,  den 
deutschen  Privatdozenten  etwa  entsprechende  Dozenten; 
diese  Einrichtung  ist  jedoch  auf  den  amerikanischen 
Universitäten  nicht  populär.  Endlich  gibt  es  Fellows, 
Stipendisten,  welche  ihr  Stipendium  gewöhnlich  für  ein 
Jahr  erhalten.9) 

Die  Universität  Chicago  zählt  folgende  Fakultäten: 
Die  theologische  Fakultät  (Divinity  School),  die  juristische 
Fakultät  (Law  School),  dann  the  Faculties  of  the  Graduate 
School  of  Arts  and  Literature  and  of  the  Ogden  (Graduate) 


•)  Der  normale  Gehalt  des  ordentlichen  Professors  in  Chicago 
beträgt  zwischen  3000  und  7000  Dollars;  der  Gehalt  des  Associate 
Professor  zwischen  2500  und  3000  DoUars;  der  Gehalt  eines  Assistant 
Professor  beginnt  mit  2000  und  steigt  bis  2500  DoUars;  der  Gehalt 
der  Instruktoren  beträgt  1200  bis  1800  Dollars;  die  Gehälter  der 
Associates,  Assistants  und  Readers  betragen  zwischen  600  und 
1000  Dollars;  die  Stipendien  der  Fellows  betragen  120  bis  250  Dollars. 

2* 


—     20    — 

School  of  Science  10)^  sowie  die  Faculty  of  the  Colleges 
of  Arts,  Literature  and  Science-  Die  beiden  letzten,  also 
die  Graduate  School  und  die  Colleges  of  Arts,  Literature 
and  Science,  zusammen,  entsprechen  unserer  philoso- 
phischen Fakultät,  vermehrt  um  die  zwei  obersten 
Klassen  etwa  eines  deutschen  oder  eines  österreichischen 
Gymnasiums.  Ferner  gibt  es  noch  eine  Faculty  of  the 
College  of  Education.  Es  gibt  keine  medizinische 
Fakultät,  wohl  aber  einen  Dean  in  Medical  Work  (A.  R., 
p.  76,  p.  18). 

Eine  Eigentümlichkeit  der  Universität  Chicago  ist 
die  für  unsere  Vorstellung  ganz  eigenartige  Konzentration 
des  gesamten  Unterrichts  in  dieser  Anstalt.  Die  Uni- 
versität enthält  ebenso  einen  Kindergarten,  wie  die 
verschiedenen  Fakultäten  in  unserem  Sinne.  Dieselbe 
enthält  aber  auch  ein  College  of  Education,  in  welchem 
Lehrer  für  die  Elementarschule  und  für  die  Oberschule 
(High  School,  vgl.  oben  S.  14)  ausgebildet  werden.  Die 
Universität  enthält  ferner  ein  Graduate  Department  of 
Education,  in  welchem  die  Lehrer  für  die  Colleges  aus- 
gebildet werden. 

An  der  Universität  Chicago  sind  Frauen  zugelassen^ 
und  zwar  nicht  nur  an  den  Unterschulen  und  in  der 
High  School,  sondern  vor  allem  im  College,  der  eigent- 
lichen  nationalen   amerikanischen   Bildungsstätte. n) 


^0)  An  dieser  Graduate  School  wird  nach  einem  Jahre  der  Magister 
Artium  (M.  A.),  nach  drei  Jahren  der  Phil.  Dr.  erworhen. 

^^)  Über  das  Koedukationalsystem  finde  ich  bei  Münsterberg 
(a.  a.  0.,  IL,  S.  272)  folgende  Angaben:  "Der  öffentliche  Schulunter- 
richt ist  koedukational,  für  Mädchen  und  Knaben  gemeinsam.  In  den 
niederen  und  mittleren  Schulen  gilt  das  ohne  Ausnahme,  in  den  Ober- 
schulen in  der  bei  weitem  überwiegenden  Mehrheit  der  Fälle.  Von 
den  öffentlichen  Oberschulen  des  Landes  sind  10.153  zweigeschlechtig 
und  nur  34  für  Knaben,  26  für  Mädchen  allein.  Der  gemeinsame 
Unterricht  auf  dem  Lande  ist  überhaupt  ausnahmslos.  An  den  städti- 
schen Privatschulen  verschiebt  sich  das  Verhältnis  wohl  zugunsten 
des  getrennten  Unterrichtes,  922  Oberschulen  sind  zweigeschlechtig, 
348  für  Knaben,  511  für  Mädchen."  Aber  von  den  ungefähr  20  Millionett 


—    21     — 

Dem  Annual  Register  1910/11,  p.  459  sq.,  entnehme 
ich  folgende  Daten  über  die  Frequenz  der  Universität: 

I.  Die  Graduate  School  of  Arts,  Literature  and 
Science,  und  zwar: 

Ä.  Doctors  of  Philosophy  Pursuing  Special  Courses : 
Men  25,  Women  7,  Total  32;    B.  Students  admitted  to 


die  Schule  besuchenden  Kindern  besuchen,  wie  Münsterberg  an- 
führt, nur  anderthalb  Millionen  Privatschulen.  Gegenüber  dem  unein- 
geschränkten Lobe  des  Koedukationalsystems  bei  Münsterberg 
(IL,  a.  a.  0.)  und  bei  Polenz  (S.  232f.)  bezeichnet  Rambeau 
als  die  eigentliche  Ursache  des  Systems  Sparsamkeitsrücksichten. 
Eambeau  spricht  sich  gegen  dieses  System  aus,  hält  es  für  un- 
zweckmäßig und  meint,  es  sei  gegen  dasselbe  vom  College  auf- 
wärts allerdings  nichts  einzuwenden.  Besonders  bemerkenswert  ist 
auch  die  Tatsache,  daß  drei  Viertel  des  amerikanischen  Unter- 
richts von  Frauen  erteilt  wird  "und  selbst  in  der  Oberschule,  in  der 
die  Knaben  meistens  bis  zum  18.  oder  19.  Jahre  bleiben,  bilden  die 
Lehrerinnen  57'7  Prozent  und  in  den  Seminarien,  wo  die  künftigen 
Lehrer  sich  mit  den  Lehrerinnen  zusammen  für  den  Schulberuf  vor- 
bereiten, machen  die  Dozentinnen  71-3  Prozent  aus"  (Münsterberg, 
II,  S.  304).  Vgl.  auch  Rambeau,  S.  133?  Die  Konkurrenz  der  Frau 
macht  sich  am  meisten  und  am  auffälligsten  auf  dem  Gebiete  des 
Unterrichts,  im  Lehrberufe  und  in  den  damit  verwandten  Berufen, 
wie  dem  der  Bibliothekare,  bemerkbar.  Vgl.  femer  Freund  (S.  319): 
"Überall  sind  weitaus  die  meisten  Lehrstellen  von  Frauen  besetzt. 
Dagegen  sind  die  Direktoren  und  Leiter  der  höheren  Schulen  und  die 
Aufsichtsbeamten  mit  wenigen  Ausnahmen  Männer".  In  der  Anmerkung 
erAvähnt  Freund  freilich,  daß  in  der  Stadt  Chicago  der  Schulrat  im 
Jahre  1909  die  Leitung  der  öffentlichen  Schulen  der  Stadt  einer  Frau 
übertragen  hat.  Die  Frauen-Colleges  werden  bei  Wheeler  eingehend 
besprochen  (S.  118  bis  183).  Auf  S.  132ff.  spricht  Wheeler  von 
Coeducational  Colleges  und  namentlich  auch  von  den  Widerständen 
gegen  die  Koedukation.  Die  Koedukation  passe  nicht  so  gut  in  das 
Sraall  College  wie  in  die  Universität.  Die  der  Koedukation  feindliche 
Stimmung  richte  sich  mehr  gegen  die  High  Schools  als  gegen  die 
Colleges,  die  Graduate  oder  Universitätskurse  sind  —  mit  fast  all- 
gemeiner Zustimmung  —  der  Koedukation  eingeräumt.  Hintrager, 
"Wie  lebt  und  arbeitet  man  in  den  Vereinigten  Staaten",  S.  155  ff. 
teilt  mit,  daß  er  das  Smith  College  in  Northampton,  Mass.,  besucht 
habe,  eine  ausschließlich  für  Damen  bestimmte  höhere  Lehranstalt 
und  daß  man  hier  auf  dem  Boden  der  alten  europaähnlichen 
Kultur  mit  dem  System  der  Koedukation  gebrochen  hat.    Die  Schul- 


—     22     — 

candidacy  for  higher  degrees:  Men  209,  Women  104, 
Total  313;  C.  Students  not  yet  admitted  to  candidacy: 
Men  744,  Women  459,  Total  1203,  Gesamtsumme  1548.12) 
IL  Senior  Colleges:  Men  399,  Women  372, 
Total  771. 

III.  Junior  Colleges:  Men  635,  Women  510, 
Total  1145. 

IV.  The  Unclassified  Students  (das  sind  Under- 
graduate  Students,  welche  einen  Grad  nicht  anstreben, 
also  unseren  Hospitanten  und  Hospitantinnen  gleichend) : 
Men  255,  Women  438,  Total  693. 

V.  Das  University  College;  das  University  College 
liegt  im  Zentrum  der  Stadt  Chicago  und  in  demselben 
werden  Universitätsvorlesungen  gehalten  für  solche  Per- 
sonen, welche  den  regelmäßigen  Unterricht  in  den  Univer- 
sitätsgebäuden (at  the  University  Quadrangles)  nicht  be- 
suchen können.  Dasselbe  war  ursprünglich  nur  für 
städtische  Lehrer  bestimmt.  An  diesem  University  College 
sind  Frauen  in  der  Überzahl.  Es  gibt  nämlich :  A.  Graduate 


Vorsteherin  hat  sich  folgendermaßen  geäußert:  "Soviel  auch  die  Jungens 
bei  der  Koedukation  gewinnen  mögen,  die  Mädchen  verlieren  immer 
dabei". 

Ich  habe  aus  mancherlei  Gesprächen  über  dieses  Thema,  welche 
ich  in  Amerika  geführt  habe,  den  Eindruck  gewonnen,  daß  die  wesent- 
lichen Gründe  der  Koedukation  Sparsamkeitsrücksichten  und  Mangel 
an  männlichen  Lehrkräften  sind.  (Vgl.  hiezu  die  früher  zitierte  Be- 
merkung Eambeaus.) 

Die  Selbständigkeit  der  amerikanischen  jungen  Mädchen  und 
die  gute  Art,  mit  welcher  sich  die  amerikanische  männliche  Jugend 
den  Mädchen  gegenüber  betragen,  haben  das  Koedukationalsystem 
und  insbesondere  dessen  Ausdehnung  gefördert,  waren  aber  nicht  der 
eigentliche  letzte  Grund  dieses  Systems.  Es  ist  ja  bezeichnend,  daß 
in  einer  mir  bekannten  Privatschule  in  Chicago,  an  welcher  sowohl 
Elementarunterricht  als  auch  High  School-Unterricht  erteilt  wird,  weil 
dieselbe  eben  für  die  höheren  Gesellschaftsscbichten  bestimmt  ist,  nur 
Knaben  zugelassen  sind.  Man  hat  also  meines  Erachtens  keinen  Grund, 
sich  bei  uns  für  das  System  der  Koedukation  auf  das  amerikanische 
Vorbild  zu  berufen. 

^^)  Annual  Register  p.  513. 


—     23     — 

Students:  Men  35,  Women  55,  Total  90;  B.  Senior 
College  Students :  Men  7,  Women  16,  Total  23 ;  C.  Junior 
College  Students:  Men  16,  Women  55,  Total  71;  D.  Un- 
classified  Students:    Men  78,  Women  555,  Total  633. 

Die  Zahlen  verschieben  sich  wesentlich  zugunsten 
der  Männer  in  den  Berufsfakultäten.  Die  theologische 
Fakultät  (The  Graduate  Divinity  School)  zerfällt  wieder 
in  die  Graduate  Divinity  School,  welche  259  männliche 
und  18  weibliche  Studenten,  in  Summa  277  Studenten, 
besuchen.  Ferner  gibt  es  21  männliche,  17  weibliche, 
im  ganzen  also  38  Unclassified  Divinity  Students.  Dann 
gibt  es  noch  ein  englisches  theologisches  Seminar  mit 
33  männlichen,  8  weiblichen,  zusammen  41  Studenten, 
ein  schwedisches  theologisches  Seminar  mit  37  männ- 
lichen und  keinem  weiblichen  Studenten,  endlich  ein 
dänisch-schwedisches  theologisches  Seminar  mit  18  männ- 
lichen und  keinem  weiblichen  Studenten.  Die  Gesamt- 
zahl der  Theologen  beträgt  363  männliche,  43  weibliche 
Studenten,  in  Summa  406  Studenten. 

Was  die  juristische  Fakultät  betrifft,  so  betrug  die 
Gesamtzahl  nur  284  Studenten,  von  diesen  waren  aber 
nur  zwei  Resident  Graduates,  welche  bereits  den  Grad 
eines  Doctor  of  Law  (J.  D.)  erlangt  haben,  aber  ihre 
Studien  noch  fortsetzen.  Im  dritten  Jahre  waren  61,  im 
zweiten  Jahre  74,  im  ersten  Jahre  139  Studenten  und 
dann  waren  noch  8  Unclassified  Students,  also  Hospi- 
tanten. Ferner  gab  es  25  Studenten  aus  anderen  Fakul- 
täten, welche  Vorlesungen  an  der  juristischen  Fakultät 
hörten.  Wenn  man  diese  geringen  Zahlen  liest,  ferner 
erfährt,  daß  es  einen  Zwang  zum  Besuch  der  Vorlesungen 
gibt  und  obligate  Jahresprüfungen,  über  die  später  noch 
zu  sprechen  sein  wird,  so  sieht  man,  daß  die  amerika- 
nischen Studenten  der  Rechte  vielleicht  mehr  Gelegen- 
heit und  Anlaß  haben,  fleißig  zu  sein,  als  dies  in  Deutsch- 
land und  Österreich  häufig  der  Fall  ist. 

Die  Universität  Chicago  hat,  wie  bereits  oben  er- 
wähnt, keine  Faculty  of  Medicine.   Von  den  238  Medical 


—     24     — 

Stüdents  waren  221  männliche  und  17  weibliche.  Außer- 
dem nahmen  einzelne  Kurse  im  ganzen  67  männliche 
und  .57  weibliche  Studenten,  im  ganzen  also  124  Special 
Stüdents  taking  Medical  Courses.  Die  naturwissenschaft- 
lichen Disziplinen,  Chemie,  Zoologie,  Anatomie,  Physio- 
logie, Pathologie  und  Bakteriologie  hören  die  Mediziner 
im  College  der  Universität,  die  klinischen  Kurse  im  Rush 
Medical  College,  welches  von  der  Universität  räumlich 
getrennt  ist,   aber  unter  derselben  Verwaltung  steht. 

Das  College  of  Education  zählt  163  männliche  und 
870  weibliche  Studenten,  in  Summa  also  1033  Studenten. 

Die  Zulassung  zu  den  Junior  Colleges  setzt  eine 
Prüfung  voraus  aus  einem  Lehrstoff,  welcher  den  vier 
Klassen  einer  High  School  entspricht  (Secundary  School, 
High  School  or  Academy).  Nach  zweijährigem  Verbleiben 
in  einem  Junior  College  erfolgt  auf  Grund  einer  Reihe 
von  Prüfungen  die  Zulassung  zum  Senior  College.  Der 
Student,  der  eine  Anzahl  von  Punkten,  welche  durch 
Prüfungen  aus  den  verschiedenen  Disziplinen  erworben 
werden,  hat,  erlangt  den  Grad  des  Bachelors  of  Arts. 
Die  Gesamtzahlen  der  Studenten  sind:  3117  männ- 
liche, 3349  weibliche,  in  Summa  6466  Studenten.  Wir 
haben  gesehen,  daß  nur  ein  sehr  geringer  Teil  dieser 
Studentenmassen  auf  die  eigentlichen  Fakultätsstudien 
entfällt. 

Charakteristisch  für  die  Universität  Chicago  ist  auch 
die  Einteilung  des  Universitätsjahrs  in  vier  Quarters, 
das  Herbst-,  das  Winter-,  das  Frühjahrs-  und  das  Sommer- 
vierteljahr. Nach  dem  Schlüsse  des  Herbst-  und  des 
Wintervierteljahrs  sind  eine  Woche  Ferien,  nach  dem 
Abschlüsse  des  Sommervierteljahrs  sind  vier  Wochen 
Ferien,  nach  dem  Schlüsse  des  Frühjahrsvierteljahrs  gibt 
es  keine  Ferien.  Das  Sommervierteljahr  zerfällt  in  zwei 
gleiche  Terms. 

Ein  tägliches  Kolleg,  das  heißt  ein  Kolleg  von  vier  oder 
fünf  Wochenstunden  heißt  Major,  ein  Kolleg,  welches 
nur  während  eines  Terms  gelesen  wird,  heißt  ein  Minor 


—    25    — 

College.  Ein  täglich  zweistündiges  Kolleg  während  eines 
Term  heißt  ein  Double  Minor  College  und  ein  zwei- 
stündiges Kolleg  während  eines  Quarters  heißt  ein  Double 
Major  College. ^3) 

Eine  Durchsicht  der  Vorlesungskataloge  der  Univer- 
sität Chicago  ist  ganz  außerordentlich  interessant.  Unter 
dem  Schlagworte  "Political  Economy"  finden  sich  zum 
Beispiel  folgende  Vorlesungen  angekündigt:  1.  Principles 
of  Political  Economy;  2.  Economic  History  of  the  United 
States;  3.  Money;  4.  Theory  and  History  of  Banking; 
5.  Public  Finance  and  Taxation;  6.  Trade  Unionism 
and  Labor  Legislation;  7.  Railway  Conditions;  8.  Modern 
Socialism;  9.  Bookkeeping;  10.  Partnership  and  Whole- 
sale Accounting;  11.  Corporation  Accounting;  12.  Bank 
Accounting;    13.  Auditing.^*) 

Unter  dem  Schlagwort  "Political  Science"  sind 
folgende  Vorlesungen  angekündigt:  1.  Civil  Government 
in  the  United  States;  2.  Elements  of  Business  Law; 
3.  Elements  of  International  Law;  4.  Constitutional  Law 
in  the  United  States. 

In  den  Announcements  für  die  Law  School  sind 
Pre-legal   Courses,   Kurse  für  die  Vorbereitung,  für  die 


")  Das  Unterrichtsgeld  (Tuition  Fee)  beträgt  in  Chicago  40  Dollars 
für  das  Vierteljahr.  In  einem  mir  zugesandten  Circular  of  Information 
für  1912  13  werden  die  Kosten  für  36  Wochen  eines  Studenten,  welcher 
innerhalb  des  Universitäts-Campus  (within  the  quadrangles)  wohnt,  in 
folgender  Weise  angegeben: 


Lowest 
S 

Average 
S 

Liberal 

University 
Eent  and  i 

bUl, 

care 

tuition     .     . 
of  room    .     . 

12000 
75-00 

12000 
1O50O 

12000 
22500 

Board 

13500 
15-00 
1000 

16200 
2500 
2000 

22500 

Laundry 
Textbooks 

and  stationery 

35-00 
5000 

Total    .     .      35500        432-00        65500 
")  Accounting  bedeutet  Eechnungsführung,  Auditing  Kechnungs- 
prüfung.     Society  of  Accountants  and  Auditors  ist  ein  sehr  bekannter 
Londoner  Verein  von  Rechnungsführern  und  Rechnungsprüfern. 


--     26     — 

Preliminary  Education  eines  Lawyer  angegeben;  dann 
Professional  Courses  für  den  dreijährigen  Studiengang. 
Die  Vorlesungen  des  ersten  Studienjahrganges  sind 
obligat,  die  Vorlesungen  für  das  zweite  und  dritte  Jahr 
sind  elective,  sind  der  Auswahl  der  Studierenden  über- 
lassen, nur  praktische  Übungen  sind  vorgeschrieben.  Die 
Vorlesungen  des  ersten  Jahres  führen  folgende  Titel: 
Contracts;  Torts;  Property;  Agency;  Title  of  Real 
Estate ;  Criminal  Law.  Zwölf  Stunden  wöchentlich  gelten 
als  Füll  Work,  sind  also  für  Anrechnung  des  betreffenden 
Quarters   vorgeschrieben. 

An  der  Law  School  der  Universität  Chicago  ist  der 
berühmte  deutsche  Staatsrechtslehrer  Professor  Freund 
tätig;  er  las  zum  Beispiel  in  einem  Winter  Quarter  vier 
Stunden  wöchentlich  "Municipal  Corporations",  in  einem 
Sommer  viertel  jähr  und  in  einem  Wintervierteljahr  vier 
Stunden  wöchentlich  "Administrative  Law  and  Officers", 
ferner  römisches  Recht  ebenfalls  in  einem  vierstündigen 
Kolleg. 

Am  17.  April  1912  besuchte  ich  die  Universität 
Harvard  in  Cambridge  bei  Boston.  Die  Fahrt  von  Boston 
nach  Cambridge  mittels  Subway  und  Trambahn  dauerte 
kaum  mehr  als  20  Minuten.  Professor  Dr.  Josef  Redlich 
hatte  die  Güte,  mir  eine  Empfehlungskarte  an  den  ihm 
persönlich  bekannten  Präsidenten  A.  L.  Lowell  mitzu- 
geben. Dieser  ist  seit  dem  Jahre  1909  Präsident  der 
Harvard  University.  Sein  Vorgänger  war  Charles 
W.  Eliot,  welcher  durch  40  Jahre  Präsident  der  Harvard 
University  gewesen  ist  und  jetzt  als  Privatmann  in  Cam- 
bridge lebt.  Präsident  Lowell  empfing  mich  in  der 
liebenswürdigsten  Weise.  Ich  fand  ihn  trotz  der  Ferien 
in  seinem  Office.  Er  zeigte  mir  zunächst  den  Sitzungs- 
saal der  philosophischen  Fakultät  mit  zahlreichen  Bildern 
hervorragender  Professoren,  dann  gab  er  mir  Mr,  Schaub, 
Professor  des  Handelsrechtes  an  der  Law  School  und 
an  der  Graduate  School  of  Business  Administration,  mit. 


—     27     — 

Dieser  gütige  und  gelehrte  Führer  führte  mich  durch 
zwei  Stunden  in  den  verschiedenen  Gebäuden  der  Univer- 
sität herum.  In  der  Law  School  fielen  mir  die  schön  ge- 
bauten, amphitheatralischen  Hörsäle  auf.  Für  je  zwei  Sitze 
ein  Tisch,  nicht  die  verstärkten  Rahmen,  auf  welche 
Schreibmaterialien  zu  legen  sind,  wie  ich  sie  in  Columbia 
und  Chicago  gesehen  habe.  In  jedem  Hörsaal  eine  Menge 
von  Bildern  von  Judges,  daneben  fand  ich  irgend  ein 
Zimmer,  natürlich  kein  Hörsaal,  sondern  eine  Art  Lese- 
zimmer, mit  einer  Menge  sehr  gelungener  Karikaturen 
von  Judges. 

Für  die  Law  School,  und  zwar  sowohl  für  die  Hör- 
säle wie  für  die  Bibliothek  sind  zwei  Gebäude,  die 
Austin  Hall  und  die  Langdell  Hall  bestimmt.  Die  Law 
Library  enthält  die  vollkommenste  Sammlung  von  Legal 
Records  der  englisch  sprechenden  Welt  und  auch  eine 
sehr  gute  Bibliothek  von  Werken  europäischer  Juristen. 
Trotz  der  Ferien  waren  die  Lesesäle  voll  besetzt.  Ich 
habe  zwei  Dining  Halls  gesehen,  riesige,  gemeinsame 
Speisesäle.  Die  eine,  die  Memorial  Hall,  in  welcher 
1320  Studenten  speisen  können.  Der  Durchschnittspreis 
für  die  Mahlzeiten,  nämlich  Frühstück,  Lunch  und  Dinner 
war  im  Jahre  1909/10  5  Dollars  33  Cents  pro  Woche, 
also  etwa  IO6V2  Kronen  pro  Monat.  Die  Randall  Hall 
ist  billiger,  faßt  1200  Studenten.  Die  Verpflegung  findet 
ä  la  carte  statt  und  kostet  durchschnittlich  3  Dollars 
75  Cents  wöchentlich,  also  15  Dollars  monatlich. 

Das  Unterrichtsgeld  beträgt  auch  in  den  Fachschulen 
150  Dollars,  nur  in  der  medizinischen  Fakultät  200  Dollars 
pro  Jahr.  Eine  Erhöhung  greift  dann  Platz,  wenn  der 
Betreffende  den  Degree  des  B.  A.  (Bachelor  of  Arts) 
in  drei  Jahren  zu  erreichen  wünscht  und  daher  mehr 
Kurse  nimmt.  Dann  muß  er  für  jeden  Additional  Course 
20  Dollars  zahlen.  Der  billigste  Zimmerpreis  ist 
117  Dollars  pro  Jahr  oder  etwa  60  Dollars  pro  Kopf, 
wenn  zwei  dasselbe  Zimmer  teilen.  Sehr  hohe  Wohnungs- 


—     28     — 

mieten  kommen  vor,  einzelne  Studierende  haben  Woh- 
nungen zu  2000  bis  3000  Dollars  im  Jahre.is) 

In  Harvard  sah  ich  nirgends  weibliche  Studenten, 
auch  in  der  Bibliothek  nicht  —  freilich  waren  ja  Ferien. 
Auf  meine  Frage  erklärte  mir  Prof.  Schaub,  daß  an  der 
Harvard  Universität  Frauen  ausgeschlossen  seien.  Frauen 
finden  im  nahegelegenen  Radcliffe  College  Aufnahme, 
einem  Frauen-College,  an  dem  nur  Harvardprofessoren 
im  Nebenamte  lesen.  Nicht  wenige  Professoren  wieder- 
holen dort  ihre  ganzen  Kollegien.  Nur  graduierte  Frauen 
können  auch  in  Harvard  arbeiten. i^) 

Um  ein  Uhr  war  die  Besichtigung  zu  Ende.  Präsident 
A.  L.  Lowell  ging  mit  mir  in  den  Professorenklub  (den 
Colonial  Club),  und  wir  nahmen  dort  in  Gresellschaft 
mehrerer  Professoren  und  jüngerer  Dozenten  ein  selbst- 
verständlich alkoholfreies  Lunch  ein.  Nach  dem  Lunch 
führte  mich  der  Präsident  in  einen  Studentenklub,  ich 
glaube,  es  war  die  Harvard  Union,  mit  großen  Lese- 
und  Speisesälen  und  zwei  Diningrooms. 

Die  Harvard  Universität  enthält  das  Harvard  College 
und  fünf  Fakultäten  (Sketch,  p.  12).  Das  Harvard  College 
zerfällt  in  vier  Klassen.  In  dem  Catalogue  1911/12,  p.  105, 
finde   ich  folgende   Übersicht: 


^^)  Als  Kuriosität  möchte  ich  erwähnen,  daß  ich  unter  den  Namen 
der  Studenten  auch  chinesische  gefunden  habe.  Neger  werden  anstands- 
los aufgenommen,  freilich  melden  sich  nur  wenige. 

^8)  Im  Catalogue  and  General  Announcements  der  Columbia-Uni- 
versität in  New  York  finde  ich  auf  p.  57  die  Bemerkung,  daß  die 
Frauen  von  allen  Vorlesungen  in  Mines,  Engineering,  Chemistry, 
Medicine  and  Law  ausgeschlossen  sind.  Sie  sind  zugelassen  für  alle 
Kurse,  welche  die  Nummer  über  101  haben,  und  zwar  unter  denselben 
Bedingungen  wie  die  Männer,  wenn  nicht  durch  eine  besondere  Be- 
merkung das  Gegenteil  bestimmt  ist.  Die  sämtlichen  Kurse  der  Uni- 
versität Columbia  haben  verschiedene  Nummern  und  während  die  Kurse 
von  1  bis  100  Elementarkurse  sind,  sind  die  Kurse  von  101  bis  200 
für  solche  Studenten  bestimmt,  welche  bereits  einen  akademischen 
Grad  haben  oder  zwar  Undergraduates  sind,  aber  in  ihren  Prüfungs- 
ergebnissen wenigstens  64  Punkte  oder  bei  juristischen  Vorlesungen 
94  Punkte  haben. 


—     29     — 

I.  Senior  Class  (vierter  Jahrgang),  372  Studenten, 
von  welchen  314  Kandidaten  für  den  Degree  des  Bacca- 
laureus  Artium  (A.  B.),  und  58  Kandidaten  für  den  Grad 
des  Baccalaureus  Scientiae  sind. 

IL  Juniors  (dritter  Jahrgang),  537  Studenten,  von 
welchen  465  Kandidaten  für  den  A.  B.  und  72  Kandidaten 
für  den  S.  B.  sind. 

III.  Sophomores  (zweiter  Jahrgang),  499  Studenten, 
von  welchen  453  Kandidaten  für  den  A.  B.  und  46  Kan- 
didaten für  den  S.  B.  sind. 

IV.  Freshmens  (erster  Jahrgang),  739  Studenten,  von 
welchen  653  Kandidaten  für  den  A.  B.  und  86  Kan- 
didaten für  den  S.  B.  sind. 

V.  Neben  diesen  vier  Jahrgängen  der  College- 
Studenten  gibt  es  ferner  43  Special  Students  und  72  Un- 
classified  Students,  also  Hospitanten,  im  ganzen  also 
hat  das  Harvard  College  2262  Studenten. 

Die  fünf  Fakultäten  sind: 

I.  Die  Faculty  of  Arts  and  Sciences.  Diese  Fakultät 
enthält  neben  dem  Harvard  College  die  unserer  philo- 
sophischen Fakultät  entsprechende  Graduate  School  of 
Arts  and  Sciences.  In  dem  Catalogue,  p.  137,  finde  ich 
folgende  Übersicht  der  Studentenzahl  dieser  Graduate 
School :  Traveling  Fellows  28,  Resident  Students  426, 
zusammen   454. 

Zu  dieser  Fakultät  zählt  ferner  die  Handelshoch- 
schule, the  Graduate  School  of  Business  Administration 
mit  79  Studenten,  von  welchen  10  im  zweiten  und  45  im 
ersten  Jahre  studierten  und  24  Special  Students  waren 
(Cat.,  p.  150). 

II.  Die  theologische  Fakultät,  Divinity  School.  An 
dieser  Fakultät  studierten:  1.  Resident  Graduates  12; 
2.  Senior  Class  3;  3.  Middle  Class  6;  4.  Junior  Class  2; 
5.  Special  Students  5;  6.  Andover  Students  20;  Total  48 
(Cat.,  p.  155). 


—    30    — 

Resident  Graduates  sind  solche  Studierende,  welche 
bereits  die  theologischen  Studien  absolviert  haben  und 
regelmäßig  auch  das  Baccalaureat  der  Theologie  (S.  T.  B.) 
erworben  haben. 

III.  Die  juristische  Fakultät,  Law  School.  Von  den 
Studierenden  dieser  Fakultät  waren :  1.  Resident  Graduate 
Students  3;  2.  Studierende  des  dritten  Jahrganges  219; 
3.  Studierende  des  zweiten  Jahrganges  216;  4.  Studie- 
rende des  ersten  Jahrganges  289 ;  5.  Unclassified  Students, 
also  Hospitanten  77;  6.  Special  Students  4;  Gesamt- 
summe 808  (Cat.,  p.  194). 

Unter  den  Studenten  der  Harvard  Law  School  haben 
774  an  einem  College  bereits  den  Degree,  den  akademi- 
schen Grad  des  Baccalaureus  erworben  und  von  diesen 
197  am  Harvard  University  College.  Die  übrigen  Colleges 
Graduates  haben  an  einem  anderen  College  ihren  Degree 
erworben,  und  zwar  sind  im  ganzen,  einschließlich  des 
Harvard  University  College  144  Colleges  vertreten. 

Von  den  808  Harvard  Law  School-Studenten  sind 
ferner  nur  8  Graduates  einer  Law  School,  5  Non 
Graduates  und  21  haben  das  Collegestudium  absolviert, 
ohne  einen  Degree  erworben  zu  haben.  In  Harvard  ist 
es  also  Regel,  daß  die  Studenten  der  Rechte  ihren  College 
Degree  vor  dem  Eintritte  in  die  Law  School  erwerben. 

IV.  Die  medizinische  Fakultät.  Unter  den  Harvard- 
studenten der  Medizin  sind  5  Kandidaten  für  den  Degree 
eines  Doctor  of  Public  Health  und  270  Kandidaten  für 
den  Grad  des  Doktor  der  Medizin.  Von  diesen 
270  Studierenden  sind  im  vierten  Jahrgange  50,  im 
dritten  56,  im  zweiten  57,  im  ersten  95  und  Special 
Students  12. 

Neben  diesen  Kandidaten  für  den  Doktorgrad 
studieren  in  Harvard  auch  Graduierte,  und  zwar  in  den 
Kursen  für  Graduierte  vom  1.  Oktober  1910  bis  1.  Juli 
1911  184  Teilnehmer,  in  den  Sommerkursen  vom  1.  Juli 
1911  bis  1.  Oktober  1911  267  Teihiehmer.  Die  Gesamt- 
zahl der  Medizinstudenten,  sowohl  der  nicht  graduierten 


—    31    — 

wie  der  graduierten  betrug  in  der  Zeit  vom  1.  Oktober 
1910  bis  1.  Oktober  1911    726  (Cat.,  p.  206). 

Es  gibt  dann  auch  in  Harvard  eine  eigene  zahn- 
ärztliche Schule,  in  deren  drei  Jahrgängen  sich  154  Stu- 
dierende befanden. 

V.  Die  technische  Hochschule,  the  Graduate  School 
pf  Applied  Science  mit  3  Travelling  Fellows,  120  Resident 
Students,  zusammen  123  (Cat.,  p.  146). 

Die  Gesamtzahl  der  Studenten  der  Harvard  University 
einschließlich  der  College-Studenten  und  einschließlich 
der  Frequentanten  der  zahnärztlichen  Schule  betrug 
also  4203.17) 

Eine  große  Bedeutung  hat  an  der  Harvard  University 
die  University  Extension,  welche  Personen  not  in  resi- 
dence  in  the  University  Unterricht  in  Arts  and  Sciences 
bietet.  Die  Gesamtzahl  der  Besucher  der  University 
Extension-Kurse  betrug  1065. i^) 


Über  die  berühmte  Harvard  Law  School  wird  später 
noch  näheres  zu  sagen  sein.  Vorher  seien  einige  Be- 
merkungen über  die  amerikanischen  Law  Schools  über- 
haupt vorangeschickt.  "Die  amerikanische  Law  School 
ist  ein  Produkt  erst  der  neuesten  Entwicklung. i^)    Das 


*')  In  der  Generalübersicht  (Catalogue,  p.  236  sq.)  findet  sich 
folgende  Gliederung: 

I.  Faculty  of  Arts  and  Sciences:  1.  College  2262;  2.  Graduate  School 
of  Arts  and  Sciences  454;  3.  Graduate  School  of  Applied  Science  123; 
4.  Graduate  School  of  Business  Administration  79  Studenten.  Gesamt- 
zahl der  Studierenden  an  der  Faculty  of  Arts  and  Sciences  2918. 

II.  Divinity  School  48  Studenten. 
ni.  Law  School  808  Studenten. 

IV.  Faculty  of  Mediane:  1.  Medical  School  275;  2.  Dental  School 
154  Studenten. 

^')  Von  diesen  waren  234  sowohl  im  Sommer  1911  wie  im 
Jahre  1911/12  inskribiert  und  wurden  daher  doppelt  gezählt.  Die 
Gesamtzahl  der  Harvard-Studenten  betrug  daher  einschließlich  der 
Teilnehmer  an  den  University  Extension-Kursen  5045  Studenten. 

^®)  Waentig,  a.  a.  0.,  S.  80;  ebenda  findet  sich  auch  die  reiche 
einschlägige  Literatur  zitiert.  Vgl.  auch  Waller,  "Rechtsstudium  und 


—     32     — 

(eigentliche  Rechtsstudium  vollzog  sich  früher  in  den 
Kanzleien  der  Rechtsanwälte  und  solche  Studenten  alten 
Stils,  welche  man  Office  Students  nennt,  gibt  es  noch 
heutzutage.  Die  erste  Law  School,  die  sich  dauernd  zu 
erhalten  vermochte,  war  die  1817  gegründete  Harvard 
Law  School,  die  zweite,  die  1824  gegründete  Yale  Law 
School,  Aber  erst  die  Eröffnung  der  Columbia  Law 
School  im  Jahre  1858  führte  einen  entscheidenden  Um- 
schwung herbei."  20) 

Die  Zahl  der  Rechtsschulen  ist  in  sehr  raschem 
Steigen  begriffen.  Während  Waentig  für  das  Jahr  1900 
96  Rechtsschulen  mit  12.516  Studenten  anführt,  wird 
in  dem  bei  E.  Baldwin,  a.  a.  0.,  p.  350,  zitierten 
Report  of  the  American  Bar  Association  for  1903,  p.  398, 
die  Zahl  der  Rechtsschulen  mit  104  und  die  Studenten- 
zahl mit  über  14.000  angegeben.  Münsterberg  (a.  a.  0., 
IL,  S.  93)  führt  für  das  Jahr  1910  114  Rechtsschulen 
mit  1534  Lehrern  und  19.567  Schülern  an,  von  denen 
205  weiblichen  Geschlechtes  sind.  Die  Aufnahmsbedin- 
gungen werden  immer  mehr  und  mehr  erschwert,  die 
regelmäßigen  Kurse  verlängert.^i) 

ßeferendariat",  Berlin,  1910,  S.  19:  "Vereinzelt  gehen  schon  junge 
Engländer  zum  Rechtsstudium  nach  Amerika".  Mittermaier,  "Wie 
studiert  man  Eechtswissenschaft?",  1911,  S.  106 ff. 

20)  Waentig,  a.  a.  0.,  S.  81.  —  E.  Baldwin,  a.  a.  0.,  p.  350, 
führt  an,  die  erste  Rechtsschule  in  einem  englisch  sprechenden  Lande 
sei  im  Jahre  1784  in  Litchfield,  Connecticut,  errichtet  worden.  Vgl. 
A  Sketch  of  the  History  and  Organization  of  Harvard  University  (vgl. 
ohen  S.  12)  p.  15,  ferner  auch  das  Official  Register  of  Harvard  University, 
The  Law  School  1912/13,  p.  4.  Hier  wird  zunächst  angeführt,  daß  die 
Law  School  1817  errichtet  wurde  und  die  älteste  unter  den  Rechtsschulen, 
welche  derzeit  in  den  Vereinigten  Staaten  bestehen,  ist.  Von  1839  bis 
1870  betrug  die  Studiendauer  (Curriculum)  zwei  Jahre  oder  vier  Semester 
(Terms),  der  Degree  eines  Bachelor  of  Law  konnte  aber  schon  nach  18  Mo- 
naten oder  drei  Semestern  erworben  werden.  Seit  1870  sind  für  die  Er- 
langung des  Degree  zwei  Jahre  vorgeschrieben  und  seit  1877  drei  Jahre. 

2^)  Waentig,  a.  a.  0.,  S.  82;  an  der  Harvard  University  gab 
es  —  bis  zum  Jahre  1871  —  nichteinmal  für  die  Erlangung  des 
Degree  eine  Prüfung  und  für  die  Zulassung  als  Student  sind  erst  seit 
1893  Prüfungen  eingeführt  (Official  Register,  p.  4). 


—     33     — 

Die  Entwicklung  der  Unterrichtsmethode  stellt 
Waentig  (a.  a.  0.,  S.  83 f.)  in  folgender  Weise  dar: 
Das  alte  Lecture  System  hatte  lediglich  den  Zweck, 
die  praktische  Ausbildung  des  jungen  Juristen,  welche 
dieser  in  den  Rechtsanwaltskanzleien  erhalten  hatte,  ent- 
sprechend zu  ergänzen  und  deren  Lücken  auszufüllen. 
Das  geschah  durch  allgemeine  Übersichten  oder  aber 
Darstellungen  von  einzelnen  Materien,  von  welchen  die 
Studierenden  während  ihrer  Lehre  voraussichtlich  nichts 
gehört  hatten,  und  in  der  Abfragung  des  Stoffes  in  einer 
der  folgenden  Stunden.  Die  zweite  Methode  ist  das 
Textbook  System.  Ein  Textbook  ist  eine  zusammen- 
fassende Darstellung  einer  einzelnen  Rechtsmaterie  auf 
Grund  der  Reports,  das  heißt  der  Sammlungen  von  gericht- 
lichen Entscheidungen  und  der  Verarbeitung  der  das 
Common  Law  abändernden  Gesetze.  Der  Rechtsunter- 
richt gestaltet  sich  dann  zu  einer  Art  Repetitorium  des 
Textbook.  "In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  amerika- 
nischen Law  Schools,  allerdings  nicht  mehr  in  den 
führenden,  scheint  diese  Methode  noch  heute  die  herr- 
schende zu  sein." 22)  Das  dritte  System  ist  das  Gases 
System;  das  Gases  System  wird  in  dem  Brief  Guide 
für  die  Harvard  University  folgendermaßen  geschildert: 
Professor  Langdell,  der  Urheber  dieses  Systems,  stellte 
aus  den  Reports  Fälle  zusammen,  welche  geeignet  waren, 
die  Entwicklung  eines  Rechtsinstituts  zu  zeigen,  und  gab 


'*)  Vgl.  Waentig,  a.  a.  0.,  S.  87.  Es  li^  mir  ein  Katalog 
der  Lawyers  Co-operative  Publishing  Co.  in  Rochester  im  Staate 
New  York  aus  dem  Jahre  1904  vor,  "Where  to  look  for  the  Law",  in 
welchem  die  heute  führenden  Textbooks  nach  Gegenständen  geordnet 
verzeichnet  sind,  sowie  die  Veröffentlichungen  der  genannten  Gesell- 
schaft. Wer  die  Zitate  aus  den  Hunderten  von  Bänden  der  "L.  R.  A." 
(Lawyers  Reports  Annotated)  durchsieht,  wird  den  Wert,  den  die  Text- 
books für  Richter  und  Anwälte  besitzen  müssen,  wohl  verstehen.  Es 
haben  zum  Beispiel  die  New  York  Common  Law  Reports  für  die  Zeit 
von  1794  bis  1847  80  Bände  in  17  Büchern,  die  New  York  Chancery 
Reports  38  Bände  in  7  Büchern,  die  New  York  Court  of  Appeals  Report 
von  1847  bis  1903  170  Bände  in  34  Büchern. 

Hanansek,  Amerikanische  Skizzen.  3 


—     34     — 

seinen  Schülern  für  jeden  Tag  als  Aufgabe  die  Vor- 
bereitung von  fünf  oder  sechs  solchen  Fällen.  In  der 
betreffenden  Vorlesung  wurde  dann  der  Fall  analysiert, 
kritisiert  und  diskutiert  und  die  Studenten  wurden  so 
gezwungen,  aus  Originalquellen  die  gesetzlichen  Grund- 
sätze zu  finden.  Die  Erfolge  der  in  dieser  Weise  vor- 
gebildeten Harvard-Studenten  in  ihrer  Anwaltspraxis  etwa 
um  das  Jahr  1890  herum  bewirkten  dann,  wie  der  er- 
wähnte Guide  sagt,  den  Sieg  des  Systems  auch  an  anderen 
Rechtsschulen. 23) 

Die  Bedingungen  für  die  Zulassung  als  ordentlicher 
Hörer  der  Rechte  an  der  Harvard  Law  School  sind  strenge. 
Zugelassen  werden: 

1.  Graduierte  von  Colleges  of  High  Grade  auf  Grund 
ihres  Diploms. 2*) 

2.  Graduierte  von  anderen  Colleges  of  approved 
Standing  auf  Grund  eines  Diploms  und  eines  offiziellen 
Zeugnisses,  daß  sie  in  dem  Seniorjahr  zu  dem  best- 
klassifizierten Drittel  der  Schüler  gehörten. 

Als  Unclassified  Students  werden  zugelassen  Gra- 
duierte von  Colleges,  welche  nicht  als  ordentliche  Hörer 


^^)  Nach  Waentig,  a.  a.  0.,  S.  87,  beherrscht  dieses  Gases  System 
heute  die  drei  führenden  Law  Schools  des  Ostens,  Harvard,  Columbia 
und  Pennsylvania,  und  unterwirft  sich  eine  nach  der  anderen  bis  hinüber 
nach  Californien,  wo  die  aufstrebende  Leland  Stanford  Law  School  zu 
Palo  Alto  sich  ihr  verschrieben  hat.  Waentig  sagt  auch,  daß  das 
Cases  System  das  Textbook  auch  aus  den  Kanzleien  zu  verdrängen 
beginnt.  Als  Beispiele  von  Büchern  nach  dem  Cases  System  nennt 
das  unten  (Note  24)  zitierte  Official  Register  p.  6  folgende:  Wambaugh's 
Cases  on  Agency;  Gray 's  Cases  onProperty;  Williston's  Cases  onContracts; 
Ames  and  Smith,  Cases  on  Torts;  Beale's  Cases  on  Criminal  Law; 
Ames's  Cases  on  Pleading. 

^*)  Dies  gilt  seit  dem  Jahre  1899  (Official  Register,  p.  4  sqn). 
Der  Sekretär  der  Law  Faculty  versendet  auf  Verlangen  das  Verzeichnis 
dieser  Colleges  ofHigh  Grade.  Bei  Waentig,  a.a.O.,  S.  88,  heißt  es: 
Zugelassen  werden  ohne  weiters  als  ordentliche  Studenten  nach  bloßer 
Vorlegung  ihrer  Diplome  Bachelors  of  Arts  von  119,  Bachelors  of 
Literature  von  11,  Bachelors  of  Philosophy  von  27  und  Bachelors  of 
Science  von  21  namentlich  angeführten  Colleges. 


—    35    — 

zugelassen  werden  können,  und  ferner  Graduierte  von 
anderen  Rechtsschulen,  welche  auf  Grund  eines  drei- 
jährigen Kurses  ihren  Degree  erhalten  haben.  Die  Be- 
dingungen für  die  Erlangung  des  Degree  der  Harvard 
Law  School  für  solche  Unclassified  Students  sind  etwas 
strenger  als  für  die  Regulär  Students.  Für  ihre  Prüfungen 
ist  nämlich  eine  besondere  höhere  Zensurmarke  vorge- 
schrieben (vgl.  unten  Anm.  27). 

Als  Special  Students  werden  Personen,  die  niemals 
einen  Degree  erhalten  haben,  durch  Fakultätsbeschluß 
auf  Grund  einer  vorgeschriebenen  Prüfung  zugelassen. 
Diese  Special  Students  können  auch  keinen  Degree  er- 
halten. 

Studierende,  welche  berechtigt  wären,  als  ordent- 
liche Hörer  aufgenommen  zu  werden,  und  welche  an 
einer  anderen  Rechtsschule,  welche  das  Recht  hätte,  der 
Association  of  American  Law  Schools  als  Mitglied  an- 
zugehören, mindestens  ein  akademisches  Jahr  von  nicht 
weniger  als  acht  Monaten  studiert  haben,  können  auf 
Grund  einer  besonderen  Prüfung  in  das  zweite  Jahr  der 
Harvard  Law  School  aufgenommen  werden.  Jeder  Kan- 
didat für  den  Grad  eines  Bachelor  of  Law  muß  alle 
Gegenstände  des  ersten  Jahres,  zwölf  Stunden  in  der 
Woche  von  den  Gegenständen  des  zweiten  Jahres  und 
vom  Jahre  1913/14  ebenfalls  zwölf  Stunden  statt  wie 
bisher  zehn  Stunden  wöchentlich  von  den  Gegenständen 
des    dritten    Jahres    hören. 25)    Für    die    Erlangung    des 


-*)  In  dem  mir  vorliegenden  Official  Register  of  Harvard  University 
vom  30.  April  1912,  The  Law  School  1912/13,  finden  sich  folgende 
Torlesungen  angekündigt : 

Erstes  Jahr:  Agency,  two  hours  a  week;  Civil  Procedure  at 
Common  Law,  two  hours  a  week;  Contracts,  three  hours  a  week; 
€riminal  Law  and  Procedure,  two  hours  a  week;  Property,  two  hours 
a  week;    Torts,  two  hours  a  week. 

Zweites  Jahr:  Bills  of  Exchange  and  Promissory  Notes,  two 
hours  a  week;  Equity,  two  hours  a  week;  Evidence,  two  hours  a  week; 
Insurance  —  Marine,  Fire,  and  Life,  two  hours  a  week;  Property,  two 
hours  a  week;  Public  Service  Companies:  especially  Common  Carriers, 

3* 


—    36    — 

Bachelor  of  Law  ist  ein  dreijähriger  Aufenthalt  (Resi- 
dence)  in  Harvard  vorgeschrieben. ^6) 

Behufs  Erlangung  des  Doktorgrades  der  Rechte  muß 
der  Kandidat  ein  Jahr  nach  Erlangung  des  Bachelor- 
grades noch  an  der  Harvard  Law  School  verbleiben. 
Auch  die  Graduierten  anderer  Rechtsschulen,  die  be- 
rechtigt sind,  Mitglieder  der  Association  of  American 
Law  Schools  zu  sein,  können  nach  einem  Jahre  Auf- 
enthalt (Residence)  in  Harvard  den  Doktorgrad  erwerben. 
Für  den  Erwerb  des  Doktorgrades  ist  nötig,  daß  der 
Kandidat  ordentlicher  Hörer  an  der  Harvard  Law  School 
war  oder  sein  konnte  und  daß  er  das  Examen  als 
Bachelor  of  Law  mit  besonderem  Erfolge  bestanden  habe 
(with  high  rank).  Während  dieses  Jahres  muß  der  Kan- 
didat  des    Doktorgrades    eine   Anzahl   von   Vorlesungen 


two  hours  a  week;  Sales  of  Personal  Property,  two  hours  a  week; 
Trusts,  two  hours  a  week;  Damages,  two  hours  a  week  in  the  first 
halfyear;   Law  of  Persons,  two  hours  a  week  in  the  second  halfyear. 

Drittes  Jahr:  Conflict  of  Laws,  two  hours  a  week;  Constitutional 
Law.  two  hours  a  week;  Corporations,  two  hours  a  week;  Partnership,. 
two  hours  a  week;  Property,  two  hours  a  week;  Suretyship  and  Mort- 
gage,  two  hours  a  week;  Bankruptcy,  two  hours  a  week  in  the  first 
halfyear;  Equity,  two  hours  a  week  in  the  first  halfyear;  Municipal 
Corporations,  two  hours  a  week  in  the  second  halfyear;  Quasi-Contracts,, 
two  hours  a  week  in  the  second  halfyear;  Admirality,  two  hours  a. 
week  in  the  second  halfyear. 

Graduate  Courses:  Roman  Law,  and  the  principles  of  the  Civil 
Law  and  Modern  Codes  as  developments  thereof  ^ —  an  introduction  to 
Comparative  Law,  two  hours  a  week;  Administrative  Law,  two  hours 
a  week  in  the  second  halfyear;  International  Law  as  administrated 
by  the  Courts,  one  hour  a  week;  Jurisprudence,  two  hours  a  week  in 
the  first  halfyear;  Theory  of  Law  and  Legislation,  two  hours  a  week 
in  the  second  halfyear. 

Extra  Courses:  Patent  Law,  one  hour  a  week;  NewYoik  Practice,. 
not  less  than  thirty  hours;  Forensic  Discussion,  not  less  than  twenty 
hours  for  each  section;  Voice  Training,  not  less  than  twenty  hours^ 
for  each  section. 

^*')  Für  die  Erlangung  des  Bachelorgrades  ist  das  Alter  voa 
21  Jahren  vorgeschrieben. 


—     37     — 

von  den  Graduate  Courses  gehört  haben,  vor  allen  die 
Vorlesungen  über  römisches  Recht  und  die  Prinzipien 
des  Civil  Law. 

Die  Examina  der  Studenten  der  Rechte  sind  strenge. 
Nach  jedem  Jahre  müssen  Examina  abgelegt  werden, 
und  zwar  nach  dem  ersten  Jahre  mindestens  in 
vier  Gegenständen  von  den  fünf  des  ersten  Jahr- 
ganges. Werden  diese  Prüfungen  nicht  mit  Erfolg  abge- 
legt, so  kann  ein  Aufsteigen  in  den  zweiten  Jahrgang 
nur  auf  Grund  besonderen  Fakultätsbeschlusses  er- 
folgen. Ebenso  sind  bestimmte  Examina  in  einer  Anzahl 
von  Fächern  nach  dem  zweiten  Jahre  vorgeschrieben 
und  das  Durchschnittskalkül  muß  um  fünf  Prozent  höher 
sein  als  die  gewöhnliche  Passing  Mark.^^)  Nach  be- 
friedigender Ablegung  der  Prüfungen  des  dritten  Jahres 
erfolgt  dann  die  Promotion  zum  Bachelor  of  Law,  und 
zwar  cum  laude,  wenn  die  Prüfungen  ausgezeichnet  aus- 
gefallen sind.  Die  Prüfungen  sind  schriftliche  Klausur- 
arbeiten, die  bei  denselben  zu  behandelnden  Fälle  sind 
in  besonderen  Papers  zusammengestellt. ^8)  Für  die  Er- 
langung des  Doktorgrades  sind  dann  weitere  Prüfungen 
vorgeschrieben,  welche  mit  distinguished  excellence  aus 
Vorlesungen  von  mindestens  zehn  Stunden,  und  zwar 
auch  aus  dem  römischen  Rechte  abgelegt  sein  müssen. 

In  allen  Rechtsschulen,  insbesondere  auch  in  Harvard 
gibt  es  sogenannte  Moot  Courts,  Debattiergerichtshöfe, 
in  welchen  unter  tunlichster  Nachahmung  eines  ordent- 
lichen Gerichtsverfahrens  Prozesse  durchgeführt  werden; 
ferner  gibt  es  überall  sogenannte  Law  Clubs,  so  zum 


^■')  Die  Zensur  wird  nach  ProzentzifEem  bestimmt,  wobei  55  Pro- 
zent die  Passing  Mark,  75  Prozent  die  Honor  Mark  ist.  Die  einzelnen 
Zensuren  werden  zusammengezählt  und  durch  die  Zahl  der  Fächer 
dividiert;  die  Durchschnittsziffer  ist  dann  maßgebend. 

**)  Mir  liegen  vor:  Final  Examination  Papers,  used  in  the  Gra- 
duate School  of  Business  Administration  of  Harvard  University  vom 
Juni  1911  und  1912;  ferner  Papers  used  at  the  Annual  Examinations 
in  Law,  held  at  Harvard  University  vom  Juni  1911  und  1912. 


—    38     — 

Beispiel  den  Pow  Wow  Club  der  Harvard  Law  School.^») 
Das  Practical  Training  in  Pleading  ist  der  Zweck  dieser 
Clubs  (Waentig,  a.  a.  0.,  S.  90). 

Daß  die  Harvard-Studenten  der  Rechte  vom  ersten 
Jahr  an  sich  durch  hervorragenden  Fleiß  auszeichnen, 
wird  übereinstimmend  versichert.  Dies  hat  mir  auch 
mein  Führer,  Professor  Schaub,  versichert  und  wird  bei 
Münsterberg,  H.,  S.  82,  des  näheren  ausgeführt.  Auch 
Waentig  (a.  a.  0.,  S.  80)  ist  voll  des  Lobes  über  den 
Fleiß  der  Juristen  in  Harvard.  Das  flotte  Studenten- 
leben wird  in  die  Collegezeit  verlegt  und  mit  dem  Ein- 
tritte in  das  Rechtsstudium  beginnt  der  Ernst  des  Lebens. 
Die  Communis  Opinio  sieht  daher  mit  Recht  die  Harvard 
Law  School  als  eine  mustergültig  eingerichtete  Rechts- 
schule an. 

In  dem  bei  Wheeler  (a.  a.  0.,  S.  48)  zitierten  Be- 
richte des  United  States  Commissioner  of  Education  sind 
Statistiken  von  606  Erziehungsanstalten  enthalten,  die 
sich  die  Titel  Universität,  College  und  Polytechnikum 
beilegen. 30)  139  von  diesen  nennen  sich  Universitäten,  die 


2»)  Über  den  Pow  Wow  Club  berichtet  Waentig  (a.a.O.,  S.90): 
"Seine  die  drei  Jahrgänge  in  gleicher  Zahl  repräsentierenden  Mitglieder 
formieren  sich  zu  drei  je  achtfach  besetzten  Gerichtshöfen,  dem  Supe- 
rior  Court,  dem  Supreme  Court  und  dem  Court  of  Appeals.  Die  acht 
Mitglieder  des  ersten  Jahrganges  nun  haben  während  des  Studienjahres 
je  16  Fälle  zu  verhandeln,  derart,  daß  aus  ihrer  Mitte  je  ein  Anwalt 
für  den  Kläger  und  für  den  Beklagten  bestellt  wird,  während  die 
übrigen  sechs  als  Richter,  und  zwar  unter  dem  Vorsitze  eines  Ver- 
treters des  zweiten  Jahrganges  als  Chief  Justice  fungieren.  Die  Ange- 
hörigen des  zweiten  Jahrganges  verhandeln  etwas  seltener,  aber  in 
derselben  Weise,  nur  daß  die  Chief  Jus tices  diesmal  dem  dritten  Jahr- 
gange entnommen  werden,  der  sich  als  Court  of  Appeals  einmal  im 
Jahre  mit  den  Mitgliedern  des  Supreme  Court  zur  Durchführung  eines 
House  of  Lords  Case  vereinigt". 

2°)  In  dem  mir  vorliegenden  Eeport  of  the  Commissioner  of 
Education  (bis  Juni  1911,  siehe  oben  S.  5),  II,  p.  883  sq.  sind  unter 
dem  Schlagworte  Universities,  Colleges  and  Technical  Schools  581  In- 
stitutions aufgezählt  (gegen  602  für  1909/10).  Es  heißt  hier:  Es  werden 
nur  solche  Institutionen  aufgezählt,  welche:  a)  autorisiert  sind,  Grade 


—    39    — 

große  Mehrzahl  der  übrigen  Colleges.  In  der  im  Jahre 
1900  gegründeten  Vereinigung  amerikanischer  Universi- 
täten sind  aber  nur  22  Institute  vereinigt  (Wheeler, 
a.  a.  0.,  S.  48)  und  Perry  (a.  a.  0.,  S.  89)  führt  statisti- 
sches Material  von  nur  23  der  angesehensten  Universi- 
täten an.  Wir  entnehmen  dieser  Aufzählung  die  schon 
oben  erwähnte  Tatsache,  daß  man  sich  hüten  muß,  jede 
Anstalt,  welche  sich  University  nennt,  mit  europäischen 
Universitäten  in  Vergleich  zu  ziehen.  Jede  Anstalt,  welche 
einer  Universität  in  unserem  Sinne  gleichkommt,  hat  eine 
College,  aber  man  darf,  wie  schon  oben  dargelegt  wurde, 
nicht  entfernt  jedes  College,  auch  nicht  ein  solches,  das 
sich  University  nennt,  mit  einer  deutschen  oder  öster- 
reichischen Universität  in  Vergleich  ziehen.^i) 

In  dem  bei  Wheeler  (a.  a.  0.,  S.  105)  bezogenen 
Berichte  des  United  States  Commissioner  of  Education 
über  das  Jahr  1907  sind  von  480  Colleges  25  mit  einer 
Undergraduates-Frequenz  von  über  1000  genannt,  während 
die  Zahl  der  Institute,  die  weniger  als  500  Under- 
graduates  aufweisen,  423  beträgt,  und  zwar  fällt  ein 
Drittel  der  gesamten  Undergraduates  auf  die  großen  und 
ungefähr  zwei  Drittel  auf  die  kleineren  Colleges.  "Das 
amerikanische  College  soll  die  Hochschule  für  die  all- 
gemeine Bildung  des  Gentleman  sein"  (Münsterberg, 
IL,  S.  68). 

Ursprünglich  wohnten  die  Studenten  in  den  College- 
gebäuden. Mit  dem  Wachstum  der  Institute  ist  dieser 
Faktor  zurückgetreten,  aber  das  Wohnen  in  den  College- 
räumen bildet  selbst  an  den  größeren  Anstalten  das  be- 
liebteste (Münsterberg,  IL,  S.  72).32) 

zu  geben;  h)  welche  bestimmte  Standards  of  Admission  und  c)  welche 
wenigstens  zwei  Jahre  Arbeit  verlangen  of  Standard  College  Grade 
und  welche  wenigstens  20  Studenten  im  College  State  haben. 

*^)  Nach  Perry  (a.  a.  0.,  S.  6  ff.)  gibt  es  derzeit  nur  eine  Uni- 
versität, welche  kein  College  hat,  nämlich  die  katholische  Universität 
von  Amerika  in  "Washington  D.  C.  (District  of  Columbia). 

'^2)  Wheeler  (a.  a.  0.,  S.  170):  "Während  in  Harvard,  Yale  und 
Princeton  die  Schlafsäle  (Dormitories)  sehr  in  den  Vordergrund  treten 


—    40    — 

Gegen  die  Verbindung  des  College  mit  den  Universi- 
täten wird  geltend  gemacht,  daß  die  Universitäten,  um 
den  Anforderungen  des  College  zu  genügen,  ihre  Fakul- 
täten durch  zahlreiche  billige,  lediglich  für  den  Schul- 
unterricht bestimmte  Kräfte  vermehren  müssen,  welche 
dann  auf  höhere  Stellen  vorrücken;  daraus  folgt  dann, 
daß  sich  neben  den  gediegenen  Forschern  und  akademi- 
schen Lehrern  auf  derselben  Stufe  Leute  befinden,  die 
nur  den  rein  schulmäßigen  Ansprüchen  des  College  ge- 
wachsen sind,  aber  durchaus  nicht  den  Anforderungen 
eines  wirklichen  Universitätsunterrichtes  (Noe,  Inter- 
nationale Wochenschrift,  1908,  S.  919 f.).  Bei  Wheeler 
(a.  a.  0.,  S.  64)  heißt  es  aber  freilich:  "Das  College  ist 
eine  echt  amerikanische  Schöpfung,  aus  amerikanischen 
Zuständen  hervorgegangen;  es  ist  charakteristisch  für 
das  amerikanische  System;  es  ist  in  der  Hauptsache  der 
Schöpfer  der  amerikanischen  sekundären  Schule  und  es 
ist  heute  noch  Herz  und  Seele  der  amerikanischen 
Universität."  33) 

Der  Bildungsgang  eines  amerikanischen  Studenten 
ist  folgender:  1.  Die  Elementarausbildung  wird  gegeben 
in  den  sogenannten  Primary  Schools  (auch  Elementary 
Schools  und  manchmal  auch  Grammar  Schools  genannt). 
Diese  Primary  Schools  sind  öffentliche  Schulen  (Public 
Schools)  und  ihnen  gleichstehende  Privatschulen. 3*)  Der 
Elementarunterricht  dauert  acht  Jahre.  Eine  Herabsetzung 


und  den  Ton  des  Collegelebens  stark  beeinflussen,  fehlen  sie  fast  voll- 
ständig an  den  Staatsuniversitäten,  einige  Schlafsäle  für  Fraueu  aus- 
genommen". 

^'^)  Der  oben  S.  4  zitierte  Aufsatz  des  Präsidenten  der  Stanford 
üniversity,  David  Starr  Jordan,  schließt  aber  mit  den  Worten: 
"...  und  als  Rettung  gibt  es  für  uns  nur  einen  Ausweg,  die  völlige 
Trennung  von  College  und  Universität". 

ä*)  In  drei  Viertel  aller  amerikanischen  Staaten  —  die  Ausnahmen 
gehören  dem  Süden  an  —  existiert  ein  Schulzwang  (Freund,  a.a.O., 
S.  318).  In  wenigen  Staaten  findet  sich  die  ausdrückliche  Bestimmung, 
daß  auch  der  Privatunterricht  in  englischer  Sprache  erteilt  werden  muß, 
so  zum  Beispiel  in  Massachusetts  und  in  Wisconsin.    Der  öffentliche 


—    41     — 

dieser  Zeit  auf  sechs  oder  sieben  Jahre  kommt  aber 
vor.  2.  Der  Elementarschule  folgt  die  vierklassige  High 
School,  hierauf  3.  das  vierjährige  College.  Wir  haben 
schon  gehört,  daß  an  manchen  Universitäten  der  Fach- 
unterricht vor  der  Absolvierung  des  College,  also  im 
dritten  oder  vierten  Jahre  des  College  beginnt.  4.  Nach 
dem  College  folgt  der  Fachunterricht,  der  bei  Juristen 
drei  Jahre,  bei  Medizinern  vier  Jahre  und  auf  der  philo- 
sophischen Fakultät  auch  drei  Jahre  beträgt.  Die  Bildungs- 
zeit eines  amerikanischen  Studenten  ist  also  eine  un- 
gewöhnlich lange  — .  es  ist  dies  auch  einer  der  JCon- 
traste  des  amerikanischen  Lebens  —  für  den  Mediziner 
20  Jahre,  für  den  Juristen  und  Philosophen  19  Jahre. •^^) 


Es  gibt  Staatsuniversitäten  und  Privatuniversitäten. 
Bei  Wheeler  (a.  a.  0.,  S.  153)  findet  sich  folgende  Auf- 
zählung : 

Ä.  Privatstiftungen :  Harvard,  Yale,  Columbia,  Penn- 
sylvania,  Cornell,   Chicago,  Johns  Hopkins,   Stanford. 


Unterricht  ist  in  allen  Staaten  frei.  Dies  gilt  sowohl  für  das  niedere 
Unterrichtswesen  (Elementary  Schools)  wie  für  das  mittlere  Unterrichts- 
wesen.  Zum  mittleren  Unterrichtswesen  gehören  in  Amerika  die  vier- 
klassigen  High  Schools,  welche  ehenfalls  entweder  Public  Schools  sind 
oder  Privatschulen.  Die  Latin  Schools,  Gramraar  Schools,  Preparatory 
Schools  gehören  vielfach  auch  zu  den  High  Schools  (Rambeau,  a.  a.  0., 
S.  134). 

Die  zum  niederen  ünterrichtswesen  gehörenden  Kindergardens, 
obwohl  deutscher  Herkunft,  haben  in  Amerika  eine  weit  größere  Wichtig- 
keit, Beliebtheit  und  Ausbildung  erhalten  als  in  Deutschland  (Rambeau, 
a.  a.  0.,  S.  134).  Normal  Schools  ist  die  offizielle  Bezeichnung  für 
Lehrerseminare;  es  gibt  Public  Normal  Schools  und  Private  Normal 
Schools  (Report  of  the  Commissioner  of  Education,  p.  1080  sqn.). 

Zu  den  Professional  Schools  zählt  der  eben  zitierte  Report,  11., 
p.  1054:  a)  Schools  of  Law;  b)  Medical  Schools;  c)  Schools  for  Pro- 
fessional Nurses  (Pflegerinnen);  d)  Schools  of  Theology. 

ä*)  Ungerechnet  etwaiger  Jahre,  die  der  Knabe  in  einem  Kinder- 
garten zugebracht  hat.  Eine  Abkürzung  dieser  Zeit  kommt  allerdings 
vor,  da,  wie  wir  gehört  haben,  der  Elementarunterricht  unter  Umstän- 
den nur  sechs  oder  sieben  Jahre  beträgt  und  ein  oder  zwei  Jahre  des 


—     42     — 

B.  Staatsuniversitäten:  Michigan,  Wisconsin,  Minne- 
sota,   California,   Illinois,   Missouri,   Indiana. 

Perry  (a.  a.  0.,  S.  40)  bezeichnet  die  Universitäten 
von  Michigan,  Minnesota,  Wisconsin  und  California  als 
Staatsuniversitäten,  Kollegiengelder  gibt  es  an  keiner 
amerikanischen  Universität.  An  den  Staatsuniversitäten 
ist  das  Unterrichtshonorar  entweder  sehr  gering  oder 
es  wird  überhaupt  keines  erhoben.  An  den  Privatuniver- 
sitäten beläuft  es  sich  nach  der  Angabe  von  Wheeler 
(a.  a.  0.,  S.  168)  jährlich  auf  100  bis  150  Dollars.36) 
Interessant  ist  die  Mitteilung  Wheelers,  daß  das  Budget 
mancher  Staatsuniversitäten  nach  einem  bestimmten 
Prozentsatze  der  Staatseinnahmen  fixiert  ist;  so  bezieht 
die  Universität  California  zum  Beispiel  3  Cents  von  je 
100  Dollars  der  abgeschätzten  Staatseinnahmen  (des  ab- 
geschätzten Taxpreises).  Diese  Taxe  wirft  nach  Wheeler 
für  das  Jahr  1910  700.000  Dollars  ab.  Außerdem  emp- 
fängt die  Universität  eine  direkte  Geldbewilligung  von 
150.000  Dollars  und  ungefähr  100.000  Dollars  für  be- 
sondere  Zwecke.     Ihr   Gesamteinkommen   pro   Jahr  ist 

College  dadurch  erspart  werden,  daß  in  die  letzten  Collegejahre  der 
Fachunterricht  gelegt  wird.  Für  die  Harvard  Law  School  existiert 
diese  Möglichkeit,  wie  wir  gehört  haben,  nicht. 

Münsterberg  (II.,  S.  92 ff.)  teilt  folgende  interessante  Daten 
mit:  Die  Zahl  der  Medizinstudenten  betrug  im  Jahre  1900  25.213;  im 
Jahre  1910  gab  es  135  medizinische  Anstalten  mit  7586  Dozenten  und 
21.394  Studenten.  Die  Zahl  der  Medizinstudenten  hat  also  in  den 
letzten  zehn  Jahren  abgenommen.  Ferner  bringt  Münsterberg  folgende 
Ziffern  von  602  Erziehungsanstalten  (Colleges,  Universitäten):  1910  haben 
in  diesen  602  Instituten  119.578  männliche  und  52.315  weibliche 
Studenten  studiert.  Die  Zahl  der  Studentinnen  hat  sich  in  den  letzten 
zwei  Dezennien  verfünffacht,  die  der  männlichen  kaum  verdreifacht. 
142  Institute  sind  nur  für  männliche  Studenten,  352  für  beide  Ge- 
schlechter und  108  Colleges  sind  nur  für  Frauen  offen.  Der  Bachelor- 
grad, durch  den  die  Collegestudien  beendigt  werden,  wurde  1910  an 
17.000  Männer  und  an  8000  Frauen  verliehen,  das  Doktorat  der  Philo- 
sophie an  366  Männer  und  an  44  Frauen. 

*^)  Bezüglich  der  Tuitions  Fees  der  Rockef eller- Universität  in 
Chicago  und  der  Harvard-Universität  vgl.  oben  S.  25. 


—    43     — 

ungefähr  anderthalb  Millionen  Dollars  (Wheeler,  a.a.O., 
S.  167).  Ferner  erhält  sie  68.000  Dollars  als  Unterstützung 
für  landwirtschaftlichen  Unterricht  und  hat  ein  Ein- 
kommen aus  ihrem  vier  Millionen  Dollars  betragenden 
Stiftungskapital.  Über  die  großen  Privatunterstützungen, 
die  der  Universität  California  zugewendet  werden,  be- 
richtet Wheeler  (a.  a.  0.,  S.  168 f.)  ausführlich.  Perry 
(a.  a.  0.,  S.  42)  berichtet  von  einer  viele  Millionen  Dollars 
betragenden  reichen  Zuwendung  der  Frau  Phoebe  Hearst 
an  die  Universität  California. 3'^) 

Die  Leitung  der  Staatsuniversitäten  liegt  in  den 
Händen  eines  Verwaltungsrates  (Board  of  Trustees  oder 
Board  of  Regents).  Dieser  Verwaltungsrat  wird  vom  Volke 
oder  von  der  Legislatur  gewählt  oder  vom  Gouverneur 
ernannt.  Das  Amt  eines  Trustee  oder  Regent  ist  ein 
Ehrenamt.  Der  Verwaltungsrat  ernennt  den  ohne  Zeit- 
beschränkung ernannten  Präsidenten.  Auch  Privat- 
universitäten haben  einen  Verwaltungsrat  und  einen 
Präsidenten. 

Der  Verwaltungsrat  der  Universität  Chicago  heißt 
Board  of  Trustees.  Die  Harvard  Universität  hat  einen 
aus  sieben  Mitgliedern  bestehenden  Board,  Corporation 
genannt  oder  auch  the  President  and  Fellows  of  Harvard 
College;  dieser  Board  besteht  aus  dem  Präsidenten,  fünf 
Fellows  und  dem  Treasurer.  Die  Harvard  University  hat 
ferner  einen  aus  30  Mitgliedern  bestehenden  Aufsichts- 
rat, zu  welchem  außerdem  der  Präsident  und  der  Schatz- 
meister (Treasurer)  ex  officio  zählen. ^s)  Die  Corporation 


")  Die  Universitätsgründe  im  Ausmaße  von  250  Acres  liegen 
ungemein  malerisch  und  enthalten  eine  Reihe  überaus  stattlicher  und 
schöner  Gebäude,  ferner  das  sehr  interessante  griechische  Theater, 
welches  12.000  Sitzplätze  faßt  und  für  Konzerte  und  andere  öffentliche 
Aufführungen  sowie  für  Universitätsversammlungen  verwendet  wird. 
Dem  prächtigen  kalifornischen  Klima  entsprechend  ist  dasselbe  natürlich 
ein  Freilufttheater.  Leider  war  mein  Besuch  der  Berkeley-Universität 
auf   eine   flüchtige  Besichtigung   der  Universitätsgebäude   beschränkt. 

**)  Vgl.  A  Sketch  of  the  History  and  Organization  of  Harvard 
University,  p.  11. 


_    44     — 

ergänzt  sich  durch  Cooptation  selbst.  Die  Mitglieder  des 
Aufsichtsrates  werden  von  den  Graduates  gewählt,  und 
zwar  jeden  Juni  sechs  auf  je  fünf  Jahre.  Jeder  ehemalige 
Harvard-Student  ist  fünf  Jahre,  nachdem  er  den  Bachelor- 
grad erhalten  hat,  wahlberechtigt.  Dem  Aufsichtsrate 
(Board  of  Overseers)  steht  die  Bestätigung  jeder  An- 
stellung und  Neugestaltung  zu. 

Die  Anstellung  der  Professoren  geschieht  sowohl  an 
den  Staatsuniversitäten  wie  an  den  Privatuniversitäten, 
die  einen  Board  of  Trustees  besitzen,  durch  die  Regents 
oder  Trustees  auf  Empfehlung  des  Präsidenten.  In 
Harvard  bedarf,  wie  wir  eben  gehört  haben,  die  An- 
stellung zudem  der  Bestätigung  durch  den  Aufsichtsrat.^^^) 


^^)  In  dem  bereits  wiederholt  zitierten  Sketch  of  the  History  and 
Organization  of  Harvard  University  finde  ich  folgende  Angaben  über 
die  Verfassung  dieser  Universität  (p.  11  sq.):  Die  Korporation  ist  eine 
sich  selbst  ergänzende  Körperschaft  (a  self-perpetuating  body).  Der 
Korporation  steht  die  Kontrolle  der  finanziellen  und  der  Unterrichta- 
verwaltung  zu.  Der  Aufsichsrat,  zu  welchem,  wie.  erwähnt,  der 
Präsident  und  der  Treasurer  hinzuzählen  sind,  besitzt  eine  unbestimmte 
(undefined),  aber  ausgedehnte  Machtstellung.  Die  Zustimmung  des 
Aufsichtsrates  ist  notwendig  für  die  Wahl  der  Verwaltungsratsmit- 
glieder (Members  of  the  Corporation)  und  der  Professoren,  sowie  für 
die  Anstellung  aller  höheren  Beamten  des  Unterrichts  und  der  Ver- 
waltung. An  den  Aufsichtsrat  gelangen  alle  wichtigen  Organisations- 
fragen der  Korporation  sowohl  wie  der  verschiedenen  Fakultäten  (all 
important  constitutional  acts).  Der  Aufsichtsrat  hat  die  Verpflichtung, 
jede  Anstalt  (part)  der  Universität  durch  eines  der  zahlreichen  Spezial- 
komitees  zu  beaufsichtigen  und  darüber  den  Vorständen  der  betreffen- 
den Abteilungen  Bemerkungen  (recommendations)  zu  machen.  Der 
Präsident  ist  Mitglied  sämtlicher  Fakultäten  ebensowohl  wie  des  Ver- 
waltungsrates und  des  Aufsichtsrates  und  wohnt  tatsächlich  allen  Ver- 
sammlungen dieser  Körperschaften  bei.  Die  Professoren  und  die  höheren 
Funktionäre  werden  vom  Verwaltungsrate  und  dem  Aufsichtsrate  auf 
Vorschlag  des  Präsidenten  nach  einer  Besprechung  und  Beratung  (after 
informal  consultation)  mit  den  Professoren  der  betreffenden  Abteilung 
ernannt.  In  den  Professional  Schools  haben  die  Dekane  regel-^ 
mäßig  die  volle  Verantwortung  für  die  Organisation,  Disziplin  und 
Erziehung  (educational  work)  mit  dem  Kontrollrecht  des  Budgets. 
Das  Harvard  College  und  die  Graduate  School  of  Arts  and  Sciences 
stehen  unter  der  unmittelbaren  Leitung  des  Präsidenten.    Wir  sehen 


—    45    — 

Der  Verwaltüngsrat  überläßt  überall  die  Organisation 
und  den  Ausbau  der  wissenschaftlichen  und  der  Lehr- 
arbeit dem  Präsidenten,  beziehungsweise  dem  Lehrkörper. 
Auf  die  Anstellung  der  Professoren  hat  der  Präsident 
den  größten  Einfluß.  Daß  sich  der  Präsident  bei  seinem 
Lehrerkollegium  Rat  erholt,  bürgert  sich  immer  mehr 
ein.  Wheeler  (a.  a.  0.,  S.  170)  teilt  mit,  daß  in  der 
Universität  von  Kalifornien,  "wenn  eine  Professur  zu 
besetzen  ist,  die  Professoren  der  fünf  nächstverwandten 
Fächer  in  Gemeinschaft  mit  dem  Präsidenten  die  Wahl 
treffen",  oder  doch  wenigstens  eine  Liste  von  drei  oder 
vier  Namen  in  der  Reihenfolge  ihrer  Qualifizierung  auf- 
stellen. 

Die  Professoren  werden  ihrem  Range  entsprechend 
auf  eine  Anzahl  von  Jahren  oder  permanent  angestellt, 
jedoch  ohne  einen  vertragsmäßigen  Anspruch  auf  Ver- 
bleiben im  Amte  zu  haben  (Freund,  a.  a.  0.,  S.  319). 
Rambeau  (a.  a.  0.,  S.  330)  spricht  von  willkürlichen  Ent- 
lassungen und  meint,  das  nützlichste  wäre  Anstellung 
auf  eine  bestimmte  Anzahl  von  Jahren,  wenn  alles  klar 
und  unzweideutig  schriftlich  festgestellt  wird,  so  daß 
man  das  gerichtlich  verwerten  könnte.  Die  Anstellung 
auf  Lebenszeit  gewähre  dem  Professor  keinen  Schutz. 
Auch  Wheeler  (a.  a.  0.,  S.  169)  sagt  von  der  in  die  Hände 
des  Präsidenten  gelegten  Machtfülle :  "In  einigen  Fällen 
ist  diese  Macht  willkürlich  gebraucht  worden,  aber  dies 
ist  nicht  oft  der  Fall."  Rambeau  (a.  a.  0.,  S.  121f.) 
führt  aus,  die  Wissenschaft  und  das  höhere  Unterrichts- 
wesen in  Amerika  verdanke  einen  großen  Teil  seiner 
Blüte  den  Feldherrn  der  Industrie  und  meint,  daß  infolge 
der  Millionenspenden  die  Lehrkörper  der  amerikanischen 
Universitäten,  Colleges  und  Institute  in  ein  bedenklich 
drückendes    Verhältnis    der    Abhängigkeit    vom    Kapital 


hieraus,  daß  der  Präsident  der  Harvard-Universität,  und  dasselbe  gilt 
auch  von  den  Präsidenten  anderer  amerikanischer  Universitäten, 
eine  Stellung  einnimmt,  für  die  es  an  den  deutschen  und  österreichischen 
Universitäten  kein  Analogon  gibt. 


—     46     — 

immer  mehr  geraten  oder  zu  geraten  im  Begriffe  sind. 
Dessenungeachtet  sagt  Rambeau  zum  Schlüsse  der 
ersten  Serie  seiner  überaus  interessanten  Studien  (a.  a.  0., 
S.  339) :  "In  der  Tat  haben  ja  auch  die  neuen  und 
neuorganisierten  amerikanischen  Universitäten  und  tech- 
nischen Institute  erstaunliche  Ergebnisse  ihrer  Arbeit  auf- 
zuweisen. Zweifellos  haben  sie  in  hohem  Maße  dazu 
beigetragen,  die  neue  amerikanische  Kultur  zu  schaffen, 
und  diese  steht  sehr  hoch  da  und  ist  doch  erst  in  ihrer 
Anfangsperiode."  In  einem  bei  Fuchs,  "Juristischer 
Kulturkampf",  S.  71,  mitgeteilten  Berichte  über  Vorträge, 
welche  der  amerikanische  Austauschprofessor  Tombo 
von  der  Columbia  Universität  in  New  York  im  Jahre 
1910/11  in  verschiedenen  deutschen  Städten  über  amerika- 
nisches Universitätsleben  gehalten  hat,  ist  gesagt,  es  gebe 
drüben  Tausende  von  jungen  Männern,  die  das  Geld 
für  ihre  Studien  selbst  verdienen.  Es  sei  schon  an  einer 
Universität  damit  begonnen  worden,  die  Ingenieur- 
studenten abwechselnd  je  eine  Woche  Vorlesungen  hören 
und  regelrecht  als  Arbeiter  in  einer  Fabrik  bei  einem 
Stundenlohn  von  75  Pfennigen  arbeiten  zu  lassen.  Ich 
selbst  habe  einen  hervorragenden  Professor  der  Botanik 
an  einer  großen  amerikanischen  Universität  kennen  ge- 
lernt, der  in  seiner  Studentenzeit  als  Nachttelegraphist  sich 
seinen  Lebensunterhalt  verdient  hat.^o)  Der  amerikanische 


*")  Auf  einer  Fahrt  von  Montreal  nach  Prescott  auf  einem 
Flußdampfer  habe  ich  zum  ersten  Male  Studenten  als  Kellner 
gesehen;  der  Captain  (Oberkellner)  war  ein  junger  Arzt.  Der 
Kellner,  der  uns  serviert  hat,  war  ein  junger  Student  der  Rechte  von 
der  Universität  Toronto.  Etwa  eine  Stunde  nach  dem  Diner  bewegten 
sich  die  jungen  Herren  vollkommen  frei  und  ungezwungen  unter  den 
Passagieren  des  Dampfers.  Ich  hatte  mit  dem  jungen  Herrn,  der  uns 
kurz  vorher  bedient  hatte,  ein  Gespräch  über  die  Vorlesungen,  die  er 
über  römisches  Recht  gehört  hatte.  Die  Studenten  verbringen  ihre 
Ferienzeit  als  Kellner  auf  den  Flußbooten.  Ein  Seitenstück  dazu  fand 
ich  im  Yellowstone  Park,  in  dessen  ausgezeichnet  geführten  Hotels 
uns  wiederholt  junge  Damen  bedienten,  welche  Studentinnen  von 
Colleges  aus  dem  westlichen  Amerika  waren. 


—     47     — 

Student  lebt  sehr  mäßig;  die  meisten  Klubhäuser  sind 
alkoholfrei,  in  Harvard  sind  keine  alkoholischen  Getränke 
irgendwelcher  Art  gestattet,  selbstverständlich  nicht  in 
den  Dining  Halls  und  in  der  Harvard  Union,  wo  gegen 
3000  Studenten  regelmäßig  ihre  Mahlzeit  nehmen.  Ferner 
dürfen  an  gewissen  Tagen  auch  Punsche  und  Liköre 
nicht  in  den  Privatzimmern  einzelner  Studenten  serviert 
werden.*!)  Auch  in  der  Stadt  Cambridge,  in  welcher  die 
Harvard  Universität  liegt,  gibt  es  keine  Saloons  und  es 
ist  dies,  wie  ein  Harvard-Professor  sich  mir  gegenüber 
geäußert  hat,  die  größte  "no  licence  town"  der  Welt.*-) 


Hintrager,  a.  a.  0.,  S.  138,  teilt  mit,  er  habe  an  der  Washington 
Universität  in  St.  Louis  juristische  Vorlesungen  besucht,  und  erzählt, 
daß  die  Studenten  die  Vorlesungen  besuchen  müssen.  Ihre  Anwesen- 
heit wird  durch  Aufruf  kontrolliert;  sie  werden  auch  abgefragt.  Dann 
geht  jeder  wieder  seiner  Wege  und  arbeitet  fleißig  zu  Hause.  Nur 
einmal  in  der  Woche  kommen  die  Studenten  abends  zusammen,  aber 
nicht  zum  Singen  und  zum  Trinken,  sondern  zu  juristischen  Diskussionen 
und  Abhaltung  von  nachgeahmten  Gerichtsverhandlungen,  Moot  Courts, 
bei  denen  hie  und  da  ein  Richter  den  Vorsitz  führt. 

*^)  In  den  Regulations  for  Students  in  Harvard  College  1908/09 
heißt  es  zu  Punkt  24:  "No  punches  or  distilled  liquors  shall  be  allowed 
in  any  students  room  at  the  opening  of  the  College  Year,  on  Class 
Day,  or  on  Commencement  Day.  Every  tenant  is  held  responsible  for 
the  observance  of  this  rule  in  bis  own  room." 

*2)  Außerordentlich  interessante  Ausführungen  über  das  amerika- 
nische Studentenleben  gibt  Wheeler  (a.  a.  0.,  S.  188 ff.).  Eigenartig 
ist  die  Einrichtung  der  California-Universität,  wonach  die  gesamte 
Disziplinargewalt  über  die  Studierenden  in  den  Händen  von  selbständig 
beratenden  und  entscheidenden  Studentenkomitees  liegt.  Daß  das  früh- 
zeitig entwickelte  Gefühl  der  Billigkeit  und  Gerechtigkeit  der  amerika- 
nischen Jugend  trotz  dem  nahezu  gänzlichen  Fehlen  von  Disziplinar- 
mitteln  zu  einem  befriedigenden  Verhältnis  zwischen  Lehrern  und 
Schülern  führt,  sowie  über  das  Selfgovernment  der  amerikanischen 
College  Studenten  vgl.  Rambeau,  a.  a.  0.,  S.  315  ff. 


—     48     — 

II.  Kapitel. 
Bund  und  Staaten.  —  Gerichte  und  Anwälte. 

§  1- 

Die  amerikanische  Union  ist  ein  Bundesstaat.  Das 
Gebiet  der  Vereinigten  Staaten  besteht  aus :  a)  48  Staaten ; 
h)  dem  District  of  Columbia  mit  der  Hauptstadt 
Washington,  welcher  vom  Bunde  direkt  verwaltet  wird; 
c)  der  Kanalzone  Panama,  welche  von  der  Exekutiv- 
regierung verwaltet  wird;  d)  dem  Territorium  von 
Alaska;  e)  den  Inselbesitzungen,  zu  welchen  Porto  Rico 
Hawai  und  die  Philippinen  gehören,^) 


^)  Die  amerikanische  Union  ist  nur  in  der  Zeit  von  1777/78  bis 
1787  auf  Grund  der  sogenannten  Konförderationsartikel  ein  Staaten- 
bund gewesen.  Seit  der  unter  dem  Vorsitze  von  George  Washington 
in  Philadelphia  von  der  Konförderation  1787  beratenen  und  beschlossenen 
Verfassung  wird  die  Union  zu  einem  Bundesstaat.  Vgl.  Freund,  a.  a.  0., 
S.  4  ff. :  "Mit  Recht  dürfen  die  Begründer  der  amerikanischen  Union 
das  Verdienst  beanspruchen,  in  das  Staatenleben  der  Welt  den  Typus 
einer  weitumfassenden  und  dauerhaften  Bundesstaatsorganisation  ein- 
geführt zu  haben." 

Die  Area  der  Vereinigten  Staaten  umfaßt  3,026.789  square  miles, 
die  Area  des  Noncontinguous  Territory  716.555  square  miles.  Die  Ge- 
samtbevölkerung der  Vereinigten  Staaten  nach  dem  Zensus  von  1910 
betrug  91,972.386,  nach  einer  Schätzung  für  1911  93,792.589  (est). 
Die  Gesamtbevölkerung  der  Vereinigten  Staaten  betrug  1900  75,994.575. 
Die  Gesamtbevölkerung  des  Noncontinguous  Territory  betrug  nach  dem 
Zensus  von  1910  9,782.493.  Das  Noncontinguous  Territory  besteht  aus 
Alaska,  Hawai,  Philippins  Islands,  Guam,  Porto  Rico,  Tutuila  Group 
(Samoa)  und  der  Panama-Kanalzone. 

Der  größte  Staat,  Texas,  hat  265.896  square  miles  mit  nur 
3,896.542  Einwohnern.  Der  kleinste  Staat  an  Einwohnerzahl  und 
Flächenmaß  ist  Delaware  mit  2370  square  miles  und  202.322  Ein- 
wohnern. Der  bevölkertste  Staat  ist  New  York.  Derselbe  hat  auf 
einem  Flächenareal  von  49.204  square  miles  9,113.614  Einwohner  (Year 
Book,  p.  24).  Im  Jahre  1900  hatte  der  Staat  New  York  7,268.894  Ein- 
wohner.    Der   Prozentsatz    des  Zuwachses  in  diesem  Dezennium  war 


—     49     — 

Der  Kongreß  besteht  aus  dem  Repräsentantenhaus 
und  dem  Senate.  Die  Zahl  der  Repräsentanten  wird  alle 
zehn  Jahre  nach  dem  Zensusergebnisse  festgesetzt.^)   Im 


also  25'4.  Die  Stadt  New  York  hat  nach  dem  Zensus  von  1910 
4,766.883  Einwohner;  1900  betrug  die  Einwohnerzahl  3,437.202,  der 
Prozentsatz  des  Zuwachses  38*7. 

Für  die  Stadt  Chicago  finde  ich  in  dem  Census  Bulletin  (vgl. 
oben  S.  5)  folgende  Einwohnerzahlen: 

1890  :  1,009.850,     1900  :  1,698.575,    1910  :  2,175.283. 

Das  Wachstum  der  Stadt  betrug  also  im  Dezennium  1890  bis  1900 
544  Prozent  im  Dezennium  1900  bis  1910  aber  nur  287  Prozent.  Der 
Staat  Illinois  (dessen  größte  Stadt  Chicago  ist)  hat  nach  dem  letzten 
Zensus  5,638.591  Einwohner  (Year  Book,  p.  113). 

Um  eine  Vorstellung  von  den  gewaltigen  territorialen  Dimen- 
sionen der  Vereinigten  Staaten  zu  geben,  möchte  ich  vergleichsweise 
folgende  Ziffern  anführen:  Die  Area  der  Vereinigten  Staaten  umfaßt, 
wie  oben  erwähnt  wurde,  3,026.789  square  miles,  also  7,836.356*721 
Quadratkilometer;  der  Flächeninhalt  der  im  österreichischen  Keichsrate 
vertretenen  Königreiche  und  Länder  beträgt  300.00458  Quadratkilo- 
meter. Die  Vereinigten  Staaten  hatten  nach  dem  Zensus  von  1910 
91,972.386  Einwohner.  In  dem  Territorium  Österreichs,  welches  rund 
ein  Sechsundzwanzigstel  des  amerikanischen  beträgt,  wohnten  aber  am 
31.  Dezember  1910  28,571.934  Einwohner.  Die  Bevölkerungsdichtigkeit 
der  einzelnen  Staaten  ist  natürlich  eine  ganz  verschiedene.  So  hatte  der 
Staat  Nevada  mit  einem  Flächeninhalte  von  286.700  Quadratkilometer, 
also  einem  Territorium,  das  nicht  viel  kleiner  ist  als  ganz  Österreich, 
nach  dem  Zensus  von  1900  bloß  42.335  Einwohner. 

Die  ungeheuren  Naturschätze  der  Vereinigten  Staaten  schildert 
Goldberger  (a.  a.  0.,  S.  17ff.).  Zwei  Beispiele:  1.  Die  Einwohnerschaft 
der  Vereinigten  Staaten  betrug  in  dem  von  Goldberger  seiner  Be- 
rechnung zugrunde  gelegten  Jahre  ungefähr  5  Prozent  der  Erd- 
bevölkerung, hatte  aber  25  Prozent  des  gesamten  bebauten  Areals  der 
Erde  in  Kultur  genommen.  2.  Das  amerikanische  Schienennetz  hatte 
im  Jahre  1902  rund  194.000  englische  Meilen,  abgesehen  von  60.000 
englischen  Meilen  Nebengeleisen.  Das  gesamte  europäische  Schienen- 
netz hatte  in  diesem  Jahre  173.000  englische  Meilen  und  das  gesamte 
Schienennetz  Deutschlands  83.000  englische  Meilen  (Goldberger, 
a.  a.  0.,  S.  25). 

2)  "Im  Jahre  1901  wurde  die  Zahl  der  Repräsentanten  auf  386 
festgesetzt  un^  1907  auf  391"    (Freund,  a.  a.  0.,  S.  105). 

Auf  Grund  des  Zensus  von  1910  besteht  das  Repräsentantenhaus 
seit  3.  März  1913  aus  443  Mitgliedern  und  mit  den  2  Mitgliedern  von 
Arizona  und  New  Mexico  (jedes  dieser  beiden  organisierten  Territorien 
Hanausek,  Amerikanische  Skizzen.  4 


—    50    — 

Senate  hat  jeder  Staat  zwei  Vertreter. 3)  Der  Senat  ist 
zugleich  Staatsgerichtshof,  High  Court  of  Impeachment.*) 
Jeder  Senator  und  jeder  Repräsentant  bezieht  ein  Gehalt 
von  7500  Dollars  und  eine  Reiseentschädigung  von 
20  Cents  für  die  Meile,  Der  Speaker  des  Repräsentanten- 
hauses bezieht  ein  Gehalt  von  12.000  Dollars.  Jedes  der 
beiden  Häuser  hat  das  Wahlprüfungsrecht  und  kann  mit 
Zweidrittelmajorität  den  Beschluß  auf  Ausschließung  eines 
Mitgliedes  fassen  (expel  a  member).^)  In  den  Senat  kann 
gewählt  werden,  wer  seit  neun  Jahren  Bürger  der  Ver- 
einigten Staaten,  Einwohner  des  betreffenden  Staates  und 
30  Jahre  alt  ist  (Verfassung,  I.,  3,  3).  In  das  Repräsen- 
tantenhaus kann  gewählt  werden,  wer  seit  sieben  Jahren 
Bürger  der  Vereinigten  Staaten,  Einwohner  des  Staates, 
in  dem  er  gewählt  werden  soll  und  25  Jahre  alt  ist 
(Verfassung,  L,   2,  2).    Goldberger  (a.  a.  0.,  S.   154) 

entsendet  einen  Repräsentanten)  aus  445  Mitgliedern  (Statesman's 
Year  Book,  p.  27). 

Die  Parteigruppierung  des  Repräsentantenhauses  von  391  Mit- 
gliedern war: 

Democrats 229 

Republicans 159 

Progressive  Republican     .    .        1 

Socialists 1 

Vacancy 1 

(Year  Book,  p.  34).  —  Das  Repräsentantenhaus  wird  durch  Volkswahl 
auf  zwei  Jahre  gewählt. 

')  Die   Senatsmitglieder   werden   durch   die   Legislatur   des   be- 
treffenden Staates  für  je  sechs  Jahre  gewählt.    Die  Senatsmitglieder 
werden  in  drei  Gruppen  geteilt,  so  daß  alle  zwei  Jahre  eine  Drittel- 
emeuerung  stattfindet   (Freund,  S.  106).    Im  Year  Book,  p.  34,  ist 
folgende  Parteigruppierung  des  Senats  mitgeteilt: 
Republicans    ...    50 
Democrats  ....    41 
Vacancy 1 

Summe    .     .    92 

*)  Year  Book,  p.  27.  —  Vgl.  hiezu  unten  S.  71  ff.  Das  Reprä- 
sentantenhaus hat  allein  die  Befugnis,  die  Staatsanklage  zu  erheben 
"the  sole  power  to  impeach",  ist  also  Staatsanklagebehörde. 

5)  Vgl.  Year  Book,  p.  27;   Freund,  a.  a.  0.,  S.  108. 


—    51    — 

teilt  mit,  daß  von  der  auf  Grund  eines  früheren  Zensus- 
ergebnisses bestimmten  Zahl  von  356  Mitgliedern  des 
Repräsentantenhauses  nicht  weniger  als  239  Lawyers 
(Advokaten)  waren,  und  ferner,  daß  von  den  98  Senats- 
mitgliedern 51  Lawyers  und  9  Staatsbeamte  waren.  Aus 
diesen  Ziffern  ergibt  sich  die  ungeheure  Beteiligung  der 
Juristen  an  der  Bundesvertretung.  "Der  Stand  der  Ad- 
vokaten liefert  die  Hauptmasse  der  Politiker  und  der 
Mitglieder  der  parlamentarischen  Versammlungen  und 
Körperschaften. "6)  Es  sei  mir  gestattet,  gleich  hier 
folgende  allgemeine  Bemerkungen  einzuschalten :  Die  Tat- 
sache der  Rezeption  des  römischen  Rechts  auf  dem 
europäischen  Kontinent  ist  vielfach  beklagt  worden  und 
wird  neuestens  insbesondere  von  der  freirechtlichen  Be- 
wegung verspottet.  Kein  Wort  des  Tadels  gegenüber  der 
Pandektenbegriffsjurisprudenz  erscheint  dieser  Richtung 
als  zu  scharf,  obwohl  sich  die  romanistisch  geschulten 
Vertreter  des  Zivilrechts  nach  besten  Kräften  bemühen, 
die  funktionellen  Wirkungen  der  Rechtssätze  und  Rechts- 
institute, ihre  wirtschaftliche  und  soziale  Wirkung  zu 
würdigen  und  zur  Geltung  zu  bringen.  Wer  das  amerika- 
nische Rechtsleben  zu  beobachten  Gelegenheit  hat,  wird 
gegenüber  diesen  Tadlern  die  Frage  stellen:  Ist  es 
leichter,  sich  über  eine  Rechtsordnung  zu  orientieren, 
ist  eine  Rechtsordnung  leichter,  einfacher  und  sicherer 
zu  handhaben,  welche  auf  romanistischer  Basis  aufgebaut 
ist?  Und  diese  Frage  wird  nach  meinem  Dafürhalten 
zugunsten    der    kontinentalen    Gesetzgebung    und    Juris- 

ö)  Rambeau,  a.  a.  0.,  S.  96.  —  Vgl,  Georg  v.  Skal,  a.  a,  0., 
S.  211:  "Für  Stellungen  aller  denkbaren  Arten,  bei  deren  Besetzung 
man  in  anderen  Ländern  nicht  auf  Juristen  verfallen  würde,  wählt 
man  in  Amerika  mit  Vorliebe  Leute,  welche  die  Rechte  studiert  haben. 
Das  geschieht  nicht  nur,  weil  der  Jurist  in  den  Vereinigten  Staaten 
mit  Recht  als  ganz  besonders  befähigt  betrachtet  wird,  ein  sachlich 
begründetes,  richtiges  Urteil  auch  in  Angelegenheiten  zu  fällen,  die 
nicht  direkt  mit  seinem  Beruf  in  Verbindung  stehen,  sondern  auch, 
weil  die  Kenntnis  von  Recht  und  Gesetzen  nicht  nur  wichtig,  sondern 
auch  viel  schwieriger  als  in  anderen  Ländern  zu  erlangen  ist." 

4* 


—    52     — 

prudenz  zu  beantworten  sein.  Nach  meinen  Beob- 
achtungen über  die  Herrschaft  der  Juristen  über  die 
Nichtjuristen  in  allen  rechtlichen  Dingen  glaube  ich  sagen 
zu  dürfen,  daß  diese  Herrschaft  in  den  Vereinigten  Staaten 
eine  viel  drückendere  ist  als  auf  dem  europäischen 
Kontinente,  insbesondere  in  Deutschland  und  in  Öster- 
reich. Wer  die  ungeheure  Menge  von  Reports,  das  heißt 
von  Sammlungen  gerichtlicher  Entscheidungen  gesehen 
hat,  aus  welchen  die  amerikanischen  Juristen  das  Recht 
schöpfen,  wird  den  Rechtsordnungen  jener  Länder,  welche 
ihr  Zivilrecht  auf  römisch-rechtlicher  Basis  kodifiziert 
haben,  gewiß  nicht  den  Vorwurf  geringerer  Volkstümlich- 
keit machen. '') 

Neben  der  Bundesverfassung  gibt  es  Verfassungen 
der  einzelnen  Staaten. 

Die  Legislatur  eines  amerikanischen  Staates  besteht 
stets  aus  zwei  Häusern,  das  kleinere  heißt  Senat,  das 
größere  House  of  Representatives.^)  Beide  Häuser  werden 
durch    Volksabstimmung     gewählt. 9)     Sechs     Staaten  lo) 


')  Georg  V.  Skal,  a.  a.  0.,  S.  211.  "Man  bedenke,  daß  in  den 
Vereinigten  Staaten  der  Kongreß  und  jeder  der  gesetzgebenden  Körper 
der  46  Einzelstaaten  jedes  Jabr  an  die  tausend  und  mehr  neue  Gesetze 
erläßt,  die  selbstverständlich  kein  Advokat  alle  kennen  kann,  für  deren 
Auffindung  und  richtiges  Verstehen  aber  schon  eine  systematische  Vor- 
bereitung erforderlich  ist.  Gesetzessammlungen  sind  vorhanden,  die, 
wie  aus  dem  Gesagten  hervorgeht,  in  jedem  Jahre  gesichtet  und 
vervollständigt  werden  müssen,  aber  Kodifizierungen  gibt  es  so  gut 
wie  nicht." 

*)  Vgl.  Bryce,  a.  a.  0.,  I.,  p.  484.  In  sechs  Staaten  heißt  das  Re- 
präsentantenhaus the  Assembly,  in  drei  Staaten  the  House  of  Delegates. 

**)  "In  der  Mehrzahl  der  Staaten  werden  die  Senatoren  auf  vier 
Jahre  und  die  Mitglieder  des  Unterhauses  auf  zwei  Jahre  gewählt; 
nur  in  vier  Staaten  findet  die  Repräsentantenwahl  und  nur  in  zwei 
Staaten  die  Senatorenwahl  jährlich  statt"  (Freund,  a.  a.  0.,  S.  116). 

Die  Zahl  der  Mitglieder  der  Legislaturen  ist  sehr  verschieden. 
Delaware  hat  den  kleinsten  Senat  von  bloß  17  Mitgliedern,  Minnesota 
mit  63  Mitgliedern  den  größten  Senat.  Delaware  hat  auch  das  kleinste- 
Repräsentantenhaus  von  35  Mitgliedern,  während  New  Hampshire,  ein. 


—    53     — 

haben  jährliche  Sitzungsperioden,  in  zwei  Staaten  tritt 
die  Legislatur  nur  alle  vier  Jahre  zusammen ii),  in  allen 
übrigen  Staaten  in  jedem  zweiten  Jahre. 

Die  Mitglieder  der  Legislatur  beziehen  in  manchen 
Staaten  ein  Jahresgehalt  i^)^  in  anderen  Staaten  ein 
fixes  Gehalt  für  die  Sitzungsperiode  i^),  in  anderen  Staaten 
bestimmte  Taggelder.i*) 

Jeder  Staat  ist  femer,  wie  wir  eben  gehört  haben, 
im  Senate  durch  zwei  Mitglieder  vertreten  und  dadurch 
nehmen  die  Staaten  auch  an  der  Bundesregierung  teil.^^) 


sehr  kleiner  Staat,  die  größte  Zahl  der  Repräsentanten  hat,  nämlich  389. 
Die  beiden  Häuser  des  Staates  New  York  haben  51  und  150  Mitglieder, 
die  von  Pennsylvania  50  und  201,  die  von  Massachusetts  40  und  240, 
die  von  North  Dakota  50  und  140.  Die  vorstehenden  Zahlen  bei 
Bryce,  a.  a.  0.,  I.,  p.  490. 

^")  Massachusetts,  Rhode  Island,  New  York,  New  Jersey,  South 
Carolina,  Georgia  (Bryce,  a.  a.  0.,  L,  p.  491). 

^^)  Alabama,  Mississippi  (Bryce,  a.  a.  0.,  L,  p.  491). 

^•-)  So  in  Ohio  1000  Dollars,  in  New  York  1500  Dollars  und  Meilen- 
gelder, in  Mississippi  400  Dollars  und  Meilengelder,  in  Massachusetts 
750  Dollars.  —  Vgl.  über  die  Bezüge  der  Mitglieder  der  Legislatur 
auch  Bryce,  a.  a.  0.,  L,  p.  491. 

^2)  So  in  New  Hampshire  200  Dollars  und  Meilengelder. 

^*)  Zum  Beispiel  in  Montana  10  Dollars  täglich  mit  der  Be- 
schränkung einer  60  tätigen  Sitzungsdauer  in  jedem  zweiten  Jahre,  in 
Idaho  5  Dollars  und  Meilengelder,  aber  nicht  mehr  als  300  Dollars. 
Die  vorstehenden  Angaben  sind  dem  Year  Book  entnommen. 

^^)  "Die  Errichtung  dieses  eigenen  Regierungssitzes  ist  eine  uns 
eigentümliche  Einrichtung"  (Woodrow  "Wilson,  a.  a.  0.,  S.  397).  — 
Im  Columbia  District  gibt  es  keinen  gesetzgebenden  Körper  und  die 
Bundeshauptstadt  Washington  ist  ganz  ohne  Selbstverwaltung.  Dieser 
Distrikt  hat  70  square  miles  und  331.069  Einwohner.  Die  Verwaltung 
wird  von  drei  vom  Präsidenten  ernannten  Commissioners  geführt. 

Im  Staate  Massachusetts  ist  die  größte  Stadt  Boston  zugleich 
Hauptstadt,  ebenso  ist  in  Rhode  Island  die  größte  Stadt  Providence 
zugleich  Hauptstadt.  In  Utah  ist  Salt  Lake  City  die  größte  Stadt  und 
Hauptstadt,  in  Virginia  ist  Richmond  Hauptstadt  und  zugleich  größte 
Stadt,  in  Wyoming,  dem  Staate,  in  dessen  Territorium  der  Yellow- 
stone-Park  liegt,  ist  Cheyenne  die  größte  Stadt  und  zugleich  Haupt- 
stadt. In  einer  ganzen  Reihe  von  Staaten  hat  man  aber  keineswegs 
die   größte  Stadt   zur  Hauptstadt  gemacht;    so  ist  zum  Beispiel  die 


—    54    — 

Bezüglich  der  Verteilung  der  Gewalten  zwischen  Staaten 
und  Bund  gilt  das  sogenannte  Enumerations-System. 
Die  Befugnisse  des  Bundes  sind  einfach  aufgezählt  und 
was  ihnen  an  Regierungsgewalt  nicht  ausschließlich  zu- 
geteilt ist,  verbleibt  den  Einzelstaaten  als  Undefinierte  und 
residuäre  Staatsgewalt.i^)  "On  definit  donc  avec  soin  les 
attributions  du  gouvernement  federal,  et  Ton  declara  que 
tout  ce  qui  n'etait  pas  compris  dans  la  definition  rentrait 
dans  les  attributions  du  gouvernement  des  Etats.  Ainsi  le 
gouvernement  des  Etats  resta  le  droit  commun;  le  gou- 
vernement federal  fut  l'exception"  (Tocqueville,  a.  a.  0., 
p.  183  sq.).  —  "Die  Staaten  sind  heute  noch  die  eigent- 
liche Quelle  der  Rechtsprechung  und  des  Rechts" 
(Woodrow  Wilson,  a.  a.  0.,  S.  369). 

Zur  Kompetenz  des  Bundes  gehören  die  auswärtigen 
Angelegenheiten,  der  Verkehr  mit  dem  Auslande  i'^),  das 


Hauptstadt  des  Staates  New  York  Albany;  im  Staate  New  Jersey  ist 
die  Hauptstadt  Trenton,  die  größte  Stadt  Newark;  im  Staate  North 
Dakota  ist  die  Hauptstadt  Bismarck,  die  größte  Stadt  Fargo ;  im  Staate 
Illinois  ist  nicht  Chicago,  sondern  Springfield  Hauptstadt;  im  Staate 
New  Hampshire  ist  die  Hauptstadt  Concord,  die  größte  Stadt  Manchester; 
die  Hauptstadt  von  New  Mexiko  ist  Santa  F6,  die  größte  Stadt  Albu- 
querque;  im  Staate  North  Carolina  ist  die  Hauptstadt  Raleigh,  die 
größte  Stadt  Charlotte;  die  Hauptstadt  des  Staates  Ohio  ist  Columbus, 
die  größten  Städte  sind  Cleveland  und  Cincinnati  (andere  größere  Städte 
über  100.000  Einwohner  im  Staate  Ohio  sind  neben  Columbus  Toledo 
und  Dayton);  in  Oregon  ist  die  größte  Stadt  Portland,  die  Hauptstadt 
Salem;  in  Pennsylvania  ist  die  Hauptstadt  Harrisburg,  die  größten 
Städte  sind  Philadelphia,  Pittsburg  und  Scranton;  in  South  Dakota  ist 
die  Hauptstadt  Pierre,  die  größte  Stadt  Sioux  Falls;  in  Tennessee  ist 
die  Hauptstadt  Nashville,  die  größte  Stadt  Memphis;  in  Texas  ist  die 
Hauptstadt  Austin,  die  größte  Stadt  San  Antonio;  in  Vermont  ist  die 
Hauptstadt  Montpellier,  die  größte  Stadt  Burlington;  in  Washington 
ist  die  Hauptstadt  Olympia,  die  größten  Städte  sind  Seattle  und  Spo- 
kane;  in  West  Virginia  ist  die  Hauptstadt  Charleston,  die  größten  Städte 
sind  Wheeling  und  Huntington;  in  Wisconsin  ist  die  Hauptstadt 
Madison,  die  größte  Stadt  Millwaukee. 

»«)  Freund,  a.  a.  0.,  S.  24. 

")  Vocke,  a.  a.  0.,  S.  1. 


—    55    — 

Recht  der  Kriegserklärung  ^8),  der  Kongreß  regelt  den 
Handel  mit  dem  Auslande  i^)  und  hat  die  Befugnis,  Be- 
stimmungen über  Seeräuberei  und  auf  hoher  See  be- 
gangene Verbrechen  und  über  Vergehen  gegen  das  Völker- 
recht und  über  deren  Bestrafung  zu  treffen^o);  der  Prä- 
sident schließt  mit  Beirat  und  Einwilligung  des  Senats 
Verträge 21),  empfängt  Botschafter  und  Gesandte. 22)  Zur 
Bundeskompetenz  gehören  ferner  das  Münz-,  Maß-  und 
Gewichtswesen,  die  Postverwaltung,  Patent-  und  Muster- 
schutz, Admiralitätsgesetzgebung,  ferner  der  gesamte 
Zwischenstaatenhandel. 23)  Das  gesamte  Privatrecht,  das 
gemeine  Strafrecht,  einschließlich  des  Zivil-  und  Straf- 
prozeßrechtes gehören  zur  Kompetenz  der  Einzelstaaten. 
Der  Bund  darf  indirekte  Steuern  auferlegen  (Schutzzölle), 
dagegen  keine  direkten  Steuern,  außer  im  Verhältnis  der 
Bevölkerung  der  Einzelstaaten.  Dagegen  dürfen  wieder 
die  Einzelstaaten  nicht  Steuern  auferlegen,  welche  den 
auswärtigen  oder  den  Zwischenstaatenhandel  belasten, 
zum  Beispiel  dürfen  die  Einzelstaaten  nicht  Steuern  auf 
Wechsel  und  Frachtscheine  legen. 2*)  Die  Gesetzgebung 


^*)  Verfassung  der  Vereinigten  Staaten,  Art.  I.,  §  8,  11* 

^*)  Verfassung  der  Vereinigten  Staaten,  Art;.  I.,  §  8,  3. 

*")  Verfassung  der  Vereinigten  Staaten,  Art.  L,  §  8,  10. 

^^)  Verfassung  der  Vereinigten  Staaten,  Art.  II.,  §  2,  2. 

^-)  Verfassung  der  Vereinigten  Staaten,  Art.  n.,  §  3,  1. 

^^)  Vgl-  Verfassung  der  Vereinigten  Staaten,  Art.  I.,  §  8,  3: 
"den  Handel  mit  fremden  Nationen  und  zwischen  den  einzelnen 
Staaten  und  mit  den  Indianerstämmen  zu  regeln."  —  Sehr  interessante 
Ausführungen  üher  die  Abgrenzung  der  Begriffe  Zwischenstaatenhandel, 
Handelsartikel  bei  Freund,  a.  a.  0.,  S.  28  ff. 

2*)  Vgl.  Woodrow  Wilson,  a.  a.  0.,  S.  371  ff.:  "Durch  die  Ver- 
fassung der  Vereinigten  Staaten  sind  allerdings  auch  den  Einzelstaaten, 
außer  den  der  allgemeinen  Regierung  vorbehaltenen,  gewisse  Rechte 
ausdrücklich  entzogen.  Kein  Staat  darf  Gesetze  zur  strafrechtlichen 
Verfolgung  einer  Person  wegen  Verbrechen,  die  dem  Gesetze  unbekannt 
sind  (Bill  of  Attainder),  erlassen,  kein  Gesetz  mit  rückwirkender  Kraft 
(ex  post  facto),  kein  Gesetz,  durch  das  eingegangene  Kontrakte  für 
ungültig    erklärt  werden,    oder  Adelstitel    verleihen.   Kein  Staat   darf 


—  se- 
in Ehesachen  steht  den  Einzelstaaten  zu.  Über  die  Folgen 
dieser  Kompetenz  spricht  Woodrow  Wilson  (a.  a.  0., 
S.  375)  folgendes  Urteil  aus :  Die  Ehe,  "diese  Lebens- 
wurzel sozialen  Gedeihens,  wird  von  vernichtender  Zer- 
setzung bedroht.  Nicht  nur,  daß  die  Ehefesseln,  die 
noch  in  einigen  Staaten  ihre  alte  Stärke  behalten  haben, 
in  vielen  stark  gelockert  worden  sind,  so  daß  die  alte 
konservative  Auffassung,  wonach  das  Familienleben  als 
das  Herz  des  staatlichen  Lebens  so  eifersüchtig  ge- 
schützt wurde,  in  Vergessenheit  zu  geraten  droht;  es 
hat  sogar  die  Mannigfaltigkeit  auf  dem  Gebiete  der 
Ehegesetzgebung  in  den  verschiedenen  Staaten  die 
skandalösesten  Vorkommnisse  bei  der  betrügerischen  Er- 
langung von  Scheidungen  und  beim  Eingehen  falscher 
Ehen   ermöglicht". ^s) 

Eine  fundamentale  Regel  des  amerikanischen  Ver- 
fassungsrechts ist  die,  daß  jedes  Mitglied  der  Bundes- 
legislatur, also  des  Senats  wie  des  Repräsentantenhauses, 
das  Recht  hat,  Gesetzes  vorschlage  zu  machen.  Der  ein- 
zubringende  Gesetzesvorschlag    bedarf    nur   der   Unter- 


ohne  Zustimmimg  des  Kongresses  Zölle  und  Handelsabgaben  erheben, 
in  Friedenszeiten  eine  stehende  Armee  oder  Kriegsschiffe  unterhalten, 
mit  einem  anderen  Staate  oder  einer  auswärtigen  Macht  Verträge 
schließen  oder  einen  Krieg  anfangen,  es  sei  denn,  er  sei  selbst  au- 
gegfriffen  oder  schwebe  in  unmittelbarer  Gefahr.  Aber  diese  Verbote 
schränken  kaum  diejenigen  Gebiete  ein,  die  überhaupt  regelmäßiger- 
weise den  Einzelstaaten  eines  Bundesstaates  vorbehalten  sein  würden." 
**)  Ein  Ort,  welcher  durch  rasche  und  kulante  Durchführung  von 
Ehetrennungen  und  Wiederverehelichungen  berühmt  geworden  ist,  soll 
Fargo  in  North  Dakota  sein.  In  einer  amerikanischen  Zeitung  lese  ich 
folgende  Notiz  aus  Eeno  in  Nevada  \om  18.  Februar  d.  J. :  "Die 
Nevada  divorce  industry  erlitt  einen  tödlichen  Schlag,  indem  der 
Senat  des  Staates  beschloß,  daß  künftighin  für  die  Trennung  ein  ein- 
jähriger Aufenthalt  vorgeschrieben  sein  soll.  Diese  Maßnahme  des 
Senates  wurde  bereits  früher  von  der  Asseinbly  beschlossen  und  der 
Gouverneur  hat  angekündigt,  daß  er  diese  Bill  genehmigen  werde."  In 
der  Notiz  heißt  es  weiter,  daß  in  den  letzten  zwei  Jahren  1281  Suits 
for  divorce  in  Reno,  einer  Stadt  von  12.000  Einwohnern,  überreicht 
worden  seien. 


—    57    — 

Schrift  des  Antragstellers  und  nicht  etwa  irgendwelcher 
anderer  Unterschriften  von  Mitgliedern  des  Hauses, 
welchem  der  Antragsteller  angehört.  Dagegen  steht  der 
Regierung,  das  heißt  dem  Präsidenten  und  den  Kabinett- 
sekretären nicht  das  Recht  zu,  Gesetzesvorschläge  ein- 
zubringen. Dasselbe  Prinzip  gilt  auch  für  die  Ver- 
fassungen der  Einzelstaaten.  Die  Folge  dieses  Systems 
ist  die,  daß  die  Gesetzesvorschläge  von  der  Regierung 
nicht  vorbereitet  werden  und  es  daher  auch  nicht  Re- 
gierungsorgane gibt,  welche  einzubringende  Gesetzes- 
vorschläge vorzubereiten  und  auszuarbeiten  haben.^ß) 
Die  Zahl  der  Bills  ist  daher  eine  außerordentlich  große. 
Bryce  (a.  a.  0.,  I.,  p.  138)  erwähnt,  daß  in  der  37.  Session 
des  Kongresses  (1861/63)  die  Gesamtzahl  der  eingebrachten 
Bills  1026  gewesen  sei,  nämlich  613  House  Bills  und 
413  Senate  Bills.27)  Während  der  51.  Session  (1889/91) 
hat  es  19.646  Bills  gegeben,  von  welchen  14.328  im 
Repräsentantenhaus  und  531^  im  Senat  eingebracht 
worden  waren,  und  in  der  Session  1909/10  soll  nach 
Freund,  a.  a.  0.,  S.  112,  Anm.  3,  die  Zahl  der  Bills 
im  Repräsentantenhause  27.000  und  im  Senat  9000  ge- 
wesen sein.  Im  Staate  New  York  aber  belief  sich  die 
Zahl  der  Bills  im  Jahre  1910  nach  Freund,  a.  a.  0., 
S.  112,  auf  2935.28) 


2«)  Vgl.  Freund,  a.  a.  0.,  S.  112,  122;  Bryce,  a.  a.  0.,  I., 
p.  57  (The  American  President  does  not  introduce  bills,  either  directly 
or  through  bis  ministers,  for  they  do  not  sit  in  Congress);  I.,  p.  170 
(In  neither  House  of  Congress  are  there  any  government  bills.  All 
measures  are  brought  in  by  private  merabers  because  all  members  are 
private);  I.,  p.  492. 

2'')  Bei  Bryce  beißt  es  wahrscheinlich  infolge  eines  Druckfehlers 
433  Senate  bills. 

^^)  Vgl.  noch  Freund,  a.  a.  0.,  S.  112:  "Die  sogenannte  Ad- 
ministration Bills  werden  von  der  Eegierung  befreundeten  Mitgliedern 
eingebracht"  und  S.  122:  "Die  juristische  Formulierung  einer  Bill  geht 
entweder  von  dem  Abgeordneten  aus,  der  dieselbe  beantragt,  oder 
wenn  dieser  sich  nicht  die  genügende  juristische  Kenntnis  zutraut,  von 
irgendeinem  Rechtsanwalt,  dessen  Name  meist  unbekannt  bleibt. 


—    58    — 

"Eine  Bill  kann  von  jedem  Haus  ausgehen,  mit 
Ausnahme  derjenigen,  die  sich  auf  die  Beschaffung  von 
Einnahmen  beziehen.  Diese  müssen  vom  Repräsentanten- 
haus ausgehen,  obwohl  der  Senat  sie  beliebig  wie  jede 
andere  Bill  amendieren  kann."29)  "Es  gibt  drei  Wege, 
wie  eine  Bill  Gesetz  werden  kann :  a)  indem  sie  die 
Zustimmung  einer  Mehrheit  in  jedem  der  beiden  Häuser 
und  die  Unterschrift  des  Präsidenten  erhält,  oder 
h)  indem  sie  die  Zustimmung  einer  Mehrheit  in  jedem 
Hause  erhält  und  der  Präsident  sie  innerhalb  zehn  Tagen 
nach  ihrer  Passierung  weder  unterzeichnet  noch  ablehnt, 
oder  c)  wenn  sie  eine  Zweidrittelmehrheit  in  jedem  Haus 
erhält,  nachdem  der  Präsident  seine  Unterschrift  aus- 
drücklich versagt  hat.  Wenn  der  Kongreß  vor  Ablauf 
der  dem  Präsidenten  zugebilligten  zehn  Tage  schließt, 
so  sind  die  bis  zum  Schlüsse  nicht  unterzeichneten  Bills 
damit  gefallen."  ^o)  Der  Präsident  braucht  also  keines- 
wegs einer  Bill  zuzustimmen,  damit  sie  Gesetz  werde, 
sondern  die  Bill  kann  Gesetz  werden,  weil  sie  der  Prä- 
sident nicht  ausdrücklich  ablehnt,  und  eine  Bill  kann 
auch  trotz  des  geübten  Vetos  des  Präsidenten  durch  Zwei- 
drittelmajorität beider  Häuser  Gesetz  werden,  also  gegen 
den  Willen  desselben,  obwohl  eine  Annahme  von  Gesetzen 
durch  Überstimmung  des  Vetos  selten  ist.^i) 


2®)  Woodrow  Wilson,  a.  a.  0.,  S.  404;  vgl.  ferner  Freund, 
a.  a.  0.,  S.  112. 

'^)  Woodrow  Wilson,  a.  a.  0.,  S.  403  ff.;  vgl.  ferner  Freund, 
a.  a.  0.,  S.  113  ff.;  im  letzteren  Falle  spricht  man  von  einem  Pocket 
Veto.  Ein  Pocket  veto  liegt  also  vor,  wenn  der  Präsident  innerhalb 
der  zehn  Tage  nicht  unterzeichnet  und  der  Kongreß  sich  während 
dieser  zehn  Tage  vertagt.  Die  Bill  verfällt  dann  eben  von  selbst. 
ßryce,  a.  a.  0.,  I.,  p.  59;  Freund,  a.  a.  0.,  S.  114. 

^^)  Freund,  a.  a.  0.,  S.  114;  Bryce,  a.  a.  0.,  I.,  p.  58sq.,  teilt 
folgende  Ziffern  mit:  Washington  hat  nur  zwei  Bills  "retumed"  or 
vetoed,  seine  Nachfolger  bis  1830  sieben,  bis  zum  Amtsantritt  des  Prä- 
sidenten Cleveland  im  Jahre  1885  wurde  das  Veto  im  ganzen  132  mal 
geltend  gemacht,  von  1892  bis  zum  Ende  der  zweiten  Präsidentschaft 
Roosevelts   im  Jahre  1909  wurde   das  Veto   108 mal  ausgeübt.   Die 


—    59    — 

Der  Präsident  ist  aber  allerdings  befugt,  an  den  Kon- 
greß Botschaften  zu  richten,  und  zwar  teils  besondere 
Botschaften  und  teils  solche  zu  Beginn  einer  Session. 
Der  Kongreß  ist  nicht  verpflichtet,  eine  in  einer  Bot- 
schaft (Message)  empfohlene  Maßnahme  in  Beratung  zu 
ziehen,  er  ist  nur  verpflichtet,  die  Botschaft  entgegen- 
zunehmen.^2) 

Die  Vetogewalt  des  Gouverneurs  in  den  Einzel- 
staaten ist  im  großen  und  ganzen  die  gleiche  wie  die 
des  Präsidenten. 33) 

In  einer  Reihe  von  Einzelstaaten  gibt  es  auch  eine 
direkte  Gesetzgebung  durch  das  Volk.  Eine  Verweisung 
zur  Volksabstimmung  (Referendum)  ist  in  manchen 
Staaten  verfassungsmäßig  für  bestimmte  Gesetze  vorge- 
sehen, so  zum  Beispiel  in  Illinois  und  in  Wisconsin 
für  jedes  Bankgesetz;  so  müssen  in  Minnesota  Eisen- 
bahngesetze bestimmter  ilrt  durch  Volksabstimmung  be- 
schlossen werden. 34) 

In  einer  Reihe  weiterer  Staaten  kann  eine  bestimmte 
Anzahl  von  Wählern  einen  Vorschlag  zur  Erlassung,  Ab- 
änderung oder  Aufhebung  eines  Gesetzes  machen,  also 
die  Initiative  ergreifen  und  dieser  Vorschlag  wird,  wenn 
die  Legislatur  und  der  Gouverneur  demselben  nicht  zu- 
stimmen, dann  der  Volksabstimmung  unterzogen.  Dieselben 
Verfassungen  geben  dann  auch  einer  bestimmten  Anzahl 
von  Wählern  das  Recht,  das  Inkrafttreten  eines  Gesetzes 
bis  zur  Volksabstimmung  zu  hindern,  also  eine  Ver- 
weisung zur  Volksabstimmung  (Referendum)  eines  bereits 
beschlossenen  Gesetzes  herbeizuführen.    Gegenüber  den 


größte  Zahl  der  Vetos  fällt  in  die  Präsidentschaft  Clevelands,  nämlich 
301  Vetos.  Die  größte  Zahl  dieser  Vetos  Clevelands  kehrt  sich  gegen 
Gesetze,  welche  Personen  Pensionen  gewährten,  die  in  der  Nordarmee 
während  des  Sezessionskrieges  gedient  hatten. 

32)  Bryce,  a.  a.  0.,  L,  p.  57;  Freund,  a.  a.  0.,  S.  112. 

*3)  Abweichungen  vgl.  bei  Freund,  a.  a.  0.,  S.  119. 

»*)  Freund,  a.  a.  0.,  S.  121;  Bryce,  a.  a.  0.,  I.,  p.  471. 


—     60    — 

auf  Grund  dieser  Initiative  oder  eines  Referendum  be- 
schlossenen Gesetzen  gibt  es  kein  Veto  des  Gouver- 
neurs.^s) 


Oberstes  Prinzip  der  amerikanischen  Gerichtsorgani- 
sation ist,  daß  die  Anwendung  der  Bundesgesetze  in  die 
Hände  besonderer  Bundesgerichte,  und  zwar  in  allen  In- 
stanzen, gelegt  ist.i)  Neben  diesem  System  der  Bundes- 


35)  Vgl.  Bryce,  a.  a.  0.,  I.,  p.  472;  Freund,  a.  a.  0.,  S.  121ff. 
Bryce  zitiert  Bestimmungen  der  Verfassung  von  Oklahoma,  nach 
welchen  acht  Prozent  der  Wähler  die  Initiative  bezüglich  einer  neuen 
gesetzlichen  Maßregel,  15  Prozent  der  Wähler  bezüglich  einer  Ver- 
fassungsänderung und  fünf  Prozent  der  Wähler  bezüglich  der  Ver- 
weisung eines  bereits  beschlossenen  Gesetzes  zur  Volksabstimmung 
(Referendum)  ergreifen  können.  Freund  zitiert  eine  Bestimmung  der 
Verfassung  von  Maine,  nach  welcher  12.000  Wähler  die  Initiative 
ergreifen  können  und  eine  Petition  von  10.000  Wählern  zu  einem 
Referendum  führt.  Weitere  Verfassungen,  welche  das  Recht  der 
Initiative,  beziehungsweise  des  Referendum  einer  bestimmten  Anzahl 
von  Wählern  geben,  sind  nach  Freund,  a.  a.  0.,  noch  Missouri, 
Montana,  Nevada,  Oregon,  South,  Dakota. 

^)    Vgl.   Artikel  III    der   Verfassung   der   Vereinigten   Staaten: 

§  1,  1.:  "Die  Gerichtsgewalt  der  Vereinigten  Staaten  soll  einem 
höchsten  Gerichtshofe  und  so  viel  niederen  Gerichten,  als  der  Kongreß 
von  Zeit  zu  Zeit  anordnen  und  errichten  will,  zustehen  —  .—  — ." 

§  2,  1.:  "Die  Gerichtsgewalt  erstreckt  sich  auf  alle  Rechts-  und 
Billigkeitsfälle,  in  denen  Fragen  dieser  Verfassung,  der  Gesetze  der 
Vereinigten  Staaten  und  der  unter  deren  Autorität  geschlossenen  Ver- 
träge aufgeworfen  werden;  auf  alle  Fälle  die  Botschafter,  öffentliche 
Gesandte  oder  Konsuln  berühren;  auf  alle  Fälle  der  Seegerichtsbarkeit; 
auf  Streitigkeiten,  in  denen  die  Vereinigten  Staaten  Partei  sind; 
auf  Streitigkeiten  zwischen  zwei  oder  mehreren  Staaten,  zwischen 
einem  Staat  und  den  Bürgern  eines  anderen  Staates,  zwischen  Bürgern 
verschiedener  Staaten,  zwischen  Bürgern  desselben  Staates  mit  Bezug 
auf  Landansprüche  auf  Grund  von  Verleihungen  seitens  verschiedener 
Staaten  und  zwischen  einem  Staate  oder  dessen  Bürgern  und  fremden 
Staaten,  Bürgern  oder  Untertanen." 

§  2,  2. :  "In  allen  Fällen,  die  Botschafter,  öffentliche  Gesandte  und 
Konsuln  betreffen    und  in  denen  ein  Staat  Partei  ist,    hat  das  oberste 


—     61     — 

gerichte  besteht  ein  System  der  Gerichte  der  Einzelstaaten, 
welche  über  die  Verletzung  der  Bundesgesetze  nicht 
richten  können.  Die  Bundesgerichte  sind  ferner  kompetent 
für  Streitigkeiten,  in  welchen  Ausländer  oder  Bürger 
anderer  Staaten  Partei  sind  (Freund,  a.  a.  0.,  S.  32). 
Die  Bundesgerichte  führen  auch  eine  Kontrolle  gegenüber 
den  Staaten.  Ein  Kompetenzkonflikt  zwischen  dem  Bund 
und  einem  Staate  wird  aber  nicht  in  einem  Rechtsstreite 
zwischen  Bund  und  Einzelstaat,  sondern  als  Inzidenz- 
punkt  in  einem  gewöhnlichen  Zivil-  oder  Strafverfahren 
entschieden,  in  welchem  die  eine  Partei  sich  auf  Bundes- 
recht, die  andere  auf  einzelstaatliches  Recht  beruft. 2)  Das 
Bundesgericht  schützt  auch  die  Staaten  vor  Übergriffen 
des  Bundes.  Wir  haben  also  als  ersten  charakteristischen 
Zug  der  gesamten  amerikanischen  Gerichtsorganisation 
den  Grundsatz  der  Duplizität  der  Gerichte,  Bundesgerichte 
und  Staatengerichte,  in  allen  Instanzen. 

Der  vielleicht  prägnanteste  Zug  des  amerikanischen 
Verfassungsrechts  ist  aber  das  Recht  der  Gerichte,  die 
Gesetze  auf  ihre  Verfassungsmäßigkeit  zu  prüfen,  ein 
Recht,  welches  auch  den  Gerichten  der  Einzelstaaten  zu- 
steht. Die  Gerichte  sind  also  eine  Art  Revisionsinstanz 
für  die  Gesetzgebung  (Freund,  a.  a.  0.,  S.  84 f.). 

Die  Urteile  über  den  Grund  und  die  Berechtigung 
dieser  außerordentlichen  Stellung  der  amerikanischen 
Gerichte  lauten  sehr  verschieden.  Während  Freund 
(a.  a.  0.,  S.  88)  sagt,  diese  Entwicklung  erkläre  "sich 
unschwer  aus  der  unbefriedigenden  Art  und  Weise,  in  der 
die  Gesetzgebung  gehandhabt  worden  ist  und  noch  gehand- 


Gericht  Gerichtsbarkeit  in  erster  Instanz.  In  allen  anderen  vor- 
erwähnten Fällen  soll  das  oberste  Gericht  Benifungsgerichtsbarkeit 
über  Rechts-  und  Tatfrageu  mit  Ausnahmen  und  unter  Vorschriften, 
die  vom  Kongreß  festzustellen  sind,  haben." 

Vgl.  auch  Vocke  in  dem  oben  S.  4  angeführten  Handbuch,  S.  4£E. 

2)  Vgl.  E.  Baldwin,  "The  American  Judiciary"  (vgl.  oben  S.  4) 
p.  167  sq.;  Freund,  a.  a.  0.,  S.  38. 


—    62    — 

habt  wird"  3),  zugleich  aber  feststellt,  daß  die  Revisions- 
tätigkeit der  Gerichte  eine  segensreiche  und  unentbehr- 
liche geworden  sei  und  in  der  öffentlichen  Meinung  des 
Landes  den  stärksten  Rückhalt  finde,  sehen  andere 
Schriftsteller  diese  Stellung  der  Gerichte  als  eine  geradezu 
selbstverständliche  an.*)  Bryce  (a.  a.  0.,  I.,  p.  248 sq.) 
führt  aus,  es  gebe  vier  Arten  amerikanischen  Rechts, 
nämlich :  I.  The  Federal  Constitution ;  II.  Federal 
Statutes;  III.  State  Constitutions ;  IV.  State  Statutes. 
Die  Federal  Constitution,  die  Bundesverfassung,  gehe  allen 
anderen  Gesetzen  vor  und  die  Bundesgesetze  gehen, 
wenn  sie  mit  der  Konstitution  in  Übereinstimmung  stehen, 
den  Staatsverfassungen  und  den  Staatsgesetzen  vor.  Es 
sei  nun  Aufgabe  der  Gerichte,  die  Verfassung  gegenüber 
den  einzelnen  Gesetzen  zu  wahren.  Das  Gericht  erklärt, 
es  existiert  ein  Konflikt  zwischen  zwei  Gesetzen  von 
verschiedenem  Grade  der  Autorität.  Damit  sei  von  selbst 
gegeben,  daß  das  schwächere  Gesetz  dem  stärkeren 
weichen  müsse.  Das  Gericht  entscheidet  auch  nur  den 
einzelnen  Fall  und  jeder  kann,  wenn  er  glaubt,  das 
Gericht  habe  unrecht  geurteilt,  in  einer  neuen  Rechtssache 
die  Frage  zur  Entscheidung  bringen,  ob  das  betreffende 
Gesetz  gültig  sei  oder  nicht.^)  Hannis  Taylor 6)  findet, 
die  Beschränkung  der  legislativen  Gewalt  durch  die 
richterliche  Gewalt  des  Obersten  Gerichtshofes  der  Ver- 


^)  Vgl.  hiezu  die  vorstehenden  Ausführungen  bezüglich  des  aus- 
schließlichen Rechtes  der  Mitglieder  des  Kongresses,  beziehungsweise 
der  Staatslegislaturen,  Gesetzesvorschläge  einzubringen. 

*)  Freund,  a.  a.  0.,  S.  89,  teilt  mit,  daß  das  Oberbundesgericht 
in  den  ersten  100  Jahren  seines  Bestandes,  also  von  1787  an,  dieses 
Prüfungsrecht  203  mal  ausgeübt  habe.  Im  Jahre  1905  sind  in  104  Fällen 
von   einzelstaatlichen  Obergerichten  Gesetze   beiseite   gesetzt  worden. 

^)  Vgl.  auch  Bryce,  a.  a.  0.,  L,  p.  243:  "In  England Parliament 
is  omnipotent.  In  America  Congress  is  doubly  restricted.  It  can  make 
laws  only  for  certain  purposes  specified  in  the  Constitution,  and  in 
legislating  for  these  purposes  it  must  not  transgress  any  provision  of 
the  Constitution  itself.  The  stream  cannot  rise  above  its  soucre." 

^)  In  dem  oben  S.  5  zitierten  Buche  "Jurisdiction  and  Procedure 
of  the  Supreme  Court  of  the  United  States",  p.  2. 


—    63     — 

einigten  Staaten  sei  natürlich  hervorgewachsen  daraus, 
daß  die  Machtstellung  der  Colonial  Assemblies  durch 
die  Verfassungen  (Charters),  welche  dieselben  geschaffen 
oder  anerkannt  haben,  von  vornherein  mehr  oder  weniger 
beschränkt  war. 

Von  ganz  besonderem  Interesse  sind  die  Aus- 
führungen von  E.  Baldwin  in  seiner  oben,  S.  4, 
zitierten  Schrift  "The  American  Judiciary".  Baldwin 
findet  zunächst  (p.  24),  daß  die  Theorie  von  den  drei 
Gewalten  der  französischen  Philosophen  mit  der  prak- 
tischen Erfahrung  der  Amerikaner  in  Widerspruch  stehe. 
Der  Senat  und  Kongreß  seien  ebenso  eine  exekutive  Ver- 
sammlung wie  eine  gesetzgebende  Körperschaft.'^)  Das 
Staatsanklageverfahren  sei  sowohl  ein  richterliches  wie 
ein  politisches  und  dennoch  überlassen  es  die  amerika- 
nischen Verfassungen  der  Legislative  (tho  the  legislative 
department).  Auch  schaffen  ja  die  Gerichte  Regeln  für 
die  Praxis  (Rules  of  Practice),  womit  sie  zugleich  eine 
gesetzgeberische  Funktion  üben  (p.  21).^)  Es  sind  daher 
auch  die  Gerichte  berufen,  die  Verfassung  gegen  jeden 
exekutiven  oder  legislativen  Angriff  zu  verteidigen 
(p.  104).  Nicht  alles,  was  die  Form  eines  Gesetzes  hat, 
ist  auch  Gesetz.  Die  Gerichte  haben  die  Gewalt,  diesen 
Widerspruch  zwischen  Form  und  Inhalt  festzustellen  (The 
judicial  power  of  declaring  what  has  the  form  of  law 
not  to  be  law,  p.  98  sq.).  Einzelne  amerikanische  Gerichte 


')  "The  theory  of  the  French  philosophers,  that  all  the  powers 
of  government  could  he  divided  into  three  parts,  each  hearing  a  name 
descriptive  only  of  itself,  is  not  sapported  by  the  practical  experience 
of  Americans.  There  are  functions  that  might  as  well  be  assigned  to 
one  of  these  parts  as  to  another,  or  made  into  a  fourth  and  called  admini- 
strative. The  Constitution  of  the  United  States  recognizes  this  in  efEect. 
It  makes  the  Senate  an  executive  Council,  as  well  as  a  legislative  Chamber. 
It  allows  Congress  to  vest  the  appointment  of  any  inferior  officers  in 
the  courts  (Art.  ü.,  See.  3).  In  practice  this  power  has  been  freely  used." 

*)  It  is  practically  impossible  to  establish  in  every  instance  a 
piain  line  of  demarcation  between  legislative,  executive  and  judicial 
functions  (p.  21). 


—     64     - 

haben  sich  aber  nicht  nur  zu  einer  Feststellung  eines 
Widerspruches  zwischen  einem  Gesetz  und  der  Verfassung 
kompetent  erachtet,  sondern  auch  angenommen,  daß  die 
Richter  ein  Gesetz  beiseite  setzen  können  (disregard), 
welches  offensichtlich  die  fundamentalen  Grundsätze  der 
natürlichen  Gerechtigkeit  verletzt,  obwohl  es  nicht  irgend- 
welchen konkreten  verfassungsmäßigen  Bestimmungen 
widerspricht  (p.  118).  Interessant  ist  auch,  daß  derselbe 
Autor,  welcher  den  Gerichten  so  weitgehende  Machtbefug- 
nisse beilegt,  mit  Bestimmtheit  erklärt,  das  Prinzip  des 
römischen  Rechtes,  es  gebe  eine  Desuetudo  contra  legem, 
gelte  in  Amerika  nicht  (p.   121). 

Münsterberg  ("Die  Amerikaner",  I.,  S.  207  f.)  stellt 
einige  Fälle  ausführlich  dar,  in  denen  das  Oberbundes- 
gericht dieses  Prüfungsrecht  geübt  hat.  Ich  gestatte  mir, 
diese  Fälle  im  Anschluß  an  Münsterbergs  Darstellung 
mitzuteilen : 

1.  Im  Jahre  1894  schuf  der  Kongreß  neue  Steuer- 
gesetze für  die  Union,  Ein  Abschnitt  des  Gesetzes  legt 
Steuern  auf  jedes  Einkommen  in  bestimmter  Höhe.  Die 
Verfassung  schreibt  aber  vor,  daß  direkte  Steuern  nicht 
direkt  durch  das  Reich,  sondern  nur  durch  die  Einzel- 
staaten erhoben  werden  dürfen,  und  zwar  nach  dem 
Verhältnisse  der  Einwohnerzahl  der  Einzelstaaten.^) 
Die  reichen  Einwohner  des  Ostens  wurden  durch  die 
direkte  Bundessteuer  offenbar  viel  stärker  belastet.  Ein 
Bürger  verweigerte  die  Steuerzahlung  und  ließ  es  zum 
Prozesse  kommen.  Die  Majorität  des  Obersten  Gerichts- 
hofes entschied  zu  seinen  Gunsten  und  damit  war  die 
Unionseinkommensteuer  beseitigt.io) 


*)  Vgl.  Artikel  I,  §  9,  4,  der  Verfassung  der  Vereinigten 
Staaten:  "Keine  Kopf-  oder  andere  direkte  Steuer  soll  auferlegt  werden, 
außer  im  Verhältnisse  der  im  vorherigen  angeordneten  Volkszählung 
(Zensus)." 

^^)  Vgl.  das  Erkenntnis  des  Obersten  Bundesgerichtes  in  den 
Income  Tax  Gases  (Pollock  v.  Farmer's  Loan  D.  T,  Co.  1894)  bei 
Taylor,  a.  a.  0.,  p.  LVIIsq. 


—    65     — 

2.  Die  sogenannten  Inselfälle.  Porto  Rico  war  durch 
Vertrag  mit  Spanien  an  die  Vereinigten  Staaten  über- 
gegangen. Der  Kongreß  legte  für  gewisse  Waren,  welche 
von  der  Insel  auf  das  Festland  importiert  wurden,  Zölle 
auf.  Nun  soll  es  aber  innerhalb  der  Vereinigten  Staaten 
keine  Zollschranken  geben.  Es  klagte  daher  ein  Kauf- 
mann Down  es  den  Zollinspektor  Bidwell  auf  Rück- 
zahlung der  gezahlten  Zölle  für  Apfelsinen.  Das  Ober- 
bundesgericht erkannte  mit  fünf  gegen  vier  Stimmen, 
daß  die  Zölle  zu  Recht  auferlegt  worden  seien,  weil  auf 
die  neuerworbenen  Inselgebiete  die  oben  erwähnte  Be- 
stimmung nicht  anwendbar  sei.i^) 

In  diesem  Zusammenhange  ist  auch  der  jüngst  er- 
flossenen  Entscheidung  in  einer  Eisenbahntarifsache  Er- 
wähnung zu  tun.  Nach  der  in  der  "Neuen  Freien  Presse" 
vom  17.  Juni  1913  von  Dr.  Julius  Ullmann  gegebenen 
Darstellung  hat  die  Legislatur  des  Staates  Minnesota 
der  Northern  Pacific  und  der  Great  Northern-Gesellschaft 
eine  einschneidende  Reduktion  in  den  Tarifsätzen  inner- 
halb des  Staates  aufgetragen.  Der  Circuit  Court  (vgl. 
unten  S.  68)  hat  für  den  Standpunkt  der  Aktionäre  gegen 
dieses   Gesetz   erkannt,   das   Oberbundesgericht  der  Be- 


^^)  Auch  diese  im  Text  zitierte  Entscheidung  ist  bei  Taylor, 
a.  a.  0.,  p.  LX  sq.,  angeführt.  Der  Vertrag  zwischen  den  Vereinigten 
Staaten  und  Spanien  über  die  Abtretung  der  Insel  war  geschlossen 
und  eine  Territorialregierung  bereits  eingeführt.  Darauf  beschloß  der 
Kongreß  eine  Zollauflage;  diese  wurde  für  gültig  erklärt  (because, 
in  the  opinion  of  Justice  Brown  who  delivered  the  judgment  the 
Federal  Constitution  does  not,  by  its  own  force,  extend  to  the  pos- 
sessions  of  the  United  States,  whether  created  into  territories  with  a 
regulär  form  of  government  or  existing  as  unorganized  possessions). 
In  einem  anderen  ebenda  mitgeteilten  Falle  De  Lima  v. Bidwell  aus 
dem  Jahre  1900,  in  welchem  es  sich  um  die  Rückgabe  der  Zölle 
handelte,  welche  vor  der  Einführung  der  Territorialregierung  in 
Porto  Rico  erhoben  worden  waren,  wurde  der  Rückforderungsklage 
stattgegeben.  Das  Land  sei  infolge  des  Vertrages  zwischen  den  Ver- 
einigten Staaten  und  Spanien  nicht  mehr  ein  fremdes  Territorium  ge- 
wesen und  daher  seien  die  früheren  Zölle  nicht  mehr  zu  Recht  er- 
hoben worden. 

Hanausek,  Amerikanische  Skizzen.  5 


—    66     — 

rufung  des  Staates  Minnesota  zugunsten  der  Gültigkeit 
des  Gesetzes  Folge  gegeben,  weil  in  dieser  Tarifherab- 
setzung eine  verfassungswidrige  Konfiskation  des  Eigen- 
tums der  Bahnen  und  ihres  Rechtes  auf  eine  angemessene 
Dividende  nicht  zu  erblicken  sei.  . 

Die  verfassungsmäßige  Kompetenz  des  Bundes,  den 
Handel  zwischen  den  Einzelstaaten  zu  regeln  (vgl.  oben 
S.  55,  Anm.  23),  ermöglichte  die  Erlassung  der  Bundes- 
Sherman  Akte  vom  2.  Juli  1890,  welche  jede  Vereinigung 
in  restraint  of  trade  or  commerce  among  the  several 
States,  or  with  foreign  nations  verbietet.  Die  Sherman 
Akte  ermöglichte  die  Bekämpfung  der  Trusts  vor  den 
Bundesgerichten.  Diese  Kompetenz  ermöglichte  ferner  ein 
Gesetz  vom  Jahre  1903,  durch  welches  ein  Bureau  of 
Corporations  geschaffen  wurde.  Es  gibt  aber  auch  eine 
Antitrustgesetzgebung  der  einzelnen  Staaten  mit  oft  sehr 
strengen  Strafen.^^) 


^^)  Freund  (a.  a.  0.,  S.  279)  teilt  eine  Fülle  interessanten 
Materials  mit.  Bezüglich  des  Gesetzes  vom  Jahre  1903  führt  er  aus 
(S.  280  f.),  das  Bureau  of  Corporations  "soll  hauptsächlich  Informationen 
sammeln  und  ist  zu  diesem  Zwecke  mit  weitgehenden  inquisitorischen 
Befugnissen  ausgestattet.  Die  Zeugnispflicht  erstreckt  sich  auch  auf 
inkriminierende  Aussagen  und  die  verfassungsmäßig  zu  beanspruchende 
Straffreiheit  ist  durch  ein  besonderes  Gesetz  aus  dem  Jahre  1906  auf 
den  aussagenden  Zeugen  beschränkt,  so  daß  die  Gesellschaft,  die  er 
vertritt,  auf  Grund  von  Beweismaterial  strafrechtlich  verfolgt  werden 
kann,  das  sie  selbst  zu  liefern  gezwungen  wird." 

Münsterberg  (I.,  S.  211  f.)  teilt  die  im  Mai  1911  gegen  die 
Standard  Oil  Company  erflossene  Entscheidung  mit.  Auf  Grund  dieser 
Entscheidung  sollte  sich  der  Standard  Oil  Trust  innerhalb  von  sechs 
Monaten  in  die  einzelnen  Gesellschaften  auflösen.  In  dieser  Ent- 
scheidung wurde  ausgesprochen,  daß  nicht  jede  Einschränkung  der 
Konkurrenz,  sondern  nur  eine  unvernünftige,  durch  ungehörige  Mittel 
erreichte  getroffen  werden  soll. 

Die  "Neue  Freie  Presse"  vom  14.  Februar  1913  enthält  eine 
Notiz,  nach  welcher  der  Senat  des  Staates  New  Jersey  alle  vom 
Gouverneur  Wilson  unterstützten  Antitrustgesetze  angenommen  habe, 
ferner  ein  Telegramm  aus  Jefferson  City,  nach  welchem  der  Oberste 
Gerichtshof  ein  Urteil  erlassen  hat,  durch  das  die  Standard  Oil  Co. 
dauernd  vom  Staate  Missouri  ausgeschlossen  wurde.     In   der  "Neuen 


—     67     — 

Das  dritte,  für  die  Stellung  der  amerikanischen  Ge- 
richte grundlegende  Prinzip  ist  die  Überordnung  der 
ordentlichen  Gerichte  über  die  Verwaltung. ^^)  xA.us  diesem 
aus  dem  englischen  Common  Law  übernommenen  Satz 
ergibt  sich  einerseits  die  Kompetenz  der  Gerichte,  im 
ordentlichen  Instanzenzug  über  die  Rechtmäßigkeit  von 
Verwaltungsakten  zu  erkennen,  andrerseits  eine  Art  Ober- 
aufsichtsrecht über  die  Verwaltung,  in  dem  auch  gegen 
die  höchsten  Exekutivbeamten  aus  dem  Grund  eines 
rechtsirrtümlichen  Verwaltungsakts,  zum  Beispiel  also 
auf  Grund  einer  von  einem  inkompetenten  Verwaltungs- 
beamten erlassenen  Zwangsmaßregel,  eine  zivilrechtliche 
Schadenersatzklage  erhoben  werden  kann.^*) 


Freien  Presse"  vom  18.  Februar  1913  lese  ich  ein  Telegramm,  nach 
welchem  gegen  den  Präsidenten  eines  Trusts  eine  Gefängnis-  und  eine 
Geldstrafe  und  gegen  28  Beamte  desselben  Trusts  Gefängnisstrafen 
verhängt  worden  sind. 

")  Vgl.  Reinsch,  a.  a.  0.,  S.  30  (vgl.  oben  S.  13):  "Es  ist  aus 
allen  diesen  Gründen  als  ein  Fortschritt  zu  begrüßen,  wenn  in  den 
hohen  amerikanischen  Gerichten  die  Anschauung  Platz  gfreift,  daß  eine 
eigentliche  Kontrolle  der  Verwaltungstätigkeit  durch  die  Gerichte  nur 
dann  vorgenommen  werden  soll,  wenn  rein  juristische  Fragen  in  Betracht 
kommen,  und  daß  es  die  Gerichte  nicht  versuchen  sollen,  durch  das 
Prinzip  der  Billigkeit  eine  allgemeine  Kontrolle  auszuüben." 

")  Reiches  Material  bei  Freund,  a.  a.  0.,  S.  97  ff.  —  "Selbst 
dem  Staatssekretär  oder  den  Ministem  gegenüber  ist  die  Gerichtsgewalt 
ausgeübt  worden,  nur  vor  dem  Amt  der  obersten  Exekutive  scheint 
sie  haltzumachen"  (Freund,  a.  a.  0.,  S.  99). 

Eine  eingehende  und  ausgezeichnete  Darstellung  des  richterlichen 
Kontrollrechtes  über  die  Verwaltung  finde  ich  bei  Goodnow,  "Prin- 
ciples  of  the  Administrative  Law  of  the  United  States"  (vgl.  oben  S.  5), 
p.  383  sq.    Das  richterliche  Kontrollrecht  wird  geübt: 

1.  Gelegentlich  der  Durchführung  von  Zivilprozessen  gegen  den 
Staat,  beziehungsweise  gegen  den  Bund.  Über  die  Kompetenz  für 
Klagen  gegen  den  Bund  vgl.  unten  S.  69. 

2.  Es  gelte  das  Prinzip,  daß  die  Befolgung  der  administrativen 
Verfügung,  von  besonderen  Bestimmungen  abgesehen,  nur  auf  Grund 
eines  richterlichen  Verfahrens  erzwungen  werden  könne.  Bei  Aus- 
übung dieses  Kontrollrechtes  werden  die  Gerichte  es  vermeiden,  die 
im  Rahmen  des  Gesetzes  und  ihrer  amtlichen  Befugnisse  erüossenen 

5* 


—     68     — 

Das  ganze  Bundesgebiet  zerfällt  in  Distrikte  i^)  und 
in  neun  Bezirke  (Circuits).  Jeder  Bezirk  hat  ein  eigenes 
Circuit  Court  of  Appeal  i^)  und  eine  Anzahl  von  Circuit 
Courts.  Ein  Bezirksgericht,  Circuit  Court,  besteht  in  der 
Begel  für  jeden  Distrikt,  so  daß  die  Zahl  der  Circuit 
Courts  derjenigen  der  Distriktsgerichte  ungefähr  gleich 
ist.i7) 


diskretionären  Verfügungen  der  Verwaltungsorgane  zu  überprüfen. 
'They  will  not,  as  a  general  rule,  make  use  of  this  power  of  control 
lo  interfere  in  any  way  with  the  discretion  which  may  have  been 
accorded  to  administrative  officers"  (Goodnow,  a.  a.  0.,  p.  395). 

3.  Das  richterliche  Kontrollrecht  wird  erst  ausgeübt  auf  Grund 
von  Schadenersatzprozessen  gegen  administrative  Staatsorgane  (Officers). 
Der  Schadenersatzpflicht  unterliegen  nach  der  Darstellung  von  Goodnow 
nicht  der  Präsident  der  Republik,  dann  die  Heads  of  executive  de- 
partment,  ferner  nicht  Richter,  sofern  sie  im  Rahmen  ihrer  Kompetenz 
gehandelt  haben. 

^^)  Freund  (a.  a.  0.,  S.  154)  sagt,  die  Gesamtzahl  der  Distrikte 
beträgt  75,  die  der  Distriktsrichter  80.  —  Bei  Ery  ce  (a.  a.  0.,  I.,  p.  232) 
heißt  es,  im  Jahre  1910  habe  es  88  Distriet  Courts  gegeben.  —  Über 
die  Organisation  der  Bundesgerichte  vgl.  E.  Hey  mann,  Holtzendorffs 
Enzyklopädie,  6.  Aufl.,  S.  846  ff. 

^*)  Die  Circuit  Courts  of  Appeal  sind  1891  als  Appellationsinstanz 
für  die  Distriet  und  Circuit  Courts  eingeführt  worden.  Es  gibt  aber 
auch  Rechtssachen,  welche  direkt  von  den  Bundesgerichten  in  erster 
Instanz,  Distriet  oder  Circuit  Courts  an  das  oberste  Bundesgericht, 
gebracht  werden  können  (Bryce,  a.a.O.,  I.,  S.  232). 

^■')  Vgl.  Woodrow  Wilson,  a.  a.  0.,  S.  404.  —  Jeder  Circuit, 
hat  einen  Circuit  Court,  welcher  seine  Sitzungen  in  den  verschiedenen 
Distrikten  innerhalb  des  Bezirkes  als  der  Circuit  Court  für  diesen 
Distrikt  abhält.  (Baldwin,  a.  a.  0.,  p.  139.)  In  diesem  Sinne  ist  es 
zu  verstehen,  daß  es  ungefähr  ebensoviele  Distrikts-  als  Bezirks- 
gerichte gibt.  —  Vgl.  femer  Bryce  (a.  a.  0.,  L,  S.  232):  The 
Circuit  court  may  be  held  either  by  a  Circuit  judge  alone,  or  by  the 
Supreme  court  Circuit  justice  alone,  or  by  both  together  or  by  either 
sittiug  along  with  the  Distriet  judge  of  the  distriet  wherein  the  par- 
ticular  circuit  court  is  held,  or  by  the  Distriet  judge  alone. 

Freund  (a.  a.  0.,  S.  155)  führt  an,  es  gebe  26  Bezirksrichter, 
von  denen  mindestens  zwei,  zuweilen  auch  drei  für  jeden  Bezirk  an- 
gestellt seien.  Ein  Oberbundesrichter  fungiere  jetzt  selten,  ein 
Distriktsrichter  sehr  häufig  beim  Circuit  Court. 


—    69    — 

Die  vierte  und  niederste  Klasse  der  Bundesgerichte 
sind  die  Distriktsgerichte.  Auf  die  komplizierten  Bestim- 
mungen, welche  Sachen  vor  die  Bundesdistriktsgerichte 
und  welche  vor  die  Bundesbezirksgerichte  gehören, 
wäll  ich,  da  ich  ja  die  Einrichtung  der  Bundes- 
gerichte nur  in  kürze  skizzieren  will,  nicht  ausführlich 
eingehen.  Ich  beschränke  mich  daher  auf  folgende  kurze 
Bemerkungen :  Vor  die  Bundesdistriktsgerichte  gehören 
zum  Beispiel  alle  Bundesstrafsachen,  alle  Konkurssachen, 
die  Klagen  gegen  Nationalbanken,  gegen  Konsuln  und 
Vizekonsuln,  dagegen  gehören  Patent-  und  Urheberrechts- 
prozesse, ferner  Klagen  auf  Grund  der  Antikartellgesetze 
vor  die  Bundesbezirksgerichte. 

Für  Ansprüche  gegen  die  Vereinigten  Staaten  gibt 
es  noch  ein  besonderes  Gericht,  den  mit  fünf  Richtern 
besetzten  Court  of  Claims. i^)  Seine  Kompetenz  ist  durch 
die  Tucker  Act  von  1887  ausgedehnt  worden.  Auf  Grund 
dieser  Akte  ist  der  Court  of  Claims  kompetent  "to  all 
Claims  founded  upon  the  Constitution  of  the  United  States 
or  any  law  of  Congress  except  for  pensions,  or  upon 
any  contract,  express  or  implied,  with  the  government 
of  the  United  States,  of  for  damages  liquidated  or  un- 
liquidated  in  cases  not  sounding  in  tort,  in  respect  of 
which  Claims  the  party  would  be  entitled  to  redress 
against  the  United  States,  either  in  a  court  of  law, 
equity,  or  admiralty,  if  the  United  States  were  suable". 
Eine  mit  dem  Court  of  Claims  konkurrierende  Juris- 
diktion haben  die  Distriktsgerichte  bis  zu  Beträgen  von 
1000  Dollars  und  die  Circuit  Courts  für  Beträge  von 
1000  bis  10.000  Dollars.i9) 


")  Vgl.  Taylor,  a.  a.  0.,  p.  279  squ.  —  Von  den  fünf 
Richtern  müssen  je  drei  zu  einer  Entscheidung  mitwirken  (Year  Book, 
p.  43).  Das  Court  of  Claims  ist  durch  die  Kongreßakte  von  1855 
organisiert  worden. 

^^)  Diese  konkurrierende  Jurisdiktion  wurde  normiert  durch  die 
Tucker  Act;  vgl.  Goodnow,  a.  a.  0.,  p.  389;  Baldwin,  a.  a.  0., 
p.  148. 


—     70     — 

Bryce,  a.  a.  0.,  L,  p.  232,  nennt  ferner  einen  auf 
Grund  der  Tarifakte  vom  Jahre  1909  errichteten  Court 
of  Customs  Appeals,  welcher  Entscheidungen  über  Zoll- 
sachen zu  fällen  hat.  Dieser  besteht  ebenfalls  aus  einem 
Präsidenten  und  vier  anderen  Richtern. 

Ferner  gibt  es  einen  1910  errichteten  Commerce 
Court  für  Eisenbahntarifstreitigkeiten,  welcher  ebenfalls 
mit  fünf  Richtern  besetzt  ist^o)^  ferner  emen  Supreme 
Court  für  den  unmittelbar  unter  der  Verwaltung  des 
Bundes  stehenden  District  of  Columbia,  welcher  eben- 
falls aus  einem  Präsidenten  und  fünf  Beisitzern  besteht.^i) 

Das  Oberbundesgericht  hat  seinen  ständigen  Sitz  in 
Washington.  Die  Zahl  der  Mitglieder  ist  nicht  durch 
die  Verfassung  bestimmt,  sondern  deren  Festsetzung  ist 
dem  Kongreß  überlassen. ^2)  Seit  dem  Gesetze  vom 
10.  April  1869  ist  die  Zahl  der  Richter  neun,  einschheß- 
lich  des  Chief  Justice. ^3)  Der  Amtseid  des  Präsidenten 
der  Vereinigten  Staaten  wird  durch  den  Oberbundes- 
gerichtspräsidenten abgenommen. 24)  Zur  Beschlußfähig- 
keit des  Supreme  Court  of  the  United  States  ist  die 
Anwesenheit  von   sechs   Mitgliedern   notwendig. 


20)  Freund,  a.  a.  0.,  S.  156. 

-1)  Baldwin,  a.  a.  0.,  S.  148  sq.  —  Taylor,  a.  a.  0.,  p.  263  sq. 

—  Über  die  Bundesgerichtsbarkeit  in  den  kontinentalen  Territorien 
und  den  Inselbesitzungen  vgl.  Freund,  a.  a.  0.,  S.  156. 

")  Freund,  a.  a.  0.,  S.  155.  —  Woodrow  Wilson,  a.  a.  0., 
S.  405:  "Die  Verfassung  bestimmt  die  Sphäre,  innerhalb  welcher  die 
Gerichtsbarkeit  der  Vereinigten  Staaten  ausgeübt  werden  kann, 
während  der  Kongreß  bestimmt,  wie  weit,  in  welcher  Weise  und 
durch  welche  Gerichte  dies  geschehen  soll." 

2S)  Vgl.  Taylor,  a.  a.  0.,  p.  21:  "By  the  act  of  April  lOth, 
1869  it  was  provided  that  the  court  shall  consist  of  a  chief  justice 
and  eight  associate  justices,   six  of  whom  shall  constitute  a  quorum." 

—  Die  Zahl  der  Richter  hat  im  Laufe  der  Entwicklung  gewechselt, 
am  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  bestand  das  Oberbundesgericht  nur 
aus  fünf  Richtern  einschließlich  des  Präsidenten, 

^*)  Year  Book,  p.  34:  "The  Chief  Justice  .  .  .  inaugurates,  the 
President  giving  him  the  oath  of  office." 


—     71     — 

Alle  Bundesrichter  werden  vom  Präsidenten  der 
Republik  mit  Zustimmung  des  Senats  ernannt,  und  zwar 
auf  Lebenszeit,  during  good  behavior. 

Der  Chief  Justice  des  Oberbundesgerichtes  bezieht 
ein  Jahresgehalt  von  13.000  Dollars  und  die  übrigen 
Oberbundesrichter  von  12.500  Dollars.^^)  Die  Bundes- 
bezirksrichter beziehen  ein  Gehalt  von  7000  Dollars  ^6)^ 
die  Distriktsrichter  ein  Gehalt  von  6000  Dollars. ^7)  Die 
Gehalte  aller  öffentlichen  Funktionäre  sind  für  unsere 
Vorstellung  mit  Rücksicht  auf  die  amerikanischen  Lebens- 
verhältnisse nicht  hoch  bemessen.  So  bezieht  der 
Präsident  der  Vereinigten  Staaten  ein  Gehalt  von 
75.000  Dollars,  freie  Amtswohnung  und  25.000  Dollars 
für  Reisekosten. 28)  Der  Vizepräsident  der  Vereinigten 
Staaten,  dessen  einzige  Funktion,  wenn  der  Präsident 
sein  Amt  führt,  das  Präsidium  des  Senats  ist,  bezieht 
nur  ein  Gehalt  von  12.000  Dollars  (Statesman's  Yearbook, 

p.   25).29) 

Die  Minister  (Heads  of  Departments),  welche  den 
Titel  Secretary  führen,  beziehen,  und  zwar  erst  seit  1907 
ein  Gehalt  von  12.000  Dollars. 30) 

Ein  Bundesrichter  kann  nur  auf  Grund  des  Staats- 
anklageverfahrens (by  impeachment)  vom  Amte  entfernt 


")  Vgl.  Bryce,  a.  a.  0.,  L,  p.  230;   Year  Book,  p.  34. 

««)  Year  Book,  p.  35;   Bryce,  a.  a.  0.,  L,  p.  232. 

")  Bezüglich  der  Mitglieder  des  Ck)urt  of  Claimes  sagt  Bryce, 
a.  a.  0.,  I.,  p.  232,  daß  der  Chief  justice  6500  Dollars  und  die  ührigen 
vier  Richter  6000  Dollars  Gehalt  beziehen.  Die  Gehalte  der  Richter 
heim  Court  of  customs  appeals  betragen  nach  Bryce,  a.  a.  0., 
10.000  Dollars. 

28)  Statesman's  Year  Book,  p.  25.  —  Freund,  a.  a.  0.,  S.  125, 
gibt  das  Gehalt  des  Präsidenten  mit  50.000  Dollars  an. 

2^)  Wenn  der  Präsident  seines  Amtes  entsetzt  wird,  resigniert, 
stirbt  oder  unfähig  wird,  sein  Amt  auszuüben,  so  tritt  der  Vizepräsident 
an  seine  Stelle.  (Bryce,  a.  a.  0.,  L,  p.  51;  Freund,  a.  a.  0.,  S.  124.) 

'*")  (Year  Book,  p.  25.)  Es  gibt  neun  Minister,  Cabinet  Officers, 
nämlich  den  Minister  der  auswärtigen  Angelegenheiten,  Secretary  of 
State,  femer  den  Secretary  of  the  Treasury,  den  Secretary  of  War, 
den  Attomey  General,    den    Secretary  of  the  Navy,    den    Secretary  of 


—     72     — 

werden.  Das  Staatsanklageverfahren  kann  gegen  alle 
Zivilbeamten  der  Vereinigten  Staaten  erhoben  werden. 
Das  Staatsanklageverfahren  in  den  Einzelstaaten  ist  mit 
geringen  Abweichungen  ebenso  eingerichtet  wie  das 
Bundes-Staatsanklageverfahren.  Die  Anklage  wird  vom 
Repräsentantenhaus  des  Bundes,  beziehungsweise  des  be- 
treffenden Staates  erhoben  und  der  Senat  des  Bundes, 
beziehungsweise  des  Staates  ist  der  Gerichtshof.  Anklage- 
gründe sind  vor  allem  Hochverrat  und  Bestechung. 

Es  gibt  ein  Impeachment  of  executive  officers  und 
ein  Impeachment  of  judges.  Das  Staatsanklageverfahren 
kann  auch  gegen  den  Präsidenten  der  Republik  durch- 
geführt werden.  Im  letzteren  Falle  hat  der  Oberbundes- 
gerichtspräsident den  Vorsitz  im  Senate  zu  führen,  weil 
im  Falle  der  Amtsentsetzung  des  Präsidenten  die  Befug- 
nisse und  Pflichten  desselben  auf  den  Vizepräsidenten 
übergehen  würden.^i) 


the  Interior,  den  Secretary  of  Agriculture  und  den  Secretary  of  Com- 
merce and  Labor. 

Münsterberg  (a.  a.  0.,  I.,  S.  I98f.)  teilt  mit,  der  Taft  sehe 
Staatssekretär  Knox  habe  sich  mit  einem  Gehalte  von  8000  Dollars 
begnügen  müssen,  weil  er  unter  Roosevelt  als  Senatsmitglied  für  die 
Erhöhung  des  Gehaltes  der  Kabinettsminister  von  8000  auf  12.000 
Dollars  gestimmt  hatte. 

Über  die  Stellung  und  Tätigkeit  des  Bureau  of  Education,  einer 
Division  des  Deparment  of  Interior,  sowie  des  Commissioner  of  Edu- 
cation vgl.  oben  S.  5. 

^')  ^gl-  Bryce,  a.  a.  0.,  I.,  p.  50;  über  das  Impeachment  gegen 
Staatssekretäre  vgl.  Bryce,  a.  a.  0.,  L,  p.  90.  —  Das  Staatsanklage- 
verfahren wurde  1868  gegen  den  Präsidenten  Andrew  Johnson  durch- 
geführt (vgl.  Bryce,  a.a.O.,  L,  p.  212,  und  Freund,  a.a.O.,  S.  169); 
dasselbe  dauerte  zwei  Jahre  und  endigte  mit  der  Freisprechung,  weil 
eine  Stimme  an  der  erforderlichen  Zweidrittelmehrheit  fehlte  und  because 
no  Single  offence  had  been  clearly  made  out.  —  Über  Abweichungen 
im  Staatsanklageverfahren  in  einzelnen  Staaten  vgl.  Bryce,  a.  a.  0., 
I.,  p.  505.  —  Das  Staatsanklageverfahren  wurde  fünfmal  gegen  Bundes- 
richter durchgeführt,  in  drei  Fällen  erfolgte  Freisprechung,  in  zwei 
Fällen  Verurteilung.  Ein  Staatsanklageverfahren  gegen  einen  Senator 
endigte  mit  der  Freisprechung  wegen  Unzuständigkeit.  Ein  Staats- 
anklageverfahren gegen  einen  Kriegsminister  endigte  mit  Freisprechung, 


—     73     — 

Bei  jedem  Bundesdistriktsgericht  gibt  es  einen  vom 
Präsidenten  mit  Zustimmung  des  Senats  ernannten 
Districts  Attorney.  Der  Districts  Attorney  bezieht  ein 
Gehalt  zwischen  3000  und  5000  Dollars,  nur  in  New 
York  und  Chicago  ist  das  Gehalt  12.000  Dollars.  Die 
Distriktsanwälte  unterstehen  dem  Attorney  General,  dem 
Bundesanwalt  beim  Oberbundesgericht.  Er  ist  der  Rechts- 
beirat des  Präsidenten  in  öffentlichrechtlichen  Kom- 
petenzfragen (Bryce,  a.  a.  0.,  L,  p.  89). ^2)  Er  übt  eine 
iillgemeine  Oberaufsicht  sowohl  über  die  Distriktsanwälte 
wie  über  die  Gerichtsvollzieher.  Der  General  Attorney 
ist  Mitglied  des  Kabinetts,  also  zugleich  eine  Art  Justiz- 
minister und  steht  an  der  Spitze  des  1870  organisierten 
Department  of  Justice.  Der  Gerichtsvollzieher,  Marshall, 
wird  vom  Präsidenten  mit  Zustimmung  des  Senats  auf 
vier  Jahre  ernannt.  Die  Gerichtsschreiber,  Clerks,  werden 
von  den  Richtern  auf  freien  Widerruf  ernannt  (Freund, 
a.  a.  0.,  S.  162). 

§  3. 

Neben  den  Bundesgerichten  bestehen  die  Staats- 
gerichte,   und    zwar  heißt  das  Oberste  Gericht  des  be- 


weil derselbe  sein  Amt  niedergelegt  hatte.  Vgl.  Bryce,  a.  a.  0.,  I., 
p.  111  und  231,  und  Freund,  a.a.O.,  S.  169.  Über  Fälle  eines  Staats- 
anklageverfahrens gegen  Richter  von  einzelnen  Staaten  vgl.  Bryce, 
a.  a.  0.,  I.,  p.  563.  In  der  "Neuen  Freien  Presse"  vom  13.  und  vom 
16.  Jänner  1913  ist  mitgeteilt,  daß  ein  Richter,  welcher  zuletzt  Vor- 
sitzender des  Handelsgerichtes  (des  Court  of  Commerce)  gewesen  war, 
nach  durchgeführtem  Verfahren  vor  dem  Senate  zur  Entfernung  aus 
dem  Amte  verurteilt  worden  ist.  Auch  wurde  ihm  die  Fähigkeit  ab- 
gesprochen, jemals  wieder  ein  Ehrenamt  oder  eine  besoldete  Stelle  im 
Dienste  der  Vereinigten  Staaten  bekleiden  zu  können.  Er  war  wegen 
unlauterer  Beziehungen  zu  Eisenbahngesellschaften  angeklagt. 

^-)  Year  Book,  p.  39.  Der  Attorney  General  ist  also  der  Chief 
Law  Officer  der  Regierung.  Dem  Präsidenten  steht  verfassungsmäßig 
das  Begnadigungsrecht  zu.  Ein  Abolitionsrecht  steht  ihm  nicht  zu, 
aber  der  Präsident  kann  durch  Entsetzung  des  kompetenten  Staats- 
anwalts auf  den  Gang  der  Straf  Justiz  Einfluß  üben.  Freund, 
a.  a.  0.,  S.  162. 


—     74     — 

treffenden  Staates  (ebenso  wie  das  Oberste  Bundesgericht) 
Supreme  Court,  in  New  York  Court  of  Appeals.  Die 
Zahl  der  Mitglieder  der  Obersten  Gerichte  der  Einzel- 
staaten schwankt  zwischen  drei  und  neun.  Öfters  üben 
sie  als  Einzelrichter  erstinstanzliche  Gerichtsbarkeit  aus 
(Freund,  a.  a.  0.,  S.  163).  Eine  getrennte  Kompetenz 
für  gemeinrechtliche  und  Billigkeitssachen  nach  englischer 
Art  gibt  es  regelmäßig  nicht. 

Es  gibt  in  manchen  Staaten  auch  Zwischenberufungs- 
gerichte, deren  Richter  in  der  Regel  aus  der  Zahl  der 
Richter  erster  Instanz  designiert  werden,  zum  Beispiel 
also  in  New  York  aus  den  Richtern  des  Supreme  Court. 
Diese  Zwischenberufungsgerichte  heißen  Appellate  Courts. 
Die  Organisation  der  Gerichte  der  verschiedenen  Einzel- 
staaten ist  eine  außerordentlich  mannigfache  und  oft  recht 
komplizierte.  Ich  bespreche  beispielsweise  in  Kürze  die 
Einrichtungen  in  New  York  und  Chicago. 

Die  Gerichte  des  Staates  New  York  sind  in  folgender 
Weise  organisiert i) : 

Ä.  City  of  New  York,  welche  für  sich  einen  Kreis 
bildet. 

I.  Die  Strafgerichtsbarkeit  üben :  a)  City  Magistrates, 
früher  Police  Courts;  Appellationen  gehen  an  den 
Appellate  Term  of  the  Supreme  Court;  b)  Court  of 
Special  Sessions  für  Vergehen  (Misdemeanours)  ^) ; 
e)  Court  of  General  Sessions  oder  auch  Criminal  Brauch 
of  Supreme  Court;  Appellationen  gehen  an  die  x\ppellate 
Division  of  the  Supreme   Court,  eine  Berufung  an  den 


^)  Vgl.  Artikel  6  der  Verfassung  des  Staates  New  York;  reiche 
Belehrung  üher  die  Gerichtsverfassung  des  Staates  New  York  verdanke 
ich  dem  Herrn  k.  u.  k.  Vizekonsul  Dr.  Fischeraue r. 

'^)  Eine  interessante  lehensvolle  Schilderung  des  Bastard  cases 
day  vor  diesem  Gerichte  unter  dem  Vorsitze  des  Richters  Jerome  siehe 
bei  Hintrager,  S.  81  ff.  Die  großen  Gerichte  setzen  gleichartige  Fälle 
an  den  gleichen  Tag.  —  Der  Code  of  criminal  procedure  des  Staates 
New  York  zählt  die  Proceedings  respecting  bastards  zu  den  Special 
Proceeding  of  a  Criminal  Nature  und  regelt  dieses  Verfahren  in  nahezu 
50  Paragraphen  (838  bis  886). 


—    75    — 

Court  of  Appeals  in  Albany  nur  mit  Zustimmung  des 
Zwischenberufungsgerichts.  Bei  Verbrechen,  auf  welche 
die  Todesstrafe  steht,  geht  die  Appellation  direkt  an  den 
Court  of  Appeals  in  Albany.^) 

II.  Die  Zivilgerichtsbarkeit  üben:  a)  Die  Municipal 
Courts  für  Beträge  bis  zu  500  Dollars;  b)  City  Court 
für  Beträge  bis  2000  Dollars;  c)  das  Supreme  Court 
für  höhere  Beträge,  ferner  in  Equity-Sachen,  zum  Bei- 
spiel Ehescheidungen,  Hypotheken. 

B.  Territorium  außerhalb  der  Stadt  New  York, 
welches  wieder  in  drei  Kreise  zerfällt. 

Die  Gerichtsbarkeit  erster  Instanz  üben  in  Zivil-  und 
Kriminalsachen  County  Courts,  für  schwerere  Straf  fälle 
übt  die  Gerichtsbarkeit  der  Supreme  Court,  dessen  Richter 
zu  verschiedenen  Zeitpunkten  am  Lande  Gerichtstage  ab- 
halten. 

Für  Nachlaßsachen  gibt  es  die  sogenannten  Surro- 
gate Courts.  Der  Surrogate  ist  Richter  (judge).*) 

Das  Supreme  Court  des  Staates  New  York  hat  also 
zunächst  einerseits  eine  Stellung  ähnlich  der  eines  Ge- 
richtshofes erster  Instanz  in  Zivil-  und  Strafsachen  in 
Österreich.  In  erstinstanzlichen  Rechtssachen  fungiert 
stets  nur  je  ein  Richter  des  Supreme  Court  als  Einzel- 
richter. Der  Supreme  Court  ist  aber  andrerseits  mehr 
als  ein  Gerichtshof  erster  Instanz,  denn  aus  den  Richtern 
des  Supreme  Court  werden  vier  Berufungsabteilungen 
für  jeden  der  vier  Bezirke  des  Staates  New  York  gebildet. 
Diese  Berufungsabteilungen  bestehen  im  ersten  Bezirk 
aus  sieben,  in  den  übrigen  Bezirken  aus  fünf  Richtern. 
Der  Gerichtshof  darf  aus  nicht  mehr  als  fünf  Richtern 
bestehen,  vier  müssen  teilnehmen  und  drei  müssen  sich 
zu    einer  Entscheidung    vereinen.     Der  Supreme   Court 


»)  Vgl.  §§  11,  22,  31,  39,  50  sq.,  56  sq.,  74  sq.  des  Code  of  Cri- 
minal .  Procedure. 

*)  Tm  Staate  New  Jersey  ist  der  Surrogate  auf  Kanzlei agec den 
beschränkt  und  untersteht  dem  Orphans  Court  mit  dem  Orphans  Judge. 
(Vgl.  Nachtrag  I.) 


—     76     — 

fungiert  also  durch  seine  vier  Berufungsabteilungen 
(Appellate  Divisions)  als  Appellate  Court.  Die  Amts- 
periode der  Richter  des  Supreme  Court  beträgt  in 
New  York  14  Jahre.  Die  Zuweisung  an  die  Berufungs- 
abteilungen erfolgt  für  den  Rest  der  Amtsperiode  des 
Richters,  aber  auf  höchstens  fünf  Jahre,  für  den  vom 
Gouverneur  ernannten  Vorsitzenden  der  betreffenden  Be- 
rufungsabteilung für  den  Rest  seiner  Amtsperiode  als 
Richter.  Die  City  Magistrates  werden  vom  Bürgermeister 
ernannt.  In  den  Landbezirken  des  Staates  New  York 
gibt  es  auch  noch  für  den  Zeitraum  von  vier  Jahren 
gewählte  Friedensrichter. 

Der  Oberste  Gerichtshof  des  Staates  New  York  heißt 
Court  of  Appeals.  Er  setzt  sich  aus  dem  obersten 
Richter  und  den  Beirichtern  zusammen.  Die  Amtsperiode 
auch  dieser  Richter  beträgt  14  Jahre.  Fünf  Mitglieder 
sind  zur  Beschlußfassung  erforderlich  und  vier  müssen 
sich  zu  einer  Entscheidung  vereinen  (Artikel  6,  §  7  der 
Verfassung  des  Staates  New  York). 

Bezüglich  der  Gerichtsverfassung  des  Staates  Illinois 
und  insbesondere  der  Stadt  Chicago  beschränke  ich  mich 
auf  folgende  Ausführungen^): 

Chicago  hat  folgende  Gerichte  erster  Instanz :  1.  Das 
Circuit  Court  of  Cook  County  der  Grafschaft,  zu  welcher 
Chicago  gehört.  Eine  Abteilung  des  Gerichtes  fungiert 
als  Jugendgericht  und  heißt  Circuit  Court  of  Cook  County 
Juvenile  Court.  2.  Das  dem  zu  1.  genannten  Gerichte 
im  Range  gleichgestellte  Superior  Court  of  Cook  County. 
3.  Das  Criminal  Court.  4.  Das  Probate  Court  für  Erb- 
schaftssachen und  Vermögensverwaltung  von  Minder- 
jährigen und  anderen  Kuranden.  Die  Berufung  gegen 
die  Entscheidung  dieser  Nachlaßgerichte  findet  an  den 
Circuit    Court   statt.    5.    Das   Municipal    Court   mit   der- 


6)  Vgl.  Freund,  a.  a.  0.,  S.  166f.;  Bryce,  a.  a.  0.,  I.,  p.  610, 
ferner  das  oben  S.  12  zitierte  Werk  F osters  "Municipal  Court  of 
Chicago".  —  Wertvolle  Belehrung  verdanke  ich  meinem  verehrten 
Freunde,  dem  schweizerischen  Vicekonsul  Herrn  Eugene  Hildebrand. 


—    77    — 

selben  Kompetenz  wie  die  außerhalb  Chicagos  tätigen 
Friedensrichter.  Dieses  auf  Grund  eines  Gesetzes  vom 
Jahre  1904  geschaffene  Municipal  Court  ist  kom- 
petent für  Sachen  bis  zu  1000  Dollars,  ferner  im  all- 
gemeinen für  Strafsachen,  in  welchen  es  sich  nur  um 
Verhängung  einer  Geldstrafe  oder  nur  um  Gefängnis- 
strafen handelt,  die  nicht  Zuchthausstrafen  sind.^)  Ferner 
ist  durch  das  Gesetz  ausdrücklich  die  Möglichkeit  der 
Zuweisung  anderer  Rechtssachen  seitens  der  übrigen  drei 
Gerichte  in  Aussicht  genommen^) 

Der  Staat  Illinois  ist  mit  Ausschluß  des  Kreises,  der 
die  Stadt  Chicago  enthält  (Cook  County),  in  17  Bezirke 
geteilt  und  im  ganzen  in  102  Counties  (Kreise).  Danach 
gibt  es  Circuit  Courts  und  County  Courts  und  in  sieben 
Counties  noch  ein  besonderes  Nachlaßgericht  (Probate 
Court).  Außerdem  gibt  es  noch  Friedensrichter  bis  zu 
fünf  in  jedem  Gau  (Town).^) 

Neben  den  bisher  erwähnten  erstinstanzlichen  Ge- 
richten   gibt    es    Zwischenberufungsgerichte    (Appellate 

•)  Vgl.  Fester,  a.  a.  0.,  p.  10:  ".  .  .  all  criminal  cases  in  which 
the  punishment  is  by  fine  or  imprisonment  otherwise  than  in  the  peni- 
tentiary,  and  all  other  criminal  cases  which  the  laws  in  force  from 
time  to  time  may  permit  to  be  prosecuted  otherwise  than  on  indictment 
by  a  grand  Jury."  —  Die  Bastard  Cases  zählen  zu  den  Quasi  criminal 
actions:  vgl.  Foster,  a.  a.  0.,  p.  12.  Das  Verfahren  ist  im  §  50a 
der  Municipal  Court  Act  geregelt   (p.  89  squ.). 

')  Vgl.  Foster,  a.  a.  0.,  p.  10:  "Cases  .  .  .  which  shall  include  all 
suits  of  every  kind  and  nature,  whether  civil  or  criminal,  or  whether 
at  law  or  in  equity,  which  may  be  transferred  to  it,  by  a  change  of 
venue,  or  otherwise,  by  the  Circuit  Court  of  Cook  County,  the  Superior 
Court  of  Cook  County,  or  the  Criminal  Court  of  Cook  County,  for  trial 
and  disposition." 

*)  Freund,  a.  a.  0.,  S.  167,  führt  an,  es  solle  ungefähr  3300  Friedens^ 
richter  geben.  In  Chicago  ist,  wie  oben  erwähnt,  an  Stelle  der  Friedens-- 
richter  das  Municipal  Court  getreten,  welches  mit  28  Richtern  besetzt 
ist.  Freund  nennt  noch  folgende  Ziffern:  Der  Staat  Illinois  mit 
5*^/2  Millionen  Einwohner  hat  223  Richter,  abgesehen  von  den  Friedens- 
richtern und  den  Stadtrichtern.  Die  Stadt  Chicago  mit  zwei  Millionen 
Einwohnern  hat  insgesamt,  die  sieben  Oberrichter  ausgeschlossen, 
58  Richter. 


—     78     — 

Courts),  welche  aus  der  Zahl  der  Bezirksrichter,  das 
heißt  der  Richter  der  Circuit  Courts,  bestimmt  sind, 
ferner  in  oberster  Instanz  das  Obergericht,  welches  aus 
sieben  Richtern  besteht.^) 


Die  Richter  werden  in  fünf  Staaten  von  der  Legis- 
latur gewählt  und  in  sechs  Staaten  vom  Gouverneur 
ernannt.io)  In  allen  übrigen  Staaten  werden  die  Richter  ge- 
wählt.ii)  Der  Gouverneur  ist  der  höchste  Exekutivbeamte 
des  Staates,  mit  einer  dem  Bundespräsidenten  vergleich- 
baren Stellung.  Es  steht  ihm  regelmäßig  das  Begnadi- 
gungsrecht zu.  Die  Amtsperiode  der  Gouverneure  ist  eine 
verschiedene,  in  22  Staaten  vier  Jahre,  in  21  Staaten, 
zum  Beispiel  in  New  York,  zwei  Jahre,  in  New  Jersey 
drei  Jahre  i^)^  in  zwei  Staaten,  nämlich  in  Massachusetts 
und  Rhode  Island  ein  Jahr.i^)  Die  Gehalte  der  Gouver- 
neure  sind   gering   bemessen. i*)    Nur    in    drei    Staaten 


•)  "Die  Amtsdauer  ist  neun  Jahre  und  läuft  nicht  für  alle  Richter 
zu  gleicher  Zeit  ab.  Vier  Richter  müssen  sich  zu  jeder  Entscheidung 
vereinen."  (Freund,  a.  a.  0.,  S.  166.) 

^*')  Diese  Zahlenangaben  bei  Freund,  a.  a.  0.,  S.  164f.  Bryce, 
a.  a.  0.,  I.,  p.  511,  führt  an,  daß  in  vier  Staaten  die  Wahl  durch  die 
Legislatur  und  in  sieben  die  Ernennung  durch  den  Gouverneur  erfolgt. 

^^)  Über  den  Einfluß  der  Parteiorganisationen  auf  die  Richter- 
wahlen und  über  die  Bestrebungen,  den  Nachteilen  des  Systems  ent- 
gegenzuwirken, vgl.  Georg  von  Skal,  a.  a.  0.,  S.  206  ff. 

^^)  Die  Amtsperiode  des  Präsidenten  der  Vereinigten  Staaten, 
Woodrow  Wilson,  als  Gouverneur  des  Staates  New  Jersey  wäre  am 
1.  Jänner  1914  abgelaufen. 

")  Year  Book,  p.  44;    Freund,  S.  149;    Bryce,   L,  p.  498. 

^*)  Dieses  Gehalt  beträgt  nach  den  Angaben  des  Year  Book  im 
Staate  Illinois  12.000  Dollars,  in  California,  New  Jersey,  New  York 
und  Pennsylvania  10.000  Dollars,  in  manchen  Staaten,  so  in  Minnesota, 
7000  Dollars,  in  Washington  6000  Dollars,  in  manchen  Staaten,  wie 
in  Wisconsin,  5000  Dollars,  in  einer  Reihe  von  Staaten  4500,  4000  und 
3000  Dollars  und  endlich  in  Nebraska  und  Vermont  2500  Dollars.  In 
der  Regel  liefert  der  Staat  die  Amtswohnung.  Der  Gouverneur  wird 
vom  Volke  gewählt,  in  34  Staaten  hat  er  einen  Lieutenant  Governor, 
dessen  Stellung  der  des  Vizepräsidenten  des  Bundes  vergleichbar  ist. 


—    79    — 

werden  die  Richter  auf  Lebenszeit  ernannt,  in  New  York 
ist  die  Amtsdauer  14  Jahre,  in  anderen  Staaten  6,  8, 
12  Jahre,  in  Maryland  15  Jahre,  in  Pennsylvania  für  den 
höchsten  Gerichtshof  21   Jahre. i^) 

"Die  Mitglieder  des  Obersten  Gerichtshofes  beziehen 
in  New  York  17.500  Dollars,  in  Illinois  und  New  Jersey 
10.000  Dollars,  in  Pennsylvania  und  in  Massachusetts 
8500  Dollars,  in  California  8000  Dollars,  in  Ohio 
6000  Dollars,  in  Wisconsin  5000  Dollars;  in  den  spär- 
licher bevölkerten  Staaten  sind  die  Gehalte  niederer" 
(Freund,  a.  a.  0.,  S.  165). i^)  Dagegen  erhält  der  Chief 
Judge  des  New  Yorker  Court  of  Appeals  nur  10.500 
Dollars  und  seine  Associates  10.000  Dollars. i'^) 

In  Chicago  beziehen  die  Richter  vom  Staate 
3000  Dollars,  von  der  County  7000 .  Dollars.  Die  Mit- 
glieder des  Obergerichtes  beziehen  dagegen  in  Illinois 
bloß  7000  Dollars.18)  Die  Einbuß«,  welche  der  Richter, 
der  aus  dem  Anwaltsstande  entnommen  wird,  er- 
leidet, ist  oft  eine  sehr  große,  weshalb  durchaus  nicht 
die  hervorragendsten  Anwälte  Richter  werden,  wie  in 
England.  Es  kommt  auch  vor,  daß  der  Richter  sein 
Amt  während  der  Amtsdauer  niederlegt,  weil  er  dies 
seiner  Familie  schuldig  zu  sein  glaubt,  um  dann  noch 
als  Anwalt  entsprechend   zu   verdienen.    Der  gewesene 


15)  Freund,  a.  a.  0.,  S.  165;  Bryce,  a.  a.  0.,  I.,  p.  512.  Bryce 
erwähnt  auch  eine  zweijährige  Amtsdauer  für  Vermont  und  erklärt  die 
acht-  bis  zehnjährige  Amtsdauer  als  den  Durchschnitt. 

1**)  Andere  Ziffern  bei  Bryce,  a.  a.  0.,  L,  p.  512:  "The  salaries 
paid  to  Staate  judges  of  the  higher  courts  ränge  from  $  10.500  (chief 
justice),  in  Pennsylvania  and  S  14.200  (chief  justice),  in  New  York  (in 
one  district  S  17.500),  to  S  2500  in  Vermont.  $  5000  to  6000  (+  S  500 
to  the  chief  judge)  is  the  average,  a  sum  which,  especially  in  the  greater 
States  falls  to  attract  the  best  legal  talent.  ...  In  general  the  new 
Western  States  are  the  worst  paymasters,  theirs  population  of  farmers 
not  perceiving  the  importance  of  securing  high  ability  on  the  bench 
and  deming  $  4000  a  larger  sum  than  a  quiet-living  man  can  need." 

")  Baldwin,  a.  a.  0.,  p.  325. 

18)  Baldwin,  a.  a.  0.,  p.  326. 


-     80    — 

Richter  behält  seinen  Titel  und  es  soll  ihm  seine  frühere 
Stellung  in  der  Anwaltspraxis  außerordentlich  nützlich 
sein.  Pension  wird  dem  Richter  keine  gezahlt,  ebenso- 
wenig wie  einem  anderen  Beamten.  Nur  ein  Bundes- 
richter, welcher  nach  zehnjähriger  Amtsführung  das  Alter 
von  70  Jahren  erreicht,  ist  mit  dem  vollen  Gehalte  pen- 
sionsberechtigt (Freund,  a.  a.  0.,  S.  161).i9)  Für  Amts- 
delikte kann  ein  Richter  nur  dann  zivilrechtlich  ver- 
antwortlich gemacht  werden,  wenn  er  außerhalb  seiner 
Kompetenz  gehandelt  hat.^o)  Eine  Amtsentsetzung  gibt 
es  nur  auf  Grund  des  bereits  früher  erwähnten  Staats- 
anklageverfahrens. 

Die  Staatsanwälte,  District  Attorneys,  in  den  Einzel- 
staaten werden  vom  Volk,  und  zwar  in  der  Regel  auf 
einen  Termin  von  höchstens  vier  Jahren  gewählt.  Es 
gibt  ein  staatsanwaltschaftliches  Anklagemonopol  und  ein 
staatsanwaltschaftliches  Niederschlagungsrecht.  Der  Ge- 
richtsvollzieher (Sheriff)  ist  ein  County-Beamter,  welcher 
immer  durch  das  Volk  gewählt  wird.  Der  Sheriff  ist 
zugleich  Organ  der  Ortspolizei.  Auch  der  Clerk  of  Court, 
Gerichtsschreiber,  ist  regelmäßig  ein  County-Beamter,  ein 
Grafschaftsbeamter.2i)  Auch  dieser  Clerk  wird  regelmäßig 


19)  Auch  in  einigen  Staaten  werden  Richtern  unter  Umständen 
Ruhegenüsse  zugestanden  (Baldwin,  a.  a.  0.,  p.  326sq.),  zum  Beispiel 
werden  in  Rhode  Island  Richter,  welche  25  Dienstjahre  haben,  mit 
vollem  Gehalt  pensioniert;  in  Maryland  und  Massachusetts  bekommen 
Richter  unter  ähnlichen  Voraussetzungen  einen  Teil  ihrer  Bezüge  als 
Ruhestandsbeztige. 

^<*)  Goodnow,  a.  a.  0.,  p.  400  sq.  Ein  Richter  könnte  also  zum 
Beispiel  zivilrechtlich  verantwortlich  gemacht  werden,  wenn  er  als 
Verlassenschaftsrichter  kriminelle  Untersuchungsakte  vorgenommen  hat, 
nicht  aber  wenn  er  als  Strafrichter  eine  nicht  strafbare  Handlung 
bestraft  hat. 

^1)  Er  ist  Hüter  und  Verwahrer  des  Gerichtssiegels,  der  Akten 
und  Register,  hat  den  Gerichtssitzungen  beizuwohnen,  über  Verhand- 
lungen und  Beschlüsse  Protokoll  zu  führen,  Urteile  einzutragen  sowie 
die  zu  vernehmenden  Parteien  und  Zeugen  zu  vereidigen.  In  ver- 
schiedenen Staaten  ist  er  zugleich  Zivilstandesbeamter  (Civil  Registrar) 
und   Verwahrer   der   Grundbücher  und   Grundbuchsakte   (Recorder  of 


—    81    — 

durch  das  Volk  gewählt.22)  Die  Richter  werden  Your 
Honor  angeredet.23)  In  einigen  Staaten  tragen  die  Richter 
einen  Talar,  zum  Beispiel  in  New  York.  Von  den  Richtern 
wohl  zu  unterscheiden  sind  die  Friedensrichter,  welche 
nicht  juristisch  gebildet  zu  sein  brauchen  und  ihr  Ein- 
kommen aus  gerichtlichen  Sportein  beziehen. 2^:) 

§  4. 

Als  hervorstechende  Eigentümlichkeiten  der  amerika- 
nischen Gerichtsorganisation  und  der  Stellung  der 
amerikanischen  Gerichte  haben  wir  bisher  drei  kennen 
gelernt:  1.  Die  Duplizität  der  Gerichte,  Bundesgerichte 
und  Staatengerichte.  2.  Das  Recht  der  Gerichte,  die 
Gültigkeit  der  Gesetze  zu  prüfen.  3.  Das  Oberaufsichts- 
recht gegenüber  der  Verwaltung,  insbesondere  auch 
die  Kompetenz  für  Schadenersatzklagen  selbst  gegen 
die  höchsten  Verwaltungsbeamten  wegen  rechtswidriger 
Verwaltungsakte. 

Jetzt  möchte  ich  noch  folgende  Besonderheiten  der 
Stellung  des  amerikanischen  Richters  hervorheben.  Der 
Kontakt  zwischen  dem  englischen  Rechte  und  dem 
amerikanischen  Rechte  ist  noch  heute  ein  sehr  großer.^) 


Deeds).  Der  Sheriff  hat  die  Aufgabe,  Parteien  und  Zeugen  vor  Gericht 
zu  laden,  Verhaftbefehle  zu  vollziehen,  bei  Prozeßverhandlungen  die 
Gesehwornen  vor  Gericht  zu  führen  und  nach  Beendigung  des  Prozesses 
das  Urteil  zu  vollstrecken.  Als  Wächter  der  öffentlichen  Sicherheit  hat 
er  das  Recht,  Friedensstörer  zu  verhaften  und  einzuschließen.  Seine 
Unterbeamten  sind  Deputy  Sheriffs,  ferner  Bailiffs  (Gerichtsdiener)  und 
Jailers  (Gefangenen Wärter).  Vgl.  Vocke,  a.  a.  0.,  S.  10. 

*^)  Sowohl  der  SherifE  wie  der  Clerk  of  Court  sind  der  Ordnungs- 
gewalt des  Gerichtes  unterworfen,  wenn  auch  die  Inhaber  nicht  ab- 
setzbar sind.  Freund,  a.  a.  0.,  S.  166. 

^'^)  Es  sind  das,  abgesehen  vom  Gouverneur,  welcher  Your 
Exzellency  angeredet  wird,  die  einzigen  Beamten,  welche  mit  einem 
Titel  angeredet  werden. 

**)  Solche  Friedensrichter  gibt  es  sehr  viele.  Vgl.  S.  77,  Anm.  8. 

1)  Vgl.  E.  Heymann,  a.  a.  0.,  S.  846 ff.  —  Woodrow  Wilson, 
a.  a.  0.,  S.  357  ff.  —  Baldwin,  a.  a.  0.,  p.  7 sq.  Hier  heißt  es,  die 
Hanansek,  AmerikaniBche  Skizzen.  6 


—     82     — 

Englische  Gerichtsentscheidungen  genießen  noch  heute 
in  Amerika  das  größte  Ansehen,  ebenso  auch  Ent- 
scheidungen aus  englischen  Kolonien,  zum  Beispiel  aus 
Australien. 2)  Formell  sind  die  Rechte  aller  einzelnen 
Staaten  voneinander  unabhängig,  allein  materiell  herrscht 
weitgehende  Rechtsgleichheit.  Es  gibt  kein  gemeinsames, 
aber  ein  gemeines  Recht  der  amerikanischen  Einzel- 
staaten. Zwei  wichtige  Prinzipien  sind  aus  dem 
englischen  Rechte  in  das  amerikanische  übergegangen: 
1.  Die  Autorität  der  Präzedenzfälle.  Das  Urteil  geht  allen 
anderen  Erkenntnisquellen  voran.  Allerdings  haben  die 
Entscheidungen  der  Gerichte  anderer  Staaten  nur  wissen- 
schaftliche Bedeutung.  Das  nichtgeschriebene  Recht  gilt 
nach  englisch-amerikanischer  Vorstellung  als  das  dem 
geschriebenen  Rechte  subsidiäre. 3)  2.  Die  englische 
Unterscheidung  von  Law  und  Equity  ist  beibehalten.*) 


amerikanischen  Kolonisten  behielten  englisches  Recht  nicht  nur  deshalb, 
weil  sie  an  dasselbe  gewohnt  waren,  weil  sie  englische  Untertanen 
waren  und  weil  sie  Nachkommen  der  damaligen  Engländer  waren, 
sondern  auch  deshalb,  weil  es  eine  Berufung  gegen  die  Urteile  der 
Kolonialgerichte  nach  London  gab.  Der  King  in  Council  war  für  die 
Berufungsgerichtsbarkeit  in  Kolonialsachen,  repräsentiert  by  a  Standing 
committee  of  the  Privy  Council.  Dieses  Committee  hieß  in  dieser  Zeit 
Lords  of  Trade  and  Plantations  (der  Ausschuß  des  Privy  Council  in 
Rechtssachen  heißt  gegenwärtig  Judicial  Committee  of  the  Privy  Council). 
Auf  diese  Weise  war  eine  Uniformität  des  amerikanischen  Rechts  mit 
dem  englischen  Rechte  gesichert.  Das  amerikanische  Recht  durfte  von 
dem  englischen  nicht  abweichen,  in  any  case  where  agreement  was 
reasonably  practicable  (p.  8  sq.). 

^)  Vgl.  das  Verzeichnis  englischer  Reports  bei  Kempin,  a.  a.  0., 
S.  12  bis  23.  Die  in  diesen  Sammlungen  aufgenommenen  englischen 
Gerichtsentscheidungen  enthalten  das  ungeschriebene  Recht  der  Ver- 
einigten Staaten.  Sie  sind  bis  zur  Beibringung  unzweifelhaft  besserer 
Gründe  für  eine  Gegenansicht  als  Eechtsquelle  zu  betrachten  (Kempin, 
a.  a.  0.,  S.  8  und  12). 

^)  Freund  (a.  a.  0.,  S.  193)  meint  sogar,  es  gelte  im  gewissen 
Sinne  das  geschriebene  Recht  dem  ungeschriebenen  Rechte  gegenüber 
als  minderwertig. 

^)  Es  gab  bekanntlich  drei  alte  Gerichte  des  Common  Law  in 
England:    Kings  Bench,    Common  Pleas  und  Exchequer,    welche   jetzt 


_    83    — 

Allein  in  Amerika  sind  regelmäßig  exceptiones  hono- 
rariae,  also  Einreden  aus  dem  Billigkeitsrecht  auch  in 
legitimis  iudiciis  zugelassen.  Auch  gibt  es  zwar,  mit 
Ausnahme  ganz  weniger  Staaten,  nicht  mehr  eigene  Ge- 
richte für  gemeinrechtliche  und  für  Equity-Sachen;  es 
besteht  aber  noch  heute  der  ungeheure  Unterschied,  daß 
die  Common  Law-Sachen  mit  einem  Streitobjekte  v^on 
über  25  Dollars  vor  Zivilgeschworne  gehören^),  während 
in   Equity-Rechtssachen   Geschworne   nicht   judizieren.*') 


Divisions  des  High  Court  of  Justice  zu  London  sind.  Das  Billigkeits- 
recht hat  sich  zuerst  im  High  Court  of  Chancery  entwickelt,  aus 
welchem  derzeit  die  Chancery  Division  des  High  Court  geworden 
ist.  Vgl.  Holmes-Leonhard:  "Das  gemeine  Kecht  Englands  und 
Nordamerikas"  (The  Common  Law),  insbesondere  S.  V.  —  Heymann, 
Kohlers  Enzyklopädie,  I.,  S.  801  ff. 

*)  Freund,  a.  a.  0.,  S.  192.  Es  gibt  27  sogenannte  Code- 
Staaten  ,  das  heißt  Staaten  mit  einem  kodifizierten  Zivilprozeß 
(Freund,  a.  a.  0.)  und  einige  wenige  Staaten  mit  kodifiziertem 
Privatrecht;  als  solche  nennen  Kempin  (a.  a.  0.,  S.  73)  und 
H  e  y  m  a  n  n  (a.  a.  0. ,  S.  847)  Louisiana  (dessen  1870  revidierter 
Code  auf  dem  französischen  Code  civil  beruht),  ferner  California  und 
die  beiden  Dakota.  Freund,  a.  a.  0.,  .S.  189  ff.,  nennt  Lousiana  den 
einzigen  Staat,  der  formell  nach  zivilem  Rechte,  das  heißt  nach  einem 
auf  römischer  Grundlage  beruhenden  Recht  im  Gegensatze  zum 
gemeinen  Rechte  lebt,  aber  auch  hier  wachse  der  Einfluß  des  gemeinen 
Rechtes  (Common  Law)  und  Louisiana  müsse  demnach  als  gemischtes 
Rechtsgebiet  bezeichnet  werden.  Porto  Rico  und  die  Philippinen  haben 
auch  nach  der  Erwerbung  das  spanische  Recht  beibehalten.  In  den 
Code-Staaten  sind  die  weitschweifigen  Schriftsätze  des  englischen 
Rechts  abgeschafft  und  es  gibt  sowohl  in  gemeinrechtlichen  wie  in 
Billigkeitsklagen  nur  drei  Schriftsätze:  1.  Die  Klageschrift.  2.  Die 
Verneinung  des  Klagerechts,  falls  der  Beklagte  bestreitet,  daß  die 
klägerischerseits  behaupteten  Tatsachen  einen  Klageantrag  begründen 
(Demurrer)  oder  die  Beantwortung  (Answer),  durch  welche,  falls  die 
Begründung  der  Klage  in  rechtlicher  Beziehung  nicht  angefochten 
werden  kann,  die  tatsächlichen  Behauptungen  bestritten  oder  ihnen 
andere  entgegengesetzt  werden.  3.  Die  Replik  (Reply)  (Vocke,  a.a.O., 
S.  53  ff.). 

®)  Auch  in  England  drängt  bekanntlich  "der  immer  komplizierter 
werdende  Rechtszustand  zu  einer  Vereinheitlichung  der  nebeneinander 
stehenden  Gerichte  und  Rechtssysteme,  insbesondere  zur  Verschmelzung 

6* 


—     84     — 

Rechtsgebiete  des  Billigkeitsrechtes  sind  unter  anderen 
Nachlaßsachen,  ehegüterrechtliche  Sachen,  Vormund- 
schaftssachen,  Stiftungssachen  usw. 

Im  Gegensatze  zum  bürgerlichen  Recht  ist  das  Straf- 
recht jetzt  in  den  meisten  amerikanischen  Staaten  ge- 
schriebenes Recht.  Verbrechen  und  Strafen  sind  in  allen 
Staaten  gesetzlich  bestimmt  und  das  betreffende  Gesetz 
heißt  Penal  oder  Criminal  Code  oder  auch  Penal  Law.'') 
Allein  die  subsidiäre  Geltung  des  gemeinen  Rechts  ist 
auch  im  Strafrecht  nicht  beseitigt;  so  nehmen  zum  Bei- 
spiel die  amerikanischen  Codes  häufig  auf  gemeinrecht- 
liche Verbrechen  Bezug,  welche  nicht  näher  definiert 
werden. 

Für  Strafprozesse  vor  den  Bundesgerichten  und 
den  Gerichten  der  Einzelstaaten  ist  das  Verfahren 
vor  Geschwornen  vorgeschrieben.  Das  Recht  auf  das 
Verfahren  vor  einem  Geschwornengericht  ist  ein  ver- 
fassungsmäßiges  Grundrecht. s)    Die   Zwölfzahl   der    Ge- 


des  im  großen  Verkehr  immer  mehr  bewährten  Equity-Rechts  mit  dem 
Common  Law".  (Heymann,  a.  a.  0.,  S.  803.) 

')  Im  Staate  New  York  gibt  es  zum  Beispiel  einen  eigenen  Code 
of  criminal  procedure.  Dieser  Code  hat  963  Paragraphe  und  ist  am 
1.  September  1881  in  Kraft  getreten.  Die  ersten  78  Paragraphe  ent- 
halten die  Verfassung  der  Gerichte  in  Strafsachen  im  Staate  New  York. 
Zahlreiche  Bestimmungen,  insbesondere  in  dieser  Partie  des  Code  sind 
später  abgeändert  worden.  Ferner  gibt  es  im  Staate  New  Y'ork  ein 
eigenes  Penal  Law  vom  Jahre  1909,  zu  welchem  übrigens  seither 
schon  wieder  einzelne  Amendements  erschienen  sind.  Dieses  Penal  Law 
trat  an  die  Stelle  des  Penal  Code  vom  Jahre  1881  und  enthält  eine 
Verarbeitung  dieses  Code  sowie  der  zahlreichen  seit  demselben  er- 
schienenen Zusätze,  aber  auch  eine  ansehnliche  Anzahl  von  sonstigen 
seither  erlassenen  Bestimmungen,  welche  noch  nicht  in  den  Penal 
Code  eingefügt  gewesen  sind.  Das  eben  erwähnte  Penal  Law  des 
Staates  New  York  enthält  2502  Paragraphe  in  224  Artikeln.  Es  liegt 
mir  die  12.  Ausgabe  (1912)  des  Code  of  criminal  procedure  des  Staates 
New  York  von  Amasa  J.  Parker,  Jr.,  of  the  Albany  Bar  sowie  die 
4.  Auflage  (1912)  des  Penal  Law  von  demselben  Herausgeber  vor. 

*)  Freund,  a.  a.  0.,  S.  45,  sagt,  es  werde  mit  der  Tatsache 
gerechnet,  daß  der  Anspruch  auf  die  Jury  ein  historisch  überkommenes,, 
angloamerikanisches  und  nicht  ein  universelles  Grundrecht  ist. 


—    85    — 

schwornen  ist  in  den  meisten  Staaten  beibehalten.  Bei 
kleineren,  lediglich  mit  einer  Geldstrafe  bedrohten  Polizei- 
delikten muß  mindestens  eine  Berufung  an  ein  Gericht 
mit  Jury  offenstehen.  In  einer  Anzahl  von  Staaten  darf 
auch  in  Vergehens-  und  Übertretungsfällen  auf  die  Jury 
verzichtet  werden. 9)  Die  Erhebung  einer  Anklage  in  Straf- 
sachen muß  von  der  Grand  Jury  genehmigt  sein  (An- 
klagejury). Diese  muß  zur  Überzeugung  gekommen  sein, 
daß  ein  Verdacht  vorliegt.  Die  Hauptverhandlung  erfolgt 
dann  vor  einem  zweiten  Geschwornengericht,  der  kleinen 
Jury  oder  Urteilsjury. ^^^  Dieses  zweite  Geschwornen- 
gericht wird  aber  nur  tätig  und  gelangt  nur  dann  zu 
einem  Verdikt,  wenn  sich  der  Angeklagte  für  nicht- 
schuldig erklärt,  wenn  er  pleads  for  not  guilty.  .Erklärt 
sich  der  Angeklagte  für  schuldig  (pleads  for  guilty),  so 
wird  er  schuldig  gesprochen,  ohne  daß  ein  Verdikt  vor- 
liegt.ii)  Es  soll  daher  vorkommen,  daß  der  Richter  den 
Angeklagten  durch  die  Erklärung,  er  werde  ihn  im  Falle 


»)  Freund,  a.  a.  0.,  S.  201. 

^")  In  einer  vor  einem  Bundesgericht  zu  verhandelnden  Kapital- 
strafsache ist  dem  Angeklagten  eine  Abschrift  der  Anklageschrift,  eine 
Liste  der  zu  Gericht  geladenen  Geschwornen  sowie  der  Anklagezeugen 
zwei  Tage  vor  der  Verhandlung  zuzustellen.  Jede  Partei  hat  das  Recht, 
eine  bestimmte  Anzahl  von  Geschwornen  ohne  Angabe  von  Gründen  und 
eine  beliebige  Anzahl  von  Geschwornen  wegen  Befangenheit  abzulehnen. 
Hat  sich  nämlich  ein  Geschworner  eine  bestimmte  Meinung  über  die  Schuld 
des  Angeklagten  gebildet,  so  kann  er  abgelehnt  werden  (E.  Baldwin, 
a.  a.  0.,  p.  241).  In  einem  in  Chicago  1905  verhandelten  Strafprozesse 
wurden  über  2000  Geschworne  abgelehnt  und  die  Auswahl  der  Jury 
nahm  über  sechs  Wochen  in  Anspruch  (Freund,  a.  a.  0.,  S.  202). 

^^)  Ein  besonderes  Aufsehen  erregender  Fall  war  der  Fall  Brandt. 
Brandt  hatte  sich  für  der  Burglary  of  first  degree  schuldig  erklärt 
und  wurde  hierauf  ohne  Einholung  eines  Geschwornenverdikts  zu 
30  Jahren  hard  labor  verurteilt.  Das  geschah  im  Jahre  1907.  Im 
Jahre  1912  wurde  Brandt  auf  Grund  eines  Writ  (Befehls)  wegen  Ver- 
letzung der  Habeas  corpus-Akte  von  einem  Richter  des  New  Yorker 
Supreme  Court  gegen  Bürgschaft  auf  freien  Fuß  gesetzt.  Das  Be- 
rufungsgericht hob  diese  Entscheidung  auf  und  bestätigte  das  erste 
Urteil,    da  es  von  einem  kompetenten  Richter  gefällt  worden  sei   und 


—     86     — 

eines  Geständnisses  in  ein  Reformatory  schicken,  während 
er  im  Falle  der  Verurteilung  durch  die  Jury  zu  einer 
Zuchthausstrafe  verurteilt  würde,  zu  einem  Geständnis 
veranlaßt,  durch  welches  das  weitere  Verfahren  vor  der 
Jury  entfällt.  Beim  zweiten  Schwurgericht,  der  Urteils^ 
Jury,  kann  eine  Verurteilung  nur  erfolgen,  wenn  Ein- 
stimmigkeit der  Jury  vorliegt.  Kommt  es  zu  keiner  Ein- 
stimmigkeit, sagt  ein  einziger  Geschworner  "I  don't 
agree",  so  kommt  es  zu  keinem  Urteil.  Die  Geschwornen 
werden  in  einen  Raum  eingeschlossen,  in  welchem  sie 
zu  verbleiben  haben,  bis  sie  sich  geeinigt  haben.  Ich 
habe  sehr  unkomfortable  Räume  dieser  Art  gesehen,  in 
welchen  ein  Aufenthalt  während  einer  ganzen  Nacht  und 
länger  recht  unbehaglich  sein  muß.  Kommt  es  zu  keiner 
Einigung,  so  muß  ein  neues  Verfahren  stattfinden.  Es 
wurde  mir  erzählt,  daß  in  einzelnen  Fällen  der  Staats- 
anwalt zweimal  angeklagt  hatte  und  da  auch  die  zweite 
Jury  wegen  eines  I  don't  agree  eines  Geschwornen  zu 
keinem  Ergebnis  kam,  mußte  das  Verfahren  eingestellt 
werden.i2) 

Die  Kosten  der  Strafverfolgung  sind  manchmal  sehr 
bedeutende ;  so  sollen  die  Kosten  des  Verfahrens,  welches 
im  Jahre  1911  gegen  die  Fleischtrusts  in  Chicago  vor 
dem  Gerichte  des  Staates  Illinois  geführt  wurde, 
95.000  bis  98.000  Dollars  betragen  haben. 

Vergehen  gegen  die  Post  gehören  vor  die  Kompetenz 
der  Bundesgerichte,  und  zwar  der  Bundesdistriktsgerichte, 
und  diese  sind  häufig  in  Postgebäuden  untergebracht, 
das  heißt  in  demselben  Gebäude,  in  welchem  auch  die 


da  das  Geständnis  des  Brandt  vorgelegen  sei.  Brandt  hätte  erst  im 
Jahre  1922  paroled  werden  können,  wurde  aber  vom  neugewählten 
Gouverneur  des  Staates  New  York,  Sulz  er,  begnadigt. 

^2)  Die  Staatsanwälte  in  den  einzelnen  Staaten  werden,  wie  wir 
gehört  haben,  gewählt.  Unter  Umständen  sollen  zahlreiche  Verurteilungen 
in  den  Augen  der  Wähler  des  Staatsanwaltes  zu  seinen  Gunsten 
sprechen,  unter  Umständen  aber  soll  wieder  eine  geringe  Zahl  von 
Anklagen  für  den  Kandidaten  günstig  sein. 


—    87     — 

Post  untergebracht  ist,  die  auch  eine  Uhionsanstalt  ist. 
Die  Postverwaltung,  oder  genauer  gesagt,  die  Bundes- 
staatsanwaltschaft verfolgt  auch  Betrugsfälle,  in  welchen 
sich  Leute  der  Post  zu  betrügerischen  Zwecken  bedienen 
(fraudulent  use  of  the  mails).  Wenn  zum  Beispiel 
schwindelhafte  Zirkulare  durch  die  Post  versendet 
werden,  oder  wenn  Leichtgläubigen  Geld  herausgelockt 
und  der  Betrag  per  Post  zugesendet  wird,  kann  die 
Bundesstaatsanwaltschaft  bei  dem  United  States  District 
Court  Klage  führen.  Auch  der  Mißbrauch  der  Post  zu 
unsittlichen  Zwecken,  zum  Beispiel  zur  Versendung  un- 
sittlicher Annoncen,  kann  verfolgt  werden  und  wird  unter 
Umständen  außerordentlich  strenge  bestraft. 

Die  den  amerikanischen  Gerichten  zustehende  Be- 
fehlsgewalt ist  eine  sehr  weitgehende  und  eigenartige. 
Über  einige  solcher  Befehle  (Writs)  seien  hier  einige  Be- 
merkungen eingeschaltet.  Ein  Habeas-Corpus-Befehl  ist 
ein  richterlicher  Befehl  gegen  eine  Haftverhängung, 
welcher  eine  Überprüfung  der  Rechtmäßigkeit  der  Haft- 
verhängung  zur  Folge  hat.  Ein  solcher  Habeas-Corpus- 
Befehl  wird  zum  Beispiel  auch  von  einem  Bundesgericht 
erlassen,  wenn  behauptet  wird,  daß  durch  eine  erfolgte 
Verhaftung  das  Bundesrecht  verletzt  worden  ist.^^)  Der 
Befehl  (Writ),  welchen  ein  Court  of  Law  zur  Durch- 
setzung seines  Urteiles  erläßt,  heißt  "execution".  Dieser 
Befehl  ist  an  den  Sheriff  gerichtet  und  beauftragt  diesen, 
je  nach  der  Art  des  Falles,  sich  zum  Beispiel  des  Ver- 
mögens des  Beklagten  zu  bemächtigen  und  es  zu  ver- 
kaufen oder  ihn  in  Haft  zu  setzen  oder  aber  ihn  aus 
dem  Besitz  eines  Grundstückes  zu  setzen.  Ein  Writ  of 
Injunction  liegt  dagegen  vor,  wenn  ein  Gericht  in  Aus- 
übung der  Equitable  Jurisdiction  den  Befehl  an  den  Be- 
klagten erläßt,  eine  bestimmte  Handlung  zu  unterlassen, 
oder  zu  setzen.  Die  Nichtbefolgung  dieses  Befehls  wirJ 
dann  als  Contempt  of  Court  mit  Haft  oder  Geldbuße  be- 


3)  Freund,  a.  a.  0.,  S.  40;    Baldwin,  a.  a.  0.,  p.  252. 


—     88     — 

straft.  E.  Baldwin,  a.  a.  0.,  p.  291,  führt  einen  Befehl 
an,  der  gelegentlich  eines  durch  die  American  Railway 
Union  geleiteten  Eisenbahnstreiks  und  Boykotts  gegen 
die  Vertreter  (Officers)  der  Union  erlassen  wurde.  Der 
Attomey  General  der  Vereinigten  Staaten  verlangte  von 
dem  kompetenten  Circuit  Court  des  Bundes  in  an  equitable 
action  die  Erlassung  eines  zeitweiligen  Verbots  (Injunc- 
tion)  gegen  diese  Organe  der  Union.  Diese  befolgten 
den  Befehl  nicht  und  wurden  hierauf  wegen  Contempt 
of  Court  in  Haft  gesetzt.  Diese  Inhaftsetzung  hatte  das 
Ende  des  Streiks  zur  Folge. 

Qualifikationen  in  bezug  auf  Rechtskenntnis  und 
Alter  und  dergleichen  für  die  Wahl  zum  Richteramt  sind 
nur  in  wenigen  Staaten  vorgeschrieben,  in  der  Praxis 
werden  die  Richter  natürlich  allgemein  dem  Anwaltstande 
entnommen.!*) 

Zum  Schlüsse  meiner  Ausführungen  über  die 
amerikanischen  Richter  gestatte  ich  mir  einige  Bemer- 
kungen von  Baldwin  (a.  a.  0.,  p.  385)  anzuführen. 
Baldwin  sagt,  daß  das  allgemeine  Vertrauen  und  der 
Respekt  vor  dem  Richterstande  als  Ganzem  mit  dem 
Wachsen  der  Bevölkerung  und  der  Wohlhabenheit  ge- 
stiegen sei  und  daß  das  Vertrauen  des  Volkes  in  die 
Gerichtshöfe  nicht  darauf  beruhe,  daß  irgendein  be- 
stimmter Richter  in  demselben  Einfluß  habe;  dieses  Ver- 
trauen sei  ein  unpersönliches  und  gelte  dem  Richterstand 
als  solchem,  welcher,  wenn  man  alles  in  Erwägung  zieht 
(all  things  considered),  als  beste  Garantie  einer  guten 
Regierung  in  den  Vereinigten  Staaten  erscheint. i^) 

")  Vgl.  Vocke,  a.  a.  0.,  S.  9.  Vgl.  Georg  von  Skal,  a.  a.  0., 
S.  210:  "In  den  Vereinigten  Staaten  widmen  die  Juristen  sich  nicht 
einem  bestimmten  Zweig  ihres  Berufs.  Jeder  Jurist  ist  Advokat  und 
praktiziert  als  solcher,  wenn  er  nicht  zum  Staatsanwalt  oder  Bichter 
gewählt  oder  ernannt  wird." 

")  Die  im  Texte  zitierten  Sätze  lauten  wörtlich:  "This  confidence 
in  and  respect  for  the  judiciary  as  a  whole  has  increased  with  the 
general  advance  of  the  country  in  population  and  wealth.  —  Populär 


89 


§  5. 

Ich  wende  mich  nun  zu  einer  kurzen  Besprechung 
der  amerikanischen  Anwaltschaft,  In  Amerika  gibt  es 
keinen  Anwaltszwang,  es  soll  aber  regelmäßig  nur  ein 
Anwalt   Prozeßbevollmächtigter   sein.i) 

Die  englische  Unterscheidung  zwischen  Solicitors  und 
Barristers  ist  in  Amerika  nicht  übernommen  worden.^) 
Der  einmal  zur  Praxis  zugelassene  Anwalt,  in  gemein- 
rechtlichen Klagen  Attorney  and  Counsellor  at  Law,  in 
Equity-Prozessen  Solicitor,  in  seerechtlichen  Sachen 
Proctor  in  Admiralty  genannt,  ist  nicht  bloßer  Berater, 
sondern  Vertreter  seines  Klienten  in  allen  Verhandlungen 
vor  Gericht. 


confidence  is  now  not  placed  in  courts  because  this  or  that  man  is  the 
ruling  spirit  in  them.  It  is  impersonal  and  attaches  itself  to  the 
Institution  of  the  judiciary  as,  all  things  considered,  the  best  guaranty 
of  good  government  in  the  United  States."  A.  a.  0.,  p.  375,  spricht. 
Baldwin  von  der"friendly  attitude  toward  the  judiciary  der  Amerikaner". 
—  Georg  von  Skal,  a.  a.  0.,  S.  223:  "Dazu  gesellt  sich  ein  uner- 
schütterliches Vertrauen  in  die  Gerichte.  Sie  gelten  dem  Amerikaner 
viel  mehr  als  bloße  Tribunale  für  die  Erledigung  von  Rechtshändeln 
oder  für  die  Bestrafung  von  Verbrechen  bedeuten  würden.  —  Ihm 
vertraut  der  Amerikaner  blindlings,  und  so  heftig  er  vor  den  ver- 
schiedenen Instanzen  für  seine  Sache  kämpfen  mag,  so  bereitwillig 
unterwirft  er  sich,  nachdem  die  letzte  Entscheidung  gefallen  ist."  Sehr 
interessante  Ausführungen  über  die  Beuch  als  "social  Institution"  bei 
Bryce,  a.  a.  0.,  IL,  p.  679 sq. 

^)  Außer  in  Fällen  vor  Friedensrichtern  und  in  Fällen,  wo  die 
Rechte  Minderjähriger  in  Frage  stehen.    Vgl.  Vocke,  a.  a.  0.,    S.  15. 

2)  Bei  Bryce,  a.  a.  0.,  II.,  p.  668,  finde  ich  folgende,  für  die 
Auffassung  des  Engländers  charakteristische  Bemerkung :  Die  ungeteilte 
Anwaltstätigkeit  (undivided  legal  profession)  habe  zweifellose  Nach- 
teile, aber  jedenfalls  habe  sie  den  Vorteil,  daß  sie  das  Vorwärts- 
kommen des  Anfängers  erleichtere.  Das  System  gebe  dem  Anfänger  eine 
viel  bessere  Aussicht  auf  ein  schnelleres  Vorwärtskommen  und  eine 
erfolgreiche  Berufstätigkeit  als  dies  bei  dem  englischen  System 
bezüglich  des  Anfängers  der  Fall  sei,  welchem  starke  persönliche  Be- 
ziehungen fehlen  (who  is  not  "strongly  backed"). 


—    90    — 

Für  die  Zulassung  zum  Anwaltstande  bestehen  in 
jedem  Staate  besondere  gesetzliche  Bestimmungen,  nur 
in  der  Verfassung  des  Staates  Indiana  ist  ausdrücklich 
verfügt,  daß  jeder  gut  beleumundete  Stimmberechtigte 
zur  Ausübung  der  Rechtspraxis  ermächtigt  werden  kann. 
Die  Zulassung  erfolgt  in  der  Regel  auf  Grund  einer 
Prüfung.  Die  Prüfung  der  Qualifikation  des  Kandidaten 
erfolgt  gelegentlich  durch  den  Richter  selbst,  häufiger 
durch  ein  Komitee  der  Bar,  welches  von  dem  Gerichts- 
hofe zu  diesem  Zwecke  zu  bestellen  ist,  in  einigen 
Staaten  durch  eine  ständige  Kommission  aus  staatlichen 
Prüfungskommissären,  welche  für  ihre  Tätigkeit  durch 
Prüfungstaxen  entlohnt  werden.  Diese  letztere  Methode 
nimmt  immer  mehr  an  Ausdehnung  zu.^)  In  den  meisten 
Staaten  werden  die  Diplome  vom  höchsten  Gerichtshofe 
des  Staates  ausgefertigt  und  diese  Diplome  (Licenses) 
berechtigen  dann  zur  Praxis  vor  allen  Gerichtshöfen  des 
Staates  und  vor  den  Bundesgerichten  innerhalb  des  be- 
treffenden Staates.  Als  Bedingung  für  die  Zulassung  zur 
Prüfung  ist  in  den  meisten  vorgeschrittenen  Staaten 
dreijähriges  Studium  in  einem  Anwaltbureau  oder  an 
einer  Rechtsschule  vorgeschrieben.  Diplome  anerkannter 
juristischer  Fakultäten  ersetzen  manchmal  die  Prüfung 
vor  Gericht  oder  die  sonst  vorgeschriebene  Dienstzeit 
als  Clerk  in  einem  Anwaltbureau  oder  auch  beides.  Nach 
bestandener  Prüfung  und  Zulassung  erfolgt  Beeidigung 
auf  die  Bundesverfassung  und  die  Verfassung  des  eigenen 
Staates  sowie  auf  treue  Amtspflichterfüllung.  In  fast  allen 
Staaten  genügt  der  Beweis  der  Zulassung  zur  Praxis  in 
einem  Staate,  um  in  einem  anderen  die  Praxis  ausüben 
zu  dürfen.  Beim  Obersten  Bundesgericht  in  Washington 
wird  jeder  zugelassen,  der  den  Beweis  erbringt,  daß  er 
mindestens  drei  Jahre  lang  zur  Ausübung  der  Praxis 
vor  dem  höchsten  Gerichtshofe  seines  Staates  berechtigt 
war.    Früher   gab   es   wohl   in  einzelnen   Staaten  einen 


'^)  Baldwin,  a.  a.  0.,  p.  345 sq. 


—    91    — 

numerus  clausus,  doch  ist  dieses  System  längst  abge- 
kommen und  bei  Baldwin,  a.  a.  0.,  p.  346,  wird  die 
Zahl  der  Anwälte  in  den  Vereinigten  Staaten  auf  Grund 
des  Zensus  von  1900  mit  114.000  angegeben. 

Die  Anwaltsvereine  tragen  nicht  den  Charakter 
offizieller  Anwaltskammern  und  haben  keine  gesetzliche 
Befugnis  zur  Disziplinaraufsicht.*)  Die  Anwälte  gelten 
als  Beamte  der  Gerichtshöfe,  an  denen  sie  praktizieren, 
und  unterliegen  wegen  Untreue  oder  sonstiger  unredlicher 
Handlungsweise  der  Disziplinargewalt  des  Gerichtshofes 
wegen  Contempt  of  Court.^)  Auch  Frauen  werden  zur 
Anwaltschaft  zugelassen. ß)  Der  höchste  Gerichtshof  von 
Massachusetts  hat  sich  dahin  ausgesprochen,  daß  aus 
historischen  Gründen  Frauen  als  unfähig  für  ein  Richter- 


*)  Über  die  Bar  Associations  und  über  die  soziale  Stellung  der 
Anwaltschaft  sowie  über  das  Verhältnis  zwischen  Bar  und  Bench, 
also  zwischen  Anwaltschaft  und  Richterstand,  siehe  sehr  interessante  Aus- 
führungen bei  Baldwin,  a.  a.  0.,  p.  354 sq.  Ebenda  Mitteilungen  über 
die  Einkommensverhältnisse  der  amerikanischen  Anwaltschaft.  Es  heißt 
hier,  daß  seit  dem  Bürgerkrieg  infolge  der  Steigerung  der  Zahl  der 
Eechtsstreite  und  des  steigenden  Reichtums  im  Norden  und  Westen 
die  Einkommensverhältnisse  der  Advokaten  sich  außerordentlich  ge- 
hoben hätten.  Es  habe  wohl  gelegentlich  Einkommen  von  20.000  bis 
25.000  Dollars  in  den  kleineren  Staaten  und  vier-  oder  fünfmal 
größere  Einkommen  in  den  größeren  Staaten  gegeben  (Baldwin, 
a.  a.  0.,  p.  356). 

*)  Über  das  Verfahren  vgl.  Baldwin,  a.  a.  0.,  p.  353,  femer 
Vocke,  a.  a.  0.,  S.  16  ff.  Das  Gericht  ist  zur  Verhängung  von  Geld- 
und  Haftstrafen  sowie  zur  Entziehung  der  Praxis  auf  kürzere  oder 
längere  Zeit  befugt.  Dem  höchsten  Staatsgerichte  steht  es  sogar  zu, 
nach  eingegangener  Beschwerde  und  stattgehabter  Verhandlung  dem 
Anwalt  die  fernere  Ausübung  seines  Berufes  ganz  zu  untersagen  (to 
disbar  him).  "Disbarment  cannot  he  decreed  by  the  legislative  depart- 
ment.  That  would  be  virtually  an  act  of  attainder.  It  must  come 
from  a  judicial  sentence." 

**)  Einer  brieflichen  Mitteilung  entnehme  ich,  daß  es  im  Staate 
Illinois  eine  Anzahl  weiblicher  Rechtsanwälte  gibt;  vgl.  ferner 
Bryce,  a.  a.  0.,  II.,  p.  796,  welcher  unter  anderem  erzählt,  daß  eine 
Frau  erfolgreich  das  Illinois  Law  Journal  herausgegeben  hat.  Vgl.  ferner 
Hintrager,  a.  a.  0.,  S.  138  f. 


—    92    — 

amt  zu  betrachten  seien  und  in  Maine  besteht  die  gleiche 
Ansicht  für  alle  von  der  Verfassung  geschaffenen 
Ämter.'') 

Zur  Charakterisierung  der  Stellung  der  amerika- 
nischen Anwaltschaft  möchte  ich  mir  gestatten,  folgende 
Bemerkungen  Baldwins,  a.  a.  0.,  p.  344,  anzuführen. 


')  Vgl.  Freund,  a.  a.  0.,  S.  77.  Freund  hebt  auch  hervor, 
daß  in  zwei  Staaten,  Wyoming  und  Utah,  ausdrücklich  irgendwelches 
Geschlechtserfordernis  für  die  Bekleidung  eines  Amtes  untersagt  ist 
und  erwähnt,  daß  für  die  Präsidentschaft  in  der  Eegel  auch  eine  Frau 
als  Kandidatin  aufgestellt  wird  und  daß  gesetzlich  einer  solchen  Wahl 
nichts  im  Wege  zu  stehen  scheint.  In  Evanston,  welches  zwölf  Meilen 
weit  von  Chicago  noch  innerhalb  derselben  Grafschaft  (Cook  County) 
liegt  und  welches  Sitz  der  North-Western  University  ist,  gibt  es,  wie 
ich  einer  brieflichen  Mitteilung  entnehme,  derzeit  eine  Richterin, 
welche  die  Stelle  eines  Friedens-  oder  Polizeirichters  versieht.  Inner- 
halb der  Stadtgrenze  von  Chicago  gibt  es  aber  keinen  weiblichen 
Richter,  obwohl  ein  gesetzliches  Bedenken  gegen  deren  Wählbarkeit 
nicht  bestehen  dürfte.  Jugendrichter  Pinckney  in  Chicago  (vgl.  unten 
S.  1061)  hat  sich  vor  einigen  Monaten  einen  weiblichen  Assistant  Judge 
ernannt.  Diese  Richterin  im  Girls  Court  ist  seit  4.  März  1913  tätig  und 
heißt  Miß  Mary  M.  Bartelme.  Eingehende  Ausführungen  über  die  Frage 
der  Wählbarkeit  der  Frauen  zu  Ämtern  (Eligibility  of  women)  bei 
Goodnow,  a.  a.  0.,  p.  263sq.  Vgl.  noch  Bryce,  a.  a.  0.,  L,  p.  488: 
"Four  States  (Wyoming,  Utah,  Idaho  and  Colorado)  give  the  suffrage 
(das  Wahlrecht)  to  women."  —  Hintrager,  a.  a,  0.,  S.  140,  erwähnt  einer 
Staatsanwältin  in  Nebraska.  Über  die  Woman  Suffrage  Societies 
vgl.  Hintrager,  a.  a.  0.,  S.  1511  In  Schulangelegenheiten  haben 
die  Frauen  in  vielen  Staaten  aktives  und  passives  Wahlrecht.  In 
Morgan  Park  (Illinois)  sah  ich  Damen  mit  großem  Eifer  an  einer 
solchen  Wahl  teilnehmen.  "Im  Staate  Kansas  haben  die  Frauen  aktives 
und  passives  Wahlrecht  bei  allen  städtischen  Wahlen ;  der  letzte  Ober- 
bürgermeister von  Kansas  City  war  eine  Frau.  In  Wyoming  waren 
Frauen  lange  Zeit  Geschworne.  In  einigen  wenigen  Staaten,  zum 
Beispiel  Arkansas,  haben  die  Frauen  das  Stimmrecht  bei  den  lokalen 
Abstimmungen  über  die  Frage,  ob  eine  Wirtschaftskonzession  erteilt 
werden  solle  oder  nicht.  Die  Mitwirkung  der  Frau  bei  der  Behandlung 
der  Alkoholfrage  ist  es  vor  allem,  was  die  Frauenstimmrechtler  wollen" 
(vgl.  Hintrager,  a.  a.  0.,  S.  1511).  In  Colorado  waren  drei  Frauen 
in  der  gesetzgebenden  Versammlung  des  Staates;  eine  derselben  war 
Mutter  von  fünf  Kindern  (vgl.  Hintrager,  a.  a.  0.,  S.  140).  In 
Illinois  ist  den  Frauen  das  Wahlrecht  für  die  Legislatur  durch  eine 


—     93     — 

Es  heißt  da,  die  Gerichte  könnten  nicht  unter  dem 
amerikanischen  System  ohne  Anwälte  bestehen,  welche 
zwischen  den  Streitteilen  und  dem  Richter  oder  der  Jury 
stehen.  Dieses  System  erfordere  schriftliche  Eingaben 
(written  pleadings),  vielfach  künstlich  in  Form  und  Stil 
und  beschränke  die  Beweisführung,  so  daß  oft  Be- 
weismittel ausgeschlossen  sind,  welche  scheinbar  zu- 
gelassen werden  sollten;  die  Beweismittel  beruhen  auf 
Gründen,  die  nur  jemandem  klar  sind,  der  sich  ein- 
gehend in  der  Rechtsgeschichte  (Legal  History)  unter- 
richtet hat.8)  Das  System  teilt  die  Entscheidung  zwischen 
dem  Richter  und  der  Jury  in  einer  Weise,  welche  nur 
nach  einem  langen  und  gründlichen  Studium  verstanden 
werden  könne.  Die  unterliegende  Partei  hat  eine  Befugnis 
zur  Revision,  welche  von  einer  Anzahl  technischer  Regeln 
abhängt,  die  nur  von  jemandem  gehandhabt  werden 
können,  der  sich  in  der  Abfassung  gerichtlicher  Schrift- 
stücke (Law  Papers)  eine  besondere  Fertigkeit  erworben 
hat.9)  Es  bestehe  daher  eine  eigene  Klasse  von  Menschen, 
welche  dazu  berufen  sind,   das  Volk  von  der  direkten 


Bill  vom  26.  Juni  1913  verliehen  worden.  Ich  entnehme  dies  der  mir 
freundlichst  zugesandten  Nummer  vom  27.  Juni  1913  der  "Chicago 
Daily  Tribüne". 

*)  Die  Beweisaufnahme  wird  im  englischen  Prozeß  von  den 
Parteien  geführt  und  geleitet.  Der  Richter  hat  die  Befugnis,  ungehörige 
Fragen  einer  Partei  zurückzuweisen  und  selbst  Fragen  zu  stellen. 
Diese  Tätigkeit  tritt  jedoch  hinter  die  der  Parteien  weit  zurück. 
(Vocke,  a.  a.  0.,  S.  57ff.)  E.  Baldwin,  a.  a.  0.,  p.  205,  führt  aus, 
es  gebe  in  keinem  Lande  der  Welt  ein  so  kompliziertes  System  von 
Beweisregeln  (Rules  of  Evidence)  als  in  England  und  in  den  Ver- 
einigten Staaten,  weil  es  eben  in  keinem  Lande  der  Welt  ein  so  aus- 
gedehntes Recht  auf  Verhandlung  vor  Geschwornen  gibt.  Viele  dieser 
Beweisregeln  reichen  in  die  Zeit  zurück,  in  welcher  kein  Geschworner 
lesen  oder  schreiben  konnte  und  finden  in  dieser  "general  illiteracy" 
ihre  Begründung. 

")  It  gives  a  defeated  party  a  right  of  review  dependent  on  a 
number  of  technical  rules,  and  to  be  availed  of  only  by  those  who 
are  skilled  in  the  preparation  of  law  papers  of  a  peculiar  kind 
(Baldwin,  a.  a.  0.,  p.  344). 


—    94    — 

Berührung  mit  der  Richterbank  fernzuhalten,  es  wäre 
denn,  daß  eine  einzelne  Partei  ihre  eigene  Sache  selbst 
vertreten  wollte,  was  selten  vorkommt. i^) 

Der  Erteilung  einer  formellen  Prozeßvollmacht  zur 
Führung  eines  Prozesses  bedarf  es  im  allgemeinen  nicht. 
Ein  mündlicher  oder  brieflicher  Auftrag  zur  Führung 
eines  Prozesses  genügt.  Es  ist  nicht  üblich,  daß  der  An- 
walt vom  Richter  um  den  Ausweis  seiner  Vollmacht 
befragt  wird,  es  steht  aber  dem  Gegner  der  Beweis  offen, 
daß  der  Anwalt  ohne  Ermächtigung  handelt.  Der  Anwalt 
ist  nicht  verpflichtet,  den  Auftrag  ohne  Kostenvorschuß 
zu  übernehmen.  Einen  Tarif  für  die  Leistungen  der  An- 
wälte gibt  es  nicht.  Contingent  Fee  nennt  man  die  Be- 
teiligung eines  Advokaten  am  Prozeßausgange.  Retainer 
Fee  ist  der  Betrag,  der  dem  Advokaten  dafür  ausbezahlt 
wird,  daß  er  die  Sache  behält  und  nicht  die  Sache  der 
Gegenpartei  übernimmt.ii)  Die  Anwaltskosten  sind  eben- 
falls erheblich.  Auch  Vocke  gibt  schon  für  das  Jahr  1891 
an,  daß  bei  Prozessen  bis  zur  Höhe  von  1000  Mark 
(250  Dollars)  der  Anwalt  sich  gewöhnlich  einen  Vorschuß 


^^)  A  class  of  men  has  therefore  been  set  apart  to  keep  the 
people  from  direct  approach  to  the  bench,  except  when  they  may  desire 
to  argue  their  own  cases,  which  rasely  occurs  (Baldwin,  a.  a.  0.,  p.  344). 

^^)  Ein  Beispiel  eines  Contingent  Fee  erzählt  Hintrager, 
a.  a.  0.,  S.  45.  Eine  Witwe,  welche  gegen  eine  Lebensversichemngs- 
anstalt  auf  10.000  Dollars  klagte,  mußte  dem  Anwalt  für  den  Fall  des 
Sieges  1000  Dollars  versprechen.  Es  sollen  sehr  hohe  Contingent  Fees 
von  33^/3  Prozent,  ja  von  50  Prozent  vorgekommen  sein.  Vocke 
(a.  a.  0.,  S.  18)  erklärt  es  für  zulässig,  sich  vom  strittigen  Objekte 
einen  mäßigen  Prozentsatz  zahlen  zu  lassen.  "Dagegen  gestatten  die 
Gerichte  im  allgemeinen  keine  Abmachung,  nach  welcher  sich  der 
Anwalt  einen  Teil  des  Streitobjektes  verschreiben  läßt  und  dafür  die 
Prozeßkosten  zu  zahlen  verspricht,  wenn  die  Sache  den  Anschein  eines 
Schachers  oder  der  Rabulisterei  gewinnt,  die  dazu  angetan  ist,  die 
Prozeßsucht  zu  reizen."  Wenn  ich  recht  berifchtet  bin,  scheinen  Con- 
tingent Fees  nicht  selten  vorzukommen.  Vgl.  noch  Vocke,  a.  a.  0., 
S.  19:  "Gilt  der  Zeitaufwand  hauptsächlich  als  Maßstab,  so  wird  je  nach 
dem  Wert  des  erstrittenen  Objektes  die  Summe  von  25  bis  100  Dollars 
pro  Tag  als  entsprechende  Gebühr  erachtet." 


—    95    ^ 

von  25  bis  50  Dollars  zahlen  läßt  i^),  und  daß  bei  Forde- 
rungen bis  zu  10.000  Mark  (2500  Dollars)  für  die  Ver- 
handlung in  erster  Instanz  der  Betrag  von  100  bis  250 
Dollars  als  angemessene  Entschädigung  erscheint. i^) 

Ich  hatte  mehrfach  zu  beobachten  Gelegenheit,  daß 
unsere  ausgezeichneten  Konsulate  in  den  Vereinigten 
Staaten  bei  Vertretungen  von  Landsleuten  durch  Anwälte 
dafür  Sorge  tragen,  daß  der  Vertrag  zwischen  dem 
Klienten  und  dem  Advokaten  bezüglich  des  dem  letzteren 
zu  leistenden  Honorars  für  den  Klienten  tunlichst 
schonend  ausfalle.  Vielfach  verwenden  sich  auch  Kon- 
sulatsorgane bei  den  Gerichten  zugunsten  von  Lands- 
leuten in  Nachlaßabhandlungen,  in  Damage-Prozessen 
(Schadenersatzprozessen)  gegen  Eisenbahnen  und  Unter- 
nehmer und  in  Bankruptcy-Fällen.i*) 


Am  4.  April  1912  gegen  elf  Uhr  abends  besuchte 
ich  mit  dem  Vizekonsul  Dr.  Fischerauer  und  dem 
Rechtsanwalt     Arpad    A.    Kremer     die    Verhandlung 

^-)  "Erfolgt  ein  Urteil,  ohne  daß  eine  außergewöhnlich  langwierige 
Verhandlung  erforderlich  wird,  so  gilt  bei  vielen  Anwälten  der  letztere 
Betrag  ziemlich  allgemein  als  volles  Honorar  sowohl  für  die  Mühe- 
waltung bei  Gericht  als  auch  für  die  Eintreibung  der  Schuld,  sofern 
letzteres  nicht  etwa  einen  besonderen  Zeitaufwand  erheischt"  (Vocke, 
a.  a.  0.,  S.  19). 

^^)  Im  "New  York  Herald",  European  Edition,  vom  11.  März  1913, 
finde  ich  eine  Notiz,  daß  ein  Anwalt  eine  Rechnung  von  25.000  Dollars 
einzutreiben  hatte.  Die  ihm  zur  Deckung  gegebenen  Papiere  verkaufte 
er  um  22.500  Dollars ;  von  dieser  Summe  hielt  der  Anwalt  3900  Dpllars 
als  Honorar  (Fee)  für  sich  zurück,  während  die  Klientin  nur  1000  Dollars 
zu  zahlen  bereit  war.  —  In  einer  Chicagoer  Zeitung  vom  29.  Mai  dieses 
Jahres  lese  ich,  daß  in  einer  Nachlaßverteilungssache  einer  Anwältin 
vom  Appelate  Court  ein  Honorar  von  22.500  Dollars  zugesprochen 
wurde,  während  der  Circuit  Court  32.500  Dollars  zugesprochen  hatte. 
Erwähnt  wird,  daß  der  Nachlaß,  zu  welchem  das  zu  verteilende  Gut 
(Estate)  gehörte,  im  Jahre  1890  2  Vi  Millionen  Dollars  betragen  habe. 

1*)  Es  kommt  leider  gar  nicht  selten  vor,  daß  zu  Amerikanern 
gewordene  Österreicher  oder  Ungarn  in  der  unerhörtesten  Weise  ihre 
gewesenen  Landsleute  beschwindeln  und  ihnen  Geld  abnehmen,  welches 
sie  erspart  haben,  angeblich  um  es  einzulegen  oder  in  die  Heimat  zu 


—     96    — 

eines  sogenannten  Night  Court  in  der  6.  Avenue,  Ecke 
der  10.  Straße.  Ein  Polizeirichter,  Henry  W.  Herbert, 
führte  die  Verhandlung.  Diese  Polizeirichter  sind  vom 
Bürgermeister  von  New  York  ernannte  City  Magistrats.i^) 
Der  Polizeirichter  trägt  einen  einfachen  schwarzen 
Talar,  er  verhandelt  und  urteilt  mit  unbedecktem 
Haupte.  Der  Night- Richter  hat  die  nachmittags  von 
drei    oder    vier    Uhr    an    anfallenden    Sachen    zu    ent- 


senden. In  dem  Konkurse  eines  solchen  betrügerischen  und  treulosen 
Depositars  wurde  dann,  wie  ich  zufällig  gehört  habe,  eine  Quote  von 
15  Prozent  der  Einlage  bezahlt  und  diese  Erledigung  des  Konkurses 
noch  nicht  als  eine  ungewöhnlich  ungünstige  angesehen.  —  Über  solche 
Fallimente  von  Foreign  bankers  vgl.  Dr.  Karl  R.  v.  Englisch,  a.  a.  0. 
(vgl.  oben  S.  10),  S.  387 ff.  Dr.  v.  Englisch  teilt  mit,  daß,  um  die 
europäischen  Einwanderer  zu  veranlassen,  ihre  Ersparnisse  direkt  nach 
Hause  zu  senden,  auf  Veranlassung  der  k.  u.  k.  Botschaft  die  Bundes- 
postverwaltung Postanweisungen  in  ungarischer  und  in  den  slawischen 
Sprachen  in  den  Verkehr  gebracht  habe,  damit  die  Auswanderer  die 
Blankette  selbst  ausfüllen  können,  ohne  sich  vorher  den  englischen 
Text  verdolmetschen  lassen  zu  müssen.  Wie  mir  berichtet  wurde,  be- 
mühen sich  unsere  Vertretungsbehörden,  österreichische  und  ungarische 
Banken  zur  Errichtung  von  Filialen  in  den  Vereinigten  Staaten  zu 
veranlassen.  Freund,  a.  a.  0.,  S.  387,  sagt,  daß  seit  dem  Jahre  1910 
im  Staate  New  York  Privatbankiers,  die  Gelder  als  Depositen  oder 
zur  Versendung  annehmen,  gesetzlicher  Kontrolle  unterworfen  sind. 
Sie  bedürfen  einer  Gewerbekonzession,  müssen  eine  Kaution  im  Betrage 
von  10.000  Dollars  stellen  und  die  Inhaber  des  Geschäfts  oder  die 
Mehrzahl  derselben  müssen  seit  fünf  Jahren  im  Lande  ansässig  sein. 
Gelder,  die  zur  Versendung  ins  Ausland  angenommen  werden,  müssen 
innerhalb  von  fünf  Tagen  an  die  angegebene  Adresse  abgesendet  werden. 
Durch  die  Stellung  einer  Kaution  von  50.000  Dollars  oder  im  Staate 
New  York  von  100.000  Dollars  kann  sich  der  Bankier  von  der  An- 
wendung dieses  Gesetzes  befreien  und  dasselbe  findet  auch  keine  An- 
wendung, wenn  im  vorhergehenden  Jahre  die  einzelnen  Depositen  oder 
zur  Versendung  übernommene  Summen,  die  der  betreffende  Bankier 
empfangen  hat,  im  Durchschnitte  nicht  weniger  als  500  Dollars  be- 
tragen haben.  "Das  Gesetz  scheint  dem  Motiv  entsprungen  zu  sein, 
Einwanderer  vor  Ausbeutung  durch  unverantwortliche  Geldagenten 
zu  schützen." 

^^)  Man  erzählte  mir,  daß  ein  solcher  Polizeirichter  7000  Dollars 
Gehalt  bezieht  und  daß  die  Amtsdauer  dieser  City  Magistrates  zehn 
Jahre  beträgt. 


—    97    — 

scheiden.  Der  Richter,  an  welchen  unser  Begleiter 
Kremer  unsere  Karten  geschickt  hatte,  war  außerordent- 
lich liebenswürdig.  Amerikanischer  Sitte  gemäß  wurde 
Dr.  Fischerauer  und  ich  links  und  rechts  vom 
Richter  gesetzt.  Der  Anwalt  nahm  in  der  ersten  Bank 
Platz,  drei  Besucher  gleichzeitig  oben  auf  der  Richter- 
estrade hätten  zuviel  Raum  eingenommen.  Der  Richter 
verhandelte  in  einem  großen,  hallenartigen,  ganz  schmuck- 
losen Saale,  Kreuz  und  Kerzen  fehlten  natürlich  auf  der 
Richterestrade.  Das  Zimmer  des  Richters,  in  welches 
wir  während  einer  Pause  geführt  wurden,  ist  ein  kleiner, 
sehr  einfacher  Raum.  Die  Gerichtsschreiber  saßen  auf 
einem  zur  Rechten  der  Richterestrade  befindlichen  er- 
höhten Platze.  Aufgefallen  ist  mir  die  Anwesenheit  einer 
Frau,  Vertreterin  eines  Frauenbesserungs-,  Wohltätigkeits- 
und Schutzvereins.  Diese  Frau  sprach  mit  den  Beschul- 
digten und  erkundigte  sich  nach  ihrem  Leben  und  Be- 
dürfnissen. Sie  berichtete  dann,  und  zwar  gewöhnlich 
unmittelbar  vor  der  Verhandlung  gegen  die  betreffende 
Beschuldigte  dem  Richter  kurz,  was  sie  gehört  hatte. 
Der  Richter  wurde  mit  Your  Honor  angeredet.  Eine 
arme  alte  Frau  wurde  vorgeführt,  eine  Obdachlose. 
Sie  hatte  selbst  die  Hilfe  des  Richters  angerufen,  ein 
Bild  des  Großstadtjammers.  Sie  wurde  einer  Wohltätig- 
keitsanstalt  zugewiesen.  Die  übrigen  Angeklagten  waren 
Frauen,  welche  beschuldigt  waren,  Männer  angesprochen 
zu  haben,  Weiße  und  Negerinnen.  Der  uniformierte  oder 
nicht  uniformierte  Polizist  führte  die  von  ihm  gestellte 
Delinquentin  vor  und  schwur  in  jedem  einzelnen  Falle, 
er  werde  die  Wahrheit  sagen.  Jede  Delinquentin  wurde 
gefragt,  ob  sie  wolle,  daß  gleich  verhandelt  werde.  Alle 
sagten  ja,  nur  eine  verlangte  Vertagung  der  Verhandlung. 
Kurze  Meldung  des  Polizisten,  dann  sagte  die  Angeklagte 
ganz  kurz,  was  sie  zu  sagen  hatte.  Das  Urteil  lautete 
stets  auf  fifteen  days^^),  zwei  Worte,  kurze  Notiz,  dann 


^^)  Arbeitshaus  in  Blackwell's  Island. 
Hanansek,  Amerikanische  Skizzen. 


—     98     — 

der  nächste  Fall.  Die  einzige,  bestimmt  leugnende  An- 
geklagte wurde  freigesprochen.  Der  Richter  erklärte,  er 
wolle  ihr  nochmals  eine  Chance  geben,  werde  sie  noch- 
mals gefaßt,  dann  müsse  sie  strenger  Bestrafung  ge- 
wärtig sein. 

Am  13.  April  1912,  einem  Samstag,  besuchte  ich 
mit  dem  Generalkonsul  in  Chicago,  Hugo  Silvestri, 
das  Court-Haus  in  Chicago.  Leider  sahen  wir  nur 
einige  Eherichter,  da  die  übrigen  Gerichtsabteilungen  ge- 
schlossen waren.  Bei  einem  Justice  wurden  Alimen- 
tationsklagen  von  Frauen  gegen  ihre  Gatten  verhandelt; 
die  Prozedur  war  eine  ungemein  rasche.  Wenn  eine  Sache 
bei  dem  einen  Termin  nicht  erledigt  wurde,  mußten  die 
Beklagten  eine  Summe  kavieren,  daß  sie  sich  dem  Ge- 
richte stellen  werden.  Für  diese  Summe  wurden  eventuell 
Bürgen  verlangt,  so  von  einem  Handlungsreisenden, 
mit  welchem  mehrere  Kollegen  mitgekommen  waren. 
Es  wurde  über  die  Summe  verhandelt,  1000  oder 
2000  Dollars,  für  welche  kaviert  werden  sollte,  für  welche 
sich  die  ortsansässigen  Kollegen  verpflichteten. 

Der  andere  Justice  war  ein  Ehescheidungsrichter. 
Auch  hier  wurde  erstaunlich  rasch  verhandelt.  In  dem 
einen  Falle  wurde  zweijährige  Abwesenheit  des  betreffen- 
den Ehegatten  festgestellt.  Es  sagte  dies  die  Frau  und 
die  halberwachsenen  Kinder  aus;  darauf  sprach  der 
Richter  die  Trennung  aus.  Man  sagte  mir,  daß  der  ver- 
lassene Ehegatte  gegen  den  verlassenden  das  Trennungs- 
begehren stellen  könne.  Ich  hatte  den  Eindruck,  daß 
das   eigentlich   einverständliche  Trennungen   waren. 

In  Pittsburg  und  in  Boston  habe  ich  Zivil-  und 
Strafverhandlungen  vor  Geschwornen  beigewohnt.  Dem 
europäischen  Juristen  fällt  die  Jury  in  Zivilsachen  auf.i^) 


")  Hintrager,  a.  a.  0.,  S.  48ff.,  erzählt  von  einem  sehr  inter- 
essanten Prozeß  vor  der  Ziviljury  in  Dubuque  im  Staate  Jova:  Die 
46  Jahre  alte  Witwe  Sunnyside,  Inhaberin  einer  Pension,  hatte  den 
Arzt  Dr.  Goody  auf  10.000  Dollars  Schadenersatz  wegen  Verlöbnis- 
bruches geklagt.   Obwohl  nur  zwölf  Zeugen  vernommen  wurden,  dauerte 


—    99    — 

Die  Vernehmung  des  Angeklagten  im  Kreuzverhör  ge- 
schieht durch  Staatsanwalt  und  Verteidiger,  beziehungs- 
weise durch  die  Parteienvertreter.  Die  Zeugen  müssen 
eine  Art  Estrade  besteigen  und  werden  so  gefragt.  Sehr 
dramatisch  war  die  Verhandlung  in  Boston  in  einer  An- 
klage wegen  Lebensmittelfälschung.  In  Boston  tagten  um 
fünf  Uhr  noch  acht  Schwurgerichte,  fünf  in  Zivil-  und 
drei  in  Strafsachen,  96  Männer  waren  also  noch  in  dieser 
Stunde  als   Geschworne   tätig. i^) 

§  6. 

Die  Bedingungen  für  die  Erlangung  des  Amtes  eines 
Notary  Public  sind  sehr  einfache.  Der  Kandidat  braucht 
sich  über  eine  juristische  Vorbildung  nicht  auszuweisen. 
Die  einzige  Bedingung,  welche,  wie  ich  einer  brieflichen 
Mitteilung  entnehme,  im  Staate  Illinois  erfüllt  werden 
muß,  ist  ein  von  50  Wählern  unterzeichnetes  Gesuch, 
welches  an  den  Staatssekretär  einzusenden  ist  und  mit 
einem  Geldbetrage  von  zwei  Dollars  begleitet  sein  muß. 
Es  genügt,  daß  eine  Kaution  von  1000  Dollars  von  zwei 
Bürgern  unterzeichnet  wird,  welche  jedoch  in  bezug  auf 
ihr  Vermögen  keiner  besonderen  Qualifikation  bedürfen 
und  auch  keinen  besonderen  Fragen  unterworfen  werden. 
Es  gibt  natürlich  auch  weibliche  Notare,  so  zum  Beispiel 
in  Chicago,  Im  Staate  Pennsylvania  kann  jeder  Notar  sein, 
der  seinen  Namen  schreiben,  lesen  und  eine  Kaution  von 
1000  Dollars  erlegen  kann.   Ein  Krämer,  welcher  Stellen 


die  Verhandlung  sechs  Tage.  Der  ganze  erste  Tag  war  durch  die 
Bildung  der  Geschwomenbank  in  Anspruch  genommen,  der  zweite  und 
dritte  und  ein  Teil  des  vierten  Tages  durch  die  Vernehmung  der 
Zeugen  beider  Parteien  im  Kreuzverhöre  durch  die  Parteienvertreter. 
Am  vierten  Tage  begannen  die  Plaidoyers.  Jede  Partei  hatte  zwei 
Anwälte.  Am  sechsten  Tage  endigte  die  Verhandlung  mit  dem  Siege 
des  Beklagten,  da  die  Geschwornen  zweimal  erklärt  hatten,  Ein- 
stimmigkeit sei  nicht  zu  erzielen. 

^*)  Man  erzählte  mir,  die  Geschwornen  bekommen  ein  Taggeld 
von  zwei  Dollars. 

7* 


—     100    — 

vermittelt  und  zugleich  Geldgeschäfte  besorgt,  ist  häufig 
Notary  Public.^)  Eine  wichtige  Funktion  der  Notare  ist 
ihre  Mitwirkung  bei  der  Ausfertigung  und  bei  der  Solenni- 
sierung  von  Verkaufsbriefen  über  Grundstücke  (Deeds). 
Die  Solennisierung  durch  ein  der  Verkaufsurkunde  an- 
geheftetes, mit  der  Unterschrift  und  dem  Amtssiegel  unter- 
fertigtes "certificate  of  acknowledgment"  ist  in  einer  Reihe 
von  Staaten  vorgeschrieben,  in  einer  Anzahl  anderer 
Staaten  gebräuchlich. 2) 

Es  gibt  eigene  Title  Guaranty  Companies  (Besitztitel- 
garantie-Aktiengesellschaften). Der  Käufer  einer  Realität 
versichert  sich  bei  einer  dieser  Gesellschaften  gegen 
etwaige  Ansprüche  Dritter.  Die  Höhe  der  Versicherungs- 
prämie hängt  von  der  Versicherungssumme,  beziehungs- 
weise dem  Werte  der  Realität  ab.  Es  kann  durch  wieder- 
holte Übertragung  irgendein  Formfehler  begangen  worden 
sein  oder  es  können  Erben  oder  Anspruchsberechtigte 
übersehen  worden  sein,  die  später  auftauchen  und  ihre 
Rechte  geltend  machen.  Gegen  solche  Anfechtungen  des. 
Besitztitels  schützt  eben  die  Title  Policy. 

Eine  besondere  Stellung  hat  die  "Chicago  Title  and 
Trust  Company"  in  Chicago,  welcher  ich  im  Zusammen- 
hange mit  einigen  Bemerkungen  über  das  Grundbuchs- 
wesen in  Chicago  Erwähnung  tun  möchte. 

Die  Grundbuchsführung  im  Staate  Illinois  ist  durch 
das  115.  Kapitel,  Z.  10  ff.  der  Statuten  des  Staates  Illinois 
geregelt.  Der  Grundbuchsführer  wird  vom  Volke  gewählt 
und  hat  als  solcher  keine  richterlichen  Befugnisse. 3) 


1)  Vgl.  V.  Englisch,  a.  a.  0.,  S.  388. 

^)  Die  Anerkennungen  der  Verkaufsurkunden  (acknowledgments. 
Of  the  deed)  erfolgen  durch  den  Aussteller  der  Urkunde  vor  dem  Notar. 
In  einer  Reihe  von  Staaten  genügt  auch  das  Proving  or  probating  thfr 
deed  durch  eidesstattliche  Erklärung  eines  oder  mehrerer  der  Unter- 
schriftzeugen vor  dem  Notar.  In  Ohio  ist  das  Acknowledgment  auf 
die  Verkaufsurkunde  zu  schreiben.  Vgl.  zu  den  vorstehenden  Aus- 
führungen Vocke,  a.  a.  0.,  S.  149  ff. 

^)  In  Chicago  werden  folgende  Grundbücher  geführt:  1.  Ein 
Eintragsbuch,  in  welches  sogleich  nach  Empfang  eines  Dokuments  die; 


—     101     — 

Das  Grundbuchsamt  führt  die  durch  das  Gesetz  vor- 
geschriebenen Bücher  und  die  Parteien  haben  das  Recht, 
diese  Bücher  während  der  Amtsstunden  einzusehen.  Der 
Grundbuchsführer  ist  auch  befugt,  Grundbuchsauszüge 
aus  den  Grundbüchern  zu  machen  und  zu  bescheinigen 
("Abstracts  of  Title").  Alle  öffentlichen  Grundbücher  sind 
aber  beim  großen  Brand  in  Chicago  im  Oktober  1871 
zerstört  worden  und  es  kann  also  seither  kein  amtlicher 
Auszug,  der  einen  Besitztitel  des  Eigentums  vor  1871 
ausweist,  ausgestellt  werden.  Auch  wird  seitens  der  Graf- 
schaft Cook  für  die  Richtigkeit  dieser  Auszüge  keine  aus- 
reichende Gewähr  geleistet.  Es  hat  aber  schon  vor  der 
Zeit  des  großen  Brandes  im  Oktober  1871  in  Chicago 
einige  Privatfirmen  gegeben,  welche  regelmäßig  und  täg- 
lich alle  im  Grundbuchsamf  eingetragenen  Dokumente 
kopierten  und  schon  damals  Abstracts  of  Title  ausfertigten. 


Namen  der  kontrahierenden  Parteien  einzutragen  sind,  femer  Datum, 
Tag,  Monat,  Stunde  und  Jahr  des  Eintrags,  sowie  eine  kurze  Be- 
schreibung des  Grundstücks.  Das  einzutragende  Instrument  soll 
mit  der  im  Eintragsbuche  korrespondierenden  Nummer  numeriert 
werden.  2.  Ein  Kegister  der  Verkäufer,  in  welches  unter  anderem 
der  Name  jedes  Verkäufers  alphabetisch  eingetragen  werden  soll,  dann 
der  Name  des  Käufers,  das  Datum  des  Instruments,  die  Zeit  des 
Eintrags,  der  Verkaufspreis  und  eine  kurze  Beschreibung  des  Grund- 
stückes. 3.  Ein  Kegister  der  Käufer,  in  welches  die  Namen  der  Käufer 
in  alphabetischer  Ordnung  einzutragen  sind,  dann  im  wesentlichen 
dieselben  Angaben  wie  im  Register  der  Verkäufer.  Das  Käuferregister 
und  das  Verkäuferregister  sind  also  tatsächlich  Duplikate.  4.  Ein 
Nummembuch,  aus  welchem  ersehen  werden  kann,  in  welchem  Grund- 
buch und  auf  welcher  Seite  das  betreffende  Dokument  eingetragen, 
respektive  abgeschrieben  ist.  5.  Ein  Abstraktbuch,  in  welches  die 
Übertragungen  und  Belastungen  jedes  einzelnen  Grundstückes  ein- 
zutragen sind,  ferner  das  Datum  des  Dokuments,  die  Zeit  des  Eintrags 
die  Nummer  des  Buches  und  die  Seitenzahl.  Das  Abstraktbuch  soll  so 
gehalten  sein,  daß  aus  demselben  der  Besitztitel  und  die  auf  dem 
Grundstücke  ruhenden  Lasten  ersehen  werden  können.  6.  Ein  Karten- 
register. —  Vgl.  Chapter,  115,  Z.  10 sq.,  insbesondere  Z.  13,  §  12, 
der  Revised  Statutes  of  the  State  of  IlUnois  in  force  May  Ib^^  1896 
(Edited  by  Merritt  Starr  and  Bussel  H.  Curtis  of  the  Chicago  Bar, 
2nd  edition,  vol.  III.,  p.  3337  sq.). 


—     1Ö2     — 

bescheinigten  und  deren  Echtheit  mit  ihrem  Vermögen 
garantierten.  Im  Jahre  1871  brannte  das  Regierungs- 
gebäude ab  und  damit  alle  öffentlichen  Grundbücher. 
Die  genannten  Privatfirmen  aber  retteten  ihre  Abschriften 
der  Grundbücher.  So  gab  es  denn  nach  dem  Brande  von 
1871  bald  Privatgrundbuchsführer  und  später  eine  Gesell- 
schaft, die  Chicago  Title  and  Trust  Company,  welche 
95  Prozent  aller  Besitztitel  ausstellt  und  garantiert. 

Die  Chicago  Title  and  Trust  Company  erhielt 
später,  etwa  vor  zehn  Jahren,  den  Auftrag,  die  Grund- 
bücher von  1871  neu  zu  überschreiben  und  in  Ordnung 
zu  bringen,  so  daß  also  tatsächlich  die  jetzt  existierenden 
amtlichen  Grundbücher  von  1871  bis  ungefähr  1905  von 
der  Chicago  Title  and  Trust  Company  zusammengestellt 
sind  und  erst  seit  ungefähr  1905  wieder  vom  Grund- 
buchsamt weitergeführt  werden.  Die  Legislatur  des 
Staates  Illinois  versuchte  zwar  ein  Gesetz  zu  schaffen, 
welches  bestimmen  sollte,  daß  die  vor  dem  Brande  von 
1871  eingetragenen  Dokumente  und  Besitztitel  als  unan- 
fechtbar zu  betrachten  seien.  Dieses  Gesetz  ist  jedoch 
nicht  durchgedrungen,  wohl  aber  wurde  eine  Bestimmung 
angenommen,  daß  Dokumente,  die  mehr  als  30  Jahre 
alt  sind,  sogenannte  Ancien  Documents,  Beweis  machen 
without  having  to  prove  the  notary  public  acknowledgment 
or  the  signatures,  also  ohne  eine  besondere  Beweis- 
führung bezüglich  der  Echtheit  der  notariellen  Beglaubi- 
gung   und   der   Unterschriften. 

Durch  ein  anderes  Gesetz  war  schon  früher  das 
Verfahren  geregelt  worden,  wie  ein  Besitztitel  und  die 
auf  denselben  sich  beziehenden  verbrannten  Dokumente 
als  rechtsgültig  anerkannt  werden  könnten.  Der  Grund- 
eigentümer mußte  einen  Rechtsanwalt  bestellen,  welcher 
ein  die  Gültigkeit  des  beanspruchten  Besitztitels  und  der 
sich  auf  denselben  beziehenden  verbrannten  Urkunden 
aussprechendes  Erkenntnis  erwirkte.  Es  ist  dies  das  so- 
genannte Burnt  record  proceeding,  welches  auch  gegen- 
wärtig  noch   von   Zeit   zu   Zeit   vorkommt.   Dieses   Ver- 


—    103    — 

fahren  ist  aber  kostspielig.  Die  Durchschnittskosten  be- 
tragen ungefähr  100  Dollars  und  bei  größeren  Parzellen 
bis  zu  1000  Dollars. 

Dem  Zweck  der  Sicherheit  der  Grundeigentums- 
besitztitel und  der  Gnindeigentumsübertragungen  ohne 
das  eben  erwähnte  kostspielige  Verfahren  dient  nun 
das  sogenannte  Torrens  -  System.  Dieses  durch  ein 
Gesetz  des  Staates  Illinois  eingeführte  und  seit  einigen 
Jahren  in  Geltung  befindliche  System  besteht  darin, 
daß  Einträge  in  die  nach  diesem  System  geführten 
Bücher  nur  auf  Grund  eines  besonderen  Aufforderungs- 
verfahrens geschehen.  Der  offizielle  Grundbuchsführer 
ist  auch  der  Vorsteher  des  Torrens- Amtes.  Die  Eintragung 
einer  Grundparzelle  im  Torrens-System  erfolgt  auf  Grund 
eines  Einschreitens  des  Grundeigentümers.  Bevor  eine 
solche  Eintragung  erfolgt,  werden  seitens  des  Grundbuchs- 
führers alle  Beteiligten  von  dem  Verfahren  in  Kenntnis 
gesetzt  und  aufgefordert,  ihre  mit  dem  einzutragenden 
Eigentumsrechte  in  Widerspruch  stehenden  Ansprüche 
innerhalb  der  festgesetzten  Frist  geltend  zu  machen. 
Die  Rechte  der  Mieter  und  der  Hypothekargläubiger 
werden  in  der  Regel  einfach  bestätigt.  Nach  Ablauf  der 
vorgeschriebenen  Frist  erfolgt  dann,  wenn  wider- 
sprechende Ansprüche  nicht  geltend  gemacht  wurden, 
der  Urteilsspruch,  welcher  den  genauen  Zustand  des 
Besitztitels  feststellt,  richterlich  beglaubigt  und  be- 
urkundet. Nach  Ablauf  einer  Verjährungsfrist  von  zwei 
Jahren  soll  dann  der  Besitztitel  dem  Urteilsspruch  gemäß 
sichergestellt  sein. 

Für  die  Richtigkeit  des  vom  Torrens-Amte  aus- 
gestellten Zertifikates  haftet  ein  Garantiekapital  (indemnity 
fund),  welches  dadurch  gebildet  wird,  daß  jeder  Gesuch- 
steller ein  Zehntel  eines  Prozentes  vom  Werte  des  Grund- 
stückes, auf  welches  sich  die  Eintragung  bezieht,  ein- 
zahlt (§  100  der  Torrens  Law).  Die  Praxis  scheint  aber 
die  guten  Absichten  dieses  Gesetzes  insofern  nicht  voll 
zu  verwirklichen,  als  das  vom  Torrensamte  ausgestellte 


—     104     — 

Zertifikat  gegenüber  einem  widersprechenden  Eigentums- 
anspmche  nicht  vollen  Beweis  zu  machen  vermag,  sondern 
ein  voller  Eigentumsbeweis  scheint  auch  derzeit  nur  durch 
einen  Abstract  of  Title,  welchen  gewöhnlich  die  Chicago 
Title  and  Trust  Company  ausstellt,  erbracht  werden  zu 
können.*) 

m.  Kapitel. 

Amerikanische  Jugendgerichte. 

Es  ist  selbstverständlich  nicht  meine  Absicht,  eine 
eingehende  Darstellung  des  amerikanischen  Jugendstraf- 
rechtes zu  geben.  Eine  solche  ist  um  so  weniger  not- 
wendig, als  wir  eine  Anzahl  vortrefflicher  Darstellungen 
des  amerikanischen  Jugendstrafrechtes  besitzen,  welche 
österreichische  Juristen  zu  Verfassern  haben. 

Ich  nenne  zunächst  die  ausgezeichnete  Darstellung 
von  Baernreither,  "Jugendfürsorge  und  Strafrecht  in 
den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika".  Eine  kurze,  tief 
eindringende  Darstellung  gibt  Lenz,  "Die  angloameri- 
kanische  Reformbewegung  im  Strafrecht"  1908. i)  Be- 
sonders zu  nennen  ist  auch  ein  Vortrag  des  Professors 
Grafen  Gleispach  über  amerikanische  Strafanstalten, 
welchen  derselbe  am  3.  Jänner  1912  in  Wien  gehalten 
und    in  der  "Zeitschrift  für  Kinderschutz  und  Jugend- 

*)  Der  Name  Torrens  ist  der  Name  eines  Australiers,  welcher  das 
System  erfunden  und  zuerst  in  Australien  eingeführt  hat.  —  Die  Torrens 
Law  ist  ein  Gesetz  aus  dem  Jahre  1907.  —  Die  Ausführungen  im  Texte 
gründen  sich  auf  briefliche  Mitteilungen. 

^)  Vgl.  insbesondere  S.  209  f.  Wir  finden  bei  Lenz  nicht  bloß 
die  gesamte  einschlägige  Literatur,  sondern  auch  die  gesamte  amerika- 
nische Legislation  in  vorbildlicher  Vollständigkeit  angeführt  und  be- 
nützt, ferner  eingehende  Untersuchungen  über  die  Straf-  und  Zwangs- 
erziehung in  den  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  sowie  über 
das  nordamerikanische  Besserungsverfahren  bei  jungen  Erstverbrechern. 
Eine  knappe  vortreffliche  Übersicht  der  amerikanischen  Jugendgerichts- 
gesetzgebung finde  ich  in  dem  unten  Note  3  angeführten  Buche  "The 
Delinquent  Child  and  the  Home",  p.  247  sq.  (Abstract  of  Juvenile 
Court  Laws). 


—     105    — 

fürsorge"  veröffentlicht  hat.^)  Dank  der  Güte  meines 
verehrten  Freundes,  des  schweizerischen  Vizekonsuls  in 
Chicago,  Rechtsanwalt  Eugene  Hildebrand,  ist  es  mir 
möglich  gewesen,  eine  Reihe  von  amerikanischen 
Schriften  aus  neuester  Zeit  kennen  zu  lernen,  welche 
in  der  Note  zusammengestellt  sind,  um  eine  Vorstellung 
von  der  Intensität  der  Jugendfürsorgebewegung  zu  geben. 3) 


*)  Vgl.  E.  Münsterberg,  "Amerikanisches  Armenwesen"  (siehe 
oben  S.  11).  Im  sechsten  Abschnitt,  S.  73 ff.,  handelt  Münsterberg 
von  der  ''Fürsorge  für  Kinder",  insbesondere  von  der  Tätigkeit  der 
Kinderhilfsgesellschaften  (Childrens  Aid  Societies).  Im  siebenten  Ab- 
schnitt, S.  89  ff.,  behandelt  Münsterberg  "die  Jugendgerichtshöfe". 

Eine  knappe,  aber  sehr  lehrreiche  Darstellung  des  Kinderschutzes 
und  der  Kinderfürsorge  gibt  Reicher  in  der  oben  S,  10  zitierten 
Schrift,  S.  20  ff.  Die  National  Conference  of  Charities  and  Correction 
umfaßt  alle  sich  für  Kinderschutz  und  Kinderfürsorge  interessierenden 
Kreise  im  Gebiete  der  Union.  "Sie  tritt  alljährlich  in  einer  anderen 
Stadt  zusammen,  um  die  Fragen  des  gemeinsamen  Interessenkreises 
zu  erörtern.  Das  Ergebnis  dieser  Beratung  zeigt  den  jeweiligen  Stand 
der  öffentlichen  Meinung"  (S.  21).  Reicher  gibt  auch  eine  Zusammen- 
stellung der  Fürsorgeeinrichtungen  für  Dependent,  Xeglected  and 
Delinquent  Children,  welche  er  zu  besuchen  Gelegenheit  hatte. 

^)  Es  liegen  mir  vor  ein  Report  of  the  Denver  Juvenile  Court 
für  die  Zeit  vom  November  1908  bis  November  1909,  femer  ein 
Eeport  of  the  Juvenile  Court  City  and  County  of  Denver,  Colo.  für 
die  Zeit  vom  1.  November  1909  bis  31.  Oktober  1910,  eine  von  der 
Juvenile  Improvement  Association  of  Denver  herausgegebene  Samm- 
lung von  Juvenile  Court  Laws,  ein  Aufsatz  des  berühmten  Judge  Ben 
B.  Lindsey  of  the  Juvenile  Court  of  Denver  "Probation  and  the 
Criminal  Law",  eine  Schrift  von  Stanley  K.Hornbeck,"JuvenileCourts", 
ein  Aufsatz  von  Sophonisba  Preston  Breckinridge  (The  University 
of  Chicago  and  the  Chicago  School  of  Civics  and  Philanthropy)  "Neglected 
Widowhood  in  the  Juvenile  Court".  —  Femer  ein  Report  of  a  Committee 
Appointed  Under  Resolution  of  the  Board  of  Cotnmissioners  of  Cook 
County,  hearing  date  August  8th^  1911  "The  Juvenile  Court  of  Cook 
County,  Illinois"  (Chicago  1912).  —  Femer  eine  sehr  interessante 
Sammlung  von  Aufsätzen  "The  Child  in  the  City".  Diese  Sammlung  ent- 
hält eine  Serie  von  Papers  Presented  at  the  Conferences  Held  During  the 
Chicago  Child  Weifare  Exhibit,  ist  veröffentlicht  von  dem  "Department 
of  Social  Investigation  Chicago  School  of  Civics  and  Philanthropy  (1912)" 
und  durch  eine  sehr  interessante  Vorrede  der  bereits  früher  erwähnten 
Philanthropin  Sophonisba  P.  Breckinridge  eingeleitet.    Endlich  er- 


—     106     — 

Am  Freitag,  den  12.  April  1912,  vormittags  fuhr  ich 
nach  dem  in  der  Nähe  des  Hüll  House,  von  welchem 
später  noch  zu  sprechen  sein  wird,  gelegenen  Court  of 
Cook  County.  Ich  war  von  dem  Arzt  in  Chicago 
Dr.  Bacon  an  Dr.  Healey  empfohlen.  Dr.  Healey  ist 
der  Arzt  des  Jugendgerichtes  und  der  Vorstand  eines 
im     Gebäude     des     genannten     Jugendgerichtes    unter- 


wähne ich  eine  von  der  Russell  Sage  Foundation  herausgegebene 
Sammlung  "The  Delinquent  Child  and  the  Home".  Die  Verfasserinnen 
dieser  Sammlung  sind  Sophonisba  P.  Breckinridge,  Ph.  D.  und  Edith 
Abbott,  Ph.  D.  Die  beiden  Damen  sind  Directors  of  the  Department 
of  Social  Investigation ,  Chicago,  School  of  Civics  and  Philanthropy. 
Das  Werk  enthält  eine  Einleitung,  welche  von  Julia  C.  Lathrop, 
Chief  of  the  Föderal  Children's  Bureau,  verfaßt  ist.  Die  Sammlung 
enthält  mehrere  Appendices,  deren  erster  lautet:  "Legal  Problems 
involved  in  the  Establishment  of  the  Juvenile  Court"  und  von  dem 
früheren  Richter  im  Jugendgerichte,  Julian  W.  Mack,  verfaßt  ist.  Der 
Appendix  II  enthält  ein  Testimony  des  derzeitigen  Jugendrichters 
Merritt  W.  Pinckney   (New  York,   1912). 

Es  gibt  ein  eigenes  Journal  of  Constructive  Pliilanthropy  "The 
Survey".  In  einer  mir  vorliegenden  Nummer  dieses  Journals  (23.  Band, 
Nr.  19,  vom  5.  Februar  1910)  ist  ein  Bericht  über  die  ersten  zehn 
Jahre  des  Juvenüe  Court  of  Chicago  enthalten,  welcher  von  Henry 
W.  Thurston  verfaßt  ist.  Thurston  ist  derzeit  Superintendent  of 
the  Illinois  Children's  Home  and  Aid  Society  und  war  früher  Chief 
Probation  Officer  of  the  Chicago  Juvenile  Court.  Dasselbe  Heft  enthält 
folgende  Aufsätze:  Bernhard  Fl  ex  n  er,  Louisville,  Ky.,  "The  Juvenile 
Court  as  a  Social  Institution";  Julian  W.  Mack,  Justice  of  the  Illinois 
Appellate  Court;  former  Judge,  Chicago  Juvenile  Court,  "The  Law 
and  the  Child";  Ben  B.  Lindsey,  Judge  of  the  Denver  Juvenile  Court, 
"My  Lesson  from  the  Juvenile  Court";  Victor  v.  Borosini,  "The 
Juvenile  Court  Abroad." 

In  diesem  Zusammenhange  nenne  ich  noch  zwei  kleine  Studien, 
nämlich:  "A  Study  In  Adult  Delinquency  Based  Upon  Three  Thousand 
Families".  Investigated  by  the  Juvenile  Association  of  Chicago,  Text 
by  Mary  B.  Swain,  1911,  und  "The  Department  Store  Girl  Based 
Upon  Interviews  With  200  Girls",  Issued  by  the  Juvenile  Protective 
Association  of  Chicago,  Text  by  Louise  De  Koven  Bowen,  1911, 
sowie  eine  Übersicht  (Synopsis)  der  Tätigkeit  der  Juvenile  Protective 
Association  im  Jahre  1911. 

Über  die  großartige  philanthropische  Tätigkeit  von  Miss  Jane 
Addams  wird  im  VI.  Kapitel  zu  sprechen  sein. 


—     107     — 

gebrachten  psychologischen  Instituts.  Die  jugendlichen 
Delinquenten,  deren  Vergehen  zu  beurteilen  sind,  werden 
zunächst  von  Dr.  Healey  in  Empfang  genommen;  ihre 
psychische  Disposition  wird  untersucht,  es  wird  fest- 
gestellt, von  welchen  Eltern  das  Kind  abstammt  und 
in  welcher  Umgebung  es  gelebt  hat.  In  dem  Gerichts- 
gebäude befinden  sich  anstoßend  an  die  Zimmer,  in 
welchen  die  Jugendlichen  detiniert  gehalten  werden, 
Schulzimmer,  in  welchen  Lehrerinnen  die  Kinder  unter- 
richten.*) 

Sodann  führte  mich  Dr.  Healey  in  das  Verhandlungs- 
zimmer, in  welchem  gerade  Richter  Pinckney  seines 
Amtes  waltete.  Richter  Pinckney  verhandelte  gegen  eine 
Anzahl  junger  Schüler,  welche  des  nachlässigen  Schuld 
besuches  angeklagt  waren.  Die  unendlich  gütige  Art,  in 
welcher  der  Richter  mit  den  kleinen  Schuldigen  ver- 
handelte und  mit  deren  Eltern  und  Vormündern  sprach, 
hat  auf  mich  tiefen  Eindruck  gemacht,  ebenso  wie  die 
ganze  Art,  wie  Dr.  Healey,  welcher  jeden  Vormittag  im 
Gerichtsgebäude  zubringt,  seine  Aufgabe  auffaßt.  Den 
Eindruck,  daß  Amerika  das  Land  der  Gegensätze  sei, 
habe  ich  vielleicht  niemals  so  stark  empfunden,  wie  in 
den  Stunden,  die  ich  beim  Jugendgericht  verbracht  habe. 
Die  Anklage  gegen  die  jungen  Truants  (Schulschwänzer) 
erhob  ein  Truant  Officer.  Chicago  ist  zum  Zwecke 
der  Überwachung  des  regelmäßigen  Schulunterrichts  in 
Bezirke  eingeteilt.^)  Schuldige  Eltern  werden  verwarnt, 
eventuell  bestraft,  schuldige  Kinder  können  in  eine 
Truant  School  geschickt  werden.  Das  Jugendgericht  hat 
eigene  Verhandlungstage  für  verwahrloste  Kinder  (De- 
pendent  Days),  eigene  Verhandlungstage  gegen  die  Schul- 
schwänzer (Truancy  Days)  und  eigene  Verhandlungs- 
tage, wenn  es  sich  um  straffällige  Kinder  handelt  (De- 


*)  Dr.  Healey  hat  sich  mit  großem  Interesse  nach  dem  Grazer 
Kriminalisten  Hans  Groß  erkundigt  und  in  Aussicht  gestellt,  er  werde 
bei  seinem  nächsten  Aufenthalt  in  Europa  Professor  Groß  besuchen. 

*)  Baernreither,  a.  a.  0.,  S.  174,  führt  23  solcher  Bezirke  an. 


—     108    — 

linquent  Days).  Die  verwahrlosten  Kinder  werden  in 
einer  Anstalt  oder  in  einer  Familie  untergebracht.  Bei 
der  Verhandlung  gegen  delinquierende  Kinder  inter- 
veniert ein  Staatsanwalt  (Prosecuting  Attorney).  Es  er- 
folgt entweder  Verweisung  on  probation  oder  Sendung 
in  eine  Anstalt,  ausnahmsweise  auch  Abtretung  an  die 
Grand  Jury.  Der  Probation  Officer  ist  ein  gerichtlich 
bestelltes,  besoldetes  Aufsichtsorgan,  welches  die  on 
probation  Gestellten  zu  überwachen  hat.  Sollten  die  on 
probation  Gestellten  nicht  folgen,  so  kann  Verurteilung 
erfolgen.  On  probation  gestellt  wird  statt  der  Ver- 
urteilung, on  parole  gestellt  wird  nach  der  Verurteilung 
und  Abbüßung  eines  Teiles  der  Strafe.  Darüber  wird  noch 
zu   sprechen  sein. 

Das  Juvenile  Court  Law  des  Staates  Illinois  ist  aus 
dem  Jahre  1899.  Es  ist  dies  ein  Gesetz  for  the  Gare 
of  Dependent,   Neglected  and  Delinquent  Children.^) 

Im  Jahre  1905  wurden  Probation  Officers  eingeführt. 
1907  wurde  das  Jugendgericht  in  ein  eigenes  Gebäude 
gebracht,    zusammen   mit   einem   Detention   Home.'^)    Im 


^)  Der  Autor  des  Gesetzes  ist  Harvey  B.  Hurd.  Es  was  dies 
das  erste  Gesetz  dieser  Art  und  ein  Muster  für  viele  andere  gleicher 
Gesetze  in  den  Vereinigten  Staaten. 

')  Ich  habe  schon  früher  (vgl.  oben  S.  76)  bemerkt,  daß  der 
Titel  des  Jugendgerichtes  in  Chicago  folgender  ist:  "Circuit  Court  of 
Cook  County  Juvenile  Court". 

Über  den  gegenwärtigen  Stand  der  amerikanischen  Gesetzgebung  in 
der  Frage  der  Haftung  erwachsener  Personen,  insbesondere  der  Eltern  für 
Delikte  von  Kindern  finde  ich  in  dem  Buche  "The  Delinquent  Child  and  the 
Home"  (vgl.  oben  S.  13),  p.  263  sq.  unter  dem  Schlagworte  "Adult  respon- 
sibility  for  juvenile  delinquency"  folgende  Mitteilungen:  in  Colorado  und 
Kentucky  ist  bestimmt,  daß  das  Verfahren  gegen  den  Parent  or  Re- 
sponsible  Adult  auf  Grund  einer  beglaubigten  Eingabe  eines  ehrbaren 
Einwohners  (Reputable  Resident)  Platz  greifen  solle,  und  zwar  mittels 
Vorladung,  nicht  mittels  Haftbefehl,  wie  in  den  meisten  anderen 
Staaten  verfügt  ist.  In  den  meisten  Staaten  kann  die  Person,  welche 
überführt  ist,  das  Delikt  des  Kindes  herbeigeführt  oder  zu  demselben 
beigetragen  zu  haben,  on  probation  gestellt  werden,  um  die  ihr  zur 
Last  fallenden  früheren  schädlichen  Verhältnisse  zu  beseitigen  und  erst 


—    109    — . 

Jahre  1911  wurde  ein  Gesetz  beschlossen,  zufolge  dessen 
den  Eltern  eines  vernachlässigten  Kindes,  welche  aber 
sonst  geeignet  wären,  dasselbe  zu  überwachen,  die  ihnen 
fehlenden  Mittel  vom  County  Board  angewiesen  werden 
können  (siehe  den  oben  Note  3,  zitierten  Report,  The 
Juvenile  Court  of  Cook  County,  Illinois,  Chicago  1912, 
p.  .17  sq.). 

Die  Jurisdiktion  des  Juvenile  Court  erstreckt  sich 
auf  Knaben  unter  17  und  auf  Mädchen  unter  18  Jahren. 
Wenn  Personen  unter  dem  angegebenen  Alter  vor  das 
Gericht  kommen,  so  unterstehen  sie  der  Obsorge  des 
Gerichtes  bis  zum  vollendeten  21.  Jahre.  Alle  Personen 
unter  dem  21.  Jahre  sind  Wards  of  the  State  (Mündel 
des  Staates).  Es  werden  also  Knaben  bis  zum  voll- 
endeten 17.  und  Mädchen  bis  zum  vollendeten  18.  Jahre 
im  Staate  Illinois. überhaupt  nicht,  beziehungsweise  nur 
in  den  seltensten  Ausnahmsfällen  gestraft 8),  sondern  der 
Jugendrichter  verweist  das  delinquierende  Kind  ebenso 
wie  das  vernachlässigte  an  eine  Fürsorgeerziehungs- 
anstalt. Diese  Fürsorgeerziehungsanstalten  führen  ver- 
schiedene Namen.  Häufig  heißen  sie  Industrial  Schools. 
Nur  ausnahmsweise  verweist  der  Richter,  wie  wir  schon 


dann,  wenn  sie  diese  Weisung  nicht  befolgt,  wird  eine  Strafe  über  sie 
verhängt.  Zu  den  Staaten,  welche  derartige  strafgesetzliche  Bestim- 
mungen gegen  Erwachsene  wegen  Delikten  von  Kindern  eingeführt 
haben,  gehören  Colorado,  Connecticut,  District  of  Columbia,  Idaho, 
Illinois,  Indiana,  Kansas,  Kentucky,  Massachusetts,  Minnesota,  Montana, 
Nebraska,  New  York,  Ohio,  Texas,  Washington,  Wisconsin;  einen 
besonders  hohen  Straf satz,  nämlich  1000  Dollars  Geldstrafe  oder  ein 
Jahr  Gefängnis  oder  beides,  haben  Kansas  New  Jersey,  Ohio  und 
Texas,  einen  besonders  niederen  Strafsatz  hat  Massachusetts,  nämlich 
50  Dollars  oder  sechs  Monate  Gefängnis  oder  beides;  vgl.  hiezu  oben  S.  18. 

*)  Im  Staate  New  York  werden  Kinder  bis  zum  vollendeten 
16.  Lebensjahre  nicht  gestraft.  Ebenso  wie  in  Illinois  ist  in  Kentucky 
die  untere  Grenze  für  die  Kompetenz  des  Jugendgerichtes  für  Knaben 

17  Jahre  und  für  Mädchen  18  Jahre,  in  Louisiana,  Nebraska  und  Oregon 

18  Jahre  für  Knaben  und  Mädchen  und  in  Utah  19  Jahre  für  Knaben 
und  Mädchen.    ("The  Delinquent  Child  and  the  Home",  p.  250.) 


—    110    — 

gehört  haben,  den  dehnquierenden  Jugendhchen  vor  die 
Grand  Jury. 

Die  Industrial  Schools  des  Staates  New  York  bestehen 
aus  26  im  Cottagestil  angelegten  Wohnhäusern. 9)  Auch 
im  Staate  New  York  kann  ein  vor  dem  16.  Lebensjahre 
einer  Industrial  School  Zugewiesener  bis  zur  Volljährig- 
keitsgrenze in  derselben  zurückgehalten  werden,  aber  er 
kann  auch  schon  nach  Ablauf  eines  Jahres  entlassen 
werden. 10)  Das  bereits  oben  erwähnte  on  probation-Stellen 
eines  jugendlichen  Delinquenten,  welches  eben  an  die 
Stelle  der  Verurteilung  tritt,  gilt  in  28  Staaten  für  Kinder 
und  in  23  Staaten  im  Zusammenhange  mit  den  Jugend- 
gerichten und  in  fünf  Staaten  ohne  diese  prozessuale 
Neuerung.  In  zehn  Staaten  ist  es  auch  bei  erwachsenen 
Verbrechern  (Adult  Probation  System)  anwendbar  (Lenz, 
a.  a.  0.,  S.  124  f.). 

Die  George  Junior  Republic,  in  Freeville  bei  Ithaka  im 
Staate  New  York  gelegen,  ist  eine  von  William  George  1895 
gegründete  Privatanstalt.  Dieselbe  nimmt  Knaben  und 
Mädchen  im  Alter  zwischen  14  und  18  Jahren  auf,  welche 


°)  Eine  Beschreibung  dieser  Industrial  Schools  des  Staates  New  York 
bei  Gleispach,  a.  a.  0.,  S.  51 

Interessantes  statistisches  Material  über  die  State  Industrial 
Schools  im  Report  of  the  Commissioner  of  Education  (siehe  oben  S.  5) 
II.,  p.  1307  sq.  Es  gibt  in  den  Vereinigten  Staaten  115  solche  Schulen 
mit  51.387  Inmates;  von  diesen  waren  im  Jahre  1911  39.696  Knaben 
und  11.691  Mädchen,  44.843  Weiße  (84.579  Knaben  und  10.264  Mädchen) 
und  6544  Neger  (5117  Knaben  und  1427  Mädchen). 

Über  die  Reformschulen  für  die  straffällige  Jugend  vgl.  Baern- 
reither,  S.  64 f. 

Eine  Fürsorgeanstalt  des  Staates  Illinois,  in  welche  delinquierende 
Knaben  geschickt  werden,  ist  die  St.  Charles  School  for  Boys,  St.  Charles, 
Illinois. 

^*)  Knaben  unter  zwölf  Jahren  können  der  Anstalt  nur  dann 
überwiesen  werden,  wenn  sich  ihre  Tat  als  Verbrechen  darstellt;  ist 
der  Knabe  älter  als  zwölf  Jahre,  so  kann  er  der  Anstalt  überwiesen 
werden,  gleichviel  welcher  Art  die  strafbare  Handlung  gewesen  ist, 
deren  er  sich  schuldig  gemacht  hat.  Die  Anstalt  nimmt  ausschließlich  ihr 
vom  Strafrichter  überwiesene  Knaben  auf.    Gleispach,  a.  a.  0.,  S.  6. 


—   111   — 

entweder  von  einem  Strafrichter  überwiesen  oder  welche 
verwahrlost  sind  oder  deren  Verwahrlosung  zu  befürchten 
wäre  (Gleispach,  a.  a.  0.,  S.  12 ff.).  Es  wurde  mir  erzählt, 
daß  manchmal  auch  Eltern  ihre  Kinder,  deren  Wesen  sie 
nicht  zu  bändigen  vermögen,  dieser  Anstalt  übergeben. 
Die  Anstalt  ist  ebenso  wie  die  bereits  erwähnten  Industrial 
Schools  nach  dem  System  der  offenen  Tür  und  dem 
Cottagesystem  eingerichtet  (Gleispach,  a.  a.  0.,  S.  13). 
Holitscher,  welcher  drei  Tage  in  Freeville  geblieben 
ist,  er\vähnt  (a.  a.  0.,  S.  71),  daß  im  Juli  1911  ungefähr 
150  Knaben  und  Mädchen  in  der  Anstalt  sich  befunden 
haben.  Das  Interessanteste  an  der  Anstalt  ist  die  Selbst- 
verwaltung n),  welche  die  jugendlichen  Detinierten  üben. 
Das  sehr  interessante  Experiment  scheint  Anklang  zu 
finden,  denn  Gleispach  erwähnt,  daß  neun  andere  An- 
stalten nach  denselben  Grundsätzen  eingerichtet  sind.^^) 


IV.  Kapitel. 

Die  Strafanstalt  Sing  Sing. 

Am  Gründonnerstage,  den  4.  April  1912,  habe 
ich  die  Strafanstalt  Sing  Sing  in  Gesellschaft  des 
Vizekonsuls  Dr.  Fischerauer  besucht.  Wir  fuhren 
von  Wall  Street  mit  der  Untergrundbahn,  der  soge- 
nannten Subway,  nach  der  42.  Straße  und  von  dort  mit 


^^)  Es  gibt  ein  Parlament  der  Republik,  einen  Präsidenten  und 
Staatssekretäre,  die  zusammen  mit  dem  Präsidenten  das  Kabinett  bilden 
und  zugleich  als  Polizeikommissäre  fungieren.  Es  gibt  einen  männlichen 
und  einen  weiblichen  Richter,  es  gibt  Gerichtstage  und  Gerichtsverhand- 
lungen. Holitscher  (a.  a.  0.,  S.  80f.)  erzählt  auch  von  einem  Staats- 
streiche, den  er  dort  erlebt  habe.  Jeder  Bürger  hat  seinen  Lebensunterhalt 
selbst  zu  verdienen.  Die  Beträge  schwanken  zwischen  50  und  90  Cents 
pro  Tag  je  nach  der  Arbeit.     J.  F.  Muirhead  (vgl.  oben  S.  7),  p.  71f. 

^^)  Über  die  Junior  Republic  in  Annapolis  bei  Baltimore,  Maryland, 
vgl.  Reicher,  a.  a.  0.,  S.  27ff.;  über  einen  ähnlichen  Versuch  berichtet 
Gudden  (siehe  oben  S.  10)  S.  121  ff.:  "Ein  sehr  glückliches  Experiment 
in  der  Handhabung  der  Disziplin  machte  der  Superintendent  des  Refor- 


—     112     — 

der  New  York  Central  and  Hudson  River  Rail  Road 
den  Hudson  River  entlang  nach  dem  31  Meilen  entfernten 
Ossining.  Wir  fuhren  natürlich  mit  einem  Lokalzuge. 
Die  amerikanischen  Eisenbahnen  haben  nur  eine  Wagen- 
klasse.i)  Der  Zug  hatte  lange  Durchgangswagen  mit  zwölf- 
sitzigen  Bänken  und  mit  einem  durch  den  ganzen  Zug 
führenden  Korridor. 

Die  Gesellschaft  ist  natürlich  eine  recht  gemischte. 
Die  Leute  betragen  sich  erstaunlich  gut.  Die  Atmosphäre 
des  amerikanischen  Lebens,  die  gleiche  Behandlung  hat 
einen  merkwürdig  hebenden  und  erziehenden  Einfluß  auf 
das  äußere  Betragen  auch  der  den  unteren  Gesellschafts- 
schichten angehörigen  Einwanderer. 

Das  Flußpanorama  ist  ein  wunderschönes. 

Nach  einer  guten  Stunde  Fahrt  langten  wir  auf  dem 
Bahnhofe  von  Ossining  an.  In  knappen  zehn  Minuten 
brachte  uns  ein  Wagen  zur  Strafanstalt  Sing  Sing,^) 
Dr.  Fischerauer  hatte  die  Verwaltung  von  unserem 
Kommen  verständigt.  Infolge  meines  ausgedehnten  Tages- 
programms hatten  wir  uns  aber  verspätet,  so  daß  der 
Chief  Warden,  welcher  uns  erwartet  hatte,  uns  nicht 
mehr  persönlich  geleiten  konnte.  Wir  schlössen  uns  einer 
amerikanischen  Kommission  an,  welche  ein  Aufseher 
führte. 


matory  zu  Pontiak,  111.,  Mr.  Mallary  mit  der  Einfülirung  einer  Junior 
Kepublic  nach  dem  Vorbild  der  George  Junior  Republic  in  Freeville." 
Auch  hier  findet  sich  eine  förmliche  Verfassung  nach  dem  Muster  der 
Verfassung  der  Vereinigten  Staaten. 

^)  Auf  weiteren  Fahrten  benützt  man  freilich  kaum  einen  ge- 
wöhnlichen Zug,  sondern  einen  der  Expreßzüge  mit  Pullmann  Cars, 
in  welchen  man  bei  Tagfahrten  einen  Fauteuil,  für  Nachtfahrten  ein 
Bett  (Berth)  oder  eine  Section,  das  heißt  eine  ein  Unterbett  und  ein 
Oberbett  enthaltende  Abteilung,  mietet.  Ist  man  in  der  Lage,  ein 
eigenes  Coup6  (für  zwei  Personen  Compartment,  für  drei  Personen 
Drawing  Room)  zu  mieten,  reist  man  mit  größtem  Komfort.  Für  die 
Miete  eines  solchen  Coup6s  genügt  regelmäßig  der  Besitz  einer  Fahrkarte. 

2)  Die  Einrichtungen  der  Gefängnisse  des  Staates  New  York  werden, 
wie  ich  einer  mir  aus  Amerika  zugehenden  Nachricht  entnehme,  derzeit 
von  einer  Staatskommission  untersucht. 


—     113    — 

Die  Gefangenen  verbringen  den  Nachmittag,  Abend 
und  die  Nacht  in  ihren  Einzelzellen.  Nach  dem  System 
des  Strafvollzuges  in  Sing  Sing  soll  jeder  Inmate  in 
einer  Einzelzelle  untergebracht  sein.  Infolge  der  zeitweilig 
großen  Überfüllung  der  Strafanstalt  ist  aber  oft  eine 
große  Zahl  von  Inmates  in  gemeinsamen  Schlafsäleai 
untergebracht.  Die  Mahlzeiten  werden  gemeinsam  ein- 
genommen. Während  der  Tageszeit  arbeiten  die  Inmates 
in  gemeinsamen  Arbeitsräumen  sowie  in  den  Höfen.  Die 
Zellen  sind  von  erschreckender  Kleinheit  und  fensterlos. 
Tageslicht  und  Luft  erhalten  die  Zellen  durch  die  eisernen 
Gittertüren.  Die  hochgelegenen  Fenster  der  Gänge 
münden  in  Höfe,  welche  von  niederen  Umfassungs- 
mauern umgeben  sind.  Die  Zellen  sind  elektrisch  be- 
leuchtet. 

Wir  passierten  die  Arbeitsräume,  wir  sahen  die 
Räume,  in  welchen  die  gemeinsamen  Mahlzeiten  ein- 
genommen werden,  wir  passierten  die  Unterrichtsräume, 
in  welchen  gerade  Unterricht  erteilt  wurde.  Wir  wurden 
in  einen  Raum  geführt,  in  welchem  sich  der  elektrische 
Hinrichtungsstuhl  befindet.  Die  laute  Unterhaltung  der 
Gesellschaft,  mit  welcher  zusammen  wir  herumgeführt 
wurden,  veranlaßte  den  begleitenden  Aufseher  zu  der 
Bemerkung,  daß  sich  unmittelbar  neben  dem  Hinrichtungs- 
raum 21  zum  Tode  Verurteilte  befinden,  welche  der  Ent- 
scheidung über  das  gegen  das  Urteil  eingebrachte  Rechts- 
mittel harren.  Es  macht  einen  eigentümlichen  Eindruck, 
daß  diese  21  gerade  in  einem  Raum  untergebracht  sind, 
der  an  den  Hinrichtungsraum  anstößt.  Der  Richter  be- 
stimmt in  dem  zum  Tode  verurteilenden  Erkenntnisse 
gleich  den  Tag,  an  welchem  die  Hinrichtung  zu  vollziehen 
ist.  Der  Delinquent  weiß  daher  genau  den  Tag,  wann  er 
hingerichtet  werden  wird,  wenn  bis  dahin  sein  Rechts- 
mittel oder  sein  Gnadengesuch  keinen  Erfolg  gehabt 
haben  wird. 

Das  Gefängnis  von  Sing  Sing  ist  ein  State  Prison, 
ein   Zuchthaus   (Penitentiary)   im   Gegensatze   zu   einem 

Hanansek,  Amerikanische  Skizzen.  3 


—     114     — 

Reformatory.  Das  Gefängnis  wurde  im  Jahre  1826  gebaut 
und  ist  ein  veraltetes  Haus.  Der  Zellentrakt  ist  gerad- 
linig, nicht  in  Sternform  gebaut  und  von  geradlinigen 
Umfassungsmauern  umgeben,  deren  hochgelegene  ver- 
gitterte Fenster  nach  den  Höfen  führen.  Innerhalb  des 
Zellentraktes  gibt  es  keinen  Hof,  sondern  die  nach  den 
Gängen  mündenden  Zellen  haben  eine  gemeinsame 
Hintermauer. 

Infolge  gütiger  Vermittlung  des  k.  u.  k.  österreichisch- 
ungarischen Generalkonsulats  in  New  York  hat  mir  der 
Superintendent  der  Staatsgefängnisse  des  Staates  New 
York  die  Jahresberichte  (Annual  Reports)  für  die  Jahre 
vom  1.  Oktober  1909  bis  30.  September  1910  und  vom 
1.  Oktober  1910  bis  zum  30.  September  1911  übersendet. 
Der  Bericht  für  das  erste  Jahr  ist  vom  Superintendenten 
C.  W.  Collins  unterzeichnet,  der  Bericht  für  das  letztere 
Jahr  ist  datiert  Albany,  January  10  ^^^  1912  und  vom 
Superintendenten  Joseph  F.  Scott  unterzeichnet.  Der 
Staat  New  York  hat  folgende  Staatsgefängnisse:  Sing 
Sing,  Auburn,  Clinton,  Great  Meadow  Prison.  Das  Great 
Meadow  Prison  faßt  609  Zellen,  die  ersten  Gefangenen 
wurden  im  Februar  1911  hingebracht  und  das  Gefängnis 
enthielt  am  30.  September  1911  262  Gefangene.  Außer 
den  vier  genannten  Gefängnissen  hat  der  Staat  New  York 
ein  State  Prison  for  Women  und  eine  State  Farm  for 
Women,  ferner  zwei  Spitäler  für  geisteskranke  Delin- 
quenten, Matteawan  und  Dannemora  Hospital  for  Insane 
Convicts. 

Der  Jahresbericht  für  1911  schließt  mit  einem  Re- 
port des  Board  of  Parole  for  State  Prisons  für  die  Zeit 
bis  30.  September  1911.  Aus  diesem  Bericht,  p.  368, 
entnehme  ich  unter  anderem  die  Tatsache,  daß  durch 
ein  Gesetz  vom  Jahre  1907  die  Strafe  für  Mord  zweiten 
Grades  von  lebenslangem  Kerker  auf  eine  "indeterminate" 
Strafe  mit  einem  Minimum  von  20  Jahren  und  einem 
Maximum  der  Verurteilung  auf  Lebenszeit  herabgesetzt 
worden  ist.   Während  der  vier  Jahre  der  Geltung  dieses 


—     115    — 

Gesetzes  wurden  39  für  lebenslang  Verurteilte  paroled, 
von  welchen  fünf  freigesprochen,  begnadigt  oder  ge- 
storben, zwei  ins  Gefängnis  als  Delinquenten  zurück- 
gekehrt sind  und  32  sich  in  Freiheit  gegen  Parole  be- 
finden (p.  367). 

Der  erwähnte  Bericht  des  Board  of  Parole  enthält 
auch  die  gesetzlichen  Bestimmungen,  durch  welche  das 
Parole  System  immer  mehr  erweitert  worden  ist,  und 
konstatiert,  daß  die  frühere  Abneigung  der  Richter  gegen 
die  Verhängung  von  unbestimmten  Strafen  und  gegen  das 
Parole  System  immer  mehr  einer  freieren  Auffassung 
weiche.  Die  letzte  dieser  Bestimmungen  aus  dem  Jahre 
1910,  bekannt  als  die  Gross  Bill,  besagt,  daß  jede  un- 
bestimmte (indeterminate)  Strafe,  welche  auf  ein  die 
Hälfte  des  Maximums  iibersteigendes  Minimum  lautet, 
auf  die  Hälfte  des  Maximums  reduziert  wird.  Im  letzten 
Jahre  wurden  1398  Anträge  auf  Gewährung  der  Ent- 
lassung gegen  Parole  gestellt,  und  zwar  877  Erstanträge 
(Initial  Applications)  und  521  Reapplications.  Von  ersteren 
Anträgen  wurde  644  Anträgen  Folge  gegeben,  auf  Grund 
wiederholten  Einschreitens  (Reapplications,  Rehearings) 
wurden  184  Parolierungen  ausgesprochen,  im  ganzen  sind 
also  828  Parolierungen  ausgesprochen  worden. 

Es  wird  p.  10  des  letzten  Reports  seitens  des  Super- 
intendenten berichtet,  daß  seit  1900,  dem  Zeitpunkt  des 
Tätigwerdens  des  Boards  von  den  gegen  Parole  Ent- 
lassenen (von  den  Paroled)  81*3  Prozent  den  Bestim- 
mungen der  Parole  (Terms  of  Parole)  entsprochen  haben, 
während  18*46  Prozent  wieder  delinquiert  haben  und 
von  diesen  Delinquenten  wurden  43"81  Prozent  in  das 
Gefängnis  zurückgebracht.  Die  übrigen  wieder  Delin- 
quierenden  würden  im  Falle  einer  späteren  Gefangen- 
nahme zur  Vollendung  ihrer  Strafe  zurückgebracht 
werden. 

Durchschnittlich  waren  nach  dem  ersten  der  Jahres- 
berichte (1.  Oktober  1909  bis  30.  September  1910)  1850 

8* 


—     116     — 

Gefangene  in  Sing  Sing.  Im  letzten  Berichtsjahre  betrug 
die  Durchschnittszahl  1720,  vielleicht  infolge  der  Ein- 
richtung des  früher  erwähnten  Great  Meadow-Gefäng- 
nisses.  Im  letzten  Bericht  (Einlage  p.  5)  wird  die  Er- 
wartung ausgesprochen,  daß,  wenn  das  Great  Meadow- 
Gefängnis  in  seinem  vollen  Umfange  wird  belegt  werden, 
können,  es  möglich  sein  wird,  in  Sing  Sing  jeden  Ge- 
fangenen in  einer  Einzelzelle  zu  halten. 

Die  Kriminalität  liat  im  Staate  New  York  nach  der 
schweren  ökonomischen  Krise  im  Jahre  1907  im  Jahre 
1908  den  Höhepunkt  von  1633  erreicht  und  ist  im  Jahre- 
1911  auf  1368  gesunken.  Am  30.  September  1912  betrug; 
die  Zahl  der  Gefangenen  in  Sing  Sing  1528  (A.  R.,  1911,. 
p.  50).  Die  Zahl  der  vom  Bundesgerichte  Verurteiltea 
(United  States  Prisoners)  betrug  am  1.  Oktober  1910  5,. 
am  30.  September  1911  1. 

Die  übrigen  1527  waren  State  Prisoners.^)  Im  letzten 
Berichtsjahr  wurden  von  den  Insassen  von  Sing  Sing; 
39  vor  Erreichung  des  Maximums  des  Strafsatzes  wegen 
guten  Benehmens  freigelassen,  3  auf  Grund  einer  Um- 
wandlung des  höheren  Strafsatzes  in  einen  niederen  (by 
special  commutation),  26  wurden  freigelassen  wegen  Ab- 
laufs des  Maximums  der  Strafzeit  (expiration  of  sentence),. 
15  auf  besonderen  richterlichen  Befehl  (court  order). 
Paroled  wurden  387,  durch  Elektrizität  hingerichtet  5- 
(electrocuted).*) 

Im  vorletzten  Jahre  (1909/11)  wurden  9  electro- 
cuted,  begnadigt  wurde  nur  1,  10  gegen  Parole  Entlassene 
wurden  zurückgebracht.  Die  Gesamtsumme  der  Paroled 
betrug  im  vorletzten  Berichtsjahre  382.  2  Entflohene^ 
und  1  auf  richterlichen  Befehl  zu  Gericht  Überstellter 
wurden   zurückgebracht.^) 


ä)  A.  R.,  1910,  p.  30sq.;   1911,  p.  27. 

*)  A.  R.,  1911,  p.  27. 

^)  Der  Bericht  sagt:  returned  from  Court  ...  1  (A.  R.,  1910,  p.30). 


—     117    — 

Die  Zahl  der  Todesfälle  im  letzten  Berichtsjahr  be- 
trug 1,  im  vorletzten  Berichtsjahre  12. 

Von  den  am  30.  September  1911  in  Sing  Sing  befind- 
lichen 1528  Gefangenen  waren  1304  Weiße,  221  Neger, 
2  Chinesen  und  1  Indianer.^) 

Von  den  1528  Insassen  am  30.  September  1911  waren 
703  wegen  Verbrechen  gegen  die  Person,  623  wegen  Ver- 
brechen gegen  das  Eigentum,  158  wegen  Verbrechen  gegen 
die  Person  und  das  Eigentum  und  44  wegen  sonstiger 
Delikte  verurteilt.  Von  der  letzteren  Gruppe  (Miscella- 
neous)  waren  9  wegen  Tragens  verbotener  Waffen, 
1    wegen   Flucht   aus   dem   Gefängnis    verurteilt.'^) 

Im  vorletzten  Berichtsjahre  befanden  sich  1  Insasse 
in  Sing  Sing  wegen  Depösiting  obscene  matter  in  United 
States  mail,  also  wegen  Mißbrauchs  der  Post  zu  obszönen 
Sendungen. 8)  Am  30.  September  1911  befanden  sich  7 
für  lebenslang  Verurteilte  (Life  Men),  von  denen  6  Mörder 
of  first  degree  und  1  Räuber  of  first  degree  waren  9), 
sowie  14  zum  Tode  Verurteilte  in  Sing  Sing.i^)  Einschließ- 
lich der  7  für  lebenslang  und  der  14  zum  Tode  Ver- 
urteilten betrug  die  Zahl  der  zu  Determinate  Sentences 
Verurteilten  306  und  die  Zahl  der  zu  Indeterminate  Sen- 
tences Verurteilten  1222.ii)  Die  Durchschnittsdauer  der 
Determinate  Sentences  war,  abgesehen  von  der  Ver- 
urteilung auf  Lebenszeit  und  der  Todesstrafe,  eine  für 
unsere  Vorstellung  außerordentlich  hohe,  nämlich 
9  Jahre,  9  Monate  und  8  Tage.^^)  Auffallend  ist  die  große 
Variation  der  Strafsätze;  ich  finde  91  verschiedene  Straf- 


«)  (A.R.,  1911,  p.52.)  —  Am  30.  September  1910  waren  1488  Weiße, 
231  Neger,  2  Chinesen  und  1  Japaner  in  Sing  Sing  (A.  R.,  1910,  p.  57). 
')  A.  R.,  1911,  p.  55. 
8)  A.  R.,  1910,  p.  59. 
»)  A.  R.,  1911,  p.  55. 
")  A.  R.,  1911,  p.  57. 
")  A.  R.,  1911,  p.  57 sq. 
12)  A.  R.,  1911,  p.  57. 


118     — 


Sätze  für  die  285  zu  Determinate  Sentences  Verurteilten^^) 
und  für  die  1222  zu  Indeterminate  Sentences  Verurteilten 
393  verschiedene  Straf sätze.i*)  20  der  Insassen  von 
Sing  Sing  sind  zu  einer  Strafe  von  10  bis  20  Jahren  ver- 
urteilt, 1  zu  20  bis  40  Jahre,  1  zu  25  bis  49  Jahre,  2  zu 
15  Jahre  bis  lebenslang  und  106  zu  20  Jahre  bis  lebens- 
lang. Die  Durchschnittsdauer  der  einzelnen  Strafen  war, 
abgesehen  von  den  Strafsätzen  von  15  und  20  Jahren 
bis  lebenslang  4  Jahre  6  Monate  und  8  Tage  im  Minimum 
und  6  Jahre  3  Monate  und  26  Tage  im  Maximum. i^) 

Der  Jahresbericht  1911  verzeichnet  188  verschiedene 
Berufe   der   1528   Inmates,    der   Bericht   1910    205   ver- 


")  A.  K.,  1911,  p.  55  sq.     Es 

waren  zum 

Beispiel: 

2  zu  1  Jahre 

1  zu  1  Jahre  und  6  Monaten 

1    „    1      „      und   2  Monaten 

1    „    1 

n           r,       7 

n 

1    «    1      .         „4        „ 

1    „    1 

.            n        8 

n 

1     n     1        »            n        6           « 

1    «    1 

.            .     11 

n 

verurteilt,  ferner  wurden: 

18  zu  20  Jahren 

3  zu  25  Jahren 

1    „    21        „ 

1    .    29 

n 

1    „    21       „       und  2  Monaten 

1    „    34 

n 

1     «     21          „             n       '            n 

1    «    34 

„       und  4  Monaten 

1    „    22        „ 

1    .    36 

n 

1    n    23        „           -     6         „ 

1    .    42 

n 

2    „    24       „ 

verurteilt.    Den  Haftstrafen  werden  manchmal  Geldstrafen  beigefügt, 
zum  Beispiel: 

5  Jahre  und  1000  Dollars  Strafe 

•         n  5)  '^50  „  „ 

")  A.  K.,  1911,  p.  57  bis  66.     Das  Mindestmaß  war  1  Jahr  bis 
1  Jahr  und  3  Monate;   weitere  eigenartige  Beispiele: 
1  Jahr  bis  1  Jahr  und  9  Monate  und  1000  Dollars  Strafe 

1     _     und  5  Monate  „     4  Jahre  „     5       „  .... 


1  »    «11 

n 

n      2 

» 

.    11 

2  Jahre  „     3 

n 

«     4 

» 

.    3 

9      «      «  11 

» 

„  10 

V 

19      „      «     5 

» 

n    19 

n 

.    6 

20      „ 

.  25 

ji 

r,       6 

1000 


15)  A.  K,  1911,  p.  66. 


119    — 


schiedene  Berufe  der  1722  Inmates.  Den  Berufen  nach 
ist  unter  den  Bewohnern  von  Sing  Sing  am  30.  September 
1911  1  Rail  Road  Inspector,  6  Rail  Estate  Brokers 
(Inhaber  von  Grundvermittlungsbureaus),  6  Lawyers, 
139  Drivers  (Kutscher). 

.   .   Dem   Lebensalter  nach  waren: 


1 15  Jahre  alt 

7 16  „  „ 

27 17  „  „ 

52 18  „  „ 

76 19  „  „ 

75  . 20  „  „ 

93 21  „  „ 

89 22  „  „ 


98 23  Jahre  alt 

89  . 24  „  „ 

68  .......  25  „  „ 

76  . 26  „  „ 

79.     .....27  „  „ 

72 28  „  „ 

.61 ...  29  „  „ 

57 30  „  „ 


Diese  Ziffern  sind  darum  interessant,  weil  Delin- 
quenten bis  zum  30.  Lebensjahre  nach  Elmira  geschickt 
werden  können,  vorausgesetzt,  daß  sie  zum  erstenmal 
wegen  eines  Verbrechens  verurteilt  sind  und  sich  nicht 
gewisser  schwerster  Verbrechen,  zum  Beispiel  eines 
Mordes,  schuldig  gemacht  haben.  Die  hohen  Ziffern  sind 
aber  vor  allem  ein  Beweis  dafür,  welch  große  Rolle  im 
amerikanischen  Strafprozesse  dem  richterlichen  Ermessen 
zukommt.  Die  5  ältesten  Inmates  sind  2  mit  67,  2  mit 
68  und  1  mit  89  Jahren.i^) 

Von  den  1528  Inmates  waren  743  in  Amerika  ge- 
boren, 785  aber  eingewandert  (Foreign  Borns),  von 
welchen  bereits  173  Bürger  geworden,  612  aber  Aliens 


")  A.  E.,  1911,  p.  69 sq.  —  Am  30.  September  1910  waren  noch 
1  mit  78  Jahren,  1  mit  73  Jahren  und  1  mit  79  Jahren  Bewohner 
der  Strafanstalt  Sing  Sing  (A.  R.,  1910,  p.  84).  Ich  habe  in  einem  der 
Arbeitsräume,  ich  glaube  in  dem  der  Schneider,  einen  alten  Mann  mit 
weißem  Haar  und  Bart  gesehen,  der  so  anständig  und  ehrwürdig  aus- 
sah, daß  mich  sein  Anblick  gerührt  hat.  Ich  konnte  leider  nicht 
fragen,  welches  Deliktes  der  Mann  sich  schuldig  gemacht  hatte. 


—     120     — 

geblieben  sind.i"^)  Diese  Ziffern  sind  ein  Beleg  dafür, 
welch  hoher  Prozentsatz  der  Eingewanderten  unter  den 
Delinquenten  ist.  50  eingewanderte  Österreicher  waren 
am  30.  September  1911  leider  Bewohner  von  Sing  Sing, 
von  denen  12  Bürger  der  Vereinigten  Staaten  geworden 
waren  und  38  Aliens  geblieben  waren.  In  dem  Berichte 
von  1911  (p.  70)  werden  außerdem  noch  2  Böhmen  an- 
geführt, die  Aliens  geblieben  sind,  und  15  Ungarn,  von 
welchen  2  Bürger  der  Vereinigten  Staaten  geworden  sind 
und  13  ihre  Zuständigkeit  behalten  haben. i^) 

Interessant  ist,  daß  in  dem  Lande,  in  welchem  die 
Religion  Privatsache  ist,  von  den  während  des  letzten 
Jahres  Eingelieferten  946  Inmates  nur  zwei  keiner  Re- 
ligion  angehörten. 19) 

Von  den  im  letzten  Berichtsjahr  eingelieferten 
920  Inmates  waren  416  zum  erstenmal  verurteilt,  351 
schon  früher  in  Sing  Sing  oder  in  einer  anderen  Straf- 
anstalt gewesen,  101  einmal  in  Sing  Sing,  37  zweimal, 
12  dreimal  und  3  viermal  in  Sing  Sing  gewesen.  Leider 
fanden  sich  unter  den  Insassen  von  Sing  Sing  220,  die 
bereits  früher  in  Elmira  und  49,  die  in  anderen  Re- 
formatories   gewesen  waren.^o) 

In  dem  sehr  interessanten  Schulbericht  (School 
Report)  des  Head  Teacher  des  vorletzten  Berichtsjahres 
ist  mir  die  Anerkennung  aufgefallen,  die  den  Inmate 
Teachers,  den  aus  dem  Stande  der  Gefangenen  ent- 
nommenen Lehrern,   ausgesprochen   wird.^i)    Auch  dem 


")  A.  R.,  1911,  p.  71. 

^*)  Im  ganzen  waren  also  am  30.  September  1911  65  eingewanderte 
Österreicher  und  Ungarn  leider  Bewohner  von  Sing  Sing. 

lö)  A.  R.,  1911,  p.  74,  finde  ich  folgende  Ziffern:  Protestant  320, 
Catholic  484,  Hebrew  140,  no  religion  2. 

20)  A.  K,  1911,  p.  72,  p.  73. 

^^)  A.  R.,  1910,  p.  99:  Much  credit  is  due  the  inmate  teachers  for 
their  enthusiasm  in  the  werk  and  for  the  helpful  spirit  which  they 
continually  manifest  towards  the  pupils. 


—    121     — 

Fleiße  der  Schüler  wird  Lob  ausgesprochen.*^)  Im  letzten 
Berichtsjahre   gab   es   282   Schultage.^s) 

Am  1.  Oktober  1910  gab  es  420  Schüler,  zu  welchen 
weitere  291  hinzugetreten  sind,  so  daß  die  Gesamtzahl 
der  Schüler  im  letzten  Jahre  711  betragen  hat.^*)  Von 
100  Schülern  waren  am  30.  September  1910  82- 10  Ein- 
gewanderte (Forßign  Born),  1350  amerikanische  Neger, 
1*90  Amerikaner  und  250  Kinder  von  Einwanderern 
(Americans  of  foreign-born  parents).^^)  Da  von  den 
711  Schülern  368  niemals  in  einer  Schule  gewesen  sind 
(wholly  illiterate),  244  Subliterates,  das  heißt  solche, 
welche  weniger  als  zwei  Jahre  und  zwei  Monate  in  irgend- 
einer Schule  gewesen  sind  und  99  Schüler  solche  waren, 
welche  nur  in  einer  anderen  Sprache  als  im  Englischen 
Unterricht  genossen  hatten,  so  ergibt  sich  aus  dem  Zu- 
sammenhalten dieser  Ziffern  der  ungeheuere  Bildungs- 
unterschied zwischen  den  nach  Amerika  Eingewanderten 
und  den  in  Amerika  Geborenen.^ß) 

Im  A.  R.  1911,  p.  27  sq.,  wird  die  Beschäftigung  von 
1584  Inmates  verzeichnet.  Aus  dem  Verzeichnis  ergibt 
sich,  daß  790  in  den  in  der  Anstalt  betriebenen  Industrien 
verwendet  wurden,  so  zum  Beispiel  92  für  das  Clothing 
Department,  155  für  das  Shoe  Department,  500  wurden 
für  die  Arbeit  im  Haus  verwendet.  274  werden  als  „Idle" 
(unbeschäftigt)  bezeichnet,  13  als  Condemned  men  und 
7  als  New  men,  das  heißt  welche  noch  nicht  irgend- 
einer  Beschäftigung   zugewiesen   sind. 

Der  Agent  und  Warden  der  Strafanstalt  Sing  Sing, 
John  S.  Kennedy,  hatte  die  Güte,  mir  auf  meine  An- 
frage mitzuteilen,  daß  die  Inmates  von  den  Officials  der 
Anstalt  20  Unzen  Tabak  monatlich  kaufen  dürfen  und 
außerdem  zu  gewissen  Seasons  eine  Schachtel  Zigarren. 


*•)  A.  R.,  1910,  p.  99:  The  men  do  much  preparation  work  in 
their  cells  at  night. 

")  A.  R.,  1911,  p.  75.  —  2*)  A.  R.,  1911,  p.  75.  —  ")  A.  R.,  1910, 
p.  98.  —  ««)  A.  R.,  1911,  p.  77. 


—     122     — 

Aiif  dem  Rückwege  zur  Eisenbahn  sind  mir  die 
Holzhäuser  von  Ossining  aufgefallen.^^)  Der  Amerikaner 
baut  auf  dem  flachen  Lande  und  in  den  Städten  Holz- 
häuser, auch  die  Wände  sind  aus  Holz;  er  baut  ja,  um 
rasch  zu  verkaufen,  oder  damit  dem  alten  Hause  rasch 
ein  neues  folgen  könne.  An  ein  dauerndes  Heim  denkt 
der  Erbauer  nicht.  Auch  kann  es  sich  ja  herausstellen, 
daß  der  Verkäufer  des  Grundes  und  Bodens  gar  nicht 
berechtigt  war,  den  Grund  und  Boden  zu  verkaufen. ^s) 


V.  Kapitel.  ■    '! 

Das  Reformatory  von  Elmira. 

Ich  verließ  New  York  in  der  Nacht  vom  Ostersonntag 
auf  den  Ostermontag  (vom  7.  auf  den  8.  April),  genau 
gesagt  am  Ostermontag  zeitlich  früh  zwei  Uhr,  mit  der 
Delaware  Lackawanna  Western  Railroad.  Ich  verließ 
mein  Hotel  (Plaza)  gegen  elf  Uhr  nachts,  fuhr  nach  einer 
von  der  23.  Straße  (W.  23  ^  Street)  abgehenden  Fähre 
(Ferry),  von  dort  nach  Hoboken  zur  Eisenbahnstation. 
Man  kann  den  Schlafwagen  bereits  von  halb  zehn  Uhr 
abends  an  benützen,  um  zwei  Uhr  nachts  verläßt  dann 
der  Zug  mit  seinen  schlafenden  Passagieren  New  York. 
Als  ich  früh  erwachte,  sah  ich  Schnee.  Der  Zug  hatte 
nachts  eine  Höhe  von  mehr  als  1900  Fuß  erstiegen. 
Morgens  wurde  in  Binghampton  ein  Dining  Car  ange- 
hängt und  um  9.20  a.  m.  kam  ich  in  Elmira  an.  Ich 
machte  mich  baldigst  auf  den  Weg  nach  dem  berühmten 
Reformatory  des  Staates  New  York,  dem  in  der  Nähe  der 
Stadt  Elmira  gelegenen  Reformatory  gleichen  Namens.  Die 
Stadt  Elmira  hatte  nach  dem  letzten  Zensus  37.176  Ein- 
wohner.i) 

")  Vgl.  Lamprecht,  Americana,  S.  30,  der  die  Worte  Uhlands 
zitiert:  "Das  neue  Haus  ist  aufgerichtet,  gedeckt,  gemauert  ist  es  nicht". 

28)  Vgl.  oben  S.  100. 

^)  Im  Jahre  1900  war  die  Zahl  der  Einwohner  35.672,  der  Prozent- 
satz der  Zunahme  in  den  letzten  zehn  Jahren  ist  also  nur  42. 


—     123    — 

I.    Geschichte   und   Organisation   dieses   Re- 
formatory. 

Im  Jahre  1869  wurde  im  Staate  New  York  ein  Gessetz 
beschlossen,  das  die  Errichtung  einer  Anstalt  für  die 
Aufnahme  von  männlichen  Straffälligen  (Felons)  im  Alter 
von  16  bis  30  Jahren  bezweckte,  und  zwar  solcher 
Delinquenten,  welche  vorher  wegen  eines  in  einem  Staats- 
gefängnisse abzubüßenden  Verbrechens  nicht  verurteilt 
waren.-)  Im  Juli  1876  nahm  die  Anstalt  die  ersten  Ge- 
fangenen auf  und  im  Jänner  1877  betrug  die  Zahl  der 
Gefangenen  164.  Mit  Benutzung  der  Arbeitsleistungen 
der  Gefangenen  wurde  die  Anstalt  1877  vollendet  und 
seit  dieser  Zeit  wurde  das  in  Aussicht  genommene  System 
für  die  Disziplin  und  die  Beschäftigung  der  Gefangenen 
eingeführt.  Das  im  Jahre  1906  herausgegebene  Hand 
Book  (vgl.  oben  S.  13)  gibt  die  Zahl  der  Zellen  mit 
1264  an.    Das  Reformatory  liegt  an  einem  mäßig  hohen 


-)  Der  entscheidende  Wortlaut  des  Gesetzes  ist:  "A  male  between 
the  ages  of  sixteen  and  thirty,  convicted  of  a  felony,  who  has  not 
theretofore  been  convicted  of  a  crime  punishable  by  imprisonment  in 
a  State  prison,  may,  in  the  discretion  of  the  trial  court,  be  sentenced 
to  imprisonment  in  the  New  York  State  reformatory  at  Elmira,  to  be 
there  confined  under  the  provisions  of  law  relating  to  that  reformatory." 
(§  2185  Penal  Law  of  the  State  of  New  York,  vgl.  oben.)  —  Vgl. 
Baemreither,  a.a.O.,  S.  86  f.,  Lenz,  a.a.O.,  S.  214  f.,  Gleispach, 
a.  a.  0.,  S.  18  f. 

Das  vortreffliche  Buch  von  Herr,  Das  moderne  amerikanische 
Besserungssystem  (vgl.  oben  S.  10),  bespricht  die  unbestimmte  Ver- 
urteilung (Kap.  III),  das  Überweisungsverfahren  und  die  Anstalts- 
organisation (Kap.  IV),  die  Behandlung  in  der  Besserungsanstalt 
(Kap.  V),  ferner  die  vorläufige  und  endgültige  Entlassung  (Kap.  VT). 
Die  Ausführungen  Herrs  über  die  Behandlung  in  der  Besserungs- 
anstalt (S.  156  bis  328)  sind  sehr  ausführlich  und  außerordentlich 
interessant.  Die  Skizze  über  meinen  Besuch  in  Elmira  war  bereits 
niedergeschrieben,  als  ich  von  Herrs  Buch  sowie  von  der  vortreff- 
lichen Schrift  von  Hintrager,  "Amerikanisches  Gefängnis-  und 
Strafenwesen"  (vgl.  oben  S.  10),  Kenntnis  erhalten  habe.  Bei  Herr, 
S.  417 ff.,  ist  auch  die  umfangreiche  Literatur  über  das  Reformatory 
System  erschöpfend  verzeichnet. 


—     124    — 

Tafelland  (Table  Land),  Der  eingeschlossene  Raum  be- 
trägt 16  Acres.  Westlich  schließt  sich  eine  Farm  von 
280  Acres  an  die  Anstalt  an,  deren  Erträgnisse  den  Be- 
dürfnissen der  Anstalt  dienen. 

Die  Oberleitung  der  Anstalt  steht  dem  Board  of 
Managers  zu,  welcher  gemeinsam  ist  für  die  Strafanstalt 
Elmira  und  das  Eastern  New  York  Reformatory  at 
Napanoch,  Diese  Behörde  zählt  derzeit  sieben  Mitglieder, 
welche  vom  Gouverneur  des  Staates  New  York  mit  Zu- 
stimmung des  Senats  ernannt  werden.  Das  Amt  wird 
auf  sieben  Jahre  verliehen. 3)  Der  Board  of  Managers 
wählt  jährlich  aus  seiner  Mitte  den  Präsidenten,  den  Vize- 
präsidenten und  den  Treasurer.*)  Der  Board  of  Managers 
hält  jeden  Monat  etwa  Mitte  des  Monats  eine  Sitzung 
ab.  Zu  seiner  Kompetenz  gehört  die  Genehmigung  der 
Anträge  auf  Erteilung  der  bedingten  Entlassung  (Parole) 
sowie  die  Entlassung  (Discharge).  Es  findet  eine  all- 
monatliche Inspektion  jedes  der  beiden  Reformatories 
statt,  sei  es  durch  die  Majorität  der  Mitglieder  des  Board, 
sei  es  durch  ein  Komitee  seiner  Mitglieder.  Jeden  Monat 
berichtet  dieser  Board  dem  Gouverneur  des  Staates,  dem 
State  Board  of  Charities,  sowie  dem  fiscal  Supervisor.^) 
Dieser  Board  publiziert  auch  alljährlich  vor  dem 
10,  Jänner  den  Bericht  über  das  mit  dem  30.  September 
des  Vorjahres  ablaufende  Verwaltungsjahr.ß)    Der  Board 


ä)  Hand  Book,  p.  6,  p.  129.  An  ersterer  Stelle  wird  die  Amts- 
dauer  als  eine  fünfjährige  bezeichnet.  Die  Managers  beziehen  kein 
Gehalt,  dürfen  aber  Reisekosten  und  andere  Official  Expenses  ver- 
rechnen. Die  Ernennung  der  Managers  wird  so  eingerichtet,  daß 
jedes  Jahr  ein  Mitglied  ausscheidet. 

*)  Gegenwärtig  versieht  der  Vizepräsident  das  Amt  eines  Treasnrer 
des  Napanoch  Reformatory  und  der  Sekretär  das  Amt  eines  Treasurer 
des  Elmira  Reformatory.  (Report,  1912,  p.  5.) 

s)  H.  B.,  p.  130. 

*)  (Report  of  the  State  Board  of  Managers  of  Reformatories.) 
Mir  liegen  vier  solcher  Berichte  für  die  Jahre  1909, 1910, 1911  und  1912, 
sowie  das  1906  publizierte  Hand  Book  of  the  New  York  State  Refor- 
matory of  Elmira  vor. 


—     125    — 

of  Managers  ernennt  den  Superintendenten.'^)  Dieser 
Superintendent  ernennt  dann  alle  anderen  Beamten  und 
Bediensteten  (Officers  and  Employes),  welche  durch  den 
Board  und  den  Superintendenten  wieder  ihres  Amtes 
entsetzt  werden  können.  Für  jede  der  beiden  Anstalten 
gibt  es  einen  Assistant-Superintendenten  sowie  den  Chief 
Clerk. 8)  Der  gegenwärtige  Superintendent  beider  An- 
stalten heißt  Patrick  J.  McDonnel.  Der  gegen- 
wärtige Assistant-Superintendent  in  Elmira  heißt  Frank 
L.  Christian  und  ist  Doktor  der  Medizin  (M.  D.).  Derselbe 
hatte  die  Güte,  mein  Führer  durch  die  Anstalt  zu  sein. 9) 
Der  gegenwärtige  Private  Secretary  ist  der  Herausgeber 
des  bereits  früher  erwähnten  Hand  Book,  Fred.  C.  Allen. 

IL  Die  Entlassung  geg^en  Parole. 

Sehr  wenige  von  den  Bewohnern  (Inmates)  von 
Elmira  sind  in  der  Anstalt  auf  Grund  einer  sogenannten 
Determinate  Sentence.  Es  sind  das  jene  Delinquenten, 
welche  von  Bundesgerichten  der  Vereinigten  Staaten 
wegen  Verbrechen  gegen  die  Bundesregierung  verurteilt 
sind  und  welche  "United  States  Definites"  heißen.  In 
der  Zeit  vom  1.  Oktober  1911  bis  30.  September  1912 
wurden  1231  New  York  Indefinites,  dagegen  nur  8  new 
United  States  Definites  eingeliefert.^o^   Die  Indeterminate 


')  Derselbe  kann  aus  guten  Gründen  (for  cause),  nachdem  ihm 
eine  Gelegenheit   sich   zu   äußern   gegeben   wurde,   entlassen  werden. 

*)  In  Abwesenheit  des  Superintendenten  und  des  Assistant-Superin- 
tendenten ist  der  Chief  Clerk  Vertreter  der  beiden  genannten  Funktionäre 
und  übt  sonach  eventuell  ebenfalls  die  höchste  Gewalt  in  der  Anstalt  aus. 

®)  Dr.  Christian  war  bis  zum  Jahre  1911  Chefarzt  und  ist 
seither  Assistant  Superintendent. 

10)  Im  Jahre  1910/11  (30.  September  1910  bis  30.  September  1911) 
wurden  25  New  United  States  Definites  und  ein  New  State  Definite  ein- 
geliefert, dagegen  1222  New  State  Indefinites.  Während  eines  ganzen 
Jahres  wurde  also  von  den  Gerichten  des  Staates  New  York  nur  ein 
Delinquent  zu  einer  bestimmten  Strafe  verurteilt  und  im  letzten  Berichts- 
jahre erfolgte  nicht  eine  einzige  Einlieferung  nach  Elmira  auf  Grund 
einer  bestimmten  Verurteilung  eines  Gerichtes  des  Staates  New  York. 


—     126    — 

Senfences  bestehen  darin,  daß  der  Zeitpunkt  der  Frei- 
lassung vom  Board  of  Managers  nach  seinem  Ermessen 
bestimmt  wird.  Der  zu  einer  unbestimmten  Freiheits- 
strafe Verurteilte  kann  aber  nicht  länger  zurückgehalten 
werden,  als  das  Maximum  der  Zeit  ist,  für  welche  er 
wegen  des  begangenen  Verbrechens  hätte  verurteilt 
werden  können.  Ein  wegen  Mordes  oder  ein  lebens- 
länglich Verurteilter  kann  nicht  nach  Elmira  geschickt 
werden.  Es  gibt  aber  derzeit  Inmates  in  Elmira,  für 
die  wegen  Totschlages  (Manslaughter)  20  Jahre  und  Mord- 
brenner, für  welche  wegen  des  ersten  Grades  dieses 
Verbrechens  (crime  of  arson)  der  höchste  Strafsatz  von 
40  Jahren  gelten  würde.  Die  Einrichtung  des  Reformatory 
ist  eine  solche,  daß  ein  Gefangener  auch  für  derartige 
Maximalzeiten  zurückgehalten  werden  könnte.  Es  kommt 
selten  vor,  daß  eine  Strafe  von  fünf  Jahren  oder  mehr 
ganz  vollstreckt  wird,  selbst  bei  Strafen  von  zweieinhalb 
Jahren  ist  es  selten,  daß  die  ganze  Strafe  vollstreckt 
wird.  Der  gegenwärtigen  Praxis  des  Board  of  Managers 
des  Reformatory  in  Elmira  entspricht  es,  daß  13  bis 
16  Monate  die  Durchschnittsdauer  sind,  während  welcher 
ein   Inmate   zurückbehalten   wird.^i) 

Die  Bedingungen,  unter  welchen  ein  Gefangener  vor 
dem  Maximum  der  vorgeschriebenen  Zeit  freigelassen 
wird,  sind  folgende :  Sein  allgemeines  Benehmen  (General 
Demeanor)  und  seine  Leistungen  sowohl  in  der  School 
of  Letters  wie  in  der  Trades  School  müssen  so  sein, 
daß  der  Board  of  Managers  gute  Ursache  hat  zu  glauben, 
er  werde  sich  in  der  Freiheit  so  benehmen,  wie  es  die 
Gesetze  von  einem  Bürger  erwarten,  er  werde  ein  "Law- 
abiding  Citizen"  sein.  Für  die  bedingte  Freilassung  ist 
auch  notwendig,  daß  der  zu  Entlassende  eine  Beschäfti- 
gung in  der  Freiheit  erhalte,  und  zwar  womöglich  in  der 
Stadt,  von  welcher  aus  er  verurteilt  wurde  (from  which 


^^)  Die  vorstehenden  Angaben   gründen  sich  auf  mündliche    und 
schriftliche  Mitteilungen  des  Dr.  Christian. 


—     127     — 

he  was  sentenced)  und  in  dem  Gewerbe,  das  er  im  Refor- 
matory  gelernt  hat  (H.  B.,  p.  8sq.).  Von  einem  solchen  Frei- 
gelassenen sagt  man,  er  sei  paroled.   Der  Paroled  erhält 
ein  Parole  Paper,  welches  gedruckte  Instruktionen  ent- 
hält, die  er  genau  zu  befolgen  hat,  falls  er  die  dauernde 
und  absolute  Freilassung  aus  dem  Reformatory  erhalten 
soll.  In  diesem  Parole  Paper  heißt  es,  daß  der  Gefangene 
paroled    worden   sei   unter    der   Bedingung,    daß   er  in 
seinem  Verhalten  ehrlich  sein  werde,  und  daß  er  schlechte 
Gesellschaft  und  berauschende  Getränke   zu  vermeiden 
habe,  daß  er  sich  sofort  an  den  Ort  seiner  Beschäftigung 
hinzubegeben  und  dort  durch  mindestens  sechs  Monate 
in   der   gewählten    Beschäftigung   zu   arbeiten   habe,   es 
wäre  ihm  denn  der  Wechsel  des  Ortes  oder  der  Beschäfti- 
gung oder  beider  gestattet  worden.  Femer  daß  er  monat- 
lich einen  Bericht  an  den  General-Superintendenten  mit 
einer  genauen  Schilderung  seines  Lebens  und  seiner  Um- 
gebung zu  machen  habe  und  ob  er  in  dem  letzten  Monate 
fleißig  gewesen  sei  und  entsprechend  verdient  habe,  und 
wenn  er  nicht  entsprechend  verdient  habe,  warum  er  nicht 
verdient  habe.    Dieser  Bericht  (Report)  muß  zuvor  die 
Genehmigung  eines  Agenten  des  Reformatory  erhalten, 
welcher  in   dem   Orte  lebt,   von  welchem  aus   der   Ge- 
fangene verurteilt  wurde  (from  which  he  was  sentenced). 
Die  Funktionen  eines  solchen  Agenten  versieht  für  die 
Stadt  New  York  die  New  York  Prison  Association,  für 
die  übrigen  Städte  gewöhnlich  der  Chef  der  Polizei  oder 
ein  anderer  Peace   Officer,    Nach  sechs   befriedigenden 
Monaten  erhält  der  Paroled  gewöhnlich  seine  endgültige 
Freilassung.    Die  die  Aufsicht  führenden  Organe  (Super- 
vising  Officers)  haben  insbesondere  die  den  gegen  Parole 
Entlassenen  zugehenden  Arbeitsgelegenheiten  (Offers  of 
Employment)  zu  prüfen  und  bemühen  sich  häufig  selbst 
um    die   Verleihung    einer    Arbeitsgelegenheit    für    den 
Paroled.i2) 

^■^)  Vgl.  H.  B.,  p.  51.  —  H.  B.,  p.  9:  "The  parole  paper  informs 
the  prisoner   that  the  board   of  managers  has  decided    to  parole   him 


—     128    — 

Hat  der  Board  of  Managers  Grund  anzunehmen,  daß 
ein  gegen  Parole  Entlassener  die  Bestimmungen  der 
Parole  verletzt  habe,  so  verfügt  er  durch  einen  vom 
Sekretär  unterzeichneten  Auftrag  die  Rückeinlieferung  des 
Gefangenen.i3) 

Es  gibt  auch  eine  Parole  of  Invahds  für  den 
Fall  ernster  Erkrankung,  deren  Heilung  im  Falle  der 
Zurückbehaltung  im  Reformatory  unwahrscheinlich  wäre. 


with  the  understanding  that  he  is  to  be  honest  in  his  dealings;  that 
he  is  to  ayoid  evil  associates  and  abstain  from  intoxicating  beverages ; 
that  he  is  to  proceed  immediately  to  the  place  of  employment  provided 
for  him  and  there  remain,  steadily  at  work  for  at  least  six  months, 
unless  in  the  meantime,  he  shall  obtain  from  the  management  of  the 
reformatory,  permission  to  change  his  location,  or  class  of  employment, 
or  both;  that  each  month  he  is  to  make  a  written  report  to  the 
general  Superintendent,  giving  a  somewhat  detailed  Statement  in 
regard  to  himself  and  his  surroundings,  and  telling  whether  or  not  he 
has  been  steadily  earning  wages  during  the  past  month,  and  if  not, 
the  reason  for  his  failure  so  to  do.  This  report,  before  it  can  properly 
be  accepted  by  the  general  Superintendent,  must  receive  the  certification 
of  a  duly  authorized  supervising  agent  of  the  reformatory,  residing  in 
the  locality  from  which  the  prisoner  was  sentenced.  Such  agent,  for 
the  city  of  New  York,  is  the  New  York  Prison  Association,  and  for 
towns  outside  that  city,  usually  the  chief  of  police,  or  other  peace 
officer.  After  making  six  satisfactory  monthly  reports  to  the  mana- 
gement, paroled  men  are  usually  given  an  absolute  release  from  the 
reformatory." 

^^)  Vgl.  die  folgenden,  in  H.  B.,  p.  136  sq.,  mitgeteilten  gesetz- 
liehen Bestimmungen: 

1.  Parole  of  Prisoners.  The  board  of  managers  may  allow  any 
prisoner  confined  therein  to  go  upon  parole  outside  of  the  reformatory 
buildings  and  enclosures,  pursuant  to  the  rules  of  the  board  of  mana- 
gers. A  person  so  paroled  shall  remain  in  legal  custody  and  under 
the  control  of  the  board,  until  his  absolute  discharge  as  provided  by 
law.  No  personal  appearances  before  the  board  shall  be  permitted  in 
behalf  of  the  parole  or  discharge  of  any  prisoner.  (Chap.  378,  Laws  of 
1900,  §  20.) 

2.  Supervision  of  Paroled  Prisoners.  The  board  of  managers  may 
appoint  and  at  pleasure  remove  suitable  persons  in  any  part  of  the 
State,  who  shall  supervise  paroled  prisoners  and  perform  such  other 
lawful  duties  as  may  be  required  of  them  by  such  board.   Such  persons 


—    129     — 

Voraussetzung  dieser  Art  der  Parole  ist,  daß  sich  Ver- 
wandte oder  Freunde  finden,  die  den  Gefangenen  zu 
versorgen  bereit  sind  (H.   B.,  p.  9  sq.). 

Am  30.  September  1911  betrug  die  Zahl  der  Inmates 
1287,  der  Zuwachs  in  der  Zeit  vom  1.  Oktober  1911 
bis  30.  September  1912  betrug  1340,  so  daß  die  Gesamt- 
zahl der  Gefangenen,  welche  während  des  letzten  Be- 
richtsjahres Bewohner  von  Elmira  waren,  2627  betragen 
hat,  und  von  diesen  wurden  929  paroled,  377  in  andere 
Anstalten  abgegeben.^*) 

shall  be  subject  to  the  direction  of  the  board.  They  may  be  paid  a 
reasonable  compensation  for  their  Services,  which  will  be  a  charge 
upon  and  paid  from  the  funds  of  the  reformatory.  (Chap.  378,  Laws 
of  1900,  §  26.) 

3.  Betaking  of  Paroled  Prisoners.  If  the  board  of  manager  has 
reasonable  cause  to  believe  that  a  paroled  prisoner  has  violated  the 
conditions  of  his  parole,  the  board  may  issue  its  Warrant  certified  by 
its  secretary,  for  the  retaking  of  such  prisoner  at  any  time  prior  to 
his  absolute  discharge.  The  time  within  which  the  prisoner  must  be 
retaken  shall  be  specified  in  the  Warrant.  Such  Warrant  or  Warrants 
may  be  issued  to  an  officer  of  the  reformatory  or  to  any  peace  officer 
of  the  State,  who  shall  execute  the  same  by  taking  such  prisoner  into 
custody  within  the  time  specified  in  the  Warrant.  Thereupon  such 
officer  shaU  return  such  prisoner  to  the  reformatory,  where  he  may 
be  retained  the  remainder  of  the  maximum  term  provided  by  law. 
(Chap.  378,  Laws  of  1900,  §  21.) 

Die  New  York  Prison  Association  kommt  für  das  Eeformatory 
in  Elmira  natürlich  vorzugsweise  in  Betracht.  Das  Reformatory  zahlt 
dieser  Association  für  ihre  Bemühungen  eine  bestimmte  Summe.  Ebenso 
erhält  der  Parole  Agent  in  Buffalo  ein  bestimmtes  Entgelt,  während 
die  anderen  Peace  Officiers  unentgeltlich  tätig  sind.   (H.  B.,  p.  52.) 

^*)  Transferred  to  Napannoch  Ref 342 

„  „    Anbum  State  Prison 3 

„  „   Dannemora  Hospital 32 

Total  Transferred     .     .    377 

Von  den  929  Paroled  waren  878  Regulär  Paroles,  15  Invalid 
Paroles  und  2  Definites  Paroled. 

Am  30.  September  1910  betrug  die  Zahl  der  Inmates  1112.   Der 

Zuwachs  bis  30.  September  1911  betrug  1359,  so  daß  die  Gesamtzahl 

der  Gefangenen   während   des  Jahres  1911    2471   betragen  hat.    Die 

Zahl  der  Gefangenen  von  Elmira  hat  also  im  Jahre  1912  zugenommen. 

Hanaasek,  Amerikanische  Skizzen.  9 


—     130     — 

Das  Begnadigungsrecht  wird  selten  geübt;  im 
Jahre  1912  wurde  nur  ein  Inmate  vom  Gouverneur  des 
Staates  New  York  begnadigt.i^) 

Im  letzten  Berichtsjahre  wurden  5  entlassen,  weil 
das  geringste  Strafausmaß  abgelaufen  war,  und  9,  weil 
die  Maximum  Sentence  abgelaufen  war.  Die  Zahl  der 
Todesfälle  im  letzten  Berichtsjahr  war  6,  die  Zahl  der 
Gefangenen  am  30.   September  1912  war  1297. 

Von  den  929  Paroled  haben  bis  zum  30.  September 
1912  265  ihre  Freiheit  erlangt,  525  führen  sich  gut  und 
sind  im  Begriffe,  ihre  Freiheit  zu  erlangen,  so  daß 
im  ganzen  790  der  gegen  Parole  Entlassenen,  also 
853  Prozent  entweder  ihre  Freiheit  schon  gewonnen 
haben  oder  infolge  guter  Führung  im  Begriffe  sind,  sie 
zu  gewinnen. 16) 

III.  Innere  Einrichtung. 

Die  Gefangenen  werden  in  drei  Grade  geteilt.  Jeder 
Gefangene  wird  nach  seiner  Einlieferung  in  den  zweiten 
Grad  eingereiht,  von  welchem  er,  wenn  er  sich  gut  be- 
trägt und  gute  Noten  im  Unterricht  und  in  den  Arbeits- 
schulen hat^'^),  in  den  ersten  Grad  aufsteigen  kann,  im 
anderen  Fall  aber  in  den  dritten  Grad  versetzt  wird. 
Sechs  Monate  entsprechendes  Betragen  im  zweiten  Grade 
sichert  das  Aufsteigen  in  den  ersten  Grad  und  ein  sechs- 
monatliches korrektes  Betragen  im  ersten  Grad  gibt  dem 
Gefangenen  Anspruch,  für  die  Entlassung  gegen  Parole 


1»)  R.,  1912,  p.  10.  —  Im  Jahre  1911  wurde  1  Inmate  vom 
Präsidenten  der  Union  und  1  vom  Gouverneur  begnadigt. 

^^)  Vgl.  folgende  gesetzliche  Bestimmung: 

Absolute  Release  from  Imprisonment — Discharge.  Where  it  appears 
to  the  board  of  managers  that  there  is  strong  or  reasonable  probability 
that  any  prisoner  will  remain  at  liberty  without  violating  the  law, 
and  that  his  release  is  not  incompatible  with  the  welfare  of  society, 
they  shall  issue  to  such  prisoner  an  absolute  release  or  discharge  from 
imprisonment.    (Chap.  378,  Laws  of  1900,  §  24.)   (H.  B.,  p.  137.) 

^■')  —  —  by  making  a  good  record  in  demeanor,  school  of  letters 
and  trades  school.    (H.  B.,  p.  10.) 


—     131     — 

in  Betracht  gezogen  zu  werden.  Der  Gefangene  des  dritten 
Grades  kann  auf  Grund  eines  entsprechenden  Betragens 
durch  wenigstens  einen  Monat  wieder  in  den  zweiten 
Grad  versetzt  werden.  Ein  Gefangener  des  ersten  Grades 
kann  auch  in  den  dritten  Grad  versetzt  werden,  aber 
ein  Aufsteigen  findet  immer  nur  um  einen  Grad  statt. 

Die  verschiedenen  Grade  sind  durch  verschiedene 
Kleidung  kenntlich  gemacht.  Die  Gefangenen  des  ersten 
und  zweiten  Grades  tragen  im  Winter  einen  schwarzen 
Rock  und  graue  Hosen,  im  Sommer  eine  Khaki-Uniform. 
Eine  am  Kragen  des  Jacketts  getragene  Ziffer  zeigt  den 
Grad  an.  Die  Gefangenen  des  dritten  Grades  tragen  rote 
Röcke  und  rote  Hosen  (H.  B.,  p.  10  sq.). 

Charakteristisch  für  das  Elmira  Reformatory  ist  das 
sogenannte  Marking  System.  Jeder  Gefangene  erhält  vom 
Tage  seiner  Einlieferung  bis  zu  seiner  Freilassung  einen 
bestimmten  täglichen  Betrag  auf  Grund  einer  Schätzung 
seiner  Leistungen.  Dieser  Betrag  wird  ihm  gutgebucht 
und  hat  die  Bestimmung,  eine  Art  Lohn  zu  repräsentieren 
(to   represent  wages). 

Das  Konto  jedes  der  Gefangenen  wird  aber  auch 
belastet  mit  den  Kosten  von  allem,  was  er  erhält,  für 
Mahlzeiten,  Wohnung,  Kleider,  ärztliche  Behandlung  und 
für  gegen  ihn  ausgesprochene  Geldstrafen  (fines  in- 
curred).  Nichts  erhält  der  Gefangene  unentgeltlich  mit 
Ausnahme  seiner  ersten  Ausstattung  mit  Kleidern  und 
gewissen  zur  Kleidung  zu  zählenden  Gegenständen. i^) 
Es  ist  für  den  Gefangenen  von  mittlerer  Gesundheit  und 
Intelligenz  möglich,  alle  seine  Kosten  zu  bezahlen  und 
sich  noch  eine  kleine  Summe  für  den  Fall  der  Frei- 
lassung  zu  ersparen,   welche   zur  Deckung   der  Kosten 


^^)  Zu  der  ersten  Ausstattung,  welche  dem  Gefangenen  unent- 
geltlich geliefert  wird,  gehören  folgende  Gegenstände:  coat,  vest, 
trousers,  shirt,  two  suits  of  underclothes,  cap,  shoes,  stockings,  wash- 
basin,  water-cup,  broom,  dust-pan,  comb,  hair-brush,  tooth-brush, 
blacking-brush,  box  of  blacking,  towel,  soap,  four  sheets,  two  pillow- 
•cases  and  one  blanket.    (H.  B.,  p.  12.) 

9* 


—     132     — 

des  Transports  an  seinen  Arbeitsort  und  seines  Unter- 
halts genügt,  bis  er  den  ersten  Lohn  in  der  Freiheit 
erhält. 

Die  Gefangenen  erhalten  ihre  Mahlzeiten  in  Speise- 
sälen, in  welche  sie  nach  ihrem  Grad  entsprechend  ein- 
geteilt sind.  Die  Speisen  sind  von  gleicher  Qualität,  aber 
die  Rationen  des  ersten  Grades  haben  eine  etwas  größere 
Abwechslung  als  die  der  übrigen  Grade.  Ganz  eigen- 
tümlich ist  folgende  Einrichtung :  Die  Gefangenen  der 
ersten  Klasse,  welche  bei  ihren  Ausgaben  sparsam  waren 
und  so  einen  kleinen  Überschuß  erübrigt  haben,  nehmen 
ein  besonderes  Speisezimmer  ein  und  bekommen  eine 
reichhaltigere  Mahlzeit  als  ihre  Genossen,  für  das  Mehr 
wird  natürlich  ihr  Konto  belastet.  Diese  Gefangenen 
dürfen  auch  während  des  Speisens  sprechen,  während 
die  übrigen  während  des  Essens  schweigen  müssen.  Ich 
hatte  Gelegenheit,  durch  die  Speisesäle  zu  gehen,  während 
gerade  die  Inmates  in  dieselben  geführt  wurden  und  ihr 
Mittagessen  einnahmen.  Ich  sah  die  Zimmer,  in  welchen 
geschwiegen  werden  mußte,  und  jene,  in  denen  junge 
Leute  bei  einer  Mahlzeit  fröhlich  plauderten.  Der  Genuß 
von  Tabak  in  jeder  Form  ist  in  Elmira  (im  Unterschied 
zu  Sing  Sing)  verboten. 

Die  Schlafzimmer  der  Gefangenen  sind  7  Fuß 
breit,  8  Fuß  lang  und  9  Fuß  hoch;  jedes  hat  einen 
eigenen  Ventilator,  welcher  zum  Dache  führt.  Die 
Wände  sind  weiß  gewaschen,  in  jedem  Zimmer  ist 
eine  eiserne  Bettstelle,  ein  hölzerner  Schrank,  Tisch 
und  Sessel  sowie  eine  elektrische  Lampe.  Der  Zellen- 
trakt ist  nicht  sternförmig  angelegt,  sondern  es  ist 
ein  großer  viereckiger  Block,  welcher  im  Parterre  und 
in  drei  Stockwerken  die  Zellen  enthält.  Die  Zellen 
haben  Gittertüren  und  in  jedem  Stockwerk  schließt  ein 
Gitter  sämtliche  Zellen  ab.  Die  Kleider  der  Gefangenen 
werden  in  der  Anstalt  hergestellt.  Die  ärztliche  Behand- 
lung ist  eine  außerordentlich  sorgsame.  Die  Gefangenen 
können   sich   zur  ärztlichen   Sprechstunde   melden,   das. 


—    133    — 

heißt  der  Arzt  macht  jeden  Tag  einen  Gang  durch  die 
sämtlichen  Gebäude  des  Instituts  und  bestellt  eventuell 
die  Gefangenen,  die  sich  gemeldet  haben,  zum  Senior 
Physician.  Die  Rechnung  jedes  Gefangenen  wird  mit 
einem  kleinen  Betrag  für  jede  Inanspruchnahme  des 
Arztes  belastet  (H.  B.,  p.  12).  Das  Konto  der  Inmates 
wird  auch  durch  Strafsummen  belastet,  welche  für 
die  Verletzung  der  Institutsdisziplin  auferlegt  werden 
oder  für  schlechten  Fortgang  bei  den  Schulprüfungen. 
Wenn  die  verhängten  Strafsummen  (Fines)  einen  be- 
stimmten Betrag  übersteigen,  so  wird  der  betreffende 
Monat  nicht  eingerechnet.  Umgekehrt  gilt  ein  Monat,  in 
welchem  die  Strafsumme  einen  bestimmten  Betrag  nicht 
erreicht,  als  ein  perfect  Month,  sowohl  bezüglich  des 
Aufsteigens  in  einen  höheren  Grad  wie  auch  für  die 
Erteilung  der  Parole.  Jeder  aufsichtsführende  Beamte 
(Citizen  Officer)  ist  befugt,  eine  solche  Strafe  in  Antrag 
zu  bringen,  die  von  dem  Disciplinary  Officer  nach  durch- 
geführter Untersuchung  verhängt  wird.  Die  Straferkennt- 
nisse  unterliegen  der  Berufung  an  den  General-Super- 
intendenten. Aufgefallen  sind  mir  eine  Reihe  von  In- 
mates mit  einem  kleinen  metallenen  Maltheserkreuz  auf 
dem  Kragen  des  Jacketts.  Es  ist  dies  ein  Ehrenzeichen 
(Badge  of  Honor),  welches  den  Inmates  des  ersten  Grades 
verliehen  werden  kann.  Wer  dieses  Ehrenzeichens  ver- 
lustig geworden  ist,  kann  es  nicht  wieder  bekommen. 
Über  die  Führung  der  Gefangenen  gibt  ein  Hauptbuch 
(Ledger)  Aufschluß,  von  welchem  später  noch  zu  sprechen 
sein  wird. 

Was  die  Tageseinteilung  der  Gefangenen  betrifft,  so 
ist  dieselbe  die  folgende :  Während  der  Morgenstunden 
bis  gegen  zehn  Uhr  sind  eine  große  Anzahl  der  .Ge- 
fangenen mit  häuslichen  Verrichtungen  beschäftigt, 
während  andere  einschließlich  aller  Neuankömmlinge 
militärische  Übungen  mitmachen.  In  dieser  Zeit  turnen 
auch  diejenigen  Gefangenen,  denen  der  Arzt  besondere 
Turnübungen  oder  sonstige  Behandlung   vorgeschrieben 


—     134     — 

hat,  in  der  Institutstumanstalt,  auf  welche  ich  später 
noch  zu  sprechen  komme.  Nach  zehn  Uhr  finden 
dann  militärische  Exerzitien  statt,  die  bis  gegen 
Mittag  dauern.  Die  Gefangenen  essen  um  zwölf  Uhr. 
Nachmittags  bis  gegen  halb  vier  Uhr  arbeitet  jeder 
in  der  Handwerksschule,  der  er  zugewiesen  ist.  Von 
da  ab  gehen  sie  in  die  verschiedenen  Schulklassen.  Der 
Unterricht  findet  bis  gegen  fünf  Uhr  statt.  Nach  dem 
Nachtmahl,  um  halb  sechs  Uhr  wird  jeder  in  seiner  Zelle 
eingeschlossen,  in  welcher  er  ruhen,  lesen  oder 
studieren  kann  bis  zur  Schlafenszeit  um  halb  zehn  Uhr. 
Am  Mittwoch  nachmittag  findet  statt  des  sonstigen  Schul- 
unterrichtes in  einer  der  beiden  Schulen  (der  Trade  School 
und  der  School  of  Letters)  ein  Unterricht  im  Maschinen- 
zeichnen statt.  Dann  wird  noch  exerziert  und  es  findet 
eine  Dress  Parade  statt.  Samstag  vormittag  wird  gebadet, 
der  ganze  Samstag  nachmittag  wird  militärischen  Übungen 
gewidmet,  welche  mit  einer  Parade  schließen,  von  welcher 
noch  zu  sprechen  sein  wird.  Sonntag  früh  findet  Gottes- 
dienst für  Katholiken,  Protestanten  und  Juden  statt, 
dann  Unterricht  in  Ethik  und  Geschichte.  Sehr  inter- 
essant sind  die  Einrichtungen  in  der  School  of  Letters. 
Es  gibt  32  Schulzimmer.  Den  Unterricht  in  der  Arithmetik 
und  den  Sprachunterricht  erteilen  Inmate  Instructors, 
die  übrigen  Unterrichtsgegenstände  lehren  der  Schul- 
direktor, der  Kaplan  und  auswärtige  Lehrer.  Die  Kurse 
in  der  Arithmetik  zerfallen  in  11  Gruppen  oder  Grade 
einschließlich  des  Preparatory  oder  des  11*^  grade. 
In  jedem  Grad  gibt  es  einen  viermonatigen  Kurs  und 
die  Prüfungen  finden  monatlich  statt.  Auch  die  Unter- 
richtsstunden in  der  Sprache  (Language)  sind  in  Grade 
eingeteilt,  und  zwar  in  neun  Grade  einschließlich  des 
Preparatory-Grades.  Jeder  Kurs  dauert  vier  Monate.  Der 
Lehrstoff  ist  ganz  genau  vorgeschrieben.  Es  gibt  dann 
ferner  noch  Unterricht  in  amerikanischer  Geschichte, 
Naturwissenschaften  (Nature  Studies),  Ethik,  Soziologie, 
Literatur.     An   die   Zöglinge   werden   gedruckte   Skizzen 


—     135    — 

verteilt,  welche  die  wichtigsten  Punkte,  auf  welche  sich 
die  Unterrichtsstunden  beziehen,  enthalten.i^)  Jeder  ein- 
gelieferte Gefangene  wird  von  dem  Schuldirektor  nach 
einer  Unterredung  der  entsprechenden  Klasse  zugewiesen. 

Längerer  Darlegungen  bedarf  die  Trades  School.  Der 
Vorstand  ist  ein  Citizen  Officer.  Er  unterrichtet  im 
mechanischen  Zeichnen,  an  welchem  Unterricht  alle  Zög- 
linge der  Trades  School  teilnehmen.  Derzeit  werden  29  Ge- 
werbe in  der  Trades  School  gelehrt.^o)  Vorstand  jeder 
dieser  Abteilungen  ist  ein  Citizen  Instructor,  welcher 
durch  eine  Anzahl  von  Inmate  Instructors  unterstützt 
wird.  Die  Erzeugnisse  werden,  soweit  sie  nicht  für  den 
Hausgebrauch  dienen  oder  für  öffentliche  Zwecke,  nicht 
verkauft.  Der  Hauptzweck  ist,  den  Gefangenen  zu  unter- 
richten, um  ihm  die  Möglichkeit  zu  geben,  sich  selbst 
später  zu  erhalten.  Das  ist  der  hauptsächlichste  und 
einzige  Zweck  der  Arbeit,  selbst  wenn  der  Unterricht 
und  die  Arbeit  keinerlei  nützliche  oder  verkäufliche  Pro- 
dukte fördern  würden. ^i)  Für  jedes  der  Handwerke  ist 
ein  bestimmter  Lehrplan  vorgeschrieben,  welcher  in 
mehrere  Grade  zerfällt.  Das  Aufsteigen  findet  nach  einer 
Prüfung  statt.  Der  prüfende  Citizen  Officer  erteilt  eine 
bestimmte  Ziffer  als  Note.  Eine  bestimmte  Stundenzahl 
ist  für  den  Unterricht  in  jedem  der  einzelnen  Grade 
fixiert. 

Ich  habe  mit  Dr.  Christian  die  vielen  Gebäude 
dieser  Trades  School  durchschritten,  die  Lehrer  beim 
Unterricht   und   zahlreiche   Zöglinge   bei   der   Arbeit   zu 


^')  As  aids  to  memory  printed  memoranda,  termed  outlines  are 
issued  to  the  pupils;  these  contain  the  salient  points  upon  which  the 
lectures  are  based. 

-")  Barber,  Bookbinder,  Brass-smith,  Bricklayer,  Cabinet-maker, 
Carpenter,  Clothing  cutter,  Electrician,  Frescoer,  Hard-wood  finisher, 
Horseshoer,  House-painter,  Iron-forger,  Machine-wood-worker,  Machinist, 
Moulder,  Paint-mixer,  Plasterer,  Plumber,  Printer,  Shoemaker,  Sign- 
painter,  Steam-fitter,  Stenographer  and  Typewriter,  Stone-cutter,  Stone- 
mason,  Tailor,  Tinsmith,  Upholsterer. 

^1)  Vgl.  H.  B.,  p.  134. 


—    136     — 

beobachten  Gelegenheit  gehabt.  Ich  fand  überall  größte 
Ordnung,  Reinlichkeit  und  Disziplin.  Die  vertrauensvolle 
Art,  mit  welcher  zahlreiche  Inmates  dem  Dr.  Christian 
allerlei  Anliegen  vorbrachten  und  die  überaus  menschen- 
freundliche Art,  mit  welcher  er  diese  Anliegen  wohl- 
wollend lächelnd  entgegennahm  und  beschied,  hat  mich 
sehr  sympathisch  berührt. 

Besonders  zu  erwähnen  ist  noch  der  Unterricht  in 
der  Stenographie  und  im  Maschinschreiben.  Die  Klasse 
hat  24  Zöglinge,  einen  Citizen  Instructor  und  drei  Inmate 
Teachers.  Der  Unterricht  findet  zweimal  in  der  Woche 
durch  je  zwei  Stunden  statt.  Der  Unterricht  ist  in  sieben 
Stufen  eingeteilt,  für  deren  jede  zwei  Monate  bestimmt 
sind.  Zum  Schlüsse  der  fünften  Stufe  sollen  die  Zög- 
linge 50,  nach  der  sechsten  Stufe  80  Worte  und  nach 
der  siebenten  Stufe  100  Worte  zu  stenographieren  in  der 
Lage  sein  (H.  B.,  p.  31  sq.). 

Mein  Besuch  in  der  Anstalt  fiel  in  eine  Vormittags- 
stunde, in  welcher  noch  in  der  großen  Halle  militärische 
Übungen  stattfanden.  Ich  konnte  durch  längere  Zeit  den 
Übungen  des  Institutsregiments  beiwohnen.  Es  war  ein 
eigenartiger  interessanter  Anblick.  Aufgefallen  ist  mir, 
in  welch  frischer  Art  sich  die  jungen  Leute  an  den 
Übungen  beteiligten.  Zum  Schlüsse  der  Übungen  zogen 
die  einzelnen  Abteilungen  unter  Vorantritt  der  Musik- 
kapelle ab. 

Über  die  militärische  Organisation  ist  folgendes  zu 
bemerken:  Das  Military  Department  steht  unter  dem 
Kommando  eines  Offiziers,  welcher  Oberst  heißt,  und 
die  Gefangenen  sind  als  Reformatory  Regiment  organi- 
siert. Es  gibt  auch  einen  Stellvertreter  des  Komman- 
danten, den  Lieutenant  Colonel.  Alle  Gefangenen,  welche 
nicht  durch  ärztliches  Attest  befreit  sind,  werden  dem 
Regimente  zugewiesen.  Die  Neuankommenden  werden 
vor  dem  gemeinsamen  Exerzieren  noch  besonders  ein- 
geübt. Die  Anfänger  in  militärischen  Übungen  bilden 
zusammen  eine  Abteilung,  welche  Awkward  Squad  (Re- 


—     137     — 

krutenabteilung)  heißt.  Das  Regiment  hat  ungefähr 
1200  Mann,  die  in  vier  Bataillone  zu  je  vier  Kompanien 
eingeteilt  sind.  Jedem  Bataillon  steht  ein  Citizen  Major 
vor  und  jeder  Kompanie  ein  Citizen  Captain.  Alle 
anderen  Offiziere  sind  Inmates.  Die  Inmate  Officers 
haben  im  Sommer  eine  Khaki-Uniform,  im  Winter  eine 
schwerere  aus  lichtblauem  Tuch.  Für  die  Parade  tragen 
die  Inmate  Officers  einen  weißen  Gürtel  über  Kreuz  und 
einen  Säbel  aus  Holz,  welche  für  den  Leutnant  und 
den  Regimentsadjutanten  wirkliche  Säbel  sind.  Es  gibt 
auch  eine  Regimentsmusik  (Regiment  Brass  Band), 
25  Musiker  und  einen  Tambour  Major.  Zweimal  wöchent- 
lich sind  Dress-Paraden.  Auch  Alarmierungen  kommen 
vor  (H.  B.,  p.43sq.).  Die  Samstag-Parade  des  Regiments 
ist  eine  Art  Fest  für  die  Bewohner  der  Umgegend.  Man 
liest  innerhalb  und  außerhalb  Anschläge,  welche  Damen 
und  Herren  zur  Besichtigung  der  Parade  einladen. 

Der  Dienst  in  dem  Guard  Room  Office  wird  von  einem 
Beamten  (Citizen  Clerk)  versehen,  welchem  einige  In- 
mates als  Clerks  und  Stenographen  assistieren.  In  diesem 
Raum  wird  einmal  das  biographische  Register  geführt, 
in  welchem  die  auf  die  Lebensführung  des  Gefangenen  vor 
der  Einlieferung  in  die  Anstalt  und  während  seines  Auf- 
enthaltes in  der  Anstalt  sich  beziehenden  Daten  einge- 
tragen werden  (Einreihung  in  die  Grade,  Parolierung, 
gänzliches  Freiwerden).  Ferner  wird  in  diesem  Office 
auch  das  Conduct  Ledger,  ein  Buch  über  die  Führung 
des  betreffenden  Inmate,  geführt.  In  diesem  Buche  finden 
sich  auch  Aufzeichnungen  über  das  tägliche  Verhalten 
eines  jeden  Gefangenen  (Routine).  In  demselben  ist 
also  verzeichnet,  in  welcher  Schulklasse  sich  der  Inmate 
befindet  sowie  in  welcher  Handwerkschule,  ferner  die 
Noten,  welche  er  bei  den  Prüfungen  erhalten  hat,  ebenso 
etwaige  Geldstrafen  (Eines),  welche  er  erlitten  hat,  seine 
Einnahmen  in  Marken  und  seine  Ausgaben.  Aus  diesem 
Buche  ist  also  der  tägliche  Saldo  für  den  betreffenden 
Inmate   ersichtlich.     Die   für   jeden   Inmate   bestimmten 


—     138    — 

Blätter  können  nach  der  Entlassung  dann  aus  diesem 
Buche  gelöst  und  besonders  aufbewahrt  werden.  Ein 
Blick  in  diese  beiden  Bände,  das  biographische  Register 
und  dieses  Conduct  Ledger,  läßt  also  ersehen,  wann  etwa 
der  betreffende  Inmate  voraussichtlich  paroliert  werden 
dürfte.  Dr.  Christian  schlug  mir  die  Blätter  mehrerer 
Prisoners  in  den  beiden  Bänden  auf  und  sagte  mir  von 
jedem  einzelnen,  wann  etwa  der  Betreffende  gegen  Parole 
entlassen  zu  werden  Aussicht  hätte.  Ich  fand  im  Haupt- 
buchblatt eines  wegen  Tragens  verbotener  Waffen  Ver- 
urteilten  als    Strafsatz   sieben   Jahre   eingetragen. 

Über  dem  Zellentrakt  liegt  das  große  Auditorium, 
ein  großer  Saal,  welcher  für  die  gottesdienstlichen  Ver- 
sammlungen bestimmt  ist  sowie  für  die  Konzerte  und 
Vorstellungen,  welche  den  Inmates  öfters  geboten 
werden.22) 

Es  existiert  eine  große  Anstaltsbibliothek,  welche  im 
Jahre  1906  gegen  4000  Bände  hatte.  Außerdem  sind  50  perio- 
dische Zeitschriften,  und  zwar  3  New  Yorker  und  2  lokale 
Tagesblätter,  ferner  mehrere  religiöse  Zeitschriften  und 
viele  von  den  wichtigsten  populären  Wochen-  und  Monats- 
magazinen, außerdem  Zeitschriften  über  die  Enwicklung 
der  einzelnen  Gewerbe  (Trades),  welche  im  Refor- 
matory  gelehrt  werden  (H.  B.,  p.  53  sq.),  vorhanden.  Im 
Jahre  1911  hatte  die  Bibliothek  6000  Bände,  davon 
ein  Drittel  nicht  belletristischen  Inhalts.  85.000  Bände 
wurden  im  Jahre  1911  ausgeliehen.  Jeder  Inmate  be- 
kommt nach  seiner  ersten  Unterredung  mit  dem  Schul- 
direktor einen  Katalog.  Die  Bücher,  die  er  benützen 
darf,  hängen  von  seiner  Einreihung  in  die  Schule  ab. 
Die  Bücher  belletristischen  Inhalts  sind  nicht  in  dem 
Kataloge  verzeichnet,  sondern  werden  vom  Schuldirektor 
nach  seinem  Ermessen  auf  schriftliches  Ansuchen  aus- 
geteilt.  Jeder  Gefangene  kann  auch  auf  schriftliches  An- 


^)  Im  Report  für  1912  wird  über  eine  neue  Ventilationsvorrichtung 
in  diesem  Auditorium  berichtet. 


—     139     — 

suchen  eine  Zeitschrift,  welche  sich  auf  das  Gewerbe 
bezieht,  in  welchem  er  unterrichtet  wird,  bekommen. 
Jeder  hat  das  Recht,  wöchentlich  mindestens  ein  Buch 
zu  bekommen. 23) 

Die  Anstalt  hat  eine  eigene  Druckerei,  in  welcher 
ihre  eigenen  Publikationen,  die  Reports  und  das  oben 
erwähnte  Hand  Book  gedruckt  werden.  In  dieser 
Druckerei  wird  auch  eine  eigene  Zeitung  "The  Summary" 
gedruckt.  Diese  Zeitung  erscheint  wöchentlich,  und  zwar 
jeden  Samstag  abend  in  Nummern  zu  acht  Seiten.^*) 
An  gewissen  Festtagen  erscheinen  Nummern  zu  24  Seiten, 
so  zu  Weihnachten,  Neujahr,  zu  Ostern,  am  Independence 
Day  und  am  Thanksgiving  Day.^s)   Diese  Zeitungen  sind 


'^^)  Hintrager,  a.  a.  0.,  S.  89,  erwähnt,  daß  er  in  einer  amerir 
kanischen  Strafanstalt  ein  Billardzimmer  der  Krankenpflegerinnen  ge- 
sehen habe.  Daß  in  Elmira  solche  Räume  den  Inmates  nicht  zur  Ver- 
fügung stehen,  wurde  mir  mit  Bestimmtheit  versichert.  Ich  hebe  dies 
darum  hervor,  weil  die  angeblichen  Annehmlichkeiten  des  Lebens  der 
Inmates  in  den  amerikanischen  Reformatories  und  Strafanstalten  von 
europäischen  Beurteilern  derselben  manchmal  doch  überschätzt  werden. 

2*)  "Published  weekly  by  and  for  the  inmates  of  the  New  York  State 
Reformatory,  Elmira,  New  York",  wie  es  in  jeder  der  Nummern  heißt. 

-^)  Dr.  Christian  hatte  die  Güte,  mir  die  Osternummer  und  die 
Weihnachtsnummer  des  Jahres  1912  sowie  einige  Nummern  vom  Fe- 
bruar und  März  1913  zu  übersenden.  Die  Weihnachtsnummer  enthält 
auf  ihrer  ersten  Seite  ein  Weihnachtsgedicht  "To  Men"  des  Editor-in- 
chief,  auf  der  zweiten  Seite  unter  dem  Titel  "The  Nativity"  eine  An- 
zahl von  Versen  aus  dem  Evangelium  des  heiligen  Lukas,  auf  der 
vorletzten  Seite  dann  einen  Aufsatz  Christmas  Customs  and  Super- 
stitions und  auf  der  letzten  Seite  ein  Gedicht  „Nascitur"  vom  Asso- 
ciate  Editor.  Sowohl  der  Editor-in-chief  wie  der  Associate  Editor 
werden  nicht  mit  ihren  Namen,  sondern  mit  der  Inmate-Ziffer  in  jeder 
Nummer  genannt.  Der  Inhalt  auch  der  gewöhnlichen  Wochennummern 
ist  ein  erstaunlich  reichhaltiger.  So  enthält  zum  Beispiel  die  Nummer 
vom  I.März  1913  folgende  Auf  sätze :  "Inquiry  into  Death  of  Madero", 
"Extra  Sessions,  April  1",  "Friedman  will  give  eure  to  world", 
"The  Opium  Traffic",  "The  Crisis  in  Mexico",  "The  Sixteenth  Amend- 
ment" (besprochen  wird  das  16.  Amendment  zur  Verfassung  der  Ver- 
einigten Staaten,  betreffend  die  Income  Tax  und  wie  sich  die  einzelnen 
Staaten  der  Union  zu  diesem  "Income  Tax  Amendment"  stellen), 
"Cutting  Up",  "Whys  and  Wherefores",  "Local  Notes"  (hier  finde  ich 


—     140     — 

unter  der  Oberaufsicht  der  Anstaltsleitung  von  Inmates 
herausgegeben  und  gedruckt.  Die  Zeitung  enthält  Mit- 
teilungen von  allgemeinem  Interesse  aus  sonstigen  Tages- 
und periodischen  Schriften,  gelegentlich  Artikel  von  In- 
mates oder  von  Beamten  der  Anstalt,  Notizen,  welche 
sich  auf  die  Vorkommnisse  in  der  Anstalt  beziehen. ^6) 
Aufsätze  von  strafbarem  oder  sonst  nicht  einwandfreiem 
Inhalt   sind   ausgeschlossen, ^7) 

Die  Nettoauslagen  für  die  Erhaltung  der  Anstalt  und 
der  Gefangenen  waren  im  Jahre  1912  (A.  R.,  1912,  p.  24) 


zum  Beispiel  folgende  Notizen :  "This  week's  poem  in  the  American 
History  Series  will  be  found  on  page  seven."  "The  Ethics  Examination 
will  be  held  on  March  9th  instead  of  March  2d";  ferner  Mitteilungen 
über  die  Zeit,  wann  ein  bestimmter  Gefangener,  der  nur  mit  seiner 
Ziffer  bezeichnet  wird,  die  Anstalt  verlassen  wird;  Mitteilungen  über 
die  Prüfungsergebnisse  im  Sprachunterricht,  in  dem  die  Ziffern  jener 
Gefangenen  mitgeteilt  werden,  welche  bei  der  Prüfung  Prozentsätze 
über  90  erhalten  und  außerdem  die  besten  Resultate  erzielt  haben.  — 
Mitteilungen  über  die  Gottesdienststunde  am  folgenden  Sonntag  sowie 
über  die  Bewegung  der  Bevölkerung  in  der  Anstalt;  die  erste  Angabe 
lautet :,Number  of  Inmates:  —  1409).  —  "Current  Events  (At  Home 
and  Abroad;  hier  wird  erzählt  von  der  gefährlichen  Fahrt  eines 
deutschen  Fliegers  in  Essen);  dann  eine  Erzählung  "Teachers  of 
Teachers"  by  Winifred  Kirkland;  auf  p.  7  steht  dann  ein  Gedicht 
aus  der  amerikanischen  Geschichte.  Schließlich  hat  die  letzte  Seite 
die  Überschrift:  "Amateur,  Miscellaneous  Sports,  Professional." 

^^)  In  Elmira  werden,  wie  Baernreither,  a.  a.  0.,  S.  95  f.,  mit- 
teilt, außer  dieser  Wochenschrift  für  die  Insassen  auch  strafrechtliche 
Abhandlungen  gedruckt.  Baernreither  teilt  Ausführungen  aus  einer 
in  einem  dieser  Hefte  erschienenen  strafrechtlichen  Abhandlung  eines 
Inmate  mit. 

'")  "All  matter  of  a  criminal  or  otherwise  objectionable  character  is 
carefully  excluded"  (H.  B.,  p.  55).  Über  den  Inhalt  und  das  Programm  der 
Wochenschrift  finden  sich  in  dem  H.  B.,  p.  55,  folgende  Bemerkungen: 
"The  Contents  of  the  paper  include  general  news  selected  from  the 
leading  news  papers  and  periodicals,  editorial  comments,  local  institu- 
tional  items  of  interest  to  the  prisoners,  occasional  articles  contributed 
by  inmates,  or  Citizen  offieers  notices  of  an  institutional  character; 
together  with  a  record  showing  total  number  of  inmates  at  time  of 
writing;  also,  number  received,  discharged,  paroled,  or  returned  for 
violation    of   parole   during   the    current  week;    likewise  a  record   of 


—     141     — 

244.728  Dollars  44  Cents.  Die  Durchschnittskosten  für 
die  Erhaltung  eines  Gefangenen  betrugen  täglich  4  Dollars 
83  Cents.28) 

,  Das  Institutshospital  steht  unter  der  Aufsicht  eines 
Arztes,  seines  Assistenten  und  eines  Citizen  Officers. 
Es  gibt  auch  mehrere  Inmate  Helpers  and  Attendants, 
als  welche  vor  allen  Rekonvaleszenten  verwendet  werden. 
Die  Einrichtungen  des  Hospitals  sind  ausgezeichnet,  es 
gibt  eigene  Zimmer  für  infektiös  und  eigene  Zimmer 
für  tuberkulös  Erkrankte  (H.  B.,  p.  60). 

Die  Turnanstalt,  das  Gymnasium  —  vgl.  Hand  Book, 
p.  60  sq.  —  ist  ein  Backsteinbau  von  140  Fuß  Länge 
und  80  Fuß  Breite.  Es  enthält  einen  Saal  mit  Tum- 
apparaten,  Badezimmer  und  den  Ankleideraum  und  ist 
mit  Dampf  geheizt.  Die  eigentliche  Turnhalle  ist  100  Fuß 
lang  und  80  Fuß  breit.  200  Zöglinge  können  gleich- 
zeitig turnen.  Geturnt  wird  in  eigenen  Turnanzügen,  die 
im  Gymnasium  in  eigenen  kleinen  Räumen  aufgehoben 
werden.  Es  gibt  zwei  Klassen  von  Zöglingen,  die  eine 
ist  zusammengesetzt  aus  allen  Neuankommenden,  welche 
wir  früher  als  Awkward  Squad  erwähnt  haben;  sie  zählt 
ungefähr  200  Mann.  Außerdem  gibt  es  eine  Abteilung  von 
200  Zöglingen,  von  welchen  150  vormittags  und  50  nach- 
mittags der  Tumanstalt  zar  besonderen  körperlichen  Be- 
handlung zugewiesen  sind,  das  ist  die  Klasse  für  Körper- 
pflege, die  Physical  Culture  Class.  Diese  Klasse  turnt 
jeden   Tag    vor-   und    nachmittags    mit  Ausnahme    des 


changes  in  grade,  number  in  school  of  letters,  and  in  the  trades 
school,  and  other  information  of  loeal  or  general  interest.  Herr, 
a,  a.  0.,  S.  420  bis  451,  teilt  eine  Übersetzung  der  Wochenscbrift 
"The  Summary",  Nr.  1033,  vom  2.  Jänner  1904,  mit. 

-*)  Im  Jahre  1911  (A.  R.,  p.  25)  betrugen  die  gesamten  Er- 
haltnngskosten  239.041  Dollars  71  Cents  und  die  täglichen  Kosten  für 
einen  Gefangenen  5  Dollars  11  Cents.  Das  Sinken  der  durchschnitt- 
lichen Kosten  für  den  einzelnen  Gefangenen  im  letzten  Jahre  ist  eine 
Folge  der  stärkeren  Inanspruchnahme  der  Anstalt  im  Jahre  1912,  denn 
im  Jahre  1911  hatte  das  Reformatory  eine  tägliche  Durchschnitts- 
bevölkerung von  1282-32  und  im  Jahre  1912  von  1382-86. 


—     142     — 

Samstag  nachmittag,  welcher  der  Anfängerklasse  vor- 
behalten ist.  Die  Zöglinge  dieser  Klasse  verbleiben  in 
derselben  so  lange,  als  dies  der  Arzt  für  nötig  findet. 
Ich  habe  dem  Turnen  der  Nachmittagsklasse  zugesehen, 
Dr.  Christian  hat  eine  Reihe  von  Zöglingen  genau  be- 
fragt und  besichtigt  und  ich  war  über  die  starke  körper- 
liche Entwicklung  der  Jungen  überrascht.  Jeder  wird 
beim  Eintritt  in  die  Klasse  photographiert  und  so  ist 
das  Fortschreiten  seiner  körperlichen  Entwicklung  leicht 
konstatierbar.  Die  Zöglinge  dieser  Klasse  baden  zweimal 
wöchentlich  und  haben  ärztlich  genau  vorgeschriebene 
Bäder.  Es  gibt  Schwitzbäder,  Duschbäder,  Schwimm- 
bäder von  160  R  (780  F).  Der  Baderaum  ist  285  Fuß 
lang  und  65  Fuß  breit  und  liegt  in  einem  eigenen  Ge- 
bäude (H.  B.,  p.  63  sq.).  Im  Baderaum  gibt  es  110  Bade- 
wannen. Normalerweise  baden  alle  Zöglinge  jeden 
Samstag  früh.  Ich  bin  auch  durch  das  großartig'  ange- 
legte Maschinengebäude  gegangen  (Power  House)  und 
habe  die  Waschanstalt  durchschritten  (H.  B.,  p.  65  sq.). 
Aufgefallen  sind  mir  die  Inmate  Messenger  Boys. 
Eine  Anzahl  von  Zöglingen  werden  als  Messengers  ver- 
wendet, sie  sind  an  ihrer  Kappe  als  solche  kenntlich 
und  zirkulieren  mit  verschiedenen  Nachrichten  und 
Posten  zwischen  den  einzelnen  Gebäuden  der  großen 
Anstalt,  Es  gibt  natürlich  eine  Barbierstube,  in  welcher 
Gefangene  als  Barbiere  tätig  sind,  auch  die  Beamten  der 
Anstalt  werden  von  diesen  Barbers  bedient.  Beim  Eintritt 
in  die  Anstalt  erfolgt  eine  Untersuchung  durch  den  Super- 
intendenten, beziehungsweise  dessen  Assistenten  (In- 
quiry)  sowie  durch  den  Arzt.  Der  Ankömmling  wird 
photographiert  und  die  vorgeschriebenen  Messungen  an 
ihm  vorgenommen,  zum  Beispiel  die  Daktyloskopie  nach 
dem  Bertillonschen  System.  Es  folgt  sodann  die  Zu- 
weisung durch  den  Direktor  der  Trades  School  an  die 
entsprechende  Abteilung  und  durch  den  Schuldirektor 
an  die  entsprechende  Klasse  und  die  Aufnahme  in  die 
Rekrutenabteilung  (Awkward  Squad). 


—     143     — 

Es  kann  eine  Überweisung  des  Gefangenen  an  eine 
andere  Anstalt  stattfinden,  und  zwar :  1.  an  ein  gewöhn- 
liches Staatsgefängnis,  einmal  wenn  er  im  Zeitpunkte 
seiner  Verurteilung  älter  war  als  30  Jahre,  2.  wenn  er 
vorher  wegen  eines  Verbrechens  verurteilt  war,  und 
3.  wenn  er  sich  im  Reformatory  als  so  unverbesserlich 
erweist,  daß  sein  Verbleiben  eine  Gefahr  für  die  übrigen 
bedeutet.  Diese  Zuweisung  in  das  Staatsgefängnis  er- 
folgt auf  Grund  einer  Eingabe  des  Board  of  Managers 
an  einen  Richter  des  Supreme  Court  des  Bezirkes,  in 
welchem  das  Reformatory  liegt.  Eine  weitere  Zuweisung 
an  eine  andere  Anstalt  findet  statt,  wenn  der  Gefangene 
insain  (geisteskrank)  ist.  Der  Superintendent  v^eranlaßt 
dann  die  Zuweisung  an  das  Dannemora  Hospital  for  Insain 
Convicts.  Im  Jahre  1912  (1.  Oktober  1911  bis  30.  Sep- 
tember 1912)  wurden  sieben  Inmates  von  Elmira  nach 
Dannemora  Hospital  überstellt,  einer  in  das  Clinton- 
Gefängnis,  acht  in  die  Strafanstalt  Auburn  (A.  R.,  1912, 

p.    10).29) 

In  dem  Berichte  der  Direktoren  (Board  of  Managers) 
für  die  Zeit  vom  1.  Oktober  1910  bis  30.  September  1911 
(p.  17),  finde  ich  die  Bemerkung,  daß  mindestens  ein 
Drittel  aller  Insassen  von  Elmira  als  Defectives,  also  als 
minderwertig  zu  erklären  sind.  In  dem  Berichte  für  die 
Zeit  von  1909  auf  1910  (p.  16),  wird  ausgeführt,  daß 
der  damalige  Chefarzt  Dr.  Frank  L.  Christian 
37'4  Prozent  aller  Eingelieferten  als  Mentally  Defective 
und  nur  31  Prozent  als  in  guter  physischer  Kondition 
befindlich  erklärt  hat.  Dieses  medizinisch  fachmännische 
Urteil  ist  ein  Beleg  für  die  menschenfreundliche  Gesinnung 
des  gegenwärtigen  Assistant  Superintendent  des  Refor- 
matory in  Elmira. 

Zwischen  den  beiden  Speisesälen,  in  deren  einem 
die  Schweigenden,  in  dem  anderen  die  reden  Dürfenden 

29)  Im  Jahre  1911  (14.  Oktober  1910  bis  30.  September  1911) 
wurden  17  Inmates  von  Elmira  nach  Donnemora  Hospital,  3  in  die 
Strafanstalt  Auburn  gebracht.  (R.,  1911,  p.  10.) 


—     144     — 

speisen,  waren  auf  einer  großen  Tafel  auf  weißem  Grund 
verschiedene  Neuigkeiten  der  letzten  Tage  in  schwarzer 
Schrift  aufgeschrieben,  eine  Art  Diary,  das  ist  Tages- 
zeitung für  die  Inmates.  Zum  Beispiel  wurde  der  Stand 
verschiedener  Golf-  und  Football  Matches  mitgeteilt, 
welche  am  Tage  meines  Besuches  die  Gemüter  in 
Spannung  erhielten. 

Den  Lunch  nahm  ich  in  Gesellschaft  des  Dr.  Frank 
L.  Christian  ein.  Gleichzeitig  speisten  der  Colonel  des 
Regiments  und  der  Schuldirektor.  Das  Menü  war  ein- 
fach, aber  gut,  Suppe,  ein  Stück  Beef,  Pudding,  schwarzer 
Kaffee,  natürlich  kein  Alkohol.  Das  Menü  war  von  Ge- 
fangenen gekocht  und  serviert. 

Die  Versendung  nach  Elmira  wird,  wie  nochmals 
ausdrücklich  hervorgehoben  sein  mag,  nicht  als  Strafe 
angesehen,  sondern  als  Versendung  in  ein  Reformatory. 
Der  Richter  spricht,  soweit  es  sich  um  Sentenced  for 
indefinite  terms  handelt,  überhaupt  keine  Strafe  aus, 
sondern  er  versendet  nach  Elmira.  Der  Arbeitseifer,  der 
Tätigkeitstrieb  wird  in  Elmira  angespornt.  Von  reger 
Pflichterfüllung  hängt  die  baldige  Erlangung  der  Freiheit 
ab.  Dazu  sieht  die  öffentliche  Meinung  in  dem  Auf- 
enthalt in  Elmira  unzweifelhaft  einen  geringeren  Makel 
als  in  dem  Aufenthalt  in  einem  sonstigen  Gefängnis. 
Das  sind  wichtige  Gründe  für  das  System,  welches  nicht 
soviel  Nachahmung  in  Amerika  gefunden  hätte,  wenn 
es  sich  nicht  ausgezeichnet  bewährte. ^o)  Die  öffentliche 
Meinung  hat,  wie  ich  übereinstimmend  gehört  habe, 
vollstes  Vertrauen  für  die  Leitung  der  Anstalt  und  für 
deren  Erfolge.^i) 

^)  Vgl.  hiezu  die  ausgezeichneten  Ausführungen  des  früheren 
General-Superintendenten  der  beiden  Reformatories  des  Staates  New 
York,  Joseph  F.  Scott,  im  H.  B.,  p.  112  sq.:  "Effect  of  Reformatory 
Treatment  on  Crime". 

'1)  Bei  Baernreither,  a.  a.  0.,  S.  981,  wird  von  einer  1900 
ausgebrochenen  Krise  in  der  Leitung  von  Elmira  erzählt,  welche  in 
ihren  Konsequenzen  längst  überwunden  ist. 

Daß    "das   moderne    amerikanische   Besserungssystem  und  seine 


—    145    — 

In  dem  Berichte  für  das  Jahr  1912  (1.  Oktober  1911 
bis  30.  September  1912),  p.  78,  finde  ich  folgende  An- 
gaben: Seit  der  Errichtung  der  Anstalt,  nämlich  in  der 
Zeit  von  1876  bis  1912,  sind  22.263  Gefangene  Inde- 
finitely  Sentenced  nach  Elmira  gesendet  worden, ^2)  Von 
diesen  sind  11.688,  also  52-49  Prozent  im  Alter  von 
16  bis  20  Jahren  gewesen,  8107  oder  36*44  Prozent 
im  Alter  von  20  bis  25  Jahren  und  2648  oder  11-09  Prozent 
zwischen  25  und  30  Jahren.  8872  oder  37- 20  Prozent 
waren  protestantisch,  10.921  oder  49-05  Prozent  waren 
römisch-katholisch,  2783  oder  12-50  Prozent  waren 
Juden  und  nur  277  oder  124  Prozent  waren  ohne 
Religion  (none). 

Was  die  Art  der  Delikte  betrifft,  wegen  welcher  die 
Versendung  stattgefunden  hatte,  so  waren  im  Jahre  1912 
(1.  Oktober  1911  bis  30.  September  1912)  83-29  Prozent 
wegen  Verbrechen  gegen  das  Eigentum,  15-45  Prozent 
wegen  Verbrechen  gegen  die  Person  und  1-24  Prozent 
wegen  Verbrechen  gegen  die  öffentliche  Ordnung  ver- 
urteilt worden.33) 


Ergebnisse  die  Billigung  und  Befriedigung  der  öffentlichen  Meinung 
und  der  Wissenschaft  Amerikas  gefunden  haben",  begründet  Herr, 
a.  a.  0.,  S.  379  ff.,  in  längerer  Ausführung.  Über  die  manchmal  weniger 
günstige  europäische  Kritik  wird  ebenda,  S.  382,  berichtet.  Besonders 
beachtenswert  sind  der  von  Hintrager,  "Amerikanisches  Gefängnis- 
und  Strafenwesen",  S.  42  ff.,  erhobene  Einwand  gegen  das  System,  daß 
die  Unbestimmtheit  des  Strafurteils  und  die  hohen  Anforderungen  der 
Anstalt  den  Geist  der  Gefangenen  in  eine  gefahrbringende  nervöse 
Spannung  und  Unruhe  versetzen,  und  die  gegen  diesen  Einwand  geltend 
gemachten  Ausführungen  Herrs.  Den  günstigen  Urteilen  über  das 
System  schließt  sich  auch  Herr,  a.  a.  0.,  S.  395,  an. 

^^)  Die  Zahl  der  Sentenced  for  definite  terms  hat  während  der 
Zeit  von  1876  bis  1912  828  betragen. 

22)  R.,  1912,  p.  79,  wo  es  infolge  eines  Eechen-  oder  Druck- 
fehlers 88-29  Prozent  statt  8329  Prozent  heißt.  —  Im  Report  für  1911, 
p.  68,  finden  sich  folgende  Ziffern:  83*43  Prozent  wegen  Verbrechen 
gegen  das  Eigentum,  1558  Prozent  wegen  Verbrechen  gegen  die 
Person  und  nur  0-99  Prozent  Avegen  Verbrechen  gegen  die  öffentliche 
Ordnung  (the  peace). 

Hanaus ek,  Amerikanische  Skizzen.  10 


—     146    — 

An  die  Anstalt  schließt  sich,  wie  schon  oben  er- 
wähnt, eine  Farm  von  280  Acres  an,  welche  ausschließ- 
lich von  Inmates  bearbeitet  wird.  Die  Farm  enthält 
50  Acres  Weideland,  25  Acres  Waldland  und  8  Acres 
für  einen  Apfelobstgarten.  Über  die  Bearbeitung  und  die 
Erträgnisse  dieser  Farm  wird  im  Hand  Book  (p.  68  sq.) 
berichtet:  Außerhalb  der  Umfassungsmauern  der  An- 
stalt (Enclosure)  befindet  sich  in  einem  eigenen  Ge- 
bäude ein  Treibhaus  (Greenhouse),  welches  von  einem 
Gärtner,  einem  Citizen  Officer  und  einer  Anzahl  von 
Inmates  besorgt  wird  (p.  70). 

Das  Hand  Book  enthält  auf  p.  71  bis  p.  110  einen 
Aufsatz  von  F.  C.  Allen,  "The  Institutional  Experiences 
of  Peter  Luckey",  in  welchem  die  Erlebnisse  eines  ge- 
wesenen Bewohners  der  Anstalt  mitgeteilt  werden.  Dieser 
äußerst  lesenswerte  Aufsatz  ist  in  deutscher  Übersetzung 
in  dem  oben  S.  10  zitierten  Buche  von  Gudden,  S.  132, 
mitgeteilt.  Der  Aufsatz  schließt  mit  folgendem  Briefe, 
den  Peter  Luckey  nach  seiner  Entlassung  gegen  Parole 
an  den  damaligen  Superintendenten  der  Anstalt  Mr.  Scott 
geschrieben  hat: 

W^  St.,  New  York, 

March  U^\  190  .  . 
Mr.   S  c  o  1 1 : 
Dear  Sir  — 
I  make  report  to  you  sir.    I  am  staying  at  my 
Aunt  Kate's  four  weeks  now.    My  boss  says  I  take 
pains   with   my   work.    I   worked   at   my   trade   all 
but  three  days.    I  got  $    11*40  and  I  got  new  cloes 
and   a   watch  and   chain.    I   did  not   get  into  fites 
as  I  told  you.    Hoping  you  are  well  Mr.  Scott, 

Very  truly  yours, 

Peter  Luckey, 


—     147    — 

VI.  Kapitel. 

Das  Hüll  House  und  die  Parks  in  Chicago. 

Dr.  Healey  hatte  die  Güte,  mit  mir  das  Hüll  House 
zu  besuchen  und  mich  Miss  Jane  Addams,  welche  sich 
um  die  Begründung  und  um  die  Entwicklung  desselben 
diie  größten  Verdienste  erworben  hat,  vorzustellen. 

Das  Huil  House  liegt  in  nächster  Nähe  des  Gebäudes, 
in  welchem  das  Jugendgericht  untergebracht  ist.  Es 
bildet  eine  Gruppe  von  13  Gebäuden  zwischen  der 
Halsted,  Ewing  und  Polk  Street*  Das  Hüll  House  trägt 
seinen  Namen  nach  dem  Erbauer  des  ersten  Grund- 
hauses i)  des  heutigen  Settlement,  Mr.  Charles  J.  Hüll. 
Dieses  Grundhaus  ging  dann  in  das  Eigentum  der  Erbin 
seines  Erbauers,  Miss  Helen  Culver,  über.  Miss  Helen 
Culver  stellte  den  Gründerinnen  des  heutigen  Settlement 
das  Haus  unentgeltlich  zur  Verfügung. 2)  Auf  den  von 
Miss  Helen  Culver  zur  Verfügung  gestellten  Grund- 
stücken entstanden  dann  die  weiteren  Gebäude  des  Hüll 
House.  Am  18.  September  1889  zogen  Miss  Jane  Addams, 
Miss  Starr  und  Miss  Mary  Keyser  in  das  Hüll  House 
ein  und  wurden  so  die  Begründerinnen  dieses  Settlement. 
Das  Hüll  House  wurde  begründet,  um  ein  Zentrum  für 
ein  höheres  politisches  und  soziales  Leben  zu  schaffen, 
um  erzieherische  und  philanthropische  Unternehmungen 
einzuführen  und  zu  erhalten  und  ferner,  um  die  Lebens- 
bedingungen in  den  industriellen  Bezirken  von  Chicago 
zu  untersuchen  und  zu  bessern. 3) 


^)  Das  Grundhaus  wurde  1856  erbaut. 

')  "Its  generous  owner,  Miss  Helen  Culver,  .  .  .  .  gave  .  .  a  free 
leasehold  of  the  entire  house."  (Jane  Addams,  "Twenty  Years  at 
HuU  House",  p.  93  sq.) 

^)  To  provide  a  center  for  a  higher  civic  and  social  life;  to  Institute 
and  maintain  educational  and  Philanthropie  enterprises,  and  to  inve- 
stigate  and  improve  the  conditions  in  the  industrial  districts  of 
Chicago  (Hüll  House  Year  Book,  January  Ist,  1913,  p.  5).  —  Das 
Hüll  House  ist  eines  der  größten   und  wichtigsten  Settlements.   Über 

10* 


—     148     — 

Das  Hüll  House  steht  unter  der  Leitung  eines  Ver- 
eines (Body)  von  sieben  Trustees,  dessen  Präsidentin 
Miss  Jane  Ad  da  ms  ist.  Das  Hüll  House  soll  einmal 
Personen,  Männer  und  Frauen,  beherbergen,  welche  die 
Lebensbedingungen  armer  Arbeiter  und  Einwanderer  aus. 
eigener  Anschauung  kennen  zu  lernen  sich  bemühen  (Resi- 
dents).  Die  Residents  leben  auf  ihre  eigenen  Kosten.  Diese 
"Students"  brauchen  keine  Universitätsbildung  genossen 
zu  haben,  aber  die  Mehrheit  derselben  war  immer  College 
People.  Sie  sind  verpflichtet,  mindestens  zwei  Jahre  im  Hüll 
House  zu  wohnen.  Die  meisten  dieser  Residents  widmen 
ihre  freie  Zeit,  und  zwar  fast  ausnahmslos  unentgeltlich, 
den  Zwecken  der  Anstalt.  Diese  Residents  teilen  sich 
in  zwölf  Komitees  mit  verschiedenen  Aufgaben,  welche 
monatlich  mindestens  einmal  zusammenzutreten  ver- 
pflichtet sind  und  einer  Versammlung  der  Residents  zu 
berichten     haben.      Außerdem    kommen    150   Personen 


Settlements  vgl.  E.  Münsterberg,  "Amerikanisches  Armenwesen'V 
S.  98fE.  Bei  Münsterberg,  S.  102,  finde  ich  folgende  Stelle  aus  einem 
Aufsatz  von  Graham  Taylor  zitiert:  "Das  Settlement  ist  keine  Kirche, 
aber  es  ist  der  Gehilfe  aller  Kirchen.  Es  ist  keine  Wohltätigkeits- 
anstalt, aber  es  unterstützt  die  Organisation  und  gegenseitige  Hilfe- 
leistung aller  Wohltätigkeitseinrichtungen.  Es  ist  keine  Schule,  aber 
es  ist  den  Volksschulen  zu  gemeinsamem  Wirken  verbunden  und  will 
ihnen  gern  einen  Teil  seiner  Arbeit  überlassen,  den  sie  übernehmen 
wollen.  Es  gehört  keiner  Partei  an,  hat  aber  seit  nahezu  einem  Jahr- 
zehnt in  den  Kämpfen  um  die  politische  Macht  bei  städtischen  und 
staatlichen  Wahlen  sein  Gewicht  in  die  Wagschale  werfen  können.  Es 
ist  nicht  ein  ausschließlich  sozialer  Kreis,  aber  es  strebt  danach, 
Mittelpunkt  und  Quelle  wahrhaft  sozialen  Lebens  und  höchster  Vater- 
landsliebe zu  sein.  Es  ist  keine  'klassenbewußte'  Gruppe,  sondern  im 
Gegenteil  bemüht,  Klassenunterschiede  zu  verwischen,  zwischen  den 
verschiedenen  Klassen  zu  vermitteln  und  den  sozialen  Frieden  her- 
zustellen." Ferner  führt  Münsterberg  folgende  Äußerung  von  Karl 
Schurz  an:  "In  dem  Bestreben,  die  Trennung  der  verschiedenen 
Klassen  zu  überbrücken,  ist  keine  Einrichtung  mehr  der  Wertschätzung, 
der  Ermutigung  und  der  Unterstützung  würdig.  Das  Uuiversity  Sett- 
lement ist  die  in  der  Absicht  organisierte  Arbeit,  die  höhere  Kultur 
und  die  sozialen  Elemente,  die  sie  vertritt,  in  nächste  und  sympathische: 
Berührung  mit  den  ärmeren  Klassen  zu  bringen." 


—     149     — 

wöchentlich  in  das  Hüll  House  als  Lehrer,  Besucher 
oder  Direktoren  von  Clubs,  welche  Non  Residents  der 
Anstalt  viel  Zeit  und  wertvolle  Dienste  widmen. 
9000  iMenschen  kommen  während  der  Wintermonate 
wöchentlich  in  das  Hüll  House,  sei  es  als  Mitglieder 
einer  in  der  Anstalt  untergebrachten  Organisation  oder 
als  Zuhörer.  Am  ersten  Freitag  und  Samstag  im  Mai 
jedes  Jahres  wird  eine  Ausstellung  der  Arbeiten  der 
Kunstschule  und  der  technischen  Klassen  des  HuU  House 
abgehalten.  Während  dieser  zwei  Tage  finden  Auf- 
führungen in  der  Hüll  House-Musikschule,  der  Theater- 
vereine, turnerische  Vorführungen  und  Konzerte  einer 
Hauskapelle  (Boys  Club  Band)  statt.  Volkstümliche  Uni- 
versitätsvorlesungen finden  ebenfalls  im  Hüll  House 
statt.  Es  gibt  einen  Schulunterricht  für  Erwachsene;  im 
englischen  Abendunterricht  sind  für  das  laufende  Jahr 
300  Zöglinge  eingeschrieben.  In  die  Technical  Classes 
für  den  Unterricht  im  Kochen,  im  Kleidermachen 
und  für  Putzmacherinnen  (Millinery)  waren  205  ein- 
geschrieben. Es  wird  auch  Unterricht  im  Weben  und 
Sticken  und  in  anderen  Domestic  Arts  erteilt,  ferner 
Unterricht  im  Spinnen  sowie  in  der  Buchbinderei.  Ebenso 
wird  Kunstunterricht  im  Zeichnen,  Schreiben  (Lettering), 
Malen,  im  Modellieren  erteilt.  Samstag  nachmittags 
werden  Ausflüge  unternommen,  damit  die  Schüler  im 
Freien  skizzieren. 

Im  Hüll  House  gibt  es  einen  Frauenklub,  der  seit 
dem  Jahre  1891  besteht  und  gegenwärtig  1200  Mitglieder 
hat.  Der  Klub  veranstaltet  behufs  Sammlung  von  Bei- 
trägen für  öffentliche  Wohltätigkeitsanstalten  jährlich  eine 
Anzahl  von  Vergnügungen,  dann  eine  Art  Maifahrt  für 
Kinder,  Vorträge  und  Preisverteilungen  für  Kinder,  welche 
in  den  öffentlichen  Schulen  gute  Zeugnisse  erhalten 
haben. 

Es  gibt  auch  einen  HuU  House  Boys'  Club,  welcher 
1500  Mitglieder  zählt  und  in  einem  eigenen  fünf  Stock 
hohen  Gebäude  untergebracht  ist.    Der  Klub  hat  Kegel- 


—     150    — 

bahn,  Spielzimmer,  eine  Bibliothek  und  einen  Leseraum, 
Musikzimmer,  Unterrichts-  und  Werkstätten  zum  Unter- 
richt in  den  mannigfachsten  Fertigkeiten.*) 

Die  Klubräume  sind  jeden  Wochentag  von  drei  bis 
zehn  Uhr  nachmittags  offen  und  die  Mitgliedschaft  wird 
gegen  einen  Beitrag  von  fünf  Cents  monatlich  erworben. 
Dieser  Klub  umfaßt  wieder  die  verschiedensten  Spezial- 
klubs,  so  gesellige  und  athletische  Klubs,  Pfadfinderklubs 
(Boy  Scouts).^)  Seit  zwei  Jahren  kampiert  der  Boys' 
Club  in  jedem  Jahre  einen  Teil  des  Sommers  an  einem 
Orte  der  Küste  des  Michigan-Sees.  Die  jungen  Leute 
führen  hier  ein  Camp  Life  in  Zelten,  baden,  fahren  Boot 
und  treiben  Sportspiele.  Zwischen  200  und  250  Jungen 
erfreuen  sich  jedes  Jahr  eines  zweiwöchentlichen  Aufent- 
haltes in  diesem  Camp,  werden  frei  hin-  und  herbefördert 
und  zahlen  bloß  im  Alter  unter  12  Jahren  1  Dollar 
50  Cents,  zwischen  12  und  16  Jahren  2  Dollars  50  Cents 
und  im  Alter  von  über  16  Jahren  3  Dollars  50  Cents  für 
einen  zweiwöchentlichen  Aufenthalt. 

Es  gibt  auch  Hüll  Rouse-Männerklubs,  so  den  Mer- 
cury  Club  von  60  Mitgliedern,  welche  sich  vor  allem 
Sportspielen  widmen  und  zugleich  sich  in  der  Turnanstalt 
als  Leiter  der  Übungen  der  Jungen  betätigen.  Dann  gibt 
es  den  griechisch-amerikanischen  Athletic  Club,  ferner 
einen  Klub  der  Elektriker ;  auch  die  organisierten  Arbeiter, 
Gewerkschaften  (Trades  Unions)  haben  ihre  Versamm- 
lungen im  Hüll  House.  Es  gibt  russische,  deutsche,  grie- 
chische, italienische  Klubs,  die  im  Hüll  House  ihre  Zu- 
sammenkünfte haben.    Dann   gibt  es   auch  eine   School 


*)  Unterrichtet  wird:  "in wood working,  forging,  brass  moulding, 
tinsmithing,  machine  woork,  electric  wiring,  cobbling,  photography, 
clay  modelling,  printing,  telegraphy,  and  office  work,  including  tele- 
phony,   hill  and  letter  filing,    and  typewriting."    (Year  Book,  p.  17.) 

')  Gegenwärtig  gibt  es  102  solcher  Boy  Scouts,  von  welchen 
78  Nachmittag-Boys  und  24  Abend-Boys  sind.  Der  Boy  Club  hat  auch 
eine  eigene  Musikbande,  in  einer  kleidsamen  Uniform,  blaue  Hosen 
und  rote  Röcke. 


—     151     — 

of  Citizenship,  welche  während  der  letzten  Präsidenten- 
Wahlkampagne  eingerichtet  wurde  und  welche  unter 
anderem  auch  dazu  dient,  den  Einwanderern  Papiere  für 
die  Beteiligung  an  den  Wahlen  zu  beschaffen.  Es  gibt 
ein  Lesezimmer  für  fremde  Zeitungen,  in  welchem  fran- 
zösische, deutsche,  russische,  italienische  und  jüdische 
(Yiddish)  Zeitungen  gelesen  werden. 

Das  Hüll  House  hat  eine  große  Turnanstalt  mit  aus- 
gedehnten Unterrichtsgelegenheiten,  eine  Badeanstalt,  eine 
große  Anzahl  rein  gesellschaftlicher  Klubs  der  verschie- 
denen Nationalitäten.  Natürlich  wird  auch  Unterricht  im 
Tanzen  erteilt  (Dancing  Classes). 

Die  italienische  Kolonie  veranstaltet  im  Hüll  House 
jährlich  ein  Faschingdienstagsfest.  Im  Hüll  House  gibt 
es  eine  Musikschule,  ein  eigenes  Hüll  House-Orchester. 
Das  Hüll  House  hat  seit  1904  eine  schöne  Orgel  und 
zahlreiche  öffentliche  Konzerte,  die  namentlich  am 
Samstag  nachmittag  im  Hüll  House  gegeben  werden.  Das 
Hüll  House  hat  eine  eigene  Poststation,  einen  eigenen 
Jane  Club,  in  welchem  junge  Mädchen  gegen  den  be- 
scheidenen Beitrag  von  3  Dollars  25  Cents  wöchentlich 
nebst  einer  kleinen  Gebühr  volle  Verpflegung  finden.^) 

Das  HuU  House  hat  ein  Theater,  in  welchem  Kinder- 
vorstellungen für  Kinder  stattfinden  und  zahlreiche  Vor- 
stellungen der  Schauspielgesellschaft  des  Hüll  House 
(Hüll  House  Players).  Es  finden  auch  Aufführungen  in 
fremden  Sprachen  statt,  so  in  italienischer,  in  russischer, 
in  lettischer,  in  jüdischer,  in  littauischer,  in  ungarischer 
und  böhmischer  Sprache.  Im  Theater  werden  auch  in 
jedem  Jahre  Weihnachtsfestspiele  aufgeführt. 

Es  gibt  einen  Kindergarten,  Mädchenklubs  mit  Spiel- 
zimmern. Seitens  des  Hull-Hauses  wird  auch  zahlreichen 
Kindern  Gelegenheit  geboten,   einen  Landaufenthalt  bis 


°)  The  weekly  dues  of  $  3*25,  with  an  occasional  small  assessment, 
have  met  all  current  expenses  of  reut,  Service,  food,  and  heat.  (Year 
Book,  p.  36.) 


—     152     — 

sechs  Wochen  zu  nehmen  (in  Summer  Camps),  eigene 
Straßenbahnwagen  führen  die  Kinder  bis  in  die  Parks, 
wo  sie  während  des  Tages  verbleiben  und  abends  dann 
eine  gemeinsame  Mahlzeit  einnehmen. 

Im  Zusammenhange  mit  dem  Hüll  House  steht  auch 
der  Joseph  T.  Bowen  Country  Club.  Im  März  1912  hat 
die  Witwe  eines  langjährigen  Trustees  des  Hüll  House, 
Joseph  T,  Bowen,  dem  Hüll  House-Verein  (Hüll  House 
Association)  72  Acres  Land  auf  einer  Höhe  über  dem 
Michigan-Sees  zur  Erinnerung  an  ihren  Gemahl  geschenkt. 
32  Acres  Land  enthalten  Waldterrain  und  40  Acres  einen 
alten  Landsitz  mit  einem  Obstgarten,  Gemüsegarten  und 
offenem  Feld.  Das  Terrain  liegt  35  Meilen  von  Chicago 
entfernt.  Neben  dem  ursprünglichen  Gebäude  sind  noch 
vier  neue  für  eine  Sommerkolonie  errichtet  worden;  von 
jedem  dieser  Cottage-Anlagen  genießt  man  eine  schöne 
Aussicht  auf  den  See.  Gruppen  von  je  75  jungen  Mädchen 
bringen  hier  je  zwei  Wochen  ihrer  Ferienzeit  zu,  von 
Mitte  Juli  bis  zur  Wiedereröffnung  der  Schulen  im  Sep- 
tember. Der  Country  Club  ist  auch  das  Ziel  zahlreicher 
Tages-  und  Weeksend-Ausflüge. 

Im  Hüll  House  befindet  sich  auch  ein  großes  Kaffee- 
haus, ferner  eine  Tagesrettungs-  und  Pflegestation  (Day 
Nursery),  ein  Haus,  in  welchem  100  kranke  Kinder  unter- 
gebracht sind  (Mary  Crane  Nursery);  in  letzterem  Ge- 
bäude gibt  es  auch  ein  Baby  Dispensary,  in  welchem 
die  Pflege  der  Kinder  gelehrt  wird  und  kranke  kleine 
Kinder  versorgt  werden.  Auf  dem  Dache  der  Mary  Crane 
Nursery  befindet  sich  eine  Schule  für  tuberkulöse  Kinder 
und  auf  diesem  Dache  können  auch  25  Kinder  schlafen. 
In  Verbindung  mit  dem  HuU  House  stehen  auch  Spiel- 
plätze und  kleine  Parks.  Kinder,  welche  die  Schule  oder 
den  Kindergarten  nicht  besuchen  können,  werden  von 
Lehrern  in  ihren  Wohnungen  unterrichtet.'^) 

')  An  attempt  is  made  to  give  the  children  who  are  too  advan- 
ced  for  kindergarten  work  lessons  in  manual  training,  looking  forward, 
so  far  as  possible,   to  selfsupporting  oecupations.   (Year  Book,  p.  48.) 


—    153    — 

Die  Leitung  des  Hüll  House  ist  stets  bemüht,  die 
Vorteile  des  Instituts  der  ganzen  Nachbarschaft  zur  Ver- 
fügung zu  stellen,  so  zum  Beispiel  die  Bäder  des  Hauses, 
das  öffentliche  Lesezimmer,  die  Bibliothek.  Viele  Re- 
sidents  des  HuU  House  nehmen  eifrig  teil  an  den  Ar- 
beiten anderer  Wohltätigkeitsanstalten,  so  widmen  zum 
Beispiel  vier  dieser  Residents  ihre  Dienste  dem  Jugend- 
gericht von  Chicago. 

Mit  dem  Hüll  House  steht  auch  die  Chicago  City 
Gardens  Association  in  Verbindung.  Diese  Gesellschaft 
kauft  Land  und  stellt  es  armen  Familien  zur  Bearbeitung 
zur  Verfügung,  und  zwar  so,  daß  für  ein  Achtel  Acre 
bloß  eine  Pacht  von  1  Dollar  50  Cents  gezahlt  wird. 

Der  Hüll  House- Verein  ist  auch  bemüht,  durch  Unter- 
suchungen und  Ermittlungen  die  soziale  Fürsorgegesetz- 
gebung hervorzurufen  und  zu  fördern,  so  bezüglich  der 
gesetzlichen  Maßnahmen  gegen  die  Heimarbeit  (Sweat 
Shop)  und  die  Kinderarbeit.  Ferner  wurde  eine  Unter- 
suchung über  die  Wohnungsverhältnisse  vorgenommen. 
Als  im  Jahre  1902  in  der  Nähe  des  Hüll  House  eine 
Typhusepidemie  ausbrach,  wurde  durch  seitens  des  Ver- 
eines veranlaßte  Untersuchungen  des  Typhusherd  er- 
mittelt und  gesäubert.  Eine  der  seitens  des  HuU  House- 
Vereines  vorgenommene  Untersuchung  bezog  sich  auf  die 
Kindersterblichkeit.  Es  wurde  festgestellt  (Year  Book, 
p,  50),  daß  die  Sterblichkeit  der  Kinder  mit  der  Kinderzahl 
der  einzelnen  Familien  wächst,  daß  die  Sterblichkeit  in 
den  italienischen  Einwandererfamilien  am  stärksten  ist, 
dann  daß  unmittelbar  nach  den  italienischen  Familien 
die  slawischen  einzureihen  seien,  daß  die  Kinder  von  in 
Amerika  geborenen  Eltern  und  von  Juden  die  geringste 
Sterblichkeit  aufweisen  und  daß  die  deutschen  und  die 
irischen  Familien  in  der  Mitte  zwischen  beiden  Gruppen 
stehen.  Der  HuU  House-Verein  veranlaßte  eine  eingehende 
Untersuchung  der  Lebensverhältnisse  der  großen,  in  der 
Nähe  lebenden  griechischen  Kolonie.  Eine  andere  Unter- 
suchung bezog  sich  auf  die  Lektüre  der  Kinder  in  den 


—    154     - 

in  der  Nähe  der  Anstalt  gelegenen  Schulen,  eine  andere 
Untersuchung  auf  den  ungesetzlichen  Verkauf  von 
Kokain.  Der  HuU  House-Verein  hat  sich  auch  mit  ver- 
schiedenen öffentlichen  Autoritäten  und  Vereinen  zur  Er- 
reichung seiner  humanitären  Zwecke  in  Verbindung  ge- 
setzt, so  mit  dem  Sanitätsdepartment,  mit  den  vereinigten 
Wohltätigkeitsanstalten  von  Chicago,  mit  Konsum- 
vereinen, mit  verschiedenen  Sanitätsvereinen,  der  Ge- 
sundheitspflege gewidmeten  Vereinen,  zum  Beispiel  mit 
der  Direktion  des  Juvenile  Psychopathie  Institute,  mit 
der  Illinois  Society  for  Mental  Hygiene,  mit  dem  lUinois 
Committee  for  Social  Legislation,  mit  der  American  Vigi- 
lance  Association,  mit  der  Chicago  School  of  Civics  and 
Philanthropy  und  der  Rüssel  Sage  Foundation. 

Meine  Chicagoer  Freunde,  deren  mündlichen  und 
schriftlichen  Mitteilungen  und  Sendungen  ich  die  vor- 
stehenden Angaben  verdanke  8),  sind  stolz  auf  ihr  Hüll 
House  und  haben  vollen  Grund  dazu.  Die  großzügige 
Art,  mit  welcher  Tausenden  von  Hilfsbedürftigen,  Armen 
und  Ärmsten,  Belehrung,  Hilfe,  Pflege,  Stunden  der  Er- 
holung "und  der  Erbauung  gewährt  werden,  verdient  auf- 
richtige  Bewunderung. 


Einen  sehr  starken  Eindruck  habe  ich  von  den  süd- 
lichen Parks  von  Chicago  empfangen.  Es  gibt  gegen- 
wärtig 24  solcher  Parks  mit  einem  Areal  von  2500  Acres. 


*)  Für  die  Darstellung  im  Texte  danke  ich  sehr  viel  den  zwei 
bereits  wiederholt  zitierten  Schriften,  dem  Hüll  House  Year  Book  vom 
1.  Jänner  1913,  sowie  dem  Buche  der  Miss  Jane  Addams  "Twenty 
Years  at  HuU  House",  1912.  Die  ersten  vier  Kapitel  des  Buches  der 
Miss  Jane  Addams  enthalten  reizende  autobiographische  Notizen. 
Eine  Reihe  anderer  Kapitelüberschriften  lauten:  First  Days  at  Hüll 
House,  Some  Early  Undertakings  at  Hüll  House,  Problems  of  Poverty, 
A  Decade  of  Economic  Discussion,  Pioneer  Labor  Legislation  in  Illinois, 
Immigrants  and  Their  Children,  Public  Activities  and  Investigations, 
Civic  Cooperation,  TheValue  of  Social  Clubs.  Vgl.  auch  Holitscher, 
a.  a.  0.,  S.  321  ff. 


—     155    — 

Sie  erstrecken  sich  von  der  Michigan-Avenue  (Grant 
Park)  bis  zum  Lake  Calumet  (17.  Park). 9)  Ich  habe  an 
einem  Nachmittage  in  Gesellschaft  unseres  Generalkonsuls 
in  Chicago,  des  Herrn  Hugo  Silvestri,  einen  in  einem 
der  bevölkertsten  armen  Vierteln  der  Stadt  gelegenen, 
den  auf  der  Nordseite  zwischen  der  Orleans-,  Elm-, 
Sedgwick-  und  Hills-Straße  gelegenen  Seward-Park  be- 
sucht. Wir  trafen  einen  deutschen  Offizier,  Herrn 
Dr.  Viktor  von  Borosini,  der  sich  um  diese  Parks  außer- 
ordentlich bemüht  und  uns  ein  überaus  liebenswürdiger 
Führer  gewesen  ist. 

Es  gab  allerlei  Aufführungen,  kleine  Aufzüge  und 
lebende  Bilder.  Der  Eindruck  war  ein  überaus  freund- 
licher. In  diesem  Park  und,  wie  mir  erzählt  wurde,  auch 
in  den  anderen  Parks  gibt  es  Schwimmbäder,  Freiluft- 
bäder für  Babies,  Sonnenbäder,  Wiesenstreifen,  auf 
w^elchen  die  Kinder  sich  herumwälzen  können,  Turn- 
und  Tanzsäle,  Volksbibliotheken,  alles  das  steht  dem 
Volke  von  Chicago  unentgeltlich  zur  Verfügung. lo) 


Vn.  Kapitel. 
Ellis  Island. 


Die  folgenden  Ausführungen  sollen  nicht  das  ameri- 
kanische Einwanderungsproblem  oder  die  Stellungnahme 
Österreich-Ungarns  zur  Frage  der  Auswanderung  nach 
den  Vereinigten  Staaten  und  nach  Kanada  systematisch 


")  Holitscher,  a.  a.  0.,  S.  325. 

^")  Überhaupt  geht  es  in  keinem  anderen  Lande  der  Welt  Kindern 
so  gut  wie  in  Amerika.  Ladies  and  Children  sind  die  überall  Bevor- 
zugten. Dem  europäischen  Besucher  fällt  die  Ungeniertheit  und  die 
Ungebundenheit  und  das  Selbstbewußtsein  der  amerikanischen  Jungen 
und  Mädchen  bald  auf.  In  den  großen  amerikanischen  Bibliotheken, 
so  zum  Beispiel  in  der  berühmten  Public  Library  in  der  Fifth  Avenue, 
fallen  die  Lesesäle  für  Kinder,  die  ganz  reizend  eingerichtet  und  mit 


-     156    — 

und  eingehend  behandeln,  sondern  lediglich  im  Zu- 
sammenhange mit  dem  Bericht  über  einen  Besuch  auf 
Eliis  Island  eine  Reihe  v^on  Notizen  und  Daten  zu  diesen 
Fragen  zusammenstellen. i)  Nach  den  mir  seitens  des 
Sekretariats  der  Wiener  Handels-  und  Gewerbekammer 
gütigst  zur  Verfügung  gestellten  Daten  betrugen  die  Zahlen 
der  Auswanderer  aus  Österreich-Ungarn  in  den  Jahren 
1902  bis  1911  nach  den  Vereinigten  Staaten  und  nach 
Kanada: 

Jahr  Vereinigte  Staaten  Kanada 


1902 

185.659 

7.918 

1903 

234.636 

13.095 

1904 

165.793 

11.136 

1905 

284.967 

10.060 

1906 

296.208 

10.170 

1907 

352.983 

12.314 

1908 

168.509 

13.904 

1909 

170.191 

20.123 

1910 

258.737 

10.240 

1911 

159.057 

12.105 

Kinderlekttire,  Bilderbüchern  und  ähnlicher  Literatur  versorgt  sind,  auf. 
Über  die  Erziehung  der  amerikanischen  Jugend  finde  ich  feine  Be- 
merkungen bei  Georg  v.  Skal,  "Das  amerikanische  Volk",  S.  86  ff. 
Humorvolle  Bemerkungen  über  "The  American  Child"  bei  Muirhead, 
a.  a.  0.,  p.  63 sq. 

^)  Vgl.  das  oben  S.  11  zitierte,  im  Auftrage  des  k.  k.  Handels- 
ministeriums von  Dr.  Franz  R.  v.  Srbik  herausgegebene  Werk  "Die 
Auswanderungsgesetzgebung",  Einleitung,  S.  V:  "Österreich  ist  seit 
einiger  Zeit  durch  den  bedauerlicherweise  stets  wachsenden  Umfang 
seiner  Auswanderung  in  die  erste  Reihe  der  europäischen  Auswanderungs- 
staaten getreten."  —  Vgl.  ferner  das  ebenfalls  bereits  oben  S.  6  zi- 
tierte Buch:  "Slavische  Einwanderung  in  den  Vereinigten  Staaten" 
von  Emily  Greene  Balch,  übersetzt  von  Stephan  v.  Philippovich, 
S.  36;  wir  erfahren  hier,  das  69  Prozent  aller  nach  Amerika  einwan- 
dernden Slaven  aus  Österreich-Ungarn  stammen.  S.  35:  Im  Dezennium 
1899  bis  1908  sind  den  Vereinigten  Staaten  anderthalb  Millionen  Slaven 
zugeflossen.  "Es  ist  nichts  Außergewöhnliches,  daß  ein  Slovake  die 
Reise  nach  Amerika  achtmal  macht,  in  welchem  Falle  er  in  unseren 


—     157    — 

Die  Rückwanderung  nach  Österreich-Ungarn  aus  den 
Vereinigten  Staaten  betrug  in  den  Jahren  1908  bis  1911 : 

1908 130.197 

1909 49.413 

1910 47.290 

1911 86.342 

Die  Rückwanderung  aus  Kanada  stellt  sich  auf  rund 
20  bis  25  Prozent  der  Einwanderung, 2) 

Ferner  finde  ich  bei  Münsterberg,  L,  S.  272, 
folgende  Daten :  Im  Dezennium  von  1860  bis  1870 
schickte  Italien  nur  11.000,  Österreich  nur  7000  und 
Rußland  nur  4000  Einwanderer,  im  Jahre  1909  schickte 
Deutschland  nur  25.540,  Irland  nur  25.033,  England 
nur  32.800,  dagegen  Rußland  120.460,  Österreich-Ungarn 
170.191,  Italien  183,218  Einwanderer  nach  Amerika.  Im 
Jahre  1910  gab  es  1,041,570  Einwanderer  (Münster- 
berg,  L,   S.  270). 3)    Von  diesen  Einwanderern  wurden 


Statistiken  achtmal  geführt  wird."  Vorwort  S.  IV:  Österreich-Ungarn 
stellte  im  Dezennium  1899/1900  bis  1908/1909  24-3  Prozent  der  Ein- 
wanderung in  die  Vereinigten  Staaten,    also  nahezu  ein  Viertel  dar, 

^)  Die  Ziffern  über  die  Einwanderung  nach  Kanada  und  über  die 
Rückwanderung  von  Kanada  wurden  angeführt,  weil  für  die  Amts- 
handlungen mit  nach  Kanada  Einwandernden  in  Ellis  Island  auch 
kanadische  Einwanderungskommissäre  tätig  sind,  ein  Bruchteil  der 
Einwanderung  nach  Kanada  also  auch  über  New  York  erfolgt. 

^)  Reiches  statistisches  Material  sowie  wertvolle  Ausführungen 
enthalten  der  Aufsatz  von  Dr.  H.  Schwegel,  k.  u.  k.  Vizekonsul  in 
Chicago,  Die  Einwanderung  in  die  Vereinigten  Staaten,  in  der  "Zeit- 
schrift für  Volkswirtschaft,  Sozialpolitik  und  Verwaltung",  Band  XIII 
(1904,  vgl.  oben  S,  11),  S.  160  ff.,  sowie  die  Abhandlung  von  Dr.  Karl 
R.  V.  Englisch,  Die  Lehren  der  amerikanischen  Einwanderungs- 
statistih,  "Statistische  Monatsschrift",  XXXVII.  Band,  1911  (vgl.  oben 
S.  10),  S.  345  ff. 

Schwegel,  a.  a.  0,,  S,  160,  teilt  mit,  die  Einwanderung  in  die 
Vereinigten  Staaten  von  Amerika  habe  für  das  Rechnungsjahr  1903 
(vom  1.  Juli  1902  bis  30.  Juni  1903)  857.046  Einwanderer  erreicht. 
Diese  Zahl  bleibe  aber  hinter  der  Wirklichkeit  noch  zurück;  einmal 
identifiziere  die  amerikanische  Statistik  den  Begriff  des  Einwanderers 


—    158    — 

nur  10.411  zurücktransportiert,  also  rund  1  Prozent, 
und  zwar  4458  wegen  Mittellosigkeit,  2382  wegen  an- 
steckender Krankheiten,  1172,  weil  sie  mit  fertigem 
Arbeitskontrakt  ankamen,  und  2399,  welche  unter  die 
Rubriken  der  Verbrecher,  Prostituierten  und  Geistes- 
kranken gehören  (Münsterberg,  I.,  S.  275)>)  Endlich 
finde  ich  in  der  "Neuen  Freien  Presse"  vom  24.  Juli 
1913  mitgeteilt,  daß  seit  dem  JuH  1912  1,228.770  Per- 
sonen, und  zwar  um  319.850  Personen  mehr  als  im  Vor- 
jahre, nach  den  Vereinigten  Staaten  ausgewandert  seien. 
Alle  diese  Ziffern  geben  uns  eine  Vorstellung  von  der 

• 

(Immigrant)  mit  dem  des  Zwischendeckpassagiers  und  führe  daher  nicht 
die  als  Kajütenpassagiere  in  die  Vereinigten  Staaten  einwandernden 
Personen.  Die  letzteren  seien  unter  den  sonstigen  fremden  Passagieren 
(other  alien  passengers)  geführt  worden,  deren  Zahl  im  Jahre  1903 
64.269  ausmachte.  Auch  die  über  Kanada  und  Mexiko  über  Land  nach 
den  Vereinigten  Staaten  kommende  Einwanderung  wird  in  der  er- 
wähnten Ziffer  nicht  mitgezählt.  —  Die  Gesamtzahl  der  Einwanderer 
nach  Amerika  betrug  in  den  Kalenderjahren  1907  1,334.166,  1908 
410.319,  1909  927.739  (v.  Englisch,  a.  a.  0.,  S.  345).  Den  stärksten 
Rückgang  wies  also  die  Einwanderung  im  Jahre  1908  auf. 

Münsterberg,  I.,  S.  270,  gibt  die  Einwandererzahl  für  die 
Jahre  1908  und  1909  mit  etwa  drei  Viertel  Millionen  an.  Die  Divergenz 
zwischen  den  Angaben  von  Münsterberg  und  von  v.  Englisch 
scheint  damit  zusammenzuhängen,  daß  Münsterbergs  Angaben  sich 
auf  Rechnungsjahre  und  v.  Englische  Angaben  sich  auf  Kalender- 
jahre beziehen. 

Nach  Schwegel,  a.  a.  0.,  S.  179ff.,  betrug  die  eingewanderte 
Bevölkerung  in  den  Vereinigten  Staaten  beim  Zensus  1900  aus  Öster- 
reich (im  engeren  Sinne)  276.249,  aus  Böhmen  156.991,  aus  Ungarn 
145.802,  aus  Österreichisch-Polen,  einschließlich  der  Polen  unbekannt 
woher,  78.854.  Das  United  States  Census  Bureau  bildet  aus  der  öster- 
reichisch-ungarischen Monarchie  vier  Herkunftsländer,  das  engere  Öster- 
reich, Ungarn,  Böhmen  und  Polen.    (Schwegel,  a.  a.  0.,   S.  178.) 

*)  Bei  Schwegel,  a.  a.  0.,  S.  173,  finde  ich  folgende  Ziffern: 
"Im  Jahre  1903  wurden  8769  Leuten,  das  ist  etwas  über  ein  Prozent 
der  gesamten  Einwanderer  der  Eintritt  in  die  Häfen  der  Vereinigten 
Staaten  verwehrt,  547  wurden  außerdem  auf  Grund  des  Einwanderungs- 
gesetzes innerhalb  des  ersten  Jahres  nach  ihrer  Ankunft  zurückgeschickt." 
"Zugenommen  hat  die  Zurückweisung  insbesondere  bei  Mittellosen,  bei 
mit  ansteckenden  Krankheiten  Behafteten  und  bei  Kontraktarbeitern." 


—     159     — 

außerordentlichen  Bedeutung  des  Einwanderungsamtes 
und  insbesondere  der  wichtigsten  Einwanderungsstation, 
der  New  Yorker  Einwanderungsstation  ElHs  Island,  sowie 
von  der  außerordentlichen  Wichtigkeit  und  Größe  der 
Arbeitstätigkeit  unserer  Vertretungsbehörden,  insbesondere 
unserer   Konsularbehörden   in   den   Vereinigten   Staaten. 

Der  Besucher  von  EUis  Island  fährt  mit  einem  von 
Bärge  Office  in  der  Nähe  von  Battery  Place  abgehenden 
kleinen  Dampfer  ab.  Auch  bei  meinen  beiden  Fahrten 
nach  Ellis  Island  war  ich  in  Gesellschaft  des  Vizekonsuls 
Dr.  Fische rauer.  Wir.  fuhren  Freitag,  den  5.  April 
1912,  zehn  Uhr  zum  erstenmal  nach  Ellis  Island  und 
wiederholten  unsere  Fahrt  am  Samstag,  den  6.  April  1912, 
neun  Uhr,  weil  wir  gelegentlich  unseres  ersten  Besuches 
gerade  nicht  die  Ankunft  eines  Ein  wandererschiff  es  beob- 
achten konnten.  Die  Boote  fahren  stündlich.  Die  Über- 
fahrt dauert  nicht  viel  über  eine  Viertelstunde.  Bei  der 
ersten  Fahrt  sprachen  wir  mit  dem  Vertreter  des  öster- 
reichischen Einwandererheimes  und  trafen  ferner  einen 
Inspektor  des  Einwanderungsamtes,  dessen  Spezialressort 
es  ist,  Mädchenhändler  anzuhalten  und  der  strengen  Be- 
strafung zuzuführen  sowie  ihre  unglücklichen  Opfer  zu 
befreien.5) 

Ich  habe  irgendwo  gelesen,  daß  die  Fahrt  nach  Ellis 
Island  an  venetianische  Eindrücke  gemahne;  das  ist 
richtig.  Die  Gebäude  sind  vortrefflich  instand  gehalten. 
Bei  unserem  ersten  Besuche  machten  wir  dem  damaligen 
Commissioner  des  Einwanderungsamtes,  Mr.  William  Wil- 
liams, unsere  Aufwartung.  Im  Wartezimmer  von  Mr. 
Williams'  Office  fielen  mir  sehr  gute  Bilder  aus  Rom 
auf.  Mr.  Williams,  ein  vornehmer  Mann,  welcher  seine 
Studien  in  Deutschland,  ich  glaube  in  Göttingen,  abgelegt 


^)  Ein  Gesetz  aus  dem  Jahre  1910  macht  es  zum  Verbrechen,  die 
Beförderung  einer  Frauensperson  von  oder  nach  dem  Auslande,  oder 
von  einem  Staate  nach  dem  anderen,  oder  von  oder  nach  oder  in  einem 
Territorium  zu  unmoralischen  Zwecken  zu  veranlassen  oder  zu  unter- 
stützen.    Freund,  a.  a.  0..  S.  74,  Anm.  1. 


—     160    — 

hatte,  empfing  uns  auf  das  liebenswürdigste.  Der 
mächtige  Mann  erteilte  mit  großer  Zuvorkommenheit  die 
Erlaubnis,  die  gesamte  Einrichtung  der  Insel  zu  besehen. 6) 
Auch  einen  Assistant  des  Commissioner  lernten  wir 
kennen.  Wir  sahen  die  Magazine,  in  welchen  sich  die 
Leute  mit  Proviant  versehen  können,  bevor  sie  das  Land 
betreten,  wir  sahen  die  Zimmer  und  Betten,  in  welchen 
die  Zurückgehaltenen  wohnen.  Diese  Wohnräume 
machten  einen  sehr  guten  Eindruck.  Wir  sahen  die 
Speisehalle,  in  welcher  die  zurückbehaltenen  Einwanderer 
auf  Kosten  der  Dampfschiffahrtsgeselischaft  ihre  Mahl- 
zeiten erhalten.  Diese  Halle,  welche  gewöhnlich  zwischen 
halb  zwölf  und  halb  ein  Uhr  benützt  wird,  hat  einen 
Fassungsraum  von  1200  Sitzen.  Wir  sahen  die  Dach- 
terrassen, auf  welchen  die  Zurückgehaltenen  spazieren 
gehen  dürfen.  Wir  sahen  die  große  Halle,  in  welcher 
die  Unionsbeamten  die  Ausweispapiere  und  die  Geld- 
mittel der  Angekommenen  prüfen.  Es  ist  dies  eine  lange 
Halle  mit  der  Länge  nach  gestellten  Bänken.  Die  Ein- 
wanderer haben  sich  nach  ihrer  Nationalität,  beziehungs- 
weise Sprache  zu  gruppieren.  Tafeln  zeigen  diese 
Sprachen  an.  Die  Schmalseite  des  Saales  nehmen  die 
Tische  der  Unionsbeamten  ein.  Diese  Tische  sind  durch 
eine  Schranke  von  der  Halle  getrennt.  Jeder  einzelne 
Einwanderer  tritt  vor,  seine  Papiere  werden  geprüft, 
seine  Geldmittel  abgezählt.  Seit  dem  Jahre  1882  erhob 
die  Bundesregierung  auf  jeden  zugelassenen  Einwanderer 
eine  Kopfsteuer,  welche  1907  auf  vier  Dollars  erhöht 
wurde.  Ein  fixes  Minimum  an  Geld,  das  ein  Einwanderer 
haben  muß,  gibt  es  auch  nach  dem  neuesten  Ein- 
wanderungsgesetz von  1907  nicht  (vgl.  Freund,  a.a.  0., 
S.  71).  Wohl  aber  wurde  mir  von  verschiedenen 
Personen   als    bestimmt   erzählt,    daß    man    gewöhnlich 


®)  Das  Department  of  Commerce  and  Labour  United  States  Immi- 
gration Service  gibt  Instruktionen  für  Besucher  aus,  in  deren  Ein- 
leitung es  heißt,  daß  die  Erlaubnis  zum  Besuche  von  Ellis  Island  auf 
schriftliches,    an   den    Commissioner   gerichtetes    Gesuch  erteilt  wird. 


—     161     — 

25  Dollars  als  Minimum  pro  Kopf  verlange.'^)  Ergibt 
sich  bei  dieser  in  der  großen  Halle  vorgenommenen 
Prüfung  irgendein  Bedenken,  oder  besitzt  der  Betreffende 
nicht  wenigstens  die  eben  erwähnten  25  Dollars  und. 
auch  nicht  Freunde  im  Lande,  die  für  ihn  einstehen 
und  ihn  abholen,  dann  muß  er  zur  Prüfung  in  eines 
der  verschiedenen  Inquiry  Offices.  Wir  betraten  ein 
solches  Inquiry  Office  und  wohnten  einer  Anzahl  Ver- 
handlungen bei,  welche  unter  der  Intervention  eines 
Dolmetsch  und  des  Vertreters  einer  Hilfsgesellschaft  ge- 
führt wurden.8)  Die  Hilfsgesellschaften  der  betreffenden 

')  Die  wichtigsten  Gruppen  ausgeschlossener  Personen  sind  ver- 
urteilte Verbrecher  (mit  Ausnahme  der  rein  politischen),  Personen,  die 
geistesschwach,  mit  Tuberkulose,  ekelhaften  oder  ansteckenden  Krank- 
heiten behaftet  oder  physisch  defekt  sind,  Prostituierte  und  Mädchen- 
händler, alle  die  voraussichtlich  der  öffentlichen  Armenpflege  zur  Last 
fallen  werden,  und  alle,  die  sich  zur  Polygamie  und  zum  Anarchismus 
bekennen.  Vgl.  Freund,  a.  a.  0.,  S.  71  f.  Kinder  unter  16  Jahren, 
die  nicht  von  den  Eltern  begleitet  sind,  kann  der  Handelssekretär 
ausschließen.  Wird  der  Preis  der  Überfahrt  ganz  oder  zum  Teile  von 
anderen  Personen  als  dem  Einwanderer  bezahlt,  so  muß  nachgewiesen 
werden,  daß  derselbe  nicht  zu  den  ausgeschlossenen  Klassen  gehört 
und  daß  der  Preis  nicht  von  einer  Gesellschaft  oder  einer  Eegierung 
gezahlt  worden  sei.  Stellt  sich  innerhalb  von  drei  Jahren  nach  der 
Zulassung  eines  Einwanderers  heraus,  daß  er  nicht  hätte  zugelassen 
werden  sollen,  so  kann  eine  Deportation  desselben  stattfinden.  (§  21  des 
Einwanderungsgesetzes  vom  Jahre  1907,  vgl.  Freund,  a.a.O.,  S.  72.) 

Ich  lasse  es  dahin  gestellt,  ob  sich  gegen  die  Prinzipien  der  ameri- 
kanischen Einwanderungsgesetzgebung  ein  begründeter  Einwand  erheben 
läßt.  Daß  aber  viele  in  Durchführung  dieser  Grundsätze  getroffene  Maß- 
nahmen und  insbesondere  zum  Beispiel  die  Zurückhaltung  einer  ganzen 
Familie  wegen  eines  kranken  Kindes  oder  gar  die  Zurücksendung  von 
Einwanderern  in  jedem  einzelnen  Falle  als  eine  schwere  Härte  oder  sogar 
als  vernichtendes  Unglück  empfunden  werden,  ist  eine  traurige  Wahrheit. 
Vgl.  auch  Schwegel,  a.  a.  0.,  S.  185  ff.,  femer  den  Vortrag  desselben 
Autors  "Über  die  neue  deutsche  Amerikaliteratur",  S.  33ff.  Kritische 
Bemerkungen  gegen  die  amerikanische  Einwanderungsgesetzgebung  und 
Einwanderungspolitik  bei  Holitscher,  a.  a.  0.,  S.  342 ff.  Über  die 
amerikanischen  "Einwanderungsfeinde",  Schwegel,  a.  a.  0.,  S.  189. 
Vgl.  aber  auch  Wells,  a.  a.  0.,  S.  118  ff. 

*)  Ich  habe  selbst  beobachtet,  daß  die  Beamten  in  der  großen 
Halle  die  Geldbeträge,  welche  die  einzelnen  Einwanderer  als  ihr 
Hanausek,  Amerikanische  Skizzen.  IX 


—     162    — 

Nation  bemühen  sich  dann,  die  Zurückbehaltenen  aus 
der  Detention  zu  befreien.  Wir  sahen  die  Leute  direkt 
von  einem  Schiffe,  das  sie  von  Europa  hergebracht, 
kommen,  sie  passierten  den  Arzt,  der  ihre  Leibes- 
beschaffenheit mustert,  den  Augenarzt,  der  feststellt,  daß 
sie  nicht  mit  einer  ansteckenden  Augenkrankheit  behaftet 
sind.  Es  ist  daher  begreiflich,  daß  ansteckende  Augen- 
krankheiten der  Einwanderer  sehr  gefürchtet  sind.  Der 
Schiffsarzt  hatte  einigen  schon  ein  W  oder  ein  C  auf  den 
Ärmel  mit  Kreide  zeichnen  lassen.  W  sagt  Weak  und 
C  Conjunctivitis.  Ältere  Frauen  sind  in  demselben  Saale, 
in  dem  sich  die  Ärzte  befinden,  welche  die  Eintretenden 
zu  untersuchen  haben.  Diese  Frauen  mustern  mit 
prüfendem  Blick  die  einwandernden  weiblichen  Personen, 
ob  dieselben  etwa  schwanger  sind.  Unverheiratete 
schwangere  Frauen  dürfen  regelmäßig  nicht  einwandern. 
Die  Einwanderung  soll  nicht  selten  davon  abhängig  ge- 
macht werden,  daß  der  Mann,  in  dessen  Begleitung  die 
unverheiratete  schwangere  Frau  gereist  ist,  sie  heiratet. 
Alle  diejenigen,  die  nicht  glatt  und  anstandslos  die  Ärzte 
passieren,  müssen  noch  die  ärztliche  Kontrolle  in  der 
Sanitätsstation  über  sich  ergehen  lassen,  um  vielleicht 
dann  zu  längerer  Beobachtung  zurückgehalten  oder  im 
ärgsten  Falle  zurückgesendet  zu  werden.  Die  Schiff- 
fahrtsgesellschaften sind  verpflichtet.  Zurückgewiesene 
unentgeltlich  nach  Europa  zurückzunehmen. 

Als  wir  nach  mehrstündiger  Wanderung  durch  die 
imposanten  Anlagen  die  Insel  verließen,  fuhren  schon 
viele  Einwanderer,  die  früh  erst  gekommen  waren,  allein 
oder  mit  ihren  Freunden  nach  New  York,  das  Herz  voller 
Hoffnungen.    Möge    sie    die    neue   Heimat   erfüllen! 

Eigentum  vorwiesen,  nachzählten  und  daß  in  einem  Inquiry  Office 
gerade  darüber  verhandelt  wurde,  ob  der  betreffende  Einwanderer,  der 
seinen  Besitz  an  Barmitteln  vorwies,  genügend  Barmittel  besitze.  Der 
Vertreter  der  betreffenden  nationalen  Hilfsgesellschaft  hat  dann  für 
den  betreffenden  Einwanderer  interveniert.  Auch  das  Einstehen  eines 
im  Lande  Befindlichen  für  den  Einwanderer  scheint  den  Mangel  der 
fehlenden  Geldmittel  regelmäßig  ersetzen  zu  können. 


—     163    — 

Die  Passagiere  der  ersten  und  zweiten  Klasse  werden 
nicht  nach  Ellis  Island  gebracht,  sondern  an  Bord  ihres 
Schiffes  von  den  Beamten  des  Einwanderungsamtes  be- 
fragt. Nur  wenn  besondere  Bedenken  gegen  die  Bewilli- 
gung der  Einwanderung  seitens  des  an  Bord  erschienenen 
Einwanderungsbeamten  erhoben  werden  9),  müssen  sich 
auch  Passagiere  dieser  Klassen  den  Transport  nach  Ellis 
Island  gefallen  lassen.i^) 

Vor  einiger  Zeit  hat  der  Kongreß  mit  großer  Majorität 
eine  Bill  angenommen,  welche  eine  starke  Hemmung 
der  Einwanderung  nach  .Amerika  bewirken  sollte.  Nach 
der  neuen  Bill  sollen  Personen  über  16  Jahre,  die 
nicht  lesen  und  schreiben  können,  von  der  Einwande- 
rung ausgeschlossen  sein.  Ausgenommen  sollen  jene 
Personen  sein,  die  nachweisen  können,  daß  sie  wegen 
Verfolgung  aus  religiösen  Gründen  ausgewandert  seien. 
Infolge  des  Vetos  des  Präsidenten  Taft  hat  aber  das 
Repräsentantenhaus  in  neuerlicher  Beratung  diese  Ein- 
wanderungsbill mit  knapper  Majorität  abgelehnt  ("Neue 
Freie  Presse"  vom  20.  Februar  1913). 

Wells,  a.  a.  0.,  S.  43,  erzählt,  daß  an  einem  Rekord- 
tage nicht  weniger  als  21.000  Einwanderer  in  New  York 
gelandet  seien,  in  einer  Woche  50.000.  "Sie  strömen 
herein,  finden  sofort  Arbeit,  die  Löhne  gehen  aber  ihret- 
wegen nicht  zurück.  Sie  machen  sich  ans  Graben,  Bauen, 


•)  In  einer  amerikanischen  Zeitung,  welche  mir  augenblicklich 
nicht  zur  Hand  ist,  habe  ich  gelesen,  daß  einem  hohen  französischen 
Aristokraten  der  Eintritt  in  die  Vereinigten  Staaten  verweigert  wurde, 
weil  in  seiner  Heimat  gegen  ihn  als  Spieler  ein  gerichtliches  Verfahren 
durchgeführt  worden  sei;  er  wurde  als  ein  nicht  erwünschter  Ein- 
wanderer (undesirable  allen)  angesehen.  Von  europäischen  Behörden 
verfolgte  Delinquenten  werden  nicht  selten  auf  Grund  verweigerter 
Einwanderungsbewilligung  von  einem  Organ  des  sie  verfolgenden 
Staates  verhaftet. 

^")  Auf  einem  langen  Fragebogen,  den  jeder  ausfüllen  muß,  der 
nach  Amerika  reisen  will,  stehen  unter  anderen  die  Fragen,  ob  man 
polygam  sei  und  ob  man  Anarchist  sei.  Vgl.  hiezu  die  Bemerkungen 
von  Wells,  a.  a.  0.,  S.  31 

11* 


—     164    — 

an  allerlei  Handarbeit."  ...  "Ja  wahrhaftig,  Ellis  Island 
ist  ein  Ort,  wo  sich  in  aller  Stille  Unermeßliches  abspielt. 
Dort  bekommt  man  ein  greifbares  Bild  von  wenigstens 
einer  Seite  dieses  weltumspannenden  Prozesses,  des. 
Füllens,  Anschwellens  und  Zusammenwachsens,  den 
Amerika  darstellt"  (S.  42).  Wells  erzählt  auch  von 
einem  Raum,  „der  bis  zur  Decke  hinauf  mit  Schubladen 
bekleidet  ist;  sie  tragen  Etiketten  mit  Namen,  Nationali- 
täten und  besonderen  Umständen  von  mehr  als  anderthalb 
Millionen  Menschen,  von  Leuten,  die  ihre  Wege  gegangen 
sind,   aber  doch  noch  einmal  vorsprechen  könnten."  n) 

Endlich  sei  noch  eines  Gesetzes  gedacht,  das  sich 
gegen  den  Contract  Labor  kehrt,  das  ist  ein  Gesetz, 
welches  verbietet,  daß  ausländische  Arbeiter  auf  Grund 
eines  für  einen  bestimmten  Lohn  und  für  eine  bestimmte- 
Zeitdauer  mit  einem  Individuum  oder  mit  einer  Gesell- 
schaft in  Amerika  abgeschlossenen  Vertrages  in  das  Gebiet 
der  Union  eingeführt  werden.  Damit  will  man  die  natio- 
nale Arbeit  (National  Labor)  schützen  und  den  Wünschen 


^^)  Eine  sehr  lebhafte  Schilderung  des  Lebens  auf  Ellis  Island 
gibt  Holitscher,  a.  a.  0.,  S.  341  ff.  Vgl.  auch  ein  Feuilleton  von 
Emmy  Graetz,  "Auf  Ellis  Island,  der  Einwandererinsel",  in  der 
"Neuen  Freien  Presse"  vom  11.  Dezember  1912.  —  Holitscher, 
a.  a.  0.,  S.  348,  führt  an,  es  gebe  nach  einer  oberflächlichen  Schätzung 
in  der  Stadt  New  York  etwa  900.000  Juden.  —  Bryce,  IL,  p.  35,  N.  1: 
"In  New  York  City  the  Jews  (of  whom  there  are  about  400.000  adult 
males)  were  at  first  mostly  Democrats,  and  the  Italians  mostly  Repu- 
blicans."  Die  beiden  Ziffern  stehen  wenigstens  nicht  in  offensichtlichem 
Widerspruch. 

Bei  Barth,  Amerikanische  Eindrücke,  S.  22,  heißt  es:  "Unter 
allen  Leistungen  der  amerikanischen  Union  erscheint  keine  impo- 
nierender als  jene,  die  sie  in  ihrer  Eigenschaft  als  Nationalitäten- 
Schmelztiegel  vollbracht  hat."  Hierauf  gibt  Barth  eine  ergreifende 
Schilderung  eines  Festaktes  in  einer  Schule  der  Educational  Alliance,. 
in  der  die  Kinder  eben  eingewanderter  russischen  Juden  unterrichtet 
werden.  —  Der  Amerikanisierungsprozeß  ist  ein  so  rascher  und  voll- 
kommener, daß  die  Nachkommen  unserer  Auswanderer  schon  in  der- 
ersten  Generation  nicht  mehr  von  den  Abkömmlingen  der  ersten, 
Pioniere  zu  unterscheiden  sind.    (Schwegel,  a.  a.  0.,  S.  195.) 


—    165     — 

der  Arbeiterschaft  (Labor  Party,  Working  Men  Party) 
entgegenkommen,  vor  allem  aber  das  System  der  weißen 
Sklaverei  (white  Slavery),  das  sich  infolge  der  Sprach- 
unkenntnis, Ignoranz  und  Not  der  durch  betrügerische 
Versprechungen  verführten  Immigranten  aus  Europa  in 
einigen  Staaten  entwickelt  hatte,  unmöglich  machen. 12) 
Wer  Ellis  Island  besucht,  wer  die  einwandernden 
Landsleute  beobachtet,  wer  die  erschreckend  hohen 
Ziffern  der  österreichisch-ungarischen  Auswanderer  sich 
zum  Bewußtsein  bringt,  wird  sich  darüber  klar  sein,  daß 
eine  richtige  Auswanderungsgesetzgebung  eines  der  wich- 
tigsten wirtschaftlichen  und  sozialen  Postulate  ist.  Wir 
wollen  und  können  die  Auswanderung  nicht  hindern,  wir 
müssen  sie  dulden  und  darum  regeln,  aber  wir  sollen  die 
Auswanderung  nicht  fördern.  Wir  müssen  unsere  Lands- 
leute vor  denjenigen  schützen,  die  sie  zur  Auswanderung 
verleiten  und  sie  nicht  an  die  richtige  Stelle  leiten,  sondern 
sie  irreführen.  Die  Geldsendungen  unserer  Auswanderer 
in  die  Heimat  sind  gewiß  kein  auch  nur  annähernder  Er- 
satz für  die  uns  entgehende  Volkskraft.^^)  Wie  wenige 
von  den  nach  Amerika  Auswandernden  kehren  als  wohl- 
habende Leute  in  die  Heimat  zurück.  Viele  andere 
kommen  ebenso  arm,  als  sie  gegangen  sind,  und  viel- 
leicht mit  gebrochener,  jedenfalls  aber  mit  geschwächter 
Kraft  und  in  weniger  erwerbsfähigem  Alter.  Den  Ernst 
dieser  Probleme  und  die  Wichtigkeit  ihrer  richtigen  Lö- 
sung habe  ich  niemals  so  stark  empfunden,  als  in  den 
Stunden,  die  ich  in  Ellis  Island  zugebracht  habe. 


12)  Vgl.  Rambeau,  a.  a.  0.,  S.  170 ff.;  E.  Münsterberg, 
"Amerikanisches  Armenwesen",  S.  9.  —  Unter  das  Gesetz  fallen  nicht 
Dienstboten,  gelernte  Arbeiter,  die  im  Lande  selbst  nicht  beschafft 
werden  können  und  Personen,  deren  Leistungen  wissenschaftlichen 
oder  künstlerischen  Charakters  sind.    (Freund,  a.  a.  0.,  S.  72.) 

1^)  Vgl.  hiezu  Schwegel,  a.  a.  0.,  S.  193 ff.,  wo  es  treffend  heißt: 
'•  —  Die  Länder  Europas  geben  an  Amerika  von  ihrem  Besten.  Den 
besten  Teil  von  ihrem  Fleisch  und  Blut,  denn  es  sind  die  besten  und 
rührigsten,  die  auswandern." 


-     166     — 

VIIL  Kapitel 

Miszellen. 

Das  Taylor  System. 

In  einem  im  Niederösterreichischen  Gewerbeverein 
gehaltenen  Vortrage  des  Sekretärs  der  Brünner  Handels- 
und Gewerbekammer,  Regierungsrates  Dr.  Rob.  Mayer^), 
habe  ich  zum  erstenmal  von  einem  Buch  gehört,  das 
so  charakteristisch  amerikanisch  ist,  daß  ich  es  trotz 
der  Gefahr  des  Vorwurfes  meiner  fachmännischen  Un- 
kenntnis im  letzten  Kapitel,  welches  ja  nicht  fach- 
lichen Inhaltes  sein  soll,  kurz  besprechen  möchte.  Es 
ist  dies  das  bereits  oben  in  der  Einleitung,  S.  5,  zitierte 
Buch  "The  Principles  of  Scientific  Management"  by 
Frederick  Winslow  Taylor,  M.  E.,  Sc.  D.,  New  York 
and  London  1913.  Das  Buch  ist  auch  in  deutscher 
Sprache  unter  dem  Titel  "Die  Grundsätze  wissenschaft- 
licher Betriebsführung"  erschienen,  München  und  Berlin, 
1913.  Der  Herausgeber  der  vortrefflichen,  autorisierten 
deutschen  Ausgabe  ist  Dr.  jur.  Rudolf  Roesler,  Dipl. 
Ingenieur. 

Das  Taylor  System  ist  ein  Weg  zu  einer  möglichst 
haushälterischen  Verwertung  der  menschlichen  Kraft. 2) 
Die  Produktion  soll  gesteigert  werden,  die  Herstellungs- 
kosten sollen  trotz  höherer  Löhne  verringert  werden. 3) 
Faustregeln  (Rule-of-thumb  Methods)  sind  solche  Regeln, 
"deren  Existenzberechtigung  —  —  im  günstigsten  Falle 
durch  wirklich  gemachte  Erfahrungen,  oft  aber  nur  dadurch 
begründet  ist,  'daß  dies  immer  gegolten  hat',  'daß  die 
anderen  es  auch  so  machen',  oder  'daß  wir  es  immer 


^)  Dieser  ausgezeichnete  tind  eine  Fülle  wertvollen  Materials 
enthaltende  Vortrag  ist  in  der  "Neuen  Freien  Presse"  vom  3.  Juni  1913 
unter  dem  Titel  "Die  amerikanische  Industrie"  erschienen. 

«)  Deutsches  Vorwort,  S.  XII. 

»)  Deutsches  Vorwort,  S.  XVIU. 


—    167    — 

so  gemacht  haben'"*).  Pensiunsystem  ist  das  System 
einer  bestimmten  vorgeschriebenen  Leistung.^)  "Im 
Gegensatze  dazu  steht  das  Initiativsystem  oder  Lock- 
system, bei  welchem  die  Arbeiter  ihr  Bestes  hergeben 
und  als  Entgelt  dafür  eine  besondere  Belohnung  von 
ihrem  Arbeitgeber  erhalten  sollen."  ß)  Das  Initiativsystem 
dürfte  wohl  die  beste  Art  der  üblichen  Verwaltungs- 
systeme sein,  aber  das  neue  System  (Taylor  System) 
soll  noch  unvergleichlich  besser  sein  als  dieses  beste 
der  alten  Systeme. 

Die  Prinzipien  des  neuen  Systems  werden  S.  38  ff. 
in  folgenden  Sätzen  formuliert: 

1.  Die  Leiter  entwickeln  ein  System,  eine  Wissen- 
schaft für  jedes  einzelne  Arbeitselement,  die  an  die  Stelle 
der  alten  Faustregelmethode  tritt. 

2.  Auf  Grund  eines  wissenschaftlichen  Studiums 
wählen  sie  die  passendsten  Leute  aus,  schulen  sie,  lehren 
sie  und  bilden  sie  weiter,  anstatt  wie  früher  den  Ar- 
beitern selbst  die  Wahl  ihrer  Tätigkeit  und  ihre  Weiter- 
bildung zu  überlassen. 

3.  Sie  arbeiten  in  herzlichem  Einvernehmen  mit  den 
Arbeitern;  so  können  sie  sicher  sein,  daß  alle  Arbeiten 
nach  den  Grundsätzen  der  Wissenschaft,  die  sie  auf- 
gebaut haben,  geschehen. 

4.  Arbeit  und  Verantwortung  verteilen  sich  fast 
gleichmäßig  auf  Leiter  und  Arbeiter.  Die  Leitung  nimmt 
alle  Arbeiten,  für  die  sie  sich  besser  eignet,  auf  ihre 
Schultern,  während  bisher  fast  die  ganze  Arbeit  und  der 
größte  Teil  der  Verantwortung  auf  die  Arbeiter  gewälzt 
wurde. 

Taylor  gibt  zur  Erläuterung  des  Systems  eine  Reihe 
von  Beispielen:  Er  spricht  zunächst  vom  Verladen  von 
Roheisen  und  führt  aus,  daß  auf  Grund  seines  Systems 


*)  Deutsche  Ausgabe,  S.  14  f.,  Anm.  1. 
»)  S.  32  f. 
«)  S.  361 


—    168     — 

ein  erstklassiger  Roheisen  Verlader  nicht  I21/2  t,  sondern 
47  bis  48  t  pro  Tag  verladen  konnte.  Die  Methode,  durch 
welche  ein  Arbeiter,  den  Taylor  Schmidt  nennt,  erzogen 
wurde,  bei  einer  Lohnsteigerung  von  1  Dollar  15  Cents 
auf  1  Dollar  85  Cents  statt  12^2  t  47  t  Roheisen  zu 
verladen,  ist  überaus  anschaulich  geschildert.^)  Taylor 
erörtert  dann  die  "Wissenschaft"  des  Schaufeins s),  des 
Legens  von  Ziegeln  9),  des  Prüfens  der  Kugeln  aus  ge- 
härtetem Stahl  für  die  Kugellager  von  Fahrrädern  10); 
für  diese  Arbeit  sind  nur  Arbeiterinnen  zu  brauchen 
mit  einem  niederen  persönlichen  Koeffizienten,  nämlich 
solche  Arbeiterinnen,  welche  eine  ungewöhnlich  schnelle 
Wahrnehmungsgabe  haben  und  außerordentlich  rasch 
reagieren.  Das  Endresultat  der  Versuche  war,  daß 
35  Mädchen  dieselbe  Arbeit  lieferten,  wie  vorher  120  bei 
einer  Arbeitszeit  von  8V2  statt  lO^/g  Stunden,  und  daß  die 
Genauigkeit  der  Arbeit  zweidrittelmal  größer  ist  als  beim 
früheren  Tempo, 11)  Daß  bei  der  Einführung  des  neuen 
Systems  die  Fabrik  viele  der  intelligentesten,  fleißigsten 
und  ehrlichsten  Mädchen  lediglich  deshalb  verlor,  weil 
ihnen  schnelle  Wahrnehmung  und  Entschlußfähigkeit 
fehlte,  wird  auf  S.  94  ganz  offen  erzählt. 

Die  Durchführung  des  Taylorschen  Systems  scheint 
mir  vorauszusetzen,  daß  der  Leitung  des  Unternehmens 
so  viele  Arbeiter  zur  Verfügung  stehen,  daß  eine  Aus- 
wahl erstklassiger  Arbeiter  überhaupt  möglich  ist  und 
daß  für  die  zu  leistenden  Arbeiten  eben  nur  erstklassige 
Arbeiter  in  Verwendung  kommen.  Auch  scheint  mir, 
daß  die  unvermittelte  Übernahme  des  Taylorschen 
Systems  Arbeiterentlassungen  zur  Folge  haben  müßte, 
welchen  jedenfalls  in  unseren  Verhältnissen  doch  viel- 
fach erhebliche  tatsächliche  Hindernisse  im  Wege  stünden. 


-       ')  s. 

47  ff. 

«)S, 

68  ff. 

»)  s. 

80  ff. 

10)  S. 

90  ff. 

")  s. 

100. 

—     169    — 

Auch  hätte  wohl  die  Einführung  des  Taylorschen  Systems 
eine  maßlose  Ausnützung  der  Arbeitskraft  jener  Arbeiter 
zur  Folge,  welche,  ohne  erstklassig  qualifiziert  zu  sein, 
die  Leistungen  und  den  Lohn  der  erstklassig  Qualifizierten 
erringen  und  erhalten  müßten. 

Der  Wert  des  Taylorschen  Buches  besteht  also,  wie 
Dr.  Robert  Mayer,  a.  a.  0.,  mit  Recht  ausführt,  darin, 
daß  es  auf  die  Wichtigkeit  technischer  Beobachtung  des 
manuellen  Arbeitsprozesses  aufmerksam  macht.  Ob  die 
Durchführung  des  Taylorschen  Systems  in  Amerika  wirk- 
lich "trotz  des  unversiegbaren  Stromes  der  Ein- 
wanderer" 12)  auf  die  Dauer  dazu  führen  wird,  ein  herz- 
liches Einvernehmen  zwischen  Arbeitern  und  Arbeit- 
gebern zu  schaffen  und  zu  sichern,  scheint  mir  keines- 
wegs unzweifelhaft  festzustehen. 

Amerikanische  Gleichheit  und  Disziplin. 

Das  amerikanische  Gemeinwesen  entspricht  durchaus 
nicht  einem  europäischen  in  seiner  Gesamtheit,  sondern 
nur  in  seinen  mittleren  Massen.  Es  fehlt  ihm,  wie  Wells 
a.  a.  0.,  S.  64,  dies  ausdrückt,  im  Gegensatze  zum 
europäischen  Organismus  das  sinnende  Haupt  und  die 
unteren  Extremitäten.  Der  Zug  demokratischer  Gleich- 
heit trotz  aller  Verschiedenheiten  der  ökonomischen 
Position  und  Macht  fällt  dem  neuankommenden  Europäer 
überall  auf.  Die  Eisenbahnen  haben  nur  eine  Wagen- 
klasse. Man  sage  nicht,  daß  diese  für  den  reichen 
Amerikaner  nicht  in  Betracht  komme.  Der  reiche  Börsen- 
mann, welcher  abends  oder  zu  Weeksend  nach  seinem 
Landhaus  zurückkehrt,  fährt  eine  oder  vielleicht  auch 
mehrere  Stunden  in  einem  Lokalzuge  mit  durchgehenden 
Wagen,  in  welchen  zahlreiche  Arbeiter  aus  der  Stadt 
heimfahren.  Dieser  Zug  demokratischer  Gleichberechti- 
gung fällt  aber  auch  in  den  Expreßzügen  auf,  welche 
entweder    für   Tagfahrten    aus   Parlor   Cars,    das   heißt 


^^)  Robert  Mayer,  a.  a.  0. 


—     170    — 

Waggons  zusammengesetzt  sind,  in  welchen  jeder  einzelne 
Reisende  sich  seinen  Fauteuil  zu  mieten  hat,  oder  für 
lange  Reisen  mit  Nachtfahrten  aus  Schlafwagen  zu- 
sammengesetzt sind.  Die  Möglichkeit  des  Alleinreisens 
ist  auch  in  den  Expreßzügen,  welche  sehr  wenig  besondere 
Coupes  (Drawing  Rooms,  Compartments)  mit  sich  führen, 
für  sehr  wenige  Reisende  gegeben.  Der  Neger  Guard, 
der  Vanman  (Gepäckswagenmann),  der  Billetkontrolleur 
nehmen  in  Expreßzügen  mitten  unter  dem  Publikum  Platz. 

Beim  Frühstück  zu  Ehren  des  Prinzen  Heinrich  am 
26.  Februar  1902  wurden  die  Teilnehmer  nach  dem 
Alphabet  gereiht,  so  daß  John  Rockefeiler  an  der  dritt- 
letzten Tafel  Platz  nehmen  mußte  (Goldberger,  a.a.O., 
S.  90,  S.  164).  Es  wirkt  überraschend,  wie  schnell  diese 
Gleichstellung  das  gesamte  Gebaren  und  Betragen  der 
erst  kurz  im  Lande  Befindlichen  hebt. 

Der  Sinn  für  Disziplin  des  Amerikaners  ist  ein  sehr 
großer.  Die  strenge  Einhaltung  des  Rauchverbotes,  das 
tadellose  Aussehen  der  Waschtoiletten  in  den  Eisenbahn- 
zügen, in  welchen  man  ja  oft  tagelang  leben  muß,  die 
Ordnung,  mit  welcher  sich  die  30  und  40  und  mehr  Be- 
wohner und  Bewohnerinnen  eines  amerikanischen  Schlaf- 
wagens früh  beim  Toilettemachen  bewegen,  fallen  an- 
genehm auf.  Die  Ordnung  in  den  Zügen  ist  trotz  der  oft 
sehr  großen  Distanz  der  einzelnen  Stationen,  des  geringen 
Zugbegleitungspersonals  und  obwohl  es,  soviel  ich  be- 
obachten konnte,  in  den  Zügen  und  auf  den  Bahnhöfen 
an  Organen  der  Ordnungs-  und  Sicherheitspolizei  so  gut 
wie  ganz  fehlt,  eine  überraschend  gute.  Das  freundliche 
Entgegenkommen  der  Passagiere  hat  mich  angenehm  be- 
rührt. Ich  habe  bei  meinen  vielen  Nacht-  und  Tages- 
eisenbahnfahrten nirgends  einen  Streit  zwischen  Fahr- 
gästen oder  einen  Konflikt  zwischen  einem  Fahrgast  und 
einem  Eisenbahnorgan  beobachtet.  Im  fernen  Westen 
Amerikas  ist  mir  einmal  das  Mißgeschick  widerfahren, 
daß  ich  beim  Herabreichen  eines  Koffers  einer  amerika- 
nischen  Dame    den   Kofferbügel    abgerissen   habe.    Die 


—     171     — 

freundliche  Gelassenheit,  mit  welcher  die  mir  ganz  fremde 
Dame  das  ihr  durch  meine  Ungeschicklichkeit  wider- 
fahrene, recht  unbequeme  Mißgeschick  aufnahm,  habe 
ich  dankbar  empfunden. 

Die  Ruhe,  mit  welcher  der  Amerikaner  die  Über- 
füllung eines  Straßenbahnwagens  über  sich  ergehen  läßt, 
eine  Überfüllung,  v^on  welcher  man  sich  in  Europa  oft 
kaum  auch  nur  eine  Vorstellung  macht,  habe  ich  oft 
bewundert.  Der  Amerikaner  weiß,  daß  die  Konzentrierung 
der  City  auf  einen  relativ  kleinen  Bezirk,  der  gleich- 
zeitige Schluß  aller  Geschäfte  an  die  Straßenbahngesell- 
schaften ein  kaum  lösbares  Problem  stellt  und  so  fügt 
er  sich  mit  bewunderungswürdiger  Geduld.  Ich  bin  einmal 
in  Pittsburg  in  einen  überfüllten  Straßenbahnwagen  ge- 
raten, welchen  ich,  da  ich  infolge  eines  Versehens  einen 
falschen  Wagen  bestiegen  hatte,  nach  knappen  zwei 
Stationen  verlassen  mußte;  die  freundliche  Hilfsbereit- 
schaft, mit  welcher  die  aneinander  gekeilten  Fahrgäste 
mir  rasch  aus  dem  Wagen  halfen,  ist  mir  in  Erinnerung 
geblieben.  Ich  habe  es,  als  ich  mein  Versehen  entdeckte, 
zunächst  für  gar  nicht  möglich  gehalten,  daß  ich  den 
überfüllten  Wagen  überhaupt  rechtzeitig  werde  verlassen 
können. 

Der  amerikanische  Millionär,  der  ein  fashionables 
Restaurant  betritt,  nimmt  nicht  früher  Platz,  bis  der 
Oberkellner,  dessen  Befugnis  und  Pflicht  es  ist,  die  Gäste 
zu  empfangen,  seines  Amtes  zu  walten  findet,  und  nimmt 
keinen  anderen  Platz  ein,  als  den  ihm  der  Oberkellner 
anweist.  Er  weiß,  daß  das  Behagen  aller  Gäste  des 
Raumes  auch  von  der  entsprechenden  Disposition  über 
die  Plätze  abhängt.  Aufgefallen  ist  mir  als  ein  Beispiel 
der  Rücksicht,  welche  der  Amerikaner  Bediensteten  gegen- 
über übt,  daß  in  den  Vorräumen  der  großen  amerika- 
nischen Hotels  vielfach  Stühle  sich  befinden  mit  der 
Aufschrift  "for  bellboys  only",  Stühle,  die  also  für  eine 
Kategorie  von  Dienern  reserviert  sind  und  von  den  Hotel- 
gästen nicht  in  Anspruch  genommen  werden  dürfen. 


—    172     — 

In  den  sogenannten  Dry  States  ist  der  Alkohol  ver- 
boten. Der  Alkohol  verschwindet  auch  wirklich,  wenn 
der  Expreßtrain  in  das  Gebiet  des  Dry  State  einfährt. 
In  manchen  Staaten  des  Westens  ist  der  Gebrauch  von 
im  Zuge  befindlichen  Gläsern  aus  hygienischen  Gründen 
verboten.  Jeder  Reisende  muß  dann  eben  sein  eigenes 
Glas,  seinen  Metallbecher  (Aluminiumbecher)  benützen. 
Man  kann  diese  Becher  dann  bei  den  den  Zug  oft  durch- 
schreitenden Händlern,  welche  manchmal  eine  längere 
Fahrt  mitmachen,  manchmal  nur  stationsweise  mitfahren 
oder  während  des  Aufenthaltes  in  den  Stationen  den 
Zug  durchschreiten,  kaufen.  Diese,  die  Wagen  unzählige 
Male  im  Tage  durchschreitenden  Händler,  welche  vor 
allem  auch  die  unvermeidlichen  Süßigkeiten  und  Schoko- 
laden mit  sich  führen,  sind  für  den  europäischen,  solche 
Störungen  nicht  gewohnten  Reisenden  oft  sehr  lästig.  Die 
verbotenen  Gläser  sind  aber,  woran  ich  selbst  anfangs 
nicht  glauben  wollte  und  wovon  ich  mich  selbst  wieder- 
holt überzeugt  habe,  wirklich  verschwunden,  wenn  der 
Zug  die  Grenze  des  Verbotsstaates  überschritten  hat. 

Das  Freiheits-  und  Unabhängigkeitsgefühl  schließt 
in  den  amerikanischen  Schulen  Disziplinarmittel  so  gut 
wie  ganz  aus.  Lehrer  und  Schüler  stehen  sich  vollkommen 
gleichberechtigt  gegenüber.  Aber  das  Gefühl  der  Billig- 
keit und  Gerechtigkeit  ist  schon  so  früh  in  der  Jugend 
entwickelt,  daß  der  Lehrer  mit  Erfolg  an  dasselbe 
appellieren  kann,  und  es  wurde  mir  übereinstimmend 
versichert,  daß  die  Ordnung  in  den  amerikanischen 
Schulen  im  großen  und  ganzen  eine  gute  sei.  So  ist 
es  denn  auch  möglich,  daß  der  Unterricht  in  den  obersten 
Klassen  der  High  School,  in  welchen  Jungen  v^on  15  bis 
19  Jahren  sich  befinden,  oft  von  Lehrerinnen  erteilt 
werden  kann. 

Die  Strafandrohungen  wegen  einer  Ordnungswidrig- 
keit sind  manchmal  sehr  barbarisch,  aber  sie  scheinen 
zu  wirken.  Die  althergebrachte  Unart  des  Spuckens  in 
den  Wagen  der  Straßenbahn  ist,    wenigstens  soweit  ich 


—     173     - 

dies  in  großen  Städten  zu  beobachten  Gelegenheit  hatte, 
gründlich  beseitigt  worden.  Die  Strafdrohungen  klingen 
manchmal  freilich  sehr  hart.  Ich  glaube  solche  gelesen 
zu  haben,  in  welchen  Geldstrafen  bis  zu  1000  Dollars 
oder  Gefängnis  bis  zu  einem  Jahre  angedroht  waren. i3) 

Das  Ansprechen  einer  Frau  auf  der  Straße  ist  im 
Staate  California  mit  schweren  Strafen  bedroht.  Ich  kann 
mich  an  den  angedrohten  Strafsatz  nicht  mehr  genau 
erinnern,  aber  ich  weiß,  daß  ich  ihn  sehr  hoch  gefunden 
habe.  Das  Verbot  aber  hat  gewirkt  und  sichert  die 
Frauen  vor  zudringlicher  Behelligung.  Die  Zuvorkommen- 
heit der  Amerikaner  gegen  die  Frau  auch  im  täglichen 
Leben  ist  eine  sehr  große.  Die  Hüte  der  Herren  fliegen 
fast  automatisch  vom  Kopfe,  wenn  eine  Dame  den  Lift 
betritt.  Aufgefallen  ist  mir,  daß  in  den  amerikanischen 
Städten  Herren  und  Damen  ihre  Autos  sehr  häufig  selbst 
fahren  und  dann  ruhig  auf  der  Straße  stehen  lassen, 
während  sie  ihre  Besuche  oder  Einkäufe  machen.  Ein 
mir  befreundeter  Arzt  macht  alle  seine  Besuche  in  dem 
von  ihm  selbst  gelenkten  Auto. 

Das  Sichselbsthelfenkönnen  des  Amerikaners  ist  für 
den  Europäer  manchmal  überraschend.  Feine  Herren 
und  Damen  putzen  sich  ihre  Stiefel  selbst  im  Hotel  und 
zu  Hause.  Dienstleute  sind  ja  häufig  ein  ganz  uner- 
schwinglicher Luxus.  In  einer  mir  befreundeten  Familie 
besorgen  die  Damen  des  Hauses  alle  häuslichen  Ver- 
richtungen selbst  und  nur  einmal  in  der  Woche  kommt 
die  Waschfrau.  Die  amerikanische  Frau  ist  durch  die 
Geschäfte  des  Haushaltes  in  der  Regel  unverhältnismäßig 
stärker  in  Anspruch  genommen  als  die  europäische  Frau 
gleicher  sozialer  Stellung.  Hintrager,  a.  a.  0.,  S.  153 ff., 
erzählt  in  sehr  launiger  Weise  von  dem  wöchentlichen 


")  In  dem  interessanten  Artikel  "Verkehrsskizzen  aus  den  Ver- 
einigten Staaten"  von  Ingenieur  Sigmund  Strauß,  "Neue  Freie  Presse" 
vom  8.  Juni  1913,  ist  der  Straf satz  von  500  Dollars  oder  von  einem 
Jahr  Gefängnis  oder  von  beidem  zusammengenommen  für  das  Aus- 
spucken in  einem  Straßenbahnwagen  angegeben. 


—     174    — 

Wäschefest  in  einer  Familie,  in  welcher  er  viel  verkehrte. 
Für  die  Damen  der  Familie,  über  deren  verschiedene 
Religionsbekermtnisse  Hintrager  Interessantes  mitteilt, 
beginnt  jeden  Montag  um  vier  Uhr  früh  ein  Wäschefest, 
bei  welchem  außer  den  Dienstboten  auch  sämtliche  weib- 
lichen Mitglieder  der  Familie  sich  tätig  beteiligen,  so  daß 
abends  um  vier  Uhr  die  Wäsche  wieder  fertig  an  ihrem 
Platze  ist.  Dann  machen  die  Damen  Toilette  und  wenn  sie 
nach  der  Abendmahlzeit  von  Literatur  und  Politik 
sprechen,  so  würde  kaum  jemand  denken,  daß  sie  die 
Seife  für  das  Wäschefest  selbst  herzustellen  pflegen. 

Die  für  Amerika  charakteristische  Vorherrschaft  der 
Frau  ist  auf  sehr  verschiedene  Ursachen  zurückzu- 
führen.i*)  Die  Notwendigkeit  gesteigerter  Arbeitsleistung 
der  Frau  im  Haushalte,  in  der  Erziehung  und  im  Unter- 
richt sowie  in  den  zahlreichen  Wohlfahrtseinrichtungen 
des  großen  Landes  gehört  gewiß  mit  zu  den  Ursachen, 
welche  diese  Vorherrschaft  der  Frau,  und  zwar  keines- 
wegs bloß  in  der  eleganten  Welt,  sondern  in  den  breiten 
Schichten  des  Volkes,  begründet  und  aufrecht  erhalten 
haben.15) 

Wolkenkratzer. 

Die  Wolkenkratzer  sind  entstanden,  weil  der  Grund 
und  Boden  in  den  amerikanischen  Geschäftsvierteln  teuer 
ist;  weil  New  York  auf  die  schmale  Insel  Manhattan 
beschränkt  ist;  weil  der  Betrieb  eines  Warenhauses  auf 
einen  schmalen  Raum,  auf  eine  kleine  Grundfläche  kon- 


^*)  Vgl.  die  trefflichen  Ausführungen  von  Hin  trag  er,  a.  a.  0., 
S.  137  ff.,  in  dem  Kapitel  "Die  Amerikanerin",  ganz  hesonders  aber  die 
Ausführungen  von  Georg  von  Skal,  a.  a.  0.,  "Die  Frau  und  die 
Familie",  S.  64  ff. 

")  Hintrager,  a.  a.  0.,  S.  56,  erwähnt  ein  Strafgesetz  des 
Staates  Jova,  wonach  keine  alkoholischen  Getränke  einem  Manne  ver- 
kauft werden  dürfen,  dessen  Frau  dies  durch  eine  Bekanntmachung 
verboten  hat.  —  Über  amerikanische  Frauen  als  energische  Alkohol- 
gegnerinnen vgl.  Georg  von  Skal,  a.  a.  0.,  S.  73  ff. 


—     175    — 

zentriert  werden  kann;  weil  man  den  Geschäftsbetrieb 
auf  eine  Reihe  breiter,  sich  kreuzender  Straßen  kon- 
zentrieren wollte,  um  welche  sich  dann  die  Viertel  mit 
Villen  und  Einfamilienhäusern  kreisförmig  ziehen;  weil 
man  nicht  in  der  City  wohnt,  sondern  nach  getaner 
Arbeit  hinausfährt,  um  den  Abend  und  die  freien  Tage 
in  einem,  wenn  auch  kleinen  Häuschen  mit  einem  kleinen 
Gärtchen  zu  verbringen;  weil  man  Hotels  mit  weiten 
Gesellschaftsräumen  im  Erdgeschoß  und  in  den  ersten 
Stockwerken  haben  wollte  und  doch  mit  Zimmern  für 
Hunderte  und  Tausende  von  Mietern.  Sie  sind  also  ent- 
standen, weil  der  amerikanische  Geschäftsbetrieb,  das 
amerikanische  Leben  sie  brauchte.  Wer  in  europäischen 
Städten  so  häufig  in  die  Lage  kommt,  zwischen  einem 
Hotelzimmer  in  einem  kleinen  häßlichen  Hof  und  einem 
Zimmer  auf  die  lärmende  Straße  hinaus  zu  wählen, 
wird  es  dankbar  begrüßen,  wenn  er  in  einem  amerika- 
nischen Hotel,  zum  Beispiel  im  Hotel  "Plaza"  in  New 
York,  ein  Zimmer  im  15.  oder  16.  Stockwerk  erhält, 
in  welchem  er  frische  Luft,  freie  Aussicht  und  in  der 
Höhe  Schutz  vor  dem  Straßenlärm  findet.  Ich  finde  aber, 
daß  jedes  Bauwerk,  das  so,  wie  es  ist,  entstehen  mußte, 
infolge  seines  charakteristischen  Typus  früher  oder 
später  dem  Besucher  schön  erscheinen  wird.  Wir  finden 
viele  unserer  Bahnhöfe  schön,  weil  wir  sie  brauchen, 
weil  wir  froh  sind,  wenn  der  Erbauer  dieser  notwendigen 
Bauwerke  ihnen  eine  ästhetisch  wirkende  oder  doch  nicht 
einfach  häßliche  Architektur  zu  geben  verstanden  hat. 
Wer  die  Wolkenkratzer  bei  der  Ankunft  in  New  York 
von  der  See  inmitten  des  herrlichen  Panoramas  sieht, 
wird  finden,  daß  dieselben  ein  unvergleichliches  und  un- 
vergeßliches Bild  imposanter  Schönheit  gestalten.i^)  Lam- 
precht, S.  81  ff .,  stellt  zwei  Bildchen  nebeneinander, 
das  von  New  York  vom  Hudson  aus  und  das  des  trotzigen 

^ö)  Dem  Engländer  Wells  (a.  a.  0.,  S.  34)  fällt  in  diesem  Pano- 
rama das  Fehlen  des  verschleiernden  Kohlendunstes  infolge  der  Anthrazit- 
heizung in  New  York  auf.  —  Vgl.  Rambeau,  a.  a.  0.,  S.  85  ff. 


—     176    — 

Tuskernestes,  San  Gimignano  von  Rocca  aus  gesehen; 
das  letztere  ein  Wahrzeichen  der  Liberias  nobilium,  das 
erstere  das  Wahrzeichen  der  Liberty  der  Captains  of  In- 
dustry ;  ich  finde  dies  als  eine  der  feinsten  Apercus  dieses 
geistreichen  Buches.  Der  Blick  vom  Roof  Garden  des 
Astoria  Hotels  in  New  York  in  einer  heißen  Augustnacht 
auf  nah  und  fem  gelegene  Wolkenkratzer  und  in  der 
Ferne  auf  die  unter  mir  liegende  Stadt  wird  mir  un- 
vergeßlich bleiben. 

Das  bekannte  Fiat  Iron  Building  (Bügeleisen- 
gebäude) hat  20  Stockwerke.  Das  Singer  Building  der 
bekannten  riesigen  Nähmaschinenfabrik  erhebt  sich  zu 
einer  Höhe  von  612  Fuß  und  von  dessen  42.  Stock- 
werke genießt  man  eine  unvergleichliche  Aussicht.  Das 
Metropolitan  Life  Insurance  Company  Tower  hat  50  Stock- 
werke und  693  Fuß  Höhe  (der  Kölner  Dom  hat  511  Fuß 
Höhe) ;  der  Elevator  führt  bis  zu  einer  Höhe  von  544  Fuß. 
Wer  von  einem  dieser  Türme  über  die  weite  Stadt  blickt 
und  das  unvergleichliche  Panorama  genießt,  wird  viel- 
leicht daran  denken,  daß  in  dieser  gigantischen  Stadt 
Tausende  und  Tausende  von  Menschen  im  Kampf  um 
das  Leben  zermalmt  worden  sind,  aber  auch  Hundert- 
tausende und  Hunderttausende,  welche  die  enge  europä- 
ische Heimat  verstoßen  hat  oder  hungern  ließ,  von  hier 
ihren  Weg  gefunden  haben  zu  einem  freien  und  glück- 
lichen Leben. 

Auch  die  Wolkenkratzer  der  Michigan  Avenue  in 
Chicago,  dieser  Boulevard  an  den  Ufern  des  Michigan- 
sees, geben  ein  schönes,  großartiges  Straßenbild. 

Der  neueste,  höchste  Wolkenkratzer  in  New  York  von 
56  Stockwerken  ist  der  des  Woolworth  Building.  Ich 
hoffe,  denselben  bald  zu  sehen  und  bin  darauf  gespannt, 
die  ästhetische  Wirkung  zu  beobachten,  welche  dieses 
neue  gigantische  Werk  amerikanischer  Bautechnik  in  dem 
großartigen  Hafenbild  von  New  York  ausübt. 


Bemerkungen  und  Nachträge. 


Zu  S.  8  und  10: 

Hintrager,  Wie  lebt  und  arbeitet  man  in  den  Vereinigten  Staaten, 
wird  bloß  mit  dem  Autornamen  zitiert,  während 

Hintrager,  Amerikanisches  Gefängnis-  und  Strafenwesen,  mit 
dem  ganzen  Titel  zitiert  wird. 

Zu  S.  75,  Anm.  4: 

Bei  den  Surrogate  Courts  im  Staate  New  York  ist  der  Surrogate 
Richter  mit  juristischer  Vorbildung  und  fällt  Entscheidungen  in  Naeh- 
laßsachen.  Die  administrativen  Geschäfte  des  Nachlaßgerichtshofes 
werden  dann  durch  die  Surrogate  Clerks,  an  deren  Spitze  der  Chief 
Clerk  steht,  besorgt.  Im  Staate  New  Jersey  hat  der  Surrogate  dieselbe 
Stellung  wie  der  Chief  Clerk  im  Staate  New  York,  ist  nicht  Eichter, 
bedarf  nicht  juristischer  Vorbildung  und  untersteht  dem  Orphans  Court 
mit  dem  Orphans  Jndge. 

Zu  S.  80: 

Es  kommt  daher  sehr  häufig  vor,  daß  ein  Anwalt  einer  Partei, 
insbesondere  auch  einer  Korporation  (Aktiengesellschaft)  den  Titel 
"Judge"'  führt. 

Zu  S.  91,  Anm.  6: 

In  der  Grazer  "Tagespost"  vom  27.  Juli  1913  finden  sich  unter 
dem  Schlagworte  "Die  Frau  als  Rechtsanwalt"  folgende  Mitteilungen: 
"Als  vor  einiger  Zeit  die  Bundesregierung  das  Verfahren  gegen  den 
Standard  Oil-Trust  begann,  zog  der  Generalstaatsanwalt  die  New  Yorker 
Juristin  Miss  Mary  Grace  Quackenbos  in  den  Staatsdienst,  ernannte 
sie  zum  Staatsanwalt  und  ihre  Tätigkeit  während  des  Prozesses  erwies 
sich  als  von  größtem  Werte.  In  den  Vereinigten  Staaten  wirken  heute 
gegen  vierzig  weibliche  Rechtsanwälte.  Am  berühmtesten  unter  ihnen 
ist  wohl  Frau  Rechtsanwalt  Lockwood,  die  vor  einiger  Zeit  die  An- 
sprüche eines  Indianerstammes  gegen  die  Bundesregierung  vertrat  und 
ein  Urteil  erwirkte,  das  den  Staatssekretär  zwang,  den  Tscherokesen 
eine  Entschädigungssumme  auszuzahlen,  die  sich  auf  viele  Millionen 
Mark  belief." 

Hanaasek,  Amerikanische  Skizzen.  12 


—     178    — 

Zu  S.  107: 

Daß  der  Jugendrichter  Pinckney  neuestens  einen  weiblichen 
Assistant  Judge  sich  bestellt  hat,  ist  bereits  oben  S.  92,  Anm.  7, 
erwähnt  worden. 

Zu  S.  144: 

Bei  Hintrager,  "Amerikanisches  Gefängnis-  und  Strafenwesen", 
S.  42  ff.,  sind  folgende  Zeilen  aus  einem  deutsch  geschriebenen  Brief 
eines  Gefangenen  in  Elmira  an  dessen  in  Deutschland  lebenden  Vater 
mitgeteilt:  "Seit  ich  hier  bin,  habe  ich  keine  rahige  Stunde  mehr,  ich 
bin  immer  so  aufgeregt,  man  muß  immer  Angst  haben,  wenn  man 
einen  Fehler  macht,  dann  können  sie  einen  ein  Jahr  länger  behalten." 
Auf  S.  40  sagt  Hintrager,  "Der  Gefangene,  welcher  die  Elmira- 
Schule  verläßt,  ist  physisch  und  intellektuell  für  den  Konkurrenzkampf 
vorzüglich  ausgestattet.  Dies  allein  schon  hält  viele  dem  Gefängnis 
fem."  Der  Besuch  Hintragers  in  Elmira  fällt  in  die  Zeit  vor  der 
oben  S.  144,  Anm.  31,  erwähnten  Krise  in  Elmira.  Das  System  der 
unbestimmten  Verurteilung  setzt  besonders  hohe  Anforderungen  nicht 
nur  an  die  Menschenkenntnis,  sondern  auch  an  die  Menschenfreund- 
lichkeit des  Leiters  der  Strafanstalt. 


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Los  Angeles 
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