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MAHZ VERLAß WIE^^
THE LIBRARY
OF
THE UNIVERSITY
OF CALIFORNIA
LOS ANGELES
Amerikanische Skizzen
Vorträge
gehalten im Grazer Juristenverein
von
Dr. Gustav Hanausek
k. k. Hofrat, Professor an der Universität Graz.
Wien, 1913.
Manzsche k. u. k. Hof-Verlags- und Universltats-Buchhandlnng.
I., Kohlmarkt 20.
Vorwort.
Die folgenden Skizzen geben in erweiterter Gestalt
und mit Zusätzen Vorträge wieder, welche ich im ab-
gelaufenen Winter im Grazer Juristenverein gehalten
habe. Zwei kurzen Aufenthalten in Amerika i) von
zusanunen wenig mehr als zwei Monaten verdanke
ich eine überwältigende Fülle von Anregungen und
Eindrücken. Ich habe lange gezögert, die reiche Li-
teratur über Amerika durch ein neues Buch zu ver-
mehren. Allein schließlich hat der Wunsch über-
wogen, mir wenigstens über einige Gruppen von Be-
obachtungen und Eindrücken dadurch Rechenschaft zu
geben, daß ich sie fixiere. 2) Gegenstand meiner Studien
waren vor allem Unterrichtswesen und Wohlfahrts-
einrichtungen, Verfassung und Verwaltung, Rechtspflege
und Rechtsgang, Besserungs- und Strafanstalten in den
Vereinigten Staaten. Schon aus dieser Aufzählung geht
hervor, daß ich an eine systematische und vollständige
Darstellung der behandelten Probleme nicht gedacht habe.
Ich habe deshalb auch meine Ausführungen Skizzen
genannt.
^) Mit Amerika bezeichne ich dem herrschenden Sprachgebrauche
gemäß Nordamerika, und zwar speziell die Vereinigten Staaten, Vgl.
Bambeau, "Aus und über Amerika", S. 2.
^) Bryce, "The American Commonwealth", I., p. 2: "It is such
a feeling as this, a sense of the immense curiosity of Europe regarding
the social and political life of America, and of the incomparable signi-
ficance of American experience, that has led and will lead so many
travellers to record their impressions of the Land of the Future. Yet
the very abupdance of descriptions in existence seems to require the
author of another to justify himself for adding it to the list".
I*
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Vorwort V— VII
Literatur 1 — 13
/. Kapitel: Colleges^ Universitäten, Rechtsschulen . . . 14—47
Welche amerikanischen Universitäten sind den Univer-
sitäten in Deutschland und Österreich im wesentlichen gleich-
zuhalten? — Qraduate Schools und Fachschulen (Law Schools,
Medical Schools). — Die Rockefeller-Universität in Chicago. —
Gottesdienst in der Leon Mandel Assembly Hall. — Professor
Henderson. — Amerikanische Universitätsvorträge. — Uni-
versitätslehrer in Chicago. — Fakultäten der Universität
Chicago. — Konzentration des gesamten Unterrichts. —
Frauenstudium. — Koedukationalsystem (Anmerkung 11). —
Frequenz der Universität Chicago. — Bedingungen für die
Zulassung zu den Junior Colleges und zu den Senior Colleges.
— Die Erlangung des Grades eines Bachelor of Arts. —
Einteilung des Universitätsjahres in vier Quarters. — Vor-
lesungskataloge, Unterrichtsgelder und Studienkosten (An-
merkung 13). — Vorlesungen an der Law School. — Vor-
lesungen des Professor Freund. — Die Harvard-Universität
in Cambridge bei Boston. — Präsident A. L. Lowell. —
Keine weiblichen Studenten in Harvard. — Das Harvard-
College und die fünf Fakultäten. — Unterrichtsgeld und
Studienkosten. — Frequenzziffem. — Die amerikanischen Law
Schools. — Lecture System. — Textbook System. — Cases
System. — Bedingungen für die Zulassung als ordentlicher
Hörer und als Special Student an der Harvard Law School,
für die Erlangung des Bachelor of Law und des Doktorgrades
der Rechte. — Strenge Examina. — Moot Courts. — Law
Clubs. — Fleiß der Juristen in Harvard. — 606 beziehungs-
weise 581 Anstalten mit dem Titel Universities, Colleges and
Technical Schools, davon 139 Universitäten, von welchen
aber nur 22 oder 23 mit europäischen Universitäten in Ver-
gleich zu ziehen sind. — Colleges. — Bildungsgang eines
— IX —
Seite
amerikanischen Studenten. — Staats- und Privatuniversitäten,
Leitung der Universitäten. — Besetzung der Professuren. —
Anstellung der Professoren. — Amerikanisches Studentenleben.
//. Kapitel: Bund und Staaten. — Gerichte und Anwälte . 48—104
§ 1 48—60
Gebiet der Vereinigten Staaten, Area, Bevölkerung. —
Naturschätze der Vereinigten Staaten. — Kongreß. — Vor-
herrschaft der Juristen in den gesetzgebenden Körperschaften.
— Schwierigkeit der Eechtskenntnis und die dadurch ge-
förderte Herrschaft der Juristen. — Legislaturen der Einzel-
staaten und Bezüge der Mitglieder des Kongresses und der
Legislaturen. — Verteilung der Gewalt zwischen Staaten
und Bund. — Kompetenz des Bundes. — Hauptstädte sind
häufig nicht die größten Städte (Anmerkung 15). — Kompetenz
der Staaten zur Gesetzgebung in Ehesachen. — Jedes Mit-
glied des Kongresses, nicht aber der Präsident und die Re-
gierung, hat das Recht, Gesetzesvorschläge zu machen. —
Bills und Vetorecht des Präsidenten. — Botschaften des
Präsidenten. — Vetogewalt des Gouverneurs. — Verweisung
zur Volksabstimmung (Referendum) und Initiative zur Volks-
abstimmung in einer Reihe von Einzelstaaten.
§2 60—73
Duplizität der Gerichte. — Recht der Gerichte, die
Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zu prüfen und Begründung
desselben. — Beispiele von Fällen, in denen das Bundes-
gericht dieses Prüfungsrecht geübt hat. — Shermann-Akte
und Bureau of Corporations. — Überordnung der ordent-
lichen Gerichte über die Verwaltung. — Distriktsgerichte
und Bezirksgerichte. — Circuit Courts of Appeals. — Court
of Claims. — Court of Customs Appeals. — Commerce Court.
— Ernennung der Bundesrichter, Bezüge der Bundesrichter,
des Präsidenten der Vereinigten Staaten und des Vizepräsi-
denten der Vereinigten Staaten und der Minister. — Im-
peachment of Executive Officers und of Judges. — Districts
Attorney. — Der General Attorney,
§ 3 . . . , 73—81
Gerichte der Einzelstaaten. — Gerichtshöfe erster Instanz
(Supreme Courts), Zwischenberufungsgerichte (Appellate
Courts), Oberster Gerichtshof (Court of Appeals, häufig auch
Supreme Court genannt). — Gerichtsverfassung der Staaten
New York und Illinois. — Bestellung der Richter. — Amts-
periode der Gouverneure und der Richter. — Bezüge der
Seite
Richter und Gouverneure. — Ruhegenüsse von Bundesrichtern.
— Staatsanwälte, Sheriffs und Clerks of Court werden durch
das Volk gewählt. — Friedensrichter ohne juristische Vor-
hildung.
§4 81—88
Enger Kontakt zwischen dem englischen und dem
amerikanischen Rechte. — Englische Gerichtsentscheidungen
genießen in Amerika das größte Ansehen. — Weitgehende
materielle Rechtsgleichheit des Rechts in den einzelnen
Staaten. — Unterscheidung von Law und Equity. — Zivil-
geschworne nur in Common Law-Sachen. — Kodifikationen
des Zivilprozeßrechts und des Strafrechts, nicht des Zivil-
rechts. — Schwurgerichtsverfahren in Strafsachen. —
Befehlsgewalt der amerikanischen Gerichte. — Die Richter
werden dem Anwaltstande entnommen. — Vertrauen und
Respekt vor dem Richterstande.
§5 89—99
Anwaltschaft. — Unterschied zwischen Solicitors und
Barristers nicht übernommen. — Qualifikation zur Anwalt-
schaft. — Anwaltsvereine. — Disziplinargewalt des Ge-
richtshofes gegenüber Anwälten. — Ämterfähigkeit und
Wahlrecht der Frauen (Anmerkung 7). — Stellung der
amerikanischen Anwaltschaft. — Kein Anwaltszwang. —
Keine formelle Prozeßvollmacht. — Honorare der Advokaten
(Contingent Fee, Retainer Fee). — Ausbeutung von Ein-
wanderern aus Österreich-Ungarn durch Foreign Bankers
(Anmerkung 14). — Besuch von Verhandlungen eines Night
Court. — Besuch des Court- Hauses in Chicago, in Pitts-
burg, in Boston.
§6 , 99—104
Geringe Voraussetzungen für die Erlangung des Amts
eines Notary Public. — Notariatsurkundeu. — Titel
Guaranty Companies. — Die Chicago Title and Trust
Company. — Grundbücher in Chicago. — Burnt Record
Proceedings. — Torrens-System.
///. Kapitel: Amerikanische Jugendgerichte . . . . 104 — 111
Circuit Court of Cook County Juvenile Court. —
Dr. Healey und Richter Pinckney. — Dependent Days,
Truancy Days, Delinquent Days. — Probation Officers. —
Haftung Erwachsener, insbesondere der Eltern für Delikte
von Kindern (Anmerkung 7). — Jurisdiktion des Jugend-
gerichts. — Industrial Schools. — Die George Junior
Republic in Freeville.
— XI —
Seite
IV. Kapitel: Die Strafanstalt Sing Sing . . . .111—122
V. Kapitel: Das Reformatory von Elmira . . . 122 — 146
I. Geschichte und Organisation dieses Reformatory,
— II. Die Entlassung gegen Parole. — in. Innere
Einrichtung.
VI. Kapitel: Das Hüll Hoiise und die Parks in Chicago 147 — 155
VII. Kapitel: Ellis Island 155—165
VIII. Kapitel: Miszellen 166—176
Taylor-System. — Amerikanische Gleichheit und
Disziplin. — Wolkenkratzer.
Bemerkungen und Nachträge 177 — 178
Literatur.
Das folgende Verzeichnis enthält eine größere An-
zahl von Werken und Schriften, auf welche in den
folgenden Ausführungen Bezug genommen wird. Die Zu-
sammenstellung soll kurze Zitate ermöglichen und dem
Leser eine orientierende Übersicht über eine Anzahl von
Büchern der Amerikaliteratur geben. Bei einigen Werken
ist eine Inhaltsangabe, bei anderen sind kritische Bemer-
kungen beigefügt.
Ich nenne im Abschnitt I Werke von amerikanischen,
deutsch - amerikanischen und in Amerika wirkenden
Schriftstellern, im Abschnitt II Werke englischer und
französischer Autoren, in den Abschnitten III und IV
Bücher deutscher und österreichischer Schriftsteller; im
Abschnitt IV führe ich Schriften an, welche spezielle
Themen und einzelne Probleme behandeln.
Dr. Woodrow Wilson, Präsident der Vereinigten Staaten von
Amerika, Der Staat, Elemente historischer und praktischer Politik,
autorisierte Übersetzung von Günther Thomas, 1913. — Die letzte
Ausgabe des Werkes, das uns nunmehr in deutscher Ausgabe vorliegt,
ist 1894 erschienen. Das Buch war ursprünglich als Leitfaden für die
Vorlesungen gedacht, welche Wilson an der Princeton- Universität
für die reifere akademische Jugend gehalten hat. "Wilson hat diesen
Leitfaden bis zur Aufgabe seiner akademischen Tätigkeit verwendet
und derselbe wird von anderen akademischen Lehrern in Amerika noch
heute benutzt." (Vgl. Vorwort des Übersetzers, S. IV.) Die Kapitel-
überschriften dieses großen Werkes lauten: I. Der Ursprung der
Eegierungsgewalt, S. Iff. 11. Das Eegierungssystem der Griechen,
S. 26 ff. m. Die Regierung Roms, S. 83 ff. IV. Römische Herrschaft
und römisches Recht, S. 129 ff. V. Germanische Verfassung und Regierung
im Mittelalter, S. 146ff. In diesem Kapitel spricht Wilson von der
Hanaasek, Amerikanische Skizzen. 1
— 2 —
Verbreitung des römischen Rechts in Europa und dem Eindringen
desselben in die Rechtssysteme Europas. Aufgefallen ist mir, daß
Wilson S. 178 sagt, wir wissen, daß Papinian, der größte römische
Jurist, selbst in Britannien Eecht gesprochen hat, und wir haben nun
Grund zur Annahme, daß das römische Recht in einer 400jährigen
Herrschaft tief Wurzel geschlagen hat. "Doch läßt sich sagen, daß
römische Einflüsse fast ausschließlich nur die äußere Form der Recht-
sprechung berührt haben, während das Wesen des englischen Rechts
durchwegs germanisch ist." VI. Die Regierung Frankreichs, S. 179 ff.
VII. Die Regierungen Deutschlands, S. 217 ff. VIII. Das Regierungs-
system der Schweiz, S. 263 ff. IX. Die Doppelmonarchie Österreich-
Ungarn, S. 290 ff. X. Die Regierung Großbritanniens, S. 302 ff.
XI. Die Regierung der Vereinigten Staaten, S. 342 ff. XII. Übersicht:
Entwicklung von Verfassung und Verwaltung, S. 412 ff. XIII. Natur
und Form der Regierung, S. 426 ff. XIV. Das Recht: Seine Natur
und Entwicklung, S. 441 ff. XV. Die Funktionen der Regierung,
S. 460 ff. XVI. Der Zweck der Regierung, S. 472 ff. — In den fol-
genden Ausführungen wird vor allem auf die Ausführungen des
XI. Kapitels Bezug zu nehmen sein.^)
Dr. Ernst Freund, Professor an der Universität Chicago, Das
öffentliche Recht der Vereinigten Staaten von Amerika, in der Sammlung
"Das öffentliche Recht der Gegenwart", von Jellinek, Laband und
Piloty, 12. Band, Tübingen 1911, ein hervorragendes Werk deutscher
Gelehrtenarbeit, ein wahrhaft monumentales Buch. Die plastische
Schilderung der komplizierten amerikanischen staatlichen und recht-
lichen Einrichtungen, die großartige Beherrschung des ungeheuren
Materials in knapper Darstellung macht die Lektüre dieses Werkes zu
einer ebenso lehr- wie genußreichen.
Hugo Münsterberg, Professor an der Harvard -Universität,
Die Amerikaner, 4. Auflage, 1912. Daß Münsterbergs Buch eine
sehr fleißige und sympathische Zusammenfassung, eine mit klugem
Urteil geschehene literarische Zusammenstellung bietet, gibt auch ein
so scharfer Kritiker wie PI enge, "Die Zukunft in Amerika" (S. 27) zu.
Selbst wenn Münsterberg, wie dies PI enge behauptet, mit naiven
Mittelstandsaugen gesehen hätte, wäre dies in den Augen desjenigen
kein Vorwurf, der auch diese Betrachtungsweise für eine durchaus
berechtigte hält. Um so erfreulicher ist mir das achtungsvolle, sym-
pathische Urteil, welches der weitblickende Engländer Wells über das
Buch in der unten S. 7 zu besprechenden Schrift "Die Zukunft in
^) Die Programmrede des Präsidenten Wilson finde ich in der
Morgenausgabe der "Täglichen Rundschau", Berlin, 5. März 1913.
Über diese Programmrede ist der überaus interessante Aufsatz von
Franz Klein im "Neuen Wiener Tagblatt" vom 28. März 1913 zu
Vergleichen.
— 3 —
Amerika" fällt, in dem er insbesondere hervorhebt, Münsterberg
habe viel für die Verbreitung der Auffassung getan, daß zwischen
Amerika und Deutschland eine Wesens- und Sympathiegemeinschaft
besteht. Auch macht schon die Fülle des verarbeiteten Materials
Münsterbergs Buch für jeden, der sich mit amerikanischen Dingen
beschäftigt, zu einem überaus lehrreichen. Das Buch Münsterbergs
ist meines Erachtens gerade darum so gut, weil sich Münsterberg,
wie auch Wells (a. a. 0., S. 186) hervorhebt, noch nicht assi-
miliert hat.
Nicholas Murray Butler, Die Amerikaner. Die kleine Schrift
des Präsidenten der Columbia University ist in der Sammlung "Aus
Natur und Geisteswelt", Leipzig, Teubner, 1910, veröffentlicht. Die
Schrift enthält drei Vorträge, die auf Einladung des Rektors und der
Fakultäten der Universität in Kopenhagen im September 1908 gehalten
wurden-), und ist von dem ausgezeichneten Amerikakenner, Vorstand
der akademischen Auskunftsstelle der Universität Berlin, Professor
Dr. W. Paszkowski, bearbeitet. '^j
Benjamin Ide Wheeler, Präsident der University of California
(Berkeley-Universität), Inhaber der Rooseveltprofessur an der Universität
in Berlin im Wintersemester 1909/10, hat seine an der Berliner
Universität gehaltenen Vorlesungen unter folgendem Titel erscheinen
^) Butler sagt auf S. 14: "Dieses Vorherrschen des Rechts und
der Grundsätze, nicht der Menschen, beseelt jede amerikanische politische
Handlung." So könne man es verstehen, "wie es kommt, daß die
90 Millionen Amerikaner trotz klimatischer Unterschiede, so groß wie
zwischen Dänemark und Griechenland, trotz Entfernungen, größer als
zwischen England und Sibirien, trotz Rassenunterschiede, größer als die
des gesamten Europa, im Grunde ein einziger, erkennbarer politischer
Typus sind."
^) Im Verlage Gustav Schade (Otto Franke), Berlin, erscheinen
die von Professor Dr. Paszkowski, Leiter der akademischen Aus-
kunftsstelle der Berliner Universität herausgegebenen Berliner aka-
demischen Nachrichten. In diesen Nachrichten erscheinen (neben einem
Wohnungsanzeiger für Studierende und neben zahlreichen Annoncen)
zunächst Bekanntmachungen der Universitätsbehörden, ferner Aufsätze
und Universitätsnachrichten. Die Berliner akademischen Nachrichten
enthalten in den meisten ihrer Nummern auch Aufsätze, welche die Pflege
der wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Amerika und Deutschland
bezwecken. So enthält zum Beispiel die Nummer vom 1. November
1912 (VII, 2) eine Mitteilung "Die amerikanischen Gäste der Universität".
In der Nummer vom 11. November 1912 (VII, 3) werden dann die
Antrittsvorlesungen der amerikanischen Gäste der Universität mitgeteilt.
In der Nummer vom 12. Dezember 1912 (VII, 6) wird das amerikanische
Bildungswesen, der Jahresbericht des Deutschen Hauses in Columbia
und der Chirurgenkongreß in New York, in der Nummer vom 10. Jänner
1913 unter demselben Schlagwort das dramatische Museum der Columbia
University in New York sowie der deutsche Unterricht in den öffent-
lichen Schulen der Vereinigten Staaten besprochen.
1*
— 4 —
lassen: Unterricht und Demokratie in Amerika. — Die Quellen der
öffentlichen Meinung, das College, die Universitäten, Studentenleben,
Schule und Kirche in den Vereinigten Staaten, 1910. "Grundgedanke
der Vorlesungen war, als Fortsetzung der Berichte über amerikanische
Verhältnisse unser Unterrichtswesen zu behandeln, wie es einerseits
aus dem Geiste einer demokratischen Verfassung emporgewachsen ist
und wie es anderseits die Basis einer von der öffentlichen Meinung
getragenen und bestimmten Volksregierung darstellt." (Vorwort.)
Auf die Ausführungen dieses ausgezeichneten Buches wird im Kapitel I.
der folgenden Darstellung besonders häufig Bezug zu nehmen sein.
E. D. Perry, Die amerikanische Universität in der Sammlung
"Aus Natur und Geisteswelt", Leipzig, 1908, übersetzt von Professor
Dr. Bahlsen.
David Starr Jordan, Präsident der Stanford University California,
Universität und "College" in Amerika in der "Internationalen Wochen-
schrift für Wissenschaft, Kunst und Technik", herausgegeben von
Hinneberg, Berlin, 1909, S. 1209ff.
Adolf von Noe, Professor der deutschen Sprache und Literatur
an der Universität Chicago, Die Stellung des College im amerikanischen
Unterrichtssystem in derselben Wochenschrift, 1908, S. 918 ff.
Adolf von Noe, Leitgedanken zum Professorenaustausch in
derselben Wochenschrift, 1909, S. 937 ff.
Simeon E.Baldwin L.L.D., The American Judiciary, New York,
The Century Co., 1905. Das Werk enthält eine knappe, überaus lehr-
reiche Darstellung der Entwicklung und der gegenwärtigen Gestaltung
des amerikanischen Gerichtswesens.
Henry Lauren Clinton, Extraordinary Cases, New York
{Harper and brothers, 1896).
Henry Lauren Clinton, Celebrated Cases, New York {Harper
and brothers, 1897).
Frederik Trevor Hill, Dedsive hattles of the law, Narrative
studies of eight legal contests, affecting the History of the United
States between the Years 1800 and 1886, New York and London
{Harper and brothers, 1906/07).
Die drei eben zitierten Sammlungen von Eechtsfällen geben dem
europäischen Juristen ein vortreffliches Bild einerseits der Recht-
sprechung und Rechtsbildung, anderseits der politischen Entwicklung
in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Vocke, Handbuch der Rechtspflege in den Vereinigten Staaten
von Nordamerika, Gerichtsverfassung, Prozeßverfahren und freiwillige
Gerichtsbarkeit, mit einem Anhang: Der Erwerb von Grundeigentum
— 5 —
durch Ausländer. Dieses kleine Bach bringt in knapper Form eine
Fülle von für den europäischen Juristen lehrreichen Gesetzesmaterials.
Hannis Taylor, Jurisdiction and Procedure of the Supreme
Court of the United States, Kochester, The Lawyers Co-operative
Publishing Company, 1905.
Dr. O. W. Holmes Jr., Mitglied des Obersten Gerichtshofes der
Vereinigten Staaten in Washington, Das gemeine Recht Englands und
Nordamerikas (The Common Law), in der vortrefflichen Wiedergabe
Von Rudolf Leonhard, Professor in Breslau, Leipzig, 1912.
Frank J. Goodnow L. L. D., Eaton Professor of Administrative
Law and Municipal Science in Columbia University, The Principles of the
Administrative Law of the United States, New York and London, 1905.
Report of the Comraissioner of Education, for the Year ended
June 30th 1911, Washington, Government Printing Office. Der gegen-
wärtige Commissioner ist seit dem 8. Juli 1911 Philander Priestley
Claxton, Litt. Dr. Das Bureau of Education ist ein Teil des dem
Secretary of the Interior unterstellten Departement of Interior.
Die Reports des Commissioner of Education enthalten eine sehr
wertvolle Darstellung der gesamten Entwicklung und des jeweiligen
Standes des amerikanischen Unterrichtswesens. In diesen Reports sind
auch zahlreiche Aufsätze über ausländische Unterrichtsverhältnisse und
Fragen enthalten. Der zweite Band des Reports enthält eine Fülle
statistischen Materiales. Die Stellung des Commissioner of Education
ist der eines Unterrichtsministers nicht vergleichbar, weil demselben
keine Einflußnahme auf das ausschließlich der Kompetenz der Einzel-
staaten unterstellte Unterrichtswesen zusteht.
Ein statistisches Werk größten Stils ist The American States-
man's Yearbook, From official reports of the United States Government,
State Reports, Consular Advices and Foreign Documents, Edited by
J. Walker Mo Spadden, New York, Mc Bridge Nast and Company,
Publishers, 1912.
Über das Ergebnis des letzten Zensus von 1910 gibt das eben
zitierte Werk wertvolle Aufschlüsse. Außerdem lagen mir folgende,
drei Ergebnisse des letzten Zensus veröffentlichende Hefte vor: Thirteenth
Census of United States, Bulletin (Department of Commerce and
Labor, — Bureau of the Census, E. Dana Durand, Director).
Population: 1. Total Population and Area by States and Territories,
2. Population of Cities, 3. Abstract of Statistics of the number and
distribution of inhabitants.
Frederick Winslow Taylor, M. E., Sc. Dr., The Principles
of Scientific Management, New York and London, 1913. F. W. Taylor
ist Ehrenpräsident der American Society of Mechanical Engineers.
— 6 —
Sein Buch erschien in einer deutschen autorisierten Ausgabe von
Dr. jur. Rudolf Roesler, Diplomingenieur, unter dem Titel "Die Grund-
sätze wissenschaftlicher Betriebsführung", München und Berlin, 1913.
Georg von Skal, Das amerikanische Volk, Berlin, 1908. Von
Skal ist ein deutsch-amerikanischer Schriftsteller, kam mit 22 Jahren
nach Amerika, lebte, wie er im Vorwort ierzählt, drei Jahre von der
Hand in den Mund, war dann 10 Jahre in kaufmännischen Geschäften
verschiedener Art tätig und dann 16 Jahre laug in der Redaktion der
"New Yorker Staatszeitung". Das ausgezeichnete und anregende Buch
"möchte zeigen, wie der Amerikaner ist, denkt und lebt, und weshalb
er so geworden, wie er ist".
Etnily Kempin, Doktor beider Rechte der Universität Zürich,
Dozent der Rechtswissenschaft an der Universität der Stadt New York,
Professor für gerichtliche Medizin am New York Medical College und
Hospital for Women, Die Rechtsquellen der Gliedstaaten und Territorien
der Vereinigten Staaten von Amerika mit vornehmlicher Berücksichtigung
des bürgerlichen Rechtes. Zürich 1892.
Emily Greene Balch, Professor der politischen Ökonomie,
Wellesley College, Wellesley, Massachusetts, Die slawische Ein-
wanderung in den Vereinigten Staaten, übersetzt von Dr. Stephan
V. Philippovich, 1912. Eine Übersetzung des zweiten Teiles eines
Buches, das Miss Emily Greene Balch im Jahre 1910 unter dem Titel
"Our Slavic Fellow Citizen" (unsere slawischen Mitbürger) veröffentlicht
hat (Vorwort, S. III). In diesem zweiten Teile beschreibt Miss Balch
die Schicksale, die den Auswanderer erwarten, auf Grund von Be-
reisungen der hauptsächlichsten Einwanderungsgebiete in den Vereinigten
Staaten. Ihre Schilderungen der Hoffnungen, Leiden und Erfolge unserer
slawischen Mitbürger in dem Suchen nach einem neuen Leben in einem
fremden Lande wird niemand ohne Interesse lesen, dem die Schicksale
seiner Mitmenschen nicht gleichgültig sind (Vorwort, S. IV).
n. :
James Bryce, The American Commonwealth (two volumes,
new edition completely revised throughout with additional chapters,
1911). In dem im Jahre 1888 geschriebenen Vorwort zur ersten Auflage
dieses großen Werkes wird als dessen Aufgabe die Darstellung der wich-
tigsten (the more salient) sozialen und intellektuellen Phänomene des
heutigen Amerikas bezeichnet. Das Werk behandelt in sechs Teilen
nachstehende Materien: The National Government, The State Governments,
The Party System, Public Opinion, lUustrations and Reflections, Social
Institutions. Der Verfasser dieses ausgezeichneten und grundlegenden
Werkes war bis vor kurzem englicher Botschafter in Washington.
H. G. Wells, The Future in America, A search after realities,
Leipzig, Tauchnitz Collection, 1907. In deutscher Übersetzung unter
dem Titel "Die Zukunft in Amerika" in der Sammlung "Politische
Bibliothek", Jena, 1911, erschienen. Dieses überaus interessante Werk
eines hervorragenden Soziologen ist nach einem etwa dreimonatigen
Aufenthalt im Lande geschrieben.
James Fullarton Muirhead, America, The Land of Contrasts,
a Briton's View of bis American Kin. London und New York, 1909.
Muirhead ist der Verfasser der "Baedeker" für Großbritannien und
die Vereinigten Staaten.
Alexis de Tocqueville, De la ddmocratie en Amerique, vier
Bände. Dieses berühmte Buch ist zum erstenmal 1835 erschienen.
Paul Bourget, Outre-Mer, Notes sur l'Amörique. Paris, 1894.
Rambeau bezeichnet dieses Buch als das interessanteste, geistreichste
und literarisch wertvollste, das er über das heutige Nordamerika gelesen
habe. Bourget beschreibt einerseits als Meister desRomanpsychologique
das Leben der hohen und höchsten Gesellschaft, der Millionäre und
Multimillionäre, anderseits die Tummelplätze und Vergnügungsorte,
das Tun und Treiben des dunkelsten New York. Das eigentliche
arbeitende und zur Kirche gehende, nüchtern denkende amerikanische
Volk hat Bourget kaum kennen gelernt (Rambeau, a.a.O., S. 29).
m.
K. Dove, Professor in Jena, Die angelsächsischen Riesenreiche,
eine wirtschaftsgeographische Untersuchung; II. Die Vereinigten Staaten
von Nordatneriha, 1907. Dove zeigt in seiner kleinen Schrift insbesondere,
daß die Gliederung der Gebirge in Nordamerika (von Norden nach
Süden mit niedrigem Anstiegfwinkel) für die Erschließung des Verkehrs
von Osten nach Westen von nicht genug hoch zu wertender Bedeutung
gewesen sei.^) Das Fehlen großer, von Westen nach Osten streichender
Gebirgszüge ist in dieser Richtung gewiß ein unbestreitbarer Vorzug,
das Fehlen aber starker Gebirgsabschlüsse im Norden wie im Süden
beeinflußt das Winter- und Sommerklima zweifellos in nachteiligster
Weise.
Wilhelm von Potenz, Das Land der Zukunft, 2. Auflage, 1903.
Dieses fein geschriebene Buch enthält interessante historische, politische,
wirtschaftspolitische und kulturhistorische Beobachtungen und Skizzen.
^) "Diese bisher kaum gewürdigten Unterschiede der Straßen in
diesem Teile der Neuen Welt gegenüber den Hochgebirgsbahnen
Europas zeigen uns abermals, wie die Natur selbst hier einer schnellen
Erschließung des Landes in einer Weise vorgearbeitet hat, die
gläubige Gemüter wie eine höhere Bestimmung anzumuten vermag". (S. 15.)
— 8 —
S. 2 ff. heißt es: "Die Rollen scheinen vertauscht zu sein. Während
früher Europa die Welt europäisiert hat, will, wie es scheint, Amerika
nunmehr seine Mutterländer amerikanisieren." — "Es gibt nicht zwei
Völker auf dem ganzen Erdenrunde, die so viel voneinander lernen
können wie das amerikanische und das deutsche." Auf S. 4 sagt der
Autor: "Die Besiedlung Nordamerikas durch die Europäer, die Ent-
stehung einer neuen, großen Nation im hellen Lichte der Weltgeschichte
wird kommenden Geschlechtem vielleicht als die wichtigste, jedenfalls
aber als die außerordentlichste Erscheinung der Weltentwicklung in
der neueren Zeit erscheinen."
Dr. Hintrager, Wie lebt und arbeitet man in den Vereinigten
Staaten, 1904. Der Zweck des Buches ist, ein anschauliches Bild
des Lebens in den Vereinigten Staaten von Amerika auf Grund von
Aufzeichnungen während dreimaliger längerer Studienreisen zu geben.
"Das Buch enthält eine möglichst vorurteilslose Darstellung einzelner
Gelegenheitsbilder." Es beschreibt das Leben auf der Farm, in der
Schule, auf dem Bureau des Rechtsanwalts, im Gerichtssaal, in den
Strafanstalten und charakterisiert in treffender Weise Amerika als das
Land der Arbeit (S. 210 ff.). In den knappen und feinen Schluß-
betrachtungen finden sich folgende treffende Bemerkungen: "Die
gebildeten Amerikaner geben sich keinen Illusionen darüber hin, daß
ihnen das Glück in wunderbarer Weise gelächelt hat und daß die
Tage der Prüfungen und der großen Aufgaben noch im Schöße der
Zukunft liegen. — Als die nächsten Probleme erscheinen ihnen die
Negerfrage und die Anhäufung der Geldmacht in wenigen Händen.
— Wozu wird der Kampf zwischen den modernen Feudalherren des
Großkapitals und den Massen führen? Solange die Massen hier immer
noch mehr um Komfort kämpfen als um das Dasein, solange ist dieser
Kampf noch immer nicht auf seiner Höhe. Es wird erst dann zu
seinem vollen Ernste gelangen, wenn die Bevölkerung dichter geworden
ist. — Dann erst werden die wirtschaftlichen und staatlichen Grund-
lagen der Vereinigten Staaten die Feuerprobe zu bestehen haben."
Ludwig Max Goldberger, Das Land der unbegrenzten Möglich-
keiten, 8. Auflage, 1911. Dieses Werk eines hochgebildeten KaufmanneSj
Nationalökonomen und Statistikers ist nach einem achtmonatigem
Aufenthalt in den Jahren 1901 und 1902 in den Vereinigten Staaten
geschrieben und gibt vorzugsweise Beobachtungen über das Wirtschafts-
leben der Vereinigten Staaten von Amerika. Das Buch enthält unter
anderem eine allerdings schon mit 1. September 1903 abschließende Über-
sicht über die in den Vereinigten Staaten arbeitenden Trusts (S. 225 ff.)
eine Kritik des Trustwesens (S. 204 ff.), ausgezeichnete Ausführungen
über die Arbeiterfrage (S. 189 ff.). Wir sehen in diesem Buch, und ich,
halte dies, abweichend von Plengö ("Die Zukunft in Amerika", S. 27)
für ein Verdienst desselben, das Amerika der großen Zahlen.
— 9 —
Karl Lamprecht, Professor in Leipzig, Americana, Reise-
eindrücke, Betrachtungen, geschichtliche Gesamtansicht, 1905. Einer
meiner amerikanischen Freunde war über so manches schroffe Urteil
in den Reiseeindrücken schmerzlich entrüstet und hat dadurch die
Geduld verloren, Lamprechts Reiseeindrücke weiterzulesen. Auch
in Plenge ("Die Zukunft in Amerika", S. 27 und S. 44) sowie in
Rambeau ("Aus und über Amerika", S. 32ff.) hat Lamprecht
scharfe Kritiker gefunden. Die Urteile Lamprechts sind überall,
auch wo sie scharf, und nicht ganz gerecht sind, infolge ihrer starken
Subjektivität überaus interessant. Die historische Gesamtansicht, mit
welcher der große Historiker sein Buch schließt, wird auch den
empfindlichsten Amerikaner versöhnen und gehört zu dem glänzendsten,
was über Amerika geschrieben wurde.
Johann Plenge, Professor in Leipzig, hat in einer eigenen
Abhandlung Die Zukunft in Amerika, 1912 (Sonderabdruck aus
"Annalen für Sozialpolitik und Gesetzgebung", I. Band) zu dem oben
■erwähnten Buche von Wells Stellung genommen. Plenge nennt
"Wells den Dichter des konstruktiven Sozialismus und einen Dichter
von leidenschaftlichem Überschwang. Es bleibe ihm die Poetenaufgabe,
die Gemüter für große Aufgaben zu begeistern (S. 26). Die sozial-
wissenschaftliche Betrachtungsweise sei eine seltene Kunst und "Wells
sei einer der wenigen, die in der echten Kunst sehr weit gekommen
sind (S. 28).
Dr. Adolf Rambeau, Professor der romanistischen Philologie
an der Universität Berlin, Lehrer des Englischen im Seminar für
orientalische Sprachen, Aus und über Amerika, Studien über die Kultur
in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, 1. Serie, 1912. Rambeau
verdankt seine Kenntnis amerikanischer Verhältnisse einem im ganzen
14 jährigen Aufenthalt in Amerika iind einem noch viel längeren
intimen Verkehr mit Amerikanern. Rambeau ist Professor der
romanischen Sprachen an einer bedeutenden Universität Nordamerikas,
Professor der neueren Sprachen und Leiter der diesbezüglichen Abteilung
(Head of department) an einem großen technologischen Institut sowie
Direktor des fremden, alten und neueren Sprachunterrichts an der
doppelten volkstümlichen Hoch- oder Oberschule gewesen.
Arthur Holitscher, Amerika heute und morgen, 1912, das
interessante Buch eines geistreichen Schriftstellers, ausgezeichneten
'Beobachters und scharfen Kritikers. Das uns jetzt nähergerückte
Kanada wird uns in einer Reihe von Aufsätzen geschildert.
Theodor Barth, Amerikanische Eindrücke. Berlin, 1907. Eine
impressionistische Schilderung amerikanischer Zustände in Briefen.
'Wie schwer es ist, die Chancen von Präsidentschaftskandidaten ein-
zuschätzen, zeigt das interessante Nachwort.
— 10 -
Oskar Lohan, Das Deutschtum in den Vereinigten Staaten von
Amerika, Berlin und New York 1913. Der Autor ist durch 25 Jahre
Konsularbeamter des Deutschen Reiches in den verschiedensten Teilen
der Vereinigten Staaten gewesen und seine treffenden Schilderungen
des Deutschtums in Amerika fußen daher auf eigenen Erlebnissen.
Dr. Karl Ritter von Englisch, Die Lehren der amerikanischen
Einwanderungsstatistik, "Statistische Monatsschrift", XXXVII. Band
1911, S. 345 ff.
IV.
Dr. J. M. Baernreither, Jugendfürsorge und Strafrecht in den
Vereinigten Staaten von Nordamerika. Ein Beitrag zur Erziehungs-
politik unserer Zeit, 1905.
Professor Dr. Adolf Lenz, Die angloamerikanische Reform-
bewegung im Strafrecht. Eine Darstellung ihres Einflusses auf die
kontinentale Rechtsentwicklung, 1908.
Dr. Oskar Hintrager, Amerikanisches Gefängnis- und Strafen-
wesen, Tübingen 1900.
Dr. Paul Herr, Das moderne amerikanische Besserungssystem.
Eine Darstellung des Systems zur Besserung jugendlicher Verbrecher
im Strafrecht, Strafprozeß und Strafvollzug (The Reformatory System)
in den Vereinigten Staaten von Amerika. Ergebnisse einer Studien-
reise und zugleich ein Beitrag zur Reform der deutschen Straf-
gesetzgebung, 1907.
Professor Graf Gleispach, tlber amerikanische Jugend-
strafanstalten. Ein Vortrag, gehalten am 3. Jänner 1912 über
"Einladung der Zentrale für Kinderschutz und Jugendfürsorge in Wien.
Separatabdruck aus Nr. 2 und 3, IV. Jahrgang der "Zeitschrift für
Kinderschutz und Jugendfürsorge".
Georg Stamm er. Amerikanische Jugendgerichte, ihre Entstehung,
Entuncklung und Ergehnisse, Berlin, 1908.
Gudden, Professor der Psychiatrie, Die Behandlung der jugend-
lichen Verbrecher in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, 1910.
Dr. Heinrich Reicher, Kinderschutz und Kinderfilrsorge in
der alten und neuen Welt. Sonderbeilage zu Nr. 22, II. Jahrgang des
"Zentralblattes für Vormundschaftswesen, Jugendgerichte und Fürsorge-
jerziehung". Diese kleine, aus dem literarischen Nachlasse des ausge-
zeichneten, viel zu früh verstorbenen Philanthropen und Sozialpolitikers
— 11 —
von der Eedaktion des zitierten Zentralblattes veröffentlichte Schrift
enthält unter anderem sehr interessante Mitteilungen über eine Studien-
reise in Amerika. Dr. Heinrich E ei eher ist der bekannte Autor des
großen dreibändigen Werkes "Die Fürsorge für die verwahrloste
Jugend", 1904 bis 1908, sowie der Schrift "Das IVIindestmaß an
Erziehung", 1909.
Dr. jur. E. Münsterberg, Amerikanisches Armenwesen, in den
Schriften des Deutschen Vereines für Armenpflege und Wohltätigkeit,
77. Heft. Leipzig, 1906.
Heinrich Waentig, Professor in Halle a. S., Die amerikanischen
Law Schools und die Reform des Rechtsunterrichts in Preußen.
Schmollers Jahrbuch, 1902, 4. Heft, S. 79 ff.
Rudolf Leonhard, Austauschgedanke auf juristischem Gebiete
in der "Internationalen Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und
Technik", herausgegeben von Hinneb erg, Berlin, 1908, S. 833ff.
R. Leonhard war "Kaiser Wilhelm- Professor" an der Columbia
üniversity im Wintersemester 1908. Von ganz besonderem Interesse
sind seine Ausführungen über das römische Recht als Gegenstand des
amerikanischen Eechtsunterrichts.
D. W. Böttger, Amerikanisches Hochschulwesen , Eindrücke
und Betrachtungen, 1906. . i., \t>.
D. h. c. Max Walter, Beobachtungen über Unterricht und
Erziehung in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, 1912.
Dr. Paul Cohn, Das Bildungswesen in den Vereinigten Staaten
von Nordamerika, Wien, 1906.
Sigmund Müller, Professor an der königlichen Technischen
Hochschule in Berlin, Technische Hochschulen in Nordamerika in der
Sammlung "Aus Natur und Geisteswelt", 1908.
Dr. Heinrich Schwegel, k. u. k. Vizekonsul in Chicago, Die
Einwanderung in die Vereinigten Staaten von Amerika, mit besonderer
Rücksicht auf die österreichisch-ungarische Auswanderung, "Zeitschrift
für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung", 1904, XIIL, S. 160
bis 207.
Derselbe Autor, "Über die neue deutsche Amerikaliteratur, Bei-
trag zu den 'Beiträgen zum Verständnis Amerikas'," Vortrag, gehalten
am 15. Dezember 1903 in der Gesellschaft österreichischer Volkswirte
zu Wien, Separatabdruck aus der "Volkswirtschaftlichen Wochenschrift"
von Alexander Dorn, Wien, 1904.
Dr. Franz Ritter von Srbik, Die Auswanderungsgesetzgebung.
"I. Die Grundzüge der wichtigsten europäischen Auswanderungsgesetze
— 12 —
(mit Berücksichtigung der beiden österreichischen Entwürfe). EL. Die
wichtigsten europäischen Auswanderungsgesetze (mit Berücksichtigung
der beiden österreichischen Entwürfe) und ihre wichtigsten Vollzugs-
vorschriften." Im Auftrage des k. k. Handelministeriums dargestellt
und gesammelt, 1911.
Anhang.
Columbia University Bulletin of Information, Catalogue and
General Announcements for 1911 — 1912.
Harvard University Catalogue, 1911—1912, sowie eine Anzahl
von Nummern des Official Register of Harvard University und von in
der Graduate School of Business Administration der Harvard Univer-
sity benützten Final Examination Papers, femer A brief Guide to the
Grounds and Buildings of Harvard University including a description
of Harvard College and the Graduate Sehools.
Annual Register for July 1910 tili July 1911, with Announce-
ments for 1911/12, der Universität Chicago (sowie eine Anzahl von
Heften, Announcements, Bulletins of Information, Circulars of In-
formation).
A Sketch of the History and Organization of Harvard Uni-
versity, Reprinted in revised form, by permission, from Cyclopedia of
Education, volume 111, edited by Paul Monroe, Ph. Dr. (New York,
the Macmillan Company, Copyright, 1912), 1913.
Hüll House Year Book, January Ist, 1913,
Jane Addams, Twenty Years at Hüll House, with Autobiographical
Notes, New York, 1912.
Stephan A. Foster of the Chicago Bar, Formerly Associate Judge
of the Municipal Court of Chicago, The Municipal Court of Chicago,
Chicago, 1912.
The Code of Criminal Procedure of the State of New York
being Chapter 442, Laws of 1881, as amended by Laws of 1882 — 1912
inclusive, with Notes of Decisions, Forms and Indices. Edited by
Lewis R. Parker of the Albany Bar. Twelfth edition by Amasa
J. Parker, Jr., of the Albany Bar, 1912.
Penal Law of the State of New York being Chapter 88 of
the Laws of 1909, as amended by the Laws of 1909—1912, with Notes,
Forms and Index, Fourth edition, edited by Amasa J. Parker, Jr., of
the Albany Bar, 1912.
— 13 —
«The Delinquent Child and the Home." Dieses von der Rüssel
Sage Fundation 1912 veröffentlichte, im Kapitel III näher zu besprechende
Werk enthält auf p. 247 sq. einen vortrefflichen Abstract of Juvenile
Court Laws.
Der 54. Jahresbericht der Berliner Juristischen Gesellschaft für
die Zeit vom 1. April bis 31. Dezember 1912, S, 29 ff., enthält ein
Referat über den Vortrag von P. S. Reinsch, Professor an der Uni-
versität Madison im Staate Wisconsin, Die Stellung des Richterstandes
in den Vereinigten Staaten.
Hand Book of the New York State Reformatory at Elmira,
compiled by Fred C. Allen of the Administration Staff (The Summary
Press, 1906).
Report of the State Board of Managers of Reformatories,
1909; ferner die Reports der Jahre 1910, 1911, 1912, gedruckt in der
Summary Press des Reformatory.
Annual Report of the Superintendent of State Prisons for the
Year Ending September 30th, 1910 (January 1911) und derselbe Report
for the Year Ending September 30*, 1911 (January 1912).
Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika sowie
die Verfassung des Staates New York sind nach der bei Freund,
a. a. 0. (vgl. oben S. 2), S. 339 ff., mitgeteilten Übersetzung zitiert.
I. Kapitel.
Colleges, Universitäten, Rechtsschulen.
Während die amerikanische Universität ihren An-
stoß und in hohem Maß ihre Form von Deutschland
empfing, hat das amerikanische College ohne Frage
seine Wurzel in englischer Tradition (Wheeler in
der oben S. 3 zitierten Schrift, S. 63). Der Euro-
päer, der von amerikanischen Universitäten sprechen
hört, muß sich vor allem hüten, das Wort Uni-
versity ohneweiters in unserem Sinne zu verstehen.
Das Wort University wird vielmehr sehr häufig identisch
mit College gebraucht und für jede Schule angewendet,
welche über die sogenannte High School, Oberschule
(einer etwa dem österreichischen Gymnasium bis ein-
schließlich der Quinta, dem deutschen Gymnasium bis
einschließlich der Untersekunda entsprechenden Schule),
hinausgeht.!) Institute, die man in unserem Sinn als
Universitäten ansehen kann, und welche ein starkes
^) Im Staate Illinois gibt es zum Beispiel 29 Colleges and Higher
Institutions of learning, von welchen 7 Universitäten heißen (zu diesen
gehört neben der Rockefeiler University in Chicago unter anderen auch
die römisch-katholische Loyola-Universität in Chicago, The American
States man's Year Book, p. 113). Im Staate New York gibt es neben der
Columbia-Universität noch folgende Universitäten: eine New York
University, dann die Union University in Schenectady, die Alfred
University in Alfred, die Fordham University in New York, die
University of Eochester, die Niagara-Universität, die St. Lawrence
University in Canton, die Cornell University in Ithaka, die Syracuse
University in Syracuse (Year Book, p. 228 sq.).
— 15 —
Element dessen in sich vereinen, was man in Deutsch-
land und Österreich unter Universitätsstudium versteht,
haben Graduate Schools von mehreren hundert Teil-
nehmern und eine oder mehrere Fachschulen, 2) Die
Graduate Schools kommen unseren philosophischen
Fakultäten nahe. Den Abschluß des Studiums an den-
selben bildet der Doctor philosophiae (Ph. Dr.), den
Abschluß des Collegestudiums der B. S. (Bachelor of
Science). Die meisten Studierenden der Graduate Schools
haben also bereits den Grad eines Bachelor erlangt. Zum
Eintritt in das juristische oder medizinische Fachstudium
bedarf es an vielen Universitäten des Abschlusses des
Collegestudiums nicht, sondern es genügen zwei oder drei
Jahre des vierjährigen Collegestudiums zum Eintritt in die
Law School oder in die Medical School. Der Jurist oder
Mediziner ist also an diesen Universitäten in der Lage,
den das Collegestudium abschließenden Degree eines
Im Columbia District gibt es neben der Catholie University of
America in Washington die Georgetown University, dann die (reo.
Washington University und Harvard University sowie vier Colleges
(Year Book, p. 89).
In West Point, im Staate New York befindet sich die United
States Military Academy. In Annapolis im Staate Maryland befindet
sich die United States Naval Academy, die Marineakademie.
^) Die amerikanischen Universitäten sind also nicht wie die
englischen Universitäten in Oxford und Cambridge bloß eine Ver-
bindung einer Anzahl von Colleges. Auch den Typus einer bloßen
Examining University gibt es in Amerika nicht. Solche Examining
Universities sind ziim Beispiel die Universitäten in Britisch-Indien
von Bombay, Calcutta und Allahabad. In dem oben (S. 4) zitierten
Aufsatze von David Starr Jordan, "Universität und College in
Amerika" findet sich (S. 1212) folgende Bemerkung: "In Oxford und
Cambridge ist die Universität nichts als eine Verbindung der ver-
schiedenen Colleges zum Zwecke der Verleihung von Degrees. Es ist
die Prüfungsbehörde der verschiedenen Colleges". Die Universität
Cambridge sei neben einer Examining University im besten Sinne des
Wortes eine Teaching University geworden. Die University of London,
welche allerdings vor kurzem eine Reihe bisher selbständiger Lehr-
anstalten sich angegliedert hat, ist in erster Linie eine Prüfungs-
behörde.
— 16 —
B, A. oder B. S. erst zu erwerben, nachdem er bereits
ein oder zwei Jahre gleichzeitig an seiner Berufsfakultät
studiert hat. Ich werde später näheres über den Bildungs-
gang eines amerikanischen Juristen oder Mediziners,
sowie über Colleges und Universitäten zu sagen haben.
Zunächst möchte ich aber von meinem Besuche der
jungen Rockefeller-Universität in Chicago und der alten
Harvard-Universität in Cambridge bei Boston erzählen.3)
Die Universität in Chicago ist an die äußerste Stadt-
peripherie gelegt. Die Universität ist so reich mit Gründen
ausgestattet, der "Campus" der Universität ist so groß,
daß ihr ein selbständiges Dasein als Universitätsstadt
und der Universitäts- Campus vor einer völligen Ein-
engung durch die hinausrückende Großstadt gesichert
erscheint.*)
Ich fuhr am Donnerstag den 11. April 1912 mit der
Illinois Central-Eisenbahn, deren Station in der Michigan
Avenue ganz nahe den großen Hotels liegt, nach der
57. Straße. Von da hatte ich noch reichlich 15 Minuten
bis zur Mandel Hall. In der Leon Mandel Assembly Hall
hatte ich verabredungsgemäß mit Professor Henderson
zusammenzutreffen. In dieser, nach ihrem Stifter, einem
Großkaufmanne von Chicago benannten Hall, welche seit
1903 in Verwendung steht, werden Orchesterkonzerte
und dramatische Aufführungen abgehalten ; in dieser Hall
finden auch die täglichen Chapel Assemblies, sowie die
Sonntagsgottesdienste statt.
^) Die Columbia Üniversity in New York konnte ich leider nicht
besuchen, ich mußte mich darauf beschränken — es war an einem
Karsamstag nachmittag — einige der Gebäude, eine Anzahl von Hör-
sälen und die Bibliothek zu besichtigen.
*) The William Rainey Harper Memorial Library ist am 10. und
11. Juli 1912 eröffnet worden. Die schön ausgestattete Festschrift ist
mir durch die Freundlichkeit der üniversitätsbehörden zugesendet
worden. Aus dieser Festschrift entnehme ich, daß die Gründe der
Universität 100 Acres betragen und daß die Längsseite des Viereckes
der Universitätsgründe gegen drei Viertel Meilen betragen (ungefähr
1200 Meter).
— 17 —
Professor Henderson erschien pünktlicü um halb
elf Uhr.^) Mit ihm zugleich erschien der Dean der Junior
Colleges, R. M. Lovett.^) Schon vorher war der Univer-
sitätsorganist gekommen. Wir begaben uns in die Hall
zum Gottesdienst. Ich hatte ebenso wie die beiden
anderen Herren einen Professoren-Gown anzulegen. Es
war ein Gottesdienst des Junior College, und zwar ein
Gottesdienst für Frauen. Es wurden Lieder unter Orgel-
begleitung gesungen. Junge Damen in Gown standen
auf der Estrade neben der Orgel. Auf der anderen Seite
standen wir drei Professoren. Dann sprach der Dean und
dann der Chaplain Henderson erbauliche Worte. Es war
dies das erste und einzige Mal in meinem Leben, daß
ich einen Professoren-Talar angelegt habe. Dann wurde
es elf Uhr und wir gingen in die Vorlesung (Class) des
Professor Henderson. Der Titel der Vorlesung war, wie
ich glaube, folgender : Contemporary Charities. — Studies
of the nature and origin of depressed and defective
classes; principles and methods of relief; Organisation
of benevolence. Mj. Spring Quarter, 11:00 (Annual Re-
gister, p. 250). Henderson ließ mich zu seiner Rechten
Platz nehmen und teilte der Versammlung mit, daß ich ihm
von Baernreither empfohlen sei, dessen Buch "Jugend-
fürsorge und Straf recht in den Vereinigten Staaten von
Amerika" er übersetzt habe (oder übersetzen wolle).
Reichlich zwei Drittel des Auditoriums waren Damen.
Er sprach von den amerikanischen Jugendgerichten und
fragte mich, ob wir in Österreich solche hätten. Ich
:*) Professor Charles Kichmond Henderson ist Universitäts-
kaplan (Chaplain) und Professor der Soziologie an der theologischen
Fakultät (Professor and Head of the Department of Ecclesiastical
Sociology — Annual Register of the üniversity of Chicago, 1910/11,
p. 133). Henderson ist auch Mitglied der Faculty of the Colleges
of Arts, Literature and Science (Annual Register, p. 76).
') Dieser sehr liebenswürdige Kollege begrüßte mich sofort mit
den Worten, daß er einmal auf einer Reise mehrere angenehme Tage
in Graz verlebt habe.
Hanaasek, Amerikanische Skizzen. 2
— 18 —
führte in längerer Darstellung aus, in welchem Sinne es
nach dem gegenwärtigen Stande der österreichischen Ge-
setzgebung ein Jugendstrafrecht gebe, und sprach von der
Begnadigung Jugendlicher sowie über die Jugendfürsorge-
bestrebungen in Österreich. Henderson ließ dann eine
junge Dame eine Art Bericht vortragen. Der Gegenstand
war die Schilderung des Lebenslaufes eines jungen
Burschen, das Milieu des Elends seiner Familie und
dessen Rückwirkung auf die Sittlichkeit des jungen
Burschen. Dann sprach Henderson selbst über die Für-
sorge für die Jugend. Die Stunde war rasch um. Hen-
derson sprach wie ein hochgebildeter Pädagoge und
Soziologe, erfüllt von hochsinnigen Ideen der Humanität.
Er erzählte unter anderem, daß am vergangenen Abend
im Auditorium'^) eine Versammlung stattgefunden habe,
die sich mit der Frage der Jugendfürsorge beschäftigt und
insbesondere die Frage der Verantworthchkeit der Eltern
in Betracht gezogen habe.^)
Die Universitätsvorträge sind in Amerika vielfach
Diskussionen und an die Unterrichtsform in unseren
Seminarien erinnernd. Die dialogisch-konversatorische
Methode ist an die Stelle der bloßen Vorträge getreten.
Um zwölf Uhr ging Henderson eine andere Vorlesung
zu halten und übergab mich einem jungen Manne, welcher
mich eine Stunde und länger in den Gebäuden der Univer-
sität herumführte. Ich sah unter anderem die Law
School, die in dem Law Building untergebracht ist. In
den Hörsälen hingen eine Menge Bilder von Judges.
Nach ein Uhr traf ich meinen Gastgeber im
Quadrangle Club, dem Klub der Universitätsprofessoren.
Die sehr einfachen Klublokalitäten bestehen aus Lese-
') Das Auditorium in Chicago enthält ein großes Hotel und
ein schönes Theater mit 4200 Sitzen. In diesem Theater werden
Konzerte und an Sonntagen gottesdienstliche Versammlungen ab-
gehalten.
*) Vgl. hiezu unten S. 108, Anmerkung 7.
— 19 —
zimmern und Speisesälen, welche behaglich und kom-
fortabel eingerichtet sind. Es gibt natürlich auch Dining
Halls für die Studenten, Lesehallen mit Billards, Dor-
mitories für die männlichen und weiblichen Studenten.
Ich nahm an dem Lunch als Gast Hendersons :teil,
mit uns speiste Professor von Noe, ein Grazer, welcher
Professor der deutschen Literatur an der Universität
Chicago ist. Geistige Getränke sind im Universitätsbezirke
verboten.
Die Universitätslehrer in Chicago sind in folgender
Weise eingeteilt: The Professor oder Professor of füll
rank, unseren ordentlichen Professoren gleichkommend.
Der Universitätssenat besteht aus allen Professoren of
füll rank. Dann gibt es den Associate Professor, welcher
auf Lebenszeit ernannt wird, und den von vier zu vier
Jahren ernannten Assistant Professor, welche ungefähr
unseren außerordentlichen Professoren gleichstehen. Dann
gibt es Instruktoren, welche auf drei Jahre ernannt
werden, ferner Associates, Assistants und Readers, welche
ungefähr den deutschen Universitätsassistenten ent-
sprechen (A. R., p. 7). Es gibt auch einige wenige, den
deutschen Privatdozenten etwa entsprechende Dozenten;
diese Einrichtung ist jedoch auf den amerikanischen
Universitäten nicht populär. Endlich gibt es Fellows,
Stipendisten, welche ihr Stipendium gewöhnlich für ein
Jahr erhalten.9)
Die Universität Chicago zählt folgende Fakultäten:
Die theologische Fakultät (Divinity School), die juristische
Fakultät (Law School), dann the Faculties of the Graduate
School of Arts and Literature and of the Ogden (Graduate)
•) Der normale Gehalt des ordentlichen Professors in Chicago
beträgt zwischen 3000 und 7000 Dollars; der Gehalt des Associate
Professor zwischen 2500 und 3000 DoUars; der Gehalt eines Assistant
Professor beginnt mit 2000 und steigt bis 2500 DoUars; der Gehalt
der Instruktoren beträgt 1200 bis 1800 Dollars; die Gehälter der
Associates, Assistants und Readers betragen zwischen 600 und
1000 Dollars; die Stipendien der Fellows betragen 120 bis 250 Dollars.
2*
— 20 —
School of Science 10)^ sowie die Faculty of the Colleges
of Arts, Literature and Science- Die beiden letzten, also
die Graduate School und die Colleges of Arts, Literature
and Science, zusammen, entsprechen unserer philoso-
phischen Fakultät, vermehrt um die zwei obersten
Klassen etwa eines deutschen oder eines österreichischen
Gymnasiums. Ferner gibt es noch eine Faculty of the
College of Education. Es gibt keine medizinische
Fakultät, wohl aber einen Dean in Medical Work (A. R.,
p. 76, p. 18).
Eine Eigentümlichkeit der Universität Chicago ist
die für unsere Vorstellung ganz eigenartige Konzentration
des gesamten Unterrichts in dieser Anstalt. Die Uni-
versität enthält ebenso einen Kindergarten, wie die
verschiedenen Fakultäten in unserem Sinne. Dieselbe
enthält aber auch ein College of Education, in welchem
Lehrer für die Elementarschule und für die Oberschule
(High School, vgl. oben S. 14) ausgebildet werden. Die
Universität enthält ferner ein Graduate Department of
Education, in welchem die Lehrer für die Colleges aus-
gebildet werden.
An der Universität Chicago sind Frauen zugelassen^
und zwar nicht nur an den Unterschulen und in der
High School, sondern vor allem im College, der eigent-
lichen nationalen amerikanischen Bildungsstätte. n)
^0) An dieser Graduate School wird nach einem Jahre der Magister
Artium (M. A.), nach drei Jahren der Phil. Dr. erworhen.
^^) Über das Koedukationalsystem finde ich bei Münsterberg
(a. a. 0., IL, S. 272) folgende Angaben: "Der öffentliche Schulunter-
richt ist koedukational, für Mädchen und Knaben gemeinsam. In den
niederen und mittleren Schulen gilt das ohne Ausnahme, in den Ober-
schulen in der bei weitem überwiegenden Mehrheit der Fälle. Von
den öffentlichen Oberschulen des Landes sind 10.153 zweigeschlechtig
und nur 34 für Knaben, 26 für Mädchen allein. Der gemeinsame
Unterricht auf dem Lande ist überhaupt ausnahmslos. An den städti-
schen Privatschulen verschiebt sich das Verhältnis wohl zugunsten
des getrennten Unterrichtes, 922 Oberschulen sind zweigeschlechtig,
348 für Knaben, 511 für Mädchen." Aber von den ungefähr 20 Millionett
— 21 —
Dem Annual Register 1910/11, p. 459 sq., entnehme
ich folgende Daten über die Frequenz der Universität:
I. Die Graduate School of Arts, Literature and
Science, und zwar:
Ä. Doctors of Philosophy Pursuing Special Courses :
Men 25, Women 7, Total 32; B. Students admitted to
die Schule besuchenden Kindern besuchen, wie Münsterberg an-
führt, nur anderthalb Millionen Privatschulen. Gegenüber dem unein-
geschränkten Lobe des Koedukationalsystems bei Münsterberg
(IL, a. a. 0.) und bei Polenz (S. 232f.) bezeichnet Rambeau
als die eigentliche Ursache des Systems Sparsamkeitsrücksichten.
Eambeau spricht sich gegen dieses System aus, hält es für un-
zweckmäßig und meint, es sei gegen dasselbe vom College auf-
wärts allerdings nichts einzuwenden. Besonders bemerkenswert ist
auch die Tatsache, daß drei Viertel des amerikanischen Unter-
richts von Frauen erteilt wird "und selbst in der Oberschule, in der
die Knaben meistens bis zum 18. oder 19. Jahre bleiben, bilden die
Lehrerinnen 57'7 Prozent und in den Seminarien, wo die künftigen
Lehrer sich mit den Lehrerinnen zusammen für den Schulberuf vor-
bereiten, machen die Dozentinnen 71-3 Prozent aus" (Münsterberg,
II, S. 304). Vgl. auch Rambeau, S. 133? Die Konkurrenz der Frau
macht sich am meisten und am auffälligsten auf dem Gebiete des
Unterrichts, im Lehrberufe und in den damit verwandten Berufen,
wie dem der Bibliothekare, bemerkbar. Vgl. femer Freund (S. 319):
"Überall sind weitaus die meisten Lehrstellen von Frauen besetzt.
Dagegen sind die Direktoren und Leiter der höheren Schulen und die
Aufsichtsbeamten mit wenigen Ausnahmen Männer". In der Anmerkung
erAvähnt Freund freilich, daß in der Stadt Chicago der Schulrat im
Jahre 1909 die Leitung der öffentlichen Schulen der Stadt einer Frau
übertragen hat. Die Frauen-Colleges werden bei Wheeler eingehend
besprochen (S. 118 bis 183). Auf S. 132ff. spricht Wheeler von
Coeducational Colleges und namentlich auch von den Widerständen
gegen die Koedukation. Die Koedukation passe nicht so gut in das
Sraall College wie in die Universität. Die der Koedukation feindliche
Stimmung richte sich mehr gegen die High Schools als gegen die
Colleges, die Graduate oder Universitätskurse sind — mit fast all-
gemeiner Zustimmung — der Koedukation eingeräumt. Hintrager,
"Wie lebt und arbeitet man in den Vereinigten Staaten", S. 155 ff.
teilt mit, daß er das Smith College in Northampton, Mass., besucht
habe, eine ausschließlich für Damen bestimmte höhere Lehranstalt
und daß man hier auf dem Boden der alten europaähnlichen
Kultur mit dem System der Koedukation gebrochen hat. Die Schul-
— 22 —
candidacy for higher degrees: Men 209, Women 104,
Total 313; C. Students not yet admitted to candidacy:
Men 744, Women 459, Total 1203, Gesamtsumme 1548.12)
IL Senior Colleges: Men 399, Women 372,
Total 771.
III. Junior Colleges: Men 635, Women 510,
Total 1145.
IV. The Unclassified Students (das sind Under-
graduate Students, welche einen Grad nicht anstreben,
also unseren Hospitanten und Hospitantinnen gleichend) :
Men 255, Women 438, Total 693.
V. Das University College; das University College
liegt im Zentrum der Stadt Chicago und in demselben
werden Universitätsvorlesungen gehalten für solche Per-
sonen, welche den regelmäßigen Unterricht in den Univer-
sitätsgebäuden (at the University Quadrangles) nicht be-
suchen können. Dasselbe war ursprünglich nur für
städtische Lehrer bestimmt. An diesem University College
sind Frauen in der Überzahl. Es gibt nämlich : A. Graduate
Vorsteherin hat sich folgendermaßen geäußert: "Soviel auch die Jungens
bei der Koedukation gewinnen mögen, die Mädchen verlieren immer
dabei".
Ich habe aus mancherlei Gesprächen über dieses Thema, welche
ich in Amerika geführt habe, den Eindruck gewonnen, daß die wesent-
lichen Gründe der Koedukation Sparsamkeitsrücksichten und Mangel
an männlichen Lehrkräften sind. (Vgl. hiezu die früher zitierte Be-
merkung Eambeaus.)
Die Selbständigkeit der amerikanischen jungen Mädchen und
die gute Art, mit welcher sich die amerikanische männliche Jugend
den Mädchen gegenüber betragen, haben das Koedukationalsystem
und insbesondere dessen Ausdehnung gefördert, waren aber nicht der
eigentliche letzte Grund dieses Systems. Es ist ja bezeichnend, daß
in einer mir bekannten Privatschule in Chicago, an welcher sowohl
Elementarunterricht als auch High School-Unterricht erteilt wird, weil
dieselbe eben für die höheren Gesellschaftsscbichten bestimmt ist, nur
Knaben zugelassen sind. Man hat also meines Erachtens keinen Grund,
sich bei uns für das System der Koedukation auf das amerikanische
Vorbild zu berufen.
^^) Annual Register p. 513.
— 23 —
Students: Men 35, Women 55, Total 90; B. Senior
College Students : Men 7, Women 16, Total 23 ; C. Junior
College Students: Men 16, Women 55, Total 71; D. Un-
classified Students: Men 78, Women 555, Total 633.
Die Zahlen verschieben sich wesentlich zugunsten
der Männer in den Berufsfakultäten. Die theologische
Fakultät (The Graduate Divinity School) zerfällt wieder
in die Graduate Divinity School, welche 259 männliche
und 18 weibliche Studenten, in Summa 277 Studenten,
besuchen. Ferner gibt es 21 männliche, 17 weibliche,
im ganzen also 38 Unclassified Divinity Students. Dann
gibt es noch ein englisches theologisches Seminar mit
33 männlichen, 8 weiblichen, zusammen 41 Studenten,
ein schwedisches theologisches Seminar mit 37 männ-
lichen und keinem weiblichen Studenten, endlich ein
dänisch-schwedisches theologisches Seminar mit 18 männ-
lichen und keinem weiblichen Studenten. Die Gesamt-
zahl der Theologen beträgt 363 männliche, 43 weibliche
Studenten, in Summa 406 Studenten.
Was die juristische Fakultät betrifft, so betrug die
Gesamtzahl nur 284 Studenten, von diesen waren aber
nur zwei Resident Graduates, welche bereits den Grad
eines Doctor of Law (J. D.) erlangt haben, aber ihre
Studien noch fortsetzen. Im dritten Jahre waren 61, im
zweiten Jahre 74, im ersten Jahre 139 Studenten und
dann waren noch 8 Unclassified Students, also Hospi-
tanten. Ferner gab es 25 Studenten aus anderen Fakul-
täten, welche Vorlesungen an der juristischen Fakultät
hörten. Wenn man diese geringen Zahlen liest, ferner
erfährt, daß es einen Zwang zum Besuch der Vorlesungen
gibt und obligate Jahresprüfungen, über die später noch
zu sprechen sein wird, so sieht man, daß die amerika-
nischen Studenten der Rechte vielleicht mehr Gelegen-
heit und Anlaß haben, fleißig zu sein, als dies in Deutsch-
land und Österreich häufig der Fall ist.
Die Universität Chicago hat, wie bereits oben er-
wähnt, keine Faculty of Medicine. Von den 238 Medical
— 24 —
Stüdents waren 221 männliche und 17 weibliche. Außer-
dem nahmen einzelne Kurse im ganzen 67 männliche
und .57 weibliche Studenten, im ganzen also 124 Special
Stüdents taking Medical Courses. Die naturwissenschaft-
lichen Disziplinen, Chemie, Zoologie, Anatomie, Physio-
logie, Pathologie und Bakteriologie hören die Mediziner
im College der Universität, die klinischen Kurse im Rush
Medical College, welches von der Universität räumlich
getrennt ist, aber unter derselben Verwaltung steht.
Das College of Education zählt 163 männliche und
870 weibliche Studenten, in Summa also 1033 Studenten.
Die Zulassung zu den Junior Colleges setzt eine
Prüfung voraus aus einem Lehrstoff, welcher den vier
Klassen einer High School entspricht (Secundary School,
High School or Academy). Nach zweijährigem Verbleiben
in einem Junior College erfolgt auf Grund einer Reihe
von Prüfungen die Zulassung zum Senior College. Der
Student, der eine Anzahl von Punkten, welche durch
Prüfungen aus den verschiedenen Disziplinen erworben
werden, hat, erlangt den Grad des Bachelors of Arts.
Die Gesamtzahlen der Studenten sind: 3117 männ-
liche, 3349 weibliche, in Summa 6466 Studenten. Wir
haben gesehen, daß nur ein sehr geringer Teil dieser
Studentenmassen auf die eigentlichen Fakultätsstudien
entfällt.
Charakteristisch für die Universität Chicago ist auch
die Einteilung des Universitätsjahrs in vier Quarters,
das Herbst-, das Winter-, das Frühjahrs- und das Sommer-
vierteljahr. Nach dem Schlüsse des Herbst- und des
Wintervierteljahrs sind eine Woche Ferien, nach dem
Abschlüsse des Sommervierteljahrs sind vier Wochen
Ferien, nach dem Schlüsse des Frühjahrsvierteljahrs gibt
es keine Ferien. Das Sommervierteljahr zerfällt in zwei
gleiche Terms.
Ein tägliches Kolleg, das heißt ein Kolleg von vier oder
fünf Wochenstunden heißt Major, ein Kolleg, welches
nur während eines Terms gelesen wird, heißt ein Minor
— 25 —
College. Ein täglich zweistündiges Kolleg während eines
Term heißt ein Double Minor College und ein zwei-
stündiges Kolleg während eines Quarters heißt ein Double
Major College. ^3)
Eine Durchsicht der Vorlesungskataloge der Univer-
sität Chicago ist ganz außerordentlich interessant. Unter
dem Schlagworte "Political Economy" finden sich zum
Beispiel folgende Vorlesungen angekündigt: 1. Principles
of Political Economy; 2. Economic History of the United
States; 3. Money; 4. Theory and History of Banking;
5. Public Finance and Taxation; 6. Trade Unionism
and Labor Legislation; 7. Railway Conditions; 8. Modern
Socialism; 9. Bookkeeping; 10. Partnership and Whole-
sale Accounting; 11. Corporation Accounting; 12. Bank
Accounting; 13. Auditing.^*)
Unter dem Schlagwort "Political Science" sind
folgende Vorlesungen angekündigt: 1. Civil Government
in the United States; 2. Elements of Business Law;
3. Elements of International Law; 4. Constitutional Law
in the United States.
In den Announcements für die Law School sind
Pre-legal Courses, Kurse für die Vorbereitung, für die
") Das Unterrichtsgeld (Tuition Fee) beträgt in Chicago 40 Dollars
für das Vierteljahr. In einem mir zugesandten Circular of Information
für 1912 13 werden die Kosten für 36 Wochen eines Studenten, welcher
innerhalb des Universitäts-Campus (within the quadrangles) wohnt, in
folgender Weise angegeben:
Lowest
S
Average
S
Liberal
University
Eent and i
bUl,
care
tuition . .
of room . .
12000
75-00
12000
1O50O
12000
22500
Board
13500
15-00
1000
16200
2500
2000
22500
Laundry
Textbooks
and stationery
35-00
5000
Total . . 35500 432-00 65500
") Accounting bedeutet Eechnungsführung, Auditing Kechnungs-
prüfung. Society of Accountants and Auditors ist ein sehr bekannter
Londoner Verein von Rechnungsführern und Rechnungsprüfern.
-- 26 —
Preliminary Education eines Lawyer angegeben; dann
Professional Courses für den dreijährigen Studiengang.
Die Vorlesungen des ersten Studienjahrganges sind
obligat, die Vorlesungen für das zweite und dritte Jahr
sind elective, sind der Auswahl der Studierenden über-
lassen, nur praktische Übungen sind vorgeschrieben. Die
Vorlesungen des ersten Jahres führen folgende Titel:
Contracts; Torts; Property; Agency; Title of Real
Estate ; Criminal Law. Zwölf Stunden wöchentlich gelten
als Füll Work, sind also für Anrechnung des betreffenden
Quarters vorgeschrieben.
An der Law School der Universität Chicago ist der
berühmte deutsche Staatsrechtslehrer Professor Freund
tätig; er las zum Beispiel in einem Winter Quarter vier
Stunden wöchentlich "Municipal Corporations", in einem
Sommer viertel jähr und in einem Wintervierteljahr vier
Stunden wöchentlich "Administrative Law and Officers",
ferner römisches Recht ebenfalls in einem vierstündigen
Kolleg.
Am 17. April 1912 besuchte ich die Universität
Harvard in Cambridge bei Boston. Die Fahrt von Boston
nach Cambridge mittels Subway und Trambahn dauerte
kaum mehr als 20 Minuten. Professor Dr. Josef Redlich
hatte die Güte, mir eine Empfehlungskarte an den ihm
persönlich bekannten Präsidenten A. L. Lowell mitzu-
geben. Dieser ist seit dem Jahre 1909 Präsident der
Harvard University. Sein Vorgänger war Charles
W. Eliot, welcher durch 40 Jahre Präsident der Harvard
University gewesen ist und jetzt als Privatmann in Cam-
bridge lebt. Präsident Lowell empfing mich in der
liebenswürdigsten Weise. Ich fand ihn trotz der Ferien
in seinem Office. Er zeigte mir zunächst den Sitzungs-
saal der philosophischen Fakultät mit zahlreichen Bildern
hervorragender Professoren, dann gab er mir Mr, Schaub,
Professor des Handelsrechtes an der Law School und
an der Graduate School of Business Administration, mit.
— 27 —
Dieser gütige und gelehrte Führer führte mich durch
zwei Stunden in den verschiedenen Gebäuden der Univer-
sität herum. In der Law School fielen mir die schön ge-
bauten, amphitheatralischen Hörsäle auf. Für je zwei Sitze
ein Tisch, nicht die verstärkten Rahmen, auf welche
Schreibmaterialien zu legen sind, wie ich sie in Columbia
und Chicago gesehen habe. In jedem Hörsaal eine Menge
von Bildern von Judges, daneben fand ich irgend ein
Zimmer, natürlich kein Hörsaal, sondern eine Art Lese-
zimmer, mit einer Menge sehr gelungener Karikaturen
von Judges.
Für die Law School, und zwar sowohl für die Hör-
säle wie für die Bibliothek sind zwei Gebäude, die
Austin Hall und die Langdell Hall bestimmt. Die Law
Library enthält die vollkommenste Sammlung von Legal
Records der englisch sprechenden Welt und auch eine
sehr gute Bibliothek von Werken europäischer Juristen.
Trotz der Ferien waren die Lesesäle voll besetzt. Ich
habe zwei Dining Halls gesehen, riesige, gemeinsame
Speisesäle. Die eine, die Memorial Hall, in welcher
1320 Studenten speisen können. Der Durchschnittspreis
für die Mahlzeiten, nämlich Frühstück, Lunch und Dinner
war im Jahre 1909/10 5 Dollars 33 Cents pro Woche,
also etwa IO6V2 Kronen pro Monat. Die Randall Hall
ist billiger, faßt 1200 Studenten. Die Verpflegung findet
ä la carte statt und kostet durchschnittlich 3 Dollars
75 Cents wöchentlich, also 15 Dollars monatlich.
Das Unterrichtsgeld beträgt auch in den Fachschulen
150 Dollars, nur in der medizinischen Fakultät 200 Dollars
pro Jahr. Eine Erhöhung greift dann Platz, wenn der
Betreffende den Degree des B. A. (Bachelor of Arts)
in drei Jahren zu erreichen wünscht und daher mehr
Kurse nimmt. Dann muß er für jeden Additional Course
20 Dollars zahlen. Der billigste Zimmerpreis ist
117 Dollars pro Jahr oder etwa 60 Dollars pro Kopf,
wenn zwei dasselbe Zimmer teilen. Sehr hohe Wohnungs-
— 28 —
mieten kommen vor, einzelne Studierende haben Woh-
nungen zu 2000 bis 3000 Dollars im Jahre.is)
In Harvard sah ich nirgends weibliche Studenten,
auch in der Bibliothek nicht — freilich waren ja Ferien.
Auf meine Frage erklärte mir Prof. Schaub, daß an der
Harvard Universität Frauen ausgeschlossen seien. Frauen
finden im nahegelegenen Radcliffe College Aufnahme,
einem Frauen-College, an dem nur Harvardprofessoren
im Nebenamte lesen. Nicht wenige Professoren wieder-
holen dort ihre ganzen Kollegien. Nur graduierte Frauen
können auch in Harvard arbeiten. i^)
Um ein Uhr war die Besichtigung zu Ende. Präsident
A. L. Lowell ging mit mir in den Professorenklub (den
Colonial Club), und wir nahmen dort in Gresellschaft
mehrerer Professoren und jüngerer Dozenten ein selbst-
verständlich alkoholfreies Lunch ein. Nach dem Lunch
führte mich der Präsident in einen Studentenklub, ich
glaube, es war die Harvard Union, mit großen Lese-
und Speisesälen und zwei Diningrooms.
Die Harvard Universität enthält das Harvard College
und fünf Fakultäten (Sketch, p. 12). Das Harvard College
zerfällt in vier Klassen. In dem Catalogue 1911/12, p. 105,
finde ich folgende Übersicht:
^^) Als Kuriosität möchte ich erwähnen, daß ich unter den Namen
der Studenten auch chinesische gefunden habe. Neger werden anstands-
los aufgenommen, freilich melden sich nur wenige.
^8) Im Catalogue and General Announcements der Columbia-Uni-
versität in New York finde ich auf p. 57 die Bemerkung, daß die
Frauen von allen Vorlesungen in Mines, Engineering, Chemistry,
Medicine and Law ausgeschlossen sind. Sie sind zugelassen für alle
Kurse, welche die Nummer über 101 haben, und zwar unter denselben
Bedingungen wie die Männer, wenn nicht durch eine besondere Be-
merkung das Gegenteil bestimmt ist. Die sämtlichen Kurse der Uni-
versität Columbia haben verschiedene Nummern und während die Kurse
von 1 bis 100 Elementarkurse sind, sind die Kurse von 101 bis 200
für solche Studenten bestimmt, welche bereits einen akademischen
Grad haben oder zwar Undergraduates sind, aber in ihren Prüfungs-
ergebnissen wenigstens 64 Punkte oder bei juristischen Vorlesungen
94 Punkte haben.
— 29 —
I. Senior Class (vierter Jahrgang), 372 Studenten,
von welchen 314 Kandidaten für den Degree des Bacca-
laureus Artium (A. B.), und 58 Kandidaten für den Grad
des Baccalaureus Scientiae sind.
IL Juniors (dritter Jahrgang), 537 Studenten, von
welchen 465 Kandidaten für den A. B. und 72 Kandidaten
für den S. B. sind.
III. Sophomores (zweiter Jahrgang), 499 Studenten,
von welchen 453 Kandidaten für den A. B. und 46 Kan-
didaten für den S. B. sind.
IV. Freshmens (erster Jahrgang), 739 Studenten, von
welchen 653 Kandidaten für den A. B. und 86 Kan-
didaten für den S. B. sind.
V. Neben diesen vier Jahrgängen der College-
Studenten gibt es ferner 43 Special Students und 72 Un-
classified Students, also Hospitanten, im ganzen also
hat das Harvard College 2262 Studenten.
Die fünf Fakultäten sind:
I. Die Faculty of Arts and Sciences. Diese Fakultät
enthält neben dem Harvard College die unserer philo-
sophischen Fakultät entsprechende Graduate School of
Arts and Sciences. In dem Catalogue, p. 137, finde ich
folgende Übersicht der Studentenzahl dieser Graduate
School : Traveling Fellows 28, Resident Students 426,
zusammen 454.
Zu dieser Fakultät zählt ferner die Handelshoch-
schule, the Graduate School of Business Administration
mit 79 Studenten, von welchen 10 im zweiten und 45 im
ersten Jahre studierten und 24 Special Students waren
(Cat., p. 150).
II. Die theologische Fakultät, Divinity School. An
dieser Fakultät studierten: 1. Resident Graduates 12;
2. Senior Class 3; 3. Middle Class 6; 4. Junior Class 2;
5. Special Students 5; 6. Andover Students 20; Total 48
(Cat., p. 155).
— 30 —
Resident Graduates sind solche Studierende, welche
bereits die theologischen Studien absolviert haben und
regelmäßig auch das Baccalaureat der Theologie (S. T. B.)
erworben haben.
III. Die juristische Fakultät, Law School. Von den
Studierenden dieser Fakultät waren : 1. Resident Graduate
Students 3; 2. Studierende des dritten Jahrganges 219;
3. Studierende des zweiten Jahrganges 216; 4. Studie-
rende des ersten Jahrganges 289 ; 5. Unclassified Students,
also Hospitanten 77; 6. Special Students 4; Gesamt-
summe 808 (Cat., p. 194).
Unter den Studenten der Harvard Law School haben
774 an einem College bereits den Degree, den akademi-
schen Grad des Baccalaureus erworben und von diesen
197 am Harvard University College. Die übrigen Colleges
Graduates haben an einem anderen College ihren Degree
erworben, und zwar sind im ganzen, einschließlich des
Harvard University College 144 Colleges vertreten.
Von den 808 Harvard Law School-Studenten sind
ferner nur 8 Graduates einer Law School, 5 Non
Graduates und 21 haben das Collegestudium absolviert,
ohne einen Degree erworben zu haben. In Harvard ist
es also Regel, daß die Studenten der Rechte ihren College
Degree vor dem Eintritte in die Law School erwerben.
IV. Die medizinische Fakultät. Unter den Harvard-
studenten der Medizin sind 5 Kandidaten für den Degree
eines Doctor of Public Health und 270 Kandidaten für
den Grad des Doktor der Medizin. Von diesen
270 Studierenden sind im vierten Jahrgange 50, im
dritten 56, im zweiten 57, im ersten 95 und Special
Students 12.
Neben diesen Kandidaten für den Doktorgrad
studieren in Harvard auch Graduierte, und zwar in den
Kursen für Graduierte vom 1. Oktober 1910 bis 1. Juli
1911 184 Teilnehmer, in den Sommerkursen vom 1. Juli
1911 bis 1. Oktober 1911 267 Teihiehmer. Die Gesamt-
zahl der Medizinstudenten, sowohl der nicht graduierten
— 31 —
wie der graduierten betrug in der Zeit vom 1. Oktober
1910 bis 1. Oktober 1911 726 (Cat., p. 206).
Es gibt dann auch in Harvard eine eigene zahn-
ärztliche Schule, in deren drei Jahrgängen sich 154 Stu-
dierende befanden.
V. Die technische Hochschule, the Graduate School
pf Applied Science mit 3 Travelling Fellows, 120 Resident
Students, zusammen 123 (Cat., p. 146).
Die Gesamtzahl der Studenten der Harvard University
einschließlich der College-Studenten und einschließlich
der Frequentanten der zahnärztlichen Schule betrug
also 4203.17)
Eine große Bedeutung hat an der Harvard University
die University Extension, welche Personen not in resi-
dence in the University Unterricht in Arts and Sciences
bietet. Die Gesamtzahl der Besucher der University
Extension-Kurse betrug 1065. i^)
Über die berühmte Harvard Law School wird später
noch näheres zu sagen sein. Vorher seien einige Be-
merkungen über die amerikanischen Law Schools über-
haupt vorangeschickt. "Die amerikanische Law School
ist ein Produkt erst der neuesten Entwicklung. i^) Das
*') In der Generalübersicht (Catalogue, p. 236 sq.) findet sich
folgende Gliederung:
I. Faculty of Arts and Sciences: 1. College 2262; 2. Graduate School
of Arts and Sciences 454; 3. Graduate School of Applied Science 123;
4. Graduate School of Business Administration 79 Studenten. Gesamt-
zahl der Studierenden an der Faculty of Arts and Sciences 2918.
II. Divinity School 48 Studenten.
ni. Law School 808 Studenten.
IV. Faculty of Mediane: 1. Medical School 275; 2. Dental School
154 Studenten.
^') Von diesen waren 234 sowohl im Sommer 1911 wie im
Jahre 1911/12 inskribiert und wurden daher doppelt gezählt. Die
Gesamtzahl der Harvard-Studenten betrug daher einschließlich der
Teilnehmer an den University Extension-Kursen 5045 Studenten.
^®) Waentig, a. a. 0., S. 80; ebenda findet sich auch die reiche
einschlägige Literatur zitiert. Vgl. auch Waller, "Rechtsstudium und
— 32 —
(eigentliche Rechtsstudium vollzog sich früher in den
Kanzleien der Rechtsanwälte und solche Studenten alten
Stils, welche man Office Students nennt, gibt es noch
heutzutage. Die erste Law School, die sich dauernd zu
erhalten vermochte, war die 1817 gegründete Harvard
Law School, die zweite, die 1824 gegründete Yale Law
School, Aber erst die Eröffnung der Columbia Law
School im Jahre 1858 führte einen entscheidenden Um-
schwung herbei." 20)
Die Zahl der Rechtsschulen ist in sehr raschem
Steigen begriffen. Während Waentig für das Jahr 1900
96 Rechtsschulen mit 12.516 Studenten anführt, wird
in dem bei E. Baldwin, a. a. 0., p. 350, zitierten
Report of the American Bar Association for 1903, p. 398,
die Zahl der Rechtsschulen mit 104 und die Studenten-
zahl mit über 14.000 angegeben. Münsterberg (a. a. 0.,
IL, S. 93) führt für das Jahr 1910 114 Rechtsschulen
mit 1534 Lehrern und 19.567 Schülern an, von denen
205 weiblichen Geschlechtes sind. Die Aufnahmsbedin-
gungen werden immer mehr und mehr erschwert, die
regelmäßigen Kurse verlängert.^i)
ßeferendariat", Berlin, 1910, S. 19: "Vereinzelt gehen schon junge
Engländer zum Rechtsstudium nach Amerika". Mittermaier, "Wie
studiert man Eechtswissenschaft?", 1911, S. 106 ff.
20) Waentig, a. a. 0., S. 81. — E. Baldwin, a. a. 0., p. 350,
führt an, die erste Rechtsschule in einem englisch sprechenden Lande
sei im Jahre 1784 in Litchfield, Connecticut, errichtet worden. Vgl.
A Sketch of the History and Organization of Harvard University (vgl.
ohen S. 12) p. 15, ferner auch das Official Register of Harvard University,
The Law School 1912/13, p. 4. Hier wird zunächst angeführt, daß die
Law School 1817 errichtet wurde und die älteste unter den Rechtsschulen,
welche derzeit in den Vereinigten Staaten bestehen, ist. Von 1839 bis
1870 betrug die Studiendauer (Curriculum) zwei Jahre oder vier Semester
(Terms), der Degree eines Bachelor of Law konnte aber schon nach 18 Mo-
naten oder drei Semestern erworben werden. Seit 1870 sind für die Er-
langung des Degree zwei Jahre vorgeschrieben und seit 1877 drei Jahre.
2^) Waentig, a. a. 0., S. 82; an der Harvard University gab
es — bis zum Jahre 1871 — nichteinmal für die Erlangung des
Degree eine Prüfung und für die Zulassung als Student sind erst seit
1893 Prüfungen eingeführt (Official Register, p. 4).
— 33 —
Die Entwicklung der Unterrichtsmethode stellt
Waentig (a. a. 0., S. 83 f.) in folgender Weise dar:
Das alte Lecture System hatte lediglich den Zweck,
die praktische Ausbildung des jungen Juristen, welche
dieser in den Rechtsanwaltskanzleien erhalten hatte, ent-
sprechend zu ergänzen und deren Lücken auszufüllen.
Das geschah durch allgemeine Übersichten oder aber
Darstellungen von einzelnen Materien, von welchen die
Studierenden während ihrer Lehre voraussichtlich nichts
gehört hatten, und in der Abfragung des Stoffes in einer
der folgenden Stunden. Die zweite Methode ist das
Textbook System. Ein Textbook ist eine zusammen-
fassende Darstellung einer einzelnen Rechtsmaterie auf
Grund der Reports, das heißt der Sammlungen von gericht-
lichen Entscheidungen und der Verarbeitung der das
Common Law abändernden Gesetze. Der Rechtsunter-
richt gestaltet sich dann zu einer Art Repetitorium des
Textbook. "In der überwiegenden Mehrzahl der amerika-
nischen Law Schools, allerdings nicht mehr in den
führenden, scheint diese Methode noch heute die herr-
schende zu sein." 22) Das dritte System ist das Gases
System; das Gases System wird in dem Brief Guide
für die Harvard University folgendermaßen geschildert:
Professor Langdell, der Urheber dieses Systems, stellte
aus den Reports Fälle zusammen, welche geeignet waren,
die Entwicklung eines Rechtsinstituts zu zeigen, und gab
'*) Vgl. Waentig, a. a. 0., S. 87. Es li^ mir ein Katalog
der Lawyers Co-operative Publishing Co. in Rochester im Staate
New York aus dem Jahre 1904 vor, "Where to look for the Law", in
welchem die heute führenden Textbooks nach Gegenständen geordnet
verzeichnet sind, sowie die Veröffentlichungen der genannten Gesell-
schaft. Wer die Zitate aus den Hunderten von Bänden der "L. R. A."
(Lawyers Reports Annotated) durchsieht, wird den Wert, den die Text-
books für Richter und Anwälte besitzen müssen, wohl verstehen. Es
haben zum Beispiel die New York Common Law Reports für die Zeit
von 1794 bis 1847 80 Bände in 17 Büchern, die New York Chancery
Reports 38 Bände in 7 Büchern, die New York Court of Appeals Report
von 1847 bis 1903 170 Bände in 34 Büchern.
Hanansek, Amerikanische Skizzen. 3
— 34 —
seinen Schülern für jeden Tag als Aufgabe die Vor-
bereitung von fünf oder sechs solchen Fällen. In der
betreffenden Vorlesung wurde dann der Fall analysiert,
kritisiert und diskutiert und die Studenten wurden so
gezwungen, aus Originalquellen die gesetzlichen Grund-
sätze zu finden. Die Erfolge der in dieser Weise vor-
gebildeten Harvard-Studenten in ihrer Anwaltspraxis etwa
um das Jahr 1890 herum bewirkten dann, wie der er-
wähnte Guide sagt, den Sieg des Systems auch an anderen
Rechtsschulen. 23)
Die Bedingungen für die Zulassung als ordentlicher
Hörer der Rechte an der Harvard Law School sind strenge.
Zugelassen werden:
1. Graduierte von Colleges of High Grade auf Grund
ihres Diploms. 2*)
2. Graduierte von anderen Colleges of approved
Standing auf Grund eines Diploms und eines offiziellen
Zeugnisses, daß sie in dem Seniorjahr zu dem best-
klassifizierten Drittel der Schüler gehörten.
Als Unclassified Students werden zugelassen Gra-
duierte von Colleges, welche nicht als ordentliche Hörer
^^) Nach Waentig, a. a. 0., S. 87, beherrscht dieses Gases System
heute die drei führenden Law Schools des Ostens, Harvard, Columbia
und Pennsylvania, und unterwirft sich eine nach der anderen bis hinüber
nach Californien, wo die aufstrebende Leland Stanford Law School zu
Palo Alto sich ihr verschrieben hat. Waentig sagt auch, daß das
Cases System das Textbook auch aus den Kanzleien zu verdrängen
beginnt. Als Beispiele von Büchern nach dem Cases System nennt
das unten (Note 24) zitierte Official Register p. 6 folgende: Wambaugh's
Cases on Agency; Gray 's Cases onProperty; Williston's Cases onContracts;
Ames and Smith, Cases on Torts; Beale's Cases on Criminal Law;
Ames's Cases on Pleading.
^*) Dies gilt seit dem Jahre 1899 (Official Register, p. 4 sqn).
Der Sekretär der Law Faculty versendet auf Verlangen das Verzeichnis
dieser Colleges ofHigh Grade. Bei Waentig, a.a.O., S. 88, heißt es:
Zugelassen werden ohne weiters als ordentliche Studenten nach bloßer
Vorlegung ihrer Diplome Bachelors of Arts von 119, Bachelors of
Literature von 11, Bachelors of Philosophy von 27 und Bachelors of
Science von 21 namentlich angeführten Colleges.
— 35 —
zugelassen werden können, und ferner Graduierte von
anderen Rechtsschulen, welche auf Grund eines drei-
jährigen Kurses ihren Degree erhalten haben. Die Be-
dingungen für die Erlangung des Degree der Harvard
Law School für solche Unclassified Students sind etwas
strenger als für die Regulär Students. Für ihre Prüfungen
ist nämlich eine besondere höhere Zensurmarke vorge-
schrieben (vgl. unten Anm. 27).
Als Special Students werden Personen, die niemals
einen Degree erhalten haben, durch Fakultätsbeschluß
auf Grund einer vorgeschriebenen Prüfung zugelassen.
Diese Special Students können auch keinen Degree er-
halten.
Studierende, welche berechtigt wären, als ordent-
liche Hörer aufgenommen zu werden, und welche an
einer anderen Rechtsschule, welche das Recht hätte, der
Association of American Law Schools als Mitglied an-
zugehören, mindestens ein akademisches Jahr von nicht
weniger als acht Monaten studiert haben, können auf
Grund einer besonderen Prüfung in das zweite Jahr der
Harvard Law School aufgenommen werden. Jeder Kan-
didat für den Grad eines Bachelor of Law muß alle
Gegenstände des ersten Jahres, zwölf Stunden in der
Woche von den Gegenständen des zweiten Jahres und
vom Jahre 1913/14 ebenfalls zwölf Stunden statt wie
bisher zehn Stunden wöchentlich von den Gegenständen
des dritten Jahres hören. 25) Für die Erlangung des
-*) In dem mir vorliegenden Official Register of Harvard University
vom 30. April 1912, The Law School 1912/13, finden sich folgende
Torlesungen angekündigt :
Erstes Jahr: Agency, two hours a week; Civil Procedure at
Common Law, two hours a week; Contracts, three hours a week;
€riminal Law and Procedure, two hours a week; Property, two hours
a week; Torts, two hours a week.
Zweites Jahr: Bills of Exchange and Promissory Notes, two
hours a week; Equity, two hours a week; Evidence, two hours a week;
Insurance — Marine, Fire, and Life, two hours a week; Property, two
hours a week; Public Service Companies: especially Common Carriers,
3*
— 36 —
Bachelor of Law ist ein dreijähriger Aufenthalt (Resi-
dence) in Harvard vorgeschrieben. ^6)
Behufs Erlangung des Doktorgrades der Rechte muß
der Kandidat ein Jahr nach Erlangung des Bachelor-
grades noch an der Harvard Law School verbleiben.
Auch die Graduierten anderer Rechtsschulen, die be-
rechtigt sind, Mitglieder der Association of American
Law Schools zu sein, können nach einem Jahre Auf-
enthalt (Residence) in Harvard den Doktorgrad erwerben.
Für den Erwerb des Doktorgrades ist nötig, daß der
Kandidat ordentlicher Hörer an der Harvard Law School
war oder sein konnte und daß er das Examen als
Bachelor of Law mit besonderem Erfolge bestanden habe
(with high rank). Während dieses Jahres muß der Kan-
didat des Doktorgrades eine Anzahl von Vorlesungen
two hours a week; Sales of Personal Property, two hours a week;
Trusts, two hours a week; Damages, two hours a week in the first
halfyear; Law of Persons, two hours a week in the second halfyear.
Drittes Jahr: Conflict of Laws, two hours a week; Constitutional
Law. two hours a week; Corporations, two hours a week; Partnership,.
two hours a week; Property, two hours a week; Suretyship and Mort-
gage, two hours a week; Bankruptcy, two hours a week in the first
halfyear; Equity, two hours a week in the first halfyear; Municipal
Corporations, two hours a week in the second halfyear; Quasi-Contracts,,
two hours a week in the second halfyear; Admirality, two hours a.
week in the second halfyear.
Graduate Courses: Roman Law, and the principles of the Civil
Law and Modern Codes as developments thereof ^ — an introduction to
Comparative Law, two hours a week; Administrative Law, two hours
a week in the second halfyear; International Law as administrated
by the Courts, one hour a week; Jurisprudence, two hours a week in
the first halfyear; Theory of Law and Legislation, two hours a week
in the second halfyear.
Extra Courses: Patent Law, one hour a week; NewYoik Practice,.
not less than thirty hours; Forensic Discussion, not less than twenty
hours for each section; Voice Training, not less than twenty hours^
for each section.
^*') Für die Erlangung des Bachelorgrades ist das Alter voa
21 Jahren vorgeschrieben.
— 37 —
von den Graduate Courses gehört haben, vor allen die
Vorlesungen über römisches Recht und die Prinzipien
des Civil Law.
Die Examina der Studenten der Rechte sind strenge.
Nach jedem Jahre müssen Examina abgelegt werden,
und zwar nach dem ersten Jahre mindestens in
vier Gegenständen von den fünf des ersten Jahr-
ganges. Werden diese Prüfungen nicht mit Erfolg abge-
legt, so kann ein Aufsteigen in den zweiten Jahrgang
nur auf Grund besonderen Fakultätsbeschlusses er-
folgen. Ebenso sind bestimmte Examina in einer Anzahl
von Fächern nach dem zweiten Jahre vorgeschrieben
und das Durchschnittskalkül muß um fünf Prozent höher
sein als die gewöhnliche Passing Mark.^^) Nach be-
friedigender Ablegung der Prüfungen des dritten Jahres
erfolgt dann die Promotion zum Bachelor of Law, und
zwar cum laude, wenn die Prüfungen ausgezeichnet aus-
gefallen sind. Die Prüfungen sind schriftliche Klausur-
arbeiten, die bei denselben zu behandelnden Fälle sind
in besonderen Papers zusammengestellt. ^8) Für die Er-
langung des Doktorgrades sind dann weitere Prüfungen
vorgeschrieben, welche mit distinguished excellence aus
Vorlesungen von mindestens zehn Stunden, und zwar
auch aus dem römischen Rechte abgelegt sein müssen.
In allen Rechtsschulen, insbesondere auch in Harvard
gibt es sogenannte Moot Courts, Debattiergerichtshöfe,
in welchen unter tunlichster Nachahmung eines ordent-
lichen Gerichtsverfahrens Prozesse durchgeführt werden;
ferner gibt es überall sogenannte Law Clubs, so zum
^■') Die Zensur wird nach ProzentzifEem bestimmt, wobei 55 Pro-
zent die Passing Mark, 75 Prozent die Honor Mark ist. Die einzelnen
Zensuren werden zusammengezählt und durch die Zahl der Fächer
dividiert; die Durchschnittsziffer ist dann maßgebend.
**) Mir liegen vor: Final Examination Papers, used in the Gra-
duate School of Business Administration of Harvard University vom
Juni 1911 und 1912; ferner Papers used at the Annual Examinations
in Law, held at Harvard University vom Juni 1911 und 1912.
— 38 —
Beispiel den Pow Wow Club der Harvard Law School.^»)
Das Practical Training in Pleading ist der Zweck dieser
Clubs (Waentig, a. a. 0., S. 90).
Daß die Harvard-Studenten der Rechte vom ersten
Jahr an sich durch hervorragenden Fleiß auszeichnen,
wird übereinstimmend versichert. Dies hat mir auch
mein Führer, Professor Schaub, versichert und wird bei
Münsterberg, H., S. 82, des näheren ausgeführt. Auch
Waentig (a. a. 0., S. 80) ist voll des Lobes über den
Fleiß der Juristen in Harvard. Das flotte Studenten-
leben wird in die Collegezeit verlegt und mit dem Ein-
tritte in das Rechtsstudium beginnt der Ernst des Lebens.
Die Communis Opinio sieht daher mit Recht die Harvard
Law School als eine mustergültig eingerichtete Rechts-
schule an.
In dem bei Wheeler (a. a. 0., S. 48) zitierten Be-
richte des United States Commissioner of Education sind
Statistiken von 606 Erziehungsanstalten enthalten, die
sich die Titel Universität, College und Polytechnikum
beilegen. 30) 139 von diesen nennen sich Universitäten, die
2») Über den Pow Wow Club berichtet Waentig (a.a.O., S.90):
"Seine die drei Jahrgänge in gleicher Zahl repräsentierenden Mitglieder
formieren sich zu drei je achtfach besetzten Gerichtshöfen, dem Supe-
rior Court, dem Supreme Court und dem Court of Appeals. Die acht
Mitglieder des ersten Jahrganges nun haben während des Studienjahres
je 16 Fälle zu verhandeln, derart, daß aus ihrer Mitte je ein Anwalt
für den Kläger und für den Beklagten bestellt wird, während die
übrigen sechs als Richter, und zwar unter dem Vorsitze eines Ver-
treters des zweiten Jahrganges als Chief Justice fungieren. Die Ange-
hörigen des zweiten Jahrganges verhandeln etwas seltener, aber in
derselben Weise, nur daß die Chief Jus tices diesmal dem dritten Jahr-
gange entnommen werden, der sich als Court of Appeals einmal im
Jahre mit den Mitgliedern des Supreme Court zur Durchführung eines
House of Lords Case vereinigt".
2°) In dem mir vorliegenden Eeport of the Commissioner of
Education (bis Juni 1911, siehe oben S. 5), II, p. 883 sq. sind unter
dem Schlagworte Universities, Colleges and Technical Schools 581 In-
stitutions aufgezählt (gegen 602 für 1909/10). Es heißt hier: Es werden
nur solche Institutionen aufgezählt, welche: a) autorisiert sind, Grade
— 39 —
große Mehrzahl der übrigen Colleges. In der im Jahre
1900 gegründeten Vereinigung amerikanischer Universi-
täten sind aber nur 22 Institute vereinigt (Wheeler,
a. a. 0., S. 48) und Perry (a. a. 0., S. 89) führt statisti-
sches Material von nur 23 der angesehensten Universi-
täten an. Wir entnehmen dieser Aufzählung die schon
oben erwähnte Tatsache, daß man sich hüten muß, jede
Anstalt, welche sich University nennt, mit europäischen
Universitäten in Vergleich zu ziehen. Jede Anstalt, welche
einer Universität in unserem Sinne gleichkommt, hat eine
College, aber man darf, wie schon oben dargelegt wurde,
nicht entfernt jedes College, auch nicht ein solches, das
sich University nennt, mit einer deutschen oder öster-
reichischen Universität in Vergleich ziehen.^i)
In dem bei Wheeler (a. a. 0., S. 105) bezogenen
Berichte des United States Commissioner of Education
über das Jahr 1907 sind von 480 Colleges 25 mit einer
Undergraduates-Frequenz von über 1000 genannt, während
die Zahl der Institute, die weniger als 500 Under-
graduates aufweisen, 423 beträgt, und zwar fällt ein
Drittel der gesamten Undergraduates auf die großen und
ungefähr zwei Drittel auf die kleineren Colleges. "Das
amerikanische College soll die Hochschule für die all-
gemeine Bildung des Gentleman sein" (Münsterberg,
IL, S. 68).
Ursprünglich wohnten die Studenten in den College-
gebäuden. Mit dem Wachstum der Institute ist dieser
Faktor zurückgetreten, aber das Wohnen in den College-
räumen bildet selbst an den größeren Anstalten das be-
liebteste (Münsterberg, IL, S. 72).32)
zu geben; h) welche bestimmte Standards of Admission und c) welche
wenigstens zwei Jahre Arbeit verlangen of Standard College Grade
und welche wenigstens 20 Studenten im College State haben.
*^) Nach Perry (a. a. 0., S. 6 ff.) gibt es derzeit nur eine Uni-
versität, welche kein College hat, nämlich die katholische Universität
von Amerika in "Washington D. C. (District of Columbia).
'^2) Wheeler (a. a. 0., S. 170): "Während in Harvard, Yale und
Princeton die Schlafsäle (Dormitories) sehr in den Vordergrund treten
— 40 —
Gegen die Verbindung des College mit den Universi-
täten wird geltend gemacht, daß die Universitäten, um
den Anforderungen des College zu genügen, ihre Fakul-
täten durch zahlreiche billige, lediglich für den Schul-
unterricht bestimmte Kräfte vermehren müssen, welche
dann auf höhere Stellen vorrücken; daraus folgt dann,
daß sich neben den gediegenen Forschern und akademi-
schen Lehrern auf derselben Stufe Leute befinden, die
nur den rein schulmäßigen Ansprüchen des College ge-
wachsen sind, aber durchaus nicht den Anforderungen
eines wirklichen Universitätsunterrichtes (Noe, Inter-
nationale Wochenschrift, 1908, S. 919 f.). Bei Wheeler
(a. a. 0., S. 64) heißt es aber freilich: "Das College ist
eine echt amerikanische Schöpfung, aus amerikanischen
Zuständen hervorgegangen; es ist charakteristisch für
das amerikanische System; es ist in der Hauptsache der
Schöpfer der amerikanischen sekundären Schule und es
ist heute noch Herz und Seele der amerikanischen
Universität." 33)
Der Bildungsgang eines amerikanischen Studenten
ist folgender: 1. Die Elementarausbildung wird gegeben
in den sogenannten Primary Schools (auch Elementary
Schools und manchmal auch Grammar Schools genannt).
Diese Primary Schools sind öffentliche Schulen (Public
Schools) und ihnen gleichstehende Privatschulen. 3*) Der
Elementarunterricht dauert acht Jahre. Eine Herabsetzung
und den Ton des Collegelebens stark beeinflussen, fehlen sie fast voll-
ständig an den Staatsuniversitäten, einige Schlafsäle für Fraueu aus-
genommen".
^'^) Der oben S. 4 zitierte Aufsatz des Präsidenten der Stanford
üniversity, David Starr Jordan, schließt aber mit den Worten:
"... und als Rettung gibt es für uns nur einen Ausweg, die völlige
Trennung von College und Universität".
ä*) In drei Viertel aller amerikanischen Staaten — die Ausnahmen
gehören dem Süden an — existiert ein Schulzwang (Freund, a.a.O.,
S. 318). In wenigen Staaten findet sich die ausdrückliche Bestimmung,
daß auch der Privatunterricht in englischer Sprache erteilt werden muß,
so zum Beispiel in Massachusetts und in Wisconsin. Der öffentliche
— 41 —
dieser Zeit auf sechs oder sieben Jahre kommt aber
vor. 2. Der Elementarschule folgt die vierklassige High
School, hierauf 3. das vierjährige College. Wir haben
schon gehört, daß an manchen Universitäten der Fach-
unterricht vor der Absolvierung des College, also im
dritten oder vierten Jahre des College beginnt. 4. Nach
dem College folgt der Fachunterricht, der bei Juristen
drei Jahre, bei Medizinern vier Jahre und auf der philo-
sophischen Fakultät auch drei Jahre beträgt. Die Bildungs-
zeit eines amerikanischen Studenten ist also eine un-
gewöhnlich lange — . es ist dies auch einer der JCon-
traste des amerikanischen Lebens — für den Mediziner
20 Jahre, für den Juristen und Philosophen 19 Jahre. •^^)
Es gibt Staatsuniversitäten und Privatuniversitäten.
Bei Wheeler (a. a. 0., S. 153) findet sich folgende Auf-
zählung :
Ä. Privatstiftungen : Harvard, Yale, Columbia, Penn-
sylvania, Cornell, Chicago, Johns Hopkins, Stanford.
Unterricht ist in allen Staaten frei. Dies gilt sowohl für das niedere
Unterrichtswesen (Elementary Schools) wie für das mittlere Unterrichts-
wesen. Zum mittleren Unterrichtswesen gehören in Amerika die vier-
klassigen High Schools, welche ehenfalls entweder Public Schools sind
oder Privatschulen. Die Latin Schools, Gramraar Schools, Preparatory
Schools gehören vielfach auch zu den High Schools (Rambeau, a. a. 0.,
S. 134).
Die zum niederen ünterrichtswesen gehörenden Kindergardens,
obwohl deutscher Herkunft, haben in Amerika eine weit größere Wichtig-
keit, Beliebtheit und Ausbildung erhalten als in Deutschland (Rambeau,
a. a. 0., S. 134). Normal Schools ist die offizielle Bezeichnung für
Lehrerseminare; es gibt Public Normal Schools und Private Normal
Schools (Report of the Commissioner of Education, p. 1080 sqn.).
Zu den Professional Schools zählt der eben zitierte Report, 11.,
p. 1054: a) Schools of Law; b) Medical Schools; c) Schools for Pro-
fessional Nurses (Pflegerinnen); d) Schools of Theology.
ä*) Ungerechnet etwaiger Jahre, die der Knabe in einem Kinder-
garten zugebracht hat. Eine Abkürzung dieser Zeit kommt allerdings
vor, da, wie wir gehört haben, der Elementarunterricht unter Umstän-
den nur sechs oder sieben Jahre beträgt und ein oder zwei Jahre des
— 42 —
B. Staatsuniversitäten: Michigan, Wisconsin, Minne-
sota, California, Illinois, Missouri, Indiana.
Perry (a. a. 0., S. 40) bezeichnet die Universitäten
von Michigan, Minnesota, Wisconsin und California als
Staatsuniversitäten, Kollegiengelder gibt es an keiner
amerikanischen Universität. An den Staatsuniversitäten
ist das Unterrichtshonorar entweder sehr gering oder
es wird überhaupt keines erhoben. An den Privatuniver-
sitäten beläuft es sich nach der Angabe von Wheeler
(a. a. 0., S. 168) jährlich auf 100 bis 150 Dollars.36)
Interessant ist die Mitteilung Wheelers, daß das Budget
mancher Staatsuniversitäten nach einem bestimmten
Prozentsatze der Staatseinnahmen fixiert ist; so bezieht
die Universität California zum Beispiel 3 Cents von je
100 Dollars der abgeschätzten Staatseinnahmen (des ab-
geschätzten Taxpreises). Diese Taxe wirft nach Wheeler
für das Jahr 1910 700.000 Dollars ab. Außerdem emp-
fängt die Universität eine direkte Geldbewilligung von
150.000 Dollars und ungefähr 100.000 Dollars für be-
sondere Zwecke. Ihr Gesamteinkommen pro Jahr ist
College dadurch erspart werden, daß in die letzten Collegejahre der
Fachunterricht gelegt wird. Für die Harvard Law School existiert
diese Möglichkeit, wie wir gehört haben, nicht.
Münsterberg (II., S. 92 ff.) teilt folgende interessante Daten
mit: Die Zahl der Medizinstudenten betrug im Jahre 1900 25.213; im
Jahre 1910 gab es 135 medizinische Anstalten mit 7586 Dozenten und
21.394 Studenten. Die Zahl der Medizinstudenten hat also in den
letzten zehn Jahren abgenommen. Ferner bringt Münsterberg folgende
Ziffern von 602 Erziehungsanstalten (Colleges, Universitäten): 1910 haben
in diesen 602 Instituten 119.578 männliche und 52.315 weibliche
Studenten studiert. Die Zahl der Studentinnen hat sich in den letzten
zwei Dezennien verfünffacht, die der männlichen kaum verdreifacht.
142 Institute sind nur für männliche Studenten, 352 für beide Ge-
schlechter und 108 Colleges sind nur für Frauen offen. Der Bachelor-
grad, durch den die Collegestudien beendigt werden, wurde 1910 an
17.000 Männer und an 8000 Frauen verliehen, das Doktorat der Philo-
sophie an 366 Männer und an 44 Frauen.
*^) Bezüglich der Tuitions Fees der Rockef eller- Universität in
Chicago und der Harvard-Universität vgl. oben S. 25.
— 43 —
ungefähr anderthalb Millionen Dollars (Wheeler, a.a.O.,
S. 167). Ferner erhält sie 68.000 Dollars als Unterstützung
für landwirtschaftlichen Unterricht und hat ein Ein-
kommen aus ihrem vier Millionen Dollars betragenden
Stiftungskapital. Über die großen Privatunterstützungen,
die der Universität California zugewendet werden, be-
richtet Wheeler (a. a. 0., S. 168 f.) ausführlich. Perry
(a. a. 0., S. 42) berichtet von einer viele Millionen Dollars
betragenden reichen Zuwendung der Frau Phoebe Hearst
an die Universität California. 3'^)
Die Leitung der Staatsuniversitäten liegt in den
Händen eines Verwaltungsrates (Board of Trustees oder
Board of Regents). Dieser Verwaltungsrat wird vom Volke
oder von der Legislatur gewählt oder vom Gouverneur
ernannt. Das Amt eines Trustee oder Regent ist ein
Ehrenamt. Der Verwaltungsrat ernennt den ohne Zeit-
beschränkung ernannten Präsidenten. Auch Privat-
universitäten haben einen Verwaltungsrat und einen
Präsidenten.
Der Verwaltungsrat der Universität Chicago heißt
Board of Trustees. Die Harvard Universität hat einen
aus sieben Mitgliedern bestehenden Board, Corporation
genannt oder auch the President and Fellows of Harvard
College; dieser Board besteht aus dem Präsidenten, fünf
Fellows und dem Treasurer. Die Harvard University hat
ferner einen aus 30 Mitgliedern bestehenden Aufsichts-
rat, zu welchem außerdem der Präsident und der Schatz-
meister (Treasurer) ex officio zählen. ^s) Die Corporation
") Die Universitätsgründe im Ausmaße von 250 Acres liegen
ungemein malerisch und enthalten eine Reihe überaus stattlicher und
schöner Gebäude, ferner das sehr interessante griechische Theater,
welches 12.000 Sitzplätze faßt und für Konzerte und andere öffentliche
Aufführungen sowie für Universitätsversammlungen verwendet wird.
Dem prächtigen kalifornischen Klima entsprechend ist dasselbe natürlich
ein Freilufttheater. Leider war mein Besuch der Berkeley-Universität
auf eine flüchtige Besichtigung der Universitätsgebäude beschränkt.
**) Vgl. A Sketch of the History and Organization of Harvard
University, p. 11.
_ 44 —
ergänzt sich durch Cooptation selbst. Die Mitglieder des
Aufsichtsrates werden von den Graduates gewählt, und
zwar jeden Juni sechs auf je fünf Jahre. Jeder ehemalige
Harvard-Student ist fünf Jahre, nachdem er den Bachelor-
grad erhalten hat, wahlberechtigt. Dem Aufsichtsrate
(Board of Overseers) steht die Bestätigung jeder An-
stellung und Neugestaltung zu.
Die Anstellung der Professoren geschieht sowohl an
den Staatsuniversitäten wie an den Privatuniversitäten,
die einen Board of Trustees besitzen, durch die Regents
oder Trustees auf Empfehlung des Präsidenten. In
Harvard bedarf, wie wir eben gehört haben, die An-
stellung zudem der Bestätigung durch den Aufsichtsrat.^^^)
^^) In dem bereits wiederholt zitierten Sketch of the History and
Organization of Harvard University finde ich folgende Angaben über
die Verfassung dieser Universität (p. 11 sq.): Die Korporation ist eine
sich selbst ergänzende Körperschaft (a self-perpetuating body). Der
Korporation steht die Kontrolle der finanziellen und der Unterrichta-
verwaltung zu. Der Aufsichsrat, zu welchem, wie. erwähnt, der
Präsident und der Treasurer hinzuzählen sind, besitzt eine unbestimmte
(undefined), aber ausgedehnte Machtstellung. Die Zustimmung des
Aufsichtsrates ist notwendig für die Wahl der Verwaltungsratsmit-
glieder (Members of the Corporation) und der Professoren, sowie für
die Anstellung aller höheren Beamten des Unterrichts und der Ver-
waltung. An den Aufsichtsrat gelangen alle wichtigen Organisations-
fragen der Korporation sowohl wie der verschiedenen Fakultäten (all
important constitutional acts). Der Aufsichtsrat hat die Verpflichtung,
jede Anstalt (part) der Universität durch eines der zahlreichen Spezial-
komitees zu beaufsichtigen und darüber den Vorständen der betreffen-
den Abteilungen Bemerkungen (recommendations) zu machen. Der
Präsident ist Mitglied sämtlicher Fakultäten ebensowohl wie des Ver-
waltungsrates und des Aufsichtsrates und wohnt tatsächlich allen Ver-
sammlungen dieser Körperschaften bei. Die Professoren und die höheren
Funktionäre werden vom Verwaltungsrate und dem Aufsichtsrate auf
Vorschlag des Präsidenten nach einer Besprechung und Beratung (after
informal consultation) mit den Professoren der betreffenden Abteilung
ernannt. In den Professional Schools haben die Dekane regel-^
mäßig die volle Verantwortung für die Organisation, Disziplin und
Erziehung (educational work) mit dem Kontrollrecht des Budgets.
Das Harvard College und die Graduate School of Arts and Sciences
stehen unter der unmittelbaren Leitung des Präsidenten. Wir sehen
— 45 —
Der Verwaltüngsrat überläßt überall die Organisation
und den Ausbau der wissenschaftlichen und der Lehr-
arbeit dem Präsidenten, beziehungsweise dem Lehrkörper.
Auf die Anstellung der Professoren hat der Präsident
den größten Einfluß. Daß sich der Präsident bei seinem
Lehrerkollegium Rat erholt, bürgert sich immer mehr
ein. Wheeler (a. a. 0., S. 170) teilt mit, daß in der
Universität von Kalifornien, "wenn eine Professur zu
besetzen ist, die Professoren der fünf nächstverwandten
Fächer in Gemeinschaft mit dem Präsidenten die Wahl
treffen", oder doch wenigstens eine Liste von drei oder
vier Namen in der Reihenfolge ihrer Qualifizierung auf-
stellen.
Die Professoren werden ihrem Range entsprechend
auf eine Anzahl von Jahren oder permanent angestellt,
jedoch ohne einen vertragsmäßigen Anspruch auf Ver-
bleiben im Amte zu haben (Freund, a. a. 0., S. 319).
Rambeau (a. a. 0., S. 330) spricht von willkürlichen Ent-
lassungen und meint, das nützlichste wäre Anstellung
auf eine bestimmte Anzahl von Jahren, wenn alles klar
und unzweideutig schriftlich festgestellt wird, so daß
man das gerichtlich verwerten könnte. Die Anstellung
auf Lebenszeit gewähre dem Professor keinen Schutz.
Auch Wheeler (a. a. 0., S. 169) sagt von der in die Hände
des Präsidenten gelegten Machtfülle : "In einigen Fällen
ist diese Macht willkürlich gebraucht worden, aber dies
ist nicht oft der Fall." Rambeau (a. a. 0., S. 121f.)
führt aus, die Wissenschaft und das höhere Unterrichts-
wesen in Amerika verdanke einen großen Teil seiner
Blüte den Feldherrn der Industrie und meint, daß infolge
der Millionenspenden die Lehrkörper der amerikanischen
Universitäten, Colleges und Institute in ein bedenklich
drückendes Verhältnis der Abhängigkeit vom Kapital
hieraus, daß der Präsident der Harvard-Universität, und dasselbe gilt
auch von den Präsidenten anderer amerikanischer Universitäten,
eine Stellung einnimmt, für die es an den deutschen und österreichischen
Universitäten kein Analogon gibt.
— 46 —
immer mehr geraten oder zu geraten im Begriffe sind.
Dessenungeachtet sagt Rambeau zum Schlüsse der
ersten Serie seiner überaus interessanten Studien (a. a. 0.,
S. 339) : "In der Tat haben ja auch die neuen und
neuorganisierten amerikanischen Universitäten und tech-
nischen Institute erstaunliche Ergebnisse ihrer Arbeit auf-
zuweisen. Zweifellos haben sie in hohem Maße dazu
beigetragen, die neue amerikanische Kultur zu schaffen,
und diese steht sehr hoch da und ist doch erst in ihrer
Anfangsperiode." In einem bei Fuchs, "Juristischer
Kulturkampf", S. 71, mitgeteilten Berichte über Vorträge,
welche der amerikanische Austauschprofessor Tombo
von der Columbia Universität in New York im Jahre
1910/11 in verschiedenen deutschen Städten über amerika-
nisches Universitätsleben gehalten hat, ist gesagt, es gebe
drüben Tausende von jungen Männern, die das Geld
für ihre Studien selbst verdienen. Es sei schon an einer
Universität damit begonnen worden, die Ingenieur-
studenten abwechselnd je eine Woche Vorlesungen hören
und regelrecht als Arbeiter in einer Fabrik bei einem
Stundenlohn von 75 Pfennigen arbeiten zu lassen. Ich
selbst habe einen hervorragenden Professor der Botanik
an einer großen amerikanischen Universität kennen ge-
lernt, der in seiner Studentenzeit als Nachttelegraphist sich
seinen Lebensunterhalt verdient hat.^o) Der amerikanische
*") Auf einer Fahrt von Montreal nach Prescott auf einem
Flußdampfer habe ich zum ersten Male Studenten als Kellner
gesehen; der Captain (Oberkellner) war ein junger Arzt. Der
Kellner, der uns serviert hat, war ein junger Student der Rechte von
der Universität Toronto. Etwa eine Stunde nach dem Diner bewegten
sich die jungen Herren vollkommen frei und ungezwungen unter den
Passagieren des Dampfers. Ich hatte mit dem jungen Herrn, der uns
kurz vorher bedient hatte, ein Gespräch über die Vorlesungen, die er
über römisches Recht gehört hatte. Die Studenten verbringen ihre
Ferienzeit als Kellner auf den Flußbooten. Ein Seitenstück dazu fand
ich im Yellowstone Park, in dessen ausgezeichnet geführten Hotels
uns wiederholt junge Damen bedienten, welche Studentinnen von
Colleges aus dem westlichen Amerika waren.
— 47 —
Student lebt sehr mäßig; die meisten Klubhäuser sind
alkoholfrei, in Harvard sind keine alkoholischen Getränke
irgendwelcher Art gestattet, selbstverständlich nicht in
den Dining Halls und in der Harvard Union, wo gegen
3000 Studenten regelmäßig ihre Mahlzeit nehmen. Ferner
dürfen an gewissen Tagen auch Punsche und Liköre
nicht in den Privatzimmern einzelner Studenten serviert
werden.*!) Auch in der Stadt Cambridge, in welcher die
Harvard Universität liegt, gibt es keine Saloons und es
ist dies, wie ein Harvard-Professor sich mir gegenüber
geäußert hat, die größte "no licence town" der Welt.*-)
Hintrager, a. a. 0., S. 138, teilt mit, er habe an der Washington
Universität in St. Louis juristische Vorlesungen besucht, und erzählt,
daß die Studenten die Vorlesungen besuchen müssen. Ihre Anwesen-
heit wird durch Aufruf kontrolliert; sie werden auch abgefragt. Dann
geht jeder wieder seiner Wege und arbeitet fleißig zu Hause. Nur
einmal in der Woche kommen die Studenten abends zusammen, aber
nicht zum Singen und zum Trinken, sondern zu juristischen Diskussionen
und Abhaltung von nachgeahmten Gerichtsverhandlungen, Moot Courts,
bei denen hie und da ein Richter den Vorsitz führt.
*^) In den Regulations for Students in Harvard College 1908/09
heißt es zu Punkt 24: "No punches or distilled liquors shall be allowed
in any students room at the opening of the College Year, on Class
Day, or on Commencement Day. Every tenant is held responsible for
the observance of this rule in bis own room."
*2) Außerordentlich interessante Ausführungen über das amerika-
nische Studentenleben gibt Wheeler (a. a. 0., S. 188 ff.). Eigenartig
ist die Einrichtung der California-Universität, wonach die gesamte
Disziplinargewalt über die Studierenden in den Händen von selbständig
beratenden und entscheidenden Studentenkomitees liegt. Daß das früh-
zeitig entwickelte Gefühl der Billigkeit und Gerechtigkeit der amerika-
nischen Jugend trotz dem nahezu gänzlichen Fehlen von Disziplinar-
mitteln zu einem befriedigenden Verhältnis zwischen Lehrern und
Schülern führt, sowie über das Selfgovernment der amerikanischen
College Studenten vgl. Rambeau, a. a. 0., S. 315 ff.
— 48 —
II. Kapitel.
Bund und Staaten. — Gerichte und Anwälte.
§ 1-
Die amerikanische Union ist ein Bundesstaat. Das
Gebiet der Vereinigten Staaten besteht aus : a) 48 Staaten ;
h) dem District of Columbia mit der Hauptstadt
Washington, welcher vom Bunde direkt verwaltet wird;
c) der Kanalzone Panama, welche von der Exekutiv-
regierung verwaltet wird; d) dem Territorium von
Alaska; e) den Inselbesitzungen, zu welchen Porto Rico
Hawai und die Philippinen gehören,^)
^) Die amerikanische Union ist nur in der Zeit von 1777/78 bis
1787 auf Grund der sogenannten Konförderationsartikel ein Staaten-
bund gewesen. Seit der unter dem Vorsitze von George Washington
in Philadelphia von der Konförderation 1787 beratenen und beschlossenen
Verfassung wird die Union zu einem Bundesstaat. Vgl. Freund, a. a. 0.,
S. 4 ff. : "Mit Recht dürfen die Begründer der amerikanischen Union
das Verdienst beanspruchen, in das Staatenleben der Welt den Typus
einer weitumfassenden und dauerhaften Bundesstaatsorganisation ein-
geführt zu haben."
Die Area der Vereinigten Staaten umfaßt 3,026.789 square miles,
die Area des Noncontinguous Territory 716.555 square miles. Die Ge-
samtbevölkerung der Vereinigten Staaten nach dem Zensus von 1910
betrug 91,972.386, nach einer Schätzung für 1911 93,792.589 (est).
Die Gesamtbevölkerung der Vereinigten Staaten betrug 1900 75,994.575.
Die Gesamtbevölkerung des Noncontinguous Territory betrug nach dem
Zensus von 1910 9,782.493. Das Noncontinguous Territory besteht aus
Alaska, Hawai, Philippins Islands, Guam, Porto Rico, Tutuila Group
(Samoa) und der Panama-Kanalzone.
Der größte Staat, Texas, hat 265.896 square miles mit nur
3,896.542 Einwohnern. Der kleinste Staat an Einwohnerzahl und
Flächenmaß ist Delaware mit 2370 square miles und 202.322 Ein-
wohnern. Der bevölkertste Staat ist New York. Derselbe hat auf
einem Flächenareal von 49.204 square miles 9,113.614 Einwohner (Year
Book, p. 24). Im Jahre 1900 hatte der Staat New York 7,268.894 Ein-
wohner. Der Prozentsatz des Zuwachses in diesem Dezennium war
— 49 —
Der Kongreß besteht aus dem Repräsentantenhaus
und dem Senate. Die Zahl der Repräsentanten wird alle
zehn Jahre nach dem Zensusergebnisse festgesetzt.^) Im
also 25'4. Die Stadt New York hat nach dem Zensus von 1910
4,766.883 Einwohner; 1900 betrug die Einwohnerzahl 3,437.202, der
Prozentsatz des Zuwachses 38*7.
Für die Stadt Chicago finde ich in dem Census Bulletin (vgl.
oben S. 5) folgende Einwohnerzahlen:
1890 : 1,009.850, 1900 : 1,698.575, 1910 : 2,175.283.
Das Wachstum der Stadt betrug also im Dezennium 1890 bis 1900
544 Prozent im Dezennium 1900 bis 1910 aber nur 287 Prozent. Der
Staat Illinois (dessen größte Stadt Chicago ist) hat nach dem letzten
Zensus 5,638.591 Einwohner (Year Book, p. 113).
Um eine Vorstellung von den gewaltigen territorialen Dimen-
sionen der Vereinigten Staaten zu geben, möchte ich vergleichsweise
folgende Ziffern anführen: Die Area der Vereinigten Staaten umfaßt,
wie oben erwähnt wurde, 3,026.789 square miles, also 7,836.356*721
Quadratkilometer; der Flächeninhalt der im österreichischen Keichsrate
vertretenen Königreiche und Länder beträgt 300.00458 Quadratkilo-
meter. Die Vereinigten Staaten hatten nach dem Zensus von 1910
91,972.386 Einwohner. In dem Territorium Österreichs, welches rund
ein Sechsundzwanzigstel des amerikanischen beträgt, wohnten aber am
31. Dezember 1910 28,571.934 Einwohner. Die Bevölkerungsdichtigkeit
der einzelnen Staaten ist natürlich eine ganz verschiedene. So hatte der
Staat Nevada mit einem Flächeninhalte von 286.700 Quadratkilometer,
also einem Territorium, das nicht viel kleiner ist als ganz Österreich,
nach dem Zensus von 1900 bloß 42.335 Einwohner.
Die ungeheuren Naturschätze der Vereinigten Staaten schildert
Goldberger (a. a. 0., S. 17ff.). Zwei Beispiele: 1. Die Einwohnerschaft
der Vereinigten Staaten betrug in dem von Goldberger seiner Be-
rechnung zugrunde gelegten Jahre ungefähr 5 Prozent der Erd-
bevölkerung, hatte aber 25 Prozent des gesamten bebauten Areals der
Erde in Kultur genommen. 2. Das amerikanische Schienennetz hatte
im Jahre 1902 rund 194.000 englische Meilen, abgesehen von 60.000
englischen Meilen Nebengeleisen. Das gesamte europäische Schienen-
netz hatte in diesem Jahre 173.000 englische Meilen und das gesamte
Schienennetz Deutschlands 83.000 englische Meilen (Goldberger,
a. a. 0., S. 25).
2) "Im Jahre 1901 wurde die Zahl der Repräsentanten auf 386
festgesetzt un^ 1907 auf 391" (Freund, a. a. 0., S. 105).
Auf Grund des Zensus von 1910 besteht das Repräsentantenhaus
seit 3. März 1913 aus 443 Mitgliedern und mit den 2 Mitgliedern von
Arizona und New Mexico (jedes dieser beiden organisierten Territorien
Hanausek, Amerikanische Skizzen. 4
— 50 —
Senate hat jeder Staat zwei Vertreter. 3) Der Senat ist
zugleich Staatsgerichtshof, High Court of Impeachment.*)
Jeder Senator und jeder Repräsentant bezieht ein Gehalt
von 7500 Dollars und eine Reiseentschädigung von
20 Cents für die Meile, Der Speaker des Repräsentanten-
hauses bezieht ein Gehalt von 12.000 Dollars. Jedes der
beiden Häuser hat das Wahlprüfungsrecht und kann mit
Zweidrittelmajorität den Beschluß auf Ausschließung eines
Mitgliedes fassen (expel a member).^) In den Senat kann
gewählt werden, wer seit neun Jahren Bürger der Ver-
einigten Staaten, Einwohner des betreffenden Staates und
30 Jahre alt ist (Verfassung, I., 3, 3). In das Repräsen-
tantenhaus kann gewählt werden, wer seit sieben Jahren
Bürger der Vereinigten Staaten, Einwohner des Staates,
in dem er gewählt werden soll und 25 Jahre alt ist
(Verfassung, L, 2, 2). Goldberger (a. a. 0., S. 154)
entsendet einen Repräsentanten) aus 445 Mitgliedern (Statesman's
Year Book, p. 27).
Die Parteigruppierung des Repräsentantenhauses von 391 Mit-
gliedern war:
Democrats 229
Republicans 159
Progressive Republican . . 1
Socialists 1
Vacancy 1
(Year Book, p. 34). — Das Repräsentantenhaus wird durch Volkswahl
auf zwei Jahre gewählt.
') Die Senatsmitglieder werden durch die Legislatur des be-
treffenden Staates für je sechs Jahre gewählt. Die Senatsmitglieder
werden in drei Gruppen geteilt, so daß alle zwei Jahre eine Drittel-
emeuerung stattfindet (Freund, S. 106). Im Year Book, p. 34, ist
folgende Parteigruppierung des Senats mitgeteilt:
Republicans ... 50
Democrats .... 41
Vacancy 1
Summe . . 92
*) Year Book, p. 27. — Vgl. hiezu unten S. 71 ff. Das Reprä-
sentantenhaus hat allein die Befugnis, die Staatsanklage zu erheben
"the sole power to impeach", ist also Staatsanklagebehörde.
5) Vgl. Year Book, p. 27; Freund, a. a. 0., S. 108.
— 51 —
teilt mit, daß von der auf Grund eines früheren Zensus-
ergebnisses bestimmten Zahl von 356 Mitgliedern des
Repräsentantenhauses nicht weniger als 239 Lawyers
(Advokaten) waren, und ferner, daß von den 98 Senats-
mitgliedern 51 Lawyers und 9 Staatsbeamte waren. Aus
diesen Ziffern ergibt sich die ungeheure Beteiligung der
Juristen an der Bundesvertretung. "Der Stand der Ad-
vokaten liefert die Hauptmasse der Politiker und der
Mitglieder der parlamentarischen Versammlungen und
Körperschaften. "6) Es sei mir gestattet, gleich hier
folgende allgemeine Bemerkungen einzuschalten : Die Tat-
sache der Rezeption des römischen Rechts auf dem
europäischen Kontinent ist vielfach beklagt worden und
wird neuestens insbesondere von der freirechtlichen Be-
wegung verspottet. Kein Wort des Tadels gegenüber der
Pandektenbegriffsjurisprudenz erscheint dieser Richtung
als zu scharf, obwohl sich die romanistisch geschulten
Vertreter des Zivilrechts nach besten Kräften bemühen,
die funktionellen Wirkungen der Rechtssätze und Rechts-
institute, ihre wirtschaftliche und soziale Wirkung zu
würdigen und zur Geltung zu bringen. Wer das amerika-
nische Rechtsleben zu beobachten Gelegenheit hat, wird
gegenüber diesen Tadlern die Frage stellen: Ist es
leichter, sich über eine Rechtsordnung zu orientieren,
ist eine Rechtsordnung leichter, einfacher und sicherer
zu handhaben, welche auf romanistischer Basis aufgebaut
ist? Und diese Frage wird nach meinem Dafürhalten
zugunsten der kontinentalen Gesetzgebung und Juris-
ö) Rambeau, a. a. 0., S. 96. — Vgl, Georg v. Skal, a. a, 0.,
S. 211: "Für Stellungen aller denkbaren Arten, bei deren Besetzung
man in anderen Ländern nicht auf Juristen verfallen würde, wählt
man in Amerika mit Vorliebe Leute, welche die Rechte studiert haben.
Das geschieht nicht nur, weil der Jurist in den Vereinigten Staaten
mit Recht als ganz besonders befähigt betrachtet wird, ein sachlich
begründetes, richtiges Urteil auch in Angelegenheiten zu fällen, die
nicht direkt mit seinem Beruf in Verbindung stehen, sondern auch,
weil die Kenntnis von Recht und Gesetzen nicht nur wichtig, sondern
auch viel schwieriger als in anderen Ländern zu erlangen ist."
4*
— 52 —
prudenz zu beantworten sein. Nach meinen Beob-
achtungen über die Herrschaft der Juristen über die
Nichtjuristen in allen rechtlichen Dingen glaube ich sagen
zu dürfen, daß diese Herrschaft in den Vereinigten Staaten
eine viel drückendere ist als auf dem europäischen
Kontinente, insbesondere in Deutschland und in Öster-
reich. Wer die ungeheure Menge von Reports, das heißt
von Sammlungen gerichtlicher Entscheidungen gesehen
hat, aus welchen die amerikanischen Juristen das Recht
schöpfen, wird den Rechtsordnungen jener Länder, welche
ihr Zivilrecht auf römisch-rechtlicher Basis kodifiziert
haben, gewiß nicht den Vorwurf geringerer Volkstümlich-
keit machen. '')
Neben der Bundesverfassung gibt es Verfassungen
der einzelnen Staaten.
Die Legislatur eines amerikanischen Staates besteht
stets aus zwei Häusern, das kleinere heißt Senat, das
größere House of Representatives.^) Beide Häuser werden
durch Volksabstimmung gewählt. 9) Sechs Staaten lo)
') Georg V. Skal, a. a. 0., S. 211. "Man bedenke, daß in den
Vereinigten Staaten der Kongreß und jeder der gesetzgebenden Körper
der 46 Einzelstaaten jedes Jabr an die tausend und mehr neue Gesetze
erläßt, die selbstverständlich kein Advokat alle kennen kann, für deren
Auffindung und richtiges Verstehen aber schon eine systematische Vor-
bereitung erforderlich ist. Gesetzessammlungen sind vorhanden, die,
wie aus dem Gesagten hervorgeht, in jedem Jahre gesichtet und
vervollständigt werden müssen, aber Kodifizierungen gibt es so gut
wie nicht."
*) Vgl. Bryce, a. a. 0., I., p. 484. In sechs Staaten heißt das Re-
präsentantenhaus the Assembly, in drei Staaten the House of Delegates.
**) "In der Mehrzahl der Staaten werden die Senatoren auf vier
Jahre und die Mitglieder des Unterhauses auf zwei Jahre gewählt;
nur in vier Staaten findet die Repräsentantenwahl und nur in zwei
Staaten die Senatorenwahl jährlich statt" (Freund, a. a. 0., S. 116).
Die Zahl der Mitglieder der Legislaturen ist sehr verschieden.
Delaware hat den kleinsten Senat von bloß 17 Mitgliedern, Minnesota
mit 63 Mitgliedern den größten Senat. Delaware hat auch das kleinste-
Repräsentantenhaus von 35 Mitgliedern, während New Hampshire, ein.
— 53 —
haben jährliche Sitzungsperioden, in zwei Staaten tritt
die Legislatur nur alle vier Jahre zusammen ii), in allen
übrigen Staaten in jedem zweiten Jahre.
Die Mitglieder der Legislatur beziehen in manchen
Staaten ein Jahresgehalt i^)^ in anderen Staaten ein
fixes Gehalt für die Sitzungsperiode i^), in anderen Staaten
bestimmte Taggelder.i*)
Jeder Staat ist femer, wie wir eben gehört haben,
im Senate durch zwei Mitglieder vertreten und dadurch
nehmen die Staaten auch an der Bundesregierung teil.^^)
sehr kleiner Staat, die größte Zahl der Repräsentanten hat, nämlich 389.
Die beiden Häuser des Staates New York haben 51 und 150 Mitglieder,
die von Pennsylvania 50 und 201, die von Massachusetts 40 und 240,
die von North Dakota 50 und 140. Die vorstehenden Zahlen bei
Bryce, a. a. 0., I., p. 490.
^") Massachusetts, Rhode Island, New York, New Jersey, South
Carolina, Georgia (Bryce, a. a. 0., L, p. 491).
^^) Alabama, Mississippi (Bryce, a. a. 0., L, p. 491).
^•-) So in Ohio 1000 Dollars, in New York 1500 Dollars und Meilen-
gelder, in Mississippi 400 Dollars und Meilengelder, in Massachusetts
750 Dollars. — Vgl. über die Bezüge der Mitglieder der Legislatur
auch Bryce, a. a. 0., L, p. 491.
^2) So in New Hampshire 200 Dollars und Meilengelder.
^*) Zum Beispiel in Montana 10 Dollars täglich mit der Be-
schränkung einer 60 tätigen Sitzungsdauer in jedem zweiten Jahre, in
Idaho 5 Dollars und Meilengelder, aber nicht mehr als 300 Dollars.
Die vorstehenden Angaben sind dem Year Book entnommen.
^^) "Die Errichtung dieses eigenen Regierungssitzes ist eine uns
eigentümliche Einrichtung" (Woodrow "Wilson, a. a. 0., S. 397). —
Im Columbia District gibt es keinen gesetzgebenden Körper und die
Bundeshauptstadt Washington ist ganz ohne Selbstverwaltung. Dieser
Distrikt hat 70 square miles und 331.069 Einwohner. Die Verwaltung
wird von drei vom Präsidenten ernannten Commissioners geführt.
Im Staate Massachusetts ist die größte Stadt Boston zugleich
Hauptstadt, ebenso ist in Rhode Island die größte Stadt Providence
zugleich Hauptstadt. In Utah ist Salt Lake City die größte Stadt und
Hauptstadt, in Virginia ist Richmond Hauptstadt und zugleich größte
Stadt, in Wyoming, dem Staate, in dessen Territorium der Yellow-
stone-Park liegt, ist Cheyenne die größte Stadt und zugleich Haupt-
stadt. In einer ganzen Reihe von Staaten hat man aber keineswegs
die größte Stadt zur Hauptstadt gemacht; so ist zum Beispiel die
— 54 —
Bezüglich der Verteilung der Gewalten zwischen Staaten
und Bund gilt das sogenannte Enumerations-System.
Die Befugnisse des Bundes sind einfach aufgezählt und
was ihnen an Regierungsgewalt nicht ausschließlich zu-
geteilt ist, verbleibt den Einzelstaaten als Undefinierte und
residuäre Staatsgewalt.i^) "On definit donc avec soin les
attributions du gouvernement federal, et Ton declara que
tout ce qui n'etait pas compris dans la definition rentrait
dans les attributions du gouvernement des Etats. Ainsi le
gouvernement des Etats resta le droit commun; le gou-
vernement federal fut l'exception" (Tocqueville, a. a. 0.,
p. 183 sq.). — "Die Staaten sind heute noch die eigent-
liche Quelle der Rechtsprechung und des Rechts"
(Woodrow Wilson, a. a. 0., S. 369).
Zur Kompetenz des Bundes gehören die auswärtigen
Angelegenheiten, der Verkehr mit dem Auslande i'^), das
Hauptstadt des Staates New York Albany; im Staate New Jersey ist
die Hauptstadt Trenton, die größte Stadt Newark; im Staate North
Dakota ist die Hauptstadt Bismarck, die größte Stadt Fargo ; im Staate
Illinois ist nicht Chicago, sondern Springfield Hauptstadt; im Staate
New Hampshire ist die Hauptstadt Concord, die größte Stadt Manchester;
die Hauptstadt von New Mexiko ist Santa F6, die größte Stadt Albu-
querque; im Staate North Carolina ist die Hauptstadt Raleigh, die
größte Stadt Charlotte; die Hauptstadt des Staates Ohio ist Columbus,
die größten Städte sind Cleveland und Cincinnati (andere größere Städte
über 100.000 Einwohner im Staate Ohio sind neben Columbus Toledo
und Dayton); in Oregon ist die größte Stadt Portland, die Hauptstadt
Salem; in Pennsylvania ist die Hauptstadt Harrisburg, die größten
Städte sind Philadelphia, Pittsburg und Scranton; in South Dakota ist
die Hauptstadt Pierre, die größte Stadt Sioux Falls; in Tennessee ist
die Hauptstadt Nashville, die größte Stadt Memphis; in Texas ist die
Hauptstadt Austin, die größte Stadt San Antonio; in Vermont ist die
Hauptstadt Montpellier, die größte Stadt Burlington; in Washington
ist die Hauptstadt Olympia, die größten Städte sind Seattle und Spo-
kane; in West Virginia ist die Hauptstadt Charleston, die größten Städte
sind Wheeling und Huntington; in Wisconsin ist die Hauptstadt
Madison, die größte Stadt Millwaukee.
»«) Freund, a. a. 0., S. 24.
") Vocke, a. a. 0., S. 1.
— 55 —
Recht der Kriegserklärung ^8), der Kongreß regelt den
Handel mit dem Auslande i^) und hat die Befugnis, Be-
stimmungen über Seeräuberei und auf hoher See be-
gangene Verbrechen und über Vergehen gegen das Völker-
recht und über deren Bestrafung zu treffen^o); der Prä-
sident schließt mit Beirat und Einwilligung des Senats
Verträge 21), empfängt Botschafter und Gesandte. 22) Zur
Bundeskompetenz gehören ferner das Münz-, Maß- und
Gewichtswesen, die Postverwaltung, Patent- und Muster-
schutz, Admiralitätsgesetzgebung, ferner der gesamte
Zwischenstaatenhandel. 23) Das gesamte Privatrecht, das
gemeine Strafrecht, einschließlich des Zivil- und Straf-
prozeßrechtes gehören zur Kompetenz der Einzelstaaten.
Der Bund darf indirekte Steuern auferlegen (Schutzzölle),
dagegen keine direkten Steuern, außer im Verhältnis der
Bevölkerung der Einzelstaaten. Dagegen dürfen wieder
die Einzelstaaten nicht Steuern auferlegen, welche den
auswärtigen oder den Zwischenstaatenhandel belasten,
zum Beispiel dürfen die Einzelstaaten nicht Steuern auf
Wechsel und Frachtscheine legen. 2*) Die Gesetzgebung
^*) Verfassung der Vereinigten Staaten, Art. I., § 8, 11*
^*) Verfassung der Vereinigten Staaten, Art;. I., § 8, 3.
*") Verfassung der Vereinigten Staaten, Art. L, § 8, 10.
^^) Verfassung der Vereinigten Staaten, Art. II., § 2, 2.
^-) Verfassung der Vereinigten Staaten, Art. n., § 3, 1.
^^) Vgl- Verfassung der Vereinigten Staaten, Art. I., § 8, 3:
"den Handel mit fremden Nationen und zwischen den einzelnen
Staaten und mit den Indianerstämmen zu regeln." — Sehr interessante
Ausführungen üher die Abgrenzung der Begriffe Zwischenstaatenhandel,
Handelsartikel bei Freund, a. a. 0., S. 28 ff.
2*) Vgl. Woodrow Wilson, a. a. 0., S. 371 ff.: "Durch die Ver-
fassung der Vereinigten Staaten sind allerdings auch den Einzelstaaten,
außer den der allgemeinen Regierung vorbehaltenen, gewisse Rechte
ausdrücklich entzogen. Kein Staat darf Gesetze zur strafrechtlichen
Verfolgung einer Person wegen Verbrechen, die dem Gesetze unbekannt
sind (Bill of Attainder), erlassen, kein Gesetz mit rückwirkender Kraft
(ex post facto), kein Gesetz, durch das eingegangene Kontrakte für
ungültig erklärt werden, oder Adelstitel verleihen. Kein Staat darf
— se-
in Ehesachen steht den Einzelstaaten zu. Über die Folgen
dieser Kompetenz spricht Woodrow Wilson (a. a. 0.,
S. 375) folgendes Urteil aus : Die Ehe, "diese Lebens-
wurzel sozialen Gedeihens, wird von vernichtender Zer-
setzung bedroht. Nicht nur, daß die Ehefesseln, die
noch in einigen Staaten ihre alte Stärke behalten haben,
in vielen stark gelockert worden sind, so daß die alte
konservative Auffassung, wonach das Familienleben als
das Herz des staatlichen Lebens so eifersüchtig ge-
schützt wurde, in Vergessenheit zu geraten droht; es
hat sogar die Mannigfaltigkeit auf dem Gebiete der
Ehegesetzgebung in den verschiedenen Staaten die
skandalösesten Vorkommnisse bei der betrügerischen Er-
langung von Scheidungen und beim Eingehen falscher
Ehen ermöglicht". ^s)
Eine fundamentale Regel des amerikanischen Ver-
fassungsrechts ist die, daß jedes Mitglied der Bundes-
legislatur, also des Senats wie des Repräsentantenhauses,
das Recht hat, Gesetzes vorschlage zu machen. Der ein-
zubringende Gesetzesvorschlag bedarf nur der Unter-
ohne Zustimmimg des Kongresses Zölle und Handelsabgaben erheben,
in Friedenszeiten eine stehende Armee oder Kriegsschiffe unterhalten,
mit einem anderen Staate oder einer auswärtigen Macht Verträge
schließen oder einen Krieg anfangen, es sei denn, er sei selbst au-
gegfriffen oder schwebe in unmittelbarer Gefahr. Aber diese Verbote
schränken kaum diejenigen Gebiete ein, die überhaupt regelmäßiger-
weise den Einzelstaaten eines Bundesstaates vorbehalten sein würden."
**) Ein Ort, welcher durch rasche und kulante Durchführung von
Ehetrennungen und Wiederverehelichungen berühmt geworden ist, soll
Fargo in North Dakota sein. In einer amerikanischen Zeitung lese ich
folgende Notiz aus Eeno in Nevada \om 18. Februar d. J. : "Die
Nevada divorce industry erlitt einen tödlichen Schlag, indem der
Senat des Staates beschloß, daß künftighin für die Trennung ein ein-
jähriger Aufenthalt vorgeschrieben sein soll. Diese Maßnahme des
Senates wurde bereits früher von der Asseinbly beschlossen und der
Gouverneur hat angekündigt, daß er diese Bill genehmigen werde." In
der Notiz heißt es weiter, daß in den letzten zwei Jahren 1281 Suits
for divorce in Reno, einer Stadt von 12.000 Einwohnern, überreicht
worden seien.
— 57 —
Schrift des Antragstellers und nicht etwa irgendwelcher
anderer Unterschriften von Mitgliedern des Hauses,
welchem der Antragsteller angehört. Dagegen steht der
Regierung, das heißt dem Präsidenten und den Kabinett-
sekretären nicht das Recht zu, Gesetzesvorschläge ein-
zubringen. Dasselbe Prinzip gilt auch für die Ver-
fassungen der Einzelstaaten. Die Folge dieses Systems
ist die, daß die Gesetzesvorschläge von der Regierung
nicht vorbereitet werden und es daher auch nicht Re-
gierungsorgane gibt, welche einzubringende Gesetzes-
vorschläge vorzubereiten und auszuarbeiten haben.^ß)
Die Zahl der Bills ist daher eine außerordentlich große.
Bryce (a. a. 0., I., p. 138) erwähnt, daß in der 37. Session
des Kongresses (1861/63) die Gesamtzahl der eingebrachten
Bills 1026 gewesen sei, nämlich 613 House Bills und
413 Senate Bills.27) Während der 51. Session (1889/91)
hat es 19.646 Bills gegeben, von welchen 14.328 im
Repräsentantenhaus und 531^ im Senat eingebracht
worden waren, und in der Session 1909/10 soll nach
Freund, a. a. 0., S. 112, Anm. 3, die Zahl der Bills
im Repräsentantenhause 27.000 und im Senat 9000 ge-
wesen sein. Im Staate New York aber belief sich die
Zahl der Bills im Jahre 1910 nach Freund, a. a. 0.,
S. 112, auf 2935.28)
2«) Vgl. Freund, a. a. 0., S. 112, 122; Bryce, a. a. 0., I.,
p. 57 (The American President does not introduce bills, either directly
or through bis ministers, for they do not sit in Congress); I., p. 170
(In neither House of Congress are there any government bills. All
measures are brought in by private merabers because all members are
private); I., p. 492.
2'') Bei Bryce beißt es wahrscheinlich infolge eines Druckfehlers
433 Senate bills.
^^) Vgl. noch Freund, a. a. 0., S. 112: "Die sogenannte Ad-
ministration Bills werden von der Eegierung befreundeten Mitgliedern
eingebracht" und S. 122: "Die juristische Formulierung einer Bill geht
entweder von dem Abgeordneten aus, der dieselbe beantragt, oder
wenn dieser sich nicht die genügende juristische Kenntnis zutraut, von
irgendeinem Rechtsanwalt, dessen Name meist unbekannt bleibt.
— 58 —
"Eine Bill kann von jedem Haus ausgehen, mit
Ausnahme derjenigen, die sich auf die Beschaffung von
Einnahmen beziehen. Diese müssen vom Repräsentanten-
haus ausgehen, obwohl der Senat sie beliebig wie jede
andere Bill amendieren kann."29) "Es gibt drei Wege,
wie eine Bill Gesetz werden kann : a) indem sie die
Zustimmung einer Mehrheit in jedem der beiden Häuser
und die Unterschrift des Präsidenten erhält, oder
h) indem sie die Zustimmung einer Mehrheit in jedem
Hause erhält und der Präsident sie innerhalb zehn Tagen
nach ihrer Passierung weder unterzeichnet noch ablehnt,
oder c) wenn sie eine Zweidrittelmehrheit in jedem Haus
erhält, nachdem der Präsident seine Unterschrift aus-
drücklich versagt hat. Wenn der Kongreß vor Ablauf
der dem Präsidenten zugebilligten zehn Tage schließt,
so sind die bis zum Schlüsse nicht unterzeichneten Bills
damit gefallen." ^o) Der Präsident braucht also keines-
wegs einer Bill zuzustimmen, damit sie Gesetz werde,
sondern die Bill kann Gesetz werden, weil sie der Prä-
sident nicht ausdrücklich ablehnt, und eine Bill kann
auch trotz des geübten Vetos des Präsidenten durch Zwei-
drittelmajorität beider Häuser Gesetz werden, also gegen
den Willen desselben, obwohl eine Annahme von Gesetzen
durch Überstimmung des Vetos selten ist.^i)
2®) Woodrow Wilson, a. a. 0., S. 404; vgl. ferner Freund,
a. a. 0., S. 112.
'^) Woodrow Wilson, a. a. 0., S. 403 ff.; vgl. ferner Freund,
a. a. 0., S. 113 ff.; im letzteren Falle spricht man von einem Pocket
Veto. Ein Pocket veto liegt also vor, wenn der Präsident innerhalb
der zehn Tage nicht unterzeichnet und der Kongreß sich während
dieser zehn Tage vertagt. Die Bill verfällt dann eben von selbst.
ßryce, a. a. 0., I., p. 59; Freund, a. a. 0., S. 114.
^^) Freund, a. a. 0., S. 114; Bryce, a. a. 0., I., p. 58sq., teilt
folgende Ziffern mit: Washington hat nur zwei Bills "retumed" or
vetoed, seine Nachfolger bis 1830 sieben, bis zum Amtsantritt des Prä-
sidenten Cleveland im Jahre 1885 wurde das Veto im ganzen 132 mal
geltend gemacht, von 1892 bis zum Ende der zweiten Präsidentschaft
Roosevelts im Jahre 1909 wurde das Veto 108 mal ausgeübt. Die
— 59 —
Der Präsident ist aber allerdings befugt, an den Kon-
greß Botschaften zu richten, und zwar teils besondere
Botschaften und teils solche zu Beginn einer Session.
Der Kongreß ist nicht verpflichtet, eine in einer Bot-
schaft (Message) empfohlene Maßnahme in Beratung zu
ziehen, er ist nur verpflichtet, die Botschaft entgegen-
zunehmen.^2)
Die Vetogewalt des Gouverneurs in den Einzel-
staaten ist im großen und ganzen die gleiche wie die
des Präsidenten. 33)
In einer Reihe von Einzelstaaten gibt es auch eine
direkte Gesetzgebung durch das Volk. Eine Verweisung
zur Volksabstimmung (Referendum) ist in manchen
Staaten verfassungsmäßig für bestimmte Gesetze vorge-
sehen, so zum Beispiel in Illinois und in Wisconsin
für jedes Bankgesetz; so müssen in Minnesota Eisen-
bahngesetze bestimmter ilrt durch Volksabstimmung be-
schlossen werden. 34)
In einer Reihe weiterer Staaten kann eine bestimmte
Anzahl von Wählern einen Vorschlag zur Erlassung, Ab-
änderung oder Aufhebung eines Gesetzes machen, also
die Initiative ergreifen und dieser Vorschlag wird, wenn
die Legislatur und der Gouverneur demselben nicht zu-
stimmen, dann der Volksabstimmung unterzogen. Dieselben
Verfassungen geben dann auch einer bestimmten Anzahl
von Wählern das Recht, das Inkrafttreten eines Gesetzes
bis zur Volksabstimmung zu hindern, also eine Ver-
weisung zur Volksabstimmung (Referendum) eines bereits
beschlossenen Gesetzes herbeizuführen. Gegenüber den
größte Zahl der Vetos fällt in die Präsidentschaft Clevelands, nämlich
301 Vetos. Die größte Zahl dieser Vetos Clevelands kehrt sich gegen
Gesetze, welche Personen Pensionen gewährten, die in der Nordarmee
während des Sezessionskrieges gedient hatten.
32) Bryce, a. a. 0., L, p. 57; Freund, a. a. 0., S. 112.
*3) Abweichungen vgl. bei Freund, a. a. 0., S. 119.
»*) Freund, a. a. 0., S. 121; Bryce, a. a. 0., I., p. 471.
— 60 —
auf Grund dieser Initiative oder eines Referendum be-
schlossenen Gesetzen gibt es kein Veto des Gouver-
neurs.^s)
Oberstes Prinzip der amerikanischen Gerichtsorgani-
sation ist, daß die Anwendung der Bundesgesetze in die
Hände besonderer Bundesgerichte, und zwar in allen In-
stanzen, gelegt ist.i) Neben diesem System der Bundes-
35) Vgl. Bryce, a. a. 0., I., p. 472; Freund, a. a. 0., S. 121ff.
Bryce zitiert Bestimmungen der Verfassung von Oklahoma, nach
welchen acht Prozent der Wähler die Initiative bezüglich einer neuen
gesetzlichen Maßregel, 15 Prozent der Wähler bezüglich einer Ver-
fassungsänderung und fünf Prozent der Wähler bezüglich der Ver-
weisung eines bereits beschlossenen Gesetzes zur Volksabstimmung
(Referendum) ergreifen können. Freund zitiert eine Bestimmung der
Verfassung von Maine, nach welcher 12.000 Wähler die Initiative
ergreifen können und eine Petition von 10.000 Wählern zu einem
Referendum führt. Weitere Verfassungen, welche das Recht der
Initiative, beziehungsweise des Referendum einer bestimmten Anzahl
von Wählern geben, sind nach Freund, a. a. 0., noch Missouri,
Montana, Nevada, Oregon, South, Dakota.
^) Vgl. Artikel III der Verfassung der Vereinigten Staaten:
§ 1, 1.: "Die Gerichtsgewalt der Vereinigten Staaten soll einem
höchsten Gerichtshofe und so viel niederen Gerichten, als der Kongreß
von Zeit zu Zeit anordnen und errichten will, zustehen — .— — ."
§ 2, 1.: "Die Gerichtsgewalt erstreckt sich auf alle Rechts- und
Billigkeitsfälle, in denen Fragen dieser Verfassung, der Gesetze der
Vereinigten Staaten und der unter deren Autorität geschlossenen Ver-
träge aufgeworfen werden; auf alle Fälle die Botschafter, öffentliche
Gesandte oder Konsuln berühren; auf alle Fälle der Seegerichtsbarkeit;
auf Streitigkeiten, in denen die Vereinigten Staaten Partei sind;
auf Streitigkeiten zwischen zwei oder mehreren Staaten, zwischen
einem Staat und den Bürgern eines anderen Staates, zwischen Bürgern
verschiedener Staaten, zwischen Bürgern desselben Staates mit Bezug
auf Landansprüche auf Grund von Verleihungen seitens verschiedener
Staaten und zwischen einem Staate oder dessen Bürgern und fremden
Staaten, Bürgern oder Untertanen."
§ 2, 2. : "In allen Fällen, die Botschafter, öffentliche Gesandte und
Konsuln betreffen und in denen ein Staat Partei ist, hat das oberste
— 61 —
gerichte besteht ein System der Gerichte der Einzelstaaten,
welche über die Verletzung der Bundesgesetze nicht
richten können. Die Bundesgerichte sind ferner kompetent
für Streitigkeiten, in welchen Ausländer oder Bürger
anderer Staaten Partei sind (Freund, a. a. 0., S. 32).
Die Bundesgerichte führen auch eine Kontrolle gegenüber
den Staaten. Ein Kompetenzkonflikt zwischen dem Bund
und einem Staate wird aber nicht in einem Rechtsstreite
zwischen Bund und Einzelstaat, sondern als Inzidenz-
punkt in einem gewöhnlichen Zivil- oder Strafverfahren
entschieden, in welchem die eine Partei sich auf Bundes-
recht, die andere auf einzelstaatliches Recht beruft. 2) Das
Bundesgericht schützt auch die Staaten vor Übergriffen
des Bundes. Wir haben also als ersten charakteristischen
Zug der gesamten amerikanischen Gerichtsorganisation
den Grundsatz der Duplizität der Gerichte, Bundesgerichte
und Staatengerichte, in allen Instanzen.
Der vielleicht prägnanteste Zug des amerikanischen
Verfassungsrechts ist aber das Recht der Gerichte, die
Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, ein
Recht, welches auch den Gerichten der Einzelstaaten zu-
steht. Die Gerichte sind also eine Art Revisionsinstanz
für die Gesetzgebung (Freund, a. a. 0., S. 84 f.).
Die Urteile über den Grund und die Berechtigung
dieser außerordentlichen Stellung der amerikanischen
Gerichte lauten sehr verschieden. Während Freund
(a. a. 0., S. 88) sagt, diese Entwicklung erkläre "sich
unschwer aus der unbefriedigenden Art und Weise, in der
die Gesetzgebung gehandhabt worden ist und noch gehand-
Gericht Gerichtsbarkeit in erster Instanz. In allen anderen vor-
erwähnten Fällen soll das oberste Gericht Benifungsgerichtsbarkeit
über Rechts- und Tatfrageu mit Ausnahmen und unter Vorschriften,
die vom Kongreß festzustellen sind, haben."
Vgl. auch Vocke in dem oben S. 4 angeführten Handbuch, S. 4£E.
2) Vgl. E. Baldwin, "The American Judiciary" (vgl. oben S. 4)
p. 167 sq.; Freund, a. a. 0., S. 38.
— 62 —
habt wird" 3), zugleich aber feststellt, daß die Revisions-
tätigkeit der Gerichte eine segensreiche und unentbehr-
liche geworden sei und in der öffentlichen Meinung des
Landes den stärksten Rückhalt finde, sehen andere
Schriftsteller diese Stellung der Gerichte als eine geradezu
selbstverständliche an.*) Bryce (a. a. 0., I., p. 248 sq.)
führt aus, es gebe vier Arten amerikanischen Rechts,
nämlich : I. The Federal Constitution ; II. Federal
Statutes; III. State Constitutions ; IV. State Statutes.
Die Federal Constitution, die Bundesverfassung, gehe allen
anderen Gesetzen vor und die Bundesgesetze gehen,
wenn sie mit der Konstitution in Übereinstimmung stehen,
den Staatsverfassungen und den Staatsgesetzen vor. Es
sei nun Aufgabe der Gerichte, die Verfassung gegenüber
den einzelnen Gesetzen zu wahren. Das Gericht erklärt,
es existiert ein Konflikt zwischen zwei Gesetzen von
verschiedenem Grade der Autorität. Damit sei von selbst
gegeben, daß das schwächere Gesetz dem stärkeren
weichen müsse. Das Gericht entscheidet auch nur den
einzelnen Fall und jeder kann, wenn er glaubt, das
Gericht habe unrecht geurteilt, in einer neuen Rechtssache
die Frage zur Entscheidung bringen, ob das betreffende
Gesetz gültig sei oder nicht.^) Hannis Taylor 6) findet,
die Beschränkung der legislativen Gewalt durch die
richterliche Gewalt des Obersten Gerichtshofes der Ver-
^) Vgl. hiezu die vorstehenden Ausführungen bezüglich des aus-
schließlichen Rechtes der Mitglieder des Kongresses, beziehungsweise
der Staatslegislaturen, Gesetzesvorschläge einzubringen.
*) Freund, a. a. 0., S. 89, teilt mit, daß das Oberbundesgericht
in den ersten 100 Jahren seines Bestandes, also von 1787 an, dieses
Prüfungsrecht 203 mal ausgeübt habe. Im Jahre 1905 sind in 104 Fällen
von einzelstaatlichen Obergerichten Gesetze beiseite gesetzt worden.
^) Vgl. auch Bryce, a. a. 0., L, p. 243: "In England Parliament
is omnipotent. In America Congress is doubly restricted. It can make
laws only for certain purposes specified in the Constitution, and in
legislating for these purposes it must not transgress any provision of
the Constitution itself. The stream cannot rise above its soucre."
^) In dem oben S. 5 zitierten Buche "Jurisdiction and Procedure
of the Supreme Court of the United States", p. 2.
— 63 —
einigten Staaten sei natürlich hervorgewachsen daraus,
daß die Machtstellung der Colonial Assemblies durch
die Verfassungen (Charters), welche dieselben geschaffen
oder anerkannt haben, von vornherein mehr oder weniger
beschränkt war.
Von ganz besonderem Interesse sind die Aus-
führungen von E. Baldwin in seiner oben, S. 4,
zitierten Schrift "The American Judiciary". Baldwin
findet zunächst (p. 24), daß die Theorie von den drei
Gewalten der französischen Philosophen mit der prak-
tischen Erfahrung der Amerikaner in Widerspruch stehe.
Der Senat und Kongreß seien ebenso eine exekutive Ver-
sammlung wie eine gesetzgebende Körperschaft.'^) Das
Staatsanklageverfahren sei sowohl ein richterliches wie
ein politisches und dennoch überlassen es die amerika-
nischen Verfassungen der Legislative (tho the legislative
department). Auch schaffen ja die Gerichte Regeln für
die Praxis (Rules of Practice), womit sie zugleich eine
gesetzgeberische Funktion üben (p. 21).^) Es sind daher
auch die Gerichte berufen, die Verfassung gegen jeden
exekutiven oder legislativen Angriff zu verteidigen
(p. 104). Nicht alles, was die Form eines Gesetzes hat,
ist auch Gesetz. Die Gerichte haben die Gewalt, diesen
Widerspruch zwischen Form und Inhalt festzustellen (The
judicial power of declaring what has the form of law
not to be law, p. 98 sq.). Einzelne amerikanische Gerichte
') "The theory of the French philosophers, that all the powers
of government could he divided into three parts, each hearing a name
descriptive only of itself, is not sapported by the practical experience
of Americans. There are functions that might as well be assigned to
one of these parts as to another, or made into a fourth and called admini-
strative. The Constitution of the United States recognizes this in efEect.
It makes the Senate an executive Council, as well as a legislative Chamber.
It allows Congress to vest the appointment of any inferior officers in
the courts (Art. ü., See. 3). In practice this power has been freely used."
*) It is practically impossible to establish in every instance a
piain line of demarcation between legislative, executive and judicial
functions (p. 21).
— 64 -
haben sich aber nicht nur zu einer Feststellung eines
Widerspruches zwischen einem Gesetz und der Verfassung
kompetent erachtet, sondern auch angenommen, daß die
Richter ein Gesetz beiseite setzen können (disregard),
welches offensichtlich die fundamentalen Grundsätze der
natürlichen Gerechtigkeit verletzt, obwohl es nicht irgend-
welchen konkreten verfassungsmäßigen Bestimmungen
widerspricht (p. 118). Interessant ist auch, daß derselbe
Autor, welcher den Gerichten so weitgehende Machtbefug-
nisse beilegt, mit Bestimmtheit erklärt, das Prinzip des
römischen Rechtes, es gebe eine Desuetudo contra legem,
gelte in Amerika nicht (p. 121).
Münsterberg ("Die Amerikaner", I., S. 207 f.) stellt
einige Fälle ausführlich dar, in denen das Oberbundes-
gericht dieses Prüfungsrecht geübt hat. Ich gestatte mir,
diese Fälle im Anschluß an Münsterbergs Darstellung
mitzuteilen :
1. Im Jahre 1894 schuf der Kongreß neue Steuer-
gesetze für die Union, Ein Abschnitt des Gesetzes legt
Steuern auf jedes Einkommen in bestimmter Höhe. Die
Verfassung schreibt aber vor, daß direkte Steuern nicht
direkt durch das Reich, sondern nur durch die Einzel-
staaten erhoben werden dürfen, und zwar nach dem
Verhältnisse der Einwohnerzahl der Einzelstaaten.^)
Die reichen Einwohner des Ostens wurden durch die
direkte Bundessteuer offenbar viel stärker belastet. Ein
Bürger verweigerte die Steuerzahlung und ließ es zum
Prozesse kommen. Die Majorität des Obersten Gerichts-
hofes entschied zu seinen Gunsten und damit war die
Unionseinkommensteuer beseitigt.io)
*) Vgl. Artikel I, § 9, 4, der Verfassung der Vereinigten
Staaten: "Keine Kopf- oder andere direkte Steuer soll auferlegt werden,
außer im Verhältnisse der im vorherigen angeordneten Volkszählung
(Zensus)."
^^) Vgl. das Erkenntnis des Obersten Bundesgerichtes in den
Income Tax Gases (Pollock v. Farmer's Loan D. T, Co. 1894) bei
Taylor, a. a. 0., p. LVIIsq.
— 65 —
2. Die sogenannten Inselfälle. Porto Rico war durch
Vertrag mit Spanien an die Vereinigten Staaten über-
gegangen. Der Kongreß legte für gewisse Waren, welche
von der Insel auf das Festland importiert wurden, Zölle
auf. Nun soll es aber innerhalb der Vereinigten Staaten
keine Zollschranken geben. Es klagte daher ein Kauf-
mann Down es den Zollinspektor Bidwell auf Rück-
zahlung der gezahlten Zölle für Apfelsinen. Das Ober-
bundesgericht erkannte mit fünf gegen vier Stimmen,
daß die Zölle zu Recht auferlegt worden seien, weil auf
die neuerworbenen Inselgebiete die oben erwähnte Be-
stimmung nicht anwendbar sei.i^)
In diesem Zusammenhange ist auch der jüngst er-
flossenen Entscheidung in einer Eisenbahntarifsache Er-
wähnung zu tun. Nach der in der "Neuen Freien Presse"
vom 17. Juni 1913 von Dr. Julius Ullmann gegebenen
Darstellung hat die Legislatur des Staates Minnesota
der Northern Pacific und der Great Northern-Gesellschaft
eine einschneidende Reduktion in den Tarifsätzen inner-
halb des Staates aufgetragen. Der Circuit Court (vgl.
unten S. 68) hat für den Standpunkt der Aktionäre gegen
dieses Gesetz erkannt, das Oberbundesgericht der Be-
^^) Auch diese im Text zitierte Entscheidung ist bei Taylor,
a. a. 0., p. LX sq., angeführt. Der Vertrag zwischen den Vereinigten
Staaten und Spanien über die Abtretung der Insel war geschlossen
und eine Territorialregierung bereits eingeführt. Darauf beschloß der
Kongreß eine Zollauflage; diese wurde für gültig erklärt (because,
in the opinion of Justice Brown who delivered the judgment the
Federal Constitution does not, by its own force, extend to the pos-
sessions of the United States, whether created into territories with a
regulär form of government or existing as unorganized possessions).
In einem anderen ebenda mitgeteilten Falle De Lima v. Bidwell aus
dem Jahre 1900, in welchem es sich um die Rückgabe der Zölle
handelte, welche vor der Einführung der Territorialregierung in
Porto Rico erhoben worden waren, wurde der Rückforderungsklage
stattgegeben. Das Land sei infolge des Vertrages zwischen den Ver-
einigten Staaten und Spanien nicht mehr ein fremdes Territorium ge-
wesen und daher seien die früheren Zölle nicht mehr zu Recht er-
hoben worden.
Hanausek, Amerikanische Skizzen. 5
— 66 —
rufung des Staates Minnesota zugunsten der Gültigkeit
des Gesetzes Folge gegeben, weil in dieser Tarifherab-
setzung eine verfassungswidrige Konfiskation des Eigen-
tums der Bahnen und ihres Rechtes auf eine angemessene
Dividende nicht zu erblicken sei. .
Die verfassungsmäßige Kompetenz des Bundes, den
Handel zwischen den Einzelstaaten zu regeln (vgl. oben
S. 55, Anm. 23), ermöglichte die Erlassung der Bundes-
Sherman Akte vom 2. Juli 1890, welche jede Vereinigung
in restraint of trade or commerce among the several
States, or with foreign nations verbietet. Die Sherman
Akte ermöglichte die Bekämpfung der Trusts vor den
Bundesgerichten. Diese Kompetenz ermöglichte ferner ein
Gesetz vom Jahre 1903, durch welches ein Bureau of
Corporations geschaffen wurde. Es gibt aber auch eine
Antitrustgesetzgebung der einzelnen Staaten mit oft sehr
strengen Strafen.^^)
^^) Freund (a. a. 0., S. 279) teilt eine Fülle interessanten
Materials mit. Bezüglich des Gesetzes vom Jahre 1903 führt er aus
(S. 280 f.), das Bureau of Corporations "soll hauptsächlich Informationen
sammeln und ist zu diesem Zwecke mit weitgehenden inquisitorischen
Befugnissen ausgestattet. Die Zeugnispflicht erstreckt sich auch auf
inkriminierende Aussagen und die verfassungsmäßig zu beanspruchende
Straffreiheit ist durch ein besonderes Gesetz aus dem Jahre 1906 auf
den aussagenden Zeugen beschränkt, so daß die Gesellschaft, die er
vertritt, auf Grund von Beweismaterial strafrechtlich verfolgt werden
kann, das sie selbst zu liefern gezwungen wird."
Münsterberg (I., S. 211 f.) teilt die im Mai 1911 gegen die
Standard Oil Company erflossene Entscheidung mit. Auf Grund dieser
Entscheidung sollte sich der Standard Oil Trust innerhalb von sechs
Monaten in die einzelnen Gesellschaften auflösen. In dieser Ent-
scheidung wurde ausgesprochen, daß nicht jede Einschränkung der
Konkurrenz, sondern nur eine unvernünftige, durch ungehörige Mittel
erreichte getroffen werden soll.
Die "Neue Freie Presse" vom 14. Februar 1913 enthält eine
Notiz, nach welcher der Senat des Staates New Jersey alle vom
Gouverneur Wilson unterstützten Antitrustgesetze angenommen habe,
ferner ein Telegramm aus Jefferson City, nach welchem der Oberste
Gerichtshof ein Urteil erlassen hat, durch das die Standard Oil Co.
dauernd vom Staate Missouri ausgeschlossen wurde. In der "Neuen
— 67 —
Das dritte, für die Stellung der amerikanischen Ge-
richte grundlegende Prinzip ist die Überordnung der
ordentlichen Gerichte über die Verwaltung. ^^) xA.us diesem
aus dem englischen Common Law übernommenen Satz
ergibt sich einerseits die Kompetenz der Gerichte, im
ordentlichen Instanzenzug über die Rechtmäßigkeit von
Verwaltungsakten zu erkennen, andrerseits eine Art Ober-
aufsichtsrecht über die Verwaltung, in dem auch gegen
die höchsten Exekutivbeamten aus dem Grund eines
rechtsirrtümlichen Verwaltungsakts, zum Beispiel also
auf Grund einer von einem inkompetenten Verwaltungs-
beamten erlassenen Zwangsmaßregel, eine zivilrechtliche
Schadenersatzklage erhoben werden kann.^*)
Freien Presse" vom 18. Februar 1913 lese ich ein Telegramm, nach
welchem gegen den Präsidenten eines Trusts eine Gefängnis- und eine
Geldstrafe und gegen 28 Beamte desselben Trusts Gefängnisstrafen
verhängt worden sind.
") Vgl. Reinsch, a. a. 0., S. 30 (vgl. oben S. 13): "Es ist aus
allen diesen Gründen als ein Fortschritt zu begrüßen, wenn in den
hohen amerikanischen Gerichten die Anschauung Platz gfreift, daß eine
eigentliche Kontrolle der Verwaltungstätigkeit durch die Gerichte nur
dann vorgenommen werden soll, wenn rein juristische Fragen in Betracht
kommen, und daß es die Gerichte nicht versuchen sollen, durch das
Prinzip der Billigkeit eine allgemeine Kontrolle auszuüben."
") Reiches Material bei Freund, a. a. 0., S. 97 ff. — "Selbst
dem Staatssekretär oder den Ministem gegenüber ist die Gerichtsgewalt
ausgeübt worden, nur vor dem Amt der obersten Exekutive scheint
sie haltzumachen" (Freund, a. a. 0., S. 99).
Eine eingehende und ausgezeichnete Darstellung des richterlichen
Kontrollrechtes über die Verwaltung finde ich bei Goodnow, "Prin-
ciples of the Administrative Law of the United States" (vgl. oben S. 5),
p. 383 sq. Das richterliche Kontrollrecht wird geübt:
1. Gelegentlich der Durchführung von Zivilprozessen gegen den
Staat, beziehungsweise gegen den Bund. Über die Kompetenz für
Klagen gegen den Bund vgl. unten S. 69.
2. Es gelte das Prinzip, daß die Befolgung der administrativen
Verfügung, von besonderen Bestimmungen abgesehen, nur auf Grund
eines richterlichen Verfahrens erzwungen werden könne. Bei Aus-
übung dieses Kontrollrechtes werden die Gerichte es vermeiden, die
im Rahmen des Gesetzes und ihrer amtlichen Befugnisse erüossenen
5*
— 68 —
Das ganze Bundesgebiet zerfällt in Distrikte i^) und
in neun Bezirke (Circuits). Jeder Bezirk hat ein eigenes
Circuit Court of Appeal i^) und eine Anzahl von Circuit
Courts. Ein Bezirksgericht, Circuit Court, besteht in der
Begel für jeden Distrikt, so daß die Zahl der Circuit
Courts derjenigen der Distriktsgerichte ungefähr gleich
ist.i7)
diskretionären Verfügungen der Verwaltungsorgane zu überprüfen.
'They will not, as a general rule, make use of this power of control
lo interfere in any way with the discretion which may have been
accorded to administrative officers" (Goodnow, a. a. 0., p. 395).
3. Das richterliche Kontrollrecht wird erst ausgeübt auf Grund
von Schadenersatzprozessen gegen administrative Staatsorgane (Officers).
Der Schadenersatzpflicht unterliegen nach der Darstellung von Goodnow
nicht der Präsident der Republik, dann die Heads of executive de-
partment, ferner nicht Richter, sofern sie im Rahmen ihrer Kompetenz
gehandelt haben.
^^) Freund (a. a. 0., S. 154) sagt, die Gesamtzahl der Distrikte
beträgt 75, die der Distriktsrichter 80. — Bei Ery ce (a. a. 0., I., p. 232)
heißt es, im Jahre 1910 habe es 88 Distriet Courts gegeben. — Über
die Organisation der Bundesgerichte vgl. E. Hey mann, Holtzendorffs
Enzyklopädie, 6. Aufl., S. 846 ff.
^*) Die Circuit Courts of Appeal sind 1891 als Appellationsinstanz
für die Distriet und Circuit Courts eingeführt worden. Es gibt aber
auch Rechtssachen, welche direkt von den Bundesgerichten in erster
Instanz, Distriet oder Circuit Courts an das oberste Bundesgericht,
gebracht werden können (Bryce, a.a.O., I., S. 232).
^■') Vgl. Woodrow Wilson, a. a. 0., S. 404. — Jeder Circuit,
hat einen Circuit Court, welcher seine Sitzungen in den verschiedenen
Distrikten innerhalb des Bezirkes als der Circuit Court für diesen
Distrikt abhält. (Baldwin, a. a. 0., p. 139.) In diesem Sinne ist es
zu verstehen, daß es ungefähr ebensoviele Distrikts- als Bezirks-
gerichte gibt. — Vgl. femer Bryce (a. a. 0., L, S. 232): The
Circuit court may be held either by a Circuit judge alone, or by the
Supreme court Circuit justice alone, or by both together or by either
sittiug along with the Distriet judge of the distriet wherein the par-
ticular circuit court is held, or by the Distriet judge alone.
Freund (a. a. 0., S. 155) führt an, es gebe 26 Bezirksrichter,
von denen mindestens zwei, zuweilen auch drei für jeden Bezirk an-
gestellt seien. Ein Oberbundesrichter fungiere jetzt selten, ein
Distriktsrichter sehr häufig beim Circuit Court.
— 69 —
Die vierte und niederste Klasse der Bundesgerichte
sind die Distriktsgerichte. Auf die komplizierten Bestim-
mungen, welche Sachen vor die Bundesdistriktsgerichte
und welche vor die Bundesbezirksgerichte gehören,
wäll ich, da ich ja die Einrichtung der Bundes-
gerichte nur in kürze skizzieren will, nicht ausführlich
eingehen. Ich beschränke mich daher auf folgende kurze
Bemerkungen : Vor die Bundesdistriktsgerichte gehören
zum Beispiel alle Bundesstrafsachen, alle Konkurssachen,
die Klagen gegen Nationalbanken, gegen Konsuln und
Vizekonsuln, dagegen gehören Patent- und Urheberrechts-
prozesse, ferner Klagen auf Grund der Antikartellgesetze
vor die Bundesbezirksgerichte.
Für Ansprüche gegen die Vereinigten Staaten gibt
es noch ein besonderes Gericht, den mit fünf Richtern
besetzten Court of Claims. i^) Seine Kompetenz ist durch
die Tucker Act von 1887 ausgedehnt worden. Auf Grund
dieser Akte ist der Court of Claims kompetent "to all
Claims founded upon the Constitution of the United States
or any law of Congress except for pensions, or upon
any contract, express or implied, with the government
of the United States, of for damages liquidated or un-
liquidated in cases not sounding in tort, in respect of
which Claims the party would be entitled to redress
against the United States, either in a court of law,
equity, or admiralty, if the United States were suable".
Eine mit dem Court of Claims konkurrierende Juris-
diktion haben die Distriktsgerichte bis zu Beträgen von
1000 Dollars und die Circuit Courts für Beträge von
1000 bis 10.000 Dollars.i9)
") Vgl. Taylor, a. a. 0., p. 279 squ. — Von den fünf
Richtern müssen je drei zu einer Entscheidung mitwirken (Year Book,
p. 43). Das Court of Claims ist durch die Kongreßakte von 1855
organisiert worden.
^^) Diese konkurrierende Jurisdiktion wurde normiert durch die
Tucker Act; vgl. Goodnow, a. a. 0., p. 389; Baldwin, a. a. 0.,
p. 148.
— 70 —
Bryce, a. a. 0., L, p. 232, nennt ferner einen auf
Grund der Tarifakte vom Jahre 1909 errichteten Court
of Customs Appeals, welcher Entscheidungen über Zoll-
sachen zu fällen hat. Dieser besteht ebenfalls aus einem
Präsidenten und vier anderen Richtern.
Ferner gibt es einen 1910 errichteten Commerce
Court für Eisenbahntarifstreitigkeiten, welcher ebenfalls
mit fünf Richtern besetzt ist^o)^ ferner emen Supreme
Court für den unmittelbar unter der Verwaltung des
Bundes stehenden District of Columbia, welcher eben-
falls aus einem Präsidenten und fünf Beisitzern besteht.^i)
Das Oberbundesgericht hat seinen ständigen Sitz in
Washington. Die Zahl der Mitglieder ist nicht durch
die Verfassung bestimmt, sondern deren Festsetzung ist
dem Kongreß überlassen. ^2) Seit dem Gesetze vom
10. April 1869 ist die Zahl der Richter neun, einschheß-
lich des Chief Justice. ^3) Der Amtseid des Präsidenten
der Vereinigten Staaten wird durch den Oberbundes-
gerichtspräsidenten abgenommen. 24) Zur Beschlußfähig-
keit des Supreme Court of the United States ist die
Anwesenheit von sechs Mitgliedern notwendig.
20) Freund, a. a. 0., S. 156.
-1) Baldwin, a. a. 0., S. 148 sq. — Taylor, a. a. 0., p. 263 sq.
— Über die Bundesgerichtsbarkeit in den kontinentalen Territorien
und den Inselbesitzungen vgl. Freund, a. a. 0., S. 156.
") Freund, a. a. 0., S. 155. — Woodrow Wilson, a. a. 0.,
S. 405: "Die Verfassung bestimmt die Sphäre, innerhalb welcher die
Gerichtsbarkeit der Vereinigten Staaten ausgeübt werden kann,
während der Kongreß bestimmt, wie weit, in welcher Weise und
durch welche Gerichte dies geschehen soll."
2S) Vgl. Taylor, a. a. 0., p. 21: "By the act of April lOth,
1869 it was provided that the court shall consist of a chief justice
and eight associate justices, six of whom shall constitute a quorum."
— Die Zahl der Richter hat im Laufe der Entwicklung gewechselt,
am Anfang des 19. Jahrhunderts bestand das Oberbundesgericht nur
aus fünf Richtern einschließlich des Präsidenten,
^*) Year Book, p. 34: "The Chief Justice . . . inaugurates, the
President giving him the oath of office."
— 71 —
Alle Bundesrichter werden vom Präsidenten der
Republik mit Zustimmung des Senats ernannt, und zwar
auf Lebenszeit, during good behavior.
Der Chief Justice des Oberbundesgerichtes bezieht
ein Jahresgehalt von 13.000 Dollars und die übrigen
Oberbundesrichter von 12.500 Dollars.^^) Die Bundes-
bezirksrichter beziehen ein Gehalt von 7000 Dollars ^6)^
die Distriktsrichter ein Gehalt von 6000 Dollars. ^7) Die
Gehalte aller öffentlichen Funktionäre sind für unsere
Vorstellung mit Rücksicht auf die amerikanischen Lebens-
verhältnisse nicht hoch bemessen. So bezieht der
Präsident der Vereinigten Staaten ein Gehalt von
75.000 Dollars, freie Amtswohnung und 25.000 Dollars
für Reisekosten. 28) Der Vizepräsident der Vereinigten
Staaten, dessen einzige Funktion, wenn der Präsident
sein Amt führt, das Präsidium des Senats ist, bezieht
nur ein Gehalt von 12.000 Dollars (Statesman's Yearbook,
p. 25).29)
Die Minister (Heads of Departments), welche den
Titel Secretary führen, beziehen, und zwar erst seit 1907
ein Gehalt von 12.000 Dollars. 30)
Ein Bundesrichter kann nur auf Grund des Staats-
anklageverfahrens (by impeachment) vom Amte entfernt
") Vgl. Bryce, a. a. 0., L, p. 230; Year Book, p. 34.
««) Year Book, p. 35; Bryce, a. a. 0., L, p. 232.
") Bezüglich der Mitglieder des Ck)urt of Claimes sagt Bryce,
a. a. 0., I., p. 232, daß der Chief justice 6500 Dollars und die ührigen
vier Richter 6000 Dollars Gehalt beziehen. Die Gehalte der Richter
heim Court of customs appeals betragen nach Bryce, a. a. 0.,
10.000 Dollars.
28) Statesman's Year Book, p. 25. — Freund, a. a. 0., S. 125,
gibt das Gehalt des Präsidenten mit 50.000 Dollars an.
2^) Wenn der Präsident seines Amtes entsetzt wird, resigniert,
stirbt oder unfähig wird, sein Amt auszuüben, so tritt der Vizepräsident
an seine Stelle. (Bryce, a. a. 0., L, p. 51; Freund, a. a. 0., S. 124.)
'*") (Year Book, p. 25.) Es gibt neun Minister, Cabinet Officers,
nämlich den Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Secretary of
State, femer den Secretary of the Treasury, den Secretary of War,
den Attomey General, den Secretary of the Navy, den Secretary of
— 72 —
werden. Das Staatsanklageverfahren kann gegen alle
Zivilbeamten der Vereinigten Staaten erhoben werden.
Das Staatsanklageverfahren in den Einzelstaaten ist mit
geringen Abweichungen ebenso eingerichtet wie das
Bundes-Staatsanklageverfahren. Die Anklage wird vom
Repräsentantenhaus des Bundes, beziehungsweise des be-
treffenden Staates erhoben und der Senat des Bundes,
beziehungsweise des Staates ist der Gerichtshof. Anklage-
gründe sind vor allem Hochverrat und Bestechung.
Es gibt ein Impeachment of executive officers und
ein Impeachment of judges. Das Staatsanklageverfahren
kann auch gegen den Präsidenten der Republik durch-
geführt werden. Im letzteren Falle hat der Oberbundes-
gerichtspräsident den Vorsitz im Senate zu führen, weil
im Falle der Amtsentsetzung des Präsidenten die Befug-
nisse und Pflichten desselben auf den Vizepräsidenten
übergehen würden.^i)
the Interior, den Secretary of Agriculture und den Secretary of Com-
merce and Labor.
Münsterberg (a. a. 0., I., S. I98f.) teilt mit, der Taft sehe
Staatssekretär Knox habe sich mit einem Gehalte von 8000 Dollars
begnügen müssen, weil er unter Roosevelt als Senatsmitglied für die
Erhöhung des Gehaltes der Kabinettsminister von 8000 auf 12.000
Dollars gestimmt hatte.
Über die Stellung und Tätigkeit des Bureau of Education, einer
Division des Deparment of Interior, sowie des Commissioner of Edu-
cation vgl. oben S. 5.
^') ^gl- Bryce, a. a. 0., I., p. 50; über das Impeachment gegen
Staatssekretäre vgl. Bryce, a. a. 0., L, p. 90. — Das Staatsanklage-
verfahren wurde 1868 gegen den Präsidenten Andrew Johnson durch-
geführt (vgl. Bryce, a.a.O., L, p. 212, und Freund, a.a.O., S. 169);
dasselbe dauerte zwei Jahre und endigte mit der Freisprechung, weil
eine Stimme an der erforderlichen Zweidrittelmehrheit fehlte und because
no Single offence had been clearly made out. — Über Abweichungen
im Staatsanklageverfahren in einzelnen Staaten vgl. Bryce, a. a. 0.,
I., p. 505. — Das Staatsanklageverfahren wurde fünfmal gegen Bundes-
richter durchgeführt, in drei Fällen erfolgte Freisprechung, in zwei
Fällen Verurteilung. Ein Staatsanklageverfahren gegen einen Senator
endigte mit der Freisprechung wegen Unzuständigkeit. Ein Staats-
anklageverfahren gegen einen Kriegsminister endigte mit Freisprechung,
— 73 —
Bei jedem Bundesdistriktsgericht gibt es einen vom
Präsidenten mit Zustimmung des Senats ernannten
Districts Attorney. Der Districts Attorney bezieht ein
Gehalt zwischen 3000 und 5000 Dollars, nur in New
York und Chicago ist das Gehalt 12.000 Dollars. Die
Distriktsanwälte unterstehen dem Attorney General, dem
Bundesanwalt beim Oberbundesgericht. Er ist der Rechts-
beirat des Präsidenten in öffentlichrechtlichen Kom-
petenzfragen (Bryce, a. a. 0., L, p. 89). ^2) Er übt eine
iillgemeine Oberaufsicht sowohl über die Distriktsanwälte
wie über die Gerichtsvollzieher. Der General Attorney
ist Mitglied des Kabinetts, also zugleich eine Art Justiz-
minister und steht an der Spitze des 1870 organisierten
Department of Justice. Der Gerichtsvollzieher, Marshall,
wird vom Präsidenten mit Zustimmung des Senats auf
vier Jahre ernannt. Die Gerichtsschreiber, Clerks, werden
von den Richtern auf freien Widerruf ernannt (Freund,
a. a. 0., S. 162).
§ 3.
Neben den Bundesgerichten bestehen die Staats-
gerichte, und zwar heißt das Oberste Gericht des be-
weil derselbe sein Amt niedergelegt hatte. Vgl. Bryce, a. a. 0., I.,
p. 111 und 231, und Freund, a.a.O., S. 169. Über Fälle eines Staats-
anklageverfahrens gegen Richter von einzelnen Staaten vgl. Bryce,
a. a. 0., I., p. 563. In der "Neuen Freien Presse" vom 13. und vom
16. Jänner 1913 ist mitgeteilt, daß ein Richter, welcher zuletzt Vor-
sitzender des Handelsgerichtes (des Court of Commerce) gewesen war,
nach durchgeführtem Verfahren vor dem Senate zur Entfernung aus
dem Amte verurteilt worden ist. Auch wurde ihm die Fähigkeit ab-
gesprochen, jemals wieder ein Ehrenamt oder eine besoldete Stelle im
Dienste der Vereinigten Staaten bekleiden zu können. Er war wegen
unlauterer Beziehungen zu Eisenbahngesellschaften angeklagt.
^-) Year Book, p. 39. Der Attorney General ist also der Chief
Law Officer der Regierung. Dem Präsidenten steht verfassungsmäßig
das Begnadigungsrecht zu. Ein Abolitionsrecht steht ihm nicht zu,
aber der Präsident kann durch Entsetzung des kompetenten Staats-
anwalts auf den Gang der Straf Justiz Einfluß üben. Freund,
a. a. 0., S. 162.
— 74 —
treffenden Staates (ebenso wie das Oberste Bundesgericht)
Supreme Court, in New York Court of Appeals. Die
Zahl der Mitglieder der Obersten Gerichte der Einzel-
staaten schwankt zwischen drei und neun. Öfters üben
sie als Einzelrichter erstinstanzliche Gerichtsbarkeit aus
(Freund, a. a. 0., S. 163). Eine getrennte Kompetenz
für gemeinrechtliche und Billigkeitssachen nach englischer
Art gibt es regelmäßig nicht.
Es gibt in manchen Staaten auch Zwischenberufungs-
gerichte, deren Richter in der Regel aus der Zahl der
Richter erster Instanz designiert werden, zum Beispiel
also in New York aus den Richtern des Supreme Court.
Diese Zwischenberufungsgerichte heißen Appellate Courts.
Die Organisation der Gerichte der verschiedenen Einzel-
staaten ist eine außerordentlich mannigfache und oft recht
komplizierte. Ich bespreche beispielsweise in Kürze die
Einrichtungen in New York und Chicago.
Die Gerichte des Staates New York sind in folgender
Weise organisiert i) :
Ä. City of New York, welche für sich einen Kreis
bildet.
I. Die Strafgerichtsbarkeit üben : a) City Magistrates,
früher Police Courts; Appellationen gehen an den
Appellate Term of the Supreme Court; b) Court of
Special Sessions für Vergehen (Misdemeanours) ^) ;
e) Court of General Sessions oder auch Criminal Brauch
of Supreme Court; Appellationen gehen an die x\ppellate
Division of the Supreme Court, eine Berufung an den
^) Vgl. Artikel 6 der Verfassung des Staates New York; reiche
Belehrung üher die Gerichtsverfassung des Staates New York verdanke
ich dem Herrn k. u. k. Vizekonsul Dr. Fischeraue r.
'^) Eine interessante lehensvolle Schilderung des Bastard cases
day vor diesem Gerichte unter dem Vorsitze des Richters Jerome siehe
bei Hintrager, S. 81 ff. Die großen Gerichte setzen gleichartige Fälle
an den gleichen Tag. — Der Code of criminal procedure des Staates
New York zählt die Proceedings respecting bastards zu den Special
Proceeding of a Criminal Nature und regelt dieses Verfahren in nahezu
50 Paragraphen (838 bis 886).
— 75 —
Court of Appeals in Albany nur mit Zustimmung des
Zwischenberufungsgerichts. Bei Verbrechen, auf welche
die Todesstrafe steht, geht die Appellation direkt an den
Court of Appeals in Albany.^)
II. Die Zivilgerichtsbarkeit üben: a) Die Municipal
Courts für Beträge bis zu 500 Dollars; b) City Court
für Beträge bis 2000 Dollars; c) das Supreme Court
für höhere Beträge, ferner in Equity-Sachen, zum Bei-
spiel Ehescheidungen, Hypotheken.
B. Territorium außerhalb der Stadt New York,
welches wieder in drei Kreise zerfällt.
Die Gerichtsbarkeit erster Instanz üben in Zivil- und
Kriminalsachen County Courts, für schwerere Straf fälle
übt die Gerichtsbarkeit der Supreme Court, dessen Richter
zu verschiedenen Zeitpunkten am Lande Gerichtstage ab-
halten.
Für Nachlaßsachen gibt es die sogenannten Surro-
gate Courts. Der Surrogate ist Richter (judge).*)
Das Supreme Court des Staates New York hat also
zunächst einerseits eine Stellung ähnlich der eines Ge-
richtshofes erster Instanz in Zivil- und Strafsachen in
Österreich. In erstinstanzlichen Rechtssachen fungiert
stets nur je ein Richter des Supreme Court als Einzel-
richter. Der Supreme Court ist aber andrerseits mehr
als ein Gerichtshof erster Instanz, denn aus den Richtern
des Supreme Court werden vier Berufungsabteilungen
für jeden der vier Bezirke des Staates New York gebildet.
Diese Berufungsabteilungen bestehen im ersten Bezirk
aus sieben, in den übrigen Bezirken aus fünf Richtern.
Der Gerichtshof darf aus nicht mehr als fünf Richtern
bestehen, vier müssen teilnehmen und drei müssen sich
zu einer Entscheidung vereinen. Der Supreme Court
») Vgl. §§ 11, 22, 31, 39, 50 sq., 56 sq., 74 sq. des Code of Cri-
minal . Procedure.
*) Tm Staate New Jersey ist der Surrogate auf Kanzlei agec den
beschränkt und untersteht dem Orphans Court mit dem Orphans Judge.
(Vgl. Nachtrag I.)
— 76 —
fungiert also durch seine vier Berufungsabteilungen
(Appellate Divisions) als Appellate Court. Die Amts-
periode der Richter des Supreme Court beträgt in
New York 14 Jahre. Die Zuweisung an die Berufungs-
abteilungen erfolgt für den Rest der Amtsperiode des
Richters, aber auf höchstens fünf Jahre, für den vom
Gouverneur ernannten Vorsitzenden der betreffenden Be-
rufungsabteilung für den Rest seiner Amtsperiode als
Richter. Die City Magistrates werden vom Bürgermeister
ernannt. In den Landbezirken des Staates New York
gibt es auch noch für den Zeitraum von vier Jahren
gewählte Friedensrichter.
Der Oberste Gerichtshof des Staates New York heißt
Court of Appeals. Er setzt sich aus dem obersten
Richter und den Beirichtern zusammen. Die Amtsperiode
auch dieser Richter beträgt 14 Jahre. Fünf Mitglieder
sind zur Beschlußfassung erforderlich und vier müssen
sich zu einer Entscheidung vereinen (Artikel 6, § 7 der
Verfassung des Staates New York).
Bezüglich der Gerichtsverfassung des Staates Illinois
und insbesondere der Stadt Chicago beschränke ich mich
auf folgende Ausführungen^):
Chicago hat folgende Gerichte erster Instanz : 1. Das
Circuit Court of Cook County der Grafschaft, zu welcher
Chicago gehört. Eine Abteilung des Gerichtes fungiert
als Jugendgericht und heißt Circuit Court of Cook County
Juvenile Court. 2. Das dem zu 1. genannten Gerichte
im Range gleichgestellte Superior Court of Cook County.
3. Das Criminal Court. 4. Das Probate Court für Erb-
schaftssachen und Vermögensverwaltung von Minder-
jährigen und anderen Kuranden. Die Berufung gegen
die Entscheidung dieser Nachlaßgerichte findet an den
Circuit Court statt. 5. Das Municipal Court mit der-
6) Vgl. Freund, a. a. 0., S. 166f.; Bryce, a. a. 0., I., p. 610,
ferner das oben S. 12 zitierte Werk F osters "Municipal Court of
Chicago". — Wertvolle Belehrung verdanke ich meinem verehrten
Freunde, dem schweizerischen Vicekonsul Herrn Eugene Hildebrand.
— 77 —
selben Kompetenz wie die außerhalb Chicagos tätigen
Friedensrichter. Dieses auf Grund eines Gesetzes vom
Jahre 1904 geschaffene Municipal Court ist kom-
petent für Sachen bis zu 1000 Dollars, ferner im all-
gemeinen für Strafsachen, in welchen es sich nur um
Verhängung einer Geldstrafe oder nur um Gefängnis-
strafen handelt, die nicht Zuchthausstrafen sind.^) Ferner
ist durch das Gesetz ausdrücklich die Möglichkeit der
Zuweisung anderer Rechtssachen seitens der übrigen drei
Gerichte in Aussicht genommen^)
Der Staat Illinois ist mit Ausschluß des Kreises, der
die Stadt Chicago enthält (Cook County), in 17 Bezirke
geteilt und im ganzen in 102 Counties (Kreise). Danach
gibt es Circuit Courts und County Courts und in sieben
Counties noch ein besonderes Nachlaßgericht (Probate
Court). Außerdem gibt es noch Friedensrichter bis zu
fünf in jedem Gau (Town).^)
Neben den bisher erwähnten erstinstanzlichen Ge-
richten gibt es Zwischenberufungsgerichte (Appellate
•) Vgl. Fester, a. a. 0., p. 10: ". . . all criminal cases in which
the punishment is by fine or imprisonment otherwise than in the peni-
tentiary, and all other criminal cases which the laws in force from
time to time may permit to be prosecuted otherwise than on indictment
by a grand Jury." — Die Bastard Cases zählen zu den Quasi criminal
actions: vgl. Foster, a. a. 0., p. 12. Das Verfahren ist im § 50a
der Municipal Court Act geregelt (p. 89 squ.).
') Vgl. Foster, a. a. 0., p. 10: "Cases . . . which shall include all
suits of every kind and nature, whether civil or criminal, or whether
at law or in equity, which may be transferred to it, by a change of
venue, or otherwise, by the Circuit Court of Cook County, the Superior
Court of Cook County, or the Criminal Court of Cook County, for trial
and disposition."
*) Freund, a. a. 0., S. 167, führt an, es solle ungefähr 3300 Friedens^
richter geben. In Chicago ist, wie oben erwähnt, an Stelle der Friedens--
richter das Municipal Court getreten, welches mit 28 Richtern besetzt
ist. Freund nennt noch folgende Ziffern: Der Staat Illinois mit
5*^/2 Millionen Einwohner hat 223 Richter, abgesehen von den Friedens-
richtern und den Stadtrichtern. Die Stadt Chicago mit zwei Millionen
Einwohnern hat insgesamt, die sieben Oberrichter ausgeschlossen,
58 Richter.
— 78 —
Courts), welche aus der Zahl der Bezirksrichter, das
heißt der Richter der Circuit Courts, bestimmt sind,
ferner in oberster Instanz das Obergericht, welches aus
sieben Richtern besteht.^)
Die Richter werden in fünf Staaten von der Legis-
latur gewählt und in sechs Staaten vom Gouverneur
ernannt.io) In allen übrigen Staaten werden die Richter ge-
wählt.ii) Der Gouverneur ist der höchste Exekutivbeamte
des Staates, mit einer dem Bundespräsidenten vergleich-
baren Stellung. Es steht ihm regelmäßig das Begnadi-
gungsrecht zu. Die Amtsperiode der Gouverneure ist eine
verschiedene, in 22 Staaten vier Jahre, in 21 Staaten,
zum Beispiel in New York, zwei Jahre, in New Jersey
drei Jahre i^)^ in zwei Staaten, nämlich in Massachusetts
und Rhode Island ein Jahr.i^) Die Gehalte der Gouver-
neure sind gering bemessen. i*) Nur in drei Staaten
•) "Die Amtsdauer ist neun Jahre und läuft nicht für alle Richter
zu gleicher Zeit ab. Vier Richter müssen sich zu jeder Entscheidung
vereinen." (Freund, a. a. 0., S. 166.)
^*') Diese Zahlenangaben bei Freund, a. a. 0., S. 164f. Bryce,
a. a. 0., I., p. 511, führt an, daß in vier Staaten die Wahl durch die
Legislatur und in sieben die Ernennung durch den Gouverneur erfolgt.
^^) Über den Einfluß der Parteiorganisationen auf die Richter-
wahlen und über die Bestrebungen, den Nachteilen des Systems ent-
gegenzuwirken, vgl. Georg von Skal, a. a. 0., S. 206 ff.
^^) Die Amtsperiode des Präsidenten der Vereinigten Staaten,
Woodrow Wilson, als Gouverneur des Staates New Jersey wäre am
1. Jänner 1914 abgelaufen.
") Year Book, p. 44; Freund, S. 149; Bryce, L, p. 498.
^*) Dieses Gehalt beträgt nach den Angaben des Year Book im
Staate Illinois 12.000 Dollars, in California, New Jersey, New York
und Pennsylvania 10.000 Dollars, in manchen Staaten, so in Minnesota,
7000 Dollars, in Washington 6000 Dollars, in manchen Staaten, wie
in Wisconsin, 5000 Dollars, in einer Reihe von Staaten 4500, 4000 und
3000 Dollars und endlich in Nebraska und Vermont 2500 Dollars. In
der Regel liefert der Staat die Amtswohnung. Der Gouverneur wird
vom Volke gewählt, in 34 Staaten hat er einen Lieutenant Governor,
dessen Stellung der des Vizepräsidenten des Bundes vergleichbar ist.
— 79 —
werden die Richter auf Lebenszeit ernannt, in New York
ist die Amtsdauer 14 Jahre, in anderen Staaten 6, 8,
12 Jahre, in Maryland 15 Jahre, in Pennsylvania für den
höchsten Gerichtshof 21 Jahre. i^)
"Die Mitglieder des Obersten Gerichtshofes beziehen
in New York 17.500 Dollars, in Illinois und New Jersey
10.000 Dollars, in Pennsylvania und in Massachusetts
8500 Dollars, in California 8000 Dollars, in Ohio
6000 Dollars, in Wisconsin 5000 Dollars; in den spär-
licher bevölkerten Staaten sind die Gehalte niederer"
(Freund, a. a. 0., S. 165). i^) Dagegen erhält der Chief
Judge des New Yorker Court of Appeals nur 10.500
Dollars und seine Associates 10.000 Dollars. i'^)
In Chicago beziehen die Richter vom Staate
3000 Dollars, von der County 7000 . Dollars. Die Mit-
glieder des Obergerichtes beziehen dagegen in Illinois
bloß 7000 Dollars.18) Die Einbuß«, welche der Richter,
der aus dem Anwaltsstande entnommen wird, er-
leidet, ist oft eine sehr große, weshalb durchaus nicht
die hervorragendsten Anwälte Richter werden, wie in
England. Es kommt auch vor, daß der Richter sein
Amt während der Amtsdauer niederlegt, weil er dies
seiner Familie schuldig zu sein glaubt, um dann noch
als Anwalt entsprechend zu verdienen. Der gewesene
15) Freund, a. a. 0., S. 165; Bryce, a. a. 0., I., p. 512. Bryce
erwähnt auch eine zweijährige Amtsdauer für Vermont und erklärt die
acht- bis zehnjährige Amtsdauer als den Durchschnitt.
1**) Andere Ziffern bei Bryce, a. a. 0., L, p. 512: "The salaries
paid to Staate judges of the higher courts ränge from $ 10.500 (chief
justice), in Pennsylvania and S 14.200 (chief justice), in New York (in
one district S 17.500), to S 2500 in Vermont. $ 5000 to 6000 (+ S 500
to the chief judge) is the average, a sum which, especially in the greater
States falls to attract the best legal talent. ... In general the new
Western States are the worst paymasters, theirs population of farmers
not perceiving the importance of securing high ability on the bench
and deming $ 4000 a larger sum than a quiet-living man can need."
") Baldwin, a. a. 0., p. 325.
18) Baldwin, a. a. 0., p. 326.
- 80 —
Richter behält seinen Titel und es soll ihm seine frühere
Stellung in der Anwaltspraxis außerordentlich nützlich
sein. Pension wird dem Richter keine gezahlt, ebenso-
wenig wie einem anderen Beamten. Nur ein Bundes-
richter, welcher nach zehnjähriger Amtsführung das Alter
von 70 Jahren erreicht, ist mit dem vollen Gehalte pen-
sionsberechtigt (Freund, a. a. 0., S. 161).i9) Für Amts-
delikte kann ein Richter nur dann zivilrechtlich ver-
antwortlich gemacht werden, wenn er außerhalb seiner
Kompetenz gehandelt hat.^o) Eine Amtsentsetzung gibt
es nur auf Grund des bereits früher erwähnten Staats-
anklageverfahrens.
Die Staatsanwälte, District Attorneys, in den Einzel-
staaten werden vom Volk, und zwar in der Regel auf
einen Termin von höchstens vier Jahren gewählt. Es
gibt ein staatsanwaltschaftliches Anklagemonopol und ein
staatsanwaltschaftliches Niederschlagungsrecht. Der Ge-
richtsvollzieher (Sheriff) ist ein County-Beamter, welcher
immer durch das Volk gewählt wird. Der Sheriff ist
zugleich Organ der Ortspolizei. Auch der Clerk of Court,
Gerichtsschreiber, ist regelmäßig ein County-Beamter, ein
Grafschaftsbeamter.2i) Auch dieser Clerk wird regelmäßig
19) Auch in einigen Staaten werden Richtern unter Umständen
Ruhegenüsse zugestanden (Baldwin, a. a. 0., p. 326sq.), zum Beispiel
werden in Rhode Island Richter, welche 25 Dienstjahre haben, mit
vollem Gehalt pensioniert; in Maryland und Massachusetts bekommen
Richter unter ähnlichen Voraussetzungen einen Teil ihrer Bezüge als
Ruhestandsbeztige.
^<*) Goodnow, a. a. 0., p. 400 sq. Ein Richter könnte also zum
Beispiel zivilrechtlich verantwortlich gemacht werden, wenn er als
Verlassenschaftsrichter kriminelle Untersuchungsakte vorgenommen hat,
nicht aber wenn er als Strafrichter eine nicht strafbare Handlung
bestraft hat.
^1) Er ist Hüter und Verwahrer des Gerichtssiegels, der Akten
und Register, hat den Gerichtssitzungen beizuwohnen, über Verhand-
lungen und Beschlüsse Protokoll zu führen, Urteile einzutragen sowie
die zu vernehmenden Parteien und Zeugen zu vereidigen. In ver-
schiedenen Staaten ist er zugleich Zivilstandesbeamter (Civil Registrar)
und Verwahrer der Grundbücher und Grundbuchsakte (Recorder of
— 81 —
durch das Volk gewählt.22) Die Richter werden Your
Honor angeredet.23) In einigen Staaten tragen die Richter
einen Talar, zum Beispiel in New York. Von den Richtern
wohl zu unterscheiden sind die Friedensrichter, welche
nicht juristisch gebildet zu sein brauchen und ihr Ein-
kommen aus gerichtlichen Sportein beziehen. 2^:)
§ 4.
Als hervorstechende Eigentümlichkeiten der amerika-
nischen Gerichtsorganisation und der Stellung der
amerikanischen Gerichte haben wir bisher drei kennen
gelernt: 1. Die Duplizität der Gerichte, Bundesgerichte
und Staatengerichte. 2. Das Recht der Gerichte, die
Gültigkeit der Gesetze zu prüfen. 3. Das Oberaufsichts-
recht gegenüber der Verwaltung, insbesondere auch
die Kompetenz für Schadenersatzklagen selbst gegen
die höchsten Verwaltungsbeamten wegen rechtswidriger
Verwaltungsakte.
Jetzt möchte ich noch folgende Besonderheiten der
Stellung des amerikanischen Richters hervorheben. Der
Kontakt zwischen dem englischen Rechte und dem
amerikanischen Rechte ist noch heute ein sehr großer.^)
Deeds). Der Sheriff hat die Aufgabe, Parteien und Zeugen vor Gericht
zu laden, Verhaftbefehle zu vollziehen, bei Prozeßverhandlungen die
Gesehwornen vor Gericht zu führen und nach Beendigung des Prozesses
das Urteil zu vollstrecken. Als Wächter der öffentlichen Sicherheit hat
er das Recht, Friedensstörer zu verhaften und einzuschließen. Seine
Unterbeamten sind Deputy Sheriffs, ferner Bailiffs (Gerichtsdiener) und
Jailers (Gefangenen Wärter). Vgl. Vocke, a. a. 0., S. 10.
*^) Sowohl der SherifE wie der Clerk of Court sind der Ordnungs-
gewalt des Gerichtes unterworfen, wenn auch die Inhaber nicht ab-
setzbar sind. Freund, a. a. 0., S. 166.
^'^) Es sind das, abgesehen vom Gouverneur, welcher Your
Exzellency angeredet wird, die einzigen Beamten, welche mit einem
Titel angeredet werden.
**) Solche Friedensrichter gibt es sehr viele. Vgl. S. 77, Anm. 8.
1) Vgl. E. Heymann, a. a. 0., S. 846 ff. — Woodrow Wilson,
a. a. 0., S. 357 ff. — Baldwin, a. a. 0., p. 7 sq. Hier heißt es, die
Hanansek, AmerikaniBche Skizzen. 6
— 82 —
Englische Gerichtsentscheidungen genießen noch heute
in Amerika das größte Ansehen, ebenso auch Ent-
scheidungen aus englischen Kolonien, zum Beispiel aus
Australien. 2) Formell sind die Rechte aller einzelnen
Staaten voneinander unabhängig, allein materiell herrscht
weitgehende Rechtsgleichheit. Es gibt kein gemeinsames,
aber ein gemeines Recht der amerikanischen Einzel-
staaten. Zwei wichtige Prinzipien sind aus dem
englischen Rechte in das amerikanische übergegangen:
1. Die Autorität der Präzedenzfälle. Das Urteil geht allen
anderen Erkenntnisquellen voran. Allerdings haben die
Entscheidungen der Gerichte anderer Staaten nur wissen-
schaftliche Bedeutung. Das nichtgeschriebene Recht gilt
nach englisch-amerikanischer Vorstellung als das dem
geschriebenen Rechte subsidiäre. 3) 2. Die englische
Unterscheidung von Law und Equity ist beibehalten.*)
amerikanischen Kolonisten behielten englisches Recht nicht nur deshalb,
weil sie an dasselbe gewohnt waren, weil sie englische Untertanen
waren und weil sie Nachkommen der damaligen Engländer waren,
sondern auch deshalb, weil es eine Berufung gegen die Urteile der
Kolonialgerichte nach London gab. Der King in Council war für die
Berufungsgerichtsbarkeit in Kolonialsachen, repräsentiert by a Standing
committee of the Privy Council. Dieses Committee hieß in dieser Zeit
Lords of Trade and Plantations (der Ausschuß des Privy Council in
Rechtssachen heißt gegenwärtig Judicial Committee of the Privy Council).
Auf diese Weise war eine Uniformität des amerikanischen Rechts mit
dem englischen Rechte gesichert. Das amerikanische Recht durfte von
dem englischen nicht abweichen, in any case where agreement was
reasonably practicable (p. 8 sq.).
^) Vgl. das Verzeichnis englischer Reports bei Kempin, a. a. 0.,
S. 12 bis 23. Die in diesen Sammlungen aufgenommenen englischen
Gerichtsentscheidungen enthalten das ungeschriebene Recht der Ver-
einigten Staaten. Sie sind bis zur Beibringung unzweifelhaft besserer
Gründe für eine Gegenansicht als Eechtsquelle zu betrachten (Kempin,
a. a. 0., S. 8 und 12).
^) Freund (a. a. 0., S. 193) meint sogar, es gelte im gewissen
Sinne das geschriebene Recht dem ungeschriebenen Rechte gegenüber
als minderwertig.
^) Es gab bekanntlich drei alte Gerichte des Common Law in
England: Kings Bench, Common Pleas und Exchequer, welche jetzt
_ 83 —
Allein in Amerika sind regelmäßig exceptiones hono-
rariae, also Einreden aus dem Billigkeitsrecht auch in
legitimis iudiciis zugelassen. Auch gibt es zwar, mit
Ausnahme ganz weniger Staaten, nicht mehr eigene Ge-
richte für gemeinrechtliche und für Equity-Sachen; es
besteht aber noch heute der ungeheure Unterschied, daß
die Common Law-Sachen mit einem Streitobjekte v^on
über 25 Dollars vor Zivilgeschworne gehören^), während
in Equity-Rechtssachen Geschworne nicht judizieren.*')
Divisions des High Court of Justice zu London sind. Das Billigkeits-
recht hat sich zuerst im High Court of Chancery entwickelt, aus
welchem derzeit die Chancery Division des High Court geworden
ist. Vgl. Holmes-Leonhard: "Das gemeine Kecht Englands und
Nordamerikas" (The Common Law), insbesondere S. V. — Heymann,
Kohlers Enzyklopädie, I., S. 801 ff.
*) Freund, a. a. 0., S. 192. Es gibt 27 sogenannte Code-
Staaten , das heißt Staaten mit einem kodifizierten Zivilprozeß
(Freund, a. a. 0.) und einige wenige Staaten mit kodifiziertem
Privatrecht; als solche nennen Kempin (a. a. 0., S. 73) und
H e y m a n n (a. a. 0. , S. 847) Louisiana (dessen 1870 revidierter
Code auf dem französischen Code civil beruht), ferner California und
die beiden Dakota. Freund, a. a. 0., .S. 189 ff., nennt Lousiana den
einzigen Staat, der formell nach zivilem Rechte, das heißt nach einem
auf römischer Grundlage beruhenden Recht im Gegensatze zum
gemeinen Rechte lebt, aber auch hier wachse der Einfluß des gemeinen
Rechtes (Common Law) und Louisiana müsse demnach als gemischtes
Rechtsgebiet bezeichnet werden. Porto Rico und die Philippinen haben
auch nach der Erwerbung das spanische Recht beibehalten. In den
Code-Staaten sind die weitschweifigen Schriftsätze des englischen
Rechts abgeschafft und es gibt sowohl in gemeinrechtlichen wie in
Billigkeitsklagen nur drei Schriftsätze: 1. Die Klageschrift. 2. Die
Verneinung des Klagerechts, falls der Beklagte bestreitet, daß die
klägerischerseits behaupteten Tatsachen einen Klageantrag begründen
(Demurrer) oder die Beantwortung (Answer), durch welche, falls die
Begründung der Klage in rechtlicher Beziehung nicht angefochten
werden kann, die tatsächlichen Behauptungen bestritten oder ihnen
andere entgegengesetzt werden. 3. Die Replik (Reply) (Vocke, a.a.O.,
S. 53 ff.).
®) Auch in England drängt bekanntlich "der immer komplizierter
werdende Rechtszustand zu einer Vereinheitlichung der nebeneinander
stehenden Gerichte und Rechtssysteme, insbesondere zur Verschmelzung
6*
— 84 —
Rechtsgebiete des Billigkeitsrechtes sind unter anderen
Nachlaßsachen, ehegüterrechtliche Sachen, Vormund-
schaftssachen, Stiftungssachen usw.
Im Gegensatze zum bürgerlichen Recht ist das Straf-
recht jetzt in den meisten amerikanischen Staaten ge-
schriebenes Recht. Verbrechen und Strafen sind in allen
Staaten gesetzlich bestimmt und das betreffende Gesetz
heißt Penal oder Criminal Code oder auch Penal Law.'')
Allein die subsidiäre Geltung des gemeinen Rechts ist
auch im Strafrecht nicht beseitigt; so nehmen zum Bei-
spiel die amerikanischen Codes häufig auf gemeinrecht-
liche Verbrechen Bezug, welche nicht näher definiert
werden.
Für Strafprozesse vor den Bundesgerichten und
den Gerichten der Einzelstaaten ist das Verfahren
vor Geschwornen vorgeschrieben. Das Recht auf das
Verfahren vor einem Geschwornengericht ist ein ver-
fassungsmäßiges Grundrecht. s) Die Zwölfzahl der Ge-
des im großen Verkehr immer mehr bewährten Equity-Rechts mit dem
Common Law". (Heymann, a. a. 0., S. 803.)
') Im Staate New York gibt es zum Beispiel einen eigenen Code
of criminal procedure. Dieser Code hat 963 Paragraphe und ist am
1. September 1881 in Kraft getreten. Die ersten 78 Paragraphe ent-
halten die Verfassung der Gerichte in Strafsachen im Staate New York.
Zahlreiche Bestimmungen, insbesondere in dieser Partie des Code sind
später abgeändert worden. Ferner gibt es im Staate New Y'ork ein
eigenes Penal Law vom Jahre 1909, zu welchem übrigens seither
schon wieder einzelne Amendements erschienen sind. Dieses Penal Law
trat an die Stelle des Penal Code vom Jahre 1881 und enthält eine
Verarbeitung dieses Code sowie der zahlreichen seit demselben er-
schienenen Zusätze, aber auch eine ansehnliche Anzahl von sonstigen
seither erlassenen Bestimmungen, welche noch nicht in den Penal
Code eingefügt gewesen sind. Das eben erwähnte Penal Law des
Staates New York enthält 2502 Paragraphe in 224 Artikeln. Es liegt
mir die 12. Ausgabe (1912) des Code of criminal procedure des Staates
New York von Amasa J. Parker, Jr., of the Albany Bar sowie die
4. Auflage (1912) des Penal Law von demselben Herausgeber vor.
*) Freund, a. a. 0., S. 45, sagt, es werde mit der Tatsache
gerechnet, daß der Anspruch auf die Jury ein historisch überkommenes,,
angloamerikanisches und nicht ein universelles Grundrecht ist.
— 85 —
schwornen ist in den meisten Staaten beibehalten. Bei
kleineren, lediglich mit einer Geldstrafe bedrohten Polizei-
delikten muß mindestens eine Berufung an ein Gericht
mit Jury offenstehen. In einer Anzahl von Staaten darf
auch in Vergehens- und Übertretungsfällen auf die Jury
verzichtet werden. 9) Die Erhebung einer Anklage in Straf-
sachen muß von der Grand Jury genehmigt sein (An-
klagejury). Diese muß zur Überzeugung gekommen sein,
daß ein Verdacht vorliegt. Die Hauptverhandlung erfolgt
dann vor einem zweiten Geschwornengericht, der kleinen
Jury oder Urteilsjury. ^^^ Dieses zweite Geschwornen-
gericht wird aber nur tätig und gelangt nur dann zu
einem Verdikt, wenn sich der Angeklagte für nicht-
schuldig erklärt, wenn er pleads for not guilty. .Erklärt
sich der Angeklagte für schuldig (pleads for guilty), so
wird er schuldig gesprochen, ohne daß ein Verdikt vor-
liegt.ii) Es soll daher vorkommen, daß der Richter den
Angeklagten durch die Erklärung, er werde ihn im Falle
») Freund, a. a. 0., S. 201.
^") In einer vor einem Bundesgericht zu verhandelnden Kapital-
strafsache ist dem Angeklagten eine Abschrift der Anklageschrift, eine
Liste der zu Gericht geladenen Geschwornen sowie der Anklagezeugen
zwei Tage vor der Verhandlung zuzustellen. Jede Partei hat das Recht,
eine bestimmte Anzahl von Geschwornen ohne Angabe von Gründen und
eine beliebige Anzahl von Geschwornen wegen Befangenheit abzulehnen.
Hat sich nämlich ein Geschworner eine bestimmte Meinung über die Schuld
des Angeklagten gebildet, so kann er abgelehnt werden (E. Baldwin,
a. a. 0., p. 241). In einem in Chicago 1905 verhandelten Strafprozesse
wurden über 2000 Geschworne abgelehnt und die Auswahl der Jury
nahm über sechs Wochen in Anspruch (Freund, a. a. 0., S. 202).
^^) Ein besonderes Aufsehen erregender Fall war der Fall Brandt.
Brandt hatte sich für der Burglary of first degree schuldig erklärt
und wurde hierauf ohne Einholung eines Geschwornenverdikts zu
30 Jahren hard labor verurteilt. Das geschah im Jahre 1907. Im
Jahre 1912 wurde Brandt auf Grund eines Writ (Befehls) wegen Ver-
letzung der Habeas corpus-Akte von einem Richter des New Yorker
Supreme Court gegen Bürgschaft auf freien Fuß gesetzt. Das Be-
rufungsgericht hob diese Entscheidung auf und bestätigte das erste
Urteil, da es von einem kompetenten Richter gefällt worden sei und
— 86 —
eines Geständnisses in ein Reformatory schicken, während
er im Falle der Verurteilung durch die Jury zu einer
Zuchthausstrafe verurteilt würde, zu einem Geständnis
veranlaßt, durch welches das weitere Verfahren vor der
Jury entfällt. Beim zweiten Schwurgericht, der Urteils^
Jury, kann eine Verurteilung nur erfolgen, wenn Ein-
stimmigkeit der Jury vorliegt. Kommt es zu keiner Ein-
stimmigkeit, sagt ein einziger Geschworner "I don't
agree", so kommt es zu keinem Urteil. Die Geschwornen
werden in einen Raum eingeschlossen, in welchem sie
zu verbleiben haben, bis sie sich geeinigt haben. Ich
habe sehr unkomfortable Räume dieser Art gesehen, in
welchen ein Aufenthalt während einer ganzen Nacht und
länger recht unbehaglich sein muß. Kommt es zu keiner
Einigung, so muß ein neues Verfahren stattfinden. Es
wurde mir erzählt, daß in einzelnen Fällen der Staats-
anwalt zweimal angeklagt hatte und da auch die zweite
Jury wegen eines I don't agree eines Geschwornen zu
keinem Ergebnis kam, mußte das Verfahren eingestellt
werden.i2)
Die Kosten der Strafverfolgung sind manchmal sehr
bedeutende ; so sollen die Kosten des Verfahrens, welches
im Jahre 1911 gegen die Fleischtrusts in Chicago vor
dem Gerichte des Staates Illinois geführt wurde,
95.000 bis 98.000 Dollars betragen haben.
Vergehen gegen die Post gehören vor die Kompetenz
der Bundesgerichte, und zwar der Bundesdistriktsgerichte,
und diese sind häufig in Postgebäuden untergebracht,
das heißt in demselben Gebäude, in welchem auch die
da das Geständnis des Brandt vorgelegen sei. Brandt hätte erst im
Jahre 1922 paroled werden können, wurde aber vom neugewählten
Gouverneur des Staates New York, Sulz er, begnadigt.
^2) Die Staatsanwälte in den einzelnen Staaten werden, wie wir
gehört haben, gewählt. Unter Umständen sollen zahlreiche Verurteilungen
in den Augen der Wähler des Staatsanwaltes zu seinen Gunsten
sprechen, unter Umständen aber soll wieder eine geringe Zahl von
Anklagen für den Kandidaten günstig sein.
— 87 —
Post untergebracht ist, die auch eine Uhionsanstalt ist.
Die Postverwaltung, oder genauer gesagt, die Bundes-
staatsanwaltschaft verfolgt auch Betrugsfälle, in welchen
sich Leute der Post zu betrügerischen Zwecken bedienen
(fraudulent use of the mails). Wenn zum Beispiel
schwindelhafte Zirkulare durch die Post versendet
werden, oder wenn Leichtgläubigen Geld herausgelockt
und der Betrag per Post zugesendet wird, kann die
Bundesstaatsanwaltschaft bei dem United States District
Court Klage führen. Auch der Mißbrauch der Post zu
unsittlichen Zwecken, zum Beispiel zur Versendung un-
sittlicher Annoncen, kann verfolgt werden und wird unter
Umständen außerordentlich strenge bestraft.
Die den amerikanischen Gerichten zustehende Be-
fehlsgewalt ist eine sehr weitgehende und eigenartige.
Über einige solcher Befehle (Writs) seien hier einige Be-
merkungen eingeschaltet. Ein Habeas-Corpus-Befehl ist
ein richterlicher Befehl gegen eine Haftverhängung,
welcher eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haft-
verhängung zur Folge hat. Ein solcher Habeas-Corpus-
Befehl wird zum Beispiel auch von einem Bundesgericht
erlassen, wenn behauptet wird, daß durch eine erfolgte
Verhaftung das Bundesrecht verletzt worden ist.^^) Der
Befehl (Writ), welchen ein Court of Law zur Durch-
setzung seines Urteiles erläßt, heißt "execution". Dieser
Befehl ist an den Sheriff gerichtet und beauftragt diesen,
je nach der Art des Falles, sich zum Beispiel des Ver-
mögens des Beklagten zu bemächtigen und es zu ver-
kaufen oder ihn in Haft zu setzen oder aber ihn aus
dem Besitz eines Grundstückes zu setzen. Ein Writ of
Injunction liegt dagegen vor, wenn ein Gericht in Aus-
übung der Equitable Jurisdiction den Befehl an den Be-
klagten erläßt, eine bestimmte Handlung zu unterlassen,
oder zu setzen. Die Nichtbefolgung dieses Befehls wirJ
dann als Contempt of Court mit Haft oder Geldbuße be-
3) Freund, a. a. 0., S. 40; Baldwin, a. a. 0., p. 252.
— 88 —
straft. E. Baldwin, a. a. 0., p. 291, führt einen Befehl
an, der gelegentlich eines durch die American Railway
Union geleiteten Eisenbahnstreiks und Boykotts gegen
die Vertreter (Officers) der Union erlassen wurde. Der
Attomey General der Vereinigten Staaten verlangte von
dem kompetenten Circuit Court des Bundes in an equitable
action die Erlassung eines zeitweiligen Verbots (Injunc-
tion) gegen diese Organe der Union. Diese befolgten
den Befehl nicht und wurden hierauf wegen Contempt
of Court in Haft gesetzt. Diese Inhaftsetzung hatte das
Ende des Streiks zur Folge.
Qualifikationen in bezug auf Rechtskenntnis und
Alter und dergleichen für die Wahl zum Richteramt sind
nur in wenigen Staaten vorgeschrieben, in der Praxis
werden die Richter natürlich allgemein dem Anwaltstande
entnommen.!*)
Zum Schlüsse meiner Ausführungen über die
amerikanischen Richter gestatte ich mir einige Bemer-
kungen von Baldwin (a. a. 0., p. 385) anzuführen.
Baldwin sagt, daß das allgemeine Vertrauen und der
Respekt vor dem Richterstande als Ganzem mit dem
Wachsen der Bevölkerung und der Wohlhabenheit ge-
stiegen sei und daß das Vertrauen des Volkes in die
Gerichtshöfe nicht darauf beruhe, daß irgendein be-
stimmter Richter in demselben Einfluß habe; dieses Ver-
trauen sei ein unpersönliches und gelte dem Richterstand
als solchem, welcher, wenn man alles in Erwägung zieht
(all things considered), als beste Garantie einer guten
Regierung in den Vereinigten Staaten erscheint. i^)
") Vgl. Vocke, a. a. 0., S. 9. Vgl. Georg von Skal, a. a. 0.,
S. 210: "In den Vereinigten Staaten widmen die Juristen sich nicht
einem bestimmten Zweig ihres Berufs. Jeder Jurist ist Advokat und
praktiziert als solcher, wenn er nicht zum Staatsanwalt oder Bichter
gewählt oder ernannt wird."
") Die im Texte zitierten Sätze lauten wörtlich: "This confidence
in and respect for the judiciary as a whole has increased with the
general advance of the country in population and wealth. — Populär
89
§ 5.
Ich wende mich nun zu einer kurzen Besprechung
der amerikanischen Anwaltschaft, In Amerika gibt es
keinen Anwaltszwang, es soll aber regelmäßig nur ein
Anwalt Prozeßbevollmächtigter sein.i)
Die englische Unterscheidung zwischen Solicitors und
Barristers ist in Amerika nicht übernommen worden.^)
Der einmal zur Praxis zugelassene Anwalt, in gemein-
rechtlichen Klagen Attorney and Counsellor at Law, in
Equity-Prozessen Solicitor, in seerechtlichen Sachen
Proctor in Admiralty genannt, ist nicht bloßer Berater,
sondern Vertreter seines Klienten in allen Verhandlungen
vor Gericht.
confidence is now not placed in courts because this or that man is the
ruling spirit in them. It is impersonal and attaches itself to the
Institution of the judiciary as, all things considered, the best guaranty
of good government in the United States." A. a. 0., p. 375, spricht.
Baldwin von der"friendly attitude toward the judiciary der Amerikaner".
— Georg von Skal, a. a. 0., S. 223: "Dazu gesellt sich ein uner-
schütterliches Vertrauen in die Gerichte. Sie gelten dem Amerikaner
viel mehr als bloße Tribunale für die Erledigung von Rechtshändeln
oder für die Bestrafung von Verbrechen bedeuten würden. — Ihm
vertraut der Amerikaner blindlings, und so heftig er vor den ver-
schiedenen Instanzen für seine Sache kämpfen mag, so bereitwillig
unterwirft er sich, nachdem die letzte Entscheidung gefallen ist." Sehr
interessante Ausführungen über die Beuch als "social Institution" bei
Bryce, a. a. 0., IL, p. 679 sq.
^) Außer in Fällen vor Friedensrichtern und in Fällen, wo die
Rechte Minderjähriger in Frage stehen. Vgl. Vocke, a. a. 0., S. 15.
2) Bei Bryce, a. a. 0., II., p. 668, finde ich folgende, für die
Auffassung des Engländers charakteristische Bemerkung : Die ungeteilte
Anwaltstätigkeit (undivided legal profession) habe zweifellose Nach-
teile, aber jedenfalls habe sie den Vorteil, daß sie das Vorwärts-
kommen des Anfängers erleichtere. Das System gebe dem Anfänger eine
viel bessere Aussicht auf ein schnelleres Vorwärtskommen und eine
erfolgreiche Berufstätigkeit als dies bei dem englischen System
bezüglich des Anfängers der Fall sei, welchem starke persönliche Be-
ziehungen fehlen (who is not "strongly backed").
— 90 —
Für die Zulassung zum Anwaltstande bestehen in
jedem Staate besondere gesetzliche Bestimmungen, nur
in der Verfassung des Staates Indiana ist ausdrücklich
verfügt, daß jeder gut beleumundete Stimmberechtigte
zur Ausübung der Rechtspraxis ermächtigt werden kann.
Die Zulassung erfolgt in der Regel auf Grund einer
Prüfung. Die Prüfung der Qualifikation des Kandidaten
erfolgt gelegentlich durch den Richter selbst, häufiger
durch ein Komitee der Bar, welches von dem Gerichts-
hofe zu diesem Zwecke zu bestellen ist, in einigen
Staaten durch eine ständige Kommission aus staatlichen
Prüfungskommissären, welche für ihre Tätigkeit durch
Prüfungstaxen entlohnt werden. Diese letztere Methode
nimmt immer mehr an Ausdehnung zu.^) In den meisten
Staaten werden die Diplome vom höchsten Gerichtshofe
des Staates ausgefertigt und diese Diplome (Licenses)
berechtigen dann zur Praxis vor allen Gerichtshöfen des
Staates und vor den Bundesgerichten innerhalb des be-
treffenden Staates. Als Bedingung für die Zulassung zur
Prüfung ist in den meisten vorgeschrittenen Staaten
dreijähriges Studium in einem Anwaltbureau oder an
einer Rechtsschule vorgeschrieben. Diplome anerkannter
juristischer Fakultäten ersetzen manchmal die Prüfung
vor Gericht oder die sonst vorgeschriebene Dienstzeit
als Clerk in einem Anwaltbureau oder auch beides. Nach
bestandener Prüfung und Zulassung erfolgt Beeidigung
auf die Bundesverfassung und die Verfassung des eigenen
Staates sowie auf treue Amtspflichterfüllung. In fast allen
Staaten genügt der Beweis der Zulassung zur Praxis in
einem Staate, um in einem anderen die Praxis ausüben
zu dürfen. Beim Obersten Bundesgericht in Washington
wird jeder zugelassen, der den Beweis erbringt, daß er
mindestens drei Jahre lang zur Ausübung der Praxis
vor dem höchsten Gerichtshofe seines Staates berechtigt
war. Früher gab es wohl in einzelnen Staaten einen
'^) Baldwin, a. a. 0., p. 345 sq.
— 91 —
numerus clausus, doch ist dieses System längst abge-
kommen und bei Baldwin, a. a. 0., p. 346, wird die
Zahl der Anwälte in den Vereinigten Staaten auf Grund
des Zensus von 1900 mit 114.000 angegeben.
Die Anwaltsvereine tragen nicht den Charakter
offizieller Anwaltskammern und haben keine gesetzliche
Befugnis zur Disziplinaraufsicht.*) Die Anwälte gelten
als Beamte der Gerichtshöfe, an denen sie praktizieren,
und unterliegen wegen Untreue oder sonstiger unredlicher
Handlungsweise der Disziplinargewalt des Gerichtshofes
wegen Contempt of Court.^) Auch Frauen werden zur
Anwaltschaft zugelassen. ß) Der höchste Gerichtshof von
Massachusetts hat sich dahin ausgesprochen, daß aus
historischen Gründen Frauen als unfähig für ein Richter-
*) Über die Bar Associations und über die soziale Stellung der
Anwaltschaft sowie über das Verhältnis zwischen Bar und Bench,
also zwischen Anwaltschaft und Richterstand, siehe sehr interessante Aus-
führungen bei Baldwin, a. a. 0., p. 354 sq. Ebenda Mitteilungen über
die Einkommensverhältnisse der amerikanischen Anwaltschaft. Es heißt
hier, daß seit dem Bürgerkrieg infolge der Steigerung der Zahl der
Eechtsstreite und des steigenden Reichtums im Norden und Westen
die Einkommensverhältnisse der Advokaten sich außerordentlich ge-
hoben hätten. Es habe wohl gelegentlich Einkommen von 20.000 bis
25.000 Dollars in den kleineren Staaten und vier- oder fünfmal
größere Einkommen in den größeren Staaten gegeben (Baldwin,
a. a. 0., p. 356).
*) Über das Verfahren vgl. Baldwin, a. a. 0., p. 353, femer
Vocke, a. a. 0., S. 16 ff. Das Gericht ist zur Verhängung von Geld-
und Haftstrafen sowie zur Entziehung der Praxis auf kürzere oder
längere Zeit befugt. Dem höchsten Staatsgerichte steht es sogar zu,
nach eingegangener Beschwerde und stattgehabter Verhandlung dem
Anwalt die fernere Ausübung seines Berufes ganz zu untersagen (to
disbar him). "Disbarment cannot he decreed by the legislative depart-
ment. That would be virtually an act of attainder. It must come
from a judicial sentence."
**) Einer brieflichen Mitteilung entnehme ich, daß es im Staate
Illinois eine Anzahl weiblicher Rechtsanwälte gibt; vgl. ferner
Bryce, a. a. 0., II., p. 796, welcher unter anderem erzählt, daß eine
Frau erfolgreich das Illinois Law Journal herausgegeben hat. Vgl. ferner
Hintrager, a. a. 0., S. 138 f.
— 92 —
amt zu betrachten seien und in Maine besteht die gleiche
Ansicht für alle von der Verfassung geschaffenen
Ämter.'')
Zur Charakterisierung der Stellung der amerika-
nischen Anwaltschaft möchte ich mir gestatten, folgende
Bemerkungen Baldwins, a. a. 0., p. 344, anzuführen.
') Vgl. Freund, a. a. 0., S. 77. Freund hebt auch hervor,
daß in zwei Staaten, Wyoming und Utah, ausdrücklich irgendwelches
Geschlechtserfordernis für die Bekleidung eines Amtes untersagt ist
und erwähnt, daß für die Präsidentschaft in der Eegel auch eine Frau
als Kandidatin aufgestellt wird und daß gesetzlich einer solchen Wahl
nichts im Wege zu stehen scheint. In Evanston, welches zwölf Meilen
weit von Chicago noch innerhalb derselben Grafschaft (Cook County)
liegt und welches Sitz der North-Western University ist, gibt es, wie
ich einer brieflichen Mitteilung entnehme, derzeit eine Richterin,
welche die Stelle eines Friedens- oder Polizeirichters versieht. Inner-
halb der Stadtgrenze von Chicago gibt es aber keinen weiblichen
Richter, obwohl ein gesetzliches Bedenken gegen deren Wählbarkeit
nicht bestehen dürfte. Jugendrichter Pinckney in Chicago (vgl. unten
S. 1061) hat sich vor einigen Monaten einen weiblichen Assistant Judge
ernannt. Diese Richterin im Girls Court ist seit 4. März 1913 tätig und
heißt Miß Mary M. Bartelme. Eingehende Ausführungen über die Frage
der Wählbarkeit der Frauen zu Ämtern (Eligibility of women) bei
Goodnow, a. a. 0., p. 263sq. Vgl. noch Bryce, a. a. 0., L, p. 488:
"Four States (Wyoming, Utah, Idaho and Colorado) give the suffrage
(das Wahlrecht) to women." — Hintrager, a. a, 0., S. 140, erwähnt einer
Staatsanwältin in Nebraska. Über die Woman Suffrage Societies
vgl. Hintrager, a. a. 0., S. 1511 In Schulangelegenheiten haben
die Frauen in vielen Staaten aktives und passives Wahlrecht. In
Morgan Park (Illinois) sah ich Damen mit großem Eifer an einer
solchen Wahl teilnehmen. "Im Staate Kansas haben die Frauen aktives
und passives Wahlrecht bei allen städtischen Wahlen ; der letzte Ober-
bürgermeister von Kansas City war eine Frau. In Wyoming waren
Frauen lange Zeit Geschworne. In einigen wenigen Staaten, zum
Beispiel Arkansas, haben die Frauen das Stimmrecht bei den lokalen
Abstimmungen über die Frage, ob eine Wirtschaftskonzession erteilt
werden solle oder nicht. Die Mitwirkung der Frau bei der Behandlung
der Alkoholfrage ist es vor allem, was die Frauenstimmrechtler wollen"
(vgl. Hintrager, a. a. 0., S. 1511). In Colorado waren drei Frauen
in der gesetzgebenden Versammlung des Staates; eine derselben war
Mutter von fünf Kindern (vgl. Hintrager, a. a. 0., S. 140). In
Illinois ist den Frauen das Wahlrecht für die Legislatur durch eine
— 93 —
Es heißt da, die Gerichte könnten nicht unter dem
amerikanischen System ohne Anwälte bestehen, welche
zwischen den Streitteilen und dem Richter oder der Jury
stehen. Dieses System erfordere schriftliche Eingaben
(written pleadings), vielfach künstlich in Form und Stil
und beschränke die Beweisführung, so daß oft Be-
weismittel ausgeschlossen sind, welche scheinbar zu-
gelassen werden sollten; die Beweismittel beruhen auf
Gründen, die nur jemandem klar sind, der sich ein-
gehend in der Rechtsgeschichte (Legal History) unter-
richtet hat.8) Das System teilt die Entscheidung zwischen
dem Richter und der Jury in einer Weise, welche nur
nach einem langen und gründlichen Studium verstanden
werden könne. Die unterliegende Partei hat eine Befugnis
zur Revision, welche von einer Anzahl technischer Regeln
abhängt, die nur von jemandem gehandhabt werden
können, der sich in der Abfassung gerichtlicher Schrift-
stücke (Law Papers) eine besondere Fertigkeit erworben
hat.9) Es bestehe daher eine eigene Klasse von Menschen,
welche dazu berufen sind, das Volk von der direkten
Bill vom 26. Juni 1913 verliehen worden. Ich entnehme dies der mir
freundlichst zugesandten Nummer vom 27. Juni 1913 der "Chicago
Daily Tribüne".
*) Die Beweisaufnahme wird im englischen Prozeß von den
Parteien geführt und geleitet. Der Richter hat die Befugnis, ungehörige
Fragen einer Partei zurückzuweisen und selbst Fragen zu stellen.
Diese Tätigkeit tritt jedoch hinter die der Parteien weit zurück.
(Vocke, a. a. 0., S. 57ff.) E. Baldwin, a. a. 0., p. 205, führt aus,
es gebe in keinem Lande der Welt ein so kompliziertes System von
Beweisregeln (Rules of Evidence) als in England und in den Ver-
einigten Staaten, weil es eben in keinem Lande der Welt ein so aus-
gedehntes Recht auf Verhandlung vor Geschwornen gibt. Viele dieser
Beweisregeln reichen in die Zeit zurück, in welcher kein Geschworner
lesen oder schreiben konnte und finden in dieser "general illiteracy"
ihre Begründung.
") It gives a defeated party a right of review dependent on a
number of technical rules, and to be availed of only by those who
are skilled in the preparation of law papers of a peculiar kind
(Baldwin, a. a. 0., p. 344).
— 94 —
Berührung mit der Richterbank fernzuhalten, es wäre
denn, daß eine einzelne Partei ihre eigene Sache selbst
vertreten wollte, was selten vorkommt. i^)
Der Erteilung einer formellen Prozeßvollmacht zur
Führung eines Prozesses bedarf es im allgemeinen nicht.
Ein mündlicher oder brieflicher Auftrag zur Führung
eines Prozesses genügt. Es ist nicht üblich, daß der An-
walt vom Richter um den Ausweis seiner Vollmacht
befragt wird, es steht aber dem Gegner der Beweis offen,
daß der Anwalt ohne Ermächtigung handelt. Der Anwalt
ist nicht verpflichtet, den Auftrag ohne Kostenvorschuß
zu übernehmen. Einen Tarif für die Leistungen der An-
wälte gibt es nicht. Contingent Fee nennt man die Be-
teiligung eines Advokaten am Prozeßausgange. Retainer
Fee ist der Betrag, der dem Advokaten dafür ausbezahlt
wird, daß er die Sache behält und nicht die Sache der
Gegenpartei übernimmt.ii) Die Anwaltskosten sind eben-
falls erheblich. Auch Vocke gibt schon für das Jahr 1891
an, daß bei Prozessen bis zur Höhe von 1000 Mark
(250 Dollars) der Anwalt sich gewöhnlich einen Vorschuß
^^) A class of men has therefore been set apart to keep the
people from direct approach to the bench, except when they may desire
to argue their own cases, which rasely occurs (Baldwin, a. a. 0., p. 344).
^^) Ein Beispiel eines Contingent Fee erzählt Hintrager,
a. a. 0., S. 45. Eine Witwe, welche gegen eine Lebensversichemngs-
anstalt auf 10.000 Dollars klagte, mußte dem Anwalt für den Fall des
Sieges 1000 Dollars versprechen. Es sollen sehr hohe Contingent Fees
von 33^/3 Prozent, ja von 50 Prozent vorgekommen sein. Vocke
(a. a. 0., S. 18) erklärt es für zulässig, sich vom strittigen Objekte
einen mäßigen Prozentsatz zahlen zu lassen. "Dagegen gestatten die
Gerichte im allgemeinen keine Abmachung, nach welcher sich der
Anwalt einen Teil des Streitobjektes verschreiben läßt und dafür die
Prozeßkosten zu zahlen verspricht, wenn die Sache den Anschein eines
Schachers oder der Rabulisterei gewinnt, die dazu angetan ist, die
Prozeßsucht zu reizen." Wenn ich recht berifchtet bin, scheinen Con-
tingent Fees nicht selten vorzukommen. Vgl. noch Vocke, a. a. 0.,
S. 19: "Gilt der Zeitaufwand hauptsächlich als Maßstab, so wird je nach
dem Wert des erstrittenen Objektes die Summe von 25 bis 100 Dollars
pro Tag als entsprechende Gebühr erachtet."
— 95 ^
von 25 bis 50 Dollars zahlen läßt i^), und daß bei Forde-
rungen bis zu 10.000 Mark (2500 Dollars) für die Ver-
handlung in erster Instanz der Betrag von 100 bis 250
Dollars als angemessene Entschädigung erscheint. i^)
Ich hatte mehrfach zu beobachten Gelegenheit, daß
unsere ausgezeichneten Konsulate in den Vereinigten
Staaten bei Vertretungen von Landsleuten durch Anwälte
dafür Sorge tragen, daß der Vertrag zwischen dem
Klienten und dem Advokaten bezüglich des dem letzteren
zu leistenden Honorars für den Klienten tunlichst
schonend ausfalle. Vielfach verwenden sich auch Kon-
sulatsorgane bei den Gerichten zugunsten von Lands-
leuten in Nachlaßabhandlungen, in Damage-Prozessen
(Schadenersatzprozessen) gegen Eisenbahnen und Unter-
nehmer und in Bankruptcy-Fällen.i*)
Am 4. April 1912 gegen elf Uhr abends besuchte
ich mit dem Vizekonsul Dr. Fischerauer und dem
Rechtsanwalt Arpad A. Kremer die Verhandlung
^-) "Erfolgt ein Urteil, ohne daß eine außergewöhnlich langwierige
Verhandlung erforderlich wird, so gilt bei vielen Anwälten der letztere
Betrag ziemlich allgemein als volles Honorar sowohl für die Mühe-
waltung bei Gericht als auch für die Eintreibung der Schuld, sofern
letzteres nicht etwa einen besonderen Zeitaufwand erheischt" (Vocke,
a. a. 0., S. 19).
^^) Im "New York Herald", European Edition, vom 11. März 1913,
finde ich eine Notiz, daß ein Anwalt eine Rechnung von 25.000 Dollars
einzutreiben hatte. Die ihm zur Deckung gegebenen Papiere verkaufte
er um 22.500 Dollars ; von dieser Summe hielt der Anwalt 3900 Dpllars
als Honorar (Fee) für sich zurück, während die Klientin nur 1000 Dollars
zu zahlen bereit war. — In einer Chicagoer Zeitung vom 29. Mai dieses
Jahres lese ich, daß in einer Nachlaßverteilungssache einer Anwältin
vom Appelate Court ein Honorar von 22.500 Dollars zugesprochen
wurde, während der Circuit Court 32.500 Dollars zugesprochen hatte.
Erwähnt wird, daß der Nachlaß, zu welchem das zu verteilende Gut
(Estate) gehörte, im Jahre 1890 2 Vi Millionen Dollars betragen habe.
1*) Es kommt leider gar nicht selten vor, daß zu Amerikanern
gewordene Österreicher oder Ungarn in der unerhörtesten Weise ihre
gewesenen Landsleute beschwindeln und ihnen Geld abnehmen, welches
sie erspart haben, angeblich um es einzulegen oder in die Heimat zu
— 96 —
eines sogenannten Night Court in der 6. Avenue, Ecke
der 10. Straße. Ein Polizeirichter, Henry W. Herbert,
führte die Verhandlung. Diese Polizeirichter sind vom
Bürgermeister von New York ernannte City Magistrats.i^)
Der Polizeirichter trägt einen einfachen schwarzen
Talar, er verhandelt und urteilt mit unbedecktem
Haupte. Der Night- Richter hat die nachmittags von
drei oder vier Uhr an anfallenden Sachen zu ent-
senden. In dem Konkurse eines solchen betrügerischen und treulosen
Depositars wurde dann, wie ich zufällig gehört habe, eine Quote von
15 Prozent der Einlage bezahlt und diese Erledigung des Konkurses
noch nicht als eine ungewöhnlich ungünstige angesehen. — Über solche
Fallimente von Foreign bankers vgl. Dr. Karl R. v. Englisch, a. a. 0.
(vgl. oben S. 10), S. 387 ff. Dr. v. Englisch teilt mit, daß, um die
europäischen Einwanderer zu veranlassen, ihre Ersparnisse direkt nach
Hause zu senden, auf Veranlassung der k. u. k. Botschaft die Bundes-
postverwaltung Postanweisungen in ungarischer und in den slawischen
Sprachen in den Verkehr gebracht habe, damit die Auswanderer die
Blankette selbst ausfüllen können, ohne sich vorher den englischen
Text verdolmetschen lassen zu müssen. Wie mir berichtet wurde, be-
mühen sich unsere Vertretungsbehörden, österreichische und ungarische
Banken zur Errichtung von Filialen in den Vereinigten Staaten zu
veranlassen. Freund, a. a. 0., S. 387, sagt, daß seit dem Jahre 1910
im Staate New York Privatbankiers, die Gelder als Depositen oder
zur Versendung annehmen, gesetzlicher Kontrolle unterworfen sind.
Sie bedürfen einer Gewerbekonzession, müssen eine Kaution im Betrage
von 10.000 Dollars stellen und die Inhaber des Geschäfts oder die
Mehrzahl derselben müssen seit fünf Jahren im Lande ansässig sein.
Gelder, die zur Versendung ins Ausland angenommen werden, müssen
innerhalb von fünf Tagen an die angegebene Adresse abgesendet werden.
Durch die Stellung einer Kaution von 50.000 Dollars oder im Staate
New York von 100.000 Dollars kann sich der Bankier von der An-
wendung dieses Gesetzes befreien und dasselbe findet auch keine An-
wendung, wenn im vorhergehenden Jahre die einzelnen Depositen oder
zur Versendung übernommene Summen, die der betreffende Bankier
empfangen hat, im Durchschnitte nicht weniger als 500 Dollars be-
tragen haben. "Das Gesetz scheint dem Motiv entsprungen zu sein,
Einwanderer vor Ausbeutung durch unverantwortliche Geldagenten
zu schützen."
^^) Man erzählte mir, daß ein solcher Polizeirichter 7000 Dollars
Gehalt bezieht und daß die Amtsdauer dieser City Magistrates zehn
Jahre beträgt.
— 97 —
scheiden. Der Richter, an welchen unser Begleiter
Kremer unsere Karten geschickt hatte, war außerordent-
lich liebenswürdig. Amerikanischer Sitte gemäß wurde
Dr. Fischerauer und ich links und rechts vom
Richter gesetzt. Der Anwalt nahm in der ersten Bank
Platz, drei Besucher gleichzeitig oben auf der Richter-
estrade hätten zuviel Raum eingenommen. Der Richter
verhandelte in einem großen, hallenartigen, ganz schmuck-
losen Saale, Kreuz und Kerzen fehlten natürlich auf der
Richterestrade. Das Zimmer des Richters, in welches
wir während einer Pause geführt wurden, ist ein kleiner,
sehr einfacher Raum. Die Gerichtsschreiber saßen auf
einem zur Rechten der Richterestrade befindlichen er-
höhten Platze. Aufgefallen ist mir die Anwesenheit einer
Frau, Vertreterin eines Frauenbesserungs-, Wohltätigkeits-
und Schutzvereins. Diese Frau sprach mit den Beschul-
digten und erkundigte sich nach ihrem Leben und Be-
dürfnissen. Sie berichtete dann, und zwar gewöhnlich
unmittelbar vor der Verhandlung gegen die betreffende
Beschuldigte dem Richter kurz, was sie gehört hatte.
Der Richter wurde mit Your Honor angeredet. Eine
arme alte Frau wurde vorgeführt, eine Obdachlose.
Sie hatte selbst die Hilfe des Richters angerufen, ein
Bild des Großstadtjammers. Sie wurde einer Wohltätig-
keitsanstalt zugewiesen. Die übrigen Angeklagten waren
Frauen, welche beschuldigt waren, Männer angesprochen
zu haben, Weiße und Negerinnen. Der uniformierte oder
nicht uniformierte Polizist führte die von ihm gestellte
Delinquentin vor und schwur in jedem einzelnen Falle,
er werde die Wahrheit sagen. Jede Delinquentin wurde
gefragt, ob sie wolle, daß gleich verhandelt werde. Alle
sagten ja, nur eine verlangte Vertagung der Verhandlung.
Kurze Meldung des Polizisten, dann sagte die Angeklagte
ganz kurz, was sie zu sagen hatte. Das Urteil lautete
stets auf fifteen days^^), zwei Worte, kurze Notiz, dann
^^) Arbeitshaus in Blackwell's Island.
Hanansek, Amerikanische Skizzen.
— 98 —
der nächste Fall. Die einzige, bestimmt leugnende An-
geklagte wurde freigesprochen. Der Richter erklärte, er
wolle ihr nochmals eine Chance geben, werde sie noch-
mals gefaßt, dann müsse sie strenger Bestrafung ge-
wärtig sein.
Am 13. April 1912, einem Samstag, besuchte ich
mit dem Generalkonsul in Chicago, Hugo Silvestri,
das Court-Haus in Chicago. Leider sahen wir nur
einige Eherichter, da die übrigen Gerichtsabteilungen ge-
schlossen waren. Bei einem Justice wurden Alimen-
tationsklagen von Frauen gegen ihre Gatten verhandelt;
die Prozedur war eine ungemein rasche. Wenn eine Sache
bei dem einen Termin nicht erledigt wurde, mußten die
Beklagten eine Summe kavieren, daß sie sich dem Ge-
richte stellen werden. Für diese Summe wurden eventuell
Bürgen verlangt, so von einem Handlungsreisenden,
mit welchem mehrere Kollegen mitgekommen waren.
Es wurde über die Summe verhandelt, 1000 oder
2000 Dollars, für welche kaviert werden sollte, für welche
sich die ortsansässigen Kollegen verpflichteten.
Der andere Justice war ein Ehescheidungsrichter.
Auch hier wurde erstaunlich rasch verhandelt. In dem
einen Falle wurde zweijährige Abwesenheit des betreffen-
den Ehegatten festgestellt. Es sagte dies die Frau und
die halberwachsenen Kinder aus; darauf sprach der
Richter die Trennung aus. Man sagte mir, daß der ver-
lassene Ehegatte gegen den verlassenden das Trennungs-
begehren stellen könne. Ich hatte den Eindruck, daß
das eigentlich einverständliche Trennungen waren.
In Pittsburg und in Boston habe ich Zivil- und
Strafverhandlungen vor Geschwornen beigewohnt. Dem
europäischen Juristen fällt die Jury in Zivilsachen auf.i^)
") Hintrager, a. a. 0., S. 48ff., erzählt von einem sehr inter-
essanten Prozeß vor der Ziviljury in Dubuque im Staate Jova: Die
46 Jahre alte Witwe Sunnyside, Inhaberin einer Pension, hatte den
Arzt Dr. Goody auf 10.000 Dollars Schadenersatz wegen Verlöbnis-
bruches geklagt. Obwohl nur zwölf Zeugen vernommen wurden, dauerte
— 99 —
Die Vernehmung des Angeklagten im Kreuzverhör ge-
schieht durch Staatsanwalt und Verteidiger, beziehungs-
weise durch die Parteienvertreter. Die Zeugen müssen
eine Art Estrade besteigen und werden so gefragt. Sehr
dramatisch war die Verhandlung in Boston in einer An-
klage wegen Lebensmittelfälschung. In Boston tagten um
fünf Uhr noch acht Schwurgerichte, fünf in Zivil- und
drei in Strafsachen, 96 Männer waren also noch in dieser
Stunde als Geschworne tätig. i^)
§ 6.
Die Bedingungen für die Erlangung des Amtes eines
Notary Public sind sehr einfache. Der Kandidat braucht
sich über eine juristische Vorbildung nicht auszuweisen.
Die einzige Bedingung, welche, wie ich einer brieflichen
Mitteilung entnehme, im Staate Illinois erfüllt werden
muß, ist ein von 50 Wählern unterzeichnetes Gesuch,
welches an den Staatssekretär einzusenden ist und mit
einem Geldbetrage von zwei Dollars begleitet sein muß.
Es genügt, daß eine Kaution von 1000 Dollars von zwei
Bürgern unterzeichnet wird, welche jedoch in bezug auf
ihr Vermögen keiner besonderen Qualifikation bedürfen
und auch keinen besonderen Fragen unterworfen werden.
Es gibt natürlich auch weibliche Notare, so zum Beispiel
in Chicago, Im Staate Pennsylvania kann jeder Notar sein,
der seinen Namen schreiben, lesen und eine Kaution von
1000 Dollars erlegen kann. Ein Krämer, welcher Stellen
die Verhandlung sechs Tage. Der ganze erste Tag war durch die
Bildung der Geschwomenbank in Anspruch genommen, der zweite und
dritte und ein Teil des vierten Tages durch die Vernehmung der
Zeugen beider Parteien im Kreuzverhöre durch die Parteienvertreter.
Am vierten Tage begannen die Plaidoyers. Jede Partei hatte zwei
Anwälte. Am sechsten Tage endigte die Verhandlung mit dem Siege
des Beklagten, da die Geschwornen zweimal erklärt hatten, Ein-
stimmigkeit sei nicht zu erzielen.
^*) Man erzählte mir, die Geschwornen bekommen ein Taggeld
von zwei Dollars.
7*
— 100 —
vermittelt und zugleich Geldgeschäfte besorgt, ist häufig
Notary Public.^) Eine wichtige Funktion der Notare ist
ihre Mitwirkung bei der Ausfertigung und bei der Solenni-
sierung von Verkaufsbriefen über Grundstücke (Deeds).
Die Solennisierung durch ein der Verkaufsurkunde an-
geheftetes, mit der Unterschrift und dem Amtssiegel unter-
fertigtes "certificate of acknowledgment" ist in einer Reihe
von Staaten vorgeschrieben, in einer Anzahl anderer
Staaten gebräuchlich. 2)
Es gibt eigene Title Guaranty Companies (Besitztitel-
garantie-Aktiengesellschaften). Der Käufer einer Realität
versichert sich bei einer dieser Gesellschaften gegen
etwaige Ansprüche Dritter. Die Höhe der Versicherungs-
prämie hängt von der Versicherungssumme, beziehungs-
weise dem Werte der Realität ab. Es kann durch wieder-
holte Übertragung irgendein Formfehler begangen worden
sein oder es können Erben oder Anspruchsberechtigte
übersehen worden sein, die später auftauchen und ihre
Rechte geltend machen. Gegen solche Anfechtungen des.
Besitztitels schützt eben die Title Policy.
Eine besondere Stellung hat die "Chicago Title and
Trust Company" in Chicago, welcher ich im Zusammen-
hange mit einigen Bemerkungen über das Grundbuchs-
wesen in Chicago Erwähnung tun möchte.
Die Grundbuchsführung im Staate Illinois ist durch
das 115. Kapitel, Z. 10 ff. der Statuten des Staates Illinois
geregelt. Der Grundbuchsführer wird vom Volke gewählt
und hat als solcher keine richterlichen Befugnisse. 3)
1) Vgl. V. Englisch, a. a. 0., S. 388.
^) Die Anerkennungen der Verkaufsurkunden (acknowledgments.
Of the deed) erfolgen durch den Aussteller der Urkunde vor dem Notar.
In einer Reihe von Staaten genügt auch das Proving or probating thfr
deed durch eidesstattliche Erklärung eines oder mehrerer der Unter-
schriftzeugen vor dem Notar. In Ohio ist das Acknowledgment auf
die Verkaufsurkunde zu schreiben. Vgl. zu den vorstehenden Aus-
führungen Vocke, a. a. 0., S. 149 ff.
^) In Chicago werden folgende Grundbücher geführt: 1. Ein
Eintragsbuch, in welches sogleich nach Empfang eines Dokuments die;
— 101 —
Das Grundbuchsamt führt die durch das Gesetz vor-
geschriebenen Bücher und die Parteien haben das Recht,
diese Bücher während der Amtsstunden einzusehen. Der
Grundbuchsführer ist auch befugt, Grundbuchsauszüge
aus den Grundbüchern zu machen und zu bescheinigen
("Abstracts of Title"). Alle öffentlichen Grundbücher sind
aber beim großen Brand in Chicago im Oktober 1871
zerstört worden und es kann also seither kein amtlicher
Auszug, der einen Besitztitel des Eigentums vor 1871
ausweist, ausgestellt werden. Auch wird seitens der Graf-
schaft Cook für die Richtigkeit dieser Auszüge keine aus-
reichende Gewähr geleistet. Es hat aber schon vor der
Zeit des großen Brandes im Oktober 1871 in Chicago
einige Privatfirmen gegeben, welche regelmäßig und täg-
lich alle im Grundbuchsamf eingetragenen Dokumente
kopierten und schon damals Abstracts of Title ausfertigten.
Namen der kontrahierenden Parteien einzutragen sind, femer Datum,
Tag, Monat, Stunde und Jahr des Eintrags, sowie eine kurze Be-
schreibung des Grundstücks. Das einzutragende Instrument soll
mit der im Eintragsbuche korrespondierenden Nummer numeriert
werden. 2. Ein Kegister der Verkäufer, in welches unter anderem
der Name jedes Verkäufers alphabetisch eingetragen werden soll, dann
der Name des Käufers, das Datum des Instruments, die Zeit des
Eintrags, der Verkaufspreis und eine kurze Beschreibung des Grund-
stückes. 3. Ein Kegister der Käufer, in welches die Namen der Käufer
in alphabetischer Ordnung einzutragen sind, dann im wesentlichen
dieselben Angaben wie im Register der Verkäufer. Das Käuferregister
und das Verkäuferregister sind also tatsächlich Duplikate. 4. Ein
Nummembuch, aus welchem ersehen werden kann, in welchem Grund-
buch und auf welcher Seite das betreffende Dokument eingetragen,
respektive abgeschrieben ist. 5. Ein Abstraktbuch, in welches die
Übertragungen und Belastungen jedes einzelnen Grundstückes ein-
zutragen sind, ferner das Datum des Dokuments, die Zeit des Eintrags
die Nummer des Buches und die Seitenzahl. Das Abstraktbuch soll so
gehalten sein, daß aus demselben der Besitztitel und die auf dem
Grundstücke ruhenden Lasten ersehen werden können. 6. Ein Karten-
register. — Vgl. Chapter, 115, Z. 10 sq., insbesondere Z. 13, § 12,
der Revised Statutes of the State of IlUnois in force May Ib^^ 1896
(Edited by Merritt Starr and Bussel H. Curtis of the Chicago Bar,
2nd edition, vol. III., p. 3337 sq.).
— 1Ö2 —
bescheinigten und deren Echtheit mit ihrem Vermögen
garantierten. Im Jahre 1871 brannte das Regierungs-
gebäude ab und damit alle öffentlichen Grundbücher.
Die genannten Privatfirmen aber retteten ihre Abschriften
der Grundbücher. So gab es denn nach dem Brande von
1871 bald Privatgrundbuchsführer und später eine Gesell-
schaft, die Chicago Title and Trust Company, welche
95 Prozent aller Besitztitel ausstellt und garantiert.
Die Chicago Title and Trust Company erhielt
später, etwa vor zehn Jahren, den Auftrag, die Grund-
bücher von 1871 neu zu überschreiben und in Ordnung
zu bringen, so daß also tatsächlich die jetzt existierenden
amtlichen Grundbücher von 1871 bis ungefähr 1905 von
der Chicago Title and Trust Company zusammengestellt
sind und erst seit ungefähr 1905 wieder vom Grund-
buchsamt weitergeführt werden. Die Legislatur des
Staates Illinois versuchte zwar ein Gesetz zu schaffen,
welches bestimmen sollte, daß die vor dem Brande von
1871 eingetragenen Dokumente und Besitztitel als unan-
fechtbar zu betrachten seien. Dieses Gesetz ist jedoch
nicht durchgedrungen, wohl aber wurde eine Bestimmung
angenommen, daß Dokumente, die mehr als 30 Jahre
alt sind, sogenannte Ancien Documents, Beweis machen
without having to prove the notary public acknowledgment
or the signatures, also ohne eine besondere Beweis-
führung bezüglich der Echtheit der notariellen Beglaubi-
gung und der Unterschriften.
Durch ein anderes Gesetz war schon früher das
Verfahren geregelt worden, wie ein Besitztitel und die
auf denselben sich beziehenden verbrannten Dokumente
als rechtsgültig anerkannt werden könnten. Der Grund-
eigentümer mußte einen Rechtsanwalt bestellen, welcher
ein die Gültigkeit des beanspruchten Besitztitels und der
sich auf denselben beziehenden verbrannten Urkunden
aussprechendes Erkenntnis erwirkte. Es ist dies das so-
genannte Burnt record proceeding, welches auch gegen-
wärtig noch von Zeit zu Zeit vorkommt. Dieses Ver-
— 103 —
fahren ist aber kostspielig. Die Durchschnittskosten be-
tragen ungefähr 100 Dollars und bei größeren Parzellen
bis zu 1000 Dollars.
Dem Zweck der Sicherheit der Grundeigentums-
besitztitel und der Gnindeigentumsübertragungen ohne
das eben erwähnte kostspielige Verfahren dient nun
das sogenannte Torrens - System. Dieses durch ein
Gesetz des Staates Illinois eingeführte und seit einigen
Jahren in Geltung befindliche System besteht darin,
daß Einträge in die nach diesem System geführten
Bücher nur auf Grund eines besonderen Aufforderungs-
verfahrens geschehen. Der offizielle Grundbuchsführer
ist auch der Vorsteher des Torrens- Amtes. Die Eintragung
einer Grundparzelle im Torrens-System erfolgt auf Grund
eines Einschreitens des Grundeigentümers. Bevor eine
solche Eintragung erfolgt, werden seitens des Grundbuchs-
führers alle Beteiligten von dem Verfahren in Kenntnis
gesetzt und aufgefordert, ihre mit dem einzutragenden
Eigentumsrechte in Widerspruch stehenden Ansprüche
innerhalb der festgesetzten Frist geltend zu machen.
Die Rechte der Mieter und der Hypothekargläubiger
werden in der Regel einfach bestätigt. Nach Ablauf der
vorgeschriebenen Frist erfolgt dann, wenn wider-
sprechende Ansprüche nicht geltend gemacht wurden,
der Urteilsspruch, welcher den genauen Zustand des
Besitztitels feststellt, richterlich beglaubigt und be-
urkundet. Nach Ablauf einer Verjährungsfrist von zwei
Jahren soll dann der Besitztitel dem Urteilsspruch gemäß
sichergestellt sein.
Für die Richtigkeit des vom Torrens-Amte aus-
gestellten Zertifikates haftet ein Garantiekapital (indemnity
fund), welches dadurch gebildet wird, daß jeder Gesuch-
steller ein Zehntel eines Prozentes vom Werte des Grund-
stückes, auf welches sich die Eintragung bezieht, ein-
zahlt (§ 100 der Torrens Law). Die Praxis scheint aber
die guten Absichten dieses Gesetzes insofern nicht voll
zu verwirklichen, als das vom Torrensamte ausgestellte
— 104 —
Zertifikat gegenüber einem widersprechenden Eigentums-
anspmche nicht vollen Beweis zu machen vermag, sondern
ein voller Eigentumsbeweis scheint auch derzeit nur durch
einen Abstract of Title, welchen gewöhnlich die Chicago
Title and Trust Company ausstellt, erbracht werden zu
können.*)
m. Kapitel.
Amerikanische Jugendgerichte.
Es ist selbstverständlich nicht meine Absicht, eine
eingehende Darstellung des amerikanischen Jugendstraf-
rechtes zu geben. Eine solche ist um so weniger not-
wendig, als wir eine Anzahl vortrefflicher Darstellungen
des amerikanischen Jugendstrafrechtes besitzen, welche
österreichische Juristen zu Verfassern haben.
Ich nenne zunächst die ausgezeichnete Darstellung
von Baernreither, "Jugendfürsorge und Strafrecht in
den Vereinigten Staaten von Amerika". Eine kurze, tief
eindringende Darstellung gibt Lenz, "Die angloameri-
kanische Reformbewegung im Strafrecht" 1908. i) Be-
sonders zu nennen ist auch ein Vortrag des Professors
Grafen Gleispach über amerikanische Strafanstalten,
welchen derselbe am 3. Jänner 1912 in Wien gehalten
und in der "Zeitschrift für Kinderschutz und Jugend-
*) Der Name Torrens ist der Name eines Australiers, welcher das
System erfunden und zuerst in Australien eingeführt hat. — Die Torrens
Law ist ein Gesetz aus dem Jahre 1907. — Die Ausführungen im Texte
gründen sich auf briefliche Mitteilungen.
^) Vgl. insbesondere S. 209 f. Wir finden bei Lenz nicht bloß
die gesamte einschlägige Literatur, sondern auch die gesamte amerika-
nische Legislation in vorbildlicher Vollständigkeit angeführt und be-
nützt, ferner eingehende Untersuchungen über die Straf- und Zwangs-
erziehung in den Vereinigten Staaten von Nordamerika sowie über
das nordamerikanische Besserungsverfahren bei jungen Erstverbrechern.
Eine knappe vortreffliche Übersicht der amerikanischen Jugendgerichts-
gesetzgebung finde ich in dem unten Note 3 angeführten Buche "The
Delinquent Child and the Home", p. 247 sq. (Abstract of Juvenile
Court Laws).
— 105 —
fürsorge" veröffentlicht hat.^) Dank der Güte meines
verehrten Freundes, des schweizerischen Vizekonsuls in
Chicago, Rechtsanwalt Eugene Hildebrand, ist es mir
möglich gewesen, eine Reihe von amerikanischen
Schriften aus neuester Zeit kennen zu lernen, welche
in der Note zusammengestellt sind, um eine Vorstellung
von der Intensität der Jugendfürsorgebewegung zu geben. 3)
*) Vgl. E. Münsterberg, "Amerikanisches Armenwesen" (siehe
oben S. 11). Im sechsten Abschnitt, S. 73 ff., handelt Münsterberg
von der ''Fürsorge für Kinder", insbesondere von der Tätigkeit der
Kinderhilfsgesellschaften (Childrens Aid Societies). Im siebenten Ab-
schnitt, S. 89 ff., behandelt Münsterberg "die Jugendgerichtshöfe".
Eine knappe, aber sehr lehrreiche Darstellung des Kinderschutzes
und der Kinderfürsorge gibt Reicher in der oben S, 10 zitierten
Schrift, S. 20 ff. Die National Conference of Charities and Correction
umfaßt alle sich für Kinderschutz und Kinderfürsorge interessierenden
Kreise im Gebiete der Union. "Sie tritt alljährlich in einer anderen
Stadt zusammen, um die Fragen des gemeinsamen Interessenkreises
zu erörtern. Das Ergebnis dieser Beratung zeigt den jeweiligen Stand
der öffentlichen Meinung" (S. 21). Reicher gibt auch eine Zusammen-
stellung der Fürsorgeeinrichtungen für Dependent, Xeglected and
Delinquent Children, welche er zu besuchen Gelegenheit hatte.
^) Es liegen mir vor ein Report of the Denver Juvenile Court
für die Zeit vom November 1908 bis November 1909, femer ein
Eeport of the Juvenile Court City and County of Denver, Colo. für
die Zeit vom 1. November 1909 bis 31. Oktober 1910, eine von der
Juvenile Improvement Association of Denver herausgegebene Samm-
lung von Juvenile Court Laws, ein Aufsatz des berühmten Judge Ben
B. Lindsey of the Juvenile Court of Denver "Probation and the
Criminal Law", eine Schrift von Stanley K.Hornbeck,"JuvenileCourts",
ein Aufsatz von Sophonisba Preston Breckinridge (The University
of Chicago and the Chicago School of Civics and Philanthropy) "Neglected
Widowhood in the Juvenile Court". — Femer ein Report of a Committee
Appointed Under Resolution of the Board of Cotnmissioners of Cook
County, hearing date August 8th^ 1911 "The Juvenile Court of Cook
County, Illinois" (Chicago 1912). — Femer eine sehr interessante
Sammlung von Aufsätzen "The Child in the City". Diese Sammlung ent-
hält eine Serie von Papers Presented at the Conferences Held During the
Chicago Child Weifare Exhibit, ist veröffentlicht von dem "Department
of Social Investigation Chicago School of Civics and Philanthropy (1912)"
und durch eine sehr interessante Vorrede der bereits früher erwähnten
Philanthropin Sophonisba P. Breckinridge eingeleitet. Endlich er-
— 106 —
Am Freitag, den 12. April 1912, vormittags fuhr ich
nach dem in der Nähe des Hüll House, von welchem
später noch zu sprechen sein wird, gelegenen Court of
Cook County. Ich war von dem Arzt in Chicago
Dr. Bacon an Dr. Healey empfohlen. Dr. Healey ist
der Arzt des Jugendgerichtes und der Vorstand eines
im Gebäude des genannten Jugendgerichtes unter-
wähne ich eine von der Russell Sage Foundation herausgegebene
Sammlung "The Delinquent Child and the Home". Die Verfasserinnen
dieser Sammlung sind Sophonisba P. Breckinridge, Ph. D. und Edith
Abbott, Ph. D. Die beiden Damen sind Directors of the Department
of Social Investigation , Chicago, School of Civics and Philanthropy.
Das Werk enthält eine Einleitung, welche von Julia C. Lathrop,
Chief of the Föderal Children's Bureau, verfaßt ist. Die Sammlung
enthält mehrere Appendices, deren erster lautet: "Legal Problems
involved in the Establishment of the Juvenile Court" und von dem
früheren Richter im Jugendgerichte, Julian W. Mack, verfaßt ist. Der
Appendix II enthält ein Testimony des derzeitigen Jugendrichters
Merritt W. Pinckney (New York, 1912).
Es gibt ein eigenes Journal of Constructive Pliilanthropy "The
Survey". In einer mir vorliegenden Nummer dieses Journals (23. Band,
Nr. 19, vom 5. Februar 1910) ist ein Bericht über die ersten zehn
Jahre des Juvenüe Court of Chicago enthalten, welcher von Henry
W. Thurston verfaßt ist. Thurston ist derzeit Superintendent of
the Illinois Children's Home and Aid Society und war früher Chief
Probation Officer of the Chicago Juvenile Court. Dasselbe Heft enthält
folgende Aufsätze: Bernhard Fl ex n er, Louisville, Ky., "The Juvenile
Court as a Social Institution"; Julian W. Mack, Justice of the Illinois
Appellate Court; former Judge, Chicago Juvenile Court, "The Law
and the Child"; Ben B. Lindsey, Judge of the Denver Juvenile Court,
"My Lesson from the Juvenile Court"; Victor v. Borosini, "The
Juvenile Court Abroad."
In diesem Zusammenhange nenne ich noch zwei kleine Studien,
nämlich: "A Study In Adult Delinquency Based Upon Three Thousand
Families". Investigated by the Juvenile Association of Chicago, Text
by Mary B. Swain, 1911, und "The Department Store Girl Based
Upon Interviews With 200 Girls", Issued by the Juvenile Protective
Association of Chicago, Text by Louise De Koven Bowen, 1911,
sowie eine Übersicht (Synopsis) der Tätigkeit der Juvenile Protective
Association im Jahre 1911.
Über die großartige philanthropische Tätigkeit von Miss Jane
Addams wird im VI. Kapitel zu sprechen sein.
— 107 —
gebrachten psychologischen Instituts. Die jugendlichen
Delinquenten, deren Vergehen zu beurteilen sind, werden
zunächst von Dr. Healey in Empfang genommen; ihre
psychische Disposition wird untersucht, es wird fest-
gestellt, von welchen Eltern das Kind abstammt und
in welcher Umgebung es gelebt hat. In dem Gerichts-
gebäude befinden sich anstoßend an die Zimmer, in
welchen die Jugendlichen detiniert gehalten werden,
Schulzimmer, in welchen Lehrerinnen die Kinder unter-
richten.*)
Sodann führte mich Dr. Healey in das Verhandlungs-
zimmer, in welchem gerade Richter Pinckney seines
Amtes waltete. Richter Pinckney verhandelte gegen eine
Anzahl junger Schüler, welche des nachlässigen Schuld
besuches angeklagt waren. Die unendlich gütige Art, in
welcher der Richter mit den kleinen Schuldigen ver-
handelte und mit deren Eltern und Vormündern sprach,
hat auf mich tiefen Eindruck gemacht, ebenso wie die
ganze Art, wie Dr. Healey, welcher jeden Vormittag im
Gerichtsgebäude zubringt, seine Aufgabe auffaßt. Den
Eindruck, daß Amerika das Land der Gegensätze sei,
habe ich vielleicht niemals so stark empfunden, wie in
den Stunden, die ich beim Jugendgericht verbracht habe.
Die Anklage gegen die jungen Truants (Schulschwänzer)
erhob ein Truant Officer. Chicago ist zum Zwecke
der Überwachung des regelmäßigen Schulunterrichts in
Bezirke eingeteilt.^) Schuldige Eltern werden verwarnt,
eventuell bestraft, schuldige Kinder können in eine
Truant School geschickt werden. Das Jugendgericht hat
eigene Verhandlungstage für verwahrloste Kinder (De-
pendent Days), eigene Verhandlungstage gegen die Schul-
schwänzer (Truancy Days) und eigene Verhandlungs-
tage, wenn es sich um straffällige Kinder handelt (De-
*) Dr. Healey hat sich mit großem Interesse nach dem Grazer
Kriminalisten Hans Groß erkundigt und in Aussicht gestellt, er werde
bei seinem nächsten Aufenthalt in Europa Professor Groß besuchen.
*) Baernreither, a. a. 0., S. 174, führt 23 solcher Bezirke an.
— 108 —
linquent Days). Die verwahrlosten Kinder werden in
einer Anstalt oder in einer Familie untergebracht. Bei
der Verhandlung gegen delinquierende Kinder inter-
veniert ein Staatsanwalt (Prosecuting Attorney). Es er-
folgt entweder Verweisung on probation oder Sendung
in eine Anstalt, ausnahmsweise auch Abtretung an die
Grand Jury. Der Probation Officer ist ein gerichtlich
bestelltes, besoldetes Aufsichtsorgan, welches die on
probation Gestellten zu überwachen hat. Sollten die on
probation Gestellten nicht folgen, so kann Verurteilung
erfolgen. On probation gestellt wird statt der Ver-
urteilung, on parole gestellt wird nach der Verurteilung
und Abbüßung eines Teiles der Strafe. Darüber wird noch
zu sprechen sein.
Das Juvenile Court Law des Staates Illinois ist aus
dem Jahre 1899. Es ist dies ein Gesetz for the Gare
of Dependent, Neglected and Delinquent Children.^)
Im Jahre 1905 wurden Probation Officers eingeführt.
1907 wurde das Jugendgericht in ein eigenes Gebäude
gebracht, zusammen mit einem Detention Home.'^) Im
^) Der Autor des Gesetzes ist Harvey B. Hurd. Es was dies
das erste Gesetz dieser Art und ein Muster für viele andere gleicher
Gesetze in den Vereinigten Staaten.
') Ich habe schon früher (vgl. oben S. 76) bemerkt, daß der
Titel des Jugendgerichtes in Chicago folgender ist: "Circuit Court of
Cook County Juvenile Court".
Über den gegenwärtigen Stand der amerikanischen Gesetzgebung in
der Frage der Haftung erwachsener Personen, insbesondere der Eltern für
Delikte von Kindern finde ich in dem Buche "The Delinquent Child and the
Home" (vgl. oben S. 13), p. 263 sq. unter dem Schlagworte "Adult respon-
sibility for juvenile delinquency" folgende Mitteilungen: in Colorado und
Kentucky ist bestimmt, daß das Verfahren gegen den Parent or Re-
sponsible Adult auf Grund einer beglaubigten Eingabe eines ehrbaren
Einwohners (Reputable Resident) Platz greifen solle, und zwar mittels
Vorladung, nicht mittels Haftbefehl, wie in den meisten anderen
Staaten verfügt ist. In den meisten Staaten kann die Person, welche
überführt ist, das Delikt des Kindes herbeigeführt oder zu demselben
beigetragen zu haben, on probation gestellt werden, um die ihr zur
Last fallenden früheren schädlichen Verhältnisse zu beseitigen und erst
— 109 — .
Jahre 1911 wurde ein Gesetz beschlossen, zufolge dessen
den Eltern eines vernachlässigten Kindes, welche aber
sonst geeignet wären, dasselbe zu überwachen, die ihnen
fehlenden Mittel vom County Board angewiesen werden
können (siehe den oben Note 3, zitierten Report, The
Juvenile Court of Cook County, Illinois, Chicago 1912,
p. .17 sq.).
Die Jurisdiktion des Juvenile Court erstreckt sich
auf Knaben unter 17 und auf Mädchen unter 18 Jahren.
Wenn Personen unter dem angegebenen Alter vor das
Gericht kommen, so unterstehen sie der Obsorge des
Gerichtes bis zum vollendeten 21. Jahre. Alle Personen
unter dem 21. Jahre sind Wards of the State (Mündel
des Staates). Es werden also Knaben bis zum voll-
endeten 17. und Mädchen bis zum vollendeten 18. Jahre
im Staate Illinois. überhaupt nicht, beziehungsweise nur
in den seltensten Ausnahmsfällen gestraft 8), sondern der
Jugendrichter verweist das delinquierende Kind ebenso
wie das vernachlässigte an eine Fürsorgeerziehungs-
anstalt. Diese Fürsorgeerziehungsanstalten führen ver-
schiedene Namen. Häufig heißen sie Industrial Schools.
Nur ausnahmsweise verweist der Richter, wie wir schon
dann, wenn sie diese Weisung nicht befolgt, wird eine Strafe über sie
verhängt. Zu den Staaten, welche derartige strafgesetzliche Bestim-
mungen gegen Erwachsene wegen Delikten von Kindern eingeführt
haben, gehören Colorado, Connecticut, District of Columbia, Idaho,
Illinois, Indiana, Kansas, Kentucky, Massachusetts, Minnesota, Montana,
Nebraska, New York, Ohio, Texas, Washington, Wisconsin; einen
besonders hohen Straf satz, nämlich 1000 Dollars Geldstrafe oder ein
Jahr Gefängnis oder beides, haben Kansas New Jersey, Ohio und
Texas, einen besonders niederen Strafsatz hat Massachusetts, nämlich
50 Dollars oder sechs Monate Gefängnis oder beides; vgl. hiezu oben S. 18.
*) Im Staate New York werden Kinder bis zum vollendeten
16. Lebensjahre nicht gestraft. Ebenso wie in Illinois ist in Kentucky
die untere Grenze für die Kompetenz des Jugendgerichtes für Knaben
17 Jahre und für Mädchen 18 Jahre, in Louisiana, Nebraska und Oregon
18 Jahre für Knaben und Mädchen und in Utah 19 Jahre für Knaben
und Mädchen. ("The Delinquent Child and the Home", p. 250.)
— 110 —
gehört haben, den dehnquierenden Jugendhchen vor die
Grand Jury.
Die Industrial Schools des Staates New York bestehen
aus 26 im Cottagestil angelegten Wohnhäusern. 9) Auch
im Staate New York kann ein vor dem 16. Lebensjahre
einer Industrial School Zugewiesener bis zur Volljährig-
keitsgrenze in derselben zurückgehalten werden, aber er
kann auch schon nach Ablauf eines Jahres entlassen
werden. 10) Das bereits oben erwähnte on probation-Stellen
eines jugendlichen Delinquenten, welches eben an die
Stelle der Verurteilung tritt, gilt in 28 Staaten für Kinder
und in 23 Staaten im Zusammenhange mit den Jugend-
gerichten und in fünf Staaten ohne diese prozessuale
Neuerung. In zehn Staaten ist es auch bei erwachsenen
Verbrechern (Adult Probation System) anwendbar (Lenz,
a. a. 0., S. 124 f.).
Die George Junior Republic, in Freeville bei Ithaka im
Staate New York gelegen, ist eine von William George 1895
gegründete Privatanstalt. Dieselbe nimmt Knaben und
Mädchen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren auf, welche
°) Eine Beschreibung dieser Industrial Schools des Staates New York
bei Gleispach, a. a. 0., S. 51
Interessantes statistisches Material über die State Industrial
Schools im Report of the Commissioner of Education (siehe oben S. 5)
II., p. 1307 sq. Es gibt in den Vereinigten Staaten 115 solche Schulen
mit 51.387 Inmates; von diesen waren im Jahre 1911 39.696 Knaben
und 11.691 Mädchen, 44.843 Weiße (84.579 Knaben und 10.264 Mädchen)
und 6544 Neger (5117 Knaben und 1427 Mädchen).
Über die Reformschulen für die straffällige Jugend vgl. Baern-
reither, S. 64 f.
Eine Fürsorgeanstalt des Staates Illinois, in welche delinquierende
Knaben geschickt werden, ist die St. Charles School for Boys, St. Charles,
Illinois.
^*) Knaben unter zwölf Jahren können der Anstalt nur dann
überwiesen werden, wenn sich ihre Tat als Verbrechen darstellt; ist
der Knabe älter als zwölf Jahre, so kann er der Anstalt überwiesen
werden, gleichviel welcher Art die strafbare Handlung gewesen ist,
deren er sich schuldig gemacht hat. Die Anstalt nimmt ausschließlich ihr
vom Strafrichter überwiesene Knaben auf. Gleispach, a. a. 0., S. 6.
— 111 —
entweder von einem Strafrichter überwiesen oder welche
verwahrlost sind oder deren Verwahrlosung zu befürchten
wäre (Gleispach, a. a. 0., S. 12 ff.). Es wurde mir erzählt,
daß manchmal auch Eltern ihre Kinder, deren Wesen sie
nicht zu bändigen vermögen, dieser Anstalt übergeben.
Die Anstalt ist ebenso wie die bereits erwähnten Industrial
Schools nach dem System der offenen Tür und dem
Cottagesystem eingerichtet (Gleispach, a. a. 0., S. 13).
Holitscher, welcher drei Tage in Freeville geblieben
ist, er\vähnt (a. a. 0., S. 71), daß im Juli 1911 ungefähr
150 Knaben und Mädchen in der Anstalt sich befunden
haben. Das Interessanteste an der Anstalt ist die Selbst-
verwaltung n), welche die jugendlichen Detinierten üben.
Das sehr interessante Experiment scheint Anklang zu
finden, denn Gleispach erwähnt, daß neun andere An-
stalten nach denselben Grundsätzen eingerichtet sind.^^)
IV. Kapitel.
Die Strafanstalt Sing Sing.
Am Gründonnerstage, den 4. April 1912, habe
ich die Strafanstalt Sing Sing in Gesellschaft des
Vizekonsuls Dr. Fischerauer besucht. Wir fuhren
von Wall Street mit der Untergrundbahn, der soge-
nannten Subway, nach der 42. Straße und von dort mit
^^) Es gibt ein Parlament der Republik, einen Präsidenten und
Staatssekretäre, die zusammen mit dem Präsidenten das Kabinett bilden
und zugleich als Polizeikommissäre fungieren. Es gibt einen männlichen
und einen weiblichen Richter, es gibt Gerichtstage und Gerichtsverhand-
lungen. Holitscher (a. a. 0., S. 80f.) erzählt auch von einem Staats-
streiche, den er dort erlebt habe. Jeder Bürger hat seinen Lebensunterhalt
selbst zu verdienen. Die Beträge schwanken zwischen 50 und 90 Cents
pro Tag je nach der Arbeit. J. F. Muirhead (vgl. oben S. 7), p. 71f.
^^) Über die Junior Republic in Annapolis bei Baltimore, Maryland,
vgl. Reicher, a. a. 0., S. 27ff.; über einen ähnlichen Versuch berichtet
Gudden (siehe oben S. 10) S. 121 ff.: "Ein sehr glückliches Experiment
in der Handhabung der Disziplin machte der Superintendent des Refor-
— 112 —
der New York Central and Hudson River Rail Road
den Hudson River entlang nach dem 31 Meilen entfernten
Ossining. Wir fuhren natürlich mit einem Lokalzuge.
Die amerikanischen Eisenbahnen haben nur eine Wagen-
klasse.i) Der Zug hatte lange Durchgangswagen mit zwölf-
sitzigen Bänken und mit einem durch den ganzen Zug
führenden Korridor.
Die Gesellschaft ist natürlich eine recht gemischte.
Die Leute betragen sich erstaunlich gut. Die Atmosphäre
des amerikanischen Lebens, die gleiche Behandlung hat
einen merkwürdig hebenden und erziehenden Einfluß auf
das äußere Betragen auch der den unteren Gesellschafts-
schichten angehörigen Einwanderer.
Das Flußpanorama ist ein wunderschönes.
Nach einer guten Stunde Fahrt langten wir auf dem
Bahnhofe von Ossining an. In knappen zehn Minuten
brachte uns ein Wagen zur Strafanstalt Sing Sing,^)
Dr. Fischerauer hatte die Verwaltung von unserem
Kommen verständigt. Infolge meines ausgedehnten Tages-
programms hatten wir uns aber verspätet, so daß der
Chief Warden, welcher uns erwartet hatte, uns nicht
mehr persönlich geleiten konnte. Wir schlössen uns einer
amerikanischen Kommission an, welche ein Aufseher
führte.
matory zu Pontiak, 111., Mr. Mallary mit der Einfülirung einer Junior
Kepublic nach dem Vorbild der George Junior Republic in Freeville."
Auch hier findet sich eine förmliche Verfassung nach dem Muster der
Verfassung der Vereinigten Staaten.
^) Auf weiteren Fahrten benützt man freilich kaum einen ge-
wöhnlichen Zug, sondern einen der Expreßzüge mit Pullmann Cars,
in welchen man bei Tagfahrten einen Fauteuil, für Nachtfahrten ein
Bett (Berth) oder eine Section, das heißt eine ein Unterbett und ein
Oberbett enthaltende Abteilung, mietet. Ist man in der Lage, ein
eigenes Coup6 (für zwei Personen Compartment, für drei Personen
Drawing Room) zu mieten, reist man mit größtem Komfort. Für die
Miete eines solchen Coup6s genügt regelmäßig der Besitz einer Fahrkarte.
2) Die Einrichtungen der Gefängnisse des Staates New York werden,
wie ich einer mir aus Amerika zugehenden Nachricht entnehme, derzeit
von einer Staatskommission untersucht.
— 113 —
Die Gefangenen verbringen den Nachmittag, Abend
und die Nacht in ihren Einzelzellen. Nach dem System
des Strafvollzuges in Sing Sing soll jeder Inmate in
einer Einzelzelle untergebracht sein. Infolge der zeitweilig
großen Überfüllung der Strafanstalt ist aber oft eine
große Zahl von Inmates in gemeinsamen Schlafsäleai
untergebracht. Die Mahlzeiten werden gemeinsam ein-
genommen. Während der Tageszeit arbeiten die Inmates
in gemeinsamen Arbeitsräumen sowie in den Höfen. Die
Zellen sind von erschreckender Kleinheit und fensterlos.
Tageslicht und Luft erhalten die Zellen durch die eisernen
Gittertüren. Die hochgelegenen Fenster der Gänge
münden in Höfe, welche von niederen Umfassungs-
mauern umgeben sind. Die Zellen sind elektrisch be-
leuchtet.
Wir passierten die Arbeitsräume, wir sahen die
Räume, in welchen die gemeinsamen Mahlzeiten ein-
genommen werden, wir passierten die Unterrichtsräume,
in welchen gerade Unterricht erteilt wurde. Wir wurden
in einen Raum geführt, in welchem sich der elektrische
Hinrichtungsstuhl befindet. Die laute Unterhaltung der
Gesellschaft, mit welcher zusammen wir herumgeführt
wurden, veranlaßte den begleitenden Aufseher zu der
Bemerkung, daß sich unmittelbar neben dem Hinrichtungs-
raum 21 zum Tode Verurteilte befinden, welche der Ent-
scheidung über das gegen das Urteil eingebrachte Rechts-
mittel harren. Es macht einen eigentümlichen Eindruck,
daß diese 21 gerade in einem Raum untergebracht sind,
der an den Hinrichtungsraum anstößt. Der Richter be-
stimmt in dem zum Tode verurteilenden Erkenntnisse
gleich den Tag, an welchem die Hinrichtung zu vollziehen
ist. Der Delinquent weiß daher genau den Tag, wann er
hingerichtet werden wird, wenn bis dahin sein Rechts-
mittel oder sein Gnadengesuch keinen Erfolg gehabt
haben wird.
Das Gefängnis von Sing Sing ist ein State Prison,
ein Zuchthaus (Penitentiary) im Gegensatze zu einem
Hanansek, Amerikanische Skizzen. 3
— 114 —
Reformatory. Das Gefängnis wurde im Jahre 1826 gebaut
und ist ein veraltetes Haus. Der Zellentrakt ist gerad-
linig, nicht in Sternform gebaut und von geradlinigen
Umfassungsmauern umgeben, deren hochgelegene ver-
gitterte Fenster nach den Höfen führen. Innerhalb des
Zellentraktes gibt es keinen Hof, sondern die nach den
Gängen mündenden Zellen haben eine gemeinsame
Hintermauer.
Infolge gütiger Vermittlung des k. u. k. österreichisch-
ungarischen Generalkonsulats in New York hat mir der
Superintendent der Staatsgefängnisse des Staates New
York die Jahresberichte (Annual Reports) für die Jahre
vom 1. Oktober 1909 bis 30. September 1910 und vom
1. Oktober 1910 bis zum 30. September 1911 übersendet.
Der Bericht für das erste Jahr ist vom Superintendenten
C. W. Collins unterzeichnet, der Bericht für das letztere
Jahr ist datiert Albany, January 10 ^^^ 1912 und vom
Superintendenten Joseph F. Scott unterzeichnet. Der
Staat New York hat folgende Staatsgefängnisse: Sing
Sing, Auburn, Clinton, Great Meadow Prison. Das Great
Meadow Prison faßt 609 Zellen, die ersten Gefangenen
wurden im Februar 1911 hingebracht und das Gefängnis
enthielt am 30. September 1911 262 Gefangene. Außer
den vier genannten Gefängnissen hat der Staat New York
ein State Prison for Women und eine State Farm for
Women, ferner zwei Spitäler für geisteskranke Delin-
quenten, Matteawan und Dannemora Hospital for Insane
Convicts.
Der Jahresbericht für 1911 schließt mit einem Re-
port des Board of Parole for State Prisons für die Zeit
bis 30. September 1911. Aus diesem Bericht, p. 368,
entnehme ich unter anderem die Tatsache, daß durch
ein Gesetz vom Jahre 1907 die Strafe für Mord zweiten
Grades von lebenslangem Kerker auf eine "indeterminate"
Strafe mit einem Minimum von 20 Jahren und einem
Maximum der Verurteilung auf Lebenszeit herabgesetzt
worden ist. Während der vier Jahre der Geltung dieses
— 115 —
Gesetzes wurden 39 für lebenslang Verurteilte paroled,
von welchen fünf freigesprochen, begnadigt oder ge-
storben, zwei ins Gefängnis als Delinquenten zurück-
gekehrt sind und 32 sich in Freiheit gegen Parole be-
finden (p. 367).
Der erwähnte Bericht des Board of Parole enthält
auch die gesetzlichen Bestimmungen, durch welche das
Parole System immer mehr erweitert worden ist, und
konstatiert, daß die frühere Abneigung der Richter gegen
die Verhängung von unbestimmten Strafen und gegen das
Parole System immer mehr einer freieren Auffassung
weiche. Die letzte dieser Bestimmungen aus dem Jahre
1910, bekannt als die Gross Bill, besagt, daß jede un-
bestimmte (indeterminate) Strafe, welche auf ein die
Hälfte des Maximums iibersteigendes Minimum lautet,
auf die Hälfte des Maximums reduziert wird. Im letzten
Jahre wurden 1398 Anträge auf Gewährung der Ent-
lassung gegen Parole gestellt, und zwar 877 Erstanträge
(Initial Applications) und 521 Reapplications. Von ersteren
Anträgen wurde 644 Anträgen Folge gegeben, auf Grund
wiederholten Einschreitens (Reapplications, Rehearings)
wurden 184 Parolierungen ausgesprochen, im ganzen sind
also 828 Parolierungen ausgesprochen worden.
Es wird p. 10 des letzten Reports seitens des Super-
intendenten berichtet, daß seit 1900, dem Zeitpunkt des
Tätigwerdens des Boards von den gegen Parole Ent-
lassenen (von den Paroled) 81*3 Prozent den Bestim-
mungen der Parole (Terms of Parole) entsprochen haben,
während 18*46 Prozent wieder delinquiert haben und
von diesen Delinquenten wurden 43"81 Prozent in das
Gefängnis zurückgebracht. Die übrigen wieder Delin-
quierenden würden im Falle einer späteren Gefangen-
nahme zur Vollendung ihrer Strafe zurückgebracht
werden.
Durchschnittlich waren nach dem ersten der Jahres-
berichte (1. Oktober 1909 bis 30. September 1910) 1850
8*
— 116 —
Gefangene in Sing Sing. Im letzten Berichtsjahre betrug
die Durchschnittszahl 1720, vielleicht infolge der Ein-
richtung des früher erwähnten Great Meadow-Gefäng-
nisses. Im letzten Bericht (Einlage p. 5) wird die Er-
wartung ausgesprochen, daß, wenn das Great Meadow-
Gefängnis in seinem vollen Umfange wird belegt werden,
können, es möglich sein wird, in Sing Sing jeden Ge-
fangenen in einer Einzelzelle zu halten.
Die Kriminalität liat im Staate New York nach der
schweren ökonomischen Krise im Jahre 1907 im Jahre
1908 den Höhepunkt von 1633 erreicht und ist im Jahre-
1911 auf 1368 gesunken. Am 30. September 1912 betrug;
die Zahl der Gefangenen in Sing Sing 1528 (A. R., 1911,.
p. 50). Die Zahl der vom Bundesgerichte Verurteiltea
(United States Prisoners) betrug am 1. Oktober 1910 5,.
am 30. September 1911 1.
Die übrigen 1527 waren State Prisoners.^) Im letzten
Berichtsjahr wurden von den Insassen von Sing Sing;
39 vor Erreichung des Maximums des Strafsatzes wegen
guten Benehmens freigelassen, 3 auf Grund einer Um-
wandlung des höheren Strafsatzes in einen niederen (by
special commutation), 26 wurden freigelassen wegen Ab-
laufs des Maximums der Strafzeit (expiration of sentence),.
15 auf besonderen richterlichen Befehl (court order).
Paroled wurden 387, durch Elektrizität hingerichtet 5-
(electrocuted).*)
Im vorletzten Jahre (1909/11) wurden 9 electro-
cuted, begnadigt wurde nur 1, 10 gegen Parole Entlassene
wurden zurückgebracht. Die Gesamtsumme der Paroled
betrug im vorletzten Berichtsjahre 382. 2 Entflohene^
und 1 auf richterlichen Befehl zu Gericht Überstellter
wurden zurückgebracht.^)
ä) A. R., 1910, p. 30sq.; 1911, p. 27.
*) A. R., 1911, p. 27.
^) Der Bericht sagt: returned from Court ... 1 (A. R., 1910, p.30).
— 117 —
Die Zahl der Todesfälle im letzten Berichtsjahr be-
trug 1, im vorletzten Berichtsjahre 12.
Von den am 30. September 1911 in Sing Sing befind-
lichen 1528 Gefangenen waren 1304 Weiße, 221 Neger,
2 Chinesen und 1 Indianer.^)
Von den 1528 Insassen am 30. September 1911 waren
703 wegen Verbrechen gegen die Person, 623 wegen Ver-
brechen gegen das Eigentum, 158 wegen Verbrechen gegen
die Person und das Eigentum und 44 wegen sonstiger
Delikte verurteilt. Von der letzteren Gruppe (Miscella-
neous) waren 9 wegen Tragens verbotener Waffen,
1 wegen Flucht aus dem Gefängnis verurteilt.'^)
Im vorletzten Berichtsjahre befanden sich 1 Insasse
in Sing Sing wegen Depösiting obscene matter in United
States mail, also wegen Mißbrauchs der Post zu obszönen
Sendungen. 8) Am 30. September 1911 befanden sich 7
für lebenslang Verurteilte (Life Men), von denen 6 Mörder
of first degree und 1 Räuber of first degree waren 9),
sowie 14 zum Tode Verurteilte in Sing Sing.i^) Einschließ-
lich der 7 für lebenslang und der 14 zum Tode Ver-
urteilten betrug die Zahl der zu Determinate Sentences
Verurteilten 306 und die Zahl der zu Indeterminate Sen-
tences Verurteilten 1222.ii) Die Durchschnittsdauer der
Determinate Sentences war, abgesehen von der Ver-
urteilung auf Lebenszeit und der Todesstrafe, eine für
unsere Vorstellung außerordentlich hohe, nämlich
9 Jahre, 9 Monate und 8 Tage.^^) Auffallend ist die große
Variation der Strafsätze; ich finde 91 verschiedene Straf-
«) (A.R., 1911, p.52.) — Am 30. September 1910 waren 1488 Weiße,
231 Neger, 2 Chinesen und 1 Japaner in Sing Sing (A. R., 1910, p. 57).
') A. R., 1911, p. 55.
8) A. R., 1910, p. 59.
») A. R., 1911, p. 55.
") A. R., 1911, p. 57.
") A. R., 1911, p. 57 sq.
12) A. R., 1911, p. 57.
118 —
Sätze für die 285 zu Determinate Sentences Verurteilten^^)
und für die 1222 zu Indeterminate Sentences Verurteilten
393 verschiedene Straf sätze.i*) 20 der Insassen von
Sing Sing sind zu einer Strafe von 10 bis 20 Jahren ver-
urteilt, 1 zu 20 bis 40 Jahre, 1 zu 25 bis 49 Jahre, 2 zu
15 Jahre bis lebenslang und 106 zu 20 Jahre bis lebens-
lang. Die Durchschnittsdauer der einzelnen Strafen war,
abgesehen von den Strafsätzen von 15 und 20 Jahren
bis lebenslang 4 Jahre 6 Monate und 8 Tage im Minimum
und 6 Jahre 3 Monate und 26 Tage im Maximum. i^)
Der Jahresbericht 1911 verzeichnet 188 verschiedene
Berufe der 1528 Inmates, der Bericht 1910 205 ver-
") A. K., 1911, p. 55 sq. Es
waren zum
Beispiel:
2 zu 1 Jahre
1 zu 1 Jahre und 6 Monaten
1 „ 1 „ und 2 Monaten
1 „ 1
n r, 7
n
1 « 1 . „4 „
1 „ 1
. n 8
n
1 n 1 » n 6 «
1 « 1
. . 11
n
verurteilt, ferner wurden:
18 zu 20 Jahren
3 zu 25 Jahren
1 „ 21 „
1 . 29
n
1 „ 21 „ und 2 Monaten
1 „ 34
n
1 « 21 „ n ' n
1 « 34
„ und 4 Monaten
1 „ 22 „
1 . 36
n
1 n 23 „ - 6 „
1 . 42
n
2 „ 24 „
verurteilt. Den Haftstrafen werden manchmal Geldstrafen beigefügt,
zum Beispiel:
5 Jahre und 1000 Dollars Strafe
• n 5) '^50 „ „
") A. K., 1911, p. 57 bis 66. Das Mindestmaß war 1 Jahr bis
1 Jahr und 3 Monate; weitere eigenartige Beispiele:
1 Jahr bis 1 Jahr und 9 Monate und 1000 Dollars Strafe
1 _ und 5 Monate „ 4 Jahre „ 5 „ ....
1 » «11
n
n 2
»
. 11
2 Jahre „ 3
n
« 4
»
. 3
9 « « 11
»
„ 10
V
19 „ « 5
»
n 19
n
. 6
20 „
. 25
ji
r, 6
1000
15) A. K, 1911, p. 66.
119 —
schiedene Berufe der 1722 Inmates. Den Berufen nach
ist unter den Bewohnern von Sing Sing am 30. September
1911 1 Rail Road Inspector, 6 Rail Estate Brokers
(Inhaber von Grundvermittlungsbureaus), 6 Lawyers,
139 Drivers (Kutscher).
. . Dem Lebensalter nach waren:
1 15 Jahre alt
7 16 „ „
27 17 „ „
52 18 „ „
76 19 „ „
75 . 20 „ „
93 21 „ „
89 22 „ „
98 23 Jahre alt
89 . 24 „ „
68 ....... 25 „ „
76 . 26 „ „
79. .....27 „ „
72 28 „ „
.61 ... 29 „ „
57 30 „ „
Diese Ziffern sind darum interessant, weil Delin-
quenten bis zum 30. Lebensjahre nach Elmira geschickt
werden können, vorausgesetzt, daß sie zum erstenmal
wegen eines Verbrechens verurteilt sind und sich nicht
gewisser schwerster Verbrechen, zum Beispiel eines
Mordes, schuldig gemacht haben. Die hohen Ziffern sind
aber vor allem ein Beweis dafür, welch große Rolle im
amerikanischen Strafprozesse dem richterlichen Ermessen
zukommt. Die 5 ältesten Inmates sind 2 mit 67, 2 mit
68 und 1 mit 89 Jahren.i^)
Von den 1528 Inmates waren 743 in Amerika ge-
boren, 785 aber eingewandert (Foreign Borns), von
welchen bereits 173 Bürger geworden, 612 aber Aliens
") A. E., 1911, p. 69 sq. — Am 30. September 1910 waren noch
1 mit 78 Jahren, 1 mit 73 Jahren und 1 mit 79 Jahren Bewohner
der Strafanstalt Sing Sing (A. R., 1910, p. 84). Ich habe in einem der
Arbeitsräume, ich glaube in dem der Schneider, einen alten Mann mit
weißem Haar und Bart gesehen, der so anständig und ehrwürdig aus-
sah, daß mich sein Anblick gerührt hat. Ich konnte leider nicht
fragen, welches Deliktes der Mann sich schuldig gemacht hatte.
— 120 —
geblieben sind.i"^) Diese Ziffern sind ein Beleg dafür,
welch hoher Prozentsatz der Eingewanderten unter den
Delinquenten ist. 50 eingewanderte Österreicher waren
am 30. September 1911 leider Bewohner von Sing Sing,
von denen 12 Bürger der Vereinigten Staaten geworden
waren und 38 Aliens geblieben waren. In dem Berichte
von 1911 (p. 70) werden außerdem noch 2 Böhmen an-
geführt, die Aliens geblieben sind, und 15 Ungarn, von
welchen 2 Bürger der Vereinigten Staaten geworden sind
und 13 ihre Zuständigkeit behalten haben. i^)
Interessant ist, daß in dem Lande, in welchem die
Religion Privatsache ist, von den während des letzten
Jahres Eingelieferten 946 Inmates nur zwei keiner Re-
ligion angehörten. 19)
Von den im letzten Berichtsjahr eingelieferten
920 Inmates waren 416 zum erstenmal verurteilt, 351
schon früher in Sing Sing oder in einer anderen Straf-
anstalt gewesen, 101 einmal in Sing Sing, 37 zweimal,
12 dreimal und 3 viermal in Sing Sing gewesen. Leider
fanden sich unter den Insassen von Sing Sing 220, die
bereits früher in Elmira und 49, die in anderen Re-
formatories gewesen waren.^o)
In dem sehr interessanten Schulbericht (School
Report) des Head Teacher des vorletzten Berichtsjahres
ist mir die Anerkennung aufgefallen, die den Inmate
Teachers, den aus dem Stande der Gefangenen ent-
nommenen Lehrern, ausgesprochen wird.^i) Auch dem
") A. R., 1911, p. 71.
^*) Im ganzen waren also am 30. September 1911 65 eingewanderte
Österreicher und Ungarn leider Bewohner von Sing Sing.
lö) A. R., 1911, p. 74, finde ich folgende Ziffern: Protestant 320,
Catholic 484, Hebrew 140, no religion 2.
20) A. K, 1911, p. 72, p. 73.
^^) A. R., 1910, p. 99: Much credit is due the inmate teachers for
their enthusiasm in the werk and for the helpful spirit which they
continually manifest towards the pupils.
— 121 —
Fleiße der Schüler wird Lob ausgesprochen.*^) Im letzten
Berichtsjahre gab es 282 Schultage.^s)
Am 1. Oktober 1910 gab es 420 Schüler, zu welchen
weitere 291 hinzugetreten sind, so daß die Gesamtzahl
der Schüler im letzten Jahre 711 betragen hat.^*) Von
100 Schülern waren am 30. September 1910 82- 10 Ein-
gewanderte (Forßign Born), 1350 amerikanische Neger,
1*90 Amerikaner und 250 Kinder von Einwanderern
(Americans of foreign-born parents).^^) Da von den
711 Schülern 368 niemals in einer Schule gewesen sind
(wholly illiterate), 244 Subliterates, das heißt solche,
welche weniger als zwei Jahre und zwei Monate in irgend-
einer Schule gewesen sind und 99 Schüler solche waren,
welche nur in einer anderen Sprache als im Englischen
Unterricht genossen hatten, so ergibt sich aus dem Zu-
sammenhalten dieser Ziffern der ungeheuere Bildungs-
unterschied zwischen den nach Amerika Eingewanderten
und den in Amerika Geborenen.^ß)
Im A. R. 1911, p. 27 sq., wird die Beschäftigung von
1584 Inmates verzeichnet. Aus dem Verzeichnis ergibt
sich, daß 790 in den in der Anstalt betriebenen Industrien
verwendet wurden, so zum Beispiel 92 für das Clothing
Department, 155 für das Shoe Department, 500 wurden
für die Arbeit im Haus verwendet. 274 werden als „Idle"
(unbeschäftigt) bezeichnet, 13 als Condemned men und
7 als New men, das heißt welche noch nicht irgend-
einer Beschäftigung zugewiesen sind.
Der Agent und Warden der Strafanstalt Sing Sing,
John S. Kennedy, hatte die Güte, mir auf meine An-
frage mitzuteilen, daß die Inmates von den Officials der
Anstalt 20 Unzen Tabak monatlich kaufen dürfen und
außerdem zu gewissen Seasons eine Schachtel Zigarren.
*•) A. R., 1910, p. 99: The men do much preparation work in
their cells at night.
") A. R., 1911, p. 75. — 2*) A. R., 1911, p. 75. — ") A. R., 1910,
p. 98. — ««) A. R., 1911, p. 77.
— 122 —
Aiif dem Rückwege zur Eisenbahn sind mir die
Holzhäuser von Ossining aufgefallen.^^) Der Amerikaner
baut auf dem flachen Lande und in den Städten Holz-
häuser, auch die Wände sind aus Holz; er baut ja, um
rasch zu verkaufen, oder damit dem alten Hause rasch
ein neues folgen könne. An ein dauerndes Heim denkt
der Erbauer nicht. Auch kann es sich ja herausstellen,
daß der Verkäufer des Grundes und Bodens gar nicht
berechtigt war, den Grund und Boden zu verkaufen. ^s)
V. Kapitel. ■ '!
Das Reformatory von Elmira.
Ich verließ New York in der Nacht vom Ostersonntag
auf den Ostermontag (vom 7. auf den 8. April), genau
gesagt am Ostermontag zeitlich früh zwei Uhr, mit der
Delaware Lackawanna Western Railroad. Ich verließ
mein Hotel (Plaza) gegen elf Uhr nachts, fuhr nach einer
von der 23. Straße (W. 23 ^ Street) abgehenden Fähre
(Ferry), von dort nach Hoboken zur Eisenbahnstation.
Man kann den Schlafwagen bereits von halb zehn Uhr
abends an benützen, um zwei Uhr nachts verläßt dann
der Zug mit seinen schlafenden Passagieren New York.
Als ich früh erwachte, sah ich Schnee. Der Zug hatte
nachts eine Höhe von mehr als 1900 Fuß erstiegen.
Morgens wurde in Binghampton ein Dining Car ange-
hängt und um 9.20 a. m. kam ich in Elmira an. Ich
machte mich baldigst auf den Weg nach dem berühmten
Reformatory des Staates New York, dem in der Nähe der
Stadt Elmira gelegenen Reformatory gleichen Namens. Die
Stadt Elmira hatte nach dem letzten Zensus 37.176 Ein-
wohner.i)
") Vgl. Lamprecht, Americana, S. 30, der die Worte Uhlands
zitiert: "Das neue Haus ist aufgerichtet, gedeckt, gemauert ist es nicht".
28) Vgl. oben S. 100.
^) Im Jahre 1900 war die Zahl der Einwohner 35.672, der Prozent-
satz der Zunahme in den letzten zehn Jahren ist also nur 42.
— 123 —
I. Geschichte und Organisation dieses Re-
formatory.
Im Jahre 1869 wurde im Staate New York ein Gessetz
beschlossen, das die Errichtung einer Anstalt für die
Aufnahme von männlichen Straffälligen (Felons) im Alter
von 16 bis 30 Jahren bezweckte, und zwar solcher
Delinquenten, welche vorher wegen eines in einem Staats-
gefängnisse abzubüßenden Verbrechens nicht verurteilt
waren.-) Im Juli 1876 nahm die Anstalt die ersten Ge-
fangenen auf und im Jänner 1877 betrug die Zahl der
Gefangenen 164. Mit Benutzung der Arbeitsleistungen
der Gefangenen wurde die Anstalt 1877 vollendet und
seit dieser Zeit wurde das in Aussicht genommene System
für die Disziplin und die Beschäftigung der Gefangenen
eingeführt. Das im Jahre 1906 herausgegebene Hand
Book (vgl. oben S. 13) gibt die Zahl der Zellen mit
1264 an. Das Reformatory liegt an einem mäßig hohen
-) Der entscheidende Wortlaut des Gesetzes ist: "A male between
the ages of sixteen and thirty, convicted of a felony, who has not
theretofore been convicted of a crime punishable by imprisonment in
a State prison, may, in the discretion of the trial court, be sentenced
to imprisonment in the New York State reformatory at Elmira, to be
there confined under the provisions of law relating to that reformatory."
(§ 2185 Penal Law of the State of New York, vgl. oben.) — Vgl.
Baemreither, a.a.O., S. 86 f., Lenz, a.a.O., S. 214 f., Gleispach,
a. a. 0., S. 18 f.
Das vortreffliche Buch von Herr, Das moderne amerikanische
Besserungssystem (vgl. oben S. 10), bespricht die unbestimmte Ver-
urteilung (Kap. III), das Überweisungsverfahren und die Anstalts-
organisation (Kap. IV), die Behandlung in der Besserungsanstalt
(Kap. V), ferner die vorläufige und endgültige Entlassung (Kap. VT).
Die Ausführungen Herrs über die Behandlung in der Besserungs-
anstalt (S. 156 bis 328) sind sehr ausführlich und außerordentlich
interessant. Die Skizze über meinen Besuch in Elmira war bereits
niedergeschrieben, als ich von Herrs Buch sowie von der vortreff-
lichen Schrift von Hintrager, "Amerikanisches Gefängnis- und
Strafenwesen" (vgl. oben S. 10), Kenntnis erhalten habe. Bei Herr,
S. 417 ff., ist auch die umfangreiche Literatur über das Reformatory
System erschöpfend verzeichnet.
— 124 —
Tafelland (Table Land), Der eingeschlossene Raum be-
trägt 16 Acres. Westlich schließt sich eine Farm von
280 Acres an die Anstalt an, deren Erträgnisse den Be-
dürfnissen der Anstalt dienen.
Die Oberleitung der Anstalt steht dem Board of
Managers zu, welcher gemeinsam ist für die Strafanstalt
Elmira und das Eastern New York Reformatory at
Napanoch, Diese Behörde zählt derzeit sieben Mitglieder,
welche vom Gouverneur des Staates New York mit Zu-
stimmung des Senats ernannt werden. Das Amt wird
auf sieben Jahre verliehen. 3) Der Board of Managers
wählt jährlich aus seiner Mitte den Präsidenten, den Vize-
präsidenten und den Treasurer.*) Der Board of Managers
hält jeden Monat etwa Mitte des Monats eine Sitzung
ab. Zu seiner Kompetenz gehört die Genehmigung der
Anträge auf Erteilung der bedingten Entlassung (Parole)
sowie die Entlassung (Discharge). Es findet eine all-
monatliche Inspektion jedes der beiden Reformatories
statt, sei es durch die Majorität der Mitglieder des Board,
sei es durch ein Komitee seiner Mitglieder. Jeden Monat
berichtet dieser Board dem Gouverneur des Staates, dem
State Board of Charities, sowie dem fiscal Supervisor.^)
Dieser Board publiziert auch alljährlich vor dem
10, Jänner den Bericht über das mit dem 30. September
des Vorjahres ablaufende Verwaltungsjahr.ß) Der Board
ä) Hand Book, p. 6, p. 129. An ersterer Stelle wird die Amts-
dauer als eine fünfjährige bezeichnet. Die Managers beziehen kein
Gehalt, dürfen aber Reisekosten und andere Official Expenses ver-
rechnen. Die Ernennung der Managers wird so eingerichtet, daß
jedes Jahr ein Mitglied ausscheidet.
*) Gegenwärtig versieht der Vizepräsident das Amt eines Treasnrer
des Napanoch Reformatory und der Sekretär das Amt eines Treasurer
des Elmira Reformatory. (Report, 1912, p. 5.)
s) H. B., p. 130.
*) (Report of the State Board of Managers of Reformatories.)
Mir liegen vier solcher Berichte für die Jahre 1909, 1910, 1911 und 1912,
sowie das 1906 publizierte Hand Book of the New York State Refor-
matory of Elmira vor.
— 125 —
of Managers ernennt den Superintendenten.'^) Dieser
Superintendent ernennt dann alle anderen Beamten und
Bediensteten (Officers and Employes), welche durch den
Board und den Superintendenten wieder ihres Amtes
entsetzt werden können. Für jede der beiden Anstalten
gibt es einen Assistant-Superintendenten sowie den Chief
Clerk. 8) Der gegenwärtige Superintendent beider An-
stalten heißt Patrick J. McDonnel. Der gegen-
wärtige Assistant-Superintendent in Elmira heißt Frank
L. Christian und ist Doktor der Medizin (M. D.). Derselbe
hatte die Güte, mein Führer durch die Anstalt zu sein. 9)
Der gegenwärtige Private Secretary ist der Herausgeber
des bereits früher erwähnten Hand Book, Fred. C. Allen.
IL Die Entlassung geg^en Parole.
Sehr wenige von den Bewohnern (Inmates) von
Elmira sind in der Anstalt auf Grund einer sogenannten
Determinate Sentence. Es sind das jene Delinquenten,
welche von Bundesgerichten der Vereinigten Staaten
wegen Verbrechen gegen die Bundesregierung verurteilt
sind und welche "United States Definites" heißen. In
der Zeit vom 1. Oktober 1911 bis 30. September 1912
wurden 1231 New York Indefinites, dagegen nur 8 new
United States Definites eingeliefert.^o^ Die Indeterminate
') Derselbe kann aus guten Gründen (for cause), nachdem ihm
eine Gelegenheit sich zu äußern gegeben wurde, entlassen werden.
*) In Abwesenheit des Superintendenten und des Assistant-Superin-
tendenten ist der Chief Clerk Vertreter der beiden genannten Funktionäre
und übt sonach eventuell ebenfalls die höchste Gewalt in der Anstalt aus.
®) Dr. Christian war bis zum Jahre 1911 Chefarzt und ist
seither Assistant Superintendent.
10) Im Jahre 1910/11 (30. September 1910 bis 30. September 1911)
wurden 25 New United States Definites und ein New State Definite ein-
geliefert, dagegen 1222 New State Indefinites. Während eines ganzen
Jahres wurde also von den Gerichten des Staates New York nur ein
Delinquent zu einer bestimmten Strafe verurteilt und im letzten Berichts-
jahre erfolgte nicht eine einzige Einlieferung nach Elmira auf Grund
einer bestimmten Verurteilung eines Gerichtes des Staates New York.
— 126 —
Senfences bestehen darin, daß der Zeitpunkt der Frei-
lassung vom Board of Managers nach seinem Ermessen
bestimmt wird. Der zu einer unbestimmten Freiheits-
strafe Verurteilte kann aber nicht länger zurückgehalten
werden, als das Maximum der Zeit ist, für welche er
wegen des begangenen Verbrechens hätte verurteilt
werden können. Ein wegen Mordes oder ein lebens-
länglich Verurteilter kann nicht nach Elmira geschickt
werden. Es gibt aber derzeit Inmates in Elmira, für
die wegen Totschlages (Manslaughter) 20 Jahre und Mord-
brenner, für welche wegen des ersten Grades dieses
Verbrechens (crime of arson) der höchste Strafsatz von
40 Jahren gelten würde. Die Einrichtung des Reformatory
ist eine solche, daß ein Gefangener auch für derartige
Maximalzeiten zurückgehalten werden könnte. Es kommt
selten vor, daß eine Strafe von fünf Jahren oder mehr
ganz vollstreckt wird, selbst bei Strafen von zweieinhalb
Jahren ist es selten, daß die ganze Strafe vollstreckt
wird. Der gegenwärtigen Praxis des Board of Managers
des Reformatory in Elmira entspricht es, daß 13 bis
16 Monate die Durchschnittsdauer sind, während welcher
ein Inmate zurückbehalten wird.^i)
Die Bedingungen, unter welchen ein Gefangener vor
dem Maximum der vorgeschriebenen Zeit freigelassen
wird, sind folgende : Sein allgemeines Benehmen (General
Demeanor) und seine Leistungen sowohl in der School
of Letters wie in der Trades School müssen so sein,
daß der Board of Managers gute Ursache hat zu glauben,
er werde sich in der Freiheit so benehmen, wie es die
Gesetze von einem Bürger erwarten, er werde ein "Law-
abiding Citizen" sein. Für die bedingte Freilassung ist
auch notwendig, daß der zu Entlassende eine Beschäfti-
gung in der Freiheit erhalte, und zwar womöglich in der
Stadt, von welcher aus er verurteilt wurde (from which
^^) Die vorstehenden Angaben gründen sich auf mündliche und
schriftliche Mitteilungen des Dr. Christian.
— 127 —
he was sentenced) und in dem Gewerbe, das er im Refor-
matory gelernt hat (H. B., p. 8sq.). Von einem solchen Frei-
gelassenen sagt man, er sei paroled. Der Paroled erhält
ein Parole Paper, welches gedruckte Instruktionen ent-
hält, die er genau zu befolgen hat, falls er die dauernde
und absolute Freilassung aus dem Reformatory erhalten
soll. In diesem Parole Paper heißt es, daß der Gefangene
paroled worden sei unter der Bedingung, daß er in
seinem Verhalten ehrlich sein werde, und daß er schlechte
Gesellschaft und berauschende Getränke zu vermeiden
habe, daß er sich sofort an den Ort seiner Beschäftigung
hinzubegeben und dort durch mindestens sechs Monate
in der gewählten Beschäftigung zu arbeiten habe, es
wäre ihm denn der Wechsel des Ortes oder der Beschäfti-
gung oder beider gestattet worden. Femer daß er monat-
lich einen Bericht an den General-Superintendenten mit
einer genauen Schilderung seines Lebens und seiner Um-
gebung zu machen habe und ob er in dem letzten Monate
fleißig gewesen sei und entsprechend verdient habe, und
wenn er nicht entsprechend verdient habe, warum er nicht
verdient habe. Dieser Bericht (Report) muß zuvor die
Genehmigung eines Agenten des Reformatory erhalten,
welcher in dem Orte lebt, von welchem aus der Ge-
fangene verurteilt wurde (from which he was sentenced).
Die Funktionen eines solchen Agenten versieht für die
Stadt New York die New York Prison Association, für
die übrigen Städte gewöhnlich der Chef der Polizei oder
ein anderer Peace Officer, Nach sechs befriedigenden
Monaten erhält der Paroled gewöhnlich seine endgültige
Freilassung. Die die Aufsicht führenden Organe (Super-
vising Officers) haben insbesondere die den gegen Parole
Entlassenen zugehenden Arbeitsgelegenheiten (Offers of
Employment) zu prüfen und bemühen sich häufig selbst
um die Verleihung einer Arbeitsgelegenheit für den
Paroled.i2)
^■^) Vgl. H. B., p. 51. — H. B., p. 9: "The parole paper informs
the prisoner that the board of managers has decided to parole him
— 128 —
Hat der Board of Managers Grund anzunehmen, daß
ein gegen Parole Entlassener die Bestimmungen der
Parole verletzt habe, so verfügt er durch einen vom
Sekretär unterzeichneten Auftrag die Rückeinlieferung des
Gefangenen.i3)
Es gibt auch eine Parole of Invahds für den
Fall ernster Erkrankung, deren Heilung im Falle der
Zurückbehaltung im Reformatory unwahrscheinlich wäre.
with the understanding that he is to be honest in his dealings; that
he is to ayoid evil associates and abstain from intoxicating beverages ;
that he is to proceed immediately to the place of employment provided
for him and there remain, steadily at work for at least six months,
unless in the meantime, he shall obtain from the management of the
reformatory, permission to change his location, or class of employment,
or both; that each month he is to make a written report to the
general Superintendent, giving a somewhat detailed Statement in
regard to himself and his surroundings, and telling whether or not he
has been steadily earning wages during the past month, and if not,
the reason for his failure so to do. This report, before it can properly
be accepted by the general Superintendent, must receive the certification
of a duly authorized supervising agent of the reformatory, residing in
the locality from which the prisoner was sentenced. Such agent, for
the city of New York, is the New York Prison Association, and for
towns outside that city, usually the chief of police, or other peace
officer. After making six satisfactory monthly reports to the mana-
gement, paroled men are usually given an absolute release from the
reformatory."
^^) Vgl. die folgenden, in H. B., p. 136 sq., mitgeteilten gesetz-
liehen Bestimmungen:
1. Parole of Prisoners. The board of managers may allow any
prisoner confined therein to go upon parole outside of the reformatory
buildings and enclosures, pursuant to the rules of the board of mana-
gers. A person so paroled shall remain in legal custody and under
the control of the board, until his absolute discharge as provided by
law. No personal appearances before the board shall be permitted in
behalf of the parole or discharge of any prisoner. (Chap. 378, Laws of
1900, § 20.)
2. Supervision of Paroled Prisoners. The board of managers may
appoint and at pleasure remove suitable persons in any part of the
State, who shall supervise paroled prisoners and perform such other
lawful duties as may be required of them by such board. Such persons
— 129 —
Voraussetzung dieser Art der Parole ist, daß sich Ver-
wandte oder Freunde finden, die den Gefangenen zu
versorgen bereit sind (H. B., p. 9 sq.).
Am 30. September 1911 betrug die Zahl der Inmates
1287, der Zuwachs in der Zeit vom 1. Oktober 1911
bis 30. September 1912 betrug 1340, so daß die Gesamt-
zahl der Gefangenen, welche während des letzten Be-
richtsjahres Bewohner von Elmira waren, 2627 betragen
hat, und von diesen wurden 929 paroled, 377 in andere
Anstalten abgegeben.^*)
shall be subject to the direction of the board. They may be paid a
reasonable compensation for their Services, which will be a charge
upon and paid from the funds of the reformatory. (Chap. 378, Laws
of 1900, § 26.)
3. Betaking of Paroled Prisoners. If the board of manager has
reasonable cause to believe that a paroled prisoner has violated the
conditions of his parole, the board may issue its Warrant certified by
its secretary, for the retaking of such prisoner at any time prior to
his absolute discharge. The time within which the prisoner must be
retaken shall be specified in the Warrant. Such Warrant or Warrants
may be issued to an officer of the reformatory or to any peace officer
of the State, who shall execute the same by taking such prisoner into
custody within the time specified in the Warrant. Thereupon such
officer shaU return such prisoner to the reformatory, where he may
be retained the remainder of the maximum term provided by law.
(Chap. 378, Laws of 1900, § 21.)
Die New York Prison Association kommt für das Eeformatory
in Elmira natürlich vorzugsweise in Betracht. Das Reformatory zahlt
dieser Association für ihre Bemühungen eine bestimmte Summe. Ebenso
erhält der Parole Agent in Buffalo ein bestimmtes Entgelt, während
die anderen Peace Officiers unentgeltlich tätig sind. (H. B., p. 52.)
^*) Transferred to Napannoch Ref 342
„ „ Anbum State Prison 3
„ „ Dannemora Hospital 32
Total Transferred . . 377
Von den 929 Paroled waren 878 Regulär Paroles, 15 Invalid
Paroles und 2 Definites Paroled.
Am 30. September 1910 betrug die Zahl der Inmates 1112. Der
Zuwachs bis 30. September 1911 betrug 1359, so daß die Gesamtzahl
der Gefangenen während des Jahres 1911 2471 betragen hat. Die
Zahl der Gefangenen von Elmira hat also im Jahre 1912 zugenommen.
Hanaasek, Amerikanische Skizzen. 9
— 130 —
Das Begnadigungsrecht wird selten geübt; im
Jahre 1912 wurde nur ein Inmate vom Gouverneur des
Staates New York begnadigt.i^)
Im letzten Berichtsjahre wurden 5 entlassen, weil
das geringste Strafausmaß abgelaufen war, und 9, weil
die Maximum Sentence abgelaufen war. Die Zahl der
Todesfälle im letzten Berichtsjahr war 6, die Zahl der
Gefangenen am 30. September 1912 war 1297.
Von den 929 Paroled haben bis zum 30. September
1912 265 ihre Freiheit erlangt, 525 führen sich gut und
sind im Begriffe, ihre Freiheit zu erlangen, so daß
im ganzen 790 der gegen Parole Entlassenen, also
853 Prozent entweder ihre Freiheit schon gewonnen
haben oder infolge guter Führung im Begriffe sind, sie
zu gewinnen. 16)
III. Innere Einrichtung.
Die Gefangenen werden in drei Grade geteilt. Jeder
Gefangene wird nach seiner Einlieferung in den zweiten
Grad eingereiht, von welchem er, wenn er sich gut be-
trägt und gute Noten im Unterricht und in den Arbeits-
schulen hat^'^), in den ersten Grad aufsteigen kann, im
anderen Fall aber in den dritten Grad versetzt wird.
Sechs Monate entsprechendes Betragen im zweiten Grade
sichert das Aufsteigen in den ersten Grad und ein sechs-
monatliches korrektes Betragen im ersten Grad gibt dem
Gefangenen Anspruch, für die Entlassung gegen Parole
1») R., 1912, p. 10. — Im Jahre 1911 wurde 1 Inmate vom
Präsidenten der Union und 1 vom Gouverneur begnadigt.
^^) Vgl. folgende gesetzliche Bestimmung:
Absolute Release from Imprisonment — Discharge. Where it appears
to the board of managers that there is strong or reasonable probability
that any prisoner will remain at liberty without violating the law,
and that his release is not incompatible with the welfare of society,
they shall issue to such prisoner an absolute release or discharge from
imprisonment. (Chap. 378, Laws of 1900, § 24.) (H. B., p. 137.)
^■') — — by making a good record in demeanor, school of letters
and trades school. (H. B., p. 10.)
— 131 —
in Betracht gezogen zu werden. Der Gefangene des dritten
Grades kann auf Grund eines entsprechenden Betragens
durch wenigstens einen Monat wieder in den zweiten
Grad versetzt werden. Ein Gefangener des ersten Grades
kann auch in den dritten Grad versetzt werden, aber
ein Aufsteigen findet immer nur um einen Grad statt.
Die verschiedenen Grade sind durch verschiedene
Kleidung kenntlich gemacht. Die Gefangenen des ersten
und zweiten Grades tragen im Winter einen schwarzen
Rock und graue Hosen, im Sommer eine Khaki-Uniform.
Eine am Kragen des Jacketts getragene Ziffer zeigt den
Grad an. Die Gefangenen des dritten Grades tragen rote
Röcke und rote Hosen (H. B., p. 10 sq.).
Charakteristisch für das Elmira Reformatory ist das
sogenannte Marking System. Jeder Gefangene erhält vom
Tage seiner Einlieferung bis zu seiner Freilassung einen
bestimmten täglichen Betrag auf Grund einer Schätzung
seiner Leistungen. Dieser Betrag wird ihm gutgebucht
und hat die Bestimmung, eine Art Lohn zu repräsentieren
(to represent wages).
Das Konto jedes der Gefangenen wird aber auch
belastet mit den Kosten von allem, was er erhält, für
Mahlzeiten, Wohnung, Kleider, ärztliche Behandlung und
für gegen ihn ausgesprochene Geldstrafen (fines in-
curred). Nichts erhält der Gefangene unentgeltlich mit
Ausnahme seiner ersten Ausstattung mit Kleidern und
gewissen zur Kleidung zu zählenden Gegenständen. i^)
Es ist für den Gefangenen von mittlerer Gesundheit und
Intelligenz möglich, alle seine Kosten zu bezahlen und
sich noch eine kleine Summe für den Fall der Frei-
lassung zu ersparen, welche zur Deckung der Kosten
^^) Zu der ersten Ausstattung, welche dem Gefangenen unent-
geltlich geliefert wird, gehören folgende Gegenstände: coat, vest,
trousers, shirt, two suits of underclothes, cap, shoes, stockings, wash-
basin, water-cup, broom, dust-pan, comb, hair-brush, tooth-brush,
blacking-brush, box of blacking, towel, soap, four sheets, two pillow-
•cases and one blanket. (H. B., p. 12.)
9*
— 132 —
des Transports an seinen Arbeitsort und seines Unter-
halts genügt, bis er den ersten Lohn in der Freiheit
erhält.
Die Gefangenen erhalten ihre Mahlzeiten in Speise-
sälen, in welche sie nach ihrem Grad entsprechend ein-
geteilt sind. Die Speisen sind von gleicher Qualität, aber
die Rationen des ersten Grades haben eine etwas größere
Abwechslung als die der übrigen Grade. Ganz eigen-
tümlich ist folgende Einrichtung : Die Gefangenen der
ersten Klasse, welche bei ihren Ausgaben sparsam waren
und so einen kleinen Überschuß erübrigt haben, nehmen
ein besonderes Speisezimmer ein und bekommen eine
reichhaltigere Mahlzeit als ihre Genossen, für das Mehr
wird natürlich ihr Konto belastet. Diese Gefangenen
dürfen auch während des Speisens sprechen, während
die übrigen während des Essens schweigen müssen. Ich
hatte Gelegenheit, durch die Speisesäle zu gehen, während
gerade die Inmates in dieselben geführt wurden und ihr
Mittagessen einnahmen. Ich sah die Zimmer, in welchen
geschwiegen werden mußte, und jene, in denen junge
Leute bei einer Mahlzeit fröhlich plauderten. Der Genuß
von Tabak in jeder Form ist in Elmira (im Unterschied
zu Sing Sing) verboten.
Die Schlafzimmer der Gefangenen sind 7 Fuß
breit, 8 Fuß lang und 9 Fuß hoch; jedes hat einen
eigenen Ventilator, welcher zum Dache führt. Die
Wände sind weiß gewaschen, in jedem Zimmer ist
eine eiserne Bettstelle, ein hölzerner Schrank, Tisch
und Sessel sowie eine elektrische Lampe. Der Zellen-
trakt ist nicht sternförmig angelegt, sondern es ist
ein großer viereckiger Block, welcher im Parterre und
in drei Stockwerken die Zellen enthält. Die Zellen
haben Gittertüren und in jedem Stockwerk schließt ein
Gitter sämtliche Zellen ab. Die Kleider der Gefangenen
werden in der Anstalt hergestellt. Die ärztliche Behand-
lung ist eine außerordentlich sorgsame. Die Gefangenen
können sich zur ärztlichen Sprechstunde melden, das.
— 133 —
heißt der Arzt macht jeden Tag einen Gang durch die
sämtlichen Gebäude des Instituts und bestellt eventuell
die Gefangenen, die sich gemeldet haben, zum Senior
Physician. Die Rechnung jedes Gefangenen wird mit
einem kleinen Betrag für jede Inanspruchnahme des
Arztes belastet (H. B., p. 12). Das Konto der Inmates
wird auch durch Strafsummen belastet, welche für
die Verletzung der Institutsdisziplin auferlegt werden
oder für schlechten Fortgang bei den Schulprüfungen.
Wenn die verhängten Strafsummen (Fines) einen be-
stimmten Betrag übersteigen, so wird der betreffende
Monat nicht eingerechnet. Umgekehrt gilt ein Monat, in
welchem die Strafsumme einen bestimmten Betrag nicht
erreicht, als ein perfect Month, sowohl bezüglich des
Aufsteigens in einen höheren Grad wie auch für die
Erteilung der Parole. Jeder aufsichtsführende Beamte
(Citizen Officer) ist befugt, eine solche Strafe in Antrag
zu bringen, die von dem Disciplinary Officer nach durch-
geführter Untersuchung verhängt wird. Die Straferkennt-
nisse unterliegen der Berufung an den General-Super-
intendenten. Aufgefallen sind mir eine Reihe von In-
mates mit einem kleinen metallenen Maltheserkreuz auf
dem Kragen des Jacketts. Es ist dies ein Ehrenzeichen
(Badge of Honor), welches den Inmates des ersten Grades
verliehen werden kann. Wer dieses Ehrenzeichens ver-
lustig geworden ist, kann es nicht wieder bekommen.
Über die Führung der Gefangenen gibt ein Hauptbuch
(Ledger) Aufschluß, von welchem später noch zu sprechen
sein wird.
Was die Tageseinteilung der Gefangenen betrifft, so
ist dieselbe die folgende : Während der Morgenstunden
bis gegen zehn Uhr sind eine große Anzahl der .Ge-
fangenen mit häuslichen Verrichtungen beschäftigt,
während andere einschließlich aller Neuankömmlinge
militärische Übungen mitmachen. In dieser Zeit turnen
auch diejenigen Gefangenen, denen der Arzt besondere
Turnübungen oder sonstige Behandlung vorgeschrieben
— 134 —
hat, in der Institutstumanstalt, auf welche ich später
noch zu sprechen komme. Nach zehn Uhr finden
dann militärische Exerzitien statt, die bis gegen
Mittag dauern. Die Gefangenen essen um zwölf Uhr.
Nachmittags bis gegen halb vier Uhr arbeitet jeder
in der Handwerksschule, der er zugewiesen ist. Von
da ab gehen sie in die verschiedenen Schulklassen. Der
Unterricht findet bis gegen fünf Uhr statt. Nach dem
Nachtmahl, um halb sechs Uhr wird jeder in seiner Zelle
eingeschlossen, in welcher er ruhen, lesen oder
studieren kann bis zur Schlafenszeit um halb zehn Uhr.
Am Mittwoch nachmittag findet statt des sonstigen Schul-
unterrichtes in einer der beiden Schulen (der Trade School
und der School of Letters) ein Unterricht im Maschinen-
zeichnen statt. Dann wird noch exerziert und es findet
eine Dress Parade statt. Samstag vormittag wird gebadet,
der ganze Samstag nachmittag wird militärischen Übungen
gewidmet, welche mit einer Parade schließen, von welcher
noch zu sprechen sein wird. Sonntag früh findet Gottes-
dienst für Katholiken, Protestanten und Juden statt,
dann Unterricht in Ethik und Geschichte. Sehr inter-
essant sind die Einrichtungen in der School of Letters.
Es gibt 32 Schulzimmer. Den Unterricht in der Arithmetik
und den Sprachunterricht erteilen Inmate Instructors,
die übrigen Unterrichtsgegenstände lehren der Schul-
direktor, der Kaplan und auswärtige Lehrer. Die Kurse
in der Arithmetik zerfallen in 11 Gruppen oder Grade
einschließlich des Preparatory oder des 11*^ grade.
In jedem Grad gibt es einen viermonatigen Kurs und
die Prüfungen finden monatlich statt. Auch die Unter-
richtsstunden in der Sprache (Language) sind in Grade
eingeteilt, und zwar in neun Grade einschließlich des
Preparatory-Grades. Jeder Kurs dauert vier Monate. Der
Lehrstoff ist ganz genau vorgeschrieben. Es gibt dann
ferner noch Unterricht in amerikanischer Geschichte,
Naturwissenschaften (Nature Studies), Ethik, Soziologie,
Literatur. An die Zöglinge werden gedruckte Skizzen
— 135 —
verteilt, welche die wichtigsten Punkte, auf welche sich
die Unterrichtsstunden beziehen, enthalten.i^) Jeder ein-
gelieferte Gefangene wird von dem Schuldirektor nach
einer Unterredung der entsprechenden Klasse zugewiesen.
Längerer Darlegungen bedarf die Trades School. Der
Vorstand ist ein Citizen Officer. Er unterrichtet im
mechanischen Zeichnen, an welchem Unterricht alle Zög-
linge der Trades School teilnehmen. Derzeit werden 29 Ge-
werbe in der Trades School gelehrt.^o) Vorstand jeder
dieser Abteilungen ist ein Citizen Instructor, welcher
durch eine Anzahl von Inmate Instructors unterstützt
wird. Die Erzeugnisse werden, soweit sie nicht für den
Hausgebrauch dienen oder für öffentliche Zwecke, nicht
verkauft. Der Hauptzweck ist, den Gefangenen zu unter-
richten, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich selbst
später zu erhalten. Das ist der hauptsächlichste und
einzige Zweck der Arbeit, selbst wenn der Unterricht
und die Arbeit keinerlei nützliche oder verkäufliche Pro-
dukte fördern würden. ^i) Für jedes der Handwerke ist
ein bestimmter Lehrplan vorgeschrieben, welcher in
mehrere Grade zerfällt. Das Aufsteigen findet nach einer
Prüfung statt. Der prüfende Citizen Officer erteilt eine
bestimmte Ziffer als Note. Eine bestimmte Stundenzahl
ist für den Unterricht in jedem der einzelnen Grade
fixiert.
Ich habe mit Dr. Christian die vielen Gebäude
dieser Trades School durchschritten, die Lehrer beim
Unterricht und zahlreiche Zöglinge bei der Arbeit zu
^') As aids to memory printed memoranda, termed outlines are
issued to the pupils; these contain the salient points upon which the
lectures are based.
-") Barber, Bookbinder, Brass-smith, Bricklayer, Cabinet-maker,
Carpenter, Clothing cutter, Electrician, Frescoer, Hard-wood finisher,
Horseshoer, House-painter, Iron-forger, Machine-wood-worker, Machinist,
Moulder, Paint-mixer, Plasterer, Plumber, Printer, Shoemaker, Sign-
painter, Steam-fitter, Stenographer and Typewriter, Stone-cutter, Stone-
mason, Tailor, Tinsmith, Upholsterer.
^1) Vgl. H. B., p. 134.
— 136 —
beobachten Gelegenheit gehabt. Ich fand überall größte
Ordnung, Reinlichkeit und Disziplin. Die vertrauensvolle
Art, mit welcher zahlreiche Inmates dem Dr. Christian
allerlei Anliegen vorbrachten und die überaus menschen-
freundliche Art, mit welcher er diese Anliegen wohl-
wollend lächelnd entgegennahm und beschied, hat mich
sehr sympathisch berührt.
Besonders zu erwähnen ist noch der Unterricht in
der Stenographie und im Maschinschreiben. Die Klasse
hat 24 Zöglinge, einen Citizen Instructor und drei Inmate
Teachers. Der Unterricht findet zweimal in der Woche
durch je zwei Stunden statt. Der Unterricht ist in sieben
Stufen eingeteilt, für deren jede zwei Monate bestimmt
sind. Zum Schlüsse der fünften Stufe sollen die Zög-
linge 50, nach der sechsten Stufe 80 Worte und nach
der siebenten Stufe 100 Worte zu stenographieren in der
Lage sein (H. B., p. 31 sq.).
Mein Besuch in der Anstalt fiel in eine Vormittags-
stunde, in welcher noch in der großen Halle militärische
Übungen stattfanden. Ich konnte durch längere Zeit den
Übungen des Institutsregiments beiwohnen. Es war ein
eigenartiger interessanter Anblick. Aufgefallen ist mir,
in welch frischer Art sich die jungen Leute an den
Übungen beteiligten. Zum Schlüsse der Übungen zogen
die einzelnen Abteilungen unter Vorantritt der Musik-
kapelle ab.
Über die militärische Organisation ist folgendes zu
bemerken: Das Military Department steht unter dem
Kommando eines Offiziers, welcher Oberst heißt, und
die Gefangenen sind als Reformatory Regiment organi-
siert. Es gibt auch einen Stellvertreter des Komman-
danten, den Lieutenant Colonel. Alle Gefangenen, welche
nicht durch ärztliches Attest befreit sind, werden dem
Regimente zugewiesen. Die Neuankommenden werden
vor dem gemeinsamen Exerzieren noch besonders ein-
geübt. Die Anfänger in militärischen Übungen bilden
zusammen eine Abteilung, welche Awkward Squad (Re-
— 137 —
krutenabteilung) heißt. Das Regiment hat ungefähr
1200 Mann, die in vier Bataillone zu je vier Kompanien
eingeteilt sind. Jedem Bataillon steht ein Citizen Major
vor und jeder Kompanie ein Citizen Captain. Alle
anderen Offiziere sind Inmates. Die Inmate Officers
haben im Sommer eine Khaki-Uniform, im Winter eine
schwerere aus lichtblauem Tuch. Für die Parade tragen
die Inmate Officers einen weißen Gürtel über Kreuz und
einen Säbel aus Holz, welche für den Leutnant und
den Regimentsadjutanten wirkliche Säbel sind. Es gibt
auch eine Regimentsmusik (Regiment Brass Band),
25 Musiker und einen Tambour Major. Zweimal wöchent-
lich sind Dress-Paraden. Auch Alarmierungen kommen
vor (H. B., p.43sq.). Die Samstag-Parade des Regiments
ist eine Art Fest für die Bewohner der Umgegend. Man
liest innerhalb und außerhalb Anschläge, welche Damen
und Herren zur Besichtigung der Parade einladen.
Der Dienst in dem Guard Room Office wird von einem
Beamten (Citizen Clerk) versehen, welchem einige In-
mates als Clerks und Stenographen assistieren. In diesem
Raum wird einmal das biographische Register geführt,
in welchem die auf die Lebensführung des Gefangenen vor
der Einlieferung in die Anstalt und während seines Auf-
enthaltes in der Anstalt sich beziehenden Daten einge-
tragen werden (Einreihung in die Grade, Parolierung,
gänzliches Freiwerden). Ferner wird in diesem Office
auch das Conduct Ledger, ein Buch über die Führung
des betreffenden Inmate, geführt. In diesem Buche finden
sich auch Aufzeichnungen über das tägliche Verhalten
eines jeden Gefangenen (Routine). In demselben ist
also verzeichnet, in welcher Schulklasse sich der Inmate
befindet sowie in welcher Handwerkschule, ferner die
Noten, welche er bei den Prüfungen erhalten hat, ebenso
etwaige Geldstrafen (Eines), welche er erlitten hat, seine
Einnahmen in Marken und seine Ausgaben. Aus diesem
Buche ist also der tägliche Saldo für den betreffenden
Inmate ersichtlich. Die für jeden Inmate bestimmten
— 138 —
Blätter können nach der Entlassung dann aus diesem
Buche gelöst und besonders aufbewahrt werden. Ein
Blick in diese beiden Bände, das biographische Register
und dieses Conduct Ledger, läßt also ersehen, wann etwa
der betreffende Inmate voraussichtlich paroliert werden
dürfte. Dr. Christian schlug mir die Blätter mehrerer
Prisoners in den beiden Bänden auf und sagte mir von
jedem einzelnen, wann etwa der Betreffende gegen Parole
entlassen zu werden Aussicht hätte. Ich fand im Haupt-
buchblatt eines wegen Tragens verbotener Waffen Ver-
urteilten als Strafsatz sieben Jahre eingetragen.
Über dem Zellentrakt liegt das große Auditorium,
ein großer Saal, welcher für die gottesdienstlichen Ver-
sammlungen bestimmt ist sowie für die Konzerte und
Vorstellungen, welche den Inmates öfters geboten
werden.22)
Es existiert eine große Anstaltsbibliothek, welche im
Jahre 1906 gegen 4000 Bände hatte. Außerdem sind 50 perio-
dische Zeitschriften, und zwar 3 New Yorker und 2 lokale
Tagesblätter, ferner mehrere religiöse Zeitschriften und
viele von den wichtigsten populären Wochen- und Monats-
magazinen, außerdem Zeitschriften über die Enwicklung
der einzelnen Gewerbe (Trades), welche im Refor-
matory gelehrt werden (H. B., p. 53 sq.), vorhanden. Im
Jahre 1911 hatte die Bibliothek 6000 Bände, davon
ein Drittel nicht belletristischen Inhalts. 85.000 Bände
wurden im Jahre 1911 ausgeliehen. Jeder Inmate be-
kommt nach seiner ersten Unterredung mit dem Schul-
direktor einen Katalog. Die Bücher, die er benützen
darf, hängen von seiner Einreihung in die Schule ab.
Die Bücher belletristischen Inhalts sind nicht in dem
Kataloge verzeichnet, sondern werden vom Schuldirektor
nach seinem Ermessen auf schriftliches Ansuchen aus-
geteilt. Jeder Gefangene kann auch auf schriftliches An-
^) Im Report für 1912 wird über eine neue Ventilationsvorrichtung
in diesem Auditorium berichtet.
— 139 —
suchen eine Zeitschrift, welche sich auf das Gewerbe
bezieht, in welchem er unterrichtet wird, bekommen.
Jeder hat das Recht, wöchentlich mindestens ein Buch
zu bekommen. 23)
Die Anstalt hat eine eigene Druckerei, in welcher
ihre eigenen Publikationen, die Reports und das oben
erwähnte Hand Book gedruckt werden. In dieser
Druckerei wird auch eine eigene Zeitung "The Summary"
gedruckt. Diese Zeitung erscheint wöchentlich, und zwar
jeden Samstag abend in Nummern zu acht Seiten.^*)
An gewissen Festtagen erscheinen Nummern zu 24 Seiten,
so zu Weihnachten, Neujahr, zu Ostern, am Independence
Day und am Thanksgiving Day.^s) Diese Zeitungen sind
'^^) Hintrager, a. a. 0., S. 89, erwähnt, daß er in einer amerir
kanischen Strafanstalt ein Billardzimmer der Krankenpflegerinnen ge-
sehen habe. Daß in Elmira solche Räume den Inmates nicht zur Ver-
fügung stehen, wurde mir mit Bestimmtheit versichert. Ich hebe dies
darum hervor, weil die angeblichen Annehmlichkeiten des Lebens der
Inmates in den amerikanischen Reformatories und Strafanstalten von
europäischen Beurteilern derselben manchmal doch überschätzt werden.
2*) "Published weekly by and for the inmates of the New York State
Reformatory, Elmira, New York", wie es in jeder der Nummern heißt.
-^) Dr. Christian hatte die Güte, mir die Osternummer und die
Weihnachtsnummer des Jahres 1912 sowie einige Nummern vom Fe-
bruar und März 1913 zu übersenden. Die Weihnachtsnummer enthält
auf ihrer ersten Seite ein Weihnachtsgedicht "To Men" des Editor-in-
chief, auf der zweiten Seite unter dem Titel "The Nativity" eine An-
zahl von Versen aus dem Evangelium des heiligen Lukas, auf der
vorletzten Seite dann einen Aufsatz Christmas Customs and Super-
stitions und auf der letzten Seite ein Gedicht „Nascitur" vom Asso-
ciate Editor. Sowohl der Editor-in-chief wie der Associate Editor
werden nicht mit ihren Namen, sondern mit der Inmate-Ziffer in jeder
Nummer genannt. Der Inhalt auch der gewöhnlichen Wochennummern
ist ein erstaunlich reichhaltiger. So enthält zum Beispiel die Nummer
vom I.März 1913 folgende Auf sätze : "Inquiry into Death of Madero",
"Extra Sessions, April 1", "Friedman will give eure to world",
"The Opium Traffic", "The Crisis in Mexico", "The Sixteenth Amend-
ment" (besprochen wird das 16. Amendment zur Verfassung der Ver-
einigten Staaten, betreffend die Income Tax und wie sich die einzelnen
Staaten der Union zu diesem "Income Tax Amendment" stellen),
"Cutting Up", "Whys and Wherefores", "Local Notes" (hier finde ich
— 140 —
unter der Oberaufsicht der Anstaltsleitung von Inmates
herausgegeben und gedruckt. Die Zeitung enthält Mit-
teilungen von allgemeinem Interesse aus sonstigen Tages-
und periodischen Schriften, gelegentlich Artikel von In-
mates oder von Beamten der Anstalt, Notizen, welche
sich auf die Vorkommnisse in der Anstalt beziehen. ^6)
Aufsätze von strafbarem oder sonst nicht einwandfreiem
Inhalt sind ausgeschlossen, ^7)
Die Nettoauslagen für die Erhaltung der Anstalt und
der Gefangenen waren im Jahre 1912 (A. R., 1912, p. 24)
zum Beispiel folgende Notizen : "This week's poem in the American
History Series will be found on page seven." "The Ethics Examination
will be held on March 9th instead of March 2d"; ferner Mitteilungen
über die Zeit, wann ein bestimmter Gefangener, der nur mit seiner
Ziffer bezeichnet wird, die Anstalt verlassen wird; Mitteilungen über
die Prüfungsergebnisse im Sprachunterricht, in dem die Ziffern jener
Gefangenen mitgeteilt werden, welche bei der Prüfung Prozentsätze
über 90 erhalten und außerdem die besten Resultate erzielt haben. —
Mitteilungen über die Gottesdienststunde am folgenden Sonntag sowie
über die Bewegung der Bevölkerung in der Anstalt; die erste Angabe
lautet :,Number of Inmates: — 1409). — "Current Events (At Home
and Abroad; hier wird erzählt von der gefährlichen Fahrt eines
deutschen Fliegers in Essen); dann eine Erzählung "Teachers of
Teachers" by Winifred Kirkland; auf p. 7 steht dann ein Gedicht
aus der amerikanischen Geschichte. Schließlich hat die letzte Seite
die Überschrift: "Amateur, Miscellaneous Sports, Professional."
^^) In Elmira werden, wie Baernreither, a. a. 0., S. 95 f., mit-
teilt, außer dieser Wochenschrift für die Insassen auch strafrechtliche
Abhandlungen gedruckt. Baernreither teilt Ausführungen aus einer
in einem dieser Hefte erschienenen strafrechtlichen Abhandlung eines
Inmate mit.
'") "All matter of a criminal or otherwise objectionable character is
carefully excluded" (H. B., p. 55). Über den Inhalt und das Programm der
Wochenschrift finden sich in dem H. B., p. 55, folgende Bemerkungen:
"The Contents of the paper include general news selected from the
leading news papers and periodicals, editorial comments, local institu-
tional items of interest to the prisoners, occasional articles contributed
by inmates, or Citizen offieers notices of an institutional character;
together with a record showing total number of inmates at time of
writing; also, number received, discharged, paroled, or returned for
violation of parole during the current week; likewise a record of
— 141 —
244.728 Dollars 44 Cents. Die Durchschnittskosten für
die Erhaltung eines Gefangenen betrugen täglich 4 Dollars
83 Cents.28)
, Das Institutshospital steht unter der Aufsicht eines
Arztes, seines Assistenten und eines Citizen Officers.
Es gibt auch mehrere Inmate Helpers and Attendants,
als welche vor allen Rekonvaleszenten verwendet werden.
Die Einrichtungen des Hospitals sind ausgezeichnet, es
gibt eigene Zimmer für infektiös und eigene Zimmer
für tuberkulös Erkrankte (H. B., p. 60).
Die Turnanstalt, das Gymnasium — vgl. Hand Book,
p. 60 sq. — ist ein Backsteinbau von 140 Fuß Länge
und 80 Fuß Breite. Es enthält einen Saal mit Tum-
apparaten, Badezimmer und den Ankleideraum und ist
mit Dampf geheizt. Die eigentliche Turnhalle ist 100 Fuß
lang und 80 Fuß breit. 200 Zöglinge können gleich-
zeitig turnen. Geturnt wird in eigenen Turnanzügen, die
im Gymnasium in eigenen kleinen Räumen aufgehoben
werden. Es gibt zwei Klassen von Zöglingen, die eine
ist zusammengesetzt aus allen Neuankommenden, welche
wir früher als Awkward Squad erwähnt haben; sie zählt
ungefähr 200 Mann. Außerdem gibt es eine Abteilung von
200 Zöglingen, von welchen 150 vormittags und 50 nach-
mittags der Tumanstalt zar besonderen körperlichen Be-
handlung zugewiesen sind, das ist die Klasse für Körper-
pflege, die Physical Culture Class. Diese Klasse turnt
jeden Tag vor- und nachmittags mit Ausnahme des
changes in grade, number in school of letters, and in the trades
school, and other information of loeal or general interest. Herr,
a, a. 0., S. 420 bis 451, teilt eine Übersetzung der Wochenscbrift
"The Summary", Nr. 1033, vom 2. Jänner 1904, mit.
-*) Im Jahre 1911 (A. R., p. 25) betrugen die gesamten Er-
haltnngskosten 239.041 Dollars 71 Cents und die täglichen Kosten für
einen Gefangenen 5 Dollars 11 Cents. Das Sinken der durchschnitt-
lichen Kosten für den einzelnen Gefangenen im letzten Jahre ist eine
Folge der stärkeren Inanspruchnahme der Anstalt im Jahre 1912, denn
im Jahre 1911 hatte das Reformatory eine tägliche Durchschnitts-
bevölkerung von 1282-32 und im Jahre 1912 von 1382-86.
— 142 —
Samstag nachmittag, welcher der Anfängerklasse vor-
behalten ist. Die Zöglinge dieser Klasse verbleiben in
derselben so lange, als dies der Arzt für nötig findet.
Ich habe dem Turnen der Nachmittagsklasse zugesehen,
Dr. Christian hat eine Reihe von Zöglingen genau be-
fragt und besichtigt und ich war über die starke körper-
liche Entwicklung der Jungen überrascht. Jeder wird
beim Eintritt in die Klasse photographiert und so ist
das Fortschreiten seiner körperlichen Entwicklung leicht
konstatierbar. Die Zöglinge dieser Klasse baden zweimal
wöchentlich und haben ärztlich genau vorgeschriebene
Bäder. Es gibt Schwitzbäder, Duschbäder, Schwimm-
bäder von 160 R (780 F). Der Baderaum ist 285 Fuß
lang und 65 Fuß breit und liegt in einem eigenen Ge-
bäude (H. B., p. 63 sq.). Im Baderaum gibt es 110 Bade-
wannen. Normalerweise baden alle Zöglinge jeden
Samstag früh. Ich bin auch durch das großartig' ange-
legte Maschinengebäude gegangen (Power House) und
habe die Waschanstalt durchschritten (H. B., p. 65 sq.).
Aufgefallen sind mir die Inmate Messenger Boys.
Eine Anzahl von Zöglingen werden als Messengers ver-
wendet, sie sind an ihrer Kappe als solche kenntlich
und zirkulieren mit verschiedenen Nachrichten und
Posten zwischen den einzelnen Gebäuden der großen
Anstalt, Es gibt natürlich eine Barbierstube, in welcher
Gefangene als Barbiere tätig sind, auch die Beamten der
Anstalt werden von diesen Barbers bedient. Beim Eintritt
in die Anstalt erfolgt eine Untersuchung durch den Super-
intendenten, beziehungsweise dessen Assistenten (In-
quiry) sowie durch den Arzt. Der Ankömmling wird
photographiert und die vorgeschriebenen Messungen an
ihm vorgenommen, zum Beispiel die Daktyloskopie nach
dem Bertillonschen System. Es folgt sodann die Zu-
weisung durch den Direktor der Trades School an die
entsprechende Abteilung und durch den Schuldirektor
an die entsprechende Klasse und die Aufnahme in die
Rekrutenabteilung (Awkward Squad).
— 143 —
Es kann eine Überweisung des Gefangenen an eine
andere Anstalt stattfinden, und zwar : 1. an ein gewöhn-
liches Staatsgefängnis, einmal wenn er im Zeitpunkte
seiner Verurteilung älter war als 30 Jahre, 2. wenn er
vorher wegen eines Verbrechens verurteilt war, und
3. wenn er sich im Reformatory als so unverbesserlich
erweist, daß sein Verbleiben eine Gefahr für die übrigen
bedeutet. Diese Zuweisung in das Staatsgefängnis er-
folgt auf Grund einer Eingabe des Board of Managers
an einen Richter des Supreme Court des Bezirkes, in
welchem das Reformatory liegt. Eine weitere Zuweisung
an eine andere Anstalt findet statt, wenn der Gefangene
insain (geisteskrank) ist. Der Superintendent v^eranlaßt
dann die Zuweisung an das Dannemora Hospital for Insain
Convicts. Im Jahre 1912 (1. Oktober 1911 bis 30. Sep-
tember 1912) wurden sieben Inmates von Elmira nach
Dannemora Hospital überstellt, einer in das Clinton-
Gefängnis, acht in die Strafanstalt Auburn (A. R., 1912,
p. 10).29)
In dem Berichte der Direktoren (Board of Managers)
für die Zeit vom 1. Oktober 1910 bis 30. September 1911
(p. 17), finde ich die Bemerkung, daß mindestens ein
Drittel aller Insassen von Elmira als Defectives, also als
minderwertig zu erklären sind. In dem Berichte für die
Zeit von 1909 auf 1910 (p. 16), wird ausgeführt, daß
der damalige Chefarzt Dr. Frank L. Christian
37'4 Prozent aller Eingelieferten als Mentally Defective
und nur 31 Prozent als in guter physischer Kondition
befindlich erklärt hat. Dieses medizinisch fachmännische
Urteil ist ein Beleg für die menschenfreundliche Gesinnung
des gegenwärtigen Assistant Superintendent des Refor-
matory in Elmira.
Zwischen den beiden Speisesälen, in deren einem
die Schweigenden, in dem anderen die reden Dürfenden
29) Im Jahre 1911 (14. Oktober 1910 bis 30. September 1911)
wurden 17 Inmates von Elmira nach Donnemora Hospital, 3 in die
Strafanstalt Auburn gebracht. (R., 1911, p. 10.)
— 144 —
speisen, waren auf einer großen Tafel auf weißem Grund
verschiedene Neuigkeiten der letzten Tage in schwarzer
Schrift aufgeschrieben, eine Art Diary, das ist Tages-
zeitung für die Inmates. Zum Beispiel wurde der Stand
verschiedener Golf- und Football Matches mitgeteilt,
welche am Tage meines Besuches die Gemüter in
Spannung erhielten.
Den Lunch nahm ich in Gesellschaft des Dr. Frank
L. Christian ein. Gleichzeitig speisten der Colonel des
Regiments und der Schuldirektor. Das Menü war ein-
fach, aber gut, Suppe, ein Stück Beef, Pudding, schwarzer
Kaffee, natürlich kein Alkohol. Das Menü war von Ge-
fangenen gekocht und serviert.
Die Versendung nach Elmira wird, wie nochmals
ausdrücklich hervorgehoben sein mag, nicht als Strafe
angesehen, sondern als Versendung in ein Reformatory.
Der Richter spricht, soweit es sich um Sentenced for
indefinite terms handelt, überhaupt keine Strafe aus,
sondern er versendet nach Elmira. Der Arbeitseifer, der
Tätigkeitstrieb wird in Elmira angespornt. Von reger
Pflichterfüllung hängt die baldige Erlangung der Freiheit
ab. Dazu sieht die öffentliche Meinung in dem Auf-
enthalt in Elmira unzweifelhaft einen geringeren Makel
als in dem Aufenthalt in einem sonstigen Gefängnis.
Das sind wichtige Gründe für das System, welches nicht
soviel Nachahmung in Amerika gefunden hätte, wenn
es sich nicht ausgezeichnet bewährte. ^o) Die öffentliche
Meinung hat, wie ich übereinstimmend gehört habe,
vollstes Vertrauen für die Leitung der Anstalt und für
deren Erfolge.^i)
^) Vgl. hiezu die ausgezeichneten Ausführungen des früheren
General-Superintendenten der beiden Reformatories des Staates New
York, Joseph F. Scott, im H. B., p. 112 sq.: "Effect of Reformatory
Treatment on Crime".
'1) Bei Baernreither, a. a. 0., S. 981, wird von einer 1900
ausgebrochenen Krise in der Leitung von Elmira erzählt, welche in
ihren Konsequenzen längst überwunden ist.
Daß "das moderne amerikanische Besserungssystem und seine
— 145 —
In dem Berichte für das Jahr 1912 (1. Oktober 1911
bis 30. September 1912), p. 78, finde ich folgende An-
gaben: Seit der Errichtung der Anstalt, nämlich in der
Zeit von 1876 bis 1912, sind 22.263 Gefangene Inde-
finitely Sentenced nach Elmira gesendet worden, ^2) Von
diesen sind 11.688, also 52-49 Prozent im Alter von
16 bis 20 Jahren gewesen, 8107 oder 36*44 Prozent
im Alter von 20 bis 25 Jahren und 2648 oder 11-09 Prozent
zwischen 25 und 30 Jahren. 8872 oder 37- 20 Prozent
waren protestantisch, 10.921 oder 49-05 Prozent waren
römisch-katholisch, 2783 oder 12-50 Prozent waren
Juden und nur 277 oder 124 Prozent waren ohne
Religion (none).
Was die Art der Delikte betrifft, wegen welcher die
Versendung stattgefunden hatte, so waren im Jahre 1912
(1. Oktober 1911 bis 30. September 1912) 83-29 Prozent
wegen Verbrechen gegen das Eigentum, 15-45 Prozent
wegen Verbrechen gegen die Person und 1-24 Prozent
wegen Verbrechen gegen die öffentliche Ordnung ver-
urteilt worden.33)
Ergebnisse die Billigung und Befriedigung der öffentlichen Meinung
und der Wissenschaft Amerikas gefunden haben", begründet Herr,
a. a. 0., S. 379 ff., in längerer Ausführung. Über die manchmal weniger
günstige europäische Kritik wird ebenda, S. 382, berichtet. Besonders
beachtenswert sind der von Hintrager, "Amerikanisches Gefängnis-
und Strafenwesen", S. 42 ff., erhobene Einwand gegen das System, daß
die Unbestimmtheit des Strafurteils und die hohen Anforderungen der
Anstalt den Geist der Gefangenen in eine gefahrbringende nervöse
Spannung und Unruhe versetzen, und die gegen diesen Einwand geltend
gemachten Ausführungen Herrs. Den günstigen Urteilen über das
System schließt sich auch Herr, a. a. 0., S. 395, an.
^^) Die Zahl der Sentenced for definite terms hat während der
Zeit von 1876 bis 1912 828 betragen.
22) R., 1912, p. 79, wo es infolge eines Eechen- oder Druck-
fehlers 88-29 Prozent statt 8329 Prozent heißt. — Im Report für 1911,
p. 68, finden sich folgende Ziffern: 83*43 Prozent wegen Verbrechen
gegen das Eigentum, 1558 Prozent wegen Verbrechen gegen die
Person und nur 0-99 Prozent Avegen Verbrechen gegen die öffentliche
Ordnung (the peace).
Hanaus ek, Amerikanische Skizzen. 10
— 146 —
An die Anstalt schließt sich, wie schon oben er-
wähnt, eine Farm von 280 Acres an, welche ausschließ-
lich von Inmates bearbeitet wird. Die Farm enthält
50 Acres Weideland, 25 Acres Waldland und 8 Acres
für einen Apfelobstgarten. Über die Bearbeitung und die
Erträgnisse dieser Farm wird im Hand Book (p. 68 sq.)
berichtet: Außerhalb der Umfassungsmauern der An-
stalt (Enclosure) befindet sich in einem eigenen Ge-
bäude ein Treibhaus (Greenhouse), welches von einem
Gärtner, einem Citizen Officer und einer Anzahl von
Inmates besorgt wird (p. 70).
Das Hand Book enthält auf p. 71 bis p. 110 einen
Aufsatz von F. C. Allen, "The Institutional Experiences
of Peter Luckey", in welchem die Erlebnisse eines ge-
wesenen Bewohners der Anstalt mitgeteilt werden. Dieser
äußerst lesenswerte Aufsatz ist in deutscher Übersetzung
in dem oben S. 10 zitierten Buche von Gudden, S. 132,
mitgeteilt. Der Aufsatz schließt mit folgendem Briefe,
den Peter Luckey nach seiner Entlassung gegen Parole
an den damaligen Superintendenten der Anstalt Mr. Scott
geschrieben hat:
W^ St., New York,
March U^\ 190 . .
Mr. S c o 1 1 :
Dear Sir —
I make report to you sir. I am staying at my
Aunt Kate's four weeks now. My boss says I take
pains with my work. I worked at my trade all
but three days. I got $ 11*40 and I got new cloes
and a watch and chain. I did not get into fites
as I told you. Hoping you are well Mr. Scott,
Very truly yours,
Peter Luckey,
— 147 —
VI. Kapitel.
Das Hüll House und die Parks in Chicago.
Dr. Healey hatte die Güte, mit mir das Hüll House
zu besuchen und mich Miss Jane Addams, welche sich
um die Begründung und um die Entwicklung desselben
diie größten Verdienste erworben hat, vorzustellen.
Das Huil House liegt in nächster Nähe des Gebäudes,
in welchem das Jugendgericht untergebracht ist. Es
bildet eine Gruppe von 13 Gebäuden zwischen der
Halsted, Ewing und Polk Street* Das Hüll House trägt
seinen Namen nach dem Erbauer des ersten Grund-
hauses i) des heutigen Settlement, Mr. Charles J. Hüll.
Dieses Grundhaus ging dann in das Eigentum der Erbin
seines Erbauers, Miss Helen Culver, über. Miss Helen
Culver stellte den Gründerinnen des heutigen Settlement
das Haus unentgeltlich zur Verfügung. 2) Auf den von
Miss Helen Culver zur Verfügung gestellten Grund-
stücken entstanden dann die weiteren Gebäude des Hüll
House. Am 18. September 1889 zogen Miss Jane Addams,
Miss Starr und Miss Mary Keyser in das Hüll House
ein und wurden so die Begründerinnen dieses Settlement.
Das Hüll House wurde begründet, um ein Zentrum für
ein höheres politisches und soziales Leben zu schaffen,
um erzieherische und philanthropische Unternehmungen
einzuführen und zu erhalten und ferner, um die Lebens-
bedingungen in den industriellen Bezirken von Chicago
zu untersuchen und zu bessern. 3)
^) Das Grundhaus wurde 1856 erbaut.
') "Its generous owner, Miss Helen Culver, . . . . gave . . a free
leasehold of the entire house." (Jane Addams, "Twenty Years at
HuU House", p. 93 sq.)
^) To provide a center for a higher civic and social life; to Institute
and maintain educational and Philanthropie enterprises, and to inve-
stigate and improve the conditions in the industrial districts of
Chicago (Hüll House Year Book, January Ist, 1913, p. 5). — Das
Hüll House ist eines der größten und wichtigsten Settlements. Über
10*
— 148 —
Das Hüll House steht unter der Leitung eines Ver-
eines (Body) von sieben Trustees, dessen Präsidentin
Miss Jane Ad da ms ist. Das Hüll House soll einmal
Personen, Männer und Frauen, beherbergen, welche die
Lebensbedingungen armer Arbeiter und Einwanderer aus.
eigener Anschauung kennen zu lernen sich bemühen (Resi-
dents). Die Residents leben auf ihre eigenen Kosten. Diese
"Students" brauchen keine Universitätsbildung genossen
zu haben, aber die Mehrheit derselben war immer College
People. Sie sind verpflichtet, mindestens zwei Jahre im Hüll
House zu wohnen. Die meisten dieser Residents widmen
ihre freie Zeit, und zwar fast ausnahmslos unentgeltlich,
den Zwecken der Anstalt. Diese Residents teilen sich
in zwölf Komitees mit verschiedenen Aufgaben, welche
monatlich mindestens einmal zusammenzutreten ver-
pflichtet sind und einer Versammlung der Residents zu
berichten haben. Außerdem kommen 150 Personen
Settlements vgl. E. Münsterberg, "Amerikanisches Armenwesen'V
S. 98fE. Bei Münsterberg, S. 102, finde ich folgende Stelle aus einem
Aufsatz von Graham Taylor zitiert: "Das Settlement ist keine Kirche,
aber es ist der Gehilfe aller Kirchen. Es ist keine Wohltätigkeits-
anstalt, aber es unterstützt die Organisation und gegenseitige Hilfe-
leistung aller Wohltätigkeitseinrichtungen. Es ist keine Schule, aber
es ist den Volksschulen zu gemeinsamem Wirken verbunden und will
ihnen gern einen Teil seiner Arbeit überlassen, den sie übernehmen
wollen. Es gehört keiner Partei an, hat aber seit nahezu einem Jahr-
zehnt in den Kämpfen um die politische Macht bei städtischen und
staatlichen Wahlen sein Gewicht in die Wagschale werfen können. Es
ist nicht ein ausschließlich sozialer Kreis, aber es strebt danach,
Mittelpunkt und Quelle wahrhaft sozialen Lebens und höchster Vater-
landsliebe zu sein. Es ist keine 'klassenbewußte' Gruppe, sondern im
Gegenteil bemüht, Klassenunterschiede zu verwischen, zwischen den
verschiedenen Klassen zu vermitteln und den sozialen Frieden her-
zustellen." Ferner führt Münsterberg folgende Äußerung von Karl
Schurz an: "In dem Bestreben, die Trennung der verschiedenen
Klassen zu überbrücken, ist keine Einrichtung mehr der Wertschätzung,
der Ermutigung und der Unterstützung würdig. Das Uuiversity Sett-
lement ist die in der Absicht organisierte Arbeit, die höhere Kultur
und die sozialen Elemente, die sie vertritt, in nächste und sympathische:
Berührung mit den ärmeren Klassen zu bringen."
— 149 —
wöchentlich in das Hüll House als Lehrer, Besucher
oder Direktoren von Clubs, welche Non Residents der
Anstalt viel Zeit und wertvolle Dienste widmen.
9000 iMenschen kommen während der Wintermonate
wöchentlich in das Hüll House, sei es als Mitglieder
einer in der Anstalt untergebrachten Organisation oder
als Zuhörer. Am ersten Freitag und Samstag im Mai
jedes Jahres wird eine Ausstellung der Arbeiten der
Kunstschule und der technischen Klassen des HuU House
abgehalten. Während dieser zwei Tage finden Auf-
führungen in der Hüll House-Musikschule, der Theater-
vereine, turnerische Vorführungen und Konzerte einer
Hauskapelle (Boys Club Band) statt. Volkstümliche Uni-
versitätsvorlesungen finden ebenfalls im Hüll House
statt. Es gibt einen Schulunterricht für Erwachsene; im
englischen Abendunterricht sind für das laufende Jahr
300 Zöglinge eingeschrieben. In die Technical Classes
für den Unterricht im Kochen, im Kleidermachen
und für Putzmacherinnen (Millinery) waren 205 ein-
geschrieben. Es wird auch Unterricht im Weben und
Sticken und in anderen Domestic Arts erteilt, ferner
Unterricht im Spinnen sowie in der Buchbinderei. Ebenso
wird Kunstunterricht im Zeichnen, Schreiben (Lettering),
Malen, im Modellieren erteilt. Samstag nachmittags
werden Ausflüge unternommen, damit die Schüler im
Freien skizzieren.
Im Hüll House gibt es einen Frauenklub, der seit
dem Jahre 1891 besteht und gegenwärtig 1200 Mitglieder
hat. Der Klub veranstaltet behufs Sammlung von Bei-
trägen für öffentliche Wohltätigkeitsanstalten jährlich eine
Anzahl von Vergnügungen, dann eine Art Maifahrt für
Kinder, Vorträge und Preisverteilungen für Kinder, welche
in den öffentlichen Schulen gute Zeugnisse erhalten
haben.
Es gibt auch einen HuU House Boys' Club, welcher
1500 Mitglieder zählt und in einem eigenen fünf Stock
hohen Gebäude untergebracht ist. Der Klub hat Kegel-
— 150 —
bahn, Spielzimmer, eine Bibliothek und einen Leseraum,
Musikzimmer, Unterrichts- und Werkstätten zum Unter-
richt in den mannigfachsten Fertigkeiten.*)
Die Klubräume sind jeden Wochentag von drei bis
zehn Uhr nachmittags offen und die Mitgliedschaft wird
gegen einen Beitrag von fünf Cents monatlich erworben.
Dieser Klub umfaßt wieder die verschiedensten Spezial-
klubs, so gesellige und athletische Klubs, Pfadfinderklubs
(Boy Scouts).^) Seit zwei Jahren kampiert der Boys'
Club in jedem Jahre einen Teil des Sommers an einem
Orte der Küste des Michigan-Sees. Die jungen Leute
führen hier ein Camp Life in Zelten, baden, fahren Boot
und treiben Sportspiele. Zwischen 200 und 250 Jungen
erfreuen sich jedes Jahr eines zweiwöchentlichen Aufent-
haltes in diesem Camp, werden frei hin- und herbefördert
und zahlen bloß im Alter unter 12 Jahren 1 Dollar
50 Cents, zwischen 12 und 16 Jahren 2 Dollars 50 Cents
und im Alter von über 16 Jahren 3 Dollars 50 Cents für
einen zweiwöchentlichen Aufenthalt.
Es gibt auch Hüll Rouse-Männerklubs, so den Mer-
cury Club von 60 Mitgliedern, welche sich vor allem
Sportspielen widmen und zugleich sich in der Turnanstalt
als Leiter der Übungen der Jungen betätigen. Dann gibt
es den griechisch-amerikanischen Athletic Club, ferner
einen Klub der Elektriker ; auch die organisierten Arbeiter,
Gewerkschaften (Trades Unions) haben ihre Versamm-
lungen im Hüll House. Es gibt russische, deutsche, grie-
chische, italienische Klubs, die im Hüll House ihre Zu-
sammenkünfte haben. Dann gibt es auch eine School
*) Unterrichtet wird: "in wood working, forging, brass moulding,
tinsmithing, machine woork, electric wiring, cobbling, photography,
clay modelling, printing, telegraphy, and office work, including tele-
phony, hill and letter filing, and typewriting." (Year Book, p. 17.)
') Gegenwärtig gibt es 102 solcher Boy Scouts, von welchen
78 Nachmittag-Boys und 24 Abend-Boys sind. Der Boy Club hat auch
eine eigene Musikbande, in einer kleidsamen Uniform, blaue Hosen
und rote Röcke.
— 151 —
of Citizenship, welche während der letzten Präsidenten-
Wahlkampagne eingerichtet wurde und welche unter
anderem auch dazu dient, den Einwanderern Papiere für
die Beteiligung an den Wahlen zu beschaffen. Es gibt
ein Lesezimmer für fremde Zeitungen, in welchem fran-
zösische, deutsche, russische, italienische und jüdische
(Yiddish) Zeitungen gelesen werden.
Das Hüll House hat eine große Turnanstalt mit aus-
gedehnten Unterrichtsgelegenheiten, eine Badeanstalt, eine
große Anzahl rein gesellschaftlicher Klubs der verschie-
denen Nationalitäten. Natürlich wird auch Unterricht im
Tanzen erteilt (Dancing Classes).
Die italienische Kolonie veranstaltet im Hüll House
jährlich ein Faschingdienstagsfest. Im Hüll House gibt
es eine Musikschule, ein eigenes Hüll House-Orchester.
Das Hüll House hat seit 1904 eine schöne Orgel und
zahlreiche öffentliche Konzerte, die namentlich am
Samstag nachmittag im Hüll House gegeben werden. Das
Hüll House hat eine eigene Poststation, einen eigenen
Jane Club, in welchem junge Mädchen gegen den be-
scheidenen Beitrag von 3 Dollars 25 Cents wöchentlich
nebst einer kleinen Gebühr volle Verpflegung finden.^)
Das HuU House hat ein Theater, in welchem Kinder-
vorstellungen für Kinder stattfinden und zahlreiche Vor-
stellungen der Schauspielgesellschaft des Hüll House
(Hüll House Players). Es finden auch Aufführungen in
fremden Sprachen statt, so in italienischer, in russischer,
in lettischer, in jüdischer, in littauischer, in ungarischer
und böhmischer Sprache. Im Theater werden auch in
jedem Jahre Weihnachtsfestspiele aufgeführt.
Es gibt einen Kindergarten, Mädchenklubs mit Spiel-
zimmern. Seitens des Hull-Hauses wird auch zahlreichen
Kindern Gelegenheit geboten, einen Landaufenthalt bis
°) The weekly dues of $ 3*25, with an occasional small assessment,
have met all current expenses of reut, Service, food, and heat. (Year
Book, p. 36.)
— 152 —
sechs Wochen zu nehmen (in Summer Camps), eigene
Straßenbahnwagen führen die Kinder bis in die Parks,
wo sie während des Tages verbleiben und abends dann
eine gemeinsame Mahlzeit einnehmen.
Im Zusammenhange mit dem Hüll House steht auch
der Joseph T. Bowen Country Club. Im März 1912 hat
die Witwe eines langjährigen Trustees des Hüll House,
Joseph T, Bowen, dem Hüll House-Verein (Hüll House
Association) 72 Acres Land auf einer Höhe über dem
Michigan-Sees zur Erinnerung an ihren Gemahl geschenkt.
32 Acres Land enthalten Waldterrain und 40 Acres einen
alten Landsitz mit einem Obstgarten, Gemüsegarten und
offenem Feld. Das Terrain liegt 35 Meilen von Chicago
entfernt. Neben dem ursprünglichen Gebäude sind noch
vier neue für eine Sommerkolonie errichtet worden; von
jedem dieser Cottage-Anlagen genießt man eine schöne
Aussicht auf den See. Gruppen von je 75 jungen Mädchen
bringen hier je zwei Wochen ihrer Ferienzeit zu, von
Mitte Juli bis zur Wiedereröffnung der Schulen im Sep-
tember. Der Country Club ist auch das Ziel zahlreicher
Tages- und Weeksend-Ausflüge.
Im Hüll House befindet sich auch ein großes Kaffee-
haus, ferner eine Tagesrettungs- und Pflegestation (Day
Nursery), ein Haus, in welchem 100 kranke Kinder unter-
gebracht sind (Mary Crane Nursery); in letzterem Ge-
bäude gibt es auch ein Baby Dispensary, in welchem
die Pflege der Kinder gelehrt wird und kranke kleine
Kinder versorgt werden. Auf dem Dache der Mary Crane
Nursery befindet sich eine Schule für tuberkulöse Kinder
und auf diesem Dache können auch 25 Kinder schlafen.
In Verbindung mit dem HuU House stehen auch Spiel-
plätze und kleine Parks. Kinder, welche die Schule oder
den Kindergarten nicht besuchen können, werden von
Lehrern in ihren Wohnungen unterrichtet.'^)
') An attempt is made to give the children who are too advan-
ced for kindergarten work lessons in manual training, looking forward,
so far as possible, to selfsupporting oecupations. (Year Book, p. 48.)
— 153 —
Die Leitung des Hüll House ist stets bemüht, die
Vorteile des Instituts der ganzen Nachbarschaft zur Ver-
fügung zu stellen, so zum Beispiel die Bäder des Hauses,
das öffentliche Lesezimmer, die Bibliothek. Viele Re-
sidents des HuU House nehmen eifrig teil an den Ar-
beiten anderer Wohltätigkeitsanstalten, so widmen zum
Beispiel vier dieser Residents ihre Dienste dem Jugend-
gericht von Chicago.
Mit dem Hüll House steht auch die Chicago City
Gardens Association in Verbindung. Diese Gesellschaft
kauft Land und stellt es armen Familien zur Bearbeitung
zur Verfügung, und zwar so, daß für ein Achtel Acre
bloß eine Pacht von 1 Dollar 50 Cents gezahlt wird.
Der Hüll House- Verein ist auch bemüht, durch Unter-
suchungen und Ermittlungen die soziale Fürsorgegesetz-
gebung hervorzurufen und zu fördern, so bezüglich der
gesetzlichen Maßnahmen gegen die Heimarbeit (Sweat
Shop) und die Kinderarbeit. Ferner wurde eine Unter-
suchung über die Wohnungsverhältnisse vorgenommen.
Als im Jahre 1902 in der Nähe des Hüll House eine
Typhusepidemie ausbrach, wurde durch seitens des Ver-
eines veranlaßte Untersuchungen des Typhusherd er-
mittelt und gesäubert. Eine der seitens des HuU House-
Vereines vorgenommene Untersuchung bezog sich auf die
Kindersterblichkeit. Es wurde festgestellt (Year Book,
p, 50), daß die Sterblichkeit der Kinder mit der Kinderzahl
der einzelnen Familien wächst, daß die Sterblichkeit in
den italienischen Einwandererfamilien am stärksten ist,
dann daß unmittelbar nach den italienischen Familien
die slawischen einzureihen seien, daß die Kinder von in
Amerika geborenen Eltern und von Juden die geringste
Sterblichkeit aufweisen und daß die deutschen und die
irischen Familien in der Mitte zwischen beiden Gruppen
stehen. Der HuU House-Verein veranlaßte eine eingehende
Untersuchung der Lebensverhältnisse der großen, in der
Nähe lebenden griechischen Kolonie. Eine andere Unter-
suchung bezog sich auf die Lektüre der Kinder in den
— 154 -
in der Nähe der Anstalt gelegenen Schulen, eine andere
Untersuchung auf den ungesetzlichen Verkauf von
Kokain. Der HuU House-Verein hat sich auch mit ver-
schiedenen öffentlichen Autoritäten und Vereinen zur Er-
reichung seiner humanitären Zwecke in Verbindung ge-
setzt, so mit dem Sanitätsdepartment, mit den vereinigten
Wohltätigkeitsanstalten von Chicago, mit Konsum-
vereinen, mit verschiedenen Sanitätsvereinen, der Ge-
sundheitspflege gewidmeten Vereinen, zum Beispiel mit
der Direktion des Juvenile Psychopathie Institute, mit
der Illinois Society for Mental Hygiene, mit dem lUinois
Committee for Social Legislation, mit der American Vigi-
lance Association, mit der Chicago School of Civics and
Philanthropy und der Rüssel Sage Foundation.
Meine Chicagoer Freunde, deren mündlichen und
schriftlichen Mitteilungen und Sendungen ich die vor-
stehenden Angaben verdanke 8), sind stolz auf ihr Hüll
House und haben vollen Grund dazu. Die großzügige
Art, mit welcher Tausenden von Hilfsbedürftigen, Armen
und Ärmsten, Belehrung, Hilfe, Pflege, Stunden der Er-
holung "und der Erbauung gewährt werden, verdient auf-
richtige Bewunderung.
Einen sehr starken Eindruck habe ich von den süd-
lichen Parks von Chicago empfangen. Es gibt gegen-
wärtig 24 solcher Parks mit einem Areal von 2500 Acres.
*) Für die Darstellung im Texte danke ich sehr viel den zwei
bereits wiederholt zitierten Schriften, dem Hüll House Year Book vom
1. Jänner 1913, sowie dem Buche der Miss Jane Addams "Twenty
Years at HuU House", 1912. Die ersten vier Kapitel des Buches der
Miss Jane Addams enthalten reizende autobiographische Notizen.
Eine Reihe anderer Kapitelüberschriften lauten: First Days at Hüll
House, Some Early Undertakings at Hüll House, Problems of Poverty,
A Decade of Economic Discussion, Pioneer Labor Legislation in Illinois,
Immigrants and Their Children, Public Activities and Investigations,
Civic Cooperation, TheValue of Social Clubs. Vgl. auch Holitscher,
a. a. 0., S. 321 ff.
— 155 —
Sie erstrecken sich von der Michigan-Avenue (Grant
Park) bis zum Lake Calumet (17. Park). 9) Ich habe an
einem Nachmittage in Gesellschaft unseres Generalkonsuls
in Chicago, des Herrn Hugo Silvestri, einen in einem
der bevölkertsten armen Vierteln der Stadt gelegenen,
den auf der Nordseite zwischen der Orleans-, Elm-,
Sedgwick- und Hills-Straße gelegenen Seward-Park be-
sucht. Wir trafen einen deutschen Offizier, Herrn
Dr. Viktor von Borosini, der sich um diese Parks außer-
ordentlich bemüht und uns ein überaus liebenswürdiger
Führer gewesen ist.
Es gab allerlei Aufführungen, kleine Aufzüge und
lebende Bilder. Der Eindruck war ein überaus freund-
licher. In diesem Park und, wie mir erzählt wurde, auch
in den anderen Parks gibt es Schwimmbäder, Freiluft-
bäder für Babies, Sonnenbäder, Wiesenstreifen, auf
w^elchen die Kinder sich herumwälzen können, Turn-
und Tanzsäle, Volksbibliotheken, alles das steht dem
Volke von Chicago unentgeltlich zur Verfügung. lo)
Vn. Kapitel.
Ellis Island.
Die folgenden Ausführungen sollen nicht das ameri-
kanische Einwanderungsproblem oder die Stellungnahme
Österreich-Ungarns zur Frage der Auswanderung nach
den Vereinigten Staaten und nach Kanada systematisch
") Holitscher, a. a. 0., S. 325.
^") Überhaupt geht es in keinem anderen Lande der Welt Kindern
so gut wie in Amerika. Ladies and Children sind die überall Bevor-
zugten. Dem europäischen Besucher fällt die Ungeniertheit und die
Ungebundenheit und das Selbstbewußtsein der amerikanischen Jungen
und Mädchen bald auf. In den großen amerikanischen Bibliotheken,
so zum Beispiel in der berühmten Public Library in der Fifth Avenue,
fallen die Lesesäle für Kinder, die ganz reizend eingerichtet und mit
- 156 —
und eingehend behandeln, sondern lediglich im Zu-
sammenhange mit dem Bericht über einen Besuch auf
Eliis Island eine Reihe v^on Notizen und Daten zu diesen
Fragen zusammenstellen. i) Nach den mir seitens des
Sekretariats der Wiener Handels- und Gewerbekammer
gütigst zur Verfügung gestellten Daten betrugen die Zahlen
der Auswanderer aus Österreich-Ungarn in den Jahren
1902 bis 1911 nach den Vereinigten Staaten und nach
Kanada:
Jahr Vereinigte Staaten Kanada
1902
185.659
7.918
1903
234.636
13.095
1904
165.793
11.136
1905
284.967
10.060
1906
296.208
10.170
1907
352.983
12.314
1908
168.509
13.904
1909
170.191
20.123
1910
258.737
10.240
1911
159.057
12.105
Kinderlekttire, Bilderbüchern und ähnlicher Literatur versorgt sind, auf.
Über die Erziehung der amerikanischen Jugend finde ich feine Be-
merkungen bei Georg v. Skal, "Das amerikanische Volk", S. 86 ff.
Humorvolle Bemerkungen über "The American Child" bei Muirhead,
a. a. 0., p. 63 sq.
^) Vgl. das oben S. 11 zitierte, im Auftrage des k. k. Handels-
ministeriums von Dr. Franz R. v. Srbik herausgegebene Werk "Die
Auswanderungsgesetzgebung", Einleitung, S. V: "Österreich ist seit
einiger Zeit durch den bedauerlicherweise stets wachsenden Umfang
seiner Auswanderung in die erste Reihe der europäischen Auswanderungs-
staaten getreten." — Vgl. ferner das ebenfalls bereits oben S. 6 zi-
tierte Buch: "Slavische Einwanderung in den Vereinigten Staaten"
von Emily Greene Balch, übersetzt von Stephan v. Philippovich,
S. 36; wir erfahren hier, das 69 Prozent aller nach Amerika einwan-
dernden Slaven aus Österreich-Ungarn stammen. S. 35: Im Dezennium
1899 bis 1908 sind den Vereinigten Staaten anderthalb Millionen Slaven
zugeflossen. "Es ist nichts Außergewöhnliches, daß ein Slovake die
Reise nach Amerika achtmal macht, in welchem Falle er in unseren
— 157 —
Die Rückwanderung nach Österreich-Ungarn aus den
Vereinigten Staaten betrug in den Jahren 1908 bis 1911 :
1908 130.197
1909 49.413
1910 47.290
1911 86.342
Die Rückwanderung aus Kanada stellt sich auf rund
20 bis 25 Prozent der Einwanderung, 2)
Ferner finde ich bei Münsterberg, L, S. 272,
folgende Daten : Im Dezennium von 1860 bis 1870
schickte Italien nur 11.000, Österreich nur 7000 und
Rußland nur 4000 Einwanderer, im Jahre 1909 schickte
Deutschland nur 25.540, Irland nur 25.033, England
nur 32.800, dagegen Rußland 120.460, Österreich-Ungarn
170.191, Italien 183,218 Einwanderer nach Amerika. Im
Jahre 1910 gab es 1,041,570 Einwanderer (Münster-
berg, L, S. 270). 3) Von diesen Einwanderern wurden
Statistiken achtmal geführt wird." Vorwort S. IV: Österreich-Ungarn
stellte im Dezennium 1899/1900 bis 1908/1909 24-3 Prozent der Ein-
wanderung in die Vereinigten Staaten, also nahezu ein Viertel dar,
^) Die Ziffern über die Einwanderung nach Kanada und über die
Rückwanderung von Kanada wurden angeführt, weil für die Amts-
handlungen mit nach Kanada Einwandernden in Ellis Island auch
kanadische Einwanderungskommissäre tätig sind, ein Bruchteil der
Einwanderung nach Kanada also auch über New York erfolgt.
^) Reiches statistisches Material sowie wertvolle Ausführungen
enthalten der Aufsatz von Dr. H. Schwegel, k. u. k. Vizekonsul in
Chicago, Die Einwanderung in die Vereinigten Staaten, in der "Zeit-
schrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung", Band XIII
(1904, vgl. oben S, 11), S. 160 ff., sowie die Abhandlung von Dr. Karl
R. V. Englisch, Die Lehren der amerikanischen Einwanderungs-
statistih, "Statistische Monatsschrift", XXXVII. Band, 1911 (vgl. oben
S. 10), S. 345 ff.
Schwegel, a. a. 0,, S, 160, teilt mit, die Einwanderung in die
Vereinigten Staaten von Amerika habe für das Rechnungsjahr 1903
(vom 1. Juli 1902 bis 30. Juni 1903) 857.046 Einwanderer erreicht.
Diese Zahl bleibe aber hinter der Wirklichkeit noch zurück; einmal
identifiziere die amerikanische Statistik den Begriff des Einwanderers
— 158 —
nur 10.411 zurücktransportiert, also rund 1 Prozent,
und zwar 4458 wegen Mittellosigkeit, 2382 wegen an-
steckender Krankheiten, 1172, weil sie mit fertigem
Arbeitskontrakt ankamen, und 2399, welche unter die
Rubriken der Verbrecher, Prostituierten und Geistes-
kranken gehören (Münsterberg, I., S. 275)>) Endlich
finde ich in der "Neuen Freien Presse" vom 24. Juli
1913 mitgeteilt, daß seit dem JuH 1912 1,228.770 Per-
sonen, und zwar um 319.850 Personen mehr als im Vor-
jahre, nach den Vereinigten Staaten ausgewandert seien.
Alle diese Ziffern geben uns eine Vorstellung von der
•
(Immigrant) mit dem des Zwischendeckpassagiers und führe daher nicht
die als Kajütenpassagiere in die Vereinigten Staaten einwandernden
Personen. Die letzteren seien unter den sonstigen fremden Passagieren
(other alien passengers) geführt worden, deren Zahl im Jahre 1903
64.269 ausmachte. Auch die über Kanada und Mexiko über Land nach
den Vereinigten Staaten kommende Einwanderung wird in der er-
wähnten Ziffer nicht mitgezählt. — Die Gesamtzahl der Einwanderer
nach Amerika betrug in den Kalenderjahren 1907 1,334.166, 1908
410.319, 1909 927.739 (v. Englisch, a. a. 0., S. 345). Den stärksten
Rückgang wies also die Einwanderung im Jahre 1908 auf.
Münsterberg, I., S. 270, gibt die Einwandererzahl für die
Jahre 1908 und 1909 mit etwa drei Viertel Millionen an. Die Divergenz
zwischen den Angaben von Münsterberg und von v. Englisch
scheint damit zusammenzuhängen, daß Münsterbergs Angaben sich
auf Rechnungsjahre und v. Englische Angaben sich auf Kalender-
jahre beziehen.
Nach Schwegel, a. a. 0., S. 179ff., betrug die eingewanderte
Bevölkerung in den Vereinigten Staaten beim Zensus 1900 aus Öster-
reich (im engeren Sinne) 276.249, aus Böhmen 156.991, aus Ungarn
145.802, aus Österreichisch-Polen, einschließlich der Polen unbekannt
woher, 78.854. Das United States Census Bureau bildet aus der öster-
reichisch-ungarischen Monarchie vier Herkunftsländer, das engere Öster-
reich, Ungarn, Böhmen und Polen. (Schwegel, a. a. 0., S. 178.)
*) Bei Schwegel, a. a. 0., S. 173, finde ich folgende Ziffern:
"Im Jahre 1903 wurden 8769 Leuten, das ist etwas über ein Prozent
der gesamten Einwanderer der Eintritt in die Häfen der Vereinigten
Staaten verwehrt, 547 wurden außerdem auf Grund des Einwanderungs-
gesetzes innerhalb des ersten Jahres nach ihrer Ankunft zurückgeschickt."
"Zugenommen hat die Zurückweisung insbesondere bei Mittellosen, bei
mit ansteckenden Krankheiten Behafteten und bei Kontraktarbeitern."
— 159 —
außerordentlichen Bedeutung des Einwanderungsamtes
und insbesondere der wichtigsten Einwanderungsstation,
der New Yorker Einwanderungsstation ElHs Island, sowie
von der außerordentlichen Wichtigkeit und Größe der
Arbeitstätigkeit unserer Vertretungsbehörden, insbesondere
unserer Konsularbehörden in den Vereinigten Staaten.
Der Besucher von EUis Island fährt mit einem von
Bärge Office in der Nähe von Battery Place abgehenden
kleinen Dampfer ab. Auch bei meinen beiden Fahrten
nach Ellis Island war ich in Gesellschaft des Vizekonsuls
Dr. Fische rauer. Wir. fuhren Freitag, den 5. April
1912, zehn Uhr zum erstenmal nach Ellis Island und
wiederholten unsere Fahrt am Samstag, den 6. April 1912,
neun Uhr, weil wir gelegentlich unseres ersten Besuches
gerade nicht die Ankunft eines Ein wandererschiff es beob-
achten konnten. Die Boote fahren stündlich. Die Über-
fahrt dauert nicht viel über eine Viertelstunde. Bei der
ersten Fahrt sprachen wir mit dem Vertreter des öster-
reichischen Einwandererheimes und trafen ferner einen
Inspektor des Einwanderungsamtes, dessen Spezialressort
es ist, Mädchenhändler anzuhalten und der strengen Be-
strafung zuzuführen sowie ihre unglücklichen Opfer zu
befreien.5)
Ich habe irgendwo gelesen, daß die Fahrt nach Ellis
Island an venetianische Eindrücke gemahne; das ist
richtig. Die Gebäude sind vortrefflich instand gehalten.
Bei unserem ersten Besuche machten wir dem damaligen
Commissioner des Einwanderungsamtes, Mr. William Wil-
liams, unsere Aufwartung. Im Wartezimmer von Mr.
Williams' Office fielen mir sehr gute Bilder aus Rom
auf. Mr. Williams, ein vornehmer Mann, welcher seine
Studien in Deutschland, ich glaube in Göttingen, abgelegt
^) Ein Gesetz aus dem Jahre 1910 macht es zum Verbrechen, die
Beförderung einer Frauensperson von oder nach dem Auslande, oder
von einem Staate nach dem anderen, oder von oder nach oder in einem
Territorium zu unmoralischen Zwecken zu veranlassen oder zu unter-
stützen. Freund, a. a. 0.. S. 74, Anm. 1.
— 160 —
hatte, empfing uns auf das liebenswürdigste. Der
mächtige Mann erteilte mit großer Zuvorkommenheit die
Erlaubnis, die gesamte Einrichtung der Insel zu besehen. 6)
Auch einen Assistant des Commissioner lernten wir
kennen. Wir sahen die Magazine, in welchen sich die
Leute mit Proviant versehen können, bevor sie das Land
betreten, wir sahen die Zimmer und Betten, in welchen
die Zurückgehaltenen wohnen. Diese Wohnräume
machten einen sehr guten Eindruck. Wir sahen die
Speisehalle, in welcher die zurückbehaltenen Einwanderer
auf Kosten der Dampfschiffahrtsgeselischaft ihre Mahl-
zeiten erhalten. Diese Halle, welche gewöhnlich zwischen
halb zwölf und halb ein Uhr benützt wird, hat einen
Fassungsraum von 1200 Sitzen. Wir sahen die Dach-
terrassen, auf welchen die Zurückgehaltenen spazieren
gehen dürfen. Wir sahen die große Halle, in welcher
die Unionsbeamten die Ausweispapiere und die Geld-
mittel der Angekommenen prüfen. Es ist dies eine lange
Halle mit der Länge nach gestellten Bänken. Die Ein-
wanderer haben sich nach ihrer Nationalität, beziehungs-
weise Sprache zu gruppieren. Tafeln zeigen diese
Sprachen an. Die Schmalseite des Saales nehmen die
Tische der Unionsbeamten ein. Diese Tische sind durch
eine Schranke von der Halle getrennt. Jeder einzelne
Einwanderer tritt vor, seine Papiere werden geprüft,
seine Geldmittel abgezählt. Seit dem Jahre 1882 erhob
die Bundesregierung auf jeden zugelassenen Einwanderer
eine Kopfsteuer, welche 1907 auf vier Dollars erhöht
wurde. Ein fixes Minimum an Geld, das ein Einwanderer
haben muß, gibt es auch nach dem neuesten Ein-
wanderungsgesetz von 1907 nicht (vgl. Freund, a.a. 0.,
S. 71). Wohl aber wurde mir von verschiedenen
Personen als bestimmt erzählt, daß man gewöhnlich
®) Das Department of Commerce and Labour United States Immi-
gration Service gibt Instruktionen für Besucher aus, in deren Ein-
leitung es heißt, daß die Erlaubnis zum Besuche von Ellis Island auf
schriftliches, an den Commissioner gerichtetes Gesuch erteilt wird.
— 161 —
25 Dollars als Minimum pro Kopf verlange.'^) Ergibt
sich bei dieser in der großen Halle vorgenommenen
Prüfung irgendein Bedenken, oder besitzt der Betreffende
nicht wenigstens die eben erwähnten 25 Dollars und.
auch nicht Freunde im Lande, die für ihn einstehen
und ihn abholen, dann muß er zur Prüfung in eines
der verschiedenen Inquiry Offices. Wir betraten ein
solches Inquiry Office und wohnten einer Anzahl Ver-
handlungen bei, welche unter der Intervention eines
Dolmetsch und des Vertreters einer Hilfsgesellschaft ge-
führt wurden.8) Die Hilfsgesellschaften der betreffenden
') Die wichtigsten Gruppen ausgeschlossener Personen sind ver-
urteilte Verbrecher (mit Ausnahme der rein politischen), Personen, die
geistesschwach, mit Tuberkulose, ekelhaften oder ansteckenden Krank-
heiten behaftet oder physisch defekt sind, Prostituierte und Mädchen-
händler, alle die voraussichtlich der öffentlichen Armenpflege zur Last
fallen werden, und alle, die sich zur Polygamie und zum Anarchismus
bekennen. Vgl. Freund, a. a. 0., S. 71 f. Kinder unter 16 Jahren,
die nicht von den Eltern begleitet sind, kann der Handelssekretär
ausschließen. Wird der Preis der Überfahrt ganz oder zum Teile von
anderen Personen als dem Einwanderer bezahlt, so muß nachgewiesen
werden, daß derselbe nicht zu den ausgeschlossenen Klassen gehört
und daß der Preis nicht von einer Gesellschaft oder einer Eegierung
gezahlt worden sei. Stellt sich innerhalb von drei Jahren nach der
Zulassung eines Einwanderers heraus, daß er nicht hätte zugelassen
werden sollen, so kann eine Deportation desselben stattfinden. (§ 21 des
Einwanderungsgesetzes vom Jahre 1907, vgl. Freund, a.a.O., S. 72.)
Ich lasse es dahin gestellt, ob sich gegen die Prinzipien der ameri-
kanischen Einwanderungsgesetzgebung ein begründeter Einwand erheben
läßt. Daß aber viele in Durchführung dieser Grundsätze getroffene Maß-
nahmen und insbesondere zum Beispiel die Zurückhaltung einer ganzen
Familie wegen eines kranken Kindes oder gar die Zurücksendung von
Einwanderern in jedem einzelnen Falle als eine schwere Härte oder sogar
als vernichtendes Unglück empfunden werden, ist eine traurige Wahrheit.
Vgl. auch Schwegel, a. a. 0., S. 185 ff., femer den Vortrag desselben
Autors "Über die neue deutsche Amerikaliteratur", S. 33ff. Kritische
Bemerkungen gegen die amerikanische Einwanderungsgesetzgebung und
Einwanderungspolitik bei Holitscher, a. a. 0., S. 342 ff. Über die
amerikanischen "Einwanderungsfeinde", Schwegel, a. a. 0., S. 189.
Vgl. aber auch Wells, a. a. 0., S. 118 ff.
*) Ich habe selbst beobachtet, daß die Beamten in der großen
Halle die Geldbeträge, welche die einzelnen Einwanderer als ihr
Hanausek, Amerikanische Skizzen. IX
— 162 —
Nation bemühen sich dann, die Zurückbehaltenen aus
der Detention zu befreien. Wir sahen die Leute direkt
von einem Schiffe, das sie von Europa hergebracht,
kommen, sie passierten den Arzt, der ihre Leibes-
beschaffenheit mustert, den Augenarzt, der feststellt, daß
sie nicht mit einer ansteckenden Augenkrankheit behaftet
sind. Es ist daher begreiflich, daß ansteckende Augen-
krankheiten der Einwanderer sehr gefürchtet sind. Der
Schiffsarzt hatte einigen schon ein W oder ein C auf den
Ärmel mit Kreide zeichnen lassen. W sagt Weak und
C Conjunctivitis. Ältere Frauen sind in demselben Saale,
in dem sich die Ärzte befinden, welche die Eintretenden
zu untersuchen haben. Diese Frauen mustern mit
prüfendem Blick die einwandernden weiblichen Personen,
ob dieselben etwa schwanger sind. Unverheiratete
schwangere Frauen dürfen regelmäßig nicht einwandern.
Die Einwanderung soll nicht selten davon abhängig ge-
macht werden, daß der Mann, in dessen Begleitung die
unverheiratete schwangere Frau gereist ist, sie heiratet.
Alle diejenigen, die nicht glatt und anstandslos die Ärzte
passieren, müssen noch die ärztliche Kontrolle in der
Sanitätsstation über sich ergehen lassen, um vielleicht
dann zu längerer Beobachtung zurückgehalten oder im
ärgsten Falle zurückgesendet zu werden. Die Schiff-
fahrtsgesellschaften sind verpflichtet. Zurückgewiesene
unentgeltlich nach Europa zurückzunehmen.
Als wir nach mehrstündiger Wanderung durch die
imposanten Anlagen die Insel verließen, fuhren schon
viele Einwanderer, die früh erst gekommen waren, allein
oder mit ihren Freunden nach New York, das Herz voller
Hoffnungen. Möge sie die neue Heimat erfüllen!
Eigentum vorwiesen, nachzählten und daß in einem Inquiry Office
gerade darüber verhandelt wurde, ob der betreffende Einwanderer, der
seinen Besitz an Barmitteln vorwies, genügend Barmittel besitze. Der
Vertreter der betreffenden nationalen Hilfsgesellschaft hat dann für
den betreffenden Einwanderer interveniert. Auch das Einstehen eines
im Lande Befindlichen für den Einwanderer scheint den Mangel der
fehlenden Geldmittel regelmäßig ersetzen zu können.
— 163 —
Die Passagiere der ersten und zweiten Klasse werden
nicht nach Ellis Island gebracht, sondern an Bord ihres
Schiffes von den Beamten des Einwanderungsamtes be-
fragt. Nur wenn besondere Bedenken gegen die Bewilli-
gung der Einwanderung seitens des an Bord erschienenen
Einwanderungsbeamten erhoben werden 9), müssen sich
auch Passagiere dieser Klassen den Transport nach Ellis
Island gefallen lassen.i^)
Vor einiger Zeit hat der Kongreß mit großer Majorität
eine Bill angenommen, welche eine starke Hemmung
der Einwanderung nach .Amerika bewirken sollte. Nach
der neuen Bill sollen Personen über 16 Jahre, die
nicht lesen und schreiben können, von der Einwande-
rung ausgeschlossen sein. Ausgenommen sollen jene
Personen sein, die nachweisen können, daß sie wegen
Verfolgung aus religiösen Gründen ausgewandert seien.
Infolge des Vetos des Präsidenten Taft hat aber das
Repräsentantenhaus in neuerlicher Beratung diese Ein-
wanderungsbill mit knapper Majorität abgelehnt ("Neue
Freie Presse" vom 20. Februar 1913).
Wells, a. a. 0., S. 43, erzählt, daß an einem Rekord-
tage nicht weniger als 21.000 Einwanderer in New York
gelandet seien, in einer Woche 50.000. "Sie strömen
herein, finden sofort Arbeit, die Löhne gehen aber ihret-
wegen nicht zurück. Sie machen sich ans Graben, Bauen,
•) In einer amerikanischen Zeitung, welche mir augenblicklich
nicht zur Hand ist, habe ich gelesen, daß einem hohen französischen
Aristokraten der Eintritt in die Vereinigten Staaten verweigert wurde,
weil in seiner Heimat gegen ihn als Spieler ein gerichtliches Verfahren
durchgeführt worden sei; er wurde als ein nicht erwünschter Ein-
wanderer (undesirable allen) angesehen. Von europäischen Behörden
verfolgte Delinquenten werden nicht selten auf Grund verweigerter
Einwanderungsbewilligung von einem Organ des sie verfolgenden
Staates verhaftet.
^") Auf einem langen Fragebogen, den jeder ausfüllen muß, der
nach Amerika reisen will, stehen unter anderen die Fragen, ob man
polygam sei und ob man Anarchist sei. Vgl. hiezu die Bemerkungen
von Wells, a. a. 0., S. 31
11*
— 164 —
an allerlei Handarbeit." ... "Ja wahrhaftig, Ellis Island
ist ein Ort, wo sich in aller Stille Unermeßliches abspielt.
Dort bekommt man ein greifbares Bild von wenigstens
einer Seite dieses weltumspannenden Prozesses, des.
Füllens, Anschwellens und Zusammenwachsens, den
Amerika darstellt" (S. 42). Wells erzählt auch von
einem Raum, „der bis zur Decke hinauf mit Schubladen
bekleidet ist; sie tragen Etiketten mit Namen, Nationali-
täten und besonderen Umständen von mehr als anderthalb
Millionen Menschen, von Leuten, die ihre Wege gegangen
sind, aber doch noch einmal vorsprechen könnten." n)
Endlich sei noch eines Gesetzes gedacht, das sich
gegen den Contract Labor kehrt, das ist ein Gesetz,
welches verbietet, daß ausländische Arbeiter auf Grund
eines für einen bestimmten Lohn und für eine bestimmte-
Zeitdauer mit einem Individuum oder mit einer Gesell-
schaft in Amerika abgeschlossenen Vertrages in das Gebiet
der Union eingeführt werden. Damit will man die natio-
nale Arbeit (National Labor) schützen und den Wünschen
^^) Eine sehr lebhafte Schilderung des Lebens auf Ellis Island
gibt Holitscher, a. a. 0., S. 341 ff. Vgl. auch ein Feuilleton von
Emmy Graetz, "Auf Ellis Island, der Einwandererinsel", in der
"Neuen Freien Presse" vom 11. Dezember 1912. — Holitscher,
a. a. 0., S. 348, führt an, es gebe nach einer oberflächlichen Schätzung
in der Stadt New York etwa 900.000 Juden. — Bryce, IL, p. 35, N. 1:
"In New York City the Jews (of whom there are about 400.000 adult
males) were at first mostly Democrats, and the Italians mostly Repu-
blicans." Die beiden Ziffern stehen wenigstens nicht in offensichtlichem
Widerspruch.
Bei Barth, Amerikanische Eindrücke, S. 22, heißt es: "Unter
allen Leistungen der amerikanischen Union erscheint keine impo-
nierender als jene, die sie in ihrer Eigenschaft als Nationalitäten-
Schmelztiegel vollbracht hat." Hierauf gibt Barth eine ergreifende
Schilderung eines Festaktes in einer Schule der Educational Alliance,.
in der die Kinder eben eingewanderter russischen Juden unterrichtet
werden. — Der Amerikanisierungsprozeß ist ein so rascher und voll-
kommener, daß die Nachkommen unserer Auswanderer schon in der-
ersten Generation nicht mehr von den Abkömmlingen der ersten,
Pioniere zu unterscheiden sind. (Schwegel, a. a. 0., S. 195.)
— 165 —
der Arbeiterschaft (Labor Party, Working Men Party)
entgegenkommen, vor allem aber das System der weißen
Sklaverei (white Slavery), das sich infolge der Sprach-
unkenntnis, Ignoranz und Not der durch betrügerische
Versprechungen verführten Immigranten aus Europa in
einigen Staaten entwickelt hatte, unmöglich machen. 12)
Wer Ellis Island besucht, wer die einwandernden
Landsleute beobachtet, wer die erschreckend hohen
Ziffern der österreichisch-ungarischen Auswanderer sich
zum Bewußtsein bringt, wird sich darüber klar sein, daß
eine richtige Auswanderungsgesetzgebung eines der wich-
tigsten wirtschaftlichen und sozialen Postulate ist. Wir
wollen und können die Auswanderung nicht hindern, wir
müssen sie dulden und darum regeln, aber wir sollen die
Auswanderung nicht fördern. Wir müssen unsere Lands-
leute vor denjenigen schützen, die sie zur Auswanderung
verleiten und sie nicht an die richtige Stelle leiten, sondern
sie irreführen. Die Geldsendungen unserer Auswanderer
in die Heimat sind gewiß kein auch nur annähernder Er-
satz für die uns entgehende Volkskraft.^^) Wie wenige
von den nach Amerika Auswandernden kehren als wohl-
habende Leute in die Heimat zurück. Viele andere
kommen ebenso arm, als sie gegangen sind, und viel-
leicht mit gebrochener, jedenfalls aber mit geschwächter
Kraft und in weniger erwerbsfähigem Alter. Den Ernst
dieser Probleme und die Wichtigkeit ihrer richtigen Lö-
sung habe ich niemals so stark empfunden, als in den
Stunden, die ich in Ellis Island zugebracht habe.
12) Vgl. Rambeau, a. a. 0., S. 170 ff.; E. Münsterberg,
"Amerikanisches Armenwesen", S. 9. — Unter das Gesetz fallen nicht
Dienstboten, gelernte Arbeiter, die im Lande selbst nicht beschafft
werden können und Personen, deren Leistungen wissenschaftlichen
oder künstlerischen Charakters sind. (Freund, a. a. 0., S. 72.)
1^) Vgl. hiezu Schwegel, a. a. 0., S. 193 ff., wo es treffend heißt:
'• — Die Länder Europas geben an Amerika von ihrem Besten. Den
besten Teil von ihrem Fleisch und Blut, denn es sind die besten und
rührigsten, die auswandern."
- 166 —
VIIL Kapitel
Miszellen.
Das Taylor System.
In einem im Niederösterreichischen Gewerbeverein
gehaltenen Vortrage des Sekretärs der Brünner Handels-
und Gewerbekammer, Regierungsrates Dr. Rob. Mayer^),
habe ich zum erstenmal von einem Buch gehört, das
so charakteristisch amerikanisch ist, daß ich es trotz
der Gefahr des Vorwurfes meiner fachmännischen Un-
kenntnis im letzten Kapitel, welches ja nicht fach-
lichen Inhaltes sein soll, kurz besprechen möchte. Es
ist dies das bereits oben in der Einleitung, S. 5, zitierte
Buch "The Principles of Scientific Management" by
Frederick Winslow Taylor, M. E., Sc. D., New York
and London 1913. Das Buch ist auch in deutscher
Sprache unter dem Titel "Die Grundsätze wissenschaft-
licher Betriebsführung" erschienen, München und Berlin,
1913. Der Herausgeber der vortrefflichen, autorisierten
deutschen Ausgabe ist Dr. jur. Rudolf Roesler, Dipl.
Ingenieur.
Das Taylor System ist ein Weg zu einer möglichst
haushälterischen Verwertung der menschlichen Kraft. 2)
Die Produktion soll gesteigert werden, die Herstellungs-
kosten sollen trotz höherer Löhne verringert werden. 3)
Faustregeln (Rule-of-thumb Methods) sind solche Regeln,
"deren Existenzberechtigung — — im günstigsten Falle
durch wirklich gemachte Erfahrungen, oft aber nur dadurch
begründet ist, 'daß dies immer gegolten hat', 'daß die
anderen es auch so machen', oder 'daß wir es immer
^) Dieser ausgezeichnete tind eine Fülle wertvollen Materials
enthaltende Vortrag ist in der "Neuen Freien Presse" vom 3. Juni 1913
unter dem Titel "Die amerikanische Industrie" erschienen.
«) Deutsches Vorwort, S. XII.
») Deutsches Vorwort, S. XVIU.
— 167 —
so gemacht haben'"*). Pensiunsystem ist das System
einer bestimmten vorgeschriebenen Leistung.^) "Im
Gegensatze dazu steht das Initiativsystem oder Lock-
system, bei welchem die Arbeiter ihr Bestes hergeben
und als Entgelt dafür eine besondere Belohnung von
ihrem Arbeitgeber erhalten sollen." ß) Das Initiativsystem
dürfte wohl die beste Art der üblichen Verwaltungs-
systeme sein, aber das neue System (Taylor System)
soll noch unvergleichlich besser sein als dieses beste
der alten Systeme.
Die Prinzipien des neuen Systems werden S. 38 ff.
in folgenden Sätzen formuliert:
1. Die Leiter entwickeln ein System, eine Wissen-
schaft für jedes einzelne Arbeitselement, die an die Stelle
der alten Faustregelmethode tritt.
2. Auf Grund eines wissenschaftlichen Studiums
wählen sie die passendsten Leute aus, schulen sie, lehren
sie und bilden sie weiter, anstatt wie früher den Ar-
beitern selbst die Wahl ihrer Tätigkeit und ihre Weiter-
bildung zu überlassen.
3. Sie arbeiten in herzlichem Einvernehmen mit den
Arbeitern; so können sie sicher sein, daß alle Arbeiten
nach den Grundsätzen der Wissenschaft, die sie auf-
gebaut haben, geschehen.
4. Arbeit und Verantwortung verteilen sich fast
gleichmäßig auf Leiter und Arbeiter. Die Leitung nimmt
alle Arbeiten, für die sie sich besser eignet, auf ihre
Schultern, während bisher fast die ganze Arbeit und der
größte Teil der Verantwortung auf die Arbeiter gewälzt
wurde.
Taylor gibt zur Erläuterung des Systems eine Reihe
von Beispielen: Er spricht zunächst vom Verladen von
Roheisen und führt aus, daß auf Grund seines Systems
*) Deutsche Ausgabe, S. 14 f., Anm. 1.
») S. 32 f.
«) S. 361
— 168 —
ein erstklassiger Roheisen Verlader nicht I21/2 t, sondern
47 bis 48 t pro Tag verladen konnte. Die Methode, durch
welche ein Arbeiter, den Taylor Schmidt nennt, erzogen
wurde, bei einer Lohnsteigerung von 1 Dollar 15 Cents
auf 1 Dollar 85 Cents statt 12^2 t 47 t Roheisen zu
verladen, ist überaus anschaulich geschildert.^) Taylor
erörtert dann die "Wissenschaft" des Schaufeins s), des
Legens von Ziegeln 9), des Prüfens der Kugeln aus ge-
härtetem Stahl für die Kugellager von Fahrrädern 10);
für diese Arbeit sind nur Arbeiterinnen zu brauchen
mit einem niederen persönlichen Koeffizienten, nämlich
solche Arbeiterinnen, welche eine ungewöhnlich schnelle
Wahrnehmungsgabe haben und außerordentlich rasch
reagieren. Das Endresultat der Versuche war, daß
35 Mädchen dieselbe Arbeit lieferten, wie vorher 120 bei
einer Arbeitszeit von 8V2 statt lO^/g Stunden, und daß die
Genauigkeit der Arbeit zweidrittelmal größer ist als beim
früheren Tempo, 11) Daß bei der Einführung des neuen
Systems die Fabrik viele der intelligentesten, fleißigsten
und ehrlichsten Mädchen lediglich deshalb verlor, weil
ihnen schnelle Wahrnehmung und Entschlußfähigkeit
fehlte, wird auf S. 94 ganz offen erzählt.
Die Durchführung des Taylorschen Systems scheint
mir vorauszusetzen, daß der Leitung des Unternehmens
so viele Arbeiter zur Verfügung stehen, daß eine Aus-
wahl erstklassiger Arbeiter überhaupt möglich ist und
daß für die zu leistenden Arbeiten eben nur erstklassige
Arbeiter in Verwendung kommen. Auch scheint mir,
daß die unvermittelte Übernahme des Taylorschen
Systems Arbeiterentlassungen zur Folge haben müßte,
welchen jedenfalls in unseren Verhältnissen doch viel-
fach erhebliche tatsächliche Hindernisse im Wege stünden.
- ') s.
47 ff.
«)S,
68 ff.
») s.
80 ff.
10) S.
90 ff.
") s.
100.
— 169 —
Auch hätte wohl die Einführung des Taylorschen Systems
eine maßlose Ausnützung der Arbeitskraft jener Arbeiter
zur Folge, welche, ohne erstklassig qualifiziert zu sein,
die Leistungen und den Lohn der erstklassig Qualifizierten
erringen und erhalten müßten.
Der Wert des Taylorschen Buches besteht also, wie
Dr. Robert Mayer, a. a. 0., mit Recht ausführt, darin,
daß es auf die Wichtigkeit technischer Beobachtung des
manuellen Arbeitsprozesses aufmerksam macht. Ob die
Durchführung des Taylorschen Systems in Amerika wirk-
lich "trotz des unversiegbaren Stromes der Ein-
wanderer" 12) auf die Dauer dazu führen wird, ein herz-
liches Einvernehmen zwischen Arbeitern und Arbeit-
gebern zu schaffen und zu sichern, scheint mir keines-
wegs unzweifelhaft festzustehen.
Amerikanische Gleichheit und Disziplin.
Das amerikanische Gemeinwesen entspricht durchaus
nicht einem europäischen in seiner Gesamtheit, sondern
nur in seinen mittleren Massen. Es fehlt ihm, wie Wells
a. a. 0., S. 64, dies ausdrückt, im Gegensatze zum
europäischen Organismus das sinnende Haupt und die
unteren Extremitäten. Der Zug demokratischer Gleich-
heit trotz aller Verschiedenheiten der ökonomischen
Position und Macht fällt dem neuankommenden Europäer
überall auf. Die Eisenbahnen haben nur eine Wagen-
klasse. Man sage nicht, daß diese für den reichen
Amerikaner nicht in Betracht komme. Der reiche Börsen-
mann, welcher abends oder zu Weeksend nach seinem
Landhaus zurückkehrt, fährt eine oder vielleicht auch
mehrere Stunden in einem Lokalzuge mit durchgehenden
Wagen, in welchen zahlreiche Arbeiter aus der Stadt
heimfahren. Dieser Zug demokratischer Gleichberechti-
gung fällt aber auch in den Expreßzügen auf, welche
entweder für Tagfahrten aus Parlor Cars, das heißt
^^) Robert Mayer, a. a. 0.
— 170 —
Waggons zusammengesetzt sind, in welchen jeder einzelne
Reisende sich seinen Fauteuil zu mieten hat, oder für
lange Reisen mit Nachtfahrten aus Schlafwagen zu-
sammengesetzt sind. Die Möglichkeit des Alleinreisens
ist auch in den Expreßzügen, welche sehr wenig besondere
Coupes (Drawing Rooms, Compartments) mit sich führen,
für sehr wenige Reisende gegeben. Der Neger Guard,
der Vanman (Gepäckswagenmann), der Billetkontrolleur
nehmen in Expreßzügen mitten unter dem Publikum Platz.
Beim Frühstück zu Ehren des Prinzen Heinrich am
26. Februar 1902 wurden die Teilnehmer nach dem
Alphabet gereiht, so daß John Rockefeiler an der dritt-
letzten Tafel Platz nehmen mußte (Goldberger, a.a.O.,
S. 90, S. 164). Es wirkt überraschend, wie schnell diese
Gleichstellung das gesamte Gebaren und Betragen der
erst kurz im Lande Befindlichen hebt.
Der Sinn für Disziplin des Amerikaners ist ein sehr
großer. Die strenge Einhaltung des Rauchverbotes, das
tadellose Aussehen der Waschtoiletten in den Eisenbahn-
zügen, in welchen man ja oft tagelang leben muß, die
Ordnung, mit welcher sich die 30 und 40 und mehr Be-
wohner und Bewohnerinnen eines amerikanischen Schlaf-
wagens früh beim Toilettemachen bewegen, fallen an-
genehm auf. Die Ordnung in den Zügen ist trotz der oft
sehr großen Distanz der einzelnen Stationen, des geringen
Zugbegleitungspersonals und obwohl es, soviel ich be-
obachten konnte, in den Zügen und auf den Bahnhöfen
an Organen der Ordnungs- und Sicherheitspolizei so gut
wie ganz fehlt, eine überraschend gute. Das freundliche
Entgegenkommen der Passagiere hat mich angenehm be-
rührt. Ich habe bei meinen vielen Nacht- und Tages-
eisenbahnfahrten nirgends einen Streit zwischen Fahr-
gästen oder einen Konflikt zwischen einem Fahrgast und
einem Eisenbahnorgan beobachtet. Im fernen Westen
Amerikas ist mir einmal das Mißgeschick widerfahren,
daß ich beim Herabreichen eines Koffers einer amerika-
nischen Dame den Kofferbügel abgerissen habe. Die
— 171 —
freundliche Gelassenheit, mit welcher die mir ganz fremde
Dame das ihr durch meine Ungeschicklichkeit wider-
fahrene, recht unbequeme Mißgeschick aufnahm, habe
ich dankbar empfunden.
Die Ruhe, mit welcher der Amerikaner die Über-
füllung eines Straßenbahnwagens über sich ergehen läßt,
eine Überfüllung, v^on welcher man sich in Europa oft
kaum auch nur eine Vorstellung macht, habe ich oft
bewundert. Der Amerikaner weiß, daß die Konzentrierung
der City auf einen relativ kleinen Bezirk, der gleich-
zeitige Schluß aller Geschäfte an die Straßenbahngesell-
schaften ein kaum lösbares Problem stellt und so fügt
er sich mit bewunderungswürdiger Geduld. Ich bin einmal
in Pittsburg in einen überfüllten Straßenbahnwagen ge-
raten, welchen ich, da ich infolge eines Versehens einen
falschen Wagen bestiegen hatte, nach knappen zwei
Stationen verlassen mußte; die freundliche Hilfsbereit-
schaft, mit welcher die aneinander gekeilten Fahrgäste
mir rasch aus dem Wagen halfen, ist mir in Erinnerung
geblieben. Ich habe es, als ich mein Versehen entdeckte,
zunächst für gar nicht möglich gehalten, daß ich den
überfüllten Wagen überhaupt rechtzeitig werde verlassen
können.
Der amerikanische Millionär, der ein fashionables
Restaurant betritt, nimmt nicht früher Platz, bis der
Oberkellner, dessen Befugnis und Pflicht es ist, die Gäste
zu empfangen, seines Amtes zu walten findet, und nimmt
keinen anderen Platz ein, als den ihm der Oberkellner
anweist. Er weiß, daß das Behagen aller Gäste des
Raumes auch von der entsprechenden Disposition über
die Plätze abhängt. Aufgefallen ist mir als ein Beispiel
der Rücksicht, welche der Amerikaner Bediensteten gegen-
über übt, daß in den Vorräumen der großen amerika-
nischen Hotels vielfach Stühle sich befinden mit der
Aufschrift "for bellboys only", Stühle, die also für eine
Kategorie von Dienern reserviert sind und von den Hotel-
gästen nicht in Anspruch genommen werden dürfen.
— 172 —
In den sogenannten Dry States ist der Alkohol ver-
boten. Der Alkohol verschwindet auch wirklich, wenn
der Expreßtrain in das Gebiet des Dry State einfährt.
In manchen Staaten des Westens ist der Gebrauch von
im Zuge befindlichen Gläsern aus hygienischen Gründen
verboten. Jeder Reisende muß dann eben sein eigenes
Glas, seinen Metallbecher (Aluminiumbecher) benützen.
Man kann diese Becher dann bei den den Zug oft durch-
schreitenden Händlern, welche manchmal eine längere
Fahrt mitmachen, manchmal nur stationsweise mitfahren
oder während des Aufenthaltes in den Stationen den
Zug durchschreiten, kaufen. Diese, die Wagen unzählige
Male im Tage durchschreitenden Händler, welche vor
allem auch die unvermeidlichen Süßigkeiten und Schoko-
laden mit sich führen, sind für den europäischen, solche
Störungen nicht gewohnten Reisenden oft sehr lästig. Die
verbotenen Gläser sind aber, woran ich selbst anfangs
nicht glauben wollte und wovon ich mich selbst wieder-
holt überzeugt habe, wirklich verschwunden, wenn der
Zug die Grenze des Verbotsstaates überschritten hat.
Das Freiheits- und Unabhängigkeitsgefühl schließt
in den amerikanischen Schulen Disziplinarmittel so gut
wie ganz aus. Lehrer und Schüler stehen sich vollkommen
gleichberechtigt gegenüber. Aber das Gefühl der Billig-
keit und Gerechtigkeit ist schon so früh in der Jugend
entwickelt, daß der Lehrer mit Erfolg an dasselbe
appellieren kann, und es wurde mir übereinstimmend
versichert, daß die Ordnung in den amerikanischen
Schulen im großen und ganzen eine gute sei. So ist
es denn auch möglich, daß der Unterricht in den obersten
Klassen der High School, in welchen Jungen v^on 15 bis
19 Jahren sich befinden, oft von Lehrerinnen erteilt
werden kann.
Die Strafandrohungen wegen einer Ordnungswidrig-
keit sind manchmal sehr barbarisch, aber sie scheinen
zu wirken. Die althergebrachte Unart des Spuckens in
den Wagen der Straßenbahn ist, wenigstens soweit ich
— 173 -
dies in großen Städten zu beobachten Gelegenheit hatte,
gründlich beseitigt worden. Die Strafdrohungen klingen
manchmal freilich sehr hart. Ich glaube solche gelesen
zu haben, in welchen Geldstrafen bis zu 1000 Dollars
oder Gefängnis bis zu einem Jahre angedroht waren. i3)
Das Ansprechen einer Frau auf der Straße ist im
Staate California mit schweren Strafen bedroht. Ich kann
mich an den angedrohten Strafsatz nicht mehr genau
erinnern, aber ich weiß, daß ich ihn sehr hoch gefunden
habe. Das Verbot aber hat gewirkt und sichert die
Frauen vor zudringlicher Behelligung. Die Zuvorkommen-
heit der Amerikaner gegen die Frau auch im täglichen
Leben ist eine sehr große. Die Hüte der Herren fliegen
fast automatisch vom Kopfe, wenn eine Dame den Lift
betritt. Aufgefallen ist mir, daß in den amerikanischen
Städten Herren und Damen ihre Autos sehr häufig selbst
fahren und dann ruhig auf der Straße stehen lassen,
während sie ihre Besuche oder Einkäufe machen. Ein
mir befreundeter Arzt macht alle seine Besuche in dem
von ihm selbst gelenkten Auto.
Das Sichselbsthelfenkönnen des Amerikaners ist für
den Europäer manchmal überraschend. Feine Herren
und Damen putzen sich ihre Stiefel selbst im Hotel und
zu Hause. Dienstleute sind ja häufig ein ganz uner-
schwinglicher Luxus. In einer mir befreundeten Familie
besorgen die Damen des Hauses alle häuslichen Ver-
richtungen selbst und nur einmal in der Woche kommt
die Waschfrau. Die amerikanische Frau ist durch die
Geschäfte des Haushaltes in der Regel unverhältnismäßig
stärker in Anspruch genommen als die europäische Frau
gleicher sozialer Stellung. Hintrager, a. a. 0., S. 153 ff.,
erzählt in sehr launiger Weise von dem wöchentlichen
") In dem interessanten Artikel "Verkehrsskizzen aus den Ver-
einigten Staaten" von Ingenieur Sigmund Strauß, "Neue Freie Presse"
vom 8. Juni 1913, ist der Straf satz von 500 Dollars oder von einem
Jahr Gefängnis oder von beidem zusammengenommen für das Aus-
spucken in einem Straßenbahnwagen angegeben.
— 174 —
Wäschefest in einer Familie, in welcher er viel verkehrte.
Für die Damen der Familie, über deren verschiedene
Religionsbekermtnisse Hintrager Interessantes mitteilt,
beginnt jeden Montag um vier Uhr früh ein Wäschefest,
bei welchem außer den Dienstboten auch sämtliche weib-
lichen Mitglieder der Familie sich tätig beteiligen, so daß
abends um vier Uhr die Wäsche wieder fertig an ihrem
Platze ist. Dann machen die Damen Toilette und wenn sie
nach der Abendmahlzeit von Literatur und Politik
sprechen, so würde kaum jemand denken, daß sie die
Seife für das Wäschefest selbst herzustellen pflegen.
Die für Amerika charakteristische Vorherrschaft der
Frau ist auf sehr verschiedene Ursachen zurückzu-
führen.i*) Die Notwendigkeit gesteigerter Arbeitsleistung
der Frau im Haushalte, in der Erziehung und im Unter-
richt sowie in den zahlreichen Wohlfahrtseinrichtungen
des großen Landes gehört gewiß mit zu den Ursachen,
welche diese Vorherrschaft der Frau, und zwar keines-
wegs bloß in der eleganten Welt, sondern in den breiten
Schichten des Volkes, begründet und aufrecht erhalten
haben.15)
Wolkenkratzer.
Die Wolkenkratzer sind entstanden, weil der Grund
und Boden in den amerikanischen Geschäftsvierteln teuer
ist; weil New York auf die schmale Insel Manhattan
beschränkt ist; weil der Betrieb eines Warenhauses auf
einen schmalen Raum, auf eine kleine Grundfläche kon-
^*) Vgl. die trefflichen Ausführungen von Hin trag er, a. a. 0.,
S. 137 ff., in dem Kapitel "Die Amerikanerin", ganz hesonders aber die
Ausführungen von Georg von Skal, a. a. 0., "Die Frau und die
Familie", S. 64 ff.
") Hintrager, a. a. 0., S. 56, erwähnt ein Strafgesetz des
Staates Jova, wonach keine alkoholischen Getränke einem Manne ver-
kauft werden dürfen, dessen Frau dies durch eine Bekanntmachung
verboten hat. — Über amerikanische Frauen als energische Alkohol-
gegnerinnen vgl. Georg von Skal, a. a. 0., S. 73 ff.
— 175 —
zentriert werden kann; weil man den Geschäftsbetrieb
auf eine Reihe breiter, sich kreuzender Straßen kon-
zentrieren wollte, um welche sich dann die Viertel mit
Villen und Einfamilienhäusern kreisförmig ziehen; weil
man nicht in der City wohnt, sondern nach getaner
Arbeit hinausfährt, um den Abend und die freien Tage
in einem, wenn auch kleinen Häuschen mit einem kleinen
Gärtchen zu verbringen; weil man Hotels mit weiten
Gesellschaftsräumen im Erdgeschoß und in den ersten
Stockwerken haben wollte und doch mit Zimmern für
Hunderte und Tausende von Mietern. Sie sind also ent-
standen, weil der amerikanische Geschäftsbetrieb, das
amerikanische Leben sie brauchte. Wer in europäischen
Städten so häufig in die Lage kommt, zwischen einem
Hotelzimmer in einem kleinen häßlichen Hof und einem
Zimmer auf die lärmende Straße hinaus zu wählen,
wird es dankbar begrüßen, wenn er in einem amerika-
nischen Hotel, zum Beispiel im Hotel "Plaza" in New
York, ein Zimmer im 15. oder 16. Stockwerk erhält,
in welchem er frische Luft, freie Aussicht und in der
Höhe Schutz vor dem Straßenlärm findet. Ich finde aber,
daß jedes Bauwerk, das so, wie es ist, entstehen mußte,
infolge seines charakteristischen Typus früher oder
später dem Besucher schön erscheinen wird. Wir finden
viele unserer Bahnhöfe schön, weil wir sie brauchen,
weil wir froh sind, wenn der Erbauer dieser notwendigen
Bauwerke ihnen eine ästhetisch wirkende oder doch nicht
einfach häßliche Architektur zu geben verstanden hat.
Wer die Wolkenkratzer bei der Ankunft in New York
von der See inmitten des herrlichen Panoramas sieht,
wird finden, daß dieselben ein unvergleichliches und un-
vergeßliches Bild imposanter Schönheit gestalten.i^) Lam-
precht, S. 81 ff ., stellt zwei Bildchen nebeneinander,
das von New York vom Hudson aus und das des trotzigen
^ö) Dem Engländer Wells (a. a. 0., S. 34) fällt in diesem Pano-
rama das Fehlen des verschleiernden Kohlendunstes infolge der Anthrazit-
heizung in New York auf. — Vgl. Rambeau, a. a. 0., S. 85 ff.
— 176 —
Tuskernestes, San Gimignano von Rocca aus gesehen;
das letztere ein Wahrzeichen der Liberias nobilium, das
erstere das Wahrzeichen der Liberty der Captains of In-
dustry ; ich finde dies als eine der feinsten Apercus dieses
geistreichen Buches. Der Blick vom Roof Garden des
Astoria Hotels in New York in einer heißen Augustnacht
auf nah und fem gelegene Wolkenkratzer und in der
Ferne auf die unter mir liegende Stadt wird mir un-
vergeßlich bleiben.
Das bekannte Fiat Iron Building (Bügeleisen-
gebäude) hat 20 Stockwerke. Das Singer Building der
bekannten riesigen Nähmaschinenfabrik erhebt sich zu
einer Höhe von 612 Fuß und von dessen 42. Stock-
werke genießt man eine unvergleichliche Aussicht. Das
Metropolitan Life Insurance Company Tower hat 50 Stock-
werke und 693 Fuß Höhe (der Kölner Dom hat 511 Fuß
Höhe) ; der Elevator führt bis zu einer Höhe von 544 Fuß.
Wer von einem dieser Türme über die weite Stadt blickt
und das unvergleichliche Panorama genießt, wird viel-
leicht daran denken, daß in dieser gigantischen Stadt
Tausende und Tausende von Menschen im Kampf um
das Leben zermalmt worden sind, aber auch Hundert-
tausende und Hunderttausende, welche die enge europä-
ische Heimat verstoßen hat oder hungern ließ, von hier
ihren Weg gefunden haben zu einem freien und glück-
lichen Leben.
Auch die Wolkenkratzer der Michigan Avenue in
Chicago, dieser Boulevard an den Ufern des Michigan-
sees, geben ein schönes, großartiges Straßenbild.
Der neueste, höchste Wolkenkratzer in New York von
56 Stockwerken ist der des Woolworth Building. Ich
hoffe, denselben bald zu sehen und bin darauf gespannt,
die ästhetische Wirkung zu beobachten, welche dieses
neue gigantische Werk amerikanischer Bautechnik in dem
großartigen Hafenbild von New York ausübt.
Bemerkungen und Nachträge.
Zu S. 8 und 10:
Hintrager, Wie lebt und arbeitet man in den Vereinigten Staaten,
wird bloß mit dem Autornamen zitiert, während
Hintrager, Amerikanisches Gefängnis- und Strafenwesen, mit
dem ganzen Titel zitiert wird.
Zu S. 75, Anm. 4:
Bei den Surrogate Courts im Staate New York ist der Surrogate
Richter mit juristischer Vorbildung und fällt Entscheidungen in Naeh-
laßsachen. Die administrativen Geschäfte des Nachlaßgerichtshofes
werden dann durch die Surrogate Clerks, an deren Spitze der Chief
Clerk steht, besorgt. Im Staate New Jersey hat der Surrogate dieselbe
Stellung wie der Chief Clerk im Staate New York, ist nicht Eichter,
bedarf nicht juristischer Vorbildung und untersteht dem Orphans Court
mit dem Orphans Jndge.
Zu S. 80:
Es kommt daher sehr häufig vor, daß ein Anwalt einer Partei,
insbesondere auch einer Korporation (Aktiengesellschaft) den Titel
"Judge"' führt.
Zu S. 91, Anm. 6:
In der Grazer "Tagespost" vom 27. Juli 1913 finden sich unter
dem Schlagworte "Die Frau als Rechtsanwalt" folgende Mitteilungen:
"Als vor einiger Zeit die Bundesregierung das Verfahren gegen den
Standard Oil-Trust begann, zog der Generalstaatsanwalt die New Yorker
Juristin Miss Mary Grace Quackenbos in den Staatsdienst, ernannte
sie zum Staatsanwalt und ihre Tätigkeit während des Prozesses erwies
sich als von größtem Werte. In den Vereinigten Staaten wirken heute
gegen vierzig weibliche Rechtsanwälte. Am berühmtesten unter ihnen
ist wohl Frau Rechtsanwalt Lockwood, die vor einiger Zeit die An-
sprüche eines Indianerstammes gegen die Bundesregierung vertrat und
ein Urteil erwirkte, das den Staatssekretär zwang, den Tscherokesen
eine Entschädigungssumme auszuzahlen, die sich auf viele Millionen
Mark belief."
Hanaasek, Amerikanische Skizzen. 12
— 178 —
Zu S. 107:
Daß der Jugendrichter Pinckney neuestens einen weiblichen
Assistant Judge sich bestellt hat, ist bereits oben S. 92, Anm. 7,
erwähnt worden.
Zu S. 144:
Bei Hintrager, "Amerikanisches Gefängnis- und Strafenwesen",
S. 42 ff., sind folgende Zeilen aus einem deutsch geschriebenen Brief
eines Gefangenen in Elmira an dessen in Deutschland lebenden Vater
mitgeteilt: "Seit ich hier bin, habe ich keine rahige Stunde mehr, ich
bin immer so aufgeregt, man muß immer Angst haben, wenn man
einen Fehler macht, dann können sie einen ein Jahr länger behalten."
Auf S. 40 sagt Hintrager, "Der Gefangene, welcher die Elmira-
Schule verläßt, ist physisch und intellektuell für den Konkurrenzkampf
vorzüglich ausgestattet. Dies allein schon hält viele dem Gefängnis
fem." Der Besuch Hintragers in Elmira fällt in die Zeit vor der
oben S. 144, Anm. 31, erwähnten Krise in Elmira. Das System der
unbestimmten Verurteilung setzt besonders hohe Anforderungen nicht
nur an die Menschenkenntnis, sondern auch an die Menschenfreund-
lichkeit des Leiters der Strafanstalt.
UNIVERSITY OF CALIFORNIA LIBRARY
Los Angeles
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