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Full text of "Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin"

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ARCHIV 


FÜR 
BAR \ 
ANATOMIE, PHYSIOLOGIE 
WISSENSCHAFTLICHE MEDICIN. 


Dr. CARL BOGISLAUS REICHERT 


PROFESSOR DER ANATOMIE UND VERGLEICHENDEN ANATOMIE, DIRECTOR DES KÖNIGLICHEN 
ANATOMISCHEN MUSEUMS UND ANATOMISCHEN THEATERS, MITGLIED DER KÖNIGLICHEN 
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN 


UND 


D®. EMIL DU BOIS-REYMOND 


PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE, DIRECTOR DES KÖNIGLICHEN PHYSIOLOGISCHEN LABORA- 
TORIUMS, MITGLIED DER KÖNIGLICHEN AKADENIE DER WISSENSCHAFTEN 


ZU BERLIN. 


FORTSETZUNG VON REIL’S, REIL’S UND AUTENRIETH’S, 
J. F. MECKEL’S UND JOH. MÜLLER’S ARCHIV. 


JAHRGANG 1876. 


Mit neunzehn Kupfertafeln. 


15 1,P, 21.6: 
VERLAG vos VEIT ET COMP. 


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EL EROIREN AO 


Inhalts-Verzeichniss. 


Seite 

Adamkiewicz, Dr. Albert. Mechanische Prineipien der Homöo- 

thermie bei höheren Thieren und das Newton’sche Gesetz 

bei der Wärmeabgabe derselben. Studien über thierische 
Wärme. Dritte Abhandlung. (Hierzu Taf. VIIA.). . . 248 

Babuchin, A. Uebersicht der neuen Untersuchungen über Ent- 

wickelung, Bau und physiologische Verhältnisse der elek- 

trischen und Be Organe. (Hierzu Taf. XI 
BERN. . 501 

du Bois-Reymond, E. Ueber die negative Schwankung des 

Muskelstromes bei der Zusammenziehung. Dritte und letzte 
Abtheilung . . . 123 u. 342 

Boll, Prof. Franz. Neue Untersuchungen über die Structur der 

elektrischen Platten von Torpedo. Aus dem Laboratorium 

für vergleichende Anatomie und Physiologie in Rom. 
Vierte Mittheilung. (Hierzu Taf. VII). . . . . 462 

Colasanti, Dr. Giuseppe Anatomische und Physiologische 

Untersuchungen über den Arm der Kephalopoden. Aus 

dem Laboratorium für vergleichende Anatomie und Phy- 
siologie in Rom. Fünfte Mittheilung. a Taf. IX u. X.) 480 


Dönhoff, Dr. Beiträge zur Physiologie . . . . 236 u. 455 

Dreher, "Dr. Eugen. Zur Theorie des Sehens. . - . 630 

Erler, Dr. Hugo. Ueber das Verhältniss der Kohlensäure-Abgabe 
zum Wechsel der Körperwärme . . . 556 


Ewald, Dr. C. Anton, I. Assistenten der medieinischen Klinik 
und Docenten zu Berlin. Untersuchungen zur Gasometrie 
der Transsudate des Menschen. Zweite Abtheillung . . 422 
Frey, Hermann, aus Zürich. Anatomische Untersuchungen der 
Gefässnerven der Extremitäten. (Hierzu Taf. XVI u. XVII) 662 
Gruber, Dr. Wenzel, Professor der Anatomie in St. Petersburg. 
Ueber die Glandula thyreoidea ohne Isthmus beim Men- 
schen. (Hierzu Taf. IV). . . . 208 
— — Ueber ein aus der Epiphyse eines durch einen fortsatz- 
artigen Anhang vergrösserten Multangulum minus ent- 
wickeltes, articulirendes neuntes Ossiculum carpi. (Hierzu 
BABY) . 221 
— — Ein Nachtrag zum Vorkommen des zweitgetheilten " Joch- 
beines — Os zygomaticum bipartitum —, bei Anwesenheit 
des Kiefer-Schläfenbogens — Arcus maxillo-temporalis 
intra jugalis — Gruber. (Hierzu Taf. VL.) . . . . .230 
— — Ueber den Musculus atlantico-mastoideus. (Hierzu Taf. 
KVARNER A 


IV Inhalts-Verzeichniss. 


Seite 
Gruber, Dr. Wenzel, Professor der Anatomie in St. Petersburg. 
Ein Musculus cleido-epistrophiecus ‘bei Existenz des Mus- 

culus eleido-mastoideus der Norm. (Hierzu Taf. XVII. B.) 739 
— — Ueber den Musculus recetus capitis anticus medius s. mini- 


mus. (Hierzu Taf. XIX.A.).. . . 746 
— — Ein neuer Fall von Musculus extensor hallueis longus 
ei tricaudatus. (Hierzu Taf. XIX.B) . . . 750 
A — — Ueber eine congenitale Articulatio hyo- thyreoidea® anomala 
(EierzuDatı RIRIC)7E 2322 . 7583 


— — Ein Museulus eleido-cervicalis s. Arachee elavieulans imus 757 
— — Vorkommen des Musculus cleido-mastoideus als Musculus 


h cleido-epistrophicus . . een ee 
— — Ein Museulus cleido-articularis , . in. 
a Hällsten, Konrad, Professor in Helsingfors. "Studien über die 

i Physiologie der Gewebselemente . . . 242 - 


Hartmann, Robert. Beiträge zur zoologischen und zootomischen 
Kenntniss der sogenannten anthropomorphen Affen. Fort- 
setzung. (Hierzu Taf. XIV. u. XV.) . « 636 

Hirschberg, J, M.D. Dioptrik der Kugeiflächen ı und des os Auges 

A I. Theil. (Hierzu Tal RII)RERIERE cell 

2 — — Optische Notizen . . BR .7 7 

Hitzig, Dr. Eduard, Professor in Zürich. Untersuchungen über 

y das Gehirn. Neue Folge . . . 692 

Bi Krause, Dr. W., Professor in Göttingen. "Ueber die Allantois 

| des Menschen . . . 204 

Kurtz, F. Zur Anatomie “des Blattes der Dionaea museipula 
(Hierzu Tall. u. Sl) 1 

Lotze, Dr. Ludwig, aus Göttingen. "Beitrag zur Lehre vom 
Knochenwachsthum. (Hierzu Taf. VILB.) . . . . 301 

Munk, Hermann. Die elektrischen und Bewegungs- -Erschei- 
nungen am Blatte der Dionaea museipula. (Hierzu Taf. I. 


En USD), ... 30 u. 167 
ER Pansch, Ad. in Kiel. Ueber die Lage der Nieren mit beson- 
h derer Beziehung auf ihre Percussion . . . 327 
Bi. Salomon, Dr. Georg, erster Assistent in der medieinischen 
u, Universitätsklinik zu Berlin. Beiträge zur Leukämie . . 762 


an. Steiner, Dr. I., Assistent am physiologischen Institut in 
HN Halle. Untersuchungen über den Einfluss der ISRREERE 
\ auf den Nerven- und Muskelstrom. . . . 382 
es Stieda, Dr. L., o. Professor an der Universität zu Dorpat. 
“ Einige Bemerkungen über die Injection von Leichen . . 778 
I Weyl, Th., Cand. med. in Strassburg. Ein Beitrag zur Kennt- 
Bar niss des vermehrten menschlichen Fruchtwassers (Hydram- 
nIon)In. . 543 
— — Versuche über dipolar-elektrische Ladung "materieller in 
Wasser suspendirter Theilchen . . . ..% ....72 


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Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipula. 
Von 
F. Kurrtz. 


Hierzu Taf. I. und Taf. II. 


Historisches.!) 


Die Venusfliegenfalle wurde in Europa zuerst durch ge- 
trocknete Exemplare bekannt, welche John Bartram, 
Königlicher Botaniker zu Philadelphia, 1764—65 an den Lon- 
doner Kaufmann und Pflanzenkundigen Peter Collinson 
schickte. Dieser theilte ein Exemplar der Pflanze an John 
Ellis mit, der dasselbe in Gemeinschaft mit Dr. Solander 
untersuchte und darin eine dem Sonnenthau (Drosera) nahe- 
stehende Gattung erkannte, die er Dionaea muscipula 
nannte. 1769 brachte William Young aus Philadelphia die 
sonderbare Pflanze lebend nach England. Ellis sandte nun 
einen Brief, der eine Abbildung, eine Beschreibung des eigen- 
thümlichen Verhaltens der Blätter und eine Aufzählung der 
systematischen Charaktere der Dionaea enthielt, an Linne, 
Dieser Brief wurde jedoch erst 1775 publieirt (4), und Ellis 
gab inzwischen eine englische Beschreibung heraus, die diesel- 
ben Thatsachen wie der Brief an Linn£, aber in ausgeführterer 


1) Die Geschichte der Dionaea ist von J. D. Hooker in der Rede 
(1), die er am 21. August 1874 zu Belfast vor der British Association 
hielt, gegeben worden. Da jedoch weder die Reports of the British 
Association, noch die Zeitschriften „Nature“ (2) nnd „Gardener’s 
Chronicele“ (3) in Deutschland allgemeiner verbreitet sind, so komme 
ich dem mir ausgesprochenen Wunsche, eine kurze historische Ueber- 
sicht des Erwerbs unserer Kenntnisse von der Dionaea zu geben, um 


so lieber nach, als Hooker’s Bericht nicht ganz vollständig ist. 
Beichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376, ı 


2 F, Kurtz: 


Weise enthält (5), und von derselben, hier colorirten Tafel be- 
gleitet ist, die dem Briefe an Linne schwarz beigegeben ist. 
Diese ausführlichere Beschreibung übersetzte Schreber in’s 
Lateinische und Deutsche (6), und ausserdem erschien 1777 
eine ziemlich genaue französische Uebertragung, die vermuth- 
lich nach der Schreber’schen gemacht ist (7) Auch die 
Uebersetzungen sind von der Ellis’schen Abbildung begleitet, 

Der Hauptinhalt des Ellis’schen Aufsatzes ist: „dass 
die Natur vielleicht einiges Absehen auf ihre (der Dionaea) 
Ernährung, bei der Bildung ihrer Blätter, gehabt haben möge. 
Das obere Theil derselben stellet ein Werkzeug zum Fange 
einer Art Nahrungsmittel vor; auf dessen Mitte die Lock- 
speise für das unglückliche zum Raube ausersehene Insect, 
lieget. Viele kleine rothe Drüsen, die die obere Fläche des 
Blattes bedecken, und einen vielleicht süssen Saft ausschwitzen, 
locken das Thierchen an denselben zu kosten; in dem Augen- 
blicke, da dessen Füsse diese zarte Theile berühren, werden 
die zween Lappen des Blattes durch den Reiz in Bewegung 
gesetzt, schlagen einwärts zusammen, fassen das Thierchen, 
legen die Stacheln am Rande in einander und drücken das 
Thierchen tod. Damit aber nicht die Bemühungen des 
Thierchens, sein Leben zu erhalten, zu seiner Befreiung ge- 
reichen können; so befinden sich drei kleine Stacheln in der 
Mitte jedes Lappens zwischen den Drüsen aufgerichtet, welche 
allem seinem Bestreben ein Ende machen.“ Ellis bemerkt 
ferner, dass die Pflanze keinen Unterschied zwischen einem 
Thier und einer vegetabilischen oder anorganischen Substanz 
macht, und dass die Drüsen der Blattoberseite an Pflanzen, die 
in der Sonne gewachsen, schön hellroth sind. Er kannte 
auch bereits die Sprödigkeit und Zerbrechlichkeit der Blatt- 
spreite, und hatte schon beobachtet, dass die Empfindlichkeit 
der Dionaea vom Wetter beeinflusst wird. 

Schreber stellt in der Vorrede zu seiner Uebersetzung 
(1771) die Bewegungen der Dionaea zu den schon längst be- 
kannten Bewegungserscheinungen der Mimosen, Oxalis u.s.w. 
und sagt gegen das Ende der Vorrede: „Unglaublich aber 
scheint, was darin gemuthmaasset wird, dass die Pflanze 


Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipula. 3 


von den zwischen ihren Blättern zerdrückten Insecten einige 
Nahrung ziehe.“ 

Dieselbe Ansicht über die Natur der Bewegungen der 
Fliegenfalle äussert Linne (8): „Sensibilia sunt folia, ut dum 
inseetum irrepat aut insideat folio, se claudant conduplicatis 
lateribus et decussatis ciliis marginalibus, detinentia etiam in- 
sectum aculeis paginae superioris, usquedum lassum quiescat, 
tumgue dimittunt.“ 

Broussonet (9) stellte die Ansicht auf, dass das Zu- 
sammenklappen des Blattes dadurch hervorgebracht würde, dass 
durch die Berührung desselben eine Flüssigkeit, die das Blatt 
jn Spannung hielt, veranlasst wird, aus demselben herauszuströ- 
men: „la piquüre paroit determiner un degagement de fluide 
qui retenoit la feuille ouverte en remplissant ses vaisseaux* 
(l. e. p. 614). 

E. Darwin (10) meinte, die Dionaea umgebe sich mit 
Insectenfallen, um Zerstörungen ihrer Blüthen zu verhindern. 

Ungefähr zu Anfang unseres Jahrhunderts entdeckte der 
Pflanzenzeichner Sydenham Edwards, dass „the small 
spines, mentioned and figured by Ellis, are the only irritable 
points, and that any other part of the leaf may be touched 
with impunity“* (11). 

Die erste gute Beschreibung der Lebensweise der Venus- 
fliegenfalle gab Rev. W. Curtis (12) 1834 in einer Aufzählung 


der um Wilmington in Nord- Carolina — dem einzigen Ort 
wo, soweit bis jetzt mit Sicherheit bekannt, die Dionaea wild 
vorkommt — wildwachsenden Pflanzen. Er fand, ohne Ed- 


wards’ Entdeckung zu kennen, dass die drei Härchen auf 
jeder Blatthälfte der alleinige Sitz der Reizbarkeit seien; dann 
berichtigte er die Behauptung Ellis’, dass die Blätter beim 
Zusammenklappen die gefangenen Inseeten zerquetschen. Er 
beobachtete zuerst, dass die Thierchen in den geschlossenen 
Blättern häufig von einer schleimigen Flüssigkeit umgeben sind: 
„at other times I have found them (the insects) enveloped in 
a fluid of a mucilaginous consistence, which seems to act as 
a solvent, the insects being more or less consumed in it,* 
Diese Beobachtung machte es ihm wahrscheinlich, dass die 
1% 


4 F. Kurtz: 


Insecten der Pflanze mit zum Unterhalt dienten, doch hielt er 
diese thierische Nahrung für die Existenz der Pflanze nicht 
für nothwendig, 

Charles Morren (13), der Verfasser zahlreicher Auf- 
sätze über Bewegungserscheinungen an den Pflanzen, machte 
die ersten Beobachtungen über die Entwickelungsgeschichte 
der Blätter der Dionaea, die bis dahin von den Autoren gänz- 
lich unberücksichtigt geblieben war. Er constatirte, dass der 
Blattstiel bereits seine volle Grösse zu einer Zeit erreicht, 
zu der die Lamina noch sehr klein und unentwickelt ist, und 
dass die Reizbarkeit der Blätter sich erst zeigt, wenn die bei- 
den Hälften der Lamina sich ausbreiten. Dann fügt er aber 
irrthümlich hinzu: „Remarquons maintenant que lorsque les 
bords des lobes sont encore enroules sur eux-memes, la partie 
externe de l’enroulement forme un bourrelet longitudinal, se- 
pare de la nervure mediane par une foule de stries perpendi- 
culaires & cette nervure, et que c’est ce bourrelet qui plus 
tard deviendra le siöge de V’irritabilite. C’est &videmment dans 
la Dionee l’analogue du coussinet ou pulvinus des feuilles de 
la sensitive').“ 

Die ersten anatomischen Kentnisse des Dionaeablattes ver- 
danken wir F..J. F. Meyen (14). Er beschreibt ganz rich- 
tig den Bau (soweit seine Instrumente dies ermöglichten) und 
die Vertheilung der Sternhaare, nur giebt er fälschlich an, dass 
auf den Randborsten sich dieselben Drüsen, wie auf der Blatt- 
oberseite, befinden; er bemerkt auch, dass die Spaltöffnungen 
reichlich auf beiden Seiten des Blattstiels, weniger häufig auf 
der Unterseite und sehr selten auf der Oberseite der Lamina 
vorkommen. Von den Drüsen der Blattoberseite sagt er, dass 
sie zu den Scheibendrüsen wie die des Hopfens und der Ribes 


1) Der II. Band des „Hortieulteur Belge,“ einer auch in Belgien 
ziemlich seltenen Zeitschrift, stand mir nicht zur Verfügung. Herr 
Prof. E. Morren in Lüttich war indess so gütig, mir einen Auszug 
der Arbeit seines Vaters zu schicken, und diesen Auszug habe: ich 
hier eitirt. Ich ergreife diese Gelegenheit, Herrn Prof. E. Morren 
für die grosse Liebenswürdigkeit meinen herzlichsten Dank auszu- 
‚sprechen. ei 


Zur Anatomie des Blattes der Dionaea museipula. 5 


nigrum gehören, und da er nie ein Secret an ihnen wahrge- 
nommen, spricht er die — irrige — Meinung aus, dass sie in 
eine innere Höhle secerniren. Die auffallende Structur der 
Lamina, ihre eigenthümliche Nervatur schildert er zutreffend, 
auch die Tendenz des Fibrovasalstrangs der Blattspreiten- 
Mittelrippe, sich zu theilen, hat er beobachtet. Indess ent- 
halten seine Mittheilungen auch viel Irrthümliches, was zum 
Theil darin seine Erklärung findet, dass die von ihm unter- 
suchten Pflanzen in schlechtem Zustande gewesen sind, wie 
man aus verschiedenen seiner Angaben folgern kann'). 
Der Sitz der Reizbarkeit ist nach Meyen die Mittelrippe ; die 
sensiblen Härchen der Blattoberseite und ihre Function, die 
er aus Ellis’ und Curtis’ Mittheilungen kannte, erwähnt 
er in seiner Arbeit gar nicht. Ferner sollen die jungen Blät- 
ter Schlafbewegungen zeigen; weder Hr. Prof. Munk, noch 
Hr. Universitätsgärtner Barleben, der die Dionaea schon 
seit Jahren beobachtet, noch ich haben Schlafbewegungen an 
ihr wahrgenommen. Wegen der vom Typus des Dicotylen- 
blatts etwas abweichenden Nervatur hielt Meyen die Lamina 
für ein Anhangsgebilde, wie die Becher von Nepenthes, den 
Petiolus dagegen für das eigentliche Blatt. Die von Dassen 
(15) aufgestellte Ansicht, dass jede Blattspreitenhälfte der 
Dionaea eigentlich ein Blatt, Dionaea mithin eine Pflanze mit 
gefiederten Blättern (wie die Mimosen) sei, widerlegt Meyen 
durch Hinweis auf die Vertheilung der Gefässstränge. Als 
reizbares Gewebe betrachtet er die Epidermis der Oberseite 
der Blattmittelrippe; der Reiz wird dann durch die unter der 
Epidermis gelegenen Zellen auf das Gefässbündel übertragen, 
von dem aus „durch Zusammenziehung der Seitennerven das 
Zusammenfalten der beiden Lappen erfolgt, wobei sich aber 
auch das, in dem Grunde der Falte liegende Zellengewebe zu- 
sammenzieht und nicht etwa mechanisch zusammengequetscht 


ı) Z. B. daraus, dass bei uns die Blätter der Dionaea sich zu 
langsam schliessen sollen, als dass sie Insecten fangen könnten; und 
dass nur junge Blätter reizbar seien, erwachsene dagegen unter einem 
- Winkel von 45—60° geöffnet verharren sollen. 


6 ) F. Kurtz: 


wird“ (a. a. O. S. 550). Dass die gefangenen Insecten der 
Pflanze irgendwie zur Nahrung dienen sollen, ist Meyen sehr 
unwahrscheinlich. 

Nach einer Pause von 30 Jahren erschien ein Aufsatz von 
W. M. Canby (16), in dem die Vermuthungen Ellis’ und 
Curtis’, dass die Fliegenfalle gefangene Thiere verdaue, zu- 
erst experimentell bestätigt wurden. Canby fand, dass „das 
Blatt, wenn es gesund und seine Beute eine angemessene, eine 
vielleicht dem Magensaft der Thiere vergleichbare Flüssigkeit 
abscheide, die das Insect auflöst und zur Aufsaugung durch 
das Blatt zubereitet.“ Er machte im Juni und Juli 1368 Ver- 
suche mit Stückchen von rohem Fleisch und von Käse, die er 
auf die Blätter brachte, so dass sie sich schlossen, und beob- 
achtete, dass von der Oberseite der Blätter reichlich ein Saft 
secernirt wurde, der das Fleisch löste, und dann vom Blatt 
resorbirt wurde. Er bemerkte dabei, dass die Blatthälften 
sich so fest an einander schlossen, dass man die Gestalt des 
innen befindlichen Fleischstücks schon von aussen erkennen 
konnte. Er fand ferner, dass Käse eine verderbliche Wirkung 
auf die Blätter ausübt, indem er sie erst schwarz färbt und 
dann tödtet. Auch die Thatsache, dass mit jedem Fange von 
Insecten die Reizbarkeit der Blätter abnimmt, und dass die- 
selben zuletzt sich gar nicht mehr schliessen, wenn ein 
Thierchen über sie hinkriecht, wurde schon von Canby con- 
statirt. 

Ein neues Kapitel in der Kenntniss der Dionaea wurde 
durch die Untersuchungen Burdon Sanderson’s (17) be- 
gonnen, der das Vorhandensein eines elektrischen Stromes in 
der Blattspreite von der Basis zur Spitze nachwies und ferner 
zeigte, dass, wenn das Blatt gereizt wird und sich in Folge 
dessen schliesst, eine negative Schwankung auftritt, analog der 
negativen Schwankung beim Zucken eines Muskels.') 

Die beiden Veröffentlichungen,, welche noch zwischen die 
ebenerwähnte Arbeit und Darwin’s umfassendes Werk 


1) Da an diese Arbeit die Untersuchungen des Hrn. Prof. 
Munk sich anschliessen, so ist es nicht nöthig, hier genauer auf die- 
selbe einzugehen. 


Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipula. 7 


fallen, sind eigentlich nur Vorläufer des letzteren. Es sind 
dies die Rede Burdon Sanderson’s (18) vom Juni und 
die Rede Hooker’s (1) zu Belfast vom August 1974. Erstere 
enthält einige der von Darwin über die Verdauung von 
Dionaea erlangten Resultate, die dieser Burdon Sander- 
son mitgetheilt hatte. Hooker’s Rede ist vorwiegend 
historisch; sie theilt die Geschichte der auf den Fang und die 
Verdauung von Insecten bezüglichen Beobachtungen an Dro- 
sera, Dionaea, Sarracenia, Darlingtonia und Nepenthes mit 
und giebt von den letzten drei Pflanzengattungen auch Beschrei- 
bungen der die Fangapparate bildenden Gewebe. An Nepen- 
thes hat Hooker Verdauungsversuche angestellt und gefun- 
den, dass die Secretion bei Gegenwart von Fleisch, Eiweiss 
u. dergl. zunimmt, und dass der abgeschiedene Saft stark 
verdauende Eigenschaften besitzt. 

In Darwin’s Buch (19) ist der Dionaea das 13. Kapitel 
gewidmet. Darwin bemerkt zunächst, dass die Venusfliegen- 
falle nur wenige und verhältnissmässig kleine Wurzeln besitze, 
die jedenfalls, wie die der Drosera, nur zur Aufnahme von 
Wasser dienen (S. 286)'). Von den Drüsen der Blattspreiten- 
Oberseite, deren Vertheilung und Färbung er richtig angiebt, 
sagt er, dass sie aus 20—30 Zellen bestehen, und dass ihre 
Oberfläche convex sei (von der Seite gesehen gewähren sie 
auch diesen Anschein). Darwin stellt zuerst fest, dass die 
Drüsen absorptionsfähigsind undnur nach einem vorangegange- 
nen Reiz secerniren, und dass als Reiz nur die Absorption stick- 
stoffhaltiger Substanzen wirkt (S. 295 —%). Von den acht- 
strahligen Sternhaaren wird ein sparsames Vorkommen auch 
auf der Oberseite der Lamina angegeben (S. 288) (ich habe 
dort nie welche gesehen). Der Bau der sensiblen Haare wird 
ganz zutreffend geschildert, die Abwesenheit jedes Gefässbün- 
dels in denselben zuerst constatirt und schliesslich die Meinung 
aufgestellt, dass die Gliederung der Haare nahe ihrer Basis 
das Abbrechen derselben beim Zuklappen des Blatts verhindere 
(S. 288). (Als „Gelenk“ ist die erwähnte Gliederung nicht auf 


1) Hierauf wird noch Bezug genommen werden. 


8 F. Kurtz: 


zufassen, und dann kreuzen sich die: sensiblen Haare beim 
Schliessen eines Blatts höchstens mit ihren Spitzen, berühren 
aber wohl nie die gegenüberliegende Blatthälfte.e In den 
Zellen der sensiblen Haare hat Darwin einen Rotations- 
strom, wie in den Tentakelzellen von Drosera, beobachtet (S. 291). 
(Mir ist diese Erscheinung entgangen.) Die Eigenthümlichkeit 
des zelligen Aufbaues der Lamina — ihre Zusammensetzung 
aus Schichten länglicher Zellen, deren Längsaxen senkrecht 
zur Blattmittelrippe stehen, und die von den beiden Epidermis- 
schichten aus nach innen zu an Grösse zunehmen, während 
zugleich ihre Wandungen dünner werden — hebt Darwin 
richtig hervor (S. 316)'). Besonders erwähnt er noch die dicke 
Masse von Zellgewebe, welche den Raum zwischen dem Fibro- 
vasalstrang .und der Oberseite der Blattmittelrippe ausfüllt. 
Auch die Vertheilung der Gefässbündel, die Schleifenbildung 
derselben am Blattrande, das Abgehen dünner Stränge in die 
Randstacheln hat Darwin beobachtet (S. 313—14). Zur Fort- 
leitung eines Reizes, der auf ein sensibles Haar ausgeübt 
worden, fand er das Fibrovasalsystem nicht nöthig (S. 314—15). 

Die Medien und die äusseren Eindrücke, welche auf die 
sensiblen Haare als Reiz wirken, werden ausführlich be- 
sprochen; ebenso die Unterschiede zwischen den Veränderun- 
gen, welche die sensiblen Haare der Dionaea einerseits, die 
Drüsen der Drosera andererseits nach einem Reiz zeigen 
(S. 288—294). Die Oberfläche der Blätter ist kaum reizbar; 
nur das zwischen den sensiblen Haaren gelegene Dreieck 
scheint empfindlicher zu sein. Einschneiden oder tief eindrin- 
gendes Kratzen der Blatthälften oder der Mittelrippe bringt 
Schliessung hervor (S. 294). 

Die Secretion fand Darwin farblos, etwas schleimig und 
anscheinend saurer als die der Drosera (S. 296). 

Ausser der schnellen Bewegung, welche die Blatthälften 
nach Berührung eines sensiblen Haares ausführen, wird durch die 
Absorption löslicher stickstoffhaltiger Substanzen (die man, 
entfernt von den sensiblen Haaren, auf die Oberseite der La- 


E} 


1) Meyen’s Arbeit war Darwin nicht bekannt. 


Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipula. 9 


mina gebracht hat) noch ein sehr langsames Zusammenklappen 
des Blatts bewirkt (S. 296—298). Eine dieser ganz analoge 
und auf dieselbe Ursache — die Absorption stickstoffhaltiger 
Substanz — zurückzuführende Bewegung tritt auf, wenn ein 
Blatt ein Insect gefangen hat, oder wenn man, mit Berührung 
der sensiblen Haare, ein Stückchen Fleisch oder dergl. in das 
Blatt gebracht hat. Nach einiger Zeit fangen alsdann die bei- 
den Hälften des geschlossenen Blattes an sich fest aneinander 
zu pressen, so dass auf ihrer Aussenseite die Umrisse des ein- 
geschlossenen Körpers hervortreten (S. 307—308), wie letzteres 
schon Canby beobachtet hat. 

Wenn die Drüsen absorbirt haben, zeigt sich in ihren 
Zellen die von Darwin „Aggregation“ (S. 38) genannte Er- 
scheinung. Die sensiblen Haare zeigen die Aggregation nicht 
(S. 299—300; 290). 

Die zuerst von Canby angestellten Verdauungsversuche 
hat Darwin in ausgedehnter Weise wiederholt (S. 301—304) 
und constatirt, dass hartgekochtes Eiweiss, halbgebratenes 
Fleisch und Gelatine von dem Secret der Dionaea verdaut 
werden. Das Secret mit den darin gelösten Bestandtheilen 
wird darauf von den Drüsen resorbirt. Fett- und Bindegewebe 
werden vom Secret nicht angegriffen, ebenso Käse und rein 
dargestelltes Casäin; die beiden letztgenannten Substanzen 
rufen eine sehr reichliche Secretion hervor. 

Chloroform, Schwefeläther und Cyanwasserstoffsäure 
wirken mehr oder weniger verderblich auf die Pflanze 
(S. 304—305). 

Hat sich ein Blatt nach Berührung eines sensiblen Haares 
oder über einem anorganischen Körper geschlossen, so ist es 
nach durchschnittlich zwei Tagen wieder vollkommen geöffnet 
und ist, noch ehe es seine ursprüngliche Stellung wieder ein- 
genommen hat, fähig, sich nach erneutem Reiz wieder zu 
schliessen (S. 306 — 307). Hat sich dagegen ein Blatt über 
einem Insect, einem Stückchen Fleisch, Eiweiss oder dergl. 
geschlossen, so öffnet es sich erst nach mehr als einer Woche 
wieder, ist dann mehr oder weniger „torpid“, für Reize un- 
empfänglich, und überhaupt nicht mehr oder erst nach längerer 


10 F. Kurtz: 


Zeit wieder fähig, einen neuen Fang zu thun. Nicht gerade 
selten bleiben die Blätter über ihrer ersten Beute für immer 
geschlossen und welken nach längerer Zeit (S. 309—310). Im 
Vaterlande der Dionaea scheinen die Folgen eines Fanges 
weniger angreifend zu sein ($. 311; vergl. Canby a. a. O.). 

Der Hauptsitz der Bewegung ist nach Darwin die 
Zellmasse, welche oberhalb des Gefässbündels der Blattmittel- 
rippe sich befindet (S. 305—306; S. 317); doch ist die Bewe- 
gung nicht auf sie beschränkt, sondern auch die beiden Blatt- 
flügel haben Theil an derselben (S. 305—306). Und zwar be- 
merkt Darwin, dass die unteren Schichten der Blattspreite 
stets in einem Spannungszustande zu sein scheinen, und „that 
it is owing to this mechanical state, aided probably by fresh 
fluid being attracted into the cells, that the lobes begin to se- 
parate or expand as soon as the contraction of the upper sur- 
face diminishes* (S. 319). 


Literatur. 

. Report of the Meeting of the British Association at Belfast, 1874. 

. Nature, Vol. X. 1874. No. 253, p. 366. 

. Gardener’s Chronicle, 1874, Aug. 29, p. 260—61. 

. Nova Acta Regiae Societatis Scientiarum Upsaliensis. Vol. I. 

Upsaliae 1773, p. 98—101. 

5. John Ellis, Direetions for bringing over seeds and plants from 
the East Indies etc. to which is added the figure and botanical 
description of Dionaea museipula. London 1770. 

6. Joh. Ellis De Dionaea muscipula planta irritabili nuper detecta 
etc. Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von D. 
J. C. D. Schreber. Erlangen 1771. — Zweite Auflage 1780 
(Erlangen). 

7. Observations sur la Physique, sur l’histoire naturelle et sur les 
arts etc. par Mr. Yabbe Rozier. Tome X. Paris 1777, p. 
18—21. 

8. Car. a. Linne. Mantissa plantarum alter. Holmiae 1771. 
p- 238. 

9. Histoire de l’Academie royale des sciences. Annee 1784. Paris 
1787, p. 601—821. 

10. Botanie Garden, Part II. p. 15. 

11. Curtis’ Botanical Magazine, Vol. XX. 1804, p. 785. 

12. Boston Journal of Natural History, Vol. I. 1834, p. 123—125. 


KO m 


Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipula. 11 


Auszüge hieraus in: W. J. Hooker, Companion to the Botanical 
Magazine etc. Vol. II. London 1836, p. 5. — F.J.F. Meyen, 
Jahresbericht über die Resultate der Arbeiten im Felde der phy- 
siologischen Botanik von dem J. 1837, Berlin 1838, S. 158. — 
Wörtlich angeführt ist die ganze das Blatt und seine Fangart 
schildernde Beschreibung von Curtis in: Gray and Sprague, 
Genera florae Americae boreali - orientalis illustrata, Vol. I. 
Boston 1848, p. 195. 

13. Horticulteur Belge, T. II. 1834, p. 71. 

14. F. J. F. Meyen, Neues System der Pflanzenphysiologie, Band 
II. Berlin 1839, S. 543—550. 

15. Natuurkundige Verhandelingen van de Hollandsche Maatschappij 
der Wetenschappen te Harlem, 22. Deel, Harlem 1835, p. 283. 
16. Meehan’s Gardener’s Monthly, 1868, p. 229—31. Oester- 

reichische Botanische Zeitung, 1869, S. 77—81. 

17. Report of the British Association, 1873, p. 133. Proceedings of 
the Royal Society, Vol. XXI. No. 147, p. 495. Letztere Publi- 
eation ist unverkürzt wiedergegeben im Centralblatt für die me- 
dieinischen Wissenschaften, 1873, No. 53, und daraus abgedruckt 
in der Botanischen Zeitung 1874 (XXXIl. Jahrg.), S. 6—8. 

18. Nature, Vol. X. No. 241, June 1874, p. 105 etc. 

19. Ch. Darwin, Insectivorous Plants, London 1875. p. 286—320. 


Untersuchung. 


Die Venusfliegenfalle ist eine perennirende Pflanze. Sie 
besitzt einen kriechenden Stengel, dessen Vegetationsspitze 
die Tendenz hat, nach unten zu wachsen, wie dies in Fig. 1 
angedeutet ist. Man kann aus dieser Art des Wachsthums 
schliessen, dass Dionaea im wilden Zustande an abhängigen 
Stellen vorkommt, an denen sie im Laufe der Vegetations- 
perioden schrittweise von ihrem ursprünglichen Standorte nach 
unten fortrückt. Diese Ansicht wird durch die Angabe 
Canby’s (Oesterr. bot. Zeitschr. 1869, S. 78), dass sie in ihrer 
Heimath (der Umgegend von Wilmington, Nord-Carolina) in 
feuchtem, fettem Boden am Rande der Brüche und Moor- 
gründe wachse, bestätigt; eine Sumpfpflanze, wie Drosera 
rotundifo/ia, ist Dionaea nicht. 

An der Axe stehen nach Hrn. Prof. A. Braun’s Beob- 
achtungen die Blätter ungefähr in °/, Stellung. Die Spirale 
wird nämlich dadurch, dass der Stengel mit seiner Unterseite 


123 F. Kurtz: 


dem Boden dicht anliegt, und die Blätter sich einseitig nach 
oben krümmen, etwas unregelmässig. — Die Blätter sind an 
ihrer Insertionsstelle öhrchenartig erweitert, und zwar je nach 
ihrer Einfügungsstelle am Stengel verschieden. Die, welche 
auf der Mittellinie der eylindrischen Axe stehen, haben Oehr- 
chen, welche beiderseits symmetrisch, gleich gross entwickelt 
sind (Fig. 1A, a); je weiter aber die Insertionsstellen sich von 
der Mittellinie entfernen und eine seitliche Stellung einnehmen, 
desto einseitiger entwickeln sich die Oehrchen (Fig. 1A, b). 

Unmittelbar hinter jedem Blatt entspringt eine Wurzel, 
die eine Länge von 10—15 Cm, erreicht, unverzweigt und et- 
was fleischig ist. Nur hinter den Blättern, die auf der Mediane 
des Stengels inserirt sind, entspringt keine Wurzel. 

Während einer Vegetationsperiode, die bei den Pflanzen 
des Berliner Universitätsgartens Ende Februar oder Anfang 
März beginnt, und bis Ende October dauert, scheint ein kräf- 
tiges Individuum 20—25 Blätter zu entwickeln. 

Die Internodien sind äusserst kurz, so dass die Oehrchen, 
welche der Axe dicht anliegen und etwas übereinandergreifen, 
derselben eine flüchtige Aehnlichkeit mit einer schuppigen 
Zwiebel, aus der unten zahlreiche Wurzeln entspringen, ver- 
leihen. In der Schreber’schen Uebersetzung des Briefes 
von Ellis an Linne heisst es S. 14: „Die Wurzeln sind 
schuppig, und haben nur wenige Zasern, wie an einigen 
Zwiebelgewächsen.“ Ch. Morren nennt in seinem Aufsatz 
über die Dionaea die „Wurzel“ „Eecailleuse comme le bulbe d’un 
lis“, und Darwin spricht von einem „bulbous enlargement“ 
(p- 286). 

Der schon sehr frühzeitig angelegte Blüthenschaft (er war 
bei Exemplaren, die am 15. Mai 1875 blühten, am 17. März 
schon 2—2'5 Cm. lang) scheint terminal zu sein, und der die 
Hauptaxe fortsetzende Spross scheint aus der Achsel des 
obersten Laubblattes zu entspringen. Axillarknospen sind 
überhaupt an der Dionaea, wie an Drosera, nichts Seltenes. 

Nach der Blüthe stirbt die Hauptaxe an ihrem hinteren 
Ende allmählich mehr und mehr ab, so dass zu Anfang des 
Winters nur noch die Spitze der Vegetationsaxe — ganz ana- 


Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipula. 13 


log dem Verhalten von Drosera — vorhanden ist. . Im Berliner 
Universitätsgarten tritt jedoch keine eigentliche Winterruhe 
ein; die im Hause stehenden Pflanzen entwickeln auch wäh- 
rend des Winters’ Blätter, die indess sehr klein bleiben. 

Wie Drosera bildet auch Dionaea leicht Adventivknospen. 
‚Eine eigenthümliche, den Gärtnern schon lange bekannte 
Vermehrungsart der Venusfliegenfalle besteht darin, dass man 
den Blüthenschaft vor Beginn des Aufblühens abschneidet und 
einpflanzt; es bilden sich dann dicht unter den untersten Trag- 
blättern der Blüthen Wurzeln, und eine neue Pflanze wächst 
empor. 

Das Blatt der Dionaea musecipula zerfällt seinen äusseren 
Umrissen nach in drei Abschnitte: den geflügelten Blattstiel, _ 
den ungeflügelten Theil desselben, welcher als Zwischenglied 
bezeichnet werden soll, und die Blattspreite. 

Die Länge der erwachsenen Blätter, den Blattstiel mit 
eingeschlossen, schwankt zwischen 2'2—12'0 Cm. und beträgt 
meist 51—7'0 Cm. Die auffallende Länge von 12 Cm. wurde 
nur an einigen Stöcken beobachtet, die Hr. Prof. Munk im 
Frühjahr 1375 aus dem Institut von Veitch u. Co. in Lon- 
don jung bezogen hatte. Diese Exemplare wichen schon im 
Habitus wesentlich von den sonst in unseren Gärten sich fin- 
denden Pflanzen und auch von allen mir bekannt gewordenen 
Abbildungen ab, indem die Blattstiele, statt dem Substrat mehr 
oder weniger anzuliegen, sich in ziemlich spitzen Winkeln (von 
ungefähr 70—75°) von demselben erhoben (Fig. 1, a, b) und 
die Lamina frei in der Luft trugen. Die Blattspreite dieser 
Pflanzen zeigte in der Grösse keine Besonderheiten, wohl aber 
in der Gestalt (s. u.). Der Blattstiel dagegen zeigte in Länge 
und Breite bedeutende Abweichungen der Art, dass gegenüber 
der sonstigen Länge von 1'2—3'72 Cm. und der sonstigen 
Breite von 0'4—1'5 Om. die Blattstiele der V eitch’schen Pflan- 
zen 6'75—9 Cm. lang und 0'75—1'2 Cm. breit waren. Ausser 
diesen Pflanzen ist mir nur noch ein getrocknetes Exemplar 
vorgekommen, welches die eben erwähnten Eigenthümlich- 
keiten des Blattstiels und der Lamina zeigt. Dasselbe be- 
findet sich im Generalherbar des Kgl. botanischen Museums 


14 F. Kurtz: 


zu Berlin und stammt ebenfalls aus einem englischen Garten, 
wie die Etiquette „Dionaea muscipula L, Hort. Kennedyan. 
1816, Herb. Willdenow“ angiebt. 

Der Blattstiel ist geflügelt, von eiförmigem bis lang- 
keilförmigem Umriss. Seine breiteste Stelle liegt im obersten 
Viertel seiner Länge, wenig unterhalb des Zwischenglieds. 
Die Flügel sind meist ganzrandig; mitunter treten an der - 
breitesten Stelle des Stiels 3—6 kleine Zähne auf, oder der 
ganze Blattrand der oberen Hälfte ist feingezähnelt (Fig. 1, c,e). 
Der Petiolus wird seiner ganzen Länge nach von einer star- 
ken Mittelrippe durchzogen, die auf der Unterseite sich bedeu- 
tend über die Blattstielfläche hervorwölbt. Ungefähr im Cen- 
trum der Mittelrippe, etwas nach oben gerückt, liegt das 
grosse Gefässbündel, das Stengel und Blatt durchläuft. Der 
Querschnitt desselben ist fast kreisrund. Es wird von einer 
Strangscheide umgeben, welche an der Ober- und der Unter- 
seite des Fibrovasalstrangs 3—4, an den Seiten 1, höchstens 
2 Zellen stark ist. Dieselbe besteht aus länglichen, eylindri- 
schen Zellen mit gelblichen, stark verdickten Wänden; ihre 
Zellen enthalten, besonders in jüngeren Blättern, zahlreiche 
Stärkekörner, die genau die Gestalt der in der Epidermis der 
Blattoberseite sich findenden Stärkekörner zeigen. 

Der von der Strangscheide gebildete Hohlceylinder wird 
ungefähr zur Hälfte vom Xylem, zur Hälfte vom Phlo@m ein- 
genommen. Letzteres ist der Unterseite, ersteres der Ober- 
seite des Stengels zu gelegen. Das Xylem zeigt an der 
Stelle seiner stärksten Entwickelung auf dem Querschnitt 
ungefähr 40—45, meist sehr weite Spiral- und Tüpfelgefässe 
mit stark verdickten Wandungen, und zwischen diesen in ge- 
ringerer Anzahl bedeutend engere Zellenzüge verlaufend. 
Man kann an den Xylemzellwänden hauptsächlich zwei Ver- 
dickungsformen unterscheiden: Spiral- und Tüpfelverdickung, 
Die der Oberseite zunächst liegenden Theile des Xylems be- 
stehen aus Spiralgefässen, von denen die engeren eine ein- 
fache, abrollbare, die weiteren eine doppelte Verdickungsspi- 
rale zeigen. Einzelne enge Gefässe mit sehr lockerer Spirale 
treten auch an der Grenze des Xylems gegen das Phlo&m hin 


Zur Anatomie des Blattes der Dionaea museipula. 15 


auf. Einige der weitesten Gefässe, in der Mitte des Xylems 
gelegen, zeigen eine Form der Verdickung, die den Ueber- 
gang von der spiraligen zur gitter- oder netzförmigen Ver- 
diekung macht, d. h. an ihnen finden sich schon Strecken der 
Zellwand, die ringsum von Verdickungsleisten umgeben sind, 
Die meisten Zellen des Xylems zeigen Tüpfelverdickung. Man 
findet zunächst gestreckte Zellen mit mehreren parallel ihren 
Längsaxen verlaufenden Reihen kleiner Tüpfel; diese Zellen 
(Trachäiden) greifen mit allmählich sich verjüngenden Spitzen 
prosenchymatisch in einander. Dann kommen ähnliche Zellen 
vor, die länger und weiter sind, und deren meist schief ge- 
stellte Querwände durch ein grosses rundes oder ovales Loch 
durchbohrtsind. Noch andere, sehr langeZellen haben grössere, 
strichförmige Tüpfel, die eine mehr oder weniger spiralige 
Anordnung erkennen lassen. Uebrigens verlaufen zwischen 
den verschiedenartig verdickten Zellen noch einzelne lange, 
schmale Zellenzüge ohne jede Verdickung. Das Phlo&m be- 
steht aus langen, weiteren oder engeren Siebröhren, zwischen 
denen zahlreiche, oft bündelartig zusammengehäufte, an beiden 
Enden sich zuspitzende Bastzellen verlaufen. Beide Zellfor- 
men haben verdickte Wände. In den Verzweigungen des 
Blattnervensystems verschwinden immer mehr und mehr von 
den beschriebenen Elementen des Fibrovasalstrangs, bis 
schliesslich in den letzten Ausläufern, z. B. in den Randborsten 
der Lamina, nur noch 2—3 Spiralgefässe, umgeben von lan- 
gen, schmalen, dünnwandigen Zellen, übrig bleiben. 

Was das Gewebe des Blattstiels betrifft, so kann 
als allgemeingültig vorausgeschickt werden, dass alle Zellen 
desselben länglich, meist sogar langgestreckt sind, und dass 
die längere Axe der Zellen der Mittelrippe des Blattstiels pa- 
rallel läuft. 

Die Epidermis der Oberseite besteht aus langge- 
streckten, cylindrischen Zellen mit etwas verdickten Wandun- 
gen und sehr kleinem Lumen, Die Längswände der Zellen 
sind auf den Blattstielflügeln meist wellig gebogen, während 
sie auf der Blattstielmittelrippe mehr geradlinig verlaufen, 
Die Querwände dagegen greifen tief buchtig in einander, so 


16 F. Kurtz: 


dass zickzackförmige Linien entstehen,. die quer über das 
Blatt verlaufen. Die Zellen enthalten reichlich Chlorophyll. 
Zwischen ihnen entspringen, sowohl auf den Flügeln 
als auf der Mittelrippe, Sternhaare, die meist achtstrahlig 
sind. Die Stomata, welche sich auf der Oberseite ziemlich 
zahlreich finden, zeigen einen ovalen Umriss ; ihre Spalte liegt 
in der Längsrichtung des Blattstiels. 

Die Epidermis der Blattstiel-Unterseite (Fig. 2) 
zeigt im Allgemeinen dieselbe Beschaffenheit wie die der 
Oberseite; nur sind ihre Zellen schmaler, gestreckter und die 
Längswände derselben nicht so wellig. Besonders tritt dies 
auf der gewölbten Mittelrippe hervor, wo sogar die Spalt- 
öffnungen häufig eine auffallend schmale, gestreckte Gestalt 
annehmen; ausserdem sind auf der Rippe die Wände der Epi- 
. dermiszellen stärker verdickt als auf den Flügeln, und die 
Zellen selbst enthalten sehr wenig oder gar kein Chlorophyll. 
Die Mittelrippe erscheint auch heller gefärbt als die daran- 
stossenden Flügel. 

Auf die Epidermis folgen nach innen auf der Oberseite 
3—4, auf der Unterseite 2—3 Schichten länglicher, eylindri- 
scher Zellen, deren Lumen im Querschnitt ungefähr zwei- bis 
dreimal so gross wie das der Epidermiszellen erscheint. In 
den Blattstielflügeln enthalten diese Zellen, sowohl die der 
Unter- als der Oberseite, reichlich Chlorophyll, in der Mittel- 
rippe dagegen findet man nur auf der Oberseite in allen Chlo- 
rophyli, während auf der Unterseite nur die der Epidermis 
benachbarte Zellschicht Chlorophylikörner besitzt. Von diesen 
grünen Schichten aus erstrecken sich hier und da kleine Grup- 
pen chlorophyllhaltiger Zellen nach dem Innern zu, besonders 
in der Nachbarschaft der Gefässbündel.e. Den noch übrigen 
Raum zwischen den beiderseitigen subepidermalen Schichten 
nehmen grosse, cylindrische bis prismatische, dünnwandige 
Zellen ein, die meist jedes geformten Inhalts entbehren oder 
nur wenige Stärkekörner enthalten. In der Blattstielmittel- 
rippe bilden dieselben um den Fibrovasalstrang herum ein 
lockeres, in der Längsrichtung von vielen Intercellulargängen 
durchsetztes Gewebe; in den Blattstielflügeln sind die Zellen 


Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipula. 17 


etwas kleiner, nach dem Rande zu nimmt ihre Zahl ab, bis 
sie in der Nähe desselben ganz verschwinden und der Quer- 
schnitt nur noch die kleinen, dicht mit Chlorophylikörnern ge- 
füllten Zellen zeigt. Auch in den Blattstielllügeln findet man 
zwischen den grossen Zellen zahlreiche Intercellulargänge. 

Wie schon erwähnt, verläuft ungefähr im Centrum der 
Blattstielmittelrippe das Hauptgefässbündel. Neben ihm ver- 
läuft rechts und links je ein dünnerer Fibrovasalstrang (Fig. 3), 
ähnlich wie dies Nitschke') für Drosera rotundifolia be- 
schrieben und abgebildet hat (Dr. intermedia und anglica 
zeigen dasselbe). Während indess bei Drosera die drei Ge- 
fässbündel sich unterhalb der Mitte des Blattstiels vereinigen, 
verlaufen sie bei Dionaea durch den ganzen Blattstiel im We- 
sentlichen getrennt; nur communiciren die beiden lateralen 
Fibrovasalstränge durch 3—5 kurze Verbindungsstränge mit dem 
centralen Hauptbündel. Von jedem der lateralen Stränge geht 
eine Anzahl Gefässbündelschleifen aus, die, dem Umriss des 
Blattstiels folgend, von unten nach oben an Grösse zunehmen ; 
die Scheitel der Schlingen sind nach oben gerichtet. An die 
erste Reihe der Schlingen setzt sich eine zweite und stellen- 
weise eine dritte Reihe an; die äussersten, dem Rande am 
nächsten gelegenen Schlingen folgen dem Contour desselben 
ziemlich genau. Von diesem geschlossenen Maschenwerk, das 
etwas an die Nervatur der Lamina von Drosera erinnert, ge- 
hen indess nicht, wie bei letzterer, viele freie Nerven gegen 
den Rand hin ab; sondern höchstens tritt in die schon 
erwähnten Zähnchen je ein kleiner, frei endigender Nerv. 
Auch die meisten der feineren Nerven, welche sich innerhalb 
der grossen Maschen finden, laufen in die Fibrovasalstränge 
aus, welche die Maschen bilden. 

Die drei centralen Gefässbündel durchlaufen noch ge- 
trennt das Zwischenglied und vereinigen sich im Blattgrund zu 
einem Strang. Das Zwischenglied weist genau den- 


1) Bot. Zeit. 1861, S. 233, Tab. IX. Fig. 1. Auch in Dar- 
win’s Inseetivorous Plants, London 1875, ist S. 247 die Nervatur 
des Blattes der Drosera rotundifolia abgebildet. 

Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 2 


18 F. Kurtz: 


selben Bau auf, wie die Mittelrippe des Blattstiels, deren di- 
recte Fortsetzung es ist. Seine Epidermiszellen zeigen nur 
' etwas verdicktere Wände als die der Blattstiel-Mittelrippe. 

Die Blattspreite zeigt im Umriss einen Kreis, aus dem 
an zwei gegenüberliegenden Stellen je ein Sector entfernt ist. 
Beide Seetoren werden durch die Blattmittelrippe, als Durch- 
messer, halbirt; die Spitzen der Kreisausschnitte liegen also 
auf dem Durchmesser, ungefähr um '/),—'/, der Radiuslänge 
von der Peripherie entfernt. Die Lamina zerfällt in zwei 
scharf getrennte Hälften, die sich, wie die Flügel des Blatt- 
stiels, an die auch hier stark nach unten hervorgewölbte 
Mittelrippe (Fig. 4) anschliessen. 

Am Rande verlängert sich die Blattspreite in ziemlich 
gleichmässigen Zwischenräumen in borstenartige Fortsätze, 
deren Länge ungefähr '/,—'/, von der Breite der Lamina be- 
trägt. Am Ursprunge jedes Fortsatzes zeigt der Blattrand 
auf der Unterseite eine Anschwellung. Bei flüchtiger Betrach- 
tung entsteht hierdurch der Anschein, als sei das Blatt am 
Rande von Ausschnitt zu Ausschnitt wulstig verdickt, während 
in Wirklichkeit die erwähnten Anschwellungen mit Thälern, 
die den Zwischenräumen zwischen je zwei Borsten entsprechen, 
abwechseln. Die Zahl der Randborsten beträgt an jeder 
Hälfte des Blatts 13—18. Beim Zuklappen des Blatts greifen 
die Randborsten alternirend in einander, wie die Finger beim 
Händefalten. Auf der Oberfläche jeder Blatthälfte bemerkt 
man meist 3 kleine Haare, von denen eins nahe der Mittel- 
rippe, die beiden andern etwas mehr nach aussen stehen. Es 
kommen auch 4 und 2 Haare vor; letzterer Fall ist einmal 
von Darwin (Ins. Pl. p. 287) beobachtet. Sind vier 
Haare vorhanden, so stehen zwei der Mittelrippe näher. Diese 
Härchen, die eine Länge von 2—2'5 Mm. erreichen, sind der 
Hauptsitz der Reizbarkeit. Schon mit blossem Auge bemerkt 
man, dass die Oberseite der Lamina sehr viele erhabene 
Pünktchen aufweist. Mit dem Mikroskop erkennt man in 
ihnen kreisrunde, vielzellige Gebilde — Scheibendrüsen. 
Gegen den Blattrand hin werden sie seltener und fehlen schliess- 
lich fast ganz. Auch auf der Mittelrippe stehen sie weniger 


Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipula. 19 


dicht als auf den Blattflügeln. Die Mittelrippe der Blattspreite 
setzt nicht die Stielmittelrippe in derselben Ebene geradlinig 
fort, sondern setzt sich von dem Zwischenglied in einem Win- 
kel von ungefähr 90° scharf ab. Sie bildet einen Bogen, dessen 
Scheitel ungefähr im Mittelpunkt des Blattes liegt; die gerade 
Verbindungslinie zwischen Blattgrund und Blattspitze ist die 
Sehne dieses Bogens. Die schon erwähnten aus Veitch’s 
Institut stammenden Pflanzen wichen in der Beschaffenheit 
ihrer Lamina von den eben angegebenen Verhältnissen etwas 
ab; ihre Mittelrippe ist nicht so stark gewölbt, und die Aus- 
schnitte an Blattgrund nnd Blattspitze sind flacher, so dass die 
Blatthälften einen mehr viereckigen Umriss zeigen. 

Während die Flügel des Blattstiels aus einem weichen, 
schnell welkenden Gewebe bestehen, zeigen die Blattflügel 
eine knorpelartig spröde, saftige, resistente Beschaffenheit. 
Ober- und Unterseite der Blätter sind an jüngeren Exempla- 
ren hellgrasgrün gefärbt. Erwachsene Blätter zeigen dagegen 
auf der Oberfläche ihrer Lamina eine tiefpurpurne Färbung, 
die nur die Mittelrippe und den Blattrand, aus dem die Rand- 
borsten entspringen, freilässt. Diese Färbung rührt von einem 
rothen Farbstoff her, der sich im Zellsaft der Epidermiszellen, 
der Scheibendrüsen und der sensiblen Haare bildet. Die 
Scheibendrüsen und die sensiblen Haare zeigen die rothe Fär- 
bung früher als die Epidermis und oft nur allein. Das Roth- 
werden der Blattoberseite scheint nur bei besonders günstigen 
Witterungsverhältnissen einzutreten; die Dionaeapflanzen des 
Berliner Universitätsgartens zeigten es im September und Octo- 
ber 1874 in vollkommenster Weise; 1875 trat die rothe Fär- 
bung weniger allgemein und nur unvollkommen sich ent- 
wickelnd auf. Von den älteren Autoren werden blos die 
Drüsen als roth oder röthlich angegeben; nur die, sonst 
nicht fehlerlose Abbildung Hill’s'), die schon erwähnte Ab- 
bildung von Ellis und die Abbildung von Curtis (s. o.). 
zeigen die Lamina purpurn gefärbt. 


1) Hill, A decade of curious and elegant trees and plants, etc. 
London, 1773, 


9 


20 F. Kurtz: 


Während das Gewebe des Blattstiels im Allgemeinen aus 
Zellen besteht, deren Längsaxen parallel der Blattstielmittel- 
rippe verlaufen, zeichnet sich das Gewebe der Lamina dadurch 
aus, dass die Längsaxen seiner Zellen senkrecht zur Mittel- 
xippe stehen. 

Die Mittelrippe selbst zeigt einen Bau, der von dem 
des entsprechenden Stengeltheils etwas abweicht, was beson- 
ders auf Längsschnitten hervortritt. Im Blattgrunde verläuft 
das Hauptgefässbündel ungefähr im Centrum der Mittelrippe, 
gegen die Blattspitze zu nähert es sich mehr und mehr der 
Unterseite, der es schliesslich bis auf '/, des gesammten 
Dickendurchmessers nahekommt. An der Basis des Blatts 
zeigt der Fibrovasalstrang einen halbmond- oder nierenförmi- 
gen Querschnitt, gegen die Spitze des Blatts hin hat er die 
Tendenz, sich zu gabeln, doch tritt keine vollständige Tren- 
nung in zwei Stränge ein‘). Von ihm laufen in ziemlich gleich- 
mässigen Intervallen die Seitennerven aus, deren Zahl mit der 
der Randborsten ungefähr correspondirt. Die Seitennerven 
verlaufen etwas divergent bis in die Nähe des Blattrandes, 
wo sie ein zierliches Bogensystem, das ungefähr dem Blatt- 
umkreis folgt, bilden (Fig. 3). Die Zeichnung legt die Eigen- 
thümlichkeiten der Blattnervatur ausreichend klar dar und 
macht eine weitere Beschreibung derselben überflüssig. 

Den Raum zwischen dem Gefässbündel der Mittelrippe 
und der Blattoberseite, der seitlich durch die in die Blattflügel 
gehenden Nerven begrenzt wird, nehmen zwei ziemlich scharf 
unterschiedene Gewebeschichten ein, Zunächst der Mittelrippe 
finden sich rundliche Zellen, fast ohne jeden körnigen Inhalt; 
nur in der Nähe der Nerven enthalten sie etwas Chlorophyll, 
und die unmittelbar an das Gefässbündel stossenden zeigen 
sich mit Stärkekörnchen gefüllt. An der Basis des Blatts sind 
diese Zellen nur wenig entwickelt, nach der Spitze zu nehmen 
sie dagegen fast ein Drittel der Dicke der Rippe ein. Sie bil- 
den ein lockeres, von Intercellularräumen durchzogenes Ge- 


1) Meyen, Neues System der Pflanzenphysiologie, Bd. III. 
8. 543, 


Zur Anatomie des Blattes der Dionaea museipula., 91 


webe. Den übrigen Raum nimmt ein Zellenzug ein, dessen 
längliche Zellen senkrecht zur Oberfläche der Mittelrippe 
stehen, diese mit den erwähnten rundlichen Zellen verbindend. 
Auch diese Zellen, die im Querschnitt rundlich-polygonal er- 
scheinen, sind fast ohne jeden geformten Inhalt; nur die in 
der Nähe der Seitennerven gelegenen und die unmittelbar an 
die Epidermis anstossenden Zellen enthalten Chlorophyll und 
Stärkekörnchen. Der übrige Theil der Mittelrippe, d. h. also 
die nach unten gelegene Partie, besteht, wie der entsprechende 
Theil im Blattstiel, aus langen, parallel dem Hauptgefässbün- 
del verlaufenden Zellen, die gegen die Epidermis zu bedeutend 
kleiner werden. Es ist jedoch zu bemerken, dass am Scheitel 
des Bogens, den die Mittelrippe bildet, auch diese Zellen 
streckenweis eine zum Verlauf der Mittelrippe senkrechte 
Stellung annehmen. In den zwei bis drei zunächst unter 
der Epidermis gelegenen Zellschichten findet sich wiederum 
Chlorophyll, während die grossen, das Gefässbündel umge- 
benden Zellen frei davon sind. 

Die Epidermis, welche die Unterseite der Blatt- 
mittelrippe bekleidet, ist die directe Fortsetzung der Zwischen- 
glieds-Epidermis. Sie geht indess nicht bis zu den Ursprungs- 
stellen der beiden Blattflügel heran, sondern sie reicht beider- 
seits nur bis zu dem Punkte, der ungefähr der Austrittsstelle 
der Seitennerven aus dem Hauptgefässbündel gegenüberliegt 
(Fig. 4, a). Hier trifft sie mit der Epidermis der Blattunter- 
seite, deren lange schmale Zellen senkrecht zu der Mittelrippe 
stehen, zusammen (Fig. 4). Die Oberseite der Mittelrippe 
zeigt keine eigene Epidermis, sondern wird von der Epider- 
mis der Blattoberseite bedeckt, welche hier einen beiderseits 
ziemlich scharf begrenzten, 6—8 Zellen breiten Streifen etwas 
verkürzter, breiterer Zellen bildet (Fig. 5, a, a). 

Einen eigenthümlichen Bau besitzen die Blatt flügel. 
Sie bestehen durchweg aus länglichen oder langgestreckten 
Zellen, deren Längsaxen parallel den Hauptsträngen der 
Seitennerven, und senkrecht zur Mittelrippe verlaufen. 

Die Epidermis der Oberseite (Fig. 7) besteht aus Zel- 
len, deren Grundform ein langgezogenes Sechseck ist, die je- 


Bee 


Pe F. Kurtz: 


doch durch gegenseitigen Druck häufig in verschiedener Weise 
zugerundet oder abgestumpft sind. Die Membran der Epider- 
miszellen ist stark verdickt, ganz besonders die der Ober- 
fläche zugekehrte Partie; die Zellen enthalten viele Stärke- 
körner (Fig. 7 a), deren Gestalt und Gruppirung an die 
Stärkekörner von Smilax Sassaparilla erinnern. An ganz ent- 
wickelten Blättern ist ihr Zellsaft intensiv purpurn gefärbt. 
Zwischen den Epidermiszellen liegen etwas vertieft die Basal- 
zellen der Scheibendrüsen, die, wenn die Scheibe entfernt ist, 
das Ansehen einer geschlossenen Spaltöffnung darbieten, deren 
Spalte parallel zu den Seitennerven liegt. Jeder zwischen 
zwei Randborsten liegende Theil der Epidermis theilt sich in 
geringer Entfernung vom Rande in zwei Partien, von denen 
jede sich auf die benachbarte Randborste fortsetzt; dort wer- 
den ihre Zellen noch länger und schmaler, zeigen viel weniger 
verdickte Wände und nehmen überhaupt fast ganz den Cha- 
rakter der Epidermis der Blattunterseite an, mit der sie auf 
den Borsten zusammentreffen. Die Räume zwischen den Rand- 
borsten, wo die Epidermis der Blattoberseite mit der der 
Unterseite zusammentreffen müsste, werden von länglichen, 
parallel dem Blattrand verlaufenden, unregelmässig buchtigen 
Zellen bedeckt; zwischen ihnen liegen ziemlich zahlreiche Sto- 
mata (zwischen je zwei Borsten wurden auf der Oberseite 
5—8 gezählt). Diese Spaltöffnungen sind von mehr rundlicher 
Gestalt als die der Blattunterseite; ihre Spalten liegen meist 
parallel der Mittelrippe. Diese Inseln abweichend gestalteter 
Epidermiszellen sind die einzigen Stellen, wo man auf der 
Blattoberseite Spaltöffnungen findet. Die Scheibendrüsen feh- 
len auf den Borsten ganz; dagegen finden sich sehr schön aus- 
gebildet die schon bei der Beschreibung des Stengels erwähn- 
ten achttheiligen Sternhaare, die sonst nur auf der Unterseite 
der Blattspreite vorkommen. 

Unter der Epidermis der Blattoberseite liegt eine Schicht 
etwas kürzerer Zellen (Fig. 6 und 9), die dünnwandig sind 
und sehr reichlich Chlorophyll enthalten. Es folgen dann un- 
gefähr 2—3 Lagen grösserer, langer, cylindrischer Zellen, die 
ebenfalls dünnwandig, aber fast ganz ohne geformten Inhalt 


% Karen 
BETT. v 


Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipula. 23 


sind. Die innerste Schicht dieser Zellen stösst an die langen, 
schmalen Zellen, welche die Fibrovasalstränge in den Blatt- 
flügeln begleiten. Unterhalb des Gefässbündels liegen 2—3 
Reihen Zellen von derselben Beschaffenheit wie die eben be- 
schriebenen, dann 3—4 Schichten bedeutend schmalerer, klei- 
nerer, chlorophyllreicher Zellen, und auf diese folgt schliess- 
lich die Epidermis der Blattunterseite. 

Diese untere Epidermis wird von sehr langen, 
schmalen, eylindrischen Zellen mit etwas verdickten Wandun- 
gen gebildet, die zwischen sich die ziemlich zahlreichen Spalt- 
öffnungen und die Stielzellen der ungefähr in gleicher Anzahl 
wie die Stomata vorhandenen Sternhaare einschliessen. Die 
Spaltöffnungen sind etwas in die Länge gezogen ; ihre Spalte 
liegt parallel den Seitennerven. Die Stielzellen der Stern- 
haare bieten meist das Ansehen eines rundlichen geschlossenen 
Stoma’s dar, wie die der Scheibendrüsen, doch kommen auch, 
wenngleich nur selten, Sternhaare mit nur einer Stiel- 
zelle vor. 

Alle Zellen der Blattspreite sind im Längsschnitt kreis- 
förmig oder fast kreisförmig (Fig. 9) und lassen grosse, drei- 
oder viereckige Intercellularlücken zwischen sich, die, wie die 
Zellen selbst, parallel den Seitennerven verlaufen. 

Die Anschwellungen an der Basis der Randstacheln sind 
durch stärkere Entwicklung der unteren Hälfte des Blattpar- 
enchyms gebildet. Letzteres besteht an diesen Stellen (Fig. 4) 
zunächst aus rundlichen Zellen, die unmittelbar an die Epi- 
dermis der Blattunterseite angrenzen. Von diesen Zellen er- 
heben sich grössere, längliche Zellen, die in schräger Rich- 
tung von unten nach oben aufsteigen, parallel dem Fibro- 
vasalstrang verlaufen, und immer schmaler und länger wer- 
dend, die Randborste bilden. In den Anschwellungen sind 
die grossen, inhaltslosen Zellen, welche im Blatt den 
Fibrovasalstrang umgeben, verschwunden; alle Zellen ent- 
halten hier mehr oder weniger Chlorophyll. In den 
Räumen zwischen je zwei Borsten hören die langen 
chlorophyllosen Zellen ebenfalls in einiger Entfernung vom 


94 F. Kurtz: 


Rande auf, statt ihrer finden sich rundliche, chlorophylK 
haltige Zellen, die nicht mehr in Reihen geordnet sind und 
bis zum Rande den Raum ausfüllen. Die Epidermis’ der 
Ober- und die der Unterseite gehen nicht ganz an den’Rand 
heran, zeigen aber bis zu ihrem Ende die charakteristischen 
Triehome (Scheibendrüsen oben, Sternhaare unten). Die Epi- 
dermis des Randes selbst, sowie je einer kleinen Strecke der 
Ober- und Unterseite wird durch die schon erwähnten buch- 
tigen Zellen gebildet. 

Die Randborsten bestehen aus sehr schmalen langen 
Zellen, deren Längsaxe die beiden andern um das 10—1löfache 
übertrifft. Wie schon bemerkt, setzt sich die Epidermis des 
Blatts direct auf die Borsten fort; je weiter nach der Spitze 
der Borsten zu, desto mehr verschwindet jeder Unterschied 
zwischen Epidermis und Parenchym. Die Borsten besitzen 
weder Scheibendrüsen noch Stomata, wohl aber schön ausge- 
bildete Sternhaare. In jeden Randfortsatz tritt ein stärkeres, 
aus 5—6 Spiralgefässen bestehendes Gefässbündel, das fast 
immer aus dem Bogen, der je zwei Seitennerven verbindet, 
entspringt (Fig. 3); es durchläuft die Borste fast bis zur 
Spitze, wo es, noch aus zwei Spiralgefässen bestehend, endet. 
Ausser diesem Fibrovasalstrang treten fast regelmässig noch 
aus dem feinen Nervennetz, welches seinen Ursprung aus den 
Verbindungsbögen der Seitennerven nimmt, zwei oder ein zar- 
ter Nerv in die Borsten; diese feinen Stränge verlieren sich 
indess bald. 

An der Stelle, wo ein sensibles Haar entspringt, 
durchbricht das Blattparenchym die Epidermis der Blatt- 
oberseite (Fig. 4). Die der Epidermis zunächst liegenden 
Parenchymzellen sind hier kleiner, und bilden einen, aus 
4—5 Etagen von polygonalen Zellen bestehenden, im Quer- 
schnitt kreisrunden Cylinder (Fig. 10 a), der sich über die 
Blattoberfläche erhebt und ungefähr '/,, der Gesammtlänge 
des Haares beträgt. Die Epidermis der Oberseite, welche in 
der Umgebung des sensiblen Haares aus kürzeren Zellen be- 
steht, setzt sich auch auf die Basis desselben fort; ihre 
Zellen sind hier von gedrungenerer Gestalt und haben nur 


Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipula. 25 


wenig verdickte Membranen. Auf den Oylinder ist ein schlan- 
ker, sich schnell verjüngender Kegel aufgesetzt, der in stark 
verkleinertem Maassstabe ganz das Aussehen einer Randborste 
darbietet, nur zeigt er keine Sternhaare und kein Gefäss- 
bündel. Die Basis dieses Kegels bildet einen ringförmigen 
Wulst, der etwas über den Basalcylinder hervorragt; die 
Zellen desselben färben sich zuerst und am intensivsten roth, 
so dass an einem ganz entwickelten Blatt die drei sensiblen 
Haare, von oben betrachtet, als drei dunkelpurpurne Punkte 
auf heller purpurnem Grunde erscheinen. Der Kegel besteht, 
wie die Randborsten, aus langen, schmalen, cylindrischen, nur 
wenige Körnchen enthaltenden Zellen, deren Protoplasma 
nach Darwin’s Beobachtungen (Ins. Pl. p. 291) die Er- 
scheinung der Rotation zeigt. Derselbe Forscher giebt an, 
dass die Spitze der sensiblen Haare mitunter zwei- oder sogar 
dreitheilig sei; diese Erscheinung, die auch an Pflanzen des 
Berliner Universitätsgartens gesehen wurde, kann durch 
grösseres oder geringeres Auseinanderweichen der sie bilden- 
den Zellen (Fig. 10 b) leicht hervorgebracht sein. 

Das Blatt der Dionaea besitzt, ausser den sensiblen 
Haaren, zweierlei Trichomgebilde: Sternhaare und Schei- 
bendrüsen. Darwin giebt noch eine dritte Haarform an; 
er sagt (Ins. Pl. p. 288): „there are also a few very minute, 
simple, pointed hairs, about 15455 (0'0148 Mm.) of an inch 
in length on the backs of the leaves“; allein es war mir nicht 
möglich, diese Gebilde aufzufinden, 

Die Sternhaare finden sich auf beiden Seiten des 
Blattstiels, auf dem Zwischengliede, auf der Unterseite der 
Lamina und an den Randborsten. Auf der Oberseite der La- 
mina, wo Darwin einige wenige angiebt (Ins. Pl. p. 288), 
habe ich nie welche gesehen. Die Sternhaare bestehen zu- 
nächst aus zwei Stielzellen — sehr selten findet man nur eine 
— die etwas vertieft zwischen den umgebenden Epidermis- 
zellen liegen. Von ihnen strahlen meist 8 (es wurden auch 4, 
6, 7, 9 gezählt) längliche, platte, an den Spitzen stumpfliche 
Zellen aus (Fig. 11). Nicht immer treffen die Theilungs- 
wände derselben in einem Punkt zusammen, es kommen 


96 F. Kurtz: 


nicht allzu selten Fälle wie der in Fig. 11 a abgebildete vor. 
Die Sternhaare sind schon an sehr jungen Blättern, deren 
Lamina noch ganz eingerollt ist und noch keine Spur von 
Scheibendrüsen oder Randstacheln zeigt, zu vollkommener 
Grösse entwickelt. Zu dieser Zeit sind sie ganz farblos, und 
die mit Protoplasma gefüllten acht Zellen haben ein pralles, 
turgescentes Ansehen. An erwachsenen Blättern dagegen sind 
die Sternzellen mehr oder weniger gebräunt und sehen ver- 
welkt aus, während die Scheibendrüsen dann sich am schönsten 
entwickelt zeigen. Die Sternhaare der Dionaea zeigen mit 
denen der Aldrovandia!) und der Drosera rotundifolia?) 
grosse Aehnlichkeit. Ob die Oberhautzelle, aus der das 
Sternhaar hervorgeht, auch so mannigfache Theilungen er- 
fährt, wie Caspary dies für die Aldrovandia -Sternhaare 
beschrieben und abgebildet hat (a. a. O. Tab. IV, Fig. 17, 18, 
19), konnte leider nicht festgestellt werden. 

Die Scheibendrüsen (Fig. 12) finden sich nur auf, 
der Oberfläche der Blattspreite, dort aber in sehr grosser 
Menge; nur der äusserste Blattrand ist frei von ihnen. Mit 
geringen Abweichungen sind die Scheibendrüsen der Dionaea 
genau so gebaut wie die Lupulindrüsen des Hopfens’). Im 
fertigen Zustande bestehen sie aus zwei kleinen Basalzellen 
(nach Rauter’s Terminologie) ; diese (Fig. 12g, I) tragen zwei 
längere Stielzellen (Fig. 12g, 2), welche, von oben gesehen, 
das Bild einer ovalen geschlossenen Spaltöffnung darbieten, 
deren Spalte parallel den Seitennerven liegt. Die Basalzellen 
liegen zwischen der subepidermalen, chlorophyllreichen Zell- 
schicht (Fig. 9); die Stielzellen erreichen die Oberfläche des 
Blatts, ihre Oberfläche liegt aber in einer, von den sich wöl- 
benden Epidermiszellen gebildeten Vertiefung. Den Stielzellen 
sitzt eine Scheibe auf, die, wenn die successiven Theilungen 
ihrer Mutterzelle ganz regelmässig erfolgt sind, aus 23 Zellen 


1) Caspary in Bot. Zeit. 1859, S. 117 ff. Taf. IV, V. 

2) Nitschke a. a. ©. 

3) Rauter, Zur Entwickelungsgeschichte einiger Trichomgebilde, 
Wien, 1871. Abgedr. aus d. XXXI. Bd. d. Denkschr. d. math. 
naturw. Kl. d. K. Akad. d. Wiss. S. 25, 26; Taf. VIII. Fig. 2—11. 


Zur Anatomie des Blattes der Dionaea museipula. 27 


besteht (Fig. 12 f). Sie bildet, wie die Zellscheibe der Lupu- 
lindrüsen, einen seichten Napf. Ein Secret findet man in den 
Drüsennäpfen nicht, dieselben secerniren nur, wenn sie mit 
löslichen stiekstoffhaltigen Substanzen, Insectenleichen, Ei- 
weiss, Gelatine oder dergl. in Berührung sind (Darwin). Die 
successiven Theilungen der Scheibenmutterzelle werden durch 
die Fig. 12 a—g dargestellt. Aber nicht immer theilen sich 
die acht zuerst gebildeten Randzellen in je zwei, wie es Fig, 
12 e zeigt; zuweilen unterbleibt die Theilung in einer oder in 
mehreren Zellen (Fig. 12 h, i). In den zuletzt eintretenden 
Theilungen lässt sich keine bestimmte Regel mehr erkennen; 
die Zahl der Scheibenzellen beträgt höchstens 34—36. 

Die Entwickelungsgeschichte der Blätter konnte der Kost- 
barkeit des Materials wegen nicht verfolgt werden. Eigen- 
thümlich ist das Grössenverhältniss zwischen Petiolus und 
Lamina an den zuerst entstandenen und an den späteren 
Blättern eines Jahres. Die ersten Blätter zeigen nämlich 
einen Blattstiel, der schon seine vollkommene Grösse erreicht 
hat, wenn die Lamina noch auf einer sehr niedrigen Ent- 
wickelungsstufe sich befindet (Fig 1, d, e). Der Petiolus der 
ersten Blätter bleibt während der ganzen Lebensdauer dersel- 
ben breiter als die Blattspreite, während bei allen späteren 
Blättern die Spreite den Blattstiel an Breite übertrifft. Dieser 
Unterschied zwischen den ersten und den späteren Blättern 
ist besonders an der gewöhnlichen Form der Dionaea hervor- 
tretend; die von Veitch stammenden Pflanzen haben da- 
gegen erste Blätter, die den späteren Blättern der gewöhn- 
lichen Form ähnlich sind. Die Blätter der Dionaea zeigen die 
Ptyxis involuta, wie Drosera. Die eingerollte Lamina ist 
gegen den ebenfalls eingekrümmten Blattstiel zurückgeschla- 
gen wie die Klinge eines geschlossenen Taschenmessers (Fig. 
1, g). Dann richtet die Blattspreite sich auf und nimmt, noch 
nicht sehr entwickelt, ihre definitive Stellung ein. 

Das jüngste Blatt, welches untersucht wurde, besass eine 
Lamina von 1 Mm. Länge. Die Sternhaare waren an dem- 
selben bereits vollkommen entwickelt, die sensiblen Haare 
und die Scheibendrüsen fehlten noch. Das Blatt war sehr 


98 F. Kurtz: 


reich an Stärkekörnern. Ein Blatt, dessen Lamina 2 Mm, 
lang war, zeigte die sensiblen Haare schon als unverhältniss- 
mässig grosse, stumpfwalzliche Kegel, an denen jedoch die 
Gliederung in der Nähe der Basis noch nicht zu erkennen 
war. Die Scheibendrüsen waren bereits als einfache Ausstül- 
pungen der Epidermis vorhanden. An diesem Blatt wurden 
auch vollkommen entwickelte Stomata beobachtet, deren 
Schliesszellen reichlich Stärkekörner enthielten, wodurch sie 
sich von den stärkefreien Stielzellen der Sternhaare sofort 
unterschieden. Ein etwas älteres Blatt, dessen Blattspreite 
eine Länge von 4 Mm. besass, zeigte die Scheibendrüsen 
schon als mehrzellige Körper. 

Zum Schluss habe ich meinen hochverehrten Lehrern Hrn. 
Prof. A. Braun und Hrn. Prof. L. Kny für die gütige Un- 
terstützung, die sie mir bei dieser Arbeit zu Theil werden 
liessen, meinen herzlichsten Dank auszusprechen. 


Erklärung der Abbildungen. 


Fig. 1. Zeigt die Art des Einpflanzens, welche Hr. Prof. Munk an- 
wenden liess, um die Blätter für physiologische Versuche zu- 
gänglicher zu machen. Die Abbildung zeigt Blftter verschie- 
dener Stöcke und verschiedenen Alters. Die Blätter a und b 
gehören der mehrfach erwähnten Form, welche Veitch schickte, 
an, die übrigen (c—g) der gewöhnlichen Form. Die Blattflügel 
von a sind flach auseinandergelegt, um den Umriss der Lamina 
zu zeigen. % natürlicher Grösse. 

Fig. 1 A. Schematische Darstellung der ungleichmässigen Ausbil- 
dung der Blattstielöhrchen. 

Fig. 2. Epidermis der Unterseite des Blattstiels. Die Chlorophyll- 
körner in den Epidermiszellen sind nur zum Theil ausgeführt. 
Vergr. 240. 

Fig. 3. Nervatur des Dionaeablattes, nach einem in Kalilauge ge- 
kochten Blatt gezeichnet. Die — halbe — Lamina ist flach 
zur Seite gelegt. 

Fig. 4. Querschnitt durch die Mittelrippe und eine Hälfte der La- 
mina; schematisch. 


Arch Zu v2 Inat.u. Ph ystol. 1816: 


#iy.12a. Pig 12h, Fig 1Rc FIRRA: 


98% 


Fig ICh. 


RN 
[AS 


haue lith. 


Fig. 


Fig. 


Fig. 
Fig. 


Fig. 
Fig. 
Fig. 


Fig. 
Fig. 
Fig. 


Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipulla. ° 29 


5. Epidermis der Oberseite der Blattmittelrippe (die zwischen 
a, a, a, a befindliche Strecke). Vergr. 80. 

6. Querschnitt durch die Lamina. Vergr. 160. 

7. Epidermis der Oberseite der Lamina; s, s die Stielzellen 
einer Scheibendrüse. Vergr. 240. 

7a. Stärkekörner aus denselben Epidermiszellen, stärker ver- 
grössert. 

8. Epidermis der Unterseite der Lamina. Vergr. 240. 

9. Längsschnitt durch die Lamina. Vergr. 160. 

10a, Ansicht der Basis eines sensiblen Haars; bei W der her- 
vortretende Wulst. Vergr. 240, 

10b. Spitze eines sensiblen Haars. Vergr. 240. 

11 und 11a. Sternhaare des Dionaeablatts. Vergr. 240 resp. 120. 

12 a—k. Scheibendrüsen des Dionaeablatts. a—g schematische 
Zeichnungen, die die successiven Theilungen, durch welche 
die Drüsenscheibe gebildet wird, veranschaulichen. g ist die 
Seitenansicht von e; 1, 1 sind die Basal-, 2, 2 die Stiel- 
zellen. h, i und k sind mit dem Prisma bei 240maliger Ver- 
grösserung gezeichnet. 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen 
am Blatte der Dionaea musecipula. 


Von 
HERMANN MunRKk. 


Hierzu Taf. I. und Taf. III. 


$. 1. Einleitung. Allgemeines über die Untersuchung. 


Wenn Hrn. Dar win’s Untersuchungen über die Inseeten- 
fressenden Pflanzen, sobald nur vor Jahren Einzelnes über 
sie verlautete, naturgemäss das allgemeine Interesse erregten, 
so musste für den engeren Kreis der Physiologen nicht minder 
anziehend sein die wundervolle Entdeckung, wie Hr. Dar- 
win sie nennt, welche sich von Seiten des Hrn. Burdon 
Sanderson an jene Untersuchungen knüpfte. Die Dionaea 
muscipula, zu den Insectenfressenden Pflanzen gehörig, hat 
ein zweiflügeliges Blatt, das auf Reizung sich schliesst, in- 
dem die etwa halbkreisförmigen Flügel mit ihren Rändern 
sich an einander legen. Dieses Blatt fand Hr. Sanderson 
mit einer elektromotorischen Wirksamkeit ausgestattet, wie 
den Muskel; und wie bei der Contraction des Muskels dessen 
Strom die negative Schwankung erfährt, so sah Hr. Sander- 
son auch eine negative Schwankung des Stromes des 
Dionaea-Blattes eintreten, sobald das Blatt sich contrahirte. Ja 
sogar die Periode der latenten: Reizung des Muskels und den 
Elektrotonus des Nerven gelang es Hrn. Sanderson am 
Dionaea-Blatte wiederzufinden, den letzteren, wenn der Blatt- 
stiel, der selbst umgekehrt elektromotorisch wirksam sich er- 


H. Munk: Die elektrischen u. Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 31 


gab wie das Blatt, von einem constanten Strome durchflossen 
oder gar nur einfach vom Blatte abgetrennt wurde'). 

Mit Recht konnten Hr. Darwin?) und Hr. Hooker’) 
Hrn. Sanderson’s Untersuchungen preisen, weil dieselben 
für die Thierähnlichkeit der ausgezeichneten Pflanzengruppe, 
kaum dass noch die Verdauungsfähigkeit erwiesen war, schon 
als neues Moment auch die Contractilität hinzufügten. Aber 
selbst aus jeder Verbindung mit der Verdauungsfähigkeit der 
Pflanzen gelöst, behielten Hrn. Sanderson’s Erfahrungen 
des Bedeutungsvollen genug. Die Muskeln und die Nerven 
und allenfalls die Drüsen waren nun nicht mehr die einzigen 
Organismen, welche bei der Thätigkeit die negative Schwan- 
kung ihres Eigenstromes darboten, der Nerv stand nicht mehr 
allein da ausgezeichnet durch den Elektrotonus, sondern an 
diese thierischen Organismen reihte sich mit den gleichen elek- 
trischen Veränderungen ein pflanzlicher Organismus an, dessen 
Bau, Ernährung und Function ganz anders geartet waren. 
Dieselben elektrischen Vorgänge liessen sich daher fortan 
unter weit differenten Verhältnissen studiren, und somit war 
eine neue Aussicht eröffnet für die Förderung bisher hart- 
näckig widerstrebender Probleme, der Fragen nach Wesen 
und Bedeutung der elektrischen Erscheinungen an Nerv und 
Muskel. Nicht mindere Hoffnungen knüpften sich in anderer 
Hinsicht an. Das Vorkommen von Contractilität bei den 


1) Hr. Sanderson hat seine Untersuchungen an folgenden Stellen 
veröffentlicht: 

1. Report of the XLIII. Meeting of the British Association at 

Bradford in September 1873. London 1874. Tr. of the Sect. p. 133; 
2. Proceedings of the Royal Society. Vol. XXI. No. 147. Novem- 
ber 20, 1873. p. 495—6; 

3. Centralblatt für die medicin. Wissensch. 1873, No. 53 (23. 
November), S. 833—5; 

4. Nature, Vol. 10, No. 241 and 242, p. 105—7 and 127—8; 
June 11 and 18, 1874. 

Die drei ersten Mittheilungen geben eine kurze Uebersicht der 
Untersuchung; die letzte Mittheilung ist die ausführlichste und die 
Wiedergabe eines am 5. Juni 1874 in der Royal Institution gehal- 
tenen Vortrages. 

2) Insectivorous Plants. London 1875. p. 318, 

3) Nature, Vol. 10, No. 253, p. 367; 3. Sept. 1874. 


32 H. Munk: 


Pflanzen, so lange eifrig und mit Erfolg bestritten, war nun- 
mehr unverkennbar mit gewichtigen Gründen gestützt. Auch 
für das Studium der Contraction bot sich also neben dem 
Muskel ein zweiter, ganz anders beschaffener Organismus dar, 
und wesentliche Fortschritte auch auf diesem dunkeln Gebiete 
liessen sich erwarten. 

Diese Erwägungen und andere, welche die Präexistenz 
der elektrischen Erscheinungen an den Organismen betrafen, 
wandten meine Aufmerksamkeit sogleich im November 1873 
dem Dionaea-Blatte zu; und Dank der Unterstützung, welche 
ich fand, konnte ich in den beiden letzten Jahren die Unter- 
suchungen ausführen, deren Ergebnisse ich im Folgenden 
mittheile. Das Material für die Untersuchungen verschaffte mir 
die Güte des Hrn. Prof. A. Braun und die grosse Freund- 
lichkeit unseres Universitätsgärtners, Hrn. Barleben, der 
mit einer nicht genug anzuerkennenden Bereitwilligkeit auf 
alle meine Intentionen einging. Der bei vielen Versuchen un- 
umgänglichen Assistenz unterzog sich Hr. F, Kurtz mit aus- 
nehmender Liebenswürdigkeit.e. Auch war Hr. Kurtz so 
freundlich, auf meinen Wunsch die anatomische Untersuchung 
des Blattes zu übernehmen, über welche derselbe im vorher- 
gehenden Aufsatze berichtet hat. Ich fühle mich allen den 
genannten Herren zu ganz besonderem Danke verpflichtet. 

Die Dionaeen, welche ich untersuchte, waren sämmtlich 
von Hrn. Barleben in Töpfen cultivirt, die verrottete 
Sphagnum-Erde, etwa zur Hälfte mit Sphagnum gemischt, 
enthielten. Vor dem Besuche von Insecten waren sie durch 
Glaskästen durchaus geschützt. Trotzdem gediehen sie präch- 
tig und besonders im Jahre 1374 so vortrefflich, dass die 
Blätter in Grösse und Ausbildung keiner der vorhandenen 
Beschreibungen und Abbildungen nachstanden, ja manchmal 
dieselben noch übertrafen. Ihre Wurzeln waren recht gross 
und zahlreich: ich fand bei einer löblätterigen Pflanze 15, bei 
einer Sblätterigen 8 ansehnliche, meist über 100 Mm. lange 
Wurzelfäden. 

Im Jahre 1874 hatte Hr. Barleben aus den anfänglich 
vorhandenen 2 Dionaeen des hiesigen Universitätsgartens mit 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u. s. w. 33 


vielem Glücke 6 Pflanzen aufgezogen, so dass ich ca. 40 grosse 
und zum Theil ausgezeichnete Blätter für die Untersuchung 
verwenden konnte. Im Jahre 1875 standen mir, nachdem ich 
noch im Frühjahre aus England und aus Amerika Dionaeen 
erhalten hatte, 10 brauchbare Töpfe mit ca. 60 grossen Blättern 
zur Verfügung. Die amerikanischen Pflanzen waren von den 
hiesigen gar nicht zu unterscheiden, die englischen Exemplare 
aber boten Abweichungen nicht nur in der Gestalt des Blatt- 
stieles und des Blattes selbst, sondern auch durch das Auf- 
steigen des Blattstieles dar, wie es Hr. Kurtz bereits be- 
schrieben hat. Soweit die folgenden Untersuchungen sich er- 
streekten, haben alle Pflanzen die gleichen Ergebnisse ge- 
liefert. 

Hr. Sanderson hat die Blätter (mit ihren Stielen) im- 
mer abgeschnitten benutzt, und dies Verfahren bringt mehr- 
fache Nachtheile mit sich. Das abgeschnittene Blatt ist doch 
immer nur ein überlebender, in seiner Ernährung gehemm- 
ter Organismus, dessen Beziehung zum normalen, unversehr- 
ten Blatte, dem eigentlichen Gegenstande der Untersuchung, 
erst einer besonderen Ermittelung bedarf. Jedermann weiss 
ferner, wie oft und immer wieder - gerade die elektromoto- 
rischen Erscheinungen an den Organismen auf Grund der 
Schnittflächen der Organismen, ja selbst schon der schnittfreien 
Lostrennung derselben vom Gesammtorganismus verdächtigt 
worden sind. Dazu kommt, dass der Ausdehnung und der 
Wiederholung von Versuchsreihen an einem und demselben 
Blatte, sobald dasselbe abgetrennt, sehr enge Grenzen gesteckt 
sind. Endlich und vor Allem ist mit dem Abschneiden jedes 
Blattes das kostbare Versuchsmaterial verkürzt, das sich 
schwer oder gar nicht wiederersetzen lässt. Aller dieser 
Nachtheile wegen habe ich es als ein erstes Erforderniss an- 
sehen müssen, das Abschneiden der Blätter entbehrlich zu 
machen, und es ist mir gelungen, die Forderung zu erfüllen. 

Der Untersuchung der unversehrten Blätter am Topfe 
steht nur im Wege, dass die Blätter und besonders ihre blatt- 
artigen Stiele dicht bei einander mit ihren unteren Flächen 
der Topferde resp. dem Topfe- selbst unmittelbar aufliegen, 

Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 3 


34 H. Munk: 


so dass die für die Untersuchung erforderliche Isolation und 
Zugänglichkeit des Blattes ohne Verletzung des Topfes nicht 
zu erreichen sind. Ich liess deshalb durch Hrn. Barleben 
das junge Pflänzchen jedesmal in einen kleinen Topf mit aus- 
geschlagenem Boden, den Bodenrand nach oben gerichtet, ein- 
setzen, dann den kleinen Topf auf einen gleichfalls mit Spha- 
gnum und verrotteter Sphagnum-Erde gefüllten grösseren 
Topf stellen und schliesslich die Füllung des letzteren Topfes 
bis zum oberen Rande des kleinen Topfes erhöhen (s. Fig. 1). 
Nun breiteten sich. die Blattstiele und Blätter bei ihrer Ent- 
wickelung auf der den kleinen Topf umkleidenden Sphagnum- 
Hülle aus; und es war nur nöthig, an der Stelle des für’ die 
Untersuchung ausgewählten Blattes die Sphagnum-Hülle in 
einiger Ausdehnung zu entfernen, um das Blatt in der erfor- 
derlichen Weise isoliren und die Apparate bequem heranbrin- 
gen zu können. Höchstens war noch durch passend in die 
Sphagnum-Hülle eingestossene Glasstäbe die Isolirung des 
Blattes von den Nachbarblättern zu unterstützen. Nach Ab- 
schluss der Prüfung des Blattes wurde das vorher entfernte 
Sphagnum wieder untergelegt, und der Topf stand später, 
unversehrt wie zuerst, für die weitere Untersuchung zur Ver- 
fügung. 

Bei den hiesigen wie bei den amerikanischen Dionaeen 
habe ich das angezeigte Hülfsmittel unentbehrlich gefunden. 
Bei den englischen Exemplaren dürfte es nur nützlich sein, 
weil die mehr vom Boden sich abhebenden Blattstiele wohl 
auch ohnedies, wenngleich schwieriger, die Untersuchung der 
Blätter am Topfe zulassen würden. Die Möglichkeit der 
wiederholten Prüfung der unversehrten Blätter am unversehr- 
ten Topfe gewährt eine hohe Befriedigung, und ich habe dieses 
Verfahren vorzugsweise geübt. Das Abschneiden der Blätter 
lässt sich dann für die Versuche aufsparen, für welche es un- 
umgänglich ist, und für den Spätherbst, wo die weitere Scho- 
nung der Blätter doch zwecklos wäre. Die mit dem Stiele 
abgeschnittenen Blätter habe ich nicht länger als während 30 
Minuten zur Untersuchung brauchbar gefunden; aber inner- 
halb der ersten 15—20 Minuten unterschieden sie sich auch 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u. s. w. 35 


gar nicht merklich von den unversehrten Blättern am Topfe. 
Diese letzteren habe ich bis 30 Minuten lang frei an der Luft 
untersuchen können, ohne dass der Topf darunter Schaden 
nahm. Selbstverständlich musste durch ausgebreitetes feuchtes 
Fliesspapier, Alcarazza’s u. dergl. für eine feuchte Atmosphäre 
in der Umgebung der geprüften Blätter gesorgt sein. 

Zur Fixirung der abgeschnittenen Blätter habe ich mich 
mit Vortheil der kleinen Blattzwinge bedient, welche Fig. 13 
zeigt. Die schräg schraffirten Theile sind von Hartgummi, 
die anderen von Messing hergestellt. Die Vorrichtung war 
am du Bois’schen allgemeinen Träger befestigt, und zwischen 
die verstellbaren schmalen Hartgummi-Platten wurde ohne 
Pressung das Zwischenglied (zwischen Blattstiel und Blatt) 
gebracht. Natürlich lässt sich die Vorrichtung auch zur 
Fixirung der Blätter am Topfe benutzen, man kommt dort 
aber in der Regel gut ohne dieselbe aus. 

Nach diesen Vorbemerkungen kann ich zur Darlegung der 
Untersuchung übergehen. Ich schliesse mich bei derselben 
hinsichts der Bezeichnung der Blatt-Theile, -Seiten, -Ränder 
u. s. w. dem vorhergehenden Aufsatze des Hrn. Kurtz an, 
der überall den nöthigen Aufschluss gewähren wird. Nur 
zweierlei Bezeichnungen treten hinzu und bitte ich besonders 
beachten zu wollen. Ich nenne das Stielende des Blattes das 
vordere, das entgegengesetzte freie Ende (die Blattspitze) 
das hintere Ende des Blattes und spreche demgemäss von 
„vorn“ und „hinten“, „vorderem“ und „hinterem“ Blattrande 
u. s. w. Ferner nenne ich einen Strom oder eine Kraft, wenn 
sie im Blatte von vorn nach hinten gerichtet ist, aufstei- 
gend, wenn sie die umgekehrte Richtung hat, absteigend. 
Ich verkenne nicht, dass gegen diese Bezeichnungen, besonders 
die letzteren, Manches einzuwenden ist; allein sie können 
nach der gegebenen Definition Dunkelheiten nicht mehr ver- 
anlassen, und sie werden mir zu häufig die wünschenswerthe 
Kürze des Ausdrucks gestatten, als dass ich sie sollte entbeh- 
ren mögen. 


3+ 


a0 H. Munk: 


$. 2. Von der Vertheilung der Spannungen an der Oberfläche 
des Dionaea-Blattes. 


Hrn. Sanderson’s Bemerkungen über die elektromoto- 
rische Wirkung des Dionaea-Blattes beschränken sich auf die 
folgende Angabe'): „Wenn die entgegengesetzten Enden eines 
lebenden Blattes von Dionaea mittelst nicht polarisirbarer 
Elektroden in metallische Verbindung gebracht werden und 
ein Thomson’sches Spiegelgalvanometer mit hohem Wider- 
stande in den so gebildeten Kreis eingeschaltet wird, so ist 
eine Ablenkung bemerkbar, die einen von dem Stielende zu 
dem dem Stiele abgewendeten Ende des Blattes gerichteten 
Strom angiebt. Diesen Strom nenne ich den normalen Blatt- 
strom?). .. Um (ihn) zu demonstriren, hat man nicht nöthig, 
irgend eine Schnittfläche den Elektroden auszusetzen.* Und 
immer ist es sodann dieser selbe Strom, an welchem Hr. 
Sanderson die elektrotonischen Veränderungen und die ne- 
gative Schwankung constatirt. 

Die Richtung des Stromes im Blatte, nicht im Galvano- 
meterdrahte, ist in den angeführten Worten gemeint, und Hrn. 
Sanderson’s Angabe ist leicht zu bestätigen: man findet in 
der That regelmässig zwischen jenen Blattenden, nach unserer 


Bezeichnungsweise, einen aufsteigenden Strom. Aber damit 


ist nur ein erster Schritt zur Kenntniss der elektromotorischen 
Wirkungen des Dionaea-Blattes gethan, und wir wollen diese 
Wirkungen jetzt genauer verfolgen. 

Meine Versuchsweise bot nichts Besonderes. Die Elek- 
troden bildeten du Bois’sche Zuleitungsröhren mit Thon- 
spitzen, deren Thon mit dreiviertelprocentiger Kochsalzlösung 
angeknetet und deren Gestalt dem jedesmaligen Bedürfnisse an- 
gepasst war?). Der Wiedemann’schen Bussole mit aperiodisch 


1) Centralbl. S. 8833—4; Proceed. p. 495; Nat. p. 128. 

2) Diesen im Centralbl. ausgefallenen kurzen Satz („Diesen — 
Blattstrom“) ergänze ich nach dem sonst gleichen Texte der Proceed. 

3) Hrn. Sanderson’s Elektroden (Nat. p. 128) haben eine zu 
plumpe Form, als dass sie für die feinere Untersuchung des Blattes 
brauchbar wären; nach der Fig. 2 a. a. O. zu schliessen, war sogar 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s. w. 37 


gemachtem') Magnete war eine angemessene Empfindlichkeit er- 
theilt. Zur Messung der elektromotorischen Kraft diente die 
von du Bois-Reymond modifieirte Poggendorff’sche 
Compensationsmethode. 

Die Elektroden berühren zuerst immer und ausschliesslich 
die untere Blattfläche. 

Gleich gelegene Punkte der beiden Blattflügel erweisen 
sich als gleichartig. Wirkliche Stromlosigkeit kommt aller- 
dings nur selten vor; aber der zur Beobachtung kommende 
Strom ist immer nur sehr schwach, die Kraft nur sehr klein, 
und die Richtung ist eine ganz regellose, bei erneuter Anlage- 
rung der einen Thonspitze häufig die umgekehrte wie zuvor. 
Da ferner schon ganz geringe Verschiebungen der einen oder 
der anderen Elektrode die vorhandene Richtung oft in die ent- 
gegengesetzte umschlagen machen, und da der Einfluss solcher 
Verschiebungen auf die Richtung nach den später zu ent- 
wickelnden Gesetzen sich gut vorhersagen lässt, so kann kein 
Zweifel sein, dass wir es mit einer unwirksamen Anordnung 
zu thun haben, die nur, wegen der Schwierigkeit der gleichen 
Einstellung an beiden Flügeln, selten sich streng herstellen 
lässt. Es ist also zu beiden Seiten der Mittelrippe 
Alles symmetrisch, und nur Ein Blattflügel mit der Mit- 
telrippe bleibt weiter zu betrachten. 

Denkt man sich die Mittelrippe der Länge nach in zwei 
ungleiche Theile zerfällt, einen kürzeren hinteren und einen 
längeren vorderen Theil, so ist in jedem dieser Theile jeder 
dem inneren Ende nähere Punkt positiv gegen jeden entfern- 
teren Punkt. Der positivste Punkt der Mittelrippe liegt etwa 
am vorderen Ende ihres hintersten Drittels, und mit dem 
Wachsen des Abstandes von diesem Punkte nimmt die Positi- 
vität nach beiden Enden hin ab, so jedoch, dass sie bis zum 
vorderen Ende wesentlich weiter abnimmt, als bis zum hinte- 


schon die Ableitung von den Blattenden eine recht grobe, viel zu 
ausgedehnte, 

ı)E. du Bois-Reymond, Monatsber. der Berl. Akad. 1873. 
S. 761 ff. 


38 H. Munk: 


ren Ende. Bleibt die eine Thonspitze am vorderen Ende der 
Mittelrippe stehen, und verschiebt man die andere Thonspitze 
an der Mittelrippe nach hinten, so findet man immer eine auf- 
steigende Kraft: ihre Grösse wächst zuerst an und erreicht, 
wenn die wandernde Thonspitze am vorderen Ende des hin- 
tersten Drittels angelangt ist, ein Maximum, nimmt dann aber 
wieder ab, so dass sie nur noch ohngefähr die Hälfte des 
Maximums beträgt, wenn die wandernde Thonspitze an das 
hintere Ende der Mittelrippe gekommen ist. Hält man um- 
gekehrt die eine Elektrode am hinteren Ende der Mittelrippe 
fest und verschiebt die andere Elektrode an der Mittelrippe 
nach vorn, so zeigt sich zuerst, eine absteigende Kraft, welche, 
bis das vordere Ende des hintersten Drittels erreicht ist, 
wächst und darauf, bis das vordere Ende des zweiten Drittels 
erreicht ist, auf Null abnimmt; schliesslich aber tritt eine auf- 
steigende Kraft auf, die allmählich ohngefähr dieselbe Grösse 
gewinnt, welche vorher das Maximum der absteigenden Kraft 
besass. (1.—6. Fig. 14; 7. und 8. Fig. 15.) 

Linien, welche man sich in der Fläche eines Blattflügels 
senkrecht auf die Mittelrippe gezogen denkt, wollen wir 
Querlinien des Blattes nennen. Jeder Punkt einer solchen 
Querlinie erweist sich negativ gegen den zugehörigen Punkt 
der Mittelrippe; und regelmässig nimmt die Negativität der 
Blatt-Punkte mit dem Wachsen des Abstandes von der Mittel- 
rippe zuerst bis zu einem Maximum zu und dann bis zum 
äusseren Blattrande hin wieder ab. Der negativste Punkt der 
Querlinie fällt nie mit der Mitte der Linie zusammen, sondern 
befindet sich immer dem äusseren Blattrande näher als der 
Mittelrippe. An der mittelsten Querlinie ist der negativste 
Punkt nur wenig von der Mitte der Linie entfernt; aber diese 
Entfernung und die Annäherung an den äusseren Blattrand 
werden verhältnissmässig immer grösser, je mehr die Quer- 
linie dem vorderen oder dem hinteren Blattrande nahekommt. 
Punkte derselben Querlinie, welche zu beiden Seiten des ne- 
gativsten Punktes gelegen sind, erweisen sich bei gleichem 
Abstande von diesem Punkte ohngefähr gleichartig; bei un- 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 39 


gleichem Abstande ist der vom negativsten Punkte entferntere 
Punkt positiv gegen den näheren Punkt. (9.—23. Fig. 14.) 

Durch die Verbindung der negativsten Punkte aller Quer- 
linien erhält man die (punktirte) Curve aa Fig. 15, welche 
der Mittelrippe nahezu parallel verläuft und die Haupt- 
Längslinie des Blattflügels heissen mag. Alle dieser Linie 
angehörigen Punkte ergeben sich als gleichartig: immer nur 
sehr schwache Ströme von unbestimmter Richtung kommen 
hier zur Beobachtung, gleichviel ob die beiden geprüften 
Punkte in der vorderen oder in der hinteren oder in beiden 
Hälften des Blattflügels sich befinden. Dasselbe Verhalten 
stellt sich dann auch für Punkte heraus, welche anderen der 
Mittelrippe parallelen Längslinien nach innen von der 
Haupt-Längslinie angehören (24.—27. Fig, 15). Nur in den 
der Mittelrippe nahen Längslinien scheint zwischen Punkten 
der hinteren Blattflügel-Hälfte eine schwache absteigende, 
zwischen Punkten der vorderen Blattflügel-Hälfte eine 
schwache aufsteigende Kraft zu bestehen; doch hat es mir 
hier nicht gelingen wollen, eine einfache Gesetzmässigkeit in 
den Spannungen regelmässig wiederzufinden. 

Von den Mitten zweier Querlinien, welche beide in der 
vorderen oder beide in der hinteren Blattflügel-Hälfte sich be- 
finden, ist regelmässig die dem vorderen resp. hinteren Blatt- 
rande nähere Mitte positiv gegen die entferntere Mitte; und 
es wächst die im ersteren Falle absteigende, im letzteren Falle 
aufsteigende Kraft mit der Spannweite des Bogens. Dasselbe 
ergiebt sich, wenn an die Stelle der Mitten der Querlinien 
solche Punkte der Querlinien treten, welche etwa um ein 
Drittel der Länge dieser Linien von der Mittelrippe entfernt 
sind. Beträgt aber der Abstand der geprüften Punkte der 
Querlinien von der Mittelrippe etwa drei Viertel oder mehr 
der Länge dieser Linien, oder sind die geprüften Punkte am 
äusseren Rande des Blattflügels gelegen, so ist umgekehrt 
immer der vom vorderen resp. hinteren Blattrande entferntere 
Punkt positiv gegen den näheren Punkt; die hier somit in 
der vorderen Blattflügel-Hälfte aufsteigende, in der hinteren 
absteigende Kraft wächst übrigens gleichfalls mit der Spann- 


40 H. Munk: 


weite des Bogens. Gehören endlich solche Punkte, wie wir 
sie eben betrachteten, Querlinien an, welche die eine in der 
vorderen, die andere in der hinteren Blattflügel-Hälfte sich be- 
finden, so stellt sich, bei gleichem Abstande der Querlinien 
von der mittelsten Querlinie des Blattflügels, bald dieser bald. 
jener Punkt als positiv resp. negativ dar, und der Spannungs- 
unterschied der beiden Punkte ist nur gering; dagegen ist bei 
wesentlich ungleichem Abstande der beiden Querlinien von 
der mittelsten Querlinie regelmässig der der letzteren Linie 
nähere Punkt in den inneren drei Vierteln des Blattflügels 
ansehnlich negativ, im äusseren Viertel des Blattflügels an- 
sehnlich positiv gegen den entfernteren Punkt. (32.—37. Fig. 
14; 28.—31. und 38.—44, Fig. 15.) 

Man übersieht, die Haupt-Längslinie ist der Inbegriff der 
 negativsten Punkte jedes Blattflügels, welchen als positivster 
Punkt des Blattes das vordere Ende des hintersten Drittels 
der Mittelrippe gegenübersteht. Und wie am ganzen Blatte 
zu beiden Seiten der Mittelrippe, so ist wiederum an jedem 
Blattflügel zu beiden Seiten der mittelsten Querlinie Alles 
symmetrisch. Die volle Symmetrie des Blattes in elektromo- 
torischer Beziehung erscheint nur dadurch gestört, dass der 
positivste Punkt an der Mittelrippe über die Mitte derselben 
hinaus nach hinten gerückt ist. 

Ich habe noch eine ganze Reihe anderer Prüfungen vor- _ 
genommen, indem ich immer einen einzelnen Punkt der Mit- 
telrippe oder des Blattflügels nach einander mit den verschie- 
densten anderen Blatt-Punkten verband. Die Ergebnisse dieser 
Prüfungen boten aber nichts Bemerkenswerthes weiter dar, 
sondern bestätigten nur die angeführten Ermittelungen, nach 
welchen sie vorherzusagen gewesen wären. Ich darf mich 
deshalb auch damit begnügen, einige solche Prüfungen in den 
Figg. 14 und 15 vorzuführen (45.—48.). 

Wir kennen also jetzt die Vertheilung der Spannungen 
an der unteren Blattfläche; denn ausschliesslich dieser 
Fläche waren, wie ich oben hervorhob, bisher die Elektroden 
angelegt. Ob die untersuchten Blätter offen waren oder ge- 
schlossen, darüber habe ich absichtlich noch Nichts gesagt, 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 41 


weil es sich als gleichgültig erwies. Aus leicht erklärlichen 
Gründen begann ich mit der Prüfung weit offener Blätter, an 
welchen die Blattflügel etwa einen rechten Winkel mit ein- 
ander bildeten. Indem ich jedoch bald, in Rücksicht auf die 
Ausnutzung des Materials, mit der Bestimmung der elektro- 
motorischen Oberfläche Reizversuche verband, musste ich 
öfters neben ganz geöffneten Blättern andere untersuchen, 
welche sich nach der Schliessung noch nicht völlig oder sogar 
erst zu einem kleinen Theile wieder geöffnet hatten; und 
auch an diesen Blättern fand ich die gleiche Vertheilung der 
Spannungen. Dieselbe Wahrnehmung machte ich weiter, als 
ich in den Kreis der Untersuchung auch kleine Blätter zog, 
welche überhaupt erst sich zu öffnen begonnen hatten, so dass 
der Winkel zwischen den Blattflügeln nur 20—30° betrug. 
Endlich prüfte ich noch ganz ausgewachsene, weit geöffnete 
Blätter ein erstes Mal vor der Reizung und ein zweites Mal, 
nachdem sie in Folge der Reizung sich geschlossen hatten: 
auch hier stellte sich die Vertheilung der Spannungen beide 
Male als die gleiche heraus. Es ist also die Verthei- 
lung der Spannungen an der unteren Blattfläche 
unabhängig von dem Winkel, welchen die Blatt- 
flügel mit einander bilden. 

Der Prüfung der oberen Blattfläche setzt deren Em- 
pfindlichkeit!) Schwierigkeiten in den Weg, jedoch nicht un- 
überwindliche. Natürlich benutzt man hier mit Vorliebe 
solche Blätter, welche recht weit offen sind. Auf die Muste- 
rung der Oberseite der Mittelrippe und der anstossenden Par- 
tien der Blattflügel muss man freilich auch dann verzichten, 
ebenso auf die Untersuchung der Stellen, an welchen sich die 
sensiblen Haare befinden; im Uebrigen aber gelingen die 
Prüfungen ganz gut, wenn man nur vorsichtig jede Bewegung!) 
der Haare vermeidet und die lang ausgezogenen, passend ge- 
krümmten Thonspitzen recht behutsam, ja nicht rasch drückend 
aufsetzt. Man findet auf diese Weise, man mag zwei Punkte 
derselben Querlinie oder auch zwei Punkte verschiedener 


1) S. unten $. 5. 


42 H. Munk: 


Querlinien in demselben Blattflügel oder endlich zwei gleich 
gelegene Punkte der beiden Blattflügel verknüpfen, an der 
oberen Blattfläche Alles gerade so wieder, wie wir es an der 
unteren Blattfläche kennen gelernt haben: dieselben Richtun- 
gen der Kraft, dieselben relativen Grössen und Umkehrun- 
gen derselben, dieselbe Symmetrie, u. s. w. Und indem man 
bei dieser Sachlage gewiss berechtigt ist, von dem zugäng- 
lichen grösseren Theile der oberen Blattfläche auf den unzu- 
gänglichen kleineren Theil derselben zu schliessen, ergiebt 
sich also, dass an der oberen Blattfläche die gleiche 
Vertheilung der Spannungen herrscht, wie an der 
unteren Blattfläche. 

Aber noch mehr. Setzt man die beiden Elektroden an 
derselben Stelle des Blattflügels oben und unten auf, berührt 
man also zwei gleich gelegene Punkte der beiden Blattflächen, 
so beobachtet man in den bestgelungenen Versuchen zwischen 
den beiden Punkten nur einen sehr schwachen Strom und 
eine nicht der Rede werthe Kraft, deren Richtung zudem das 
eine Mal den oberen, das andere Mal den unteren Punkt ne- 
gativ gegen den zweiten Punkt erscheinen lässt. Sonst tritt 
in der Regel eine etwas grössere, aber immerhin nur unbe- 
deutende Kraft auf, gleichfalls von wechselnder Richtung; 
und hier kann man in vielen Fällen sich durch den Augen- 
schein davon überzeugen, dass die beiden Thonspitzen ein 
wenig gegen einander verschoben sind. Der Art der Verschie- 
bung scheint dabei die bestehende Richtung der Kraft, gemäss 
unseren früheren Ermittelungen, zu entsprechen, wenn man 
sich die beiden Thonspitzen an derselben Blattfläche befindlich 
denkt; und manchmal gelingt es sogar, durch eine geringe 
Verrückung der einen Elektrode, so dass die entgegengesetzte 
Verschiebung eintritt, die vorhandene Richtung der Kraft in 
die umgekehrte umschlagen zu machen. Welche Stelle des 
Blattflügels man für den Versuch wählt, ist durchaus gleich- 
gültig: überall findet sich der gleich gute Erfolg bei richtiger 
Einstellung der Elektroden. Man kann aber auch dem Ver- 
suche mit Hülfe einer dritten Elektrode noch eine eclatantere 
und übersichtlichere Gestalt geben. Zwei Elektroden werden 


‘Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 43 


oben und unten, so wie bisher, einander gerade gegenüber 
angelegt, irgendwo an dem Blattflügel, wir wählen die Punkte 
O und U in der Gegend der Haupt-Längslinie; mit der dritten 
Elektrode wird die untere Seite der Mittelrippe, am besten ein 
Punkt M hinter der Mitte derselben, berührt: alsdann werden 
nach einander immer je zwei der drei Elektroden verbunden — 
in beliebiger Reihenfolge. Es zeigt sich zwischen O und M 
stets eine beträchtliche Kraft von O nach M; zwischen U und 
M stets eine ebenso beträchtliche Kraft von U nach M, uur 
wenig grösser oder kleiner als die erste Kraft; endlich zwi- 
schen O und U stets eine unbedeutende Kraft, die nur einen 
kleinen Bruchtheil der vorigen beiden Kräfte ausmacht, ge- 
richtet in den einen Versuchen von O nach U, in den anderen 
Versuchen von U nach OÖ, nicht selten in Richtung und Grösse 
sehr gut entsprechend dem Unterschiede der beiden ersteren 
Kräfte. Es unterliegt also keinem Zweifel, dass, wenn zwi- 
schen gleich gelegenen Punkten der beiden Blattflächen über- 
haupt ein Spannungsunterschied besteht, derselbe jedenfalls 
nur höchst gering ist; so dass wir festhalten dürfen, dass 
auch die absolute Grösse der Spannungen an der 
oberen Sund. ant,der unteren Blattfläche: die 
gleiche ist. 


$. 3. Von der Grösse der elektromotorischen Wirkungen 
des Dionaea-Blattes und von ihrer Abhängigkeit 
von verschiedenen Umständen. 

Alle die vorgeschilderten elektromotorischen Wirkungen 
des Dionaea -Blattes sind aber an eine wesentliche Bedingung 
geknüpft, an das Leben des Blattes. Schon die S. 36 angeführ- 
ten Worte von Hrn. Sanderson deuten an, dass der dort 
angezeigte Strom ausschliesslich dem lebenden Blatte zukommt: 
und dem jst nur beizustimmen. Bewahrt man abgeschnittene 
vollentwickelte Blätter in der feuchten Kammer bei einer Zim- 
mertemperatur von ca. 25° C. auf, so sieht man deren elektro- 
motorische Wirkungen mit der Zeit abnehmen, bis sie nach 
mehreren Stunden ganz verschwunden sind. Setzt man solche 
Blätter überdies der direeten Einwirkung der Sonne aus, so 


44 H. Munk: 


dass sie rascher verwelken, so lassen dieselben schon nach 
kürzerer Zeit keine Spur mehr von Strömen wahrnehmen. 
Blätter, welche 1—2 Minuten lang in kochendem Wasser oder 
10—15 Minuten lang in Wasserdämpfen von 70° C. verweilt 
haben, werden danach gänz stromlos gefunden. Auch ge- 
bräunte, am Topfe selbst abgestorbene Blätter erweisen sich 
durchaus unwirksam. Die elektromotorischen Wirkungen des 
Dionaea-Blattes sind also eine Lebenseigenschaft desselben 
und nehmen bei seinem allmählichen Absterben allmählich ab'). 
Die Reizbarkeit des Blattes überdauern sie einige Zeit; denn 
an den im feuchten Raume bei 25° C. aufbewahrten Blättern 
findet man die Reizbarkeit etwa nach 2 Stunden erloschen, so 
dass keinerlei Zerrung der sensiblen Haare, keinerlei Angriff 
des Blattes überhaupt die Schliessung des Blattes mehr her- 
beiführt: während Reste der ursprünglichen Ströme dann 
noch durch Stunden fortbestehen. 

Wie nach den Erscheinungen am abgestorbenen Blatte 
zu erwarten, sind die elektromotorischen Wirkungen weiter 
abhängig von dem Ernährungszustande des Blattes, seiner 
Lebensfülle oder Lebensfähigkeit. Ich habe im Herbste 1874 
dieselben prächtig ausgewachsenen Blätter an den Töpfen 
wiederholt der Prüfung unterzogen. Dabei ergaben sich zu- 
erst im October sehr ansehnliche Wirkungen, und ich fand 
der Zeit die grössten Kräfte, welche mir überhaupt vorgekom- 
men sind. Als aber Ende October und Anfangs November 
die Töpfe sichtlich zurückgegangen und die Blätter schlaffer 


1) Ich habe öfters an Blättern, die abgeschnitten oder am Topfe 
dem Tode nahe waren, die Kräfte umgekehrt gerichtet gefunden, in- 
dem zwischen den beiden Enden der Mittelrippe eine absteigende 
Kraft bestand, Punkte der Haupt-Längslinie positiv waren gegen die 
zugehörigen Mittelrippen-Punkte u.s.w. Q@b solche Umkehr der 
Kräfte vor dem Tode regelmässig eintritt, muss ich dahingestellt 
sein lassen, da ich die Frage nicht weiter verfolgt habe. Die in 
Rede stehenden Versuche über das Absterben ausgenommen, sind 
alle Erfahrungen, welche ich mittheile, an frischen und gesunden 
Blättern, weiche die im $.2 angegebene Vertheilung der Spannungen 
an der Oberfläche zeigten, gemacht. 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 45 


geworden waren, hatten auch die Kräfte auffallend abge- 
nommen. 

Hierher gehören wohl auch noch zwei andere Erfahrun- 
gen, welche ich gemacht habe. Die Blätter unserer Pflanze 
entwickeln sich eines nach dem anderen und sind, bis die 
Pflanze gegen den Winter hin zurückgeht, ausgewachsen desto 
grösser, je später sie sich entwickelt haben. Ich habe nun 
an den kleineren Blättern, welche bereits im Juli ausgewach- 
sen waren, ceteris paribus die Kraft durchweg geringer gefun- 
den, als an den erst im October vollentwickelten Blättern, 
Andererseits haben mir zu jeder Zeit an einem und demselben 
Topfe die grösseren Blätter eine grössere Kraft geliefert als 
die kleineren Blätter, auch dann, wenn die ersteren bereits 
ausgewachsen und die letzteren noch im Wachsen begriffen 
waren. Ich meine, dass auch für diese Fälle die grössere 
Kraft der grösseren Lebensfülle entsprechen dürfte, da sicht- 
lich die Blätter, je grösser, desto strotzender und üppiger ent- 
wickelt sind. Es bleibt jedoch zu bedenken, dass die elektro- 
motorischen Wirkungen, ausser mit der Lebensfähigkeit, auch 
mit der Grösse des Blattes wachsen könnten. 

Die absolute Grösse der Kräfte, welche am Dionaea- 
Blatte zur Beobachtung kommen, ist eine recht beträchtliche. 
Den Spannungsunterschied zwischen einem Punkte in der Ge- 
gend der Haupt-Längslinie und einem Punkte in der hinteren 
Hälfte der Mittelrippe = 0:04—0:05 Daniell zu finden, ist 
nichts Ungewöhnliches, und ich habe ihn mehrmals sogar 
0:07 D. erreichen sehen. Zwischen anderen Punkten des 
Blattes ergaben sich kleinere Werthe, entsprechend der oben 
dargelegten Vertheilung der Spannungen. Bei der Ableitung 


von beiden Enden der Mittelrippe betrug die Kraft im Mittel 
0:015 D. 


$. 4 Von dem Sitze und der Anordnung der elektro- 
motorischen Kräfte im Inneren des Dionaea-Blattes. 


Woher stammen nun die elektromotorischen Wirkungen 
unseres Blattes? 


Aeussere chemische Ungleichartigkeiten sind ihre Quelle 


46 H. Munk: 


sicherlich nicht. Allenfalls nach Hrn. Sanderson’s Mit- 
theilungen, die blos den Strom zwischen den Blattenden kann- 
ten, hätte eine solche Vermuthung bestehen können; denn 
auch die Veränderungen, welche dieser Strom bei der Reizung 
des Blattes, bei dem Abschneiden des Blattstieles u. s. w. 
zeigte, wären noch mit ungleichartigen Secreten und ungleich- 
zeitigen Secretionen, freilich willkürlich, zu erklären gewesen. 
Jetzt aber, nachdem wir die elektromotorische Oberfläche des 
Blattes kennen gelernt haben, kann von der Vermuthung 
nicht mehr die Rede sein. Schon die Spannungen einer ein- 
zelnen Blattfläche von äusseren Ungleichartigkeiten abzuleiten, 
könnte nur mittelst Häufung der abenteuerlichsten Hypothesen 
‚gelingen; und setzte man sich auch darüber hinweg, man 
scheiterte unbedingt bei der Vergleichung der oberen und der 
unteren Blattfläche. Nirgends eher war man berechtigt, 
äussere Ungleichartigkeiten im Spiele zu erwarten, als bei 
der Verknüpfung dieser beiden Flächen, die schon durch ihre 
Farbe und ihren Drüsen-Gehalt sich so auffällig unterscheiden; 
und doch hat sich nicht nur die Vertheilung der Spannungen, 
sondern auch deren absolute Grösse an beiden Flächen im 
Wesentlichen gleich herausgestellt. Mit aller nur wünschens- 
werthen Klarheit zeigt gerade dieses Ergebniss, dass, wenn 
äussere Ungleichartigkeiten am Blatte vorkommen, dieselben 
doch nicht weiter von Bedeutung sind und unsere Bestim- 
mungen der elektromotorischen Oberfläche nicht merklich be- 
einflusst haben. 

Die Ursache der elektromotorischen Wirkungen unseres 
Blattes müssen also elektromotorische Kräfte sein, welche im 
Inneren des Blattes ihren Sitz haben. Aber das Blatt ist ein 
recht zusammengesetztes Gebilde, und unter seinen verschie- 
denen anatomischen Bestandtheilen gilt es die wirksamen aus- 
findig zu machen und die Art ihrer Wirksamkeit kennen zu 
lernen. Was für den Zweck am nächsten liegt, das Blatt zu 
zerstückeln, das verspricht keinen Erfolg; denn einerseits 
würde die Isolirung der Theile zu unvollkommen ausfallen 
und würden die isolirten Theile die nöthige Prüfung kaum 
zulassen, andererseits würde auch der gewaltige Eingriff an 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 47 


sich Fehler setzen, welche schwerlich zu beherrschen wären. 
Es bleibt somit nur ein zweiter, viel umständlicherer Weg 
übrig, und diesen Weg wollen wir einschlagen. Bei einem 
elektromotorisch wirksamen Organismus ist die Voraussetzung 
berechtigt, dass, soweit die gleiche Organisation, soweit die 
gleiche Anordnung der elektromotorischen Kräfte besteht. 
Danach bietet sich der Möglichkeiten, wie die Kräfte in un- 
serem Blatte vertheilt sein können, eine zwar grosse, doch 
begrenzte Anzahl dar, und die verschiedenen Vertheilungsweisen 
lassen sich durchgehen mit der Prüfung, ob sie die uns be- 
kannte elektromotorische Oberfläche des Blattes liefern wür- 
den oder nicht. Sind die Dinge nicht zu verwickelt, ist die 
Sachlage nicht gar zu ungünstig, so kann es auf diese Weise 
gelingen, dem erstrebten Ziele nahe zu kommen. 


(1.) Vorermittelungen. 


Wir beginnen vortheilhaft mit einigen Voruntersuchungen, 

Drei gleich grosse, rechteckige, mit den Flächen zusammen- 
gelöthete Platten, die beiden äusseren von Zink, die mittlere 
von Kupfer, seien in einem Troge überall gleichmässig von 
einer gleichartigen Flüssigkeit umgeben. Die Polarisation 
ausser Acht gelassen, stimmt diese schematische Vorrichtung 
hinsichts der elektromotorischen Oberfläche mehrfach mit un- 
serem Blatte überein. Vergl. Fig. 16, welche die Vorrichtung 
bei a von der Fläche, bei 5 vom äusseren Rande gesehen dar- 
stellt‘). Wir finden wieder die Symmetrie der oberen und der un- 
teren Fläche, der vorderen und der hinteren Hälfte”), der rech- 
ten und der linken Hälfte; ferner in der Längsmittellinie (der 
Mittelrippe entsprechend) und an den seitlichen Rändern die Ne- 
gativität der vorderen und der hinteren Punkte gegen die mitt- 
leren Punkte; endlich in den Querlinien die Positivität der Punkte 
in oder an der Längsmittellinie gegen die weiter nach aussen gele- 
genen Punkte. Aber daneben stossen wir doch auch sogleich auf 


1) Bei dieser und allen folgenden Ansichten vom Rande ist das 
Zink durch Schraffirung ausgezeichnet. 

2) Von der Unvollkommenheit der Symmetrie an der Mittelrippe 
des Blattes sehen wir vorläufig ab. 


48 H. Munk: 


wesentliche Verschiedenheiten. Denn an der seitlichen Hälfte 
der Vorrichtung begegnen wir nicht auf dem Wege von innen 
nach: aussen der Umkehr der Kraft, die wir am Blatte beob- 
achteten, noch auch zeigt sich dort die Gleichartigkeit der 
einer mittleren Längslinie angehörigen Punkte oder die vorn 
absteigende, hinten aufsteigende Kraft zwischen den Mitten 
der Querlinien, wie wir sie am Blatte constatirten. 

Ein Theil der Verschiedenheiten fällt fort, wenn zwei 
gleiche rechteckige Platten-Combinationen, deren äussere 
Platten von Kupfer, die mittlere von Zink, neben einander mit 
einer Lücke zwischen sich, sonst wie vorhin, in den Trog 
versenkt sind. Fig. 17 zeigt die neue Vorrichtung, bei @ 
wiederum von der Fläche, bei 5 vom äusseren Rande gesehen. 
In der That, neben derselben Symmetrie wie zuvor, haben wir 
jetzt sowohl in den Querlinien selbst wie zwischen den Mitten 
dieser Linien dieselben Richtungen der Kraft, wie am Blatte. 
Aber dafür hat sich auch eine neue Abweichung eingefunden: 
in der Längsmittellinie und an den seitlichen Rändern sind die 
Endpunkte jetzt positiv gegen die mittleren Punkte, statt dass 
sie negativ sein sollten, wie bei der ersten Vorrichtung und 
wie am Blatte. 

Bringen wir die beiden Vorrichtungen in ihrer Form dem 
Blatte näher, indem wir den Blechen wie den Trögen die Ge- 
stalt ertheilen, welche Fig. 16 c und Fig. 17 c vorführen, so 
bleibt Alles ebenso. Nur tritt jetzt, indem die Verbindungs- 
linie der Mitten der Querlinien sich abgehoben hat von den 
mittleren Länglinien der seitlichen Hälfte, besonders deutlich 
die Verschiedenheit hervor, welche das Verhalten der letzteren 
Linien an beiden Vorrichtungen dem Blatte gegenüber dar- 
bietet. 

Auch mannigfache weitere Modificationen der Vorrichtun- 
gen Fig. 16 ce und Fig. 17c ändern Nichts an den Ergebnissen. 
Die Bleche dürfen schrumpfen, so dass die von der Flüssig- 
keit erfüllten Räume an ihren Rändern gleichmässig wachsen. 
Statt jeder einzelnen Platten-Combination lassen sich mehrere 
gleiche Platten-Combinationen, mit Zwischenräumen, in der 
Höhe des Troges über einander symmetrisch anbringen. Man 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 49 


kann die grossen Bleche durch eine Anzahl sehr kleiner — 
gegen die Berührungsflächen des zur Prüfung angelegten 
unwirksamen Bogens verschwindender —, sonst den bisherigen 
gleicher Bleche von gleicher Grösse ersetzen, die man regel- 
mässig, mit gleichen kleinen Zwischenräumen, in derselben 
Ebene neben einander anordnet; wo dann natürlich für die 
Vorrichtung Fig. 17 ce die Lücke zwischen den beiderseitigen 
Gruppen von Blechen die übrigen Lücken an Grösse über- 
treffen muss. Man kann ferner in den Vorrichtungen Fig. 16 c 
und Fig. 17 ce an die Stelle der dortigen Platten-Combinatio- 
nen je zwei Plattenpaare von Kupfer und Zink treten lassen, 
bei der ersten Vorrichtung mit ihren Kupferseiten, bei der 
zweiten mit ihren Zinkseiten einander zugekehrt, in beliebigem 
Abstande über einander, nur symmetrisch angeordnet. Statt 
je zweier solcher Plattenpaare lassen sich auch gleichgliederige 
Säulen in der Höhe des Troges einander entgegenwirkend 
anbringen, und jede solche grosse Säule lässt sich wieder 
durch eine Anzahl sehr kleiner, regelmässig neben einander 
angeordneter Säulen ersetzen. Ja, man kann dann sogar die 
Säulenpaare, welche sich in der Breite der Vorrichtung neben 
einander befinden, von der Mitte nach den Seiten hin an 
Zahl der Glieder gleichmässig abnehmen lassen. Alles dies, 
wie gesagt, thut Nichts zur Sache: wenn auch die elektromo- 
torische Oberfläche der Vorrichtungen mancherlei Veränderun- 
gen erfährt, die Eigenschaften der Oberfläche, welche uns 
interessirten, bleiben immer dieselben, und die angegebenen 
Abweichungen vom Dionaea-Blatte bestehen fort. 

Wir beseitigen nunmehr die Zinkkupfergrenzen längs dem 
vorderen und dem hinteren Rande unserer Bleche. Zu dem 
Ende werden auf diese Ränder passende Streifen aufgelöthet 
von demselben Metalle, von welchem die äusseren Glieder 
unserer Platten-Combinationen gebildet sind. Aus den Vor- 
richtungen Fig. 16 (a, 5) und Fig. 17 (a, b) gehen so die Vor- 
richtungen Fig. 13 (a, db) und Fig. 19 (a, 5) hervor, von 
welchen wir unseren neuen Ausgang nehmen. An beiden 
Vorrichtungen kehrt die geforderte Symmetrie wieder der 


oberen und der unteren Fläche, der vorderen und der hinteren 
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 4 


50 H. Munk: 


Hälfte, der rechten und der linken Hälfte. Auch finden sich 
wieder in den Querlinien bei der Vorrichtung Fig. 19 a die- 
selben Richtungen der Kraft, wie am Blatte, während bei der 
Vorrichtung Fig. 18 « die Umkehr der Kraft auf dem Wege 
von innen nach aussen sich vermissen lässt. Neu hinzutritt 
dann aber, bei beiden Vorrichtungen übereinstimmend, die 
Gleichartigkeit aller derselben Längslinie angehörigen Punkte, 
gleichviel um welche Längslinie es sich handelt, so dass die 
Längsmittellinie und die seitlichen Ränder nicht ausgenom- 
men sind. Die neuen Vorrichtungen bieten danach sichtlich 
nicht minder wesentliche Abweichungen vom Blatte dar, als 
unsere früheren Vorrichtungen. 

Wiederum ohne dass an den Ergebnissen sich etwas än- 
dert, lassen die Vorrichtungen Fig. 13 a und Fig. 19 @ mehr- 
fache Modificationen zu. Wir heften uns für’s Erste aus- 
schliesslich an die Vorrichtung Fig. 19 «.. Wie diese Vor- 
richtung uns vor den Augen steht, können wir ihre beiden 
metallischen Theile als sehr platte gerade Zinkeylinder mit 
verkupfertem Mantel ansehen, die ihre Grundflächen einander 
zukehren. An die Stelle dieser Zinkeylinder dürfen dann 
ohne Weiteres ebenso platte gerade Kupfercylinder mit ver- 
zinkten Grundflächen treten. Weiter lassen sich statt jedes 
einzelnen derartigen Zink- oder Kupfereylinders mehrere 
gleiche Zink- resp. Kupfereylinder, mit Zwischenräumen, in 
der Höhe des Troges über einander symmetrisch anbringen. 
Man kann ferner jeden der bisherigen hohen und breiten Cy- 
linder durch eine Anzahl gleicher und zwar entweder sehr 
schmaler Cylinder von unveränderter Höhe oder sehr niedri- 
ger Cylinder von unveränderter Breite ersetzen, die wie die 
früheren Cylinder zusammengesetzt sind, und die man regel- 
mässig, mit gleichen kleinen Zwischenräumen, in derselben 
Ebene in der Breite resp. Länge des Troges neben einander 
so anordnet, dass ihre Grundflächen alle nach innen und nach 
aussen sehen. Endlich lässt sich der Ersatz der hohen und 
breiten Cylinder auch so bewerkstelligen, dass man viele gleiche 
und zwar zugleich sehr schmale und sehr niedrige Cylinder, 
die wie die grossen Oylinder beschaffen sind, aber nicht platt. 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 51 


zu sein brauchen, in derselben, eben angegebenen Weise nach 
der Länge und der Breite des Troges an einander reiht. Alle 
diese‘ verschiedenen Vorrichtungen finden wir gleichwerthig 
der Vorrichtung Fig. 19 a: in allen Fällen bietet die elektro- 
motorische Oberfläche der Vorrichtung in gleicher Weise die 
Eigenschaften dar, welche wir von der Vorrichtung Fig. 19 a 
oben anführten. 

Jetzt ertheilen wir unserer Vorrichtung Fig. 19 @ ange- 
nähert die Gestalt des Blattes, wie es Fig. 19 ce zeigt: jeder 
der beiden platten Zinkeylinder mit verkupfertem Mantel ist 
von der Mitte der äusseren Grundfläche aus nach vorn und 
nach hinten hin gleich schräg abgeschnitten, und die Flüssig- 
keit im Troge ist so eingeengt, dass sie auch ferner die Bleche 
überall gleichmässig umgiebt. Daneben ziehen wir sogleich 
noch eine einzelne der gleichwerthig erfundenen Vorrichtungen 
in Betracht, und zwar, mit Uebergehung aller Zwischenstufen, 
die. letzterwähnte Vorrichtung mit den. vielen niedrigen und 
schmalen Cylindern, die jetzt entsprechend die Gestalt gewinnt, 
welche Fig. 20 (für die Anordnung der metallischen Theile 
Fig. 20 4') vorführt. Der Untersuchung dieser beiden Vor- 
richtungen ist aber Einiges vorauszuschicken. 

Unvermerkt sind wir mit der Vorrichtung Fig. 19 « in 
ein weit ausgebautes Gebiet eingetreten, in die Lehre von 
dem Muskelstrome. Der kupferne, am Mantel verzinkte, 
überall mit einer gleich dieken Schicht eines feuchten Leiters 
überzogene Cylinder hat sich als erstes Schema des Muskels 
in elektromotorischer Beziehung dargeboten; und wir prüften, 
könnte man sagen, in dem platten Zinkeylinder mit verkupfer- 
tem Mantel, den gleichmässig eine gleichartige Flüssigkeit 
umgab, ein erstes Schema unseres Blattflügels. Wenn wir 
wollten, konnten wir dort in Rücksicht auf die elektromoto- 
rische Oberfläche, ohne übrigens das Dionaea-Blatt irgend 
weiter in Verbindung mit dem thierischen Muskel zu bringen, 


1) In den Figg. 20 A, B und GC, den Figg. 21 A, B und C 
und den Figg. 24 A, B und C ist überall das Zink dunkel, das 


Kupfer hell angegeben. 
25 


52 H. Munk: 


zum Vergleiche mit unserem Blatte heranziehen zwei mit den 
-Grundflächen (künstlichen Querschnitten) an einander gelegte 
Muskeln, deren Spannungen verkehrt, an den Grundflächen 
positiv und am Mantel negativ wären. Aber mit solcher ver- 
gleichenden Betrachtung an sich wäre wenig gethan gewesen. 


Wichtig und von wirklicher Bedeutung war, dass von daan 


die reichen Ermittelungen Hrn. E. du Bois-Reymond’s 
zur Theorie des Muskelstromes uns ausgezeichnete Anhalts- 
punkte boten, in dem Studium der Blattströme vorzuschreiten. 
An der Hand dieser Ermittelungen konnten wir unsere. Vor- 
richtung Fig. 19 «a modifieiren; und sie sind es auch, welche 
uns augenblicklich zu Hülfe kommen. 

Neben dem Strome zwischen Längs- und Querschnitt und 
neben den schwachen Strömen am Längsschnitte und am Quer- 
schnitte des senkrecht durchschnittenen Muskels hat Hr. du 
Bois-Reymond an dem schräg durchschnittenen Muskel 
noch die Neigungsströme aufgefunden'): Ströme, gerichtet 
im Bogen von der stumpfen zur spitzen Ecke, die sich zu den 
erstgenannten Strömen algebraisch summiren, und deren 
Stärke mit der Neigung des Querschnittes zuerst zunimmt 
und später wieder sinkt. Hr. du Bois-Reymond hat diese 
Neigungsströme aus seiner Molekularhypothese abzuleiten 
vermocht unter der wahrscheinlich gemachten Annahme, dass 
am schrägen Querschnitte die Längsreihen der peripolaren 
-Gruppen dipolarer Molekeln mit ihren Enden einander stufen- 
‚artig überragen. Alsdann bleibt nämlich nicht der Strömungs- 
vorgang jeder Molekel auf ihren Hof beschränkt; und die 
letzten dipolaren Molekeln aller jener Längsreihen für sich 
betrachtet, ebenso die vorletzten, drittletzten u. s. w. Molekeln 
‚derselben Längsreihen bilden dem schrägen Querschnitte par- 
allele Reihen dipolarer Molekeln in unvollkommener säulen- 
‚artiger Anordnung: Schrägreihen, deren Molekeln in der 1.,3. 
und allen ferneren ungeraden Reihen ihre positiven Pole mehr 
der stumpfen, ihre negativen Pole mehr der spitzen Ecke des 


1) Dies Archiv 1863. S. 521 f. — Monatsber. der Berliner 
Akad. 1866. S. 387 ft. 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 53 


Querschnittes zukehren, während in der 2., 4. und allen ande-. 
ren geraden Reihen umgekehrt die positiven Pole der Mole- 
keln mehr der spitzen, die negativen Pole mehr der stumpfen. 
Ecke zugewandt sind. Dje dem Querschnitte näheren ungera- 
den Schrägreihen überwiegen aber an Einfluss die entfernteren 
geraden Schrägreihen; ja, es käme sogar die erste Schräg- 
reihe allein in Betracht, wenn, was anzunehmen Nichts hin- 
dert, der Abstand zweier dipolaren Molekeln, die zwei in 
einer Längsreihe benachbarten peripolaren Gruppen angehören, 
zurückträte gegen den Abstand zweier eine Gruppe bildenden 
Molekeln. Daraus resultirt, dass die elektromotorisch wirk- 
samen Theile einen Strom durch sich selber senden in der 
Richtung von der spitzen zur stumpfen Ecke, in umgekehrter 
Richtung durch den umhüllenden feuchten Leiter; so dass für 
den Erfolg am angelegten Bogen ohne wesentlichen Fehler die 
stumpfe Ecke des schrägen Querschnittes als positive, die 
spitze Ecke als negative Einströmungsstelle sich ansehen 
lässt. Diese für den Fall peripolarer Gruppen dipolarer Mo- 
lekeln gemachte Ableitung der Nejgungsströme hat natürlich 
ebenso für den Fall peripolarer Molekeln Gültigkeit, da es 
ja im Wesentlichen nur auf die Lage der elektromotorischen 
Flächen ankommt. Hr. du Bois-Reymond hat auch die 
Neigungsströme des Muskelrhombus an den rhombischen 
Muskelmodellen wiedergefunden, die mit peripolaren Molekel- 
modellen oder mit peripolaren Gruppen dipolarer Molekel- 
modelle hergestellt waren. Ein einfacher schiefer Kupfercy- 
linder mit verzinktem Mantel, überall gleichmässig von gleich- 
artiger Flüssigkeit umgeben, liefert dagegen die Neigungs- 
ströme nicht, und er kann sie nicht liefern: zu ihrem Auf- 
treten ist es unbedingt erforderlich, dass die Negativität des 
Querschnittes durch die Einmischung des positiven Längs- 
schnittes gestört ist, wie es beim schrägen Muskel-Querschnitte 
nicht nur sich von vorne herein versteht, sondern auch direet 
dadurch bewiesen wird, dass der schräge Querschnitt immer 
weniger negativ ist als der senkrechte Querschnitt. 

Mit diesen Kenntnissen ausgerüstet, vermögen wir die 
beiden Vorrichtungen Fig. 19 c und Fig. 20 (A) zu beurtheilen. 


54 H. Munk: 


Bei der Vorrichtung Fig. 19 c haben wir am inneren und am 
äusseren Rande der seitlichen Hälfte die gleiche Positivität; 
bei der Vorrichtung Fig. 20 (A) ist die Positivität am äusseren 
Rande kleiner als am inneren Rande, und dazu kommen noch 
die Neigungsströme, für welche die Mitte des äusseren Ran- 
des als positive, die vordere und die hintere Ecke des äusse- 


ren Randes als negative Einströmungsstellen aufzufassen sind. 


Construiren wir also mittelst des Prineips der Superposition 
der Ströme die elektromotorischen Oberflächen der Vorrich- 
tungen Fig. 19 ce und Fig. 20 (A), so ergiebt sich Folgendes. 
Bei beiden Vorrichtungen findet sich, in Uebereinstim- 
mung mit dem Blatte: 1. die Symmetrie der oberen und der 
unteren Fläche, der vorderen und der hinteren Hälfte, der 
rechten und der linken Hälfte; 2. in den Querlinien die Um- 
kehr der Kraft, die in der Nähe der Längsmittellinie nach 
innen, nächst dem äusseren Rande nach aussen gerichtet ist; 
3. zwischen den Mitten zweier Querlinien oder zwischen sol- 
chen Punkten derselben Linien, die um '/, oder '/, der Länge 
der Linien von der Längsmittellinie entfernt sind, in der vor- 
deren Hälfte eine absteigende, in der hinteren Hälfte eine auf- 
steigende Kraft. Aber im Weiteren gehen beide Vorrichtun- 
gen aus einander. In der Längsmittellinie und in den anderen 
Längslinien der Vorrichtung Fig. 19 ce ist die Gleichartigkeit 
aller Punkte derselben Linie, welche die Vorrichtung Fig. 
19 a darbot, verloren gegangen, und es sind in jeder Längs- 
linie die der Mitte näheren Punkte negativ gegen die entfern- 
teren Punkte. In den Querlinien der Vorrichtung Fig. 19 c 
ist ferner der negativste Punkt überall ohngefähr in der Mitte 
der Linie gelegen, so dass die Verbindungslinie der negativsten 
Punkte aller Querlinien nahezu mit der Verbindungslinie der 
Mitten derselben Linien zusammenfällt und mit ihrer Krüm- 
mung ähnlich dem äusseren Rande der betreffenden seitlichen 
Hälfte der Vorrichtung verläuft. Nach dem vorhin Gesagten 
versteht es sich dann auch, dass eine Gleichartigkeit der ne- 
gativsten Punkte aller Querlinien nicht besteht, vielmehr 
immer der negativste Punkt einer dem vorderen resp. hinteren 
Rande näheren Querlinie positiv ist, gegen den negativsten 


ee: 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 55 


Punkt einer entfernteren Querlinie. Endlich tritt in derselben 
Vorrichtung. Fig. 19 ce sowohl an den äusseren Rändern der 
Vorrichtung, wie auch zwischen solchen Punkten zweier Quer- 
linien, die um °/, oder mehr der Länge der Linien von der 
Längsmittellinie entfernt sind, nicht die umgekehrte Kraft auf, 
wie zwischen den Mitten der Querlinien, sondern die gleich- 
gerichtete Kraft, in der vorderen Hälfte der Vorrichtung eine 
absteigende, in der hinteren Hälfte eine aufsteigende Kraft. 
Die Vorrichtung Fig. 19 ce weicht also in vielen Stücken ecla- 
tant vom Blatte ab. Ganz anders verhält sich die Vorrichtung 
Fig. 20 (4). Bei dieser sind in den mittleren Längslinien der 
seitlichen Hälfte der Vorrichtung alle Punkte derselben 
Linie nach wie vor gleichartig. Bei dieser sind ferner die 
negativsten Punkte der Querlinien desto weiter von der Mitte 
dieser Linien entfernt, desto näher an den äusseren Rand ge- 
rückt, je näher die Querlinien dem vorderen resp. hinteren 
Rande der Vorrichtung gelegen sind; und die Spannung der 
negativsten Punkte aller Querlinien ist dieselbe. Die Verbin- 
dungslinie der negativsten Punkte aller Querlinien ist von der 
Verbindungslinie der Mitten aller Querlinien losgelöst und ver- 
läuft ohngefähr parallel der Längsmittellinie. Bei dieser Vor- 
richtung endlich ist in der Längsmittellinie sowohl wie am 
äusseren Rande, wie auch zwischen solchen Punkten der 
Querlinien, die um °/, oder mehr der Länge dieser Linien von 
der Längsmittellinie entfernt sind, die umgekehrte Kraft vor- 
handen, wie zwischen den Mitten der Querlinien, eine aufstei- 
gende Kraft in der vorderen, eine absteigende Kraft in der 
hinteren Hälfte der Vorrichtung. So sehr also die Vorrich- 
tung Fig. 19 c von unserem Blatte abweicht, gerade so sehr 
stimmt die Vorrichtung Fig. 20 (A) mit dem Blatte überein. 
Vielleicht ist es nicht überflüssig zu bemerken, dass wir, 
unbekannt mit der Grösse des Unterschiedes in der Positivi- 
tät zwischen dem inneren und dem äusseren Rande der seit- 
lichen Hälfte der Vorrichtung und ebenso in Unwissenheit 
darüber, wie die Spannungen der Neigungsströme verhältniss- 
mässig sich gestalten, begreiflich nicht für jede Vorrichtung 
von der durch Fig. 20 (A) repräsentirten Art behaupten kön- 


56 H. Munk: 


nen, dass die Haupt-Längslinie des Blattflügels mit ihrer Lage 
und der gleichen Spannung aller ihrer Punkte an der Vor- 
richtung sich wiederfindet. Vielmehr lässt sich im Allgemei- 
nen nur aussagen, dass an der Vorrichtung Fig. 20 (4A) die 
Verbindungslinie der negativsten Punkte aller Querlinien zur 
Seite der Verbindungslinie der Mitten der Querlinien nach 
aussen gerückt sein und mehr parallel der Längsmittellinie- 
verlaufen, auch die absteigende Kraft in ihrer vorderen, die- 
aufsteigende Kraft in ihrer hinteren Hälfte, der Verbindungs-. 
linie der Mitten der Querlinien gegenüber, geringer sein muss. 
Aber zugleich lässt sich übersehen, dass im speciellen Falle, 
wenn gewisse, für uns augenblicklich untergeordnete Bedin-. 
gungen, welche die Neigung des äusseren Randes, die geringere. 
Positivität desselben u. s. w. betreffen, von der Vorrichtung, 
erfüllt sind, die Verbindungslinie der negativsten Punkte aller 
Querlinien an der Vorrichtung alle Eigenschaften der Haupt- 
Längslinie unseres Blattflügels darbieten wird. Und diesen. 
speciellen Fall bei unserer Vorrichtung Fig. 20 (A) verwirk- 
licht anzunehmen, dem steht für unsere Zwecke Nichts im 
Wege. : 

Hervorgehoben zu werden verdient dann noch ein weite- 
rer Punkt, in welchem unsere Vorrichtung Fig. 20 (A) sehr 
schön mit dem Blatte übereinstimmt. In allen Querlinien 
unseres Blattes ergab sich auch der äusserste Punkt der Quer- 
linie negativ gegen den zugehörigen Punkt der Mittelrippe: 
der Spannungsunterschied zwischen diesen beiden Punkten 
war in den dem vorderen resp. hinteren Rande nahen Quer- 
linien grösser als in den mittleren Querlinien, aber auch in 
der mittelsten Querlinie noch ansehnlich. Dieses Verhalten 
der äussersten Querlinien- Punkte treffen wir nun gerade 
ebenso bei unserer Vorrichtung Fig. 20 (A) wieder an, und 
zwar bedingt nicht durch die Neigungsströme allein, die es 
nur in den dem vorderen resp. hinteren Rande nahen Quer- 
linien herbeiführen können, sondern wesentlich auch durch die 
geringere Positivität des äusseren Randes. 

Nach alledem liegt, wenn wir von der Unvollkommen- 
heit der Symmetrie an der Mittelrippe absehen, mit der es 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 57 


eine eigene Bewandtniss haben muss, keine Erfahrung am 
Blatte vor, die nicht an unserer Vorrichtung Fig. 20 (A) sich 
wiederholt hätte. Diese Vorrichtung können wir also in 
elektromotorischer Beziehung ein zutreffendes Schema unseres 
Blattes nennen. Worunter wir aber natürlich nichts Anderes 
verstehen, als dass eine solche Vertheilung der Kräfte im 
Blatte, wie sie die Vorrichtung Fig. 20 (A) zeigt, die elektro- 
motorische Oberfläche des Blattes liefern würde; denn es ist 
ja nicht ausgeschlossen, dass auch noch andere Vertheilungen 
der Kräfte von gleichem Werthe sich finden lassen. 

Wir setzen deshalb auch unsere Prüfungen fort und haben 
in erster Linie noch diejenigen Moditicationen der Vorrichtung 
Fig. 19 a zu betrachten, welche wir als Zwischenstufen vor- 
ber übergingen. Sie erhalten jetzt gleichfalls angenähert die 
Gestalt des Blattes. Die Vorrichtung, bei welcher statt des 
einen hohen und breiten Metalleylinders mehrere solche Cylin- 
der in der Höhe des Troges über einander sich befinden, gleicht 
dann in ihrer elektromotorischen Oberfläche, soweit dieselbe 
Gegenstand unserer Untersuchung ist, ganz und gar der Vor- 
richtung Fig. 19 ce. Dagegen stimmen in derselben Hinsicht 
mit der Vorrichtung Fig. 20 (A) überein die beiden anderen 
Vorrichtungen, bei welchen der jederseitige hohe und breite 
Metalleylinder das eine Mal durch sehr schmale Cylinder von 
unveränderter Höhe, das andere Mal durch sehr niedrige Cy- 
linder von unveränderter Breite ersetzt ist, und die in ihrer 
jetzigen Gestalt wiederum Fig. 20 vorführt, mit Fig. 20 B 
resp. Fig. 20 C für die Anordnung der metallischen Theile. 
Allerdings hat Hr. du Bois-Reymond an rhombischen 
Modellen mit Rechtecken, deren lange Seiten aus Zink, deren 
kurze Seiten aus Kupfer bestanden, und die wie die Oylinder 
der Fig. 20 B angeordnet waren, die Neigungsströme nicht 
aufgefunden. Aber die Theorie verlangt, dass bei den Vor- 
richtungen Fig. 20 (B) und Fig. 20 (C) die geringere Positivi- 
tät des äusseren Randes und die Neigungsströme desselben 
im Wesentlichen ebenso bestehen, wie bei der Vorrichtung 
Fig. 20 (A); und es ist sehr wohl denkbar, wie schon Hr. 


58 H. Munk: 


du Bois-Reymond selber bemerkt hat'!), dass an den Mo- 
dellen nur besondere, dem Wesen der Frage eigentlich fremde 
Verwickelungen die Neigungsströme nicht haben zur Beob- 
achtung kommen lassen. Wir verfahren deshalb vorsichtig 
und der Sachlage angemessen, indem wir neben der Vorrich- 
tung Fig. 20 (A) auch die Vorrichtungen Fig. 20 (B) und Fig. 
20 (C) als zutreffende Schemen des Blattes festhalten. 

Sodann wenden wir uns zu der Vorrichtung Fig. 18 a zu- 
rück, welche durch die Verfolgung der Vorrichtung Fig. 19 a 
so lange vernachlässigt blieb. Wir lassen jetzt die Vorrich- 
tung Fig. 18 @ in ihren metallischen Theilen die analogen 
Veränderungen durchlaufen, wie vorher die Vorrichtung Fig. 
19 a, und stellen überall in der gewohnten Weise die Form 
des Blattes her. Doch nichts Wesentliches finden wir damit 
gewonnen. Denn nirgends tritt in den Querlinien auf dem 
Wege von innen nach aussen die geforderte Umkehr der 
Kraft auf, noch bleibt es in den mittleren Längslinien bei der 
Gleichartigkeit der derselben Linie angehörigen Punkte. Und 
wenn bei denjenigen Modiäicationen der Vorrichtung Fig. 18 a, 
bei welchen viele kleinere Metallceylinder in derselben Ebene 
neben einander gelagert sind, in Folge der Neigungsströme, 
die hier im Bogen von der vorderen und der hinteren Ecke des 
äusseren Randes zur Mitte desselben verlaufen, die Gleichar- 
tigkeit der in der Längsmittellinie wie der am äusseren Rande 
befindlichen Punkte verloren gegangen ist, so wird selbst 
diese Annäherung an das Blatt noch dadurch entwerthet, dass 
dann zwischen diesen Punkten immer dieselbe Richtung der 
Kraft besteht, wie zwischen den Mitten der Querlinien. Vgl. 
Fig. 21, für welche die Figg. 21 A, 21 B und 21 C die An- 
ordnung der metallischen Theile darstellen. 

Endlich beseitigen wir an den Vorrichtungen Fig. 16 (a, b) 
und Fig. 17 (a, 5) die Zinkkupfergrenzen, wie vorher (S. 49) 
längs dem vorderen und dem hinteren Rande, jetzt längs dem 
rechten und dem linken Rande der Bleche. Es entstehen die 


1) Dies Archiv 1863, S. 579—80; 600—1. 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 59 


Vorrichtungen Fig. 22 und Fig. 23 (bei @ von der Fläche, bei 
b vom vorderen Rande gesehen), deren metallische Theile sich 
wiederum auffassen lassen als gebildet von einem sehr platten 
geraden Zinkeylinder mit verkupferten Grundflächen resp. von 
zwei sehr platten geraden Kupfereylindern mit verzinkten 
Grundflächen, die aber gegenüber den Vorrichtungen Fig. 18 
(a, 6) und Fig. 19 (a, b) dadurch charakterisirt sind, dass die 
Grundflächen der Cylinder nach vorn und nach hinten sehen. Wir 
modifieiren dann die metallischen Theile der. Vorrichtungen 
Fig. 22 und Fig. 23 in derselben Weise, wie wir bei den Vor- 
richtungen Fig. 18 a und Fig. 19 a verfuhren; so dass wir eine 
analoge Reihe von Vorrichtungen, wie dort, erhalten, nur dass, 
während dort die Grundflächen der Metalleylinder immer nach 
rechts und nach links gerichtet waren, dieselben bei den neuen 
Vorrichtungen überall nach vorn und nach hinten gewandt 
sind. Schliesslich ertheilen wir wiederum allen Vorrichtungen 
angenähert die Gestalt des Blattes. Untersuchen wir nun die 
neuen Vorrichtungen auf ihre elektromotorischen Oberflächen, 
so ergiebt sich, ausser der Symmetrie der Flächen und Hälf- 
ten, Folgendes. Wo durch die Länge und Breite der Vor- 
richtung resp. ibrer seitlichen Hälfte nur ein einziger Metall- 
eylinder sich erstreckt, sind alle Punkte derselben Querlinie 
unter einander gleichartig; und zwischen den Punkten zweier 
Querlinien, die beide entweder der vorderen oder der hinteren 
Hälfte der Vorrichtung angehören, besteht immer dieselbe 
Richtung der Kraft, gleichviel ob die Punkte in einer mittle- 
ren Längslinie der seitlichen Hälfte oder in der Längsmittel- 
linie, gleichviel ob sie in der Verbindungslinie der Mitten der 
Querlinien oder am äusseren Rande gelegen sind. Bei den 
anderen Vorrichtungen, deren metallische Theile von den klei- 
neren Cylindern gebildet sind, gestalten sich die Dinge aller- 
dings etwas anders durch das Hinzutreten der Spannungen, 
welche die geringere Positivität resp. Negativität des äusseren 
Randes, der oberen wie der unteren Fläche gegenüber, und 
die Neigungsströme desselben Randes setzen: die derselben 
Querlinie angehörigen Punkte sind hier nämlich unter einander 
ungleichartig. Aber eine Umkehr der Kraft in den Querlinien 


60 H. Munk: 


auf dem Wege von innen nach aussen findet auch hier nicht 
statt; höchstens in der mittelsten Querlinie und den dieser 
ganz nahen Querlinien könnte es unter Umständen zu einer 
solchen Umkehr kommen. Und weiter zeigt sich die Kraft 
zwischen den vorhin bezeichneten Punkten verschiedener Quer- 
linien nicht nur nirgends in ihrer Richtung geändert, sondern 
sogar .in ihrer alten Richtung noch überall verstärkt. Vgl. 
Fig. 24, für welche wiederum die Figg. 24 A, B und © die 
Anordnung der metallischen Theile vorführen. Die elektro- 
motorische Oberfläche weicht also bei allen diesen Vorrich- 
tungen ganz auffällig von der des Blattes ab. 

Damit sind unsere Voruntersuchungen zum Abschlusse ge- 
langt. Wir haben ihnen zu Grunde gelegt, was die constatirte 
elektrische Symmetrie der oberen und der unteren Fläche, 
der rechten und der linken Hälfte, der vorderen und der hin- 
teren Hälfte des Blattes verlangt, dass der mit elektromoto- 
rischen Kräften ausgestattete anatomische Bestandtheil des 
Blattes eine symmetrische Lage besitzt zu den beiden Blatt- 
flächen, zu der Mittelrippen-Axe und zu einer senkrecht auf 
der Mitte der Mittelrippen-Axe stehenden, quer durch das 
Blatt gehenden Linie. Dazu haben wir noch stillschweigend 
die beiden Annahmen gemacht: 1. der betreffende Bestandtheil 
gebe in seiner Begrenzung ohngefähr die Form des Blattes 
oder der Blattflügel wieder; 2. derselbe bilde im Blatte resp. 
Blattflügel ein zusammenhängendes Ganzes oder halte dort 
mit seinen Theilen eine constante Lage in Bezug auf die 
Blattflächen und auf die Mittelrippe ein, so dass seine Kräfte 
in dem gleichen Bezuge nirgends eine Veränderung der Rich- 
tung erfahren. Für diese Annahmen haben wir an schema- 
tischen Vorrichtungen von der angenäherten Gestalt des Blat- 
tes nach einander die drei möglichen Fälle betrachtet, dass 
die elektromotorischen Flächen 1. parallel den Blattflächen, 
2. senkrecht zu den Blattflächen und parallel der Mittelrippe, 
3. senkrecht zu den Blattflächen und senkrecht zu der Mittel- 
rippe gelegen sind. Im ersten und im dritten Falle hat keiner- 
lei Modification der Vorrichtung eine elektromotorische Ober- 
fläche ergeben ähnlich der des Blattes. Im zweiten Falle 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 61 


wurden, wenn in gleicher Höhe neben einander nur zwei elek- 
tromotorische Flächen ununterbrochen durch die Vorrichtung 
oder durch jede seitliche Hälfte derselben sich erstreckten, 
oder wenn in gleicher Höhe neben einander zahlreichere elek- 
tromotorische Flächen gleichmässig über die Vorrichtung ver- 
theilt waren, so dass an der Längsmittellinie der Vorrichtung 
keine Unterbrechung der Anordnung bestand, gleichfalls elek- 
tromotorische Oberflächen gefunden, welche wesentlich vom 
Blatte abwichen. Dagegen haben in demselben Falle solche 
Anordnungen der elektromotorischen Flächen, wie sie die 
Vorrichtungen Figg. 20 A, B und C darboten, die gleiche 
elektromotorische Oberfläche geliefert, wie sie das Blatt zeigt. 
Wenn unsere Annahmen zutreffen, müssen also die elektro- 
motorischen Kräfte im Inneren des Dionaea-Blattes ähnlich 
angeordnet sein, wie die Kräfte in einer der Vorrichtungen 
Fig. 20 A, Fig. 20 B, Fig. 20 C. 


(2.) Untersuchung der anatomischen Bestandtheile ausser dem 
Parenchyme. 


Unmittelbar führen diese Vorermittelungen zur gewünsch- 
ten Kenntniss freilich nicht, aber sie erleichtern wesentlich 
unsere Aufgabe, wenn wir nunmehr daran gehen, die ver- 
schiedenen Bestandtheile des Blattes der Reihe nach auf ihre 
elektromotorische Wirksamkeit zu untersuchen. 

Sogleich finden wir von der Concurrenz um den Sitz der 
elektromotorischen Kräfte auszuschliessen die Scheibendrüsen!'). 
Indem diese Gebilde blos an der oberen Blattfläche vorkom- 
‚men, erfüllen sie schon nicht die erste Anforderung, welche 
auf Grund der Symmetrie der elektromotorischen Oberfläche 
an die elektromotorische Substanz zu stellen ist, die symme- 
trische Lage zu beiden Blattflächen. Doch wollen wir dabei 
nicht stehen bleiben. Man könnte meinen, bei der Genauig- 


1) Für die anatomischen Daten, welche ich in der Folge benutze, 
stütze ich mich auf die Erfahrungen, welche ich durch die von Hrn, 


Kurtz angefertisten Präparate und durch eigene Untersuchungen 
an frischen Blättern gewonnen habe. 


62 H. Munk: 


keit, mit welcher wir die Gleichheit der absoluten Grösse der 
Spannungen an beiden Blattflächen nur haben constatiren 
können, sei mit unserer Beweisführung die elektromotorische 
Wirksamkeit der Scheibendrüsen deshalb noch nicht genügend 
ausgeschlossen, weil der Abstand der Blattflächen so gering 
sei. Hier kommen uns nun unsere Vorermittelungen zu Stat- 
ten. Den dort gemachten Annahmen würde die Gesammtheit 
der Scheibendrüsen gut entsprechen. Damit unsere elektro- 
motorische Oberfläche erhalten würde, müssten also die Schei- 
bendrüsen den Blattflächen parallele, senkrecht gegen die 
Mittelrippe gerichtete Kräfte. besitzen; und dagegen spricht 
entschieden der radiäre zellige Aufbau der Scheibendrüsen, in- 
dem die zur Mittelrippe senkrechte Richtung der Kräfte nicht 
vor der der Mittelrippe parallelen Richtung bevorzugt sein 
könnte, da doch den im Kreise angeordneten gleichen Zellen 
gleiche Kräfte zukommen müssten. Auch müsste die Anord- 
nung der Scheibendrüsen an der Mittelrippe unterbrochen 
sein, und das ist nicht der Fall. Dass die Drüsen über die 
obere Seite der Mittelrippe, wie über die Blattflügel, sich hin- 
ziehen, ist an jedem Blatte mit gerötheten Drüsen im Groben 
ohne Weiteres zu beobachten; aber ich habe auch bei sorg- 
samer Musterung die Anordnung der Drüsen an beiden Orten 
nicht wesentlich verschieden gefunden, besonders die Drüsen 
auf der Mittelrippe nicht in viel grösseren Abständen gelagert, 
was für die volle Unterbrechung der Anordnung hätte einen 
gewissen Ersatz bieten können. Endlich lassen sich, durch 
Hinüberstreichen mit der Thonspitze der Elektrode oder mit 
dem Skalpellstiele über die obere Blattfläche, die Drüsen 
streckenweise zu einem grossen Theile entfernen, und ich 
habe danach weder am geschlossenen noch an dem wieder ge- 
öffneten Blatte die elektromotorische Oberfläche merklich ver- 
ändert gefunden. Mit aller Bestimmtheit ist daher zu sagen, 
dass die Scheibendrüsen nicht die gesuchte elektromotorische 
Substanz sind. 

Ebensowenig können der Sitz der elektromotorischen 
Kräfte die Sternhaare sein, welche die untere Seite der Blatt- 
flügel wie der Mittelrippe und die Randstacheln bedecken: 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 63 


es sprechen dagegen dieselben Gründe, welche sich gegen die 
Scheibendrüsen geltend machen liessen, so dass wir deren 
Wiederholung und die Anführung weiterer Gründe uns er- 
sparen können. Auch wird es der Ausführung nicht bedürfen, 
dass, wenn man die Ungeheuerlichkeit wagen wollte, Schei- 
bendrüsen und Sternhaare in elektromotorischer Hinsicht zu- 
sammenzufassen, Nichts damit gewonnen sein würde. 

Einen dritten Bestandtheil des Blattes bilden die Fibro- 
vasalstränge. Ihre Lage im Blatte ist eine so symmetrische, 
wie es die Symmetrie der elektromotorischen Oberfläche ver- 
langt. Aber den bei unseren Vorermittelungen gemachten An- 
nahmen entsprechen sie nicht. Die Form des Blattes und der 
Blattflügel kann man von ihnen wiedergegeben finden, auch 
ziehen sie überall den Blattflächen parallel dahin, aber eine 
eonstante Lage zur Mittelrippe halten sie nicht ein; vielmehr 
verlaufen sie in der Mittelrippe selbst dieser parallel, stehen 
dann als stärkste Seitennerven und als Nerven der Rand- 
stacheln senkrecht auf der Mittelrippe und bilden in den 
schwächeren Seitennerven und in den bogenförmigen Anasto- 
mosen alle möglichen Winkel mit der Mittelrippe. Für diese 
Fibrovasalstränge passen demnach unsere Vorermittelungen 
nicht, und besondere Prüfungen sind für sie erforderlich. 

Scheidet man im Verhalten der Fibrovasalstränge das in- 
dividuell Verschiedene aus, das eben seiner Natur nach nicht 
von Bedeutung sein kann für die uns bekannte elektromoto- 
rische Oberfläche des Blattes, welche wir immer in gleicher 
Weise wiederfanden, so lässt sich die regelmässige Anordnung 
der Stränge so schematisiren, wie es die schraffirten Streifen 
der Fig. 25 (Taf. I) zeigen. Der lange Zug der Stränge in 
der Mittelrippe von vorn nach hinten bildet den Boden zweier 
in den Blattflügeln befindlichen Arcaden, eigenthümlicher Ar- 
caden der Art, dass die senkrechten Pfeiler von der Mitte aus 
nach vorn wie nach hinten zu an Länge abnehmen und nahe 
dem äusseren Rande des Blattflügels Spitzbögen tragen, 
welche durch ähnliche kleinere Zwischenbögen verbunden sind 
und von ihren Spitzen aus geradlinige Ausläufer in die Rand- 
stacheln senden. Entsprechend dieser Formation sei nun die 


64 H. Munk: 


Plattencombination der Vorrichtung Fig. 16 @ (drei mit den 
Flächen zusammengelöthete Platten, die beiden äusseren von 
Zink, die mittlere von Kupfer) durchbrochen resp. zugeschnit- 
ten und in einen ähnlich begrenzten flachen, mit einer gleich- 
artigen Flüssigkeit erfüllten Trog versenkt, so dass die Flüs- 
sigkeit oben, unten und an den Seiten das Metall ein wenig 
überragt. Wir erhalten die Vorrichtung Fig. 25; und deren 
elektromotorische Oberfläche zeigt in der Längsmittellinie und 
an den äusseren Rändern, ferner zwischen den Mitten der 
Querlinien und in dem grössten Theile der Querlinien selbst 
dieselben Richtungen der Kraft, welche wir am Blatte consta- 
tirten. Aber nicht findet sich wieder, dass der negativste 
Punkt jeder Querlinie wesentlich nach aussen verschoben ist 
und desto mehr, je näher dem vorderen oder dem hinteren 
Rande die Querlinie sich befindet; noch sind die negativsten 
Punkte aller Querlinien einander gleichartig. Vielmehr fällt 
die Verbindungslinie der negativsten Punkte aller Querlinien 
ohngefähr mit der Verbindungslinie der Mitten der Querlinien 
zusammen, und es besteht in ihrer vorderen Hälfte eine ab- 
steigende, in ihrer hinteren Hälfte eine aufsteigende Kraft. 
Die mittleren Längslinien der seitlichen Hälfte der Vorrich- 
tung lassen auch die Gleichartigkeit sämmtlicher derselben 
Längslinie angehörigen Punkte vermissen, und es trifft eine 
solche Gleichartigkeit höchstens zu für einzelne Längslinien, 
welche zwischen der Verbindungslinie der Mitten der Quer- 
linien und der Längsmittellinie der Vorrichtung gelegen sind, 
Dazu kommt noch, dass in den Querlinien der Vorrichtung 
Fig. 25 nahe dem äusseren Rande die Positivität jedes äusse- 
ren Punktes gegen jeden inneren Punkt nicht wiederkehrt, 
sondern sogar eine nochmalige Umkehr der Kraft sich ein- 
stellt. Die elektromotorische Oberfläche der Vorrichtung 
Fig. 25 ist also bei mancher Uebereinstimmung doch wesent- 
lich verschieden von der des Blattes. Und darin wird auch 
Nichts geändert, wenn wir statt der zusammenhängenden 
Bleche entsprechend gruppirte kleinere Bleche oder Säulen- 
paare nehmen, wenn wir überhaupt die metallischen Theile 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 65 


unserer Vorrichtung Fig. 25 ebenso modifieiren, wie es oben 
S. 48 mit der Vorrichtung Fig. 16 c geschah. 

Erwägt man nun, dass selbst diejenigen Aehnlichkeiten, 
welche wir hinsichts der elektromotorischen Oberfläche 
zwischen der Vorrichtung Fig. 25 und dem Blatte fanden, 
noch wesentlich getrübt werden müssen durch die individuell 
verschiedenen, aber regelmässig vorhandenen schwächeren 
Seitennerven, welche Anastomosen der starken pfeilerartigen 
Seitennerven vorstellen, so kann kein Zweifel sein, dass 
Kräfte in den Fibrovasalsträngen senkrecht zu deren Längs- 
axe und senkrecht zu den Blattflächen die elektromotorische 
Oberfläche nicht liefern, welche wir am Blatte constatirten. 
Dasselbe gilt dann aber auch sogleich für Kräfte, welche 
senkrecht zur Längsaxe der Stränge und parallel den Blatt- 
flächen gerichtet sind, da solche Kräfte nur zu der gleichen 
elektromotorischen Oberfläche führen könnten, wie die erste- 
ren Kräfte. Und nicht besser steht es endlich mit Kräften, 
welche parallel der Längsaxe der Stränge und damit parallel 
den Blattflächen gerichtet sind. Denn hier würden die Span- 
nungsunterschiede an den Blattflächen nur durch die elektri- 
schen Differenzen gesetzt sein zwischen der Oberfläche der 
Stränge einerseits und ihren freien Enden an den Rand- 
stacheln und an den Mittelrippen-Enden andererseits; und 
dass daraus nicht eine elektromotorische Oberfläche resultiren 
könnte, wie wir sie am Blatte vorfanden, liegt zu sehr auf 
der Hand, als dass wir dabei verweilen sollten. Mithin ist es 
ausgemacht, dass auch die Fibrovasalstränge nicht die elektro- 
motorische Substanz sind, welche wir suchen. 

Wir kommen zum vierten Bestandtheile des Blattes, der 
Epidermis. Diese überzieht als eine einfache Schicht eng ver- 
bundener langgestreckter, ohngefähr eylindrischer Zellen un- 
unterbrochen das ganze Blatt, nur dass an der oberen Seite 
die Basalzellen der Scheibendrüsen, an der unteren Seite wie 
auch am äusseren Rande und an den Randstacheln die Basal- 
zellen der Sternhaare und die Schliesszellen der Spaltöffnun- 
gen eingelagert sind. Die lange Axe der Epidermiszellen 
liegt immer den Blattflächen parallel; und sie steht überall ohn- 

Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 5 


6 H. Munk: 


gefähr senkrecht auf der Mittelrippen- Axe, ausser an der un- 
teren Seite der Mittelrippe und in den isolirten kurzen und 
schmalen Zwischenräumen der Randstacheln hart an den 
äusseren Rändern, wo sie der Mittelrippen-Axe etwa parallel 
verläuft. Von der letzteren Abweichung abgesehen, sind also 
die Bedingungen unserer Vorermittelungen erfüllt, wenn wir 
jetzt die Epidermis und damit die sie constituirenden Zellen 
als elektromotorisch wirksam betrachten wollen, und die Ab- 
weichung ist zu klein, als dass es ganz besonderer neuer Prü- 
fungen bedürfte; vielmehr geben hier unsere Vorermittelungen 
eine gute Grundlage ab, auf der wir weiterbauen können. 
Nehmen wir die Epidermiszellen zuerst mit Kräften aus- 
gestattet an senkrecht zu ihrer langen Axe und senkrecht zu 
den Blattflächen, so ist die stellenweise Veränderung der Lage 
der Zellen für die elektromotorische Oberfläche selbstverständ- 
lich ohne Bedeutung, wenn auf die einzelne Zelle zahlreiche 
elektromotorische Flächen entfallen. Für den anderen extremen 
Fall, dass jeder Zelle nur zwei elektromotorische Flächen 
entsprechen, greifen wir auf die Betrachtung derjenigen Modi- 
fication der Vorrichtung Fig. 16 c zurück, bei welcher die 
metallischen Theile von sehr kleinen gleichen Blechen gebil- 
det waren. Auf die Form der Bleche hatten wir oben kein 
Gewicht zu legen gebraucht: sie mögen Rechtecke gewesen 
sein, deren längere Seiten senkrecht zur Mittelrippe standen. 
Denken wir nun in der unteren Hälfte unserer Vorrichtung 
in und an der Längsmittellinie und ferner stellenweise 
an den äusseren Rändern der Vorrichtung die Rechtecke 
um 90° gedreht, so dass ihre längeren Seiten der Mittel- 
rippe parallel sind, so muss, in Folge der Ungleich- 
heit der Strömungsvorgänge an den Grenzen, an welchen die 
verschieden gelagerten Rechtecke zusammenstossen, allerdings. 
die Vertheilung der Spannungen an der Oberfläche sich ändern; 
aber die Veränderung wird nur die Querlinien, in erster Reihe 
die der unteren Fläche, betreffen, indem die Spannungen die- 
ser Linien mehr ähnlich werden den entsprechenden Spannun- 
gen des Falles, dass eine Lücke an der Längsmittellinie die 
Anordnung der metallischen Theile unterbricht. Die Ungleich- 
heit der Spannungen an der oberen und der unteren Fläche, 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 67 


welche dadurch herbeigeführt wird, wollen wir gar nicht wei- 
ter betonen. Jedenfalls bleibt es in allen Längslinien, in den 
Verbindungslinien der Mitten der Querlinien und an den 
äusseren Rändern bei der Gleichheit der Richtung der Kraft 
nach wie vor. Und damit ist es festgestellt, dass die in den 
Epidermiszellen eben angenommenen Kräfte unfähig sind, die 
elektromotorische Oberfläche des Blattes zu liefern. 

Nicht minder leicht lässt sich übersehen, dass auch die 
Annahme solcher Kräfte in den Epidermiszellen, welche senk- 
recht zu der langen Axe der Zellen und parallel der Mittel- 
rippe gerichtet sind, zur elektromotorischen Oberfläche des 
Blattes nicht führt. Wir greifen zur Vorrichtung Fig. 24 A 
zurück und denken uns zunächst die mittlere Lücke von eben- 
solehen Cylindern in gleicher Anordnung, ‘wie sie die seit- 
lichen Hälften zeigen, erfüllt — was hier für die elektromo- 
torische Oberfläche ohne Folgen ist —, dann in der unteren 
Hälfte der Vorrichtung entlang der Längsmittellinie und 
stellenweise an den äusseren Rändern der Vorrichtung die 
Cylinder um 90° gedreht, so dass ihre Grundflächen nach 
rechts und nach links gewandt sind, Nun wird die elektro- 
motorische Oberfläche der Vorrichtung wesentlich verändert 
sein, indem es zu einer Umkehr der Kraft in den Querlinien 
kommt. Aber zugleich wird nicht blos eine Asymmetrie der 
oberen und der unteren Fläche vorhanden sein, sondern es 
wird auch hier wiederum die gleiche Richtung der Kraft in 
allen Längslinien, in den Verbindungslinien der Mitten der 
Querlinien und an den äusseren Rändern fortbestehen. Legen 
wir nun auch nur auf das Letztere Gewicht, so sind offenbar 
der Abweichungen genug vom Blatte gegeben, um von den in 
Rede stehenden Kräften absehen zu lassen. 

Etwas umständlicher gestaltet sich die Erwägung der drit- 
ten Möglichkeit, dass die Kräfte der Epidermiszellen parallel 
der langen Axe der Zellen, also parallel den Blattflächen und 
senkrecht zu der Mittelrippe gerichtet sind. 

Nehmen wir zunächst die Epidermis an der Längsmittel- 
linie oben und unten von gleicher Beschaffenheit und zwar 
von der Beschaffenheit der unteren Seite an, so können wir 


r 


SE 


683 H. Munk: 


an die Vorrichtung Fig. 20 A anknüpfen, deren elektromoto- 
rische Oberfläche wir der des Blattes entsprechen sahen. 
Denken wir uns die vom unwirksamen Leiter erfüllte Lücke 
an der Längsmittellinie dieser Vorrichtung mit ebensolchen 
Cylindern in der gleichen Anordnung erfüllt, "wie sie sonst 
die Vorrichtung darbietet, doch so, dass die verzinkten Grund- 
flächen der neuen Cylinder alle nach vorn und nach hinten 
sehen, so treten damit für die Oberfläche zu den bisher be- 
trachteten Spannungen neue hinzu, welche unwesentlicher das 
Verhalten der Querlinien, wesentlich aber das der Längslinien 
beeinflussen. Die Gleichartigkeit der mittleren Längslinien 
der seitlichen Hälfte und die verhältnissmässig schwachen, 
vorn auf-, hinten absteigenden Kräfte in der Längsmittellinie 
scheinen in der vorderen Hälfte der Vorrichtung absteigenden, 
in der hinteren Hälfte aufsteigenden Kräften Platz machen zu 
müssen: wodurch die Vorrichtung wieder ihre Aehnlichkeit 
mit dem Blatte verliert. Indess steht Nichts dem im Wege, 
dass wir die Neigungsströme des äusseren Randes stärker als 
bisher annehmen, so dass sie auch die neu hinzugekommenen 
Kräfte überwinden. Nur das könnte einem berechtigten Be- 
denken unterliegen, ob, wenn die Gleichartigkeit der mittleren 
Längslinien der seitlichen Hälfte wieder besteht, zugleich auch 
in der Längsmittellinie wieder die alten Richtungen der Kräfte 
vorhanden sind; und auf die Erörterung dieser Frage mögen 
wir uns nicht einlassen, von anderen Gründen abgesehen, 
schon deshalb nicht, weil die Frage bald gegenstandslos er- 
scheinen wird. Wir setzen die alten Kräfte in der Längsmit- 
tellinie auch ferner vorhanden, was wir um so eher dürfen, 
als es den Interessen unserer weiteren Ausführung wider- 
spricht; und wir haben also nach unserer Ausfüllung der mitt- 
leren Lücke dieselbe elektromotorische Oberfläche an der Vor- 
richtung wie zuvor.‘ 

Jetzt passen wir auch die äusseren Ränder unserer Vor- 
richtung Fig. 20 A dem Verhalten der Epidermis an. Was 
bei den vorhergehenden Prüfungen entbehrlich war, ist jetzt 
wesentlich, dass wir uns den gegebenen Verhältnissen eng an- 
schliessen. An der oberen wie an der unteren Seite des Blatt- 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 69 


flügels setzen sich alle Querreihen der Epidermiszellen, sich 
verschmälernd, auf die Randstacheln fort und enden an deren 
Spitze oder in der Nähe derselben. Dabei gehen die auf den 
Stachel stossenden Querreihen geradlinig auf denselben über; 
die anderen Querreihen, welche in den Zwischenraum zweier 
Stacheln fallen würden, spalten sich sehr nahe dem äusseren 
Rande des Blattflügels in zwei gleiche Gruppen, welche diver- 
giren und die eine auf die hintere Seite des vorderen, die an- 
dere auf die vordere Seite des hinteren Stachels sich begeben. 
In den Scheiteln der hohen Bögen, mit welchen so die mit 
der langen Axe ohngefähr senkrecht zur Mittelrippe gestellten 
Epidermiszellen sich nach aussen abgrenzen, sind dann in ge- 
ringer Ausdehnung diejenigen Epidermiszellen gelagert, deren 
lange Axe etwa parallel der Mittelrippe verläuft, und die, von 
oben und von unten zusammen ausgebreitet betrachtet, ge- 
wissermassen kreisrunde Inseln zwischen den Randstacheln 
bilden‘), Diesem Verhalten der Epidermis entsprechend den- 
ken wir uns nun unsere Vorrichtung Fig. 20 A an ihren äusse- 
ren Rändern hergerichtet, die langen Querreihen der Oylinder 
alle in die spitzen Fortsätze der Vorrichtung verlängert und 
da, wo die Querreihen auseinanderweichen, einige neue kurze 
Reihen von ebensolchen Cylindern in gleicher Anordnung hin- 
zugefügt, so jedoch, dass diese Cylinder ihre verzinkten Grund- 
flächen alle nach vorn und nach hinten kehren. Sofort über- 
sehen wir, welch grosse Veränderung für unsere elektromoto- 
rische Oberfläche herbeigeführt ist. Das äussere Ende unserer 
Cylinder-Querreihen, das von solcher Bedeutung für die Vor- 
richtung Fig. 20 A war, ist jetzt an die Spitze der Fortsätze 
gerückt, und von der geringeren Positivität des äusseren Ran- 
des der Vorrichtung und von den Neigungsströmen desselben 
kann keine Rede mehr sein. Selbst wenn die langen Cylinder- 
Querreihen nicht alle auf die Fortsätze übergingen, sondern 
immer geradlinig bis zu ihrem Ende verliefen und so zum 
Theil in dem Zwischenraume zweier Fortsätze stufenartig 


1) Fig. 26 (Taf. I.) veranschaulicht das Verhalten der Epider- 
ınis-Zellenreihen am äusseren Rande. Die lange Axe der Zellen ist 
immer den die Zellenreihen repräsentirenden Linien parallel. 


70 H. Munk: 


an die kurzen Cylinder-Längsreihen sich ansetzten, würden 
nur partiale Neigungsströme des zwischen je zwei Fortsätzen 
gelegenen äusseren Randes bestehen, welche die Spannungen 
der Oberfläche im Grossen und Ganzen nicht beeinflussen 
könnten. Damit ist dann aber die Aehnlichkeit der elektro- 
motorischen Oberfläche der Vorrichtung mit der des Blattes 
ganz fortgefallen, und die neuen, der Mittelrippe parallelen 
Cylinder-Reihen vermögen natürlich nicht dieselbe wiederher- 
zustellen. 

Noch ein anderes, freilich weniger gewichtiges Moment 
erhebt sich gegen die in Frage stehende Möglichkeit, wenn 
wir von unserer Annahme, dass die Epidermis an der Längs- 
mittellinie oben so sich verhalte wie unten, zur Berücksichti- 
gung des wirklichen Verhaltens fortschreiten. Indem nämlich 
die Querreihen der Epidermiszellen an der oberen Seite ohne 
Unterbrechung über die Mittelrippe hinwegziehen, könnten 
wir uns auch für die elektromotorische Oberfläche auf die 
Vorrichtung Fig. 21 A verwiesen sehen, deren Oberfläche sich 
sehr wesentlich verschieden ergeben hat von der des Blattes; 
und wiederum muss eine Asymmetrie der oberen und der un- 
teren Fläche resultiren. So vereinigen sich die eigenthümliche 
Endigung der Querreihen der Epidermiszellen am äusseren 
Rande einerseits und der Mangel der Unterbrechung derselben 
Reihen an der Längsmittellinie der oberen Seite andererseits, 
um auch das ganz unmöglich erscheinen zu lassen, dass Kräfte 
in den -Epidermiszellen, die parallel der langen Axe der Zellen 
gerichtet sind, die elektromotorische Oberfläche des Blattes 
liefern. 

Zu bemerken bleibt nur noch, dass die Verschiedenheiten, 
welche die Epidermiszellen an verschiedenen Stellen des Blat- 
tes darbieten, unsere Ausführungen hinsichts dieser Zellen 
nicht beeinträchtigen können. Wollte man die oberen Epider- 
miszellen von den unteren sondern und nur die einen oder 
die anderen als elektromotorisch wirksam auffassen, es würde 
sichtlich zu Nichts helfen, und man wäre auch gar nicht dazu 
berechtigt. Wenn die oberen Epidermiszellen in ihren Dimen- 
sionen regelmässig etwas abweichen von den unteren Zellen, 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w 71 


so lässt sich dem keine Bedeutung beimessen, weil beiderlei 
Zellen nach dem äusseren Rande hin gleichmässig in die sehr 
langen und sehr schmalen Epidermiszellen der Randstacheln 
übergehen, und weil eine Scheidung jener von diesen Zellen 
des ganz allmählichen Ueberganges wegen nicht möglich ist. 
Erst recht bedeutungslos muss aber für unsere Interessen die 
verschiedene Färbung der Zellen. erscheinen. Denn während 
alle Blätter in elektrischer Beziehung, soweit meine Unter- 
suchung reichte, sich gleich verhielten, waren in vielen die 
oberen Epidermiszellen ebenso grün wie die unteren, in an- 
deren Blättern waren bald nur die mittelsten Epidermiszellen 
an der oberen Seite des Blattflügels, bald eine ausgedehntere 
Partie der Zellen um die Mitte herum, bald alle Zellen bis 
zur Mittelrippe und zu den Rändern, bald endlich ausserdem 
noch die Epidermiszellen der Randstacheln geröthet; ja, in 
zwei Fällen habe ich sogar nur die mittelsten Zellen des 
Blattflügels und zugleich die Zellen der Randstacheln in deren 
ganzem Umfange roth gefunden. Es kann demnach auch 
Nichts zu besagen haben, wenn die Epidermiszellen an der 
oberen Seite der Mittelrippe etwas kürzer, als die benachbar- 
ten Zellen des Blattflügels, und bisher nie roth gefunden sind. 
Und überhaupt kann bei dieser Sachlage das Verfahren allein 
richtig sein, welches wir oben einschlugen, dass man in elek- 
trischer Hinsicht alle Epidermiszellen zusammenfasst. 

Auf dem Wege der Ausschliessung sind wir also dahin 
gelangt, die gesuchte elektromotorische Substanz in dem ein- 
zigen noch übrigen Bestandtheile des Blattes zu erkennen, — 
im Parenchyme, d.h. in der grossen Masse meist langgestreck- 
ter und etwa cylindrischer, selten kugeliger Zellen, welche zu- 
sammen mit den Fibrovasalsträngen den Raum zwischen der 
oberen und der unteren Epidermis erfüllen. Die Art der 
Wirksamkeit dieser Zellenmasse würde nunmehr noch zu be- 
stimmen sein, damit unsere Aufgabe vollkommen gelöst wäre, 


(3.) Untersuchung des Parenchyms. 


Nach der Form und der Lage der Zellen lassen sich fünf 
Partieen am Parenchyme unterscheiden: 1. das Blattflügel-Par- 


12 H. Murk: 


enchym, 2. das Parenchym des äusseren Randes, 3. das Rand- 
stachel-Parenchym, 4. das obere und 5. das untere Mittelrippen- 
Parenchym'). Das Blattflügel-Parenchym besteht aus 
lauter Zellen von etwa cylindrischer Gestalt, deren lange Axe 
parallel den Blattflächen und senkrecht zur Mittelrippe gelegen 
ist. Den ganzen Blattflügel mit Ausnahme der äussersten 
Partie erfüllend, grenzt es unmittelbar einerseits an das obere 
und das untere Mittelrippen-Parenchym, ändererseits an 
das Parenchym des äusseren Randes und das Randstachel- 
Parenchym und weist Querreihen regelmässig mit den Polen 
aneinanderstossender Zellen auf, Reihen also, welche den Blatt- 
flächen parallel sind und senkrecht auf der Mittelrippe stehen. 
Von der Blattflügel-Nervatur wird es ohngefähr gerade in der 
Mitte seiner Dicke durchsetzt, so dass sich mit der Nervatur 
als Grenze eine obere und eine untere Hälfte an ihm unter- 
scheiden lassen. Seine äussere Grenze verläuft sehr nahe dem 
äusseren Rande des Blattflügels, noch etwas nach aussen von 
den Spitzen der Zwischenbögen, welche die grossen Bögen der 
Seitennerven verbinden, und zwar parallel dem äusseren Rande 
des Blattflügels, ohne jedoch den Vorsprüngen desselben, 
welche die Randstacheln entlassen, zu folgen. Nach innen 
vom Blattflügel-Parenchyme und zwar jederseits von der oberen 
Hälfte desselben begrenzt, liegt das obere Mittelrippen- 
Parenchym und erfüllt den Raum zwischen der oberen Epi- 
dermis der Mittelrippe und der oberen Fläche des Mittelrippen- 
Nerven. Es ist gleichfalls von etwa eylindrischen Zellen ge- 
bildet; aber deren lange Axe ist ohngefähr senkrecht zur Mittel- 
rippen-Axe und senkrecht zur oberen Fläche der Mittelrippe 
gestellt, und in Folge der regelmässigen Aneinanderlagerung 
der Zellen mit ihren Polen lassen sich hier auf den Blattflächen 
senkrechte Reihen der Zellen, Verticalreihen, erkennen. Den 


1) Vgl. Fig. 4 und Figg. 27 a und d. Die letzteren Figuren 
zeigen schematisch @ einen Querschnitt, 5 einen Längsschnitt durch 
das offene Blatt. Die inneren Linien repräsentiren die Parenchym- 
Zellenreihen, so dass überall den Linien parallel die langen Axen der 
Zellen gelegen sind. Wo der Schnitt senkrecht zu diesen Axen ge- 
fallen ist, erscheinen die Zellenreihen demgemäss als Punkte. 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 73 


noch übrigen Raum der Mittelrippe unterhalb und zu den 
Seiten des Mittelrippen-Nerven nimmt das untere Mittel- 
rippen-Parenchym ein und stösst jederseits unmittelbar 
mit der unteren Hälfte des Blattflügel-Parenchyms zusammen. 
Auch dieses Parenchym ist aus lauter etwa cylindrischen Zel- 
len zusammengesetzt; aber die Zellen sind hier mit ihrer 
langen Axe den Blattflächen und der Mittelrippe parallel und 
bilden durch die Regelmässigkeit ihrer Anordnung den Blatt- 
flächen und der Mittelrippe parallele Längsreihen. Nach 
aussen vom Blattflügel-Parenchyme und zwar überall da, wo 
der äussere Rand des Blattflügels keinen Stachel entlässt, liegt 
in dem ganz schmalen Saume das Parenchym des äusse- 
ren Randes, das aus lauter kugeligen Zellen besteht. End- 
lich erstreckt sich immer da, wo ein Randstachel abgeht, von 
der äusseren Grenze des Blattflügel-Parenchyms aus bis tief in 
den Randstachel hinein das Randstachel-Parenchym, 
das wiederum eigenartig beschaffen ist, dessen Schilderung ich 
mir aber für eine spätere Stelle vorbehalte. 

Nur der ausgedehnten Vorbereitung für unsere Aufgabe 
haben wir es zu verdanken, wenn wir in diesem scheinbaren 
Wirrwarr von Zellen und Axen uns zurechtfinden. Wir über- 
sehen sogleich, dass das Blattflügel-Parenchym, das an Aus- 
dehnung alle anderen Parenchyme insgesammt viele Male 
übertrifft, die Bedingungen unserer Vorermittelungen erfüllt, 
und dass unsere Aufgabe somit ohne Weiteres gelöst wäre, 
wenn von den anderen Parenchymen sich absehen liesse. 
Solches Absehen geht nun allerdings nicht an; im Gegentheil, 
wir dürfen den leitenden Faden unserer Untersuchung, den 
wir in der berechtigten Voraussetzung besitzen, dass der 
gleichen Organisation die gleiche Anordnung der elektrischen 
Kräfte entspricht, nicht aufgeben und müssen den anderen 
Parenchymen dieselben Kräfte, wie dem Blattflügel-Paren- 
chyme, zuerkennen, so lange nicht besondere Gründe dagegen 
sprechen. Aber immerhin finden wir wiederum durch unsere 
Vorermittelungen einen guten Grund gelegt, da wir nur noch 
zu untersuchen brauchen, ob und wie die elektromotorische 
Oberfläche, welche das Blattflügel- Parenchym für sich allein 


74 H. Munk: 


liefern würde, durch die Anwesenheit der anderen Parenchyme 
verändert wird. In diese Untersuchung treten wir ein; und 
um dieselbe zu vereinfachen, vernachlässigen wir vorläufig das 
Parenchym des äusseren Randes und das Randstachel-Paren- 
chym, indem wir an deren Stelle nur unwirksame feuchte 
Leiter an der Aussenseite des Blattflügel-Parenchyms befind- 
lich annehmen. 

Wir beginnen wiederum damit, dass wir die Zellen des 
Blattflügel-Parenchyms mit Kräften ausgestattet sein lassen 
senkrecht zur langen Axe der Zellen und senkrecht zu den 
Blattflächen. Enthielte die Mittelrippe nur unwirksamen Lei- 
ter, so würden diese Kräfte die elektromotorische Oberfläche 
liefern, welche Fig. 17 ce zeigt, und welche wesentlich von der 
des Blattes abweicht. Nun setzen wir die Mittelrippe mit 
ebensolchen Zellen, wie die Blattflügel, erfüllt, alle Zellen 
dort aber um ihre verticale Axe so gedreht, dass ihre Pole 
nach vorn und nach hinten sehen. Es wird die elektromoto- 
rische Oberfläche der Vorrichtung Fig. 16 c, mit überall um- 
gekehrter Richtung der Kräfte, erhalten, wenn auf die einzelne 
Zelle zahlreiche elektromotorische Flächen entfallen. Anderer- 
seits, wenn der einzelnen Zelle nur zwei solche Flächen zu- 
kommen, stellt sich die elektromotorische Oberfläche der Vor- 
richtung Fig. 17 c blos so verändert dar, dass in den Quer- 
linien die negativsten Punkte nach innen gerückt erscheinen; 
in allen Längslinien, in den Verbindungslinien der Mitten 
der Querlinien und an den äusseren Rändern bestehen 
die alten Richtungen der Kräfte fort. Wir nehmen zweitens 
die Mittelrippe wiederum von ebensolchen Zellen, wie die 
Blattflügel, erfüllt an, alle Zellen dort aber aufgestellt, ihre 
Pole nach oben und nach unten gekehrt, so dass die Kräfte 
dieser Zellen parallel den Blattflächen und senkrecht zur 
Mittelrippe gerichtet sind. Dadurch wird an der elektromo- 
torischen Oberfläche der Vorrichtung Fig. 17 ce nicht mehr 
verändert, als dass die negativsten Punkte der Querlinien nach 
aussen gerückt erscheinen; alle Linien von vorn nach hinten 
behalten auch hier die alten Richtungen der Kräfte bei. Es 
ist also klar, dass, wenn wir beicerlei Einfügungen zugleich 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 75 


vornehmen, indem wir die Zellen mit den nach oben und un- 
ten gekehrten Polen den oberen Theil, die Zellen mit den 
nach vorn und hinten gekehrten Polen den unteren Theil der 
Mittelrippe erfüllen lassen, gleichfalls und erst recht nicht die 
elektromotorische Oberfläche des Blattes gewonnen wird. 

Lassen wir weiter die Zellen des Blattflügels-Parenchyms 
mit Kräften ausgestattet sein senkrecht zur langen Axe der 
Zellen und parallel den Blattflächen, so würden wir, bei un- 
wirksamem Leiter in der Mittelrippe, die elektromotorische 
Oberfläche erhalten, welche die Vorrichtung Fig. 24 A zeigt. 
Denken wir nun die Mittelrippe mit ebensolchen Zellen, wie 
die Blattflügel, erfüllt, alle Zellen dort aber um ihre verticale 
Axe so gedreht, dass ihre Pole nach vorn und nach hinten 
sehen, so tritt gar keine Veränderung der Richtungen der 
Kräfte weder in den Quer- noch in den Längslinien ein. Eben- 
sowenig ist dies der Fall, wenn wir alle Zellen in der Mittel- 
rippe aufgestellt, mit den Polen nach oben und nach unten 
gekehrt setzen, so dass die Kräfte der Zellen parallel den 
Blattflächen und parallel der Mittelrippe gerichtet sind. Es 
führt also auch wiederum nicht zur elektromotorischen Ober- 
fläche des Blattes, wenn wir die Zellen in beiderlei Lagen zu- 
gleich, wie vorher, die Mittelrippe erfüllen lassen. 

Die Annahmen, welche wir bei diesen Ueberlegungen hin- 
sichts der Kräfte in den Zellen der Mittelrippe gemacht haben, 
sind sichtlich die natürlichsten. Wollte man sich aber auch 
zu unnatürlicheren Annahmen verstehen, wollte man die Kräfte 
der Zellen, deren Pole nach vorn und nach hinten sehen, im 
ersten Falle parallel den Blattflächen und senkrecht zur Mittel- 
rippe, im zweiten Falle senkrecht zur Mittelrippe und senk- 
recht zu den Blattflächen, und wiederum die Kräfte der ande- 
ren Zellen, deren Pole nach oben und nach unten gekehrt sind, 
im ersten Falle parallel der Mittelrippe und parallel den Blatt- 
flächen, im zweiten Falle parallel den Blattflächen und senk- 
recht zur Mittelrippe setzen, man würde doch, wie der weite- 
ren Ausführung nicht bedarf, die elektromotorische Oberfläche 
des Blattes nie erhalten. 

Die dritte und letzte Möglichkeit, welche zu betrachten 


76 H. Munk: 


ist, geht dahin, dass die Zellen des Blattflügel-Parenchyms 
ihrer langen Axe parallele Kräfte besitzen, also Kräfte, welche 
den Blattflächen parallel und zur Mittelrippe senkrecht sind. 
Für solche Kräfte würde, bei unwirksamem Leiter in der Mit- 
telrippe, unsere Vorrichtung Fig. 20 A ohne Weiteres ange- 
zeigt haben, wie wir zur elektromotorischen Oberfläche des 
Blattes gelangten. Aber den gegenwärtigen Anforderungen 
entspricht die Vorrichtung nicht, und es ist nothwendig, dass 
wir sie modificiren. 

Wir setzen die vom unwirksamen Leiter eingenommene 
mittlere Lücke der Vorrichtung Fig. 20 A von ebensolchen 
Cylindern in der gleichen Anordnung erfüllt, wie sie die seit- 
lichen Hälften der Vorrichtung darbieten, nur dass die Cylin- 
der dort anders gelagert sind. Sehen die Pole aller Cylinder 
in der mittleren Lücke nach oben und nach unten, so ist die 
vorn auf-, hinten absteigende Kraft in der Längsmittellinie 
verstärkt, die negativsten Punkte der Querlinien sind nach 
aussen gerückt und zwar desto weiter, je näher die betrachtete 
Querlinie der mittelsten Querlinie gelegen ist, endlich die 
Gleichartigkeit der mittleren Längslinien der seitlichen Hälf- 
ten ist verschwunden, indem vorn auf-, hinten absteigende 
Kräfte in den Linien bestehen. Sind hinwiederum die Pole 
aller Cylinder in der mittleren Lücke nach vorn und nach hin- 
ten gerichtet, so sind in der Längsmittellinie, in den Verbin- 
dungslinien der Mitten der Querlinien, in allen mittleren Längs- 
linien der seitlichen Hälften und endlich an den äusseren Rän- 
dern vorn ab-, hinten aufsteigende Kräfte hinzugetreten; und 
die negativsten Punkte der Querlinien sind im vordersten und 
im hintersten Viertel der seitlichen Hälften nach aussen, in 
den beiden mittleren Vierteln nach innen gerückt, überall 
desto weiter, je näher die betrachtete Querlinie dort dem vor- 
deren resp. hinteren Rande, hier der mittelsten Querlinie sich 
befindet. Nehmen wir nun die Cylinder der mittleren Lücke 
in beiderlei Lagerung zugleich an, die Pole nach oben und 
nach unten gerichtet in dem oberen Theile, die Pole nach 
vorn und nach hinten gewandt in dem unteren Theile der mitt- 
leren Lücke, so lässt sich die elektromotorische Oberfläche 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u. s. w. IT 


der so gearteten Vorrichtung natürlich allgemeingültig nicht 
genauer bestimmen. Aber wenn es auf der einen Seite un- 
mittelbar klar ist, dass diese Oberfläche von derjenigen der 
Vorrichtung Fig. 20 A wesentlich verschieden sein und die 
Uebereinstimmung mit der des Blattes ganz verloren haben 
kann, so ergiebt es sich doch auf der anderen Seite, dass 
auch jetzt noch an der Vorrichtung die Oberfläche bestehen 
kann, welche Fig. 20 zeigt. 

Zuvörderst bemerken wir, dass die beiderlei Einfügungen 
in die mittlere Lücke für die von uns betrachteten Linien der 
Oberfläche, mit wenigen Ausnahmen, überall gerade entgegen- 
gesetzte Kräfte neu hinzutreten machen, so dass ihre Wirkun- 
gen mehr oder weniger vollständig einander compensiren kön- 
nen. Sodann müssen wir uns erinnern, dass bei unserer Be- 
trachtung der Vorrichtung Fig. 20 A, wie S. 55 noch beson- 
ders angemerkt wurde, der Unterschied in der Positivität 
zwischen dem inneren und dem äusseren Rande der seitlichen 
Hälfte der Vorrichtung und die Neigungsströme des äusseren 
Randes in ihrer Grösse haben durchaus unbestimmt bleiben 
müssen. Wir haben deshalb dort nur sagen können, dass sich 
übersehen liesse, dass unter gewissen Bedingungen, bei einer 
gewissen Neigung des äusseren Randes u. s. w., die elektro- 
motorische Oberfläche Fig. 20 sich darbieten würde. Nunmehr 
lässt sich ebenso weiter übersehen, dass unter veränderten 
Bedingungen, bei einer gewissen anderen Neigung des äusseren 
Randes u. s. w., unter Bedingungen mithin, welche ohne Er- 
füllung der mittleren Lücke der Vorrichtung Fig. 20 A die 
elektromotorische Oberfläche Fig. 20 nicht geliefert haben 
würden, gerade nach der nunmehrigen Erfüllung der Lücke 
eben diese Oberfläche hergestellt sein kann. Wenn z. B. ohne 
Erfüllung der mittleren Lücke die mittleren Längslinien der 
seitlichen Hälften noch vorn ab-, hinten aufsteigende Kräfte 
besassen, können diese Kräfte nach der Erfüllung der Lücke 
durch die mit derselben neu hinzugetretenen Kräfte beseitigt 
sein. Oder es kann auch, wenn vorher in denselben Linien, 
in Folge des Uebergewichtes der Neigungsströme, vorn auf-, 
hinten absteigende Kräfte bestanden, nachher zur Gleichartig- 


NOTE EEE N * 
DR 


78 H. Munk: 


keit der Linien gekommen sein, in Folge der Verschiebung 
der negativsten Punkte in den Querlinien, wie sie die Erfül- 
lung der Lücke mit sich bringt. Lässt es sich also auch 
durchaus nicht erweisen, so ist doch sehr wohl die Möglichkeit 
einzusehen, dass die elektromotorische Oberfläche Fig. 20 
auch dann sich darbietet, wenn in die mittlere Lücke der 
Vorrichtung Fig. 20 A wirksame Theile in der bezeichneten 
Weise eingefügt sind. 

Damit von der Vorrichtung zum Blatte übergehend, sehen 
‘wir bei diesem die Sachlage sich noch wesentlich günstiger 
gestalten. Da die durch die Mittelrippen-Parenchyme in den 
Linien der Oberfläche gesetzten Spannungsdifferenzen mit der 
Entfernung von der Mittelrippe rasch abnehmen müssen, 
werden die Mittelrippen-Parenchyme in ihrer Bedeutung für 
die elektromotorische Oberfläche desto mehr gegenüber dem 
Blattflügel-Parenchyme zurücktreten, je grösser der Abstand 
von der Mittelrippe ist; bis endlich von einem gewissen Ab- 
stande an das Blattflügel-Parenchym allein zur Geltung kom- 
men, d. h. die Oberfläche gerade so sich verhalten wird, wie 
wenn ausschliesslich dieses Parenchym wirksam wäre und nur 
unwirksamer feuchter Leiter in der Mittelrippe sich befände. 
Nun müssen die Wirkungen der Mittelrippen-Parenchyme in 
der Nähe der Mittelrippe besonders im Verhalten der Längs- 
linien zur Wahrnehmung kommen und daneben etwa noch in 
der Asymmetrie der oberen und der unteren Fläche. Gerade 
aber hinsichts der somit fraglichen Linien und Flächenstücke 
ist unsere Kenntniss der elektromotorischen Oberfläche des 
Blattes lückenhaft geblieben. Denn gerade in der Nähe der 
Mittelrippe haben sich die vergleichenden Bestimmungen an 
der oberen und der unteren Fläche nicht ausführen lassen 
(s. 0. 5. 41), und gerade dort auch ist es, was jetzt alle Beach- 
tung verdient, uns nicht gelungen (s. o. S. 39), eine einfache 
Gesetzmässigkeit in den Spannungen der Längslinien zu er- 
kennen, die Längsmittellinie ausgenommen, bei welcher die 
Richtungen der Kräfte jedoch hier gar nicht in Frage zu kom- 
men brauchen. Wenn also die Wirkungen der Mittelrippen- 
Parenchyme, wie es sehr gut möglich ist, nur bis zu einer 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 79 


mässigen Entfernung von der Mittelrippe eine solche Grösse 
besitzen, dass sie bei der Feinheit unserer Bestimmungen sich 
bemerklich machen, so ist Nichts natürlicher, als dass die 
Wirkungen an unserer elektromotorischen Oberfläche des Blat- 
tes vollständig sich vermissen lassen. Und darum stellt sich 
offenbar noch viel mehr, als dass die metallischen Theile der 
vorhin modifieirten Vorrichtung Fig. 20 A die elektromoto- 
rische Oberfläche Fig. 20 liefern, das Andere als wahrschein- 
lich heraus, um das es uns ja im Grunde nur zu thun ist, dass 
die elektromotorische Oberfläche des Blattes aus den Kräften 
des Parenchyms resultirt, wenn ebensolche Kräfte in eben- 
soleher Anordnung dem Blattflügel - Parenchyme zukommen, 
wie den Cylindermassen in den seitlichen Hälften der Vor- 
richtung Fig. 20 A. 

Doch, nicht zu vergessen, wir haben soweit die beiden 
Aussenparenchyme vernachlässigt und müssen auch diese Par- 
enchyme noch in den Kreis der Untersuchung ziehen. 

Das Rändstachel-Parenchym erfüllt nicht blos den eigent- 
lichen Randstachel, sondern auch den Wulst, der an dem Ur- 
sprunge jedes Stachels liegt und der Ausbuchtung der unteren 
Blattfläche nach unten seine Entstehung verdankt. Es ist von 
Reihen etwa cylindrischer Zellen, deren lange Axe ohngefähr 
parallel der Axe des Stachels verläuft, gebildet, und nur zu 
unterst im Wulste finden sich kugelige Zellen, auf welche 
sich jene Zellenreihen gewissermassen aufsetzen. Von den 
am weitesten nach innen reichenden Zellenreihen stossen die 
untersten Zellen mit ihren Mänteln unmittelbar an die Pole 
der letzten Zellen des Blattflügel-Parenchyms an und zwar so, 
dass die Querreihen des Blattflügel-Parenchyms mit den 
Schrägreihen des Randstachel-Parenchyms einen nach oben 
concaven Winkel bilden, der nahe an 180° herankommt!). 
Dass das Parenchym des äusseren Randes aus lauter kugeligen 
Zellen besteht und nur einen ganz schmalen Saum an der 
Aussenseite des Blattflügel-Parenchyms in den Zwischenräu- 
men der Randstacheln oder Randstachel-Parenchyme bildet, 
ist uns schon von früher her bekannt. 


1) Vergl. Fig. 4 und Fig. 27 a. 


80 H. Munk: 


Wir gehen nun nochmals die drei möglichen Fälle hin- 
sichts der Kräfte des Blattflügel-Parenchyms durch und lassen, 
wie wir vorher das Blattflügel-Parenchym zusammen mit dem 
Mittelrippen-Parenchyme betrachteten, jetzt ausserdem auch 
noch die Aussenparenchyme wirksam sein. Ueber die Kräfte, 
welche dabei die Zellen des Randstachel-Parenchyms erhalten, 
kann kein Zweifel herrschen, da immer dieselben Richtungen 
zur langen Axe und zur oberen und unteren resp. vorderen 
und hinteren Wand der Zellen anzunehmen sind, wie bei den 
Zellen des Blattflügel-Parenchyms. Dagegen sind wir bei den 
kugeligen Zellen des Parenchyms des äusseren Randes in Ver- 
legenheit, welche Kräfte wir ihnen in Bezug auf die Kräfte 
des Blattflügel-Pargnchyms zuertheilen sollen; und es bleibt 
Nichts übrig, als dass wir in jedem Falle die Kräfte der ku- 
geligen Zellen gerichtet setzen ein Mal wie die der Zellen des 
Blattflügel-Parenchyms, ein zweites Mal wie die der Zellen 
des oberen und ein drittes Mal wie die der Zellen des unteren 
Mittelrippen-Parenchyms. Führen wir so die Prüfungen durch, 
so finden wir, dass überall da, wo eine elektromotorische 
Oberfläche sonst sich ergab, die von der des Blattes wesent- 
lich abwich, auch durch das Hinzutreten der Aussenpar- 
enchyme darin Nichts geändert wird, und dass andererseits, 
wo vorher die Möglichkeit sich herausstellte, dass die elektro- 
motorische Oberfläche des Blattes erhalten wurde, diese Mög- 
lichkeit auch jetzt noch fortbesteht. Im Uebrigen treten weder 
neue bemerkenswerthe Momente noch neue Schwierigkeiten 
bei den Prüfungen auf, und die ausgedehntere Behandlung 
derselben darf um so eher unterbleiben, als die weitere Ent- 
wickelung der Dinge bald sogar diese ganzen Prüfungen über- 
flüssig erscheinen lassen wird. Nur das mag erwähnt sein, 
dass, wenn man das Blattflügel-Parenchym mit solchen Kräf- 
ten in solcher Anordnung ausgestattet setzt wie die Cylinder- 
massen in den seitlichen Hälften der Vorrichtung Fig. 20 A, 
durch die Aussenparenchyme im ungünstigsten Falle an der 
elektromotorischen Oberfläche Fig. 20 doch nicht mehr ver- 
ändert wird, als dass die negativsten Punkte der Querlinien 
sich ein wenig verschieben; und dass, wenn damit auch in der 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 81 


Gleichartigkeit der mittleren Längslinien der seitlichen Hälfte 
eine Störung eintritt, dieselbe doch nur unbedeutend ist, so 
dass sie am Blatte innerhalb der Fehlergrenzen der Bestim- 
mungen bleiben könnte. 

Die Aussenparenchyme ändern also Nichts, und es bleibt 
bei dem, was wir vorher ermittelt haben. Wir sahen zuerst, 
dass, mit welchen Kräften man auch die anatomischen Bestand- 
theile des Blattes ausser dem Parenchyme mag ausgestattet 
sein lassen, nie die Kräfte die eonstatirte elektromotorische 
Oberfläche des Blattes liefern. Ebensowenig, stellte sich wei- 
ter heraus, führt es zu dieser Oberfläche, wenn man das Par- 
enchym als wirksam annimmt und die Zellen des Blattflügel- 
Parenchyms Kräfte besitzen lässt, die senkrecht zur langen 
Axe der Zellen und senkrecht zu den Blattflächen oder die 
senkrecht zur langen Axe der Zellen und parallel den Blatt- 
flächen gerichtet sind. Ertheilt man aber, wiederum .das Par- 
enchym als wirksam vorausgesetzt, den Zellen des Blattflügel- 
Parenehyms der langen Axe der Zellen parallele Kräfte und 
zwar in solcher Anordnung, wie sie die Cylindermassen in 
den seitlichen Hälften der Vorrichtung Fig. 20 A zeigen, so 
lässt sich, wie wir schliesslich fanden, die elektromotorische 
Oberfläche des Blattes zwar nicht mit Sicherheit aus den 
Kräften des Parenchyms ableiten — dazu gebricht es an der 
unentbehrlichen Kenntniss verschiedener Grössenverhältnisse, 
und daran verhindern die durch die Mittelrippen-Parenchyme 
eingeführten Verwickelungen —, aber es ergiebt sich hier eine 
sehr hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass aus den Kräften des 
Parenchyms die elektromotorische Oberfläche des Blattes re- 
sultirt. Damit sind wir offenbar zu Erfolgen gelangt, so gut 
sie sich nur erwarten liessen ; und bei den Grenzen, welche 
solehen Untersuchungen, wie wir sie eben führen, heutzutage 
gesteckt sind, wird man nicht im Zweifel darüber sein können, 
dass die letztbezeichneten Kräfte in der Wirklichkeit dem 
Blattflügel-Parenchyme zukommen. 

Weitere Erfahrungen am Blatte verbürgen denn auch noch 
die Zuverlässigkeit dieses Ergebnisses. 

Nach unseren Ermittelungen ist die elektromotorische 

Beichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 6 


3 H. Munk: 


Oberfläche des Blattes, so genau wir sie kennen lernten, aus- 
schliesslich oder fast ausschliesslich durch die Kräfte des 
Blattflügel-Parenchyms bedingt, und die anderen Parenchyme 
sind für dieselbe ohne Bedeutung oder beeinflussen sie doch 
blos unwesentlich. Nur wenn dies richtig, ist es denkbar, 
dass die Winkel, welche die Zellenreihen der verschiedenen 
Parenchyme mit einander bilden, grösser oder kleiner werden 
können, ohne dass die elektromotorische Oberfläche des Blat- 
tes Veränderungen erfährt. Das ist es aber, was sich in der 
That ergiebt. Wenn das offene Blatt, das wir unseren bishe- 
rigen Ueberlegungen zu Grunde legten, sich schliesst oder 
wenn das geschlossene Blatt sich wieder öffnet, ändern sich 
die Winkel, welche die Zellenreihen des Blattflügel-Paren- 
chyms mit den Zellenreihen der Mittelrippen-Parenchyme einer- 
seits und mit den Zellenreihen des Randstachel-Parenchyms 
andererseits bilden, um 30—60° (s. u. 8.5); und doch wird die 
gleiche Vertheilung der Spannungen an der Oberfläche des 
Blattes gefunden, mag das Blatt mehr oder weniger offen’ oder 
geschlossen sein (s. o. S. 41). 

Die Bedeutungslosigkeit der Aussenparenchyme für die 
elektromotorische Oberfläche des Blattes lässt sich ferner auf 
folgende Weise erhärten. Schneidet man an einem äusseren 
Rande des Blattes oder auch an beiden äusseren Rändern die 
Randstacheln mit ihren Wülsten und dem schmalen Saume 
des freien Randes zwischen den Stacheln so ab, dass nur Reste 
vom Randstachel-Parenchyme und vom Parenchyme des äusse- 
ren Randes dort stehen bleiben, so kommt an der elektromotori- 
schen Oberfläche des Blattes keine Veränderung zur Beobachtung. 
Da eine Reizbewegung nicht eintritt (s. u. $. 5),lässt sich der Ver- 
such auch am offenen Blatte anstellen, während zweien Punk- 
ten der unteren Blattfläche die Elektroden angelagert sind; 
und wenn keine Verrückung der Elektroden erfolgt, sieht man 
die vor dem Abschneiden vorhandene Kraft ebenso nach dem 
Abschneiden fortbestehen, gleichviel wo die geprüften Punkte 
gelegen sind. 

Unter dem Eindrucke dieser Erfahrungen drängt sich die 
Frage auf, ob denn überhaupt den Aussenparenchymen solche 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s. w. 83 


elektrischen Kräfte zukommen, wie dem Blattflügel-Parenchyme. 
Wir gewahren, indem wir uns umschauen, dass, wenn wir so- 
weit die Aussenparenchyme mit dem Blattflügel-Parenchyme in 
elektromotorischer Beziehung in Zusammenhang gebracht ha- 
ben, wir dazu nur durch den im Grunde bedeutungslosen Um- 
stand veranlasst worden sind, dass die grobe Anatomie beider- 
lei Bestandtheile des Blattes mit dem Collectivbegriffe „Par- 
enchym“ umfasst. Selbst eine morphologische Uebereinstim- 
mung der Aussenparenchyme mit dem Blattflügel-Parenchyme 
lässt sich nicht vertreten, zumal wenn man vom Randstachel- 
Parenchyme die tief im Stachel selbst gelegenen Zellen mit 
in’s Auge fasst. Andererseits, wie sich bisher jede Spur 
einer elektromotorischen Wirksamkeit der Aussenparenchyme 
vermissen liess, so kann man auch die beim letzten Versuche 
abgeschnittenen Randtheile des Blattes ableiten wie man 
wolle, es gelingt nicht, elektrische Wirkungen ihnen zu ent- 
locken; während sonst alle ausgeschnittenen Tkeile des Blattes 
mehr oder weniger grosse, oft recht beträchtliche Spannungs- 
differenzen zwischen den Schnittflächen oder zwischen der 
Schnittfläche und der Oberfläche ergeben. Da somit nicht das 
Mindeste für jenen bisher festgehaltenen Zusammenhang, wohl 
aber Manches gewichtig dagegen spricht, müssen wir jetzt die 
Aussenparenchyme ganz von dem Blattflügel- Parenchyme 
scheiden und ebensogut, wie z. B. die Epidermis, den unwirk- 
samen Bestandtheilen des Blattes zurechnen. 

Anders steht es, wenn sich die gleiche Frage für die 
Mittelrippen-Parenchyme erhebt. Schon die morphologische 
Uebereinstimmung dieser Parenchyme mit dem Blattflügel- 
Parenchyme ist gar nicht zu verkennen, und sogar noch engere 
Beziehungen werden für das obere Mittelrippen-Parenchym 
offenbar, sobald man einen (Querschnitt des geschlossenen 
Blattes betrachtet. Denn hier, wo unsere Verticalreihen der 
Zellen des oberen Mittelrippen-Parenchyms fast parallel unse- 
ren Querreihen der Zellen des Blattflügel-Parenchyms laufen, 
lehrt der erste Blick, dass die beiderlei Zellenreihen ein von 
Natur zusammengehöriges Ganzes sind, von dem nur die eine 
Partie, je mehr das Blatt sich öffnet, desto mehr sich um die 

6: 


84 H. Munk: 


Mittelrippenaxe dreht, während die andere Partie ihre Lage 
zur selben Axe unverändert beibehält. Ausserdem aber erweist 
sich nicht blos jedes isolirte Stück der Mittelrippe elektromo- 
torisch wirksam, sondern es macht sich sogar die Wirksam- 
keit der Mittelrippen-Parenchyme auch schon an der elektro- 
motorischen Oberfläche des unversehrten Blattes deutlich be- 
merklich in einem Verhalten, das wir nur so lange absicht- 
lich ausser Acht gelassen haben, in der Asymmetrie der Mit- 
telrippe. 

Als wir oben S. 76 unsere Vorrichtung Fig. 20 A modi- 
ficirten, fügten wir die Cylinder mit ihren Polen nach oben 
und nach unten gerichtet in den oberen Theil, nach vorn und 
nach hinten gewandt in den unteren Theil der mittleren Lücke 
ein. Auch umgekehrt hätten die letzteren Cylinder oben, die 
ersteren unten in der Lücke sich annehmen lassen, ohne dass 
dadurch die Erfolge im Mindesten beeinträchtigt wurden. 
Aber, was ohnedies am natürlichsten erschien, das ist jetzt 
durch die Zusammengehörigkeit des oberen Mittelrippen-Par- 
enchyms mit dem Blattflügel-Parenchyme geradezu zweifellos, 
dass auch die Kräfte der Mittelrippen-Parenchyme der langen 
Axe der Zellen parallel zu setzen sind. Nun resultirten an 
unserer Vorrichtung aus den das untere Mittelrippen-Paren- 
chym repräsentirenden Cylindern für die Längsmittellinie in 
der vorderen Hälfte absteigende, in der hinteren Hälfte auf- 
steigende und zwar in beiden Hälften symmetrische Kräfte. 
Das trifft aber für das Blatt, das wir immer in seinem natür- 
lichen Zusammenhange mit dem Blattstiele untersuchten, des- 
halb nicht zu, weil, wie jetzt an der Zeit ist zu bemerken, 
das untere Mittelrippen-Parenchym des Blattes ohne jede Un- 
terbrechung sich fortsetzt in ein gleiches und gleich gelagertes 
Parenchym, das über den ganzen Blattstiel (mit dem Zwischen- 
gliede) sich erstreckt. Da demgemäss auch dem letzteren 
Parenchyme die elektrischen Kräfte unseres unteren Mittel- 
rippen-Parenchyms zuzusprechen sind, so muss der elektromo- 
torische Aequator der ein Ganzes bildenden unteren Mittel- 
rippen- Parenchyme des Blattes und des Blattstieles vor der 
Mittelrippe des Blattes gelegen sein. Durch das untere Mittel- 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 85 


rippen-Parenchym werden sich also an der‘Mittelrippe des 
Blattes zu den dort sonst schon vorhandenen, in der vorderen 
Hälfte auf- und in der hinteren Hälfte absteigenden Kräften 
überall nur aufsteigende Kräfte algebraisch summiren; und 
daher kommt es, dass der positivste Punkt an der Mittelrippe 
über die Mitte derselben hinaus nach hinten verschoben ist. 
Ist mit dieser Herleitung der Asymmetrie der Mittelrippe 
das Rechte getroffen, so müssen mit der Verkürzung des 
Blattstieles, unter Verschiebung des vorhin bezeichneten 
Aequators, die Kräfte an der Mittelrippe des Blattes Verän- 
derungen erfahren: und das ist wirklich der Fall. Schon Hr. 
Sanderson hat seinen „normalen Blattstrom“ (zwischen den 
Blattenden) ansehnlich wachsen sehen, wenn er den mit dem 
Blatte verbundenen Blattstiel im Ganzen oder stückweise ab- 
trug"). Dass Hr. Sanderson, vor diese Erfahrung blos mit 
seiner Kenntniss des „normalen Blattstromes* und des (ent- 
gegengesetzt gerichteten) „Blattstielstromes“ gestellt, dieselbe 
nicht zu erklären vermochte, ist nur natürlich; unverständlich 
ist mir aber, wie er sie hat in Beziehung zum Elektrotonus 
des Nerven bringen können‘), und eine Widerlegung wird 
nicht nöthig sein. Ich habe die aufsteigende Kraft zwischen 
den Enden der Mittelrippe nach der Verkürzung des Blatt- 
stieles meist gleichfalls gewachsen, doch auch wiederholt, 
wenn der Schnitt nahe dem hinteren Ende des Blattstieles ge- 
führt war, verringert gefunden; ausserdem habe ich die ab- 


1) Proceed. p. 495; Centralbl. S. 834; Nat. p. 128. 

2) Ich setze die Stelle (Nat. p. 128) hierher: „The leaf-stalk 
was cut off, the leaf remaining as before on the electrodes. The de- 
fleetion was increased (more than doubled). It was then explained 
that when the leaf-stalk is itself placed on the electrodes, the gal- 
vanometer indicates the existence of a eurrent opposed in direction 
to that of the leaf, showing that the electrical conditions on opposite 
sides of the joint between stalk and leaf are antagonistic to each 
other. Consequently, so long as leaf and stalk are united, each pre- 
vents or diminishes the manifestation of electromotive force by the 
other. This is completely in accordance with what is observed with 
reference to nerve, andis known as „electrotonic variation of the nerve 

“a current“.“ 


36 H. Munk: 


steigende Kraft in der hinteren und vornehmlich die aufstei- 
gende Kraft in der vorderen Hälfte der Mittelrippe abnehmen 
sehen. Und das genügt für den angetretenen Beweis. Im 
Uebrigen habe ich ein volles Verständniss der hier eintreten- 
den Veränderungen noch nicht zu gewinnen vermocht, weil, 
als ich mich zu den vorerst wenig wesentlichen und dabei die 
Töpfe entblätternden Versuchen im letzten Spätherbste ent- 
schloss, das Material mir nicht mehr in ausreichender Menge 
zu Gebote stand und besonders auch nicht in der erforderlichen 
Güte, da die Kräfte öfters schon umgekehrt waren (s. o. S. 44). 
Erst mit einer grösseren Summe von Versuchen werden die 
mehrfachen Verwickelungen, welche hier durch die von vorn 
nach hinten abnehmende Dicke der Blatt-Mittelrippe, durch 
das Vorhandensein gleicher Zellenreihen auch an der oberen 
Seite des Zwischengliedes und des Blattstieles, durch die von 
den Blattflügeln und den Blattstielflügeln gebildeten Neben- 
schliessungen u. s. w. gesetzt sind, sich befriedigend überwin- 
den lassen. Erst dann werden auch, beiläufig bemerkt, die 
Veränderungen von Hrn. Sanderson’s „normalem Blatt- 
strome“, welche das Hindurchleiten eines constanten Stromes 
durch den Blattstiel herbeiführt'), sich mit Erfolg studiren 
lassen: Veränderungen, welche nach meinen Wahrnehmungen 
durch ihre unbedeutende Grösse und durch die Inconstanz der 
Richtung, in welcher sie erfolgen, sich sehr wesentlich von 
den elektrotonischen Veränderungen des Nerven unter- 
scheiden. 

Fassen wir nun alle die dargelegten neuen Erfahrungen 
zusammen, so haben sich alle anderen Parenchyme ausser dem 
Blattflügel-Parenchyme in der That von nur so geringer Be- 
deutung für unsere elektromotorische Oberfläche des Blattes 
ergeben, wie wir es vorgesehen hatten, und zwar die Aussen- 
parenchyme aus dem Grunde, weil sie überhaupt unwirksam . 
sind, die Mittelrippen-Parenchyme deshalb, weil sie blos in 


1) Sanderson, Proceed. p. 495--6; Centralbl. S. 834. Die 
Richtungen der Zuwachsströme sind an der einen dieser beiden Stel- 
len gerade entgegengesetzt angegeben, wie an der anderen. 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s. w. 87 


der Asymmetrie der Mittelrippe sich zur Geltung bringen. 
Andererseits aber hat es sich auch in Folge der Zusammen- 
gehörigkeit des oberen Mittelrippen -Parenchyms mit dem 
Blattflügel-Parenchyme und in Folge der Asymmetrie der 
Mittelrippe als unzweifelhaft herausgestellt, dass die Mittel- 
rippen-Farenchyme mit ebensolchen Kräften wie das Blatt- 
fügel-Parenchym ausgestattet sind. Mit noch grösserer 
Sicherheit und Genauigkeit, als vorher, können wir also jetzt 
die elektromotorische Oberfläche des Blattes daher ableiten, 
dass die Zellen des Blattflügel-Parenchyms und der beiden 
Mittelrippen-Parenchyme der langen Axe der Zellen parallele 
Kräfte besitzen in solcher Anordnung, wie sie die Oylinder- 
massen in den seitlichen Hälften der Vorrichtung Fig. 20 A 
darbieten. 

Ueberhaupt kann dieses Ergebniss nunmehr höchstens 
noch Bedenken unterliegen auf Grund der Abweichungen, 
welche die dem Blatte angenäherte Gestalt unserer Vorrichtun- 
gen von der wirklichen Gestalt des Blattes darbot; und auch 
jedes derartige Bedenken wird durch die Untersuchung besei- 
tigt. Es würde zu weit geführt haben und wäre auch zweck- 
los gewesen, hätten wir oben in ausgedehnter Entwickelung 
unsere Vorrichtungen noch mehr der Blattform nähern wollen: 
es genügt, wenn wir jetzt die Abweichungen von dem Ge- 
sichtspunkte aus betrachten, ob durch ihre Vernachlässigung 
unser Vergleich der elektromotorischen Oberflächen der Vor- 
richtungen mit der des Blattes ist mit wesentlichen Fehlern 
belastet worden. So dürfen wir nun rasch darüber hinweg- 
gehen, dass wir als äusseren Rand immer die beiden gleichen 
Sehnen genommen haben an Stelle der, übrigens oft nur we- 
nig grösseren Bögen, und dass unsere Vorrichtungen die Wöl- 
bungen haben vermissen lassen, welche das ganze Blatt in der 
Richtung von vorn nach hinten und jeder Blattflügel überdies 
zwischen dem inneren und dem äusseren Rande zeigt; denn 
die Beseitigung dieser Abweichungen an unseren Vorrichtun- 
gen hätte offenbar nur unbedeutende und, bei der Genauig- 
keit unserer Bestimmungen, nicht der Rede werthe Verzerrun- 
gen der elektromotorischen Oberflächen zur Folge gehabt. 


88 H. Munk: 


Und auch nicht viel länger brauchen wir zu verweilen bei den 
anderen Abweichungen, welche in der eigenthümlichen Ver- 
bindung der Blattflügel mit der Mittelrippe begründet sind. 
Die Mittelrippe unseres Blattes verläuft in einem nach 
unten concaven Bogen, und nicht an ihren Seiten, sondern an 
ihrer oberen Convexität inseriren sich, etwa rechtwinkelig zu 
einander, die beiden Blattflügel, so dass der innere Rand je- 
des Blattflügels einen nach aussen convexen Bogen bildet, 
ähnlich wie der äussere Rand, der jedoch stärker gekrümmt 
ist. Dies haben unsere flach ausgebreiteten Vorrichtungen 
nicht wiedergeben können, die nur berücksichtigten, was nicht 
minder charakteristisch für das Blatt ist, dass der vordere und, 
der hintere Rand des Blattflügels unter rechten Winkeln von 
der Mittelrippe abgehen und beträchtlich kürzer sind als die 
mittelste Querlinie des Blattflügels, und bei welchen weiter, 
da der innere Rand des Seitentheiles der Vorrichtung gerad- 
linig angenommen wurde, für die seitliche Begrenzung die 
Krümmung des inneren Randes des Blattflügels von der Krüm- 
mung seines äusseren Randes in Abzug gebracht war. Da- 
durch ist die Lage der Seitentheile gegen die sie verbindende 
Mitte an der Vorrichtung eine andere gewesen als am Blatte; 
dadurch sind zweitens an der Vorrichtung alle Längslinien 
zwischen den äusseren Enden der vorderen und der hinteren 
Ränder von gleicher Länge gewesen und die Querlinien ein- 
ander parallel verlaufen, während am Blatte die dem inneren 
Rande des Blattflügels parallelen Längslinien nach aussen hin 
an Länge wachsen und die Querlinien nach aussen hin diver- 
giren; dadurch endlich ist es gekommen, dass die Höhe oder 
Dicke unserer Vorrichtungen in deren ganzer Ausdehnung die 
gleiche war, während jeder Blattflügel von der Mitte seines 
inneren Randes aus nach vorn und nach hinten, wie auch 
besonders nach aussen hin an Dieke abnimmt. Hervorzuheben 
ist aber, dass mit diesen Abweichungen nicht die mindeste 
Verschiedenheit in der Lage aller Stränge, Zellen, Axen u.s. w. 
zu den Blattflächen und zu der Mittelrippen-Axe, wie wir sie 
vorher unseren Untersuchungen zu Grunde legten, verknüpft 
ist. Sondern es divergiren nur die pfeilerartigen Seitennerven, 
die Reihen der Epidermiszellen und die Querreihen der Zellen 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 89 


des Blattflügel-Parenchyms in der Wirklichkeit nach aussen 
hin, statt einander parallel zu verlaufen, wie wir es vorher 
annahmen; und die so entstehenden Zwischenräume werden 
bei der Epidermis durch neu hinzutretende Zellenreihen, beim 
Parenchyme dadurch ausgefüllt, dass die dicht an der Mittel- 
rippe über einander gelagerten Zellenreihen sich nach aussen 
hin zum Theil neben einander schieben'). 

Wenn wir diese Abweichungen an unseren Vorrichtungen, 
der Natur derselben angemessen, beseitigen, wenn wir die 
Bleche passend biegen und zuschneiden, die Cylinder und Cy- 
linderreihen nach Bedürfniss nach aussen convex krümmen 
oder nach aussen hin divergiren lassen und im letzteren Falle 
die Zwischenräume mit unwirksamem feuchten Leiter oder mit 
neuen Cylindern und Cylinderreihen erfüllen, wenn wir die 
Höhe in der erforderlichen Weise wachsen lassen durch die 
Zunahme der unwirksamen Flüssigkeit allein oder auch durch 
die Vermehrung der über einander befindlichen metallischen 
Theile u. s. w., so führen uns die mühsamen Prüfungen, die 
genauer durchzugehen nicht lohnt, zu dem einfachen Resultate, 
dass Alles beim Alten bleibt. Weder erweisen sich die vor- 
her unzutreffend befundenen Vorrichtungen jetzt zutreffend für 
das Blatt hinsichts der elektromotorischen Oberfläche, noch 
stellt sich die Aehnlichkeit, welche die Oberflächen der Vor- 
richtungen Figg. 20 A, B und C mit der des Blattes darboten, 
jetzt irgend wesentlich gegen früher verringert heraus. Und 
das Letztere, das eigentlich allein sich ernstlich hätte bezwei- 
feln lassen, stimmt denn auch durchaus mit der Einsicht über- 
ein, die auf einem anderen, viel bequemeren Wege sich ge- 
winnen lässt. Da die elektromotorische Oberfläche, so genau 
wir dieselbe kennen lernten, am geschlossenen Blatte die 
gleiche ist wie am mehr oder weniger offenen Blatte, also un- 
verändert bleibt, während der Winkel, den die Blattflügel mit 
einander bilden, von c. 30° auf ec. 90° wächst, so kann es für 
dieselbe auch Nichts ausmachen, wenn wir jenen Winkel in 


1) Die Zahl der über einander gelagerten „inhaltlosen“ Zellen, 
wie Hr. Kurtz sie nennt, des Blattflügel-Parenchyms nimmt von der 
Mittelrippe zum äusseren Rande hin von 6—7 auf 3—4 ab. 


90 HA. Munk: 


Gedanken weiter von 90° auf 130° wachsen lassen, so dass 
das Blatt ebenso flach ausgebreitet wäre wie unsere Vorrich- 
tung. Wir finden ferner an jungen Blättern, die eben sich zu 
öffnen begonnen haben, die Mittelrippe noch gerade und den 
Blattflügel von überall gleicher Dicke; und erst mit dem wei- 
teren Wachsen der Blätter bilden sich die Krümmung der 
Mittelrippe und der Dickenunterschied am Blattflügel mehr 
und mehr aus, bis beide endlich am vollentwickelten grossen 
Blatte eine ansehnliche Grösse erlangt haben. Doch ist es so 
nur bei den hiesigen und den amerikanischen Dionaeen; bei 
den englischen Dionaeen ist die Mittelrippe immer viel weniger 
und auch an den grössten Blättern nur mässig gekrümmt, und 
der Diekenunterschied am Blattflügel ist selbst an den letzte- 
ren Blättern nur schwer zu constatiren. Dem entsprechend 
zeigt sich auch an unseren und den amerikanischen Dionaeen 
die Verlängerung des Blattflügels nach aussen hin, wenn das 
Blatt nicht noch sehr klein ist, regelmässig sehr deutlich und 
oft sogar in beträchtlicher Grösse, während bei den englischen 
Dionaeen nicht selten selbst das grosse Blatt mehr viereckig, 
an Gestalt wirklich unseren Vorrichtungen ähnlich sich dar- 
stellt"). Allen diesen Verschiedenheiten gegenüber ist aber 
unsere elektromotorische Oberfläche des Blattes an alten wie 
an jungen Blättern, bei hiesigen und amerikanischen wie bei 
englischen Dionaeen immer in gleicher Weise anzutrefien, und 
es können daher jene wechselnden Verhältnisse nicht von Ein- 
fluss auf die Oberfläche sein. 

Die Abweichungen, welche die Gestalt unserer Vorrich- 
tungen von der des Blattes darbot, hatten mithin allesammt 
Nichts zu besagen. Doch ist die Verfolgung derselben nicht 
so ganz unfruchtbar gewesen, wie es im Augenblicke scheinen 
kann, da sie uns in einem wesentlichen Punkte zu einer Be- 
richtigung unserer Anschauungen verhilft. Wir haben uns bei 
der Betrachtung unserer Vorrichtungen immer an die obere 
und die untere Fläche bis zu deren Rändern gehalten und 


1) S. Fig. 1, a und 5, ce und d. Vergl. auch Darwin, Ins. 
Pl. Fig. 12 p. 287. 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u,s.w. 91 


sind nie auf die Schmalseiten, die Querschnitte, wie sie 
heissen mögen, übergegangen, unter der stillschweigenden 
Voraussetzung, dass wir auch bei unseren Bestimmungen am 
Blatte immer auf den grossen Flächen der elektromotorisch 
wirksamen Partieen uns bewegt hatten und nie vor deren Quer- 
schnitte gekommen waren. Traf die Voraussetzung nicht zu, 
kam etwa der unwirksamen Schicht an den Rändern des Blattes 
eine solche Breite zu, dass wir bei gewissen äussersten Bestim- 
mungen am Blatte uns bereits vor den Querschnitten be- 
funden hatten, so konnte doch dadurch kein Fehler in 
unseren Ueberlegungen bedingt sein. Denn wie die 
Durchmusterung unserer Vorrichtungen lehrt, wären 
dadurch nur neue Richtungen der Kräfte in den Längs- 
linien vor den äusseren Querschnitten der Vorrich- 
tungen Figg. 18 und 19, in den Querlinien vor den vorderen und 
hinteren Querschnitten der Vorrichtungen Figg. 22, 23 und 24 
anzumerken gewesen; und alle diese Vorrichtungen stellten sich 
doch schon aus anderen Gründen sehr bald als unbrauchbar 
für unsere Zwecke heraus. Indem so nicht einmal in der ver- 
gleichenden Betrachtung der Flächen und der Querschnitte 
ein Hülfsmittel sich uns darbot, die Breite der unwirksamen 
Schicht au den Rändern des Blattes zu ermitteln, durften wir 
am so eher es uns ersparen, mit solcher Betrachtung die ohne- 
“ dies schwierige Darlegung noch unnütz zu erschweren. Jetzt 
ist es auch auf das Bestimmteste zu sagen, dass wir an den 
Rändern des Blattes nie vor die Querschnitte der elektromo- 
torisch wirksamen Partieen gekommen sind, da das Blattflügel- 
Parenchym an dem vorderen und dem hinteren Rande des 
Blattflügels bis an die Epidermis reicht, und da andererseits 
unsere Elektroden nie über dem Parenchyme des äusseren 
Randes allein oder auf den Randstacheln aufgesetzt waren. 
Aber, was nicht an den Rändern, das ist, wo man es von 
vorne herein am wenigsten erwarten mochte, gerade in der 
Mitte des Blattes der Fall. In Folge der eigenthümlichen In- 
sertion der Blattflügel an der Mittelrippe sind unsere Bestim- 
mungen an dieser, wie ohne Weiteres erhellt, da die Elektro- 
den immer die Mitte der unteren Fläche der Mittelrippe be- 


9 H. Munk: 


rührten, nicht an den inneren Rändern der Flächen der Blatt- 
flügel-Parenchyme oder doch dicht bei denselben, sondern ge- 
radezu vor den Querschnitten der Blattflügel-Parenchyme ge- 
macht‘). Dass somit unsere Betrachtung der Längsmittellinie 
an den Vorrichtungen für die Mittelrippe nicht zutrifft, ist 
nicht weiter von Belang. Denn wenn wir uns auch die Längs- 
mittellinien aller unserer Vorrichtungen, welche die unwirk- . 
same mittlere Lücke zeigten, vor den Querschnitten der me- 
tallischen Theile gelegen denken, so wird doch dadurch nir- 
gends eine Uebereinstimmung der elektromotorischen Ober- 
fläche der ‘Vorrichtung mit der des Blattes erzielt, wo wir die 
Uebereinstimmung sonst vermissten; und bei den Vorrichtun- 
gen Figg. 20 A, 5 und (' sehen wir dann nur in der Längs- 
mittellinie zu den vorn auf-, hinten absteigenden schwächeren 
Kräften, welche durch die Neigungsströme bedingt sind, mit 
gleichen Richtungen die stärkeren Kräfte des Querschnittes 
hinzutreten. Aber es ist doch eine besonders für die Folge 
werthvolle Einsicht, welche wir gewonnen haben, dass un- 
sere Bestimmungen an der Mittelrippe die Quer- 
schnitte, alle unsere anderen Bestimmungen die 
Flächen derBlattflügel-Parenchyme betreffen. 
Es ist also jetzt nach allen Seiten gesichert, dass die elek- 
tromotorische Oberfläche des Blattes aus den Kräften des Blatt- 
flügel-Parenchyms und der beiden Mittelrippen-Parenchyme re- 


1) Ohne die genauere Untersuchung des Blattes kann man sich 
von den in Betracht kommenden Verhältnissen auf folgende Weise 
eine richtige Vorstellung verschaffen. Man lege die beiden Hände 
mit gestreckten und adducirten Fingern,so an einander, dass die Ra- 
dialränder der Daumen sich berühren, ferner die Radialränder der 
Zeigefinger nach deren Spitzen hin einander immer näher kommen, 
aber nicht bis zur Berührung, endlich die Volarflächen der Hände 
etwa einen rechten Winkel mit einander bilden. Es sind dann die 
beiden Blattflügel durch die Hände ohne die Daumen repräsentirt 
und die Mittelrippe durch die beiden Daumen, die man nur noch 
unten verdickt sich zu denken hat und nach oben hin unter Ver- 
jüngung so verlängert, dass der Zwischenraum der Zeigefinger ver- 
deckt ist. Wo die Dorsalflächen beider Daumen zusammenstossen, 
würden unsere Elektroden die Mittelrippe. berührt haben. 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 93 


sultirt, aus Kräften, welche immer der langen Axe der Zellen 
parällel und gerade so angeordnet sind, wie die Kräfte der 
Cylindermassen in den seitlichen Hälften der Vorrichtung 
Fig. 204. Ob dabei auf die einzelne Parenchymzelle immer 
nur zwei elektromotorische Flächen entfallen oder mehr solche 
Flächen — natürlich in gerader Anzahl, mit anderen Worten, 
ob die einzelne Parenchymzelle hinsichts ihrer Kräfte einem 
einzigen Metalleylinder der Vorrichtung oder einer ganzen 
Gruppe solcher Cylinder entspricht, das hat sich nicht aus- 
machen lassen. Da die einzelnen Zellen klein genug sind gegen 
die Berührungsflächen des unwirksamen leitenden Bogens, um 
auch an die letztere Möglichkeit denken zu lassen, haben wir 
von Anfang an bei unserer Untersuchung beide Möglichkeiten 
im Auge behalten, und überall haben sich beide Möglichkeiten 
als gleich zulässig herausgestellt. Aber wir haben bisher 
immer einen Umstand vernachlässigt, der hier gerade eine be- 
sondere Beachtung verdient. Während nämlich die Cylinder 
der Vorrichtung Fig. 20 A sämmtlich von gleicher Grösse sind 
und nach allen Dimensionen der Vorrichtung regelmässig in 
Reihen geordnet sind, sehen wir die Zellen des Blattflügel- 
Parenchyms, an das wir uns zunächst allein halten wollen, von 
ungleicher Grösse und nur zu Querreihen regelmässig angeord- 
net, nach der Länge und der Dicke des Blattes aber mehr oder 
weniger unregelmässig aneinandergelagert. Tragen wir diesem 
Verhalten Rechnung und setzen wir jede einzelne Zelle mit 
denselben Kräften ausgestattet wie deneinzelnen Metallcylinder, 
so können sich die elektrischen Wirkungen zweier benachbar- 
ter Zellen, die verschiedenen Querreihen angehören, dort wo 
die Zellen aneinanderstossen, nicht so vollkommen aufheben, 
wie es bei den Cylindern unserer Vorrichtung der Fall ist; 
und deshalb kann auch, im Gegensatze zu dem, was für unsere 
Vorrichtung gültig ist, die elektromotorische Oberfläche der 
ganzen Zellenmasse nicht ausschliesslich aus den Spannungs- 
differenzen einerseits der freien Pole, andererseits der freien 
Mantelflächen der äussersten, an der Grenze der Zellenmasse ge. 
legenen Zellen resultiren. Da aber demnach, wenn nur zwei 
elektromotorische Flächen auf jede Zelle entfielen, die Ueber- 


94 H. Munk: 


legung und die Beobachtung verschiedene elektromotorische 
Oberflächen für das Blatt ergäben, so scheint es gar nicht an- 
ders sein zu können, als dass zahlreiche Metalleylinder der 
einzelnen Zelle entsprechen, für welchen Fall die unregelmäs- 
sige Anordnung der Zellen ohne jede Bedeutung ist. 

Indess bei näherer Betrachtung gestalten sich die Dinge 
anders. Denken wir uns in der 1., 3., 5. u.s. f. in jeder un- 
geraden Querreihe der Metalleylinder der Vorrichtung Fig. 20 A, 

- durch die Verlängerung des einen und die entsprechende Ver- 
kürzung des anderen Schlusscylinders, die Cylinder alle um 
!/, oder '/s oder !/, u.s.w. der Cylinder-Länge gegen die 
Cylinder der geraden Reihen verschoben, so werden dadurch 
allerdings neue und zwar je nach der Grösse der Verschiebung 
verschiedene Spannungen an der Oberfläche der Vorrichtung 
hinzutreten; aber diese Spannungen werden, weildie elektrischen 
Wirkungen der Cylinder je zweier benachbarter gerader resp. 
ungerader Reihen immer inmitten ihres Abstandes sich voll- 
kommen aufheben müssen, für die elektromotorische Oberfläche 
doch nicht mehr leisten, als dass in der Richtung von vorn 
nach hinten in regelmässiger Wiederkehr ein ganz kurzes, 
immer über die Breite zweier Querreihen ausgedehntes Schwan- 
ken oder Wogen der Spannungen, ein An- und Absteigen der- 
selben, neu auftritt. Ebenso wird es sein, wenn wir die Ver- 
schiebung, mit Uebergehung einer grösseren Anzahl von Quer- 
reihen, blos die 1., 4., 7. oder die 1., 5., 9. Querreihe u.s.w. 
betreffen lassen, nur dass dann das Wogen der Spannungen 
auch über die Breite von 3 resp. 4 und überhaupt entsprechend 
mehr Querreihen sich erstrecken wird. Und wenn wir die 1, 
Querreihe gegen die 2., die 2. gegen die 3. Querreihe u.s.f. in 
der Weise verschoben setzen, dass die Verschiebung jedesmal 
einen anderen Bruchtheil der Cylinder-Länge beträgt, bis dann 
die 4. oder die 5. oder eine spätere Querreihe wieder der 1. 
Querreihe entspricht und nunmehr Alles wie vorhin sich wie- 
derholt, u.s.w., so wird auch dadurch nur ein regelmässig 
wiederkehrendes Wogen der Spannungen der Oberfläche in 
einer Ausdehnung, welche dem Abstande der einander ent- 
sprechenden Querreihen gleichkommt, bewirkt sein. Daraus 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 95 


folgt dann, dass bei unseren Bestimmungen der elektromoto- 
rischen Oberfläche, wenn die Berührungsflächen des unwirksamen 
Bogens den Abstand der einander entsprechenden Querreihen 
an Grösse übertreffen, von allem jenen Wogen ebensowenig 
etwas zur Beobachtung kommen wird, wie sich an der Vor- 
richtung Fig. 20 A das Wogen der Spannungen über jedem ein- 
zelnen Cylinder bemerklich macht: die mittlere Spannung, 
welche durch die Verschiebung der Querreihen bedingt ist, 
wird an beiden Berührungsflächen dieselbe sein, und hervor- 
treten wird deshalb nur, gerade so wie bei der Vorrichtung 
Fig. 20 A, die Spannungsdifferenz, welche für die abgeleiteten 
Stellen durch den Strom gesetzt ist, der durch den umhüllenden 
feuchten Leiter von den freien Grundflächen zu den freien 
Mantelflächen der Cylinder fliesst). Nun wird freilich bei un- 
seren Zellen des Blattflügel-Parenchyms eine solche Regelmäs- 
sigkeit in der Verschiebung der Querreihen gegen einander, 
wie wir sie eben bei den Metallcylindern voraussetzten, nicht 
gefunden, und wir sehen sogar öfters schon innerhalb zweier 
benachbarter Querreihen, in Folge der ungleichen Länge der 
Zellen, die Verschiebungen mehrfach an Grösse wechseln; aber 
in dem Wechsel der Verschiebungen besteht doch auch eine 
Regelmässigkeit, da derselbe überall in ohngefähr gleicher 
Weise sich wiederholt. Daher ist, wenn die grossen, viele 
Querreihen umfassenden Berührungsflächen unseres unwirksa- 
men Bogens an zwei Stellen A und 2 des Blattes sich befinden, 
hinsichts der durch die Verschiebungen der Zellen bedingten 
mittleren Spannung eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit dafür 
vorhanden, dass dieselbe bei A ebensogross ist wie bei 5, 
oder dass sie doch bei A nur so wenig grösser oder kleiner 
ist als bei B, dass die dadurch bewirkte Spannungsdifferenz 
in die Fehlergrenzen unserer Bestimmungen fällt oder gar nicht 
in Betracht kommt gegenüber der anderen Spannungsdifferenz 
zwischen A und B, welche durch den Strom gesetzt ist, der 


1) Vergl. für diese Betrachtungen: Helmholtz, Pogg. Annal. 
Bd. 89. 1853. S. 371 f. — E. du Bois-Reymond, dies Archiv, 
1863, S. 581 ff. 


96 H. Munk: 


durch den die Zellenmasse umgebenden Leiter von den freien 
Polen zu den freien Mantelflächen der Zellen fliesst. Es schlies- 
sen somit die Verschiebungen der Zellen -Querreihen es gar 
nicht aus, dass nur zwei elektromotorische Flächen der einzel- 
nen Parenchymzelle zukommen, da auch für diesen Fall die 
elektromotorische Oberfläche unseres Blattes, so genau sie uns 
bekannt geworden ist, in der dargelegten Weise sich ableiten 
lässt. 

Was ich eben für die neben einander gelegenen Querreihen 
der Zellen des Blattflügel-Parenchyms entwickelt babe, das 
gilt natürlich dann erst recht für die in der Dicke des Blattes 
unter einander befindlichen Querreihen, da hier die durch die 
Zellen-Verschiebungen bedingten mittleren Spannungen an 
den Berührungsflächen, in Folge des wachsenden Abstandes 
der Querreihen von diesen Flächen, überhaupt kleiner als im 
ersten Falle sein müssen. Und dieselben Betrachtungen lassen 
sich endlich auch auf diejenigen Verschiebungen übertragen, 
welche sich an den Vertical- resp. Längsreihen der Zellen in 
den beiden Mittelrippen-Parenchymen zeigen, wenn esüberhaupt 
der Mühe werth erscheint, von diesen Verschiebungen Notiz 
zu nehmen. So dass es, Alles zusammengenommen, sich her- 
ausstellt, dass es trotz der Verschiedenheiten, welche die Oy- 
linderreihen der Vorrichtung und die Zellenreihen des Blattes 
in ihrer Anordnung darbieten, doch sehr wohl mit unserer Ab- 
leitung der elektromotorischen Oberfläche des Blattes sich ver- 
einen lässt, dass die einzelne Parenchymzelle hinsichts ihrer 
Kräfte dem einzelnen Metalleylinder entspricht. 

Wenn danach aber den beiden Möglichkeiten, welche in 
Frage stehen, auf Grund der vorliegenden Erfahrungen die 
gleiche Berechtigung zusteht, so können wir keinen Augenblick 
im Zweifel darüber sein, für welche Möglichkeit wir uns zu 
entscheiden haben. Eine zahlreiche Gruppe von elektromo- 
torischen Flächen-Paaren für die einzelne Zelle angenommen, 
würden die elektrischen Kräfte an gleichartige kleine Theile 
des Zelleninhaltes geknüpft sein, an Theile, von welchen wir 
noch gar Nichts wissen, und deren weitere physiologische Un- 
tersuchung Schwierigkeiten begegnen müsste, die vorläufig ganz 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 97 


unabsehbar sind. Dagegen haben wir an der Zelle selber einen 
morphologisch wohldefinirten Organismus, dessen Physiologie 
bereits in mancher Hinsicht uns bekannt ist, der der ferneren 
physiologischen Prüfung zugänglich ist, und an dem sich sogar 
die Frage nach der Quelle der elektrischen Kräfte auf begrün- 
dete Voraussetzungen hin sogleich weiter in Angriff nehmen 
liesse. Unter diesen Umständen müssen wir offenbar, jede 
unnöthige Hypothese vermeidend, der näher liegenden Mög- 
lichkeit den Vorzug geben und, so lange nicht Thatsachen da- 
gegen sprechen, die einzelne Parenchymzelle dem einzelnen 
Metalleylinder entsprechen lassen. 

Sosind wirzum natürlichen Abschlusse derlang ausgedehnten 
Untersuchung, deren Ergebniss jetzt mit zwei Worten zu sagen 
ist, gelangt und können die Frage, woher die elektromotorischen 
Wirkungen unseres Blattes stammen, einfach dahin beantworten: 
Die ohngefähr cylindrischen Zellen des Blattflügel-Parenchyms und 
der beiden Mittelrippen-Parenchyme sind mit Kräften ausgestattet der 
Art, dass die positive Elektricität von der Mitte der Zelle nach 
jedem der beiden Pole hingetrieben wird, die Pole positiv sind gegen 
die Mitte. 

Mit diesem Erfolge verlassen wir das ruhende Blatt 
und wenden uns dem Studium zunächst der Bewegungen des 
Blattes zu. 


$.5. Von der Mechanik der Reizbewegung des 
Dionaea-Blattes. 


Die Bewegungen unseres Blattes sind von zweierlei Art: 
Reizbewegungen und Resorptionsbewegungen. Die 
letzteren sind die selteneren und kommen für sich allein blos 
dann zur Beobachtung, wenn man irgendwo auf die obere 
Blattfläche, die sensiblen Haare ausgenommen, recht behutsam 
ein Stückchen Fleisch, Eiweiss u. dgl. auflegt. Alle sonstigen 
Bewegungen des Blattes sind Reizbewegungen. Ist nach der 
Reizbewegung ein Insekt, ein Stück Fleisch u. dgl. im Blatte 
verblieben, so schliesst sich an die Reizbewegung, doch deut- 
lich von derselben geschieden, die Resorptionsbewegung an. 


Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376, 7 


zum PETER VRNTERT, u, 
Ri, A 


98 ; H. Munk: 


Bei der Reizbewegung vollzieht sich die Schliessung des 
Blattes sehr rasch nach der Reizung, längstens etwa in einer 
Minute, und zwar so, dass — für die Beobachtung ohne be- 
sondere Hülfsmittel — die beiden Blattflügel gleichmässig und 
überhaupt alle Theile des Blattes gleichzeitig sich bewegen. 
Das geschlossene Blatt hat, gleichviel wo die Reizung erfolst 
ist, immer dieselbe bohnenartige Gestalt, indem die Blattflügel 
regelmässig nach aussen convex sind, und behält diese Form 
vom Momente der Schliessung an unverändert bei, bis es sich 
wieder öffnet. Die Oeffnung beginnt nach einigen Stunden und 
ist nach 24—36 Stunden vollendet: auch bei ihr bewegen sich 
die beiden Blattflügel gleichmässig und überhaupt alle Theile 
des Blattes gleichzeitig. Sobald die Oeffinung des Blattes be- 
gonnen hat, ist das Blatt 'wieder so, wie vorher, der Reizbe- 
wegung fähig, und selbst eine grosse Zahl von Reizbewegungen 
ist ohne merklichen Nachtheil für das Leben des Blattes'). 

Bei der Resorptionsbewegung erfolgt die Schliessung des 
Blattes sehr langsam: sie beginnt sichtlich erst einige Stunden, 
nachdem die Ursache gesetzt ist, und schreitet ganz allmählich 
vor, so dass sie erst nach 1—2 Tagen vollendet ist. Dabei be- 
wegen sich die beiden Blattflügel ungleichmässig und überhaupt 
alle Theile des Blattes ungleichzeitig, in Abhängigkeit von dem 
Orte des Angriffes, an welchem die Bewegung anhebt, und von 
welchem aus sie sich verbreitet. Die Gestalt des geschlossenen 
Blattes ist eine unregelmässige und vielfach verschiedene; je- 
denfalls wird stellenweise die Convexität der Blattflügel ver- 
misst, die dort abgeflacht oder sogar concav erscheinen. Erst 
nach mehreren Tagen beginnt die Oeffnung des Blattes, und sie 
bedarf wiederum mehrerer Tage zu ihrer Vollendung; auch 
hier erfolgen die Bewegungen der verschiedenen Theile des 
Blattes ungleichzeitig, indem die bei der Schliessung vorange- 
eilten Theile bei der Oefinung nachfolgen. Während das 
Blatt sich öffnet, ist dasselbe gar nicht oder nur sehr schwach 
der Reizbewegung wie der Resorptionsbewegung fähig. Oft 


1) Ich habe die für meine Versuche am besten geeigneten Blätter 
wohl 30 Male und öfter zur Schliessung gebracht und sich wieder 
öffnen sehen. 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 99 


schon mit der ersten, regelmässig aber mit der zweiten oder 
dritten Resorptionsbewegung geht das Blatt zu Grunde, indem 
es sich gar nicht mehr öffnet und abstirbt. 

Schliesst sich an die Reizbewegung die Resorptionsbewe- 
gung an, so verliert das Blatt einige Stunden nach der Schlies- 
sung die Bohnenform, indem die convexen Blattflügel stellen- 
weise sich abflachen oder sogar concav werden, und es nimmt 
so allmählich eine unregelmässige Gestalt an, besonders ab- 
weichend da, wo der Fremdkörper im Blatte gelegen ist. Tritt 
andererseits, nachdem die Resorptionsbewegung begonnen hat 
und eine Weile fortgeschritten ist, ein Anlass zur Reizbewe- 
gung hinzu, so vollführen diese Bewegung die bis dahin der 
Resorptionsbewegung fern gebliebenen Theile des Blattes so 
wie sonst, die vorher bewegten Theile aber nur unvollkommen; 
und indem später auch hier streckenweise die Convexität der 
Blattflügel sich verliert, wird die Gestalt des Blattes eine ebenso 
unregelmässige, wie beim vorigen Blatte. Beide Male verhält 
sich dann übrigens in der Folge das Blatt nicht anders, als 
wenn allein die Resorptionsbewegung vorläge. 

Hrn. Darwin verdanken wir die Kenntniss der beiden 
Bewegungsarten des Blattes, die vorher confundirt worden 
waren. Fast Alles, was ich anführte, hat schon Hr. Dar win 
hier und da zerstreut angemerkt, und er hat besonders auch 
die Verschiedenheit der Ursachen und der Geschwindigkeit von 
beiderlei Bewegungen betont‘). ‘Trotzdem hat Hr. Darwin 
wie mir scheinen will, die beiden Bewegungsarten noch nicht 
genügend auseinandergehalten. In nichts Anderem stimmen die- 
selben mit einander überein, als dass es zu einer Schliessung 
und Oeffnung des Blattes kommt, in einer Aehnlichkeit also, die 
in der beschränkten Bewegungssphäre des Blattes ihre aus- 
reichende Erklärung findet. Dagegen erweisen sie sich, wie ich 
sie eben zusammenhielt, in ihrem Auftreten ganz unabhängig 
von einander und durchaus verschieden in ihren Ursachen, ihrem 
Ablaufe, ihren Folgen für das Blatt. Man denke sich den Mus- 
kel eines lebenden Thieres ein Mal von einem Inductionsstrome 


1) Ins. Pl. p. 294—5; 298; 308—9; 365. 
77 


KUN W. his 


100 H. Munk: 


durchsetzt, ein anderes Mal mit einer die Muskelsubstanz an- 
greifenden Flüssigkeit bepinselt, und man hat in der Verschie- 
denheit der Muskelbewegungen ein Analogon für die Verschie- 
denheit der Blattbewegungen. Beide Male verkürzt sich der 
Muskel, denn seiner Constitution gemäss vermag er nur auf 
diese Weise den Angriif zu beantworten; aber, wie die Ur- 
sachen, so sind auch die Verkürzungen und die Folgen für den 
Muskelsehr verschiedene. Eine gewisse Aehnlichkeit werden die 
inneren Vorgänge im Muskel allerdings beide Male haben, weil 
eben dieselbe contractile Substanz mit ihren bestimmten Eigen- 
schaften beide Male angegriffen ist, aber bei dieser Aehnlich- 
keit werden doch die inneren Vorgänge noch weit auseinander- 
gehen. Ebenso werden die Vorgänge im Blatte bei beiderlei 
Bewegungen, soweit es sich um die betroffenen Gewebe, ge- 
wisse Veränderungen derselben und die Ausbreitung der Ver- 
änderungen handelt, dieselben sein können; im Uebrigen aber 
werden sie weit auseinanderfallen müssen, und zwar nicht etwa 
blos quantitativ, sondern auch qualitativ. Offenbar kommen bei 
der Reizbewegung nur die inneren Kräfte des Blattes zur Ent- 
wickelung, während bei der Resorptionsbewegung noch durch 
die Einwirkung von aussen chemische Veränderungen im Blatte 
gesetzt sind. Das geht schon zur Genüge aus der gegebenen 
Charakteristik der Bewegungen hervor, es ergiebt sich aber 
auch ausserdem noch daraus, dass Hr. Darwin bei der Re- 
sorptionsbewegung, nicht bei der Reizbewegung, an den Zellen 
der Scheibendrüsen die „Aggregation“ des Protoplasma’s gefun- 
den hat!). Und dasselbe lehren die eiektrischen Erscheinungen 
am Blatte: im Gegensatze zu dem, was wir oben (S. 41) für den 
Fall der Reizbewegung an dem geschlossenen und sich wieder 
öffnenden Blatte fanden, zeigt das mittelst der Resorptionsbe- 
wegung in der Schliessung begriffene, geschlossene oder sich 
wieder öffnende Blatt die elektromotorische Oberfläche ganz 
anders beschaffen als das normale offene Blatt, in unregelmäs- 
siger, vielfach wechselnder Weise abweichend, den Strom zwi- 
schen den Mittelrippen-Enden häufig umgekehrt. 


1) Ins. Pl. p. 299— 300. 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen.u.s.w. 101 


Nach Meyen!') und Hrn. Asa Gray’) sollen sich die 
Blattflügel unseres Dionaea-Blattes des Abends wie nach einer 
Reizung zusammenlegen und des Morgens wieder ausbreiten. 
Derartige Bewegungen habe ich nicht bemerkt, und ich möchte 
glauben, dass höchstens solche Lageveränderungen der Blatt- 
flügel statthaben, welche ohne feinere Hülfsmittel der Be- 
obachtung leicht übersehen werden. Sind solche periodischen 
oder Variations-Bewegungen wirklich vorhanden, so geben sie 
eine dritte Art der Bewegungen des Dionaea-Blattes ab, die 
der Reizbewegung näher steht als die Resorptionsbewegung. 

Die gesonderte Untersuchung, deren nach dem Gesagten 
die Resorptionsbewegung bedarf, habe ich nicht ausgeführt, und 
es ist in der vorliegenden Mittheilung überall, wo eine Bewe- 
gung des Blattes in Frage kommt, die Reizbewegung zu ver- 
stehen. Es ist demgemäss auch allein diese Bewegung, welche 
wir jetzt noch eingehender verfolgen wollen. 

Als reizbare Theile des Blattes sind allgemein bekannt die 
Haare der oberen Blattseite, welche in der Regel zu dreien auf 
jedem Blattflügel sich finden. Ihnen sollte auch nach Edwards 
und Curtis (s. o. S. 3; 10) ausschliesslich die Reizbarkeit zu- 
kommen, und Berührung oder Pressung des Blattes an jeder 
anderen Stelle sollte wirkungslos sein. Dagegen schreibt schon 
Hr. Asa Gray nur hauptsächlich den Haaren und daneben 
noch der Mittelrippe die Reizbarkeit zu’), und deutlich weist 
Hr. Darwin auf die Existenz noch anderer reizbarer Theile 
hin. „The surface of the blade,“ sagtHr. Darwin’), „is very 
slightly sensitive ; it may be freely and roughly handled, without 
any mouvement being caused. A leaf was scratched rather hard 
with a needle, but did not close; but when the triangular space 
between the three filaments on another leaf was similarly scrat- 
ched, the lobes closed. Theyalways closed when the blade or 
midrib was deeply pricked or cut.... The footstalk is not 


1) Neues System der Pflanzen-Physiologie. Bd. III. Berlin 1839. 
S.545. 

2) The Genera of the Plants of the United States. Vol. I. Boston 
1848. p. 196. 

3) Ins. Pl. p. 294—5. 


102 H. Munk: 


in the least sensitive; a pin may be driven through it, or it 
may be cut off, and no movement follows.“ In der That ist 
die Reizbarkeit sehr weit über das Blatt verbreitet, und ihr Sitz 
lässt sich folgendermassen genauer bestimmen. 

Abschneiden des Blattstieles führt, entsprechend Hrn. Dar- 
win’s letzten Worten, keine Bewegung am Blatte herbei. 
Ebenso erweist sich wirkungslos Durchschneiden des Zwischen- 
gliedes zwischen Blatt und Stiel, so lange nicht der eine Schee- 
renarm die untere Grenze der Blatt-Mittelrippe erreicht, wo 
unter der Epidermis der Oberseite die Verticalreihen der Par- 
enchymzellen auftreten. Es bleibt ferner die Bewegung des 
Blattes aus, wenn man die Randstacheln abträgt, oder wenn 
man zugleich mit diesen den grösseren Theil der Wülste, welche 
die Stacheln entlassen, und zwischen den Randstächeln einen 
ganz schmalen Saum des freien äusseren Randes des Blattes 
abschneidet. Sonst aber bringt jeder Schnitt durch die Dicke 
des Blattes, gleichviel wie lang und wo, das Blatt zur Schlies- 
sung. 

Leichter Druck auf das Blatt, wie er z. B. mit dem vor- 
sichtigen Anlegen der Thonspitzen verknüpft ist, führt nirgends 
die Reizbewegung herbei. Dagegen genügt an der oberen Seite 
der Mittelrippe und, in der Ausdehnung des Blattflügel-Par- 
enchyms, an der oberen Seite des Blattflügels überall schon 
ein etwas stärkerer Druck, um die Reizbewegung zu veran- 
lassen. An der übrigen Blatt-Oberfläche ist selbst ein viel 
stärkerer Druck ganz wirkungslos, und nur wenn der Druck 
so wenig localisirt bleibt, dass die Blattflügel sichtlich einan- 
der genähert oder von einander entfernt werden, kommt es 
dann zur Schliessung. Ritzt man mit der sehr spitzen Nadel 
oderdem sehr scharfen Messer die obere Blattflächeinnerhalb der 
angegebenen Grenzen, so geht das Blatt sofort zu; dagegen tritt 
keine Bewegungein, wenn man ebenso an derübrigen Blatt-Ober- 
fläche verfährt. Man muss von der unteren Seite des Blattflügels aus 
erst ziemlich tief und noch tiefer von der unteren Seite der 
Mittelrippe aus einstechen oder einschneiden, um Bewegung zu 
erzielen. Am äusseren Rande des Blattes und an den Rand- 
stacheln hat, wie gesagt, selbst Durchschneiden keinen Erfolg. 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 103 


Aus diesen Erfahrungen geht klar hervor, dass die obere 
Partie des Blattflügel-Parenchyms und das obere Mittelrippen- 
Parenchym oder wenigstens dessen obere Partie die reizbaren 
Theile des Blattes sind. Und damit lässt sich die Reizbarkeit 
der Haare in innige Verbindung bringen. Das Haar zeigt auf 
einem kurzen knopfförmigen Vorsprunge des oberen Blattflügel- 
Parenchyms, der die Basis abgiebt, einen ca. 1Omal längeren 
eonischen Aufsatz, der bis auf das Fehlen des Gefässbündels 
einem dünnen Randstachel gleicht. Das Gelenk an der ver- 
engten Stelle der Basis, von welchem Hr. Darwin spricht, 
und welches das Haar vor dem Abbrechen bei der Schliessung 
des Blattes schützen sollte'), existirt in der Wirklichkeit nicht; 
vielmehr ist nur am offenen Blatte die Basis des Haares steif, 
und sie erschlafft bei der Reizbewegung, so dass die vermin- 
derte Biegungsfestigkeit derselben dann das Umlegen des Haares 
gestattet. Man kann nun vom Haare mit einer feinen scharfen 
Scheere von der Spitze nach der Basis hin Stücke abschneiden, 
ohne die Reizbewegung hervorzurufen, bis man in die Nähe 
des knopfförmigen Vorsprunges des Blattflügel-Parenchyms ge- 
langt, dessen Berührung sofort das Blatt zum Schliessen bringt. 
Auch gelingt es sehr gut, die oberen Partieen des Haares für 
sich allein zu biegen, ohne dass das Blatt sich bewegt; wäh- 
rend jede ähnliche Biegung, jeder Zug, jede Zerrung des Haa- 
res, die einige Dehnung der Basis mit sich bringen, gleich- 
viel ob der Angriffspunkt an der Spitze oder tiefer gelegen ist, 
zur Schliessung des Blattes führen. Von einer Reizbarkeit des 
ganzen Haares und von einer Leitung der Reizung von seiner 
Spitze aus”) kann sonach nicht die Rede sein. Sondern zweifel- 
los ist allein reizbar auch am Haare, gerade so wie sonst, das 
obere Blattflügel-Parenchym, und esist nur dieReizung am Haare 
dadurch erleichtert, dass man auf die betreffende Partie des 
reizbaren Parenchyms mittelst eines langen, freilich biegsamen 
Hebelarmes zu wirken im Stande ist. 

Liess Hr. Dar win Wasser oder Zuckerlösung in Tropfen 
aus einiger Höhe auf die Haare fallen, so schlossen sich die 


1) Ins. Pl. p. 288. 2) Darwin, Ins. Pl. p. 288; 314. 


104 H. Munk.: 


Blätter nicht; und ebenso blieb die Bewegung aus, wenn er 
mit möglichst grosser Kraft durch eine feine spitze Röhre auf 
die Haare blies. In dieser Wirkungslosigkeit der Flüssigkeiten, 
wie Luft und Wasser, gegenüber den festen Körpern ist nach 
Hrn. Darwin eine Eigenartigkeit der Reizbarkeit der Haare 
zu erkennen, der gemäss die Pflanze auch nicht zwecklos von 
Regenschauern und Windstössen affieirt werde'). Ich kann Hrn. 
Dar win aber hier nicht beistimmen. Bei meinen zahlreichen 
Bespritzungen der Töpfe habe ich es wiederholt gesehen, dass 
ein Wassertropfen, der an einem noch nicht benetzten Blatte 
gerade auf ein Haar fiel, das Blatt sofort zum Schlusse brachte. 
Ebenso ist es mir beim Anlegen der Elektroden öfters vorge- 
kommen, dass ich, mit dem Munde dicht am Blatte, durch die 
lange zurückgehaltene und endlich kräftige Exspiration die 
Schliessung des Blattes herbeiführte. Freilich mag ich wohl 
andere Male ähnlich gespritzt und ähnlich exspirirt haben, ohne 
dass die Reizbewegung am Blatte eintrat. Aber das beweist 
eben nur, was wir schon vorher fanden, dass nicht jede Be- 
wegung des Haares gleichwerthig ist. Einmal, als das Blatt 
nach dem Auffallen des Tropfens sich schloss, habe ich es ge- 
radezu beobachtet, wie das Haar unter dem Tropfen sich bis 
zur Basis hin beträchtlich bog; und nur eine unbedeutendere 
Biegung, die nicht solche Dehnung an der Basis des Haares 
herbeiführte, wird in den Fällen stattgehabt haben, in welchen 
das Blatt in Ruhe blieb. Es stimmt damit sehr gut, was Hr. 
Darwin fand?) und ich bestätigen kann, dass Eintauchen des 
Blattes in Wasser von ca. 20° C. das eine Mal die Reizbewe- 
gung veranlasst, das andere Mal nicht. Wo die Reizbewegung 
eintritt, folgt sie unmittelbar auf das Eintauchen, und die wech- 
selnden Erfolge lassen sich ungezwungen damit erklären, dass 
die Biegungen der Haare beim Eintauchen bald grösser bald 
kleiner sind. 

Neben Zug und Druck giebt noch einen weiteren Reiz für 
das reizbare Parenchym die Wasserentziehung ab. Wenn Hr. 
Darwin Blätter in eine concentrirte Zuckerlösung brachte, 


1) Ins. Pl. p. 291—2; 365. 2) Ins. Pl. p. 292. 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 105 


so schlossen sich dieselben rasch; und zwar ergab sich als 
Angriffspunkt der Lösung das Haar, da der gleiche Erfolg nur 
zur Beobachtung kam, wenn es gelang, einen Tropfen behut- 
sam an das Haar zu bringen, nicht aber, wenn sonst die obere 
Blattfläche mit der Lösung bedeckt wurde'). Hr. Barleben 
und ich sahen regelmässig, mit nur zwei Ausnahmen unter zahl- 
reichen Fällen, die Blätter sich schliessen, wenn wir sie in 
Alkohol versenkten ; und ebenso kam es die beiden Male, dass 
ich den Versuch anstellte, bald zur Schliessung, wenn ich einen 
Tropfen eoncentrirter Kochsalzlösung von der Seite her an die 
Basis des Haares hatte heranfliessen lassen. Dass der Reiz an 
der Basis des Haares wirksamer sich darstellt, als anderswo, 
bietet für das Verständniss keine Schwierigkeiten, da die Par- 
enchymzellen an der ersteren Stelle, in Folge der geringeren 
Dicke der Epidermis, dem Angriffe zugänglicher sind. Aber 
nach dem Vorausgeschickten könnten die Versuche überhaupt 
nicht eindeutig genug erscheinen. Ich will mich deshalb hier 
besonders auf die folgenden Erfahrungen stützen. Als ich im 
sehr trockenen Hochsommer v. J. nach einer kurzen Unter- 
brechung die Versuche wieder aufnahm, schlossen sich regel- 
mässig in meinem Arbeitszimmer alle Blätter meiner Töpfe, 
sobald ich von den grossen, mit feuchtem Moose gefüllten Ge- 


ässen, in welchen die Töpfe zu mir geschafft waren, die über- 


u 


gestülpten Glasglocken entfernte. Die Erwägung des Uebel- 
standes, der die beabsichtigte Untersuchung geradezu verhin- 
derte, ergab, dass nur die zur Zeit sehr grosse Verdunstung die 
Ursache der Erscheinung sein konnte: und in der That blieb 
die Erscheinung aus, nachdem ich durch Begiessen des Fuss- 
bodens den Gehalt der Zimmerluft an Wasserdampf wesentlich 
vergrössert hatte. Als ich später zur Controle das Begiessen 
des Fussbodens ausgesetzt hatte, trat die Erscheinung sogleich 
wieder ein. 

Ich fand bei der Gelegenheit noch ein zweites Hülfsmittel, 
dem Uebelstande zu begegnen. Wenn ich nämlich die Glas- 
glocke nicht auf ein Mal entfernte, sondern nach und nach in 


1)& Ins. ‚P1.p. 298; 


106 H. Munk: 


Absätzen von der Unterlage abhob, so dass erst etwa nach 30 
Minuten der Topf frei an der Luft stand, so kam es gleichfalls 
nicht zur Schliessung der Blätter. Für die Reizung ist danach 
offenbar nicht blos die absolute Grösse des reizenden Eingriffes 
von Bedeutung, sondern auch die Geschwindigkeit, mit welcher 
der Eingriff in der gegebenen Grösse erfolgt. Und dafür hatte 
ich auch schon andere Belege in Händen. Wenn man für die 
elektrische Prüfung der oberen Blattfläche die Thonspitze eini- 
germassen rasch auf diese Fläche aufsetzt, so geht das Blatt 
in der Regel zu, noch ehe es zu einer guten Anlagerung der 
Thonspitze gekommen ist. Dagegen lässt sich, wenn man recht 
behutsam die Thonspitze heranbringt, nicht blos die gute An- 
lagerung erzielen, sondern auch ganz allmählich der Druck mit- 
telst der Thonspitze noch ansehnlich steigern, ohne dass eine 
Bewegung des Blattes hervorgerufen wird. Wiederum hat eine 
verhältnissmässig rasche Verschiebung der Thonspitze auf der 
oberen Blattfläche, selbst bei nur eben genügender Anlagerung, 
stets die Reizbewegung zur Folge, während die langsame Ver- 
schiebung, selbst wenn sie ausgedehnter ist, das Blatt in Ruhe 
lässt. Endlich kann man mit sicherer Hand ein Haar, das man 
etwa in der Mitte seiner Länge berührt, ganz allmählich sehr 
beträchtlich biegen, ohne dass eine Spur von Bewegung am 
Blatte eintritt, während die rasche Biegung des Haares, auch 
bei geringerer Grösse, unfehlbar die Schliessung des Blattes 
erzielt. 

Nach alledem sind die oberen Partieen des Blatt- 
flügel-Parenchyms und das obere Mittelrippen- 
Parenchym oder wenigstens dessen obere Partie 
die reizbaren Theile des Blattes und werden ge- 
reizt, wenn ein mechanischer Angriff oder eine 
Wasserentziehung von gewisser Grösse und ge- 
wisser Geschwindigkeit dieselben trifft. Ihre Reiz- 
barkeit habe ich abhängig gefunden von der Lebensfülle des 
Blattes, von der Temperatur und von der Belichtung. Die im 
Frühjahre und gegen Anfang des Winters ausgebildeten kleinen 
Blätter bedurften eines grösseren Reizes, um zur Schliessung 
veranlasst zu werden, als die vollentwickelten Blätter des 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u. s. w. 107 


Sommers und des Herbstes; und die letzteren waren wiederum, 
wenn sie einige Zeit einer niederen Temperatur ausgesetzt oder 
nahezu im Dunkeln gehalten waren, auffällig weniger reizbar 
als bei höherer Temperatur resp. guter Belichtung. Nach Hrn. 
Darwin’s Erfahrungen würde die Reizbarkeit auch gesteigert 
sein durch die Resorption thierischer Substanz!) und herabge- 
setzt durch die Einwirkung von Schwefeläther - Dämpfen?). 
Nach andauernder Erschütterung der Töpfe, wie sie der Trans- 
port derselben (zu Fuss oder zu Wagen) vom Warmbause in 
meine ziemlich weit entfernte Wohnung mitsich brachte, habe ich 
die Reizbarkeit nicht merklich verändert gesehen. Dass am ab- 
geschnittenen Blatte bei 25° C. die Reizbarkeit in etwa 2 Stun- 
den erloschen ist, habe ich schon oben erwähnt; versenkt man 
das Blatt in kochendes Wasser, so ist sie innerhalb weniger 
Secunden vernichtet. 

Im Falle niederer Reizbarkeit des Blattes, besonders an 
Blättern, welcheniederen Temperaturen ausgesetzt oder schlecht 
entwickelt resp. heruntergekommen waren, habe ich übrigens 
auch eine Reizbewegung beobachtet, welche nicht zur völligen 
Schliessung des Blattes führt: die Blattflügel bleiben dann auf 
halbem Wege stehen, die Schliessungsbewegung erlischt, nachdem 
die Blattflügel um eine kleinere oder grössere Strecke einander 
näher gekommensind. Solche unvollkommenen Schlies- 
sungen sind mir, wenn auch an sich öfters, doch im Verhält- 
niss zu den völligen Schliessungen im Ganzen nur selten vor- 
gekommen’). Es versteht sich, dass sie durch eine, bei der be- 
stehenden Reizbarkeit zu schwache Reizung bedingt sind, und 
es ist nur eine Wiederholung der Reizung erforderlich, damit 
die völlige Schliessung eintritt. Von diesen Ausnahmefällen 


1) Ins. Pl. p. 297—8; 364. Indess ist der Versuch S. 297—8 
durchaus nicht beweisend, da bei der Entfernung des Eiweissstückchens 
aus dem unvollkommen geschlossenen Blattende sehr wohl eine me- 
chanische Reizung der oberen Blattfläche stattgehabt haben kann. 

2) Ins. Pl. p. 304—5. 

3) Auch Hr. Sanderson hat, wie es scheint, unvollkommene 
Schliessungen gesehen und hält sie irrthümlich für den normalen 
Vorgang (Nat. p. 106. — Vgl. dazu Darwin, Ins. Pl. p. 311—2.). 


108 H. Munk: 


sehen wir für gewöhnlich ab und lassen, wo Nichts besonders 
bemerkt ist, unsere Reizbewegung auch ferner mit der völligen 
Schliessung verbunden sein. 

Wir gehen nunmehr an die genauere Betrachtung der Reiz- 
bewegung selbst. 

Nach Hrn. Darwin erfolgt die Schliessung des Blattes 
in der Weise, dass die fast einen rechten Winkel mit einander 
bildenden Blattflügel sich einander nähern, indem sie sich zu- 
gleich in ihrer ganzen Breite etwas einwärts krümmen, und sich 
endlich mit ihren Rändern an einander legen; die Randstacheln 
kreuzen sich dabei in Folge der Einwärtskrümmung der Blatt- 
flügel, ohne dass sie selber gekrümmt werden, und der Winkel 
zwischen Blatt und Blattstiel bleibt unverändert'!). Diese im 
Ganzen zutreffende Schilderung der Reizbewegung bedarf je- 
doch noch der Ergänzung.?’) Am ganz offenen Blatte ist der 
Blattflügel, ohne die Randstacheln betrachtet, nach Art einer 
flachen Schale nach unten concav, und die Randstacheln stellen 
von der Mitte ihrer wulstigen Basis an steife gerade Verlän- 
gerungen seines äusseren Randes vor, derart dass gar nicht 
von einer Auswärtskrümmung und höchstens von einer spur- 
weisen Einwärtskrümmung der Randstacheln die Rede sein 
kann. Denkt man sich vom Blattflügel einen Querschnitt her- 
gestellt, der einen Randstachel unversehrt enthielte, so würde 
die lange Axe des Querschnittes im Randstachel-Wulste ihre 
Krümmung verlieren und weiter geradlinig als Axe des Rand- 
stachels sich fortsetzen, oder es würde wenigstens das äussereEnde 
der Axe des Blattflügel-Querschnittes mit der Randstachel-Axe 
einen nach oben concaven Winkel bilden, der nur wenig kleiner 
als 180° wäre. Bei der Schliessung gleicht sich nun, ohne dass 
eine merkliche Veränderung der Dimensionen des Blattflügels 
eintritt, die Concavität des Blattflügels mehr und mehr ab und 


1) Ins. Pl. p. 305-6; 311; 313; 317; 356. 

2) Vel. Figg. 27 und 28 (Taf. 1). In Fig. 27 vom offenen, in 
Fig. 28 vom geschlossenen Blatte ist jedes Mal unter a ein Quer- 
schnitt, etwa in der Mitte der Länge des Blattes geführt, unter 5 ein 
Längsschnitt schematisch dargestellt. Ueber die inneren Linien und 
Punkte s. 0. S. 72 Anm. 


r 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 109 


geht dann in eine zunehmende und schliesslich die an- 
fängliche Concavität übertreffende Convexität nach unten 
über, so dass die Blattflügel des geschlossenen Blattes 
wiederum sich vergleichen lassen flachen Schalen, die 
jedoch jetzt etwas weniger flach sind und ihre Höhlung 
einander zukehren. Zugleich aber legen sich die Rand- 
stacheln an ihrer wulstigen Basis mehr und mehr nach der 
oberen Blattflügel-Fläche hin um, so dass sie am geschlossenen 
Blatte beträchtlich dieser Fläche zugeneigt erscheinen und ihre 
nunmehrige Lage, ausser der neuen Form der Blattflügel, auch 
noch ihrer eigenen Neigung verdanken. Denkt man sich am 
geschlossenen Blatte wiederum einen solchen Querschnitt, wie 
vorhin, vom Blattflügel hergestellt, so bildet jetzt das äussere 
Ende der gekrümmten Axe des Blattflügel- Querschnittes mit 
der geradlinigen Randstachel-Axe einen nach oben concaven 
Winkel, der nur etwa 120° beträgt. Hinzukommt dann noch 
als weitere Veränderung bei der Schliessung, dass die inneren 
Blattflügel-Enden sich einander nähern, so dass der Winkel, 
welchen dieselben mit einander bilden, von ca. 90° auf ca. 30° 
sich verkleinert. Sonach treten für die Schliessung des Blattes 
dreierlei Einzelbewegungen zusammen: 1. die Annäherung der 
inneren Blattflügel-Enden, 2. die Formveränderung der Blatt- 
flügel, 3. die Neigung der Randstacheln. 

Wenn das geschlossene Blatt sich wieder öffnet, erfolgen 
dieselben Einzelbewegungen, wie bei der Schliessung des Blat- 
tes, nur in umgekehrter Richtung und mit ausnehmender Lang- 
samkeit. Eben dieser Langsamkeit wegen thut man gut daran, 
die Einzelbewegungen zuerst am sich öffnenden Blatte zu ver- 
folgen; ist man hier über sie in’s Klare gekommen, so findet 
man sie bei der unvollkommenen wie bei der vollkommenen 
Schliessung des Blattes regelmässig wieder, In allen Fällen 
zeigt sich dabei, dass die dreierlei Einzelbewegungen durchaus 
gleichzeitig statthaben und hinsichts ihrer Grösse in einer con- 
stanten Beziehung zu einander stehen, indem einem gegebenen 
Oeffnungswinkel des Blattes immer eine bestimmte Form der 
Blattflügel und eine bestimmte Neigung der Randstacheln zu- 
gehört. 


110 H. Munk: 


Der Hauptsitz der so gearteten Reizbewegung ist nach 
Hrn. Dar win die Mittelrippe (Ins. Pl. p. 293) oder nahe der 
Mittelrippe (p. 305; 356); aber er ist nicht auf diesen Theil be- 
schränkt. Da die ziemlich dicken Blattflügel sich in ihrer gan- 
zen Breite einwärts krümmen ohne Spur von Runzelung an 
ihrer oberen Fläche, scheinen die oberflächlichen Zellschichten 
an der ganzen oberen Fläche sich contrahiren zu müssen (p.305; 
316—7; 317). Doch ist der Hauptsitz der Bewegung offenbar 
die dicke Zellenmasse, welche über dem centralen Gefässbün- 
del in der Mittelrippe liest (p. 317; 356). Sobald die Contra- 
etion der oberen Fläche abnimmt, beginnen die Blattflügel sich 
zu trennen oder auszubreiten in Folge einer mechanischen 
Wirkung, welche die stets in einem Spannungszustande befind- 
lichen mehrfachen Zellschichten an der unteren Blattfläche aus- 
üben, wahrscheinlich mit Hülfe frischer Flüssigkeit, die in die 
Zellen hinein angezogen wird (p. 319—20). Die Contraction 
an der oberen Blattfläche hat Hr. Darwin an passend vor- 
gerichteten Blättern unmittelbar constatirt: der Abstand zweier 
Punkte, welche in einer zur Mittelrippen-Axe senkrechten 
Linie gelegen waren, verringerte sich bei der Schliessung, 
wenn die Punkte an der Mittelrippe und zwar etwas zur Seite 
ihrer Axe gelegen waren, von 0'431 Mm. auf 0'3810 Mm., und 
wenn die Punkte am Blattflügel sich befanden, von 2'032 Mm. 
auf ca. 1'905 Mm. (p. 317—8). 

Wie man aus dieser Zusammenstellung aller hierhergehö- 
rigen Angaben von Hrn. Darwin ersieht, würde nach ihm die 
Contraction der oberen Zellschichten des Blattes die Schlies- 
sung, die Fortdauer der Contraction — man kann sagen, der 
Tetanus!) — derselben Zellschichten das Geschlossenbleiben, 
endlich die Streckung der unteren Zellschichten die Oeffnung 


1) Hr. Darwin bemerkt auch (Ins. Pl.p.319) in Bezug darauf, dass 
nach Reizung der Haare mittelst Zuckerlösung die Blätter länger ge- 
schlossen bleiben, als nach mechanischer Reizung: „this, I presume, 
is due to their having been strongly affected through exosmose, so that 
they continue for some time to transmit a motor impulse 
to the upper surface of the leaf.* 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 111 


des Blattes bedingen. Aber diese Vorstellungen lassen sich 
insgesammt nicht halten. 

Was zunächst die Oefinung des Blattes betrifft, so können 
bei ihr unmöglich die unteren Zellschichten sich so activ und 
die oberen Zellschichten sich passiv verhalten, schon deshalb 
nicht, weil dann die Einwärtskrümmung der Blattflügel gar 
nicht verringert und aufgehoben werden würde; dafür muss ja 
die Ausdehnung der oberen Blattfläche mehr sich vergrössern 
als die der unteren Blattfläche, und das kann die Dehnung der 
oberen Zellschichten durch die unteren nicht leisten. Die Er- 
fahrung, auf welche Hr. Dar win sich hier stützt, dass durch 
rasches Eintauchen offener Blätter in kochendes Wasser die 
Divergenz der Blattflügel etwas zunimmt, der Oeffnungswinkel 
des Blattes z. B. von S0° auf 90° wächst!), ist denn auch an- 
ders, als er will, zu deuten: es wirkt dabei nicht mechanisch 
der Spannungszustand der unteren Zellen, sobald die oberen 
Zellen getödtet sind und ihre Oontractilität verloren haben'), 
sondern die unteren wie die oberen Zellen werden beide ge- 
tödtet und verlieren ihre Turgescenz, und die neue Stellung 
der Blattflügel entspricht nur der Erschlaffung aller Gewebe. 
Auch offene Blätter, die am Topfe abgestorben sind oder aus 
unbekannten Gründen ihre Reizbarkeit und ihre Turgescenz 
verloren haben, bieten einen grösseren Oeffnungswinkel der 
Blattflügel dar, als die reizbaren, turgescenten Blätter. Ge- 
schlossene oder halbgeschlossene Blätter behalten beim Ab- 
sterben, am Topfe wie im kochenden Wasser, die Einwärts- 
krümmung der Blattflügel bei, doch wird auch bei ihnen der 
Oeffnungswinkel der Blattflügel etwas vergrössert. Nur sehr 
selten habe ich bei Blättern, die geschlossen abgestorben wa- 
ren, die Blattflügel nicht ein wenig divergiren sehen, aber auch 
da war die Biegungsfestigkeit der Mittelrippen -Gelenke deut- 
lich verringert. 

Ebensowenig kann die Schliessung auf einer Contraction 
und das Geschlossenbleiben auf einem Tetanus der oberen Zell- 
schichten beruhen. Weshalb die constatirte Verkürzung gerade 


1) Ins. Pl. p. 319—20. 


112 H. Munk: 


eine Contraction sei, darüber hat sich Hr. Darwin selber gar 
nicht geäussert, und er stützt sich hier vermuthlich auf Hrn. 
Sanderson, der sich ausgedehnt darüber verbreitet hat. „I 
shall be able to show“, sagt Hr. Sanderson in seinem Vor- 
trage in der R. Inst., „that the resemblance between 
the contraction of muscle and that of the leafis 
so wonderfully complete that the further we pursue the 
inquiry the more striking does it appear. Whether we bring the 
microscope to bear on the structural changes which accompany 
contraction, or employ still more delicate instruments of re- 
search ...., in order to determine and measure the electrical 
changes which take place in connection with it, we find that 
the two proce®es correspond in every essential 
particular so closely, that we can have no doubt 
oftheir identity.“') So bestimmt aber dieser Ausspruch 
lautet, so sicher ist er unrichtig. 

Hr. Sanderson legt besonderes Gewicht auf die Ueber- 
einstimmung der elektrischen Erscheinungen am Muskel und 
am Blatte, vor Allem darauf, dass beide Male die negative 
Schwankung des Ruhestromes bei der Verkürzung auftritt. Ich 
werde dem entgegen nachher darthun, dass bei der Schliessung 
des Blattes andere Veränderungen des Ruhestromes sich zeigen, 
als bei der Verkürzung des Muskels?). Aber selbst wenn dem 
nicht so wäre, könnte man Hrn. Sanderson nicht Recht ge- 
ben; denn Nerv und Muskel stimmen in ihren elektrischen 
Erscheinungen noch viel mehr überein, als Muskel und Blatt, 
und doch wird Niemand auf Grund dieser Uebereinstimmung die 
beiden Vorgänge der Nerven-und der Muskelthätigkeit für iden- 
tisch ausgeben mögen. Was weiter das Mikroskop Correspondi- 
rendes am Muskel und am Blatte aufdecken soll, beschränkt sich 
nach Hrn. Sanderson’s Ausführung darauf, dass, wie bei 
der Verkürzung des Muskels jede kleinste Faser an der Form- 
veränderung participirt, dasselbe bei der Verkürzung des Blat- 
tes vom Protoplasma der Zellen der contractilen Organe gel- 
ten soll. Dabei beruft sich Hr. Sanderson auf die Aggre- 


1) Nat. p. 127. 2) S. unten $. 6. 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 113 


gation, welche Hr. Darwin unter Umständen an Zellen der 
"Drosera beobachtet hat, und eine solche Aggregation tritt an 
den Dionaea-Zellen, nach Hrn. Darwin’s und meinen Er- 
fahrungen, bei der Reizbewegung sicher gar nicht ein. Träte 
sie aber auch ein, die Uebereinstimmung zwischen Muskel und 
Blatt liesse sich dann doch im günstigsten Falle blos darin 
finden, dass die Veränderung des Ganzen resultirt aus der 
gleichartigen Veränderung aller das Ganze constituirenden 
gleichwerthigen Theile, und darum würden die Muskel- und 
die Blatt-Verkürzung nicht mehr identisch sein, als z. B. die 
Muskel- und die Kautschuk-Verkürzung. Was Hr. Sander- 
son für die Identität von Muskel- und Blatt-Verkürzung bei- 
gebracht hat, ist demnach Alles einfach zurückzuweisen. 
Andererseits, wenn der Muskel sich verkürzt, nimmt er 
an Breite und Dicke zu: die sich verkürzenden Theile des 
Blattes dagegen verlieren zugleich an Länge und Breite, wie 
es die Schalenform der Flügel des geschlossenen Blattes er- 
weist; und dass auch ihre dritte Dimension sich verkleinert, 
ist von vorne herein mindestens ebenso wahrscheinlich, wie 
dass dieselbe sich vergrössert. Der verkürzte Muskel besitzt 
ferner eine geringere Rlastieität als der unverkürzte: versucht 
man dagegen am geschlossenen Blatte, durch Zug an den 
Randstacheln, die Blattflügel von einander zu entfernen oder 
ihre Krümmung aufzuheben, so brechen") dieselben eher wie 
Glas, als dass sie der Rede werth nachgeben. Nach kurzem 
mechanischen Angriffe tritt wohl unter Umständen eine län- 
gere Zeit währende Verkürzung des Muskels ein, aber deren 
Dauer zählt doch nach Minuten: das Blatt bleibt nach dem 
gleichen Angriffe Stunden hindurch geschlossen. Selbst bei an- 
dauernder Reizung des Muskels lässt die Verkürzung desselben 
in Folge der Ermüdung nach: von. solcher Ermüdung zeigt 
das Blatt in vielen Stunden keine Spur. Endlich, lässt die 
Verkürzung des Muskels nach, so vollzieht sich seine Ver- 
längerung sehr bald bis zu der der Belastung entsprechenden 
Grösse: am Blatte erfordert die Oeffnung 24 Stunden und 


1) Vgl. Darwin, Ins. Pl. p. 307-8. 
Beichert's u. u Bois-Reymond’s Archiv 1376. 8 


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114 H. Munk: 


mehr, und nicht nur das Gewicht der Blattflügel, sondern auch 
weitere Belastung ist ohne sichtlichen Einfluss auf ihren 
Verlauf. Soweit also zur Zeit die Muskel- und die Blatt-Ver- 
kürzung sich überhaupt vergleichen lassen, soweit weichen sie 
in allen Stücken von einander ab. 

Bei der Reizbewegung des Dionaea-Blattes hat sich nur 
dasselbe wiederholt, was vorher die Reizbewegungen mehr zu- 
gänglicher Pflanzen betraf, dass man zunächst auf die Annahme 
einer Contraction nach Art derjenigen des thierischen Muskels 
verfiel; und die Verführung war allerdings bei der Dionaea 
um so grösser, als zugleich elektrische Erscheinungen wie am 
Muskel zur Beobachtung kamen und die Bewegung an einem 
Organe sich vollzog, dem überdies die thierische Verdauungs- 
fähigkeit zuerkannt war. Aber, wie wir besonders durch Hrn. 
Brücke’s') und Hrn. Pfeffer’s?) Untersuchungen wissen, 
sind es Vorgänge eigener Art, die mit der Muskelbewegung 
Nichts gemein haben, welche den Reizbewegungen der Blatt- 
stiele der Mimosa und der Staubfäden der Cynareen zu Grunde 
liegen ; und nur dieselben Vorgänge sind es, welche an unse- 
rem Dionaea-Blatte wiederkehren. Setzt man den Gelenkwulst 
des primären Blattstieles der Mimosa nach Art unseres Blatt- 
flügels flächenhaft ausgebreitet und mit dessen eigenthümlicher 
Nervatur an der Stelle seines Holzkörpers ausgestattet, so er- 
hält man in physiologischer Hinsicht unseren Blattflügel, nur 
mit der reizbaren Seite nach unten gekehrt. Und man gewinnt 
weiter im Wesentlichen unser Blatt, wenn man zwei derartig 
veränderte Gelenkwülste unter rechtem Winkel mit einander 
so verbunden denkt, dass das reizbare Parenchym der Wülste 
ununterbrochen über das Verbindungsstück hinwegzieht. 

Trägt man an unserem offenen oder geschlossenen Blatte 
mit raschem Scheerenschnitte einen Blattflügel nahe der Mittel- 
rippe ab, so schlägt der andere Blattflügel beträchtlich über 
die Stellung hinaus?), welche er am unversehrten geschlossenen 
Blatte zeigt, so dass der Winkel, welchen die inneren Blatt- 


1) Dies Archiv, 1848, S. 434 ff. 
2) Physiologische Untersuchungen. Leipzig 1873. 
3) Vgl. Darwin, Ins. Pl. p. 306. 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 115 


flügel-Enden mit einander bilden, kleiner als sonst wird, und 
nimmt zugleich eine wesentlich grössere Concavität nach oben 
an oder rollt sich sogar von den Rändern her etwas spiralig ein; 
auch die Neigung der Randstacheln gegen die obere Blattfläche 
wird grösser, als am normalen geschlossenen Blatte.e Manch- 
mal geht das so verstümmelte Blatt zu Grunde; wenn nicht, 
so macht der erhaltene Blattflügel dann ebensolche Verände- 
rungen langsam durch, wie wenn das Blatt unversehrt sich 
öffnete, und hat nach 1—2 Tagen wieder die Stellung und 
Form, welche man sonst am nicht ganz offenen Blatte findet. 
Wird jetzt ein Haar des Blattflügels gezerrt, so tritt die näm- 
liche Bewegung des Blattflügels ein, wie zuerst, als der andere 
Blattflügel abgetragen wurde. Schneidet man, statt eines gan- 
zen, nur einen halber Blattflügel ab, so macht man dieselben 
Erfahrungen hinsichts des Ueberschlagens, desAufrollens u. s. w. 
des unversehrten Blattflügels, aber natürlich nur in der Gegend, 
wo der zweite Blattflügel fehlt. Auch wenn man blos an einem 
unversehrten Blatte den einen Blattflügel zur Zeit der Reizung 
fixirt, so dass nur der andere Blattflügel sich bewegen kann, 
macht der letztere die in Rede stehenden Veränderungen durch 
und rollt sich dabei gewissermassen in die Höhlung des Blat- 
tes hinein. Ja, man findet die über das normale Mass hinaus- 
gehenden Schliessungsbewegungen des einen oder des anderen 
Blattflügels, wenigstens in den Anfängen, schon dann immer 
wieder, wenn man das zur mechanischen Reizung verwandte 
Instrument nicht rasch genug entfernt, so dass die regelmässi- 
gen Bewegungen der Blattflügel gestört sind. Dass der abge- 
schnittene ganze oder halbe Blattflügel und überhaupt jedes aus- 
geschnittene Stück des Blattflügels gleichfalls übermässig verän- 
dert erscheinen, verstehtsich nunmehr von selbst: sie zeigen eine 
grössere Concavität nach oben und, wenn die Randstacheln 
erhalten sind, eine grössere Neigung der Randstacheln, als sie 
den betreffenden Bruchstücken am unversehrten geschlossenen 
Blatte zugekommen wären. Durch neue und nach beliebigen 
Pausen wiederholte Reizung tritt keine weitere Veränderung 
der Bruchstücke ein. Aber besonders bemerkenswerth ist, dass 


an diesen Bruchstücken, wie überhaupt überall, wo eine über- 
8* 


116 H. Munk: 


mässige Schliessungsbewegung erfolgt ist, das Uebermass der 
Veränderung des Blattflügels oder Blattflügelstückes sich me- 
chanisch gut ausgleichen lässt: unter langsamer Dehnung der 
oberen Fläche lassen sich die Theile immer ganz leicht bis nahe 


zu der Form zurückführen, die ihnen am normal geschlossenen 


Blatte zustehen würde, und schwerer bis etwasüber diese Form 
hinaus dem offenen Blatte nähern; dann erst brechen sie gerade 
so, wie die Blattflügel des normal geschlossenen Blattes (s. 
oben S. 113). Es geht aus diesen Erfahrungen klar hervor, dass 
die Reizung für das Blatt einen neuen Gleichgewichtszustand 
herbeiführt, der durch eine wesentliche Erschlaffung und Ver- 
kürzung der oberen Schichten charakterisirt ist, und dass das 
Blatt auf dem Uebergange zu seiner neuen, dem neuen Gleich- 
gewichtszustande entsprechenden Form durch das Zusammen- 
treffen der Blattflügelränder etwa halbweges gehemmt wird; so 
dass die Schliessung des Blattes auf Reizung durch eine Er- 
schlaffung und Verkürzung der oberen Schichten des Blattes 
zu Stande kommt, aber eben diese Schichten am geschlossenen 
Blatte doch für den nunmehrigen Gleichgewichtszustand des 
Blattes passiv verlängert, stark gedehnt und damit gespannt 
sich darstellen. 

Mit der Verkürzung der oberen Schichten bei der Schlies- 
sung geht eine Verlängerung der unteren Schichten einher. 
Daraus, dass die Concavität des Blattflügels nach unten in eine 
Concavität nach oben übergeht, folgt allerdings nur, wie ich 
schon einmal andeutete, dass das Verhältniss der Ausdehnung 
der oberen und der unteren Fläche zu Gunsten der letzteren 
Fläche eine Veränderung erfährt: womit die absolute Ver- 
grösserung oder Verkleinerung beider Flächen nicht ausge- 
schlossen ist. Aber der angegebene Sachverhalt ist schon Hrn. 


Darwin’s Ermittelungen zu entnehmen. Denn Hr. Darwin 


hat nicht blos die absolute Verkürzung der oberen Fläche bei 
der Schliessung constatirt, sondern dieselbe auch so klein ge- 
funden, dass sie an einem Blattflügel von 10 Mm. Breite nur 
eine Verschmälerung um ca. 0:6 Mm. bedingen würde‘); und 


1) Ins. Pl. p. 318. — S. oben $. 110. 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 117 


danach kann, in Anbetracht der Dicke des Blattflügels und 
der Grösse seiner Formyeränderung, von einer Verkürzung 
auch der unteren Fläche nicht die Rede sein, vielmehr ist für 
diese Fläche nur anzunehmen, dass sie um etwa ebensoviel sich 
vergrössert, wie die obere sich verkleinert. Dies lässt sich 
denn auch direet beobachten. Hat man an der unteren Fläche 
eines ganz geöfineten Blattes, etwa in der Mitte seiner Länge, 
mit Thon zwei Punkte markirt, welche in einer zur Mittel- 
rippen-Axe senkrechten Linie gelegen und 3—4 Mm. von ein- 
ander entfernt sind, so sieht man bei der Schliessung des Blat- 
tes ganz deutlich, dass die Punkte sich ein wenig von einander 
entfernen. Besonders schön aber und, ich möchte sagen, auf- 
fallend gestaltet sich die Wahrnehmung an solchen Blättern, 
die durch die Abtragung eines Blattflügels verstümmelt worden 
sind und sich wieder geöffnet haben. Markirt man hier ebenso 
zwei Punkte, das eine Mal an der oberen, das andere Mal an 
der unteren Fläche des erhaltenen Blattflügels, so kann es 
der aufmerksamen Beobachtung gar nicht entgehen, dass mit 
der Schliessungsbewegung der Abstand der Punkte im ersteren 
Falle sich verkleinert, im letzteren Falle sich vergrössert; ja, 
diese Veränderungen lassen sich in den meisten Fällen sogar 
durch Anlegen des Zirkels gut feststellen. In der Richtung von 
vorn nach hinten habe ich mir die Verkürzung der oberen und 
die Verlängerung der unteren Fläche nicht so sicher zur An- 
schauung bringen können, aber dieselben sind nach dem Vor- 
ermittelten schon dadurch ausreichend erwiesen, dass auch in 
dieser Richtung die Concavität des Blattflügels bei der Schlies- 
sung sich umkehrt. 

Da die oberen Schichten bei der Verkürzung erschlaffen, 
kann die Verlängerung der unteren Schichten aller Wahrschein- 
lichkeit nach nur eine active sein; und das lehrt auch geradezu 
der Versuch. Hälftet man ein ausgeschnittenes, etwa recht- 
eckiges Blattflügelstück seiner Dicke nach, wobei, wie die mi- 
kroskopische Untersuchung lehrt, die Nervatur in kurze Stücke 
zerfällt wird, die theils diesseits theils jenseits des schneiden- 
den Messers liegen bleiben, so wird die obere Hälfte, indem 
die Schnittfläche sich ein wenig verlängert, noch etwas stärker 


118 H. Munk: 


als vorher nach oben concav; die untere Hälfte aber giebt, 
unter ansehnlicher Verlängerung der Schnittfläche, die bis- 
herige Krümmung ganz auf und streckt sich gerade oder wird 
sogar noch spurweise nach oben convex. Das Parenchym des 
Blattflügels ist also positiv gespannt gegen seine zu kurze Ner- 
vatur, es ist durch dieselbe comprimirt, und es verlängert sich, 
sobald es von dem Zwange befreit ist. Da nun am offenen 
Blatte die oberen Schichten des Parenchyms wohl noch mehr, 
wenigstens aber doch ebensosehr durch die Nervatur compri- 
mirt sein müssen, wie die unteren Schichten, so versteht es 
sich, dass, sobald auf Reizung die oberen Schichten des Par- 
enchyms erschlaffen, die unteren in Folge ihres Spannungszu- 
standes sich soweit als jetzt möglich ausdehnen und desto mehr 
sich verlängern, je weiter sie von der Nervatur entfernt sind. 

Wenn ich eben nur von den Parenchym-Schichten sprach 
und die Epidermis vernachlässigte, so hatte das seine guten 
Gründe. Legt man ein ausgeschnittenes Blattflügelstück in 
Wasser, so wird seine untere Fläche ein wenig länger, und 
seine Ooncavität nach oben nimmt etwas zu. Hälftet man ein 
Blattflügelstück der Dicke nach und bringt an jede Hälfte ein 
Tröpfchen Wasser, so sieht man beide Male eine rasche Auf- 
saugung des Wassers erfolgen und die Schnittfläche sich be- 
trächtlich verlängern; die Concavität der oberen Hälfte nach 
oben wird dabei noch ansehnlich vergrössert, und die untere 
Hälfte nimmt eine deutliche Concavität nach unten an, die je- 
doch nie die Grösse erreicht, welche am frischen Blattflügel- 
stücke die Concavität nach oben besass. Eine Runzelung der 
oberen oder der unteren Epidermis kommt in keinem der bis- 
her besprochenen Fälle zur Beobachtung. Zieht man von einem 
frischen Blattflügelstücke auf eine längere Strecke die Epider- 
mis ab, was ziemlich schwer an der oberen, leichter an der 
unteren Seite gelingt, so verkürzt sich die obere Epidermis 
sehr deutlich und ansehnlich, die untere nur undeutlich und 
spurweise; durch Wasser-Zusatz erfahren beide keine Verän- 
derung. Trägt man, wiederum vom frischen Blattflügelstücke, 
die Epidermis zusammen mit einer dünnen Lage des benach- 
barten Parenchyms ab, so verhalten sich die Stücke, je nach- 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 119 


dem sie der oberen oder der unteren Seite entnommen sind, 
sowohl frisch wie bei Wasser-Zusatz im Wesentlichen ebenso, 
wie entsprechend die isolirten Hälften des Blattflügelstückes, 
welche wir vorher betrachteten. Das Blattflügelstück selbst, 
welchem auf der einen oder der anderen Seite die Epidermis 
allein oder dieselbe mit dernächstenParenchym-Lage entnommen 
worden ist, bietet inKrümmung und sonstigem Verhalten keine 
merkliche Abweichung von dem unversehrten Blattflügelstücke 
dar. Es ist also ganz klar, dass die Epidermis nur von unter- 
geordneter Bedeutung bei der Schliessung sein kann. Wie 
das grosse "Wasser-Ansaugungsvermögen, welches das Paren- 
chym auszeichnet, der Epidermis abgeht, so fehlt ihr auch ganz 
das Ausdehnungsbestreben. Vielmehr erweist sich die Epider- 
mis immer negativ gespannt gegen das Parenchym, und zwar 
ist die untere Epidermis selbst nach übermässiger Schliessungs- 
bewegung nur schwach, die obere Epidermis dagegen schon 
am normal geschlossenen Blatte ziemlich stark passiv gedehnt. 
Demzufolge kann die Epidermis auch nicht mehr leisten, als 
dass sie die anderweitig veranlasste Formveränderung bei der 
Schliessung mit ihrer oberen Partie begünstigt, mit ihrer unte- 
ren Partie ein wenig erschwert. | 
Mit diesen Ausführungen ist es genügend begründet, wie 
ich oben S. 114 unseren Blattflügel mit dem Gelenkwulste der 
Mimosa verglich. Hier wie dort ist ein durch grosses Wasser- 
Ansaugungsvermögen und grosses Ausdehnungsbestreben aus- 
gezeichnetes Parenchym positiv gespannt einerseits gegen die 
Nervatur in seiner Mitte, andererseits gegen die es umschlies- 
sende Epidermis. Beide Male ist nur Eine Seite des Paren- 
chyms reizbar, ohne dass im Baue des reizbaren und des nicht 
reizbaren Parenchyms ein wesentlicher Unterschied bemerklich 
ist, und die Bewegung erfolgt nach der reizbaren Seite hin, so 
dass eine nach dieser Seite concave Krümmung entsteht. Beide 
Male kommt die Bewegung dadurch zu Stande, dass das reiz- 
bare Parenchym erschlafft und kürzer wird, das nicht reizbare 
Parenchym sich activ verlängert. Und bei dieser Ueberein. 
stimmung kann es keinem Zweifel unterliegen, dass auch die 


120 H. Munk: 


inneren Vorgänge bei der Erschlaffung und der Ausdehnung: 
des Parenchyms beide Male dieselben sind. 

Wie von verschiedenen Forschern schon vorher vermuthet 
worden ist und Hr. Pfeffer (a. a. O.) dargethan hat, tritt 
bei der Reizbewegung der Mimosa Flüssigkeit aus dem Inneren 
.der.reizbaren Parenchymzellen aus, wodurch der Turgor der 
Zellen, d.h, der hydrostatische Druck des Zellinhalts gegen 
die Zellmembran, und damit die Steifheit der Zellen sinkt; 
und ein guter Theil der ausgetretenen Flüssigkeit geht in das 
Parenchym der nicht reizbaren Wulsthälfte über. Diese Vor- 
gänge werden also auch für den Blattflügel unserer Dionaea 
anzunehmen sein. Nur ein Uebertritt von Flüssigkeit auch in 
das Gefässbündel, wie er bei der Mimosa festgestellt ist‘), 
scheint bei der Dionaea nicht zu erfolgen. Ich schliesse dies 
aus dem vollen Gegensatze, in welchem es zu den Erscheinun- 
gen bei der Mimosa steht, dass bei der Dionaea Durchschnei- 
dung des Zwischengliedes selbst ganz nahe der Blattbasis die 
Reizbewegung nicht herbeiführt, dass hier ferner an den so 
durchschnittenen Gefässen, auch wenn man dann durch Be- 
rührung eines Haares das Blatt zur Schliessung bringt, Kein 
Flüssigkeitstropfen auftritt und dass hier endlich, wie schon 
Hr. Darwin ermittelt hat ?), die Nervatur bei der Fortleitung 
der Reizung ganz unbetheiligt ist. Doch dies mehr beiläufig: 
die Wasserbewegung im Dionaea-Blatte verlangt eine eigene 
Untersuchung, welche ich nicht ausgeführt habe, und mit 
einer unvollkommenen Analyse auf Grund gelegentlicher Er- 
fahrungen mag ich mich nicht aufhalten. Für unsere Zwecke 
genügt es zu wissen, worüber nach dem Vorausgeschickten kein 
Zweifel sein kann, dass auch bei der Dionaea die Erschlaffung; 
des reizbaren Parenchyms durch einen Wasseraustritt aus den 
betreffenden Zellen zu Stande kommt. Wenn demgemäss diese 
Zellen nicht blos in Länge und Breite, wie es schon die Form- 
veränderung des Blattflügels ergiebt, sondern, wie es auch Hr. 
Pfeffer an den gleichfalls eylindriscben Zellen der Cynareen- 
Staubfäden unmittelbar beobachtet hat, in allen Dimensionen 


1) S. noch: Pfeffer, Jahrb. f. wiss. Botanik. Bd. IX. S. 308 ff. 
2) Ins. Pl. p. 313—6. 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w.., 121 


sich verkürzen, so lässt sich, nachdem wir soweit nur den Blatt- 
flügel ohne die Randstacheln betrachtet haben, nunmehr die 
Mechanik der Reizbewegung des ganzen Blattes folgender- 
massen übersehen. 

Wo auch immer der reizende Angriff das reiz- 
bare Parenchym trifft, immer pflanzt sich die 
Folge der Reizung sogleich über dieses ganze 
Parenchym fort, und dasselbe erschlafft. Mit der 
Erschlaffung des oberen Blattflügel-Parenchyms 
dehnt sich dann das untere Blattflügel-Parenchym 
aus und geht jeder Blattflügel aus der nach unten 
eoncaven Gestalt in die nach oben concave über. 
Mitder Erschlaffung weiter des oberen Mittel- 
rippen-Parenchyms, das die inneren Enden der 
beiden oberen Blattflügel-Parenchyme verbindet, 
rücken diese Enden einander näher, unter Mit- 
wirkung wiederum der activen Ausdehnung der 
beiden unteren Blattflügel-Parenchyme und 
wahrscheinlich zugleich der activen Ausdehnung 
des unteren Mittelrippen-Parenchyms; denn auch 
in dieses Parenchym wird ein Theil der aus den reizbaren Par- 
tieen ausgetretenen Flüssigkeit übergehen'). Endlich werden 
durch die Verkürzung des oberen und die Ver- 
längerung des unteren Blattflügel-Parenchyms, 
inFolgeder Verbindungderäusseren Enden dieser 
beiden Parenchyme mit dem Randstachel-Paren- 
cehyme (s. o. S. 79; vgl. Fig. 27a und Fig. 28a), die Rand- 
stacheln der oberen Blattfläche zugeneigt. Das Par- 
enchym des äusseren Randes und das Randstachel-Parenchym 
sind bei der Reizbewegung unbetheiligt: nicht nur geht diesen 
Parenchymen die Reizbarkeit ganz ab, sondern es wird auch, 


1) Ich glaube manchmal gesehen zu haben, dass die Krümmung 
der Mittelrippe sich bei der Schliessung spurweise verringerte; öfter 
habe ich Nichts der Art wahrgenommen. Sollte sich jene Verringe- 
rung constatiren lassen, so würde damit die Verkürzung des oberen 
und die Streckung des unteren Mittelrippen-Parenchyms in der Rich- 
tung parallel der Mittelrippen-Axe unmittelbar dargethan sein. 


EEE IRRE 


122 H. Munk: Die elektrischen Ereheinungen u.s. w. 


wenn man vom offenen Blatte den äusseren Rand bis zur Seite 
der Blattflügel-Parenchyme abschneidet, jede Spur einer Be- 
wegung oder Formveränderung an den abgetrennten Theilen 
vermisst, selbst wenn man dieselben mit Nadel und Scheere 
zerlegt und in Wasser bringt. 

Bei der Oeffnung des Blattes verhältsichnatür- 
lich Alles umgekehrt, wie bei der Schliessung: die 
vorher erschlafften und verkleinerten Parenchyme 
dehnen sich jetzt unter Wachsen des Turgor’s und 
der Steifheit ihrer Zellen aus, und die vorher ac- 
tiv ausgedehnten Parenchyme werden jetzt com- 
primirt. Das Gewicht der Blattflügel spielt bei der Oeffnung 
keine Rolle; denn weder wird die Oeffnung ‚merklich beschleu- 
nigt, wenn man die Belastung durch Drähte, die man an die 
Randstacheln hängt, vergrössert, noch wird sie merklich ver- 
zögert, wenn man das geschlossene Blatt in verkehrter Lage 
befestigt, so dass die Randstacheln sich zu unterst befinden. 
Aus dem langsamen Verlaufe der Oeffnung, die erst in 24 Stun- 
den und noch später beendet ist, lässt sich entnehmen, dass die 
Flüssigkeits-Aufnahme von Seiten der reizbaren Parenchym- 
zellen, zum Ersatze der vorher abgegebenen Flüssigkeit, nur 
'sehr allmählich erfolgt und bei der Dionaea viel langsamer vor 
sich geht als bei der Mimosa. Damit könnte man es auch in 
Zusammenhang bringen, dass bei der Dionaea Stunden nach 
der Schliessung vergehen, ehe die erste Spur der Oeffnung sich 
bemerklich macht, indem man die Restitution erst nach Stun- 
den beginnen liesse. Indess halte ich es für wahrscheinlicher, 
dass das lange Geschlossenbleiben darauf beruht, dass die reiz- 
baren Parenchyme nach der normalen Schliessung, wie wir 
oben S. 116 sahen, trotz ihrer Verkürzung doch in Hinsicht auf 
den neuen Gleichgewichtszustand des Blattes passiv gedehnt 
zurückbleiben: der wiederanwachsende Turgor der reizbaren 
Parenchyme findet erst die Folgen dieser Dehnung (die über- 
mässige Abnahme der Dicke der Zellen) anszugleichen, ehe 
er zur Compression der bei der Schliessung activ ausgedehnten 
Parenchyme vorschreiten kann. 


(Schluss im nächsten Heft.) 


BU Rn, 


Ne 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes 
bei der Zusammenziehung. 
Von 


E. pu Boıs-REyYMonD. 


Dritte Abtheilung.') 


$. XIX. Ueber die Betheiligung der parelektrono- 
mischen Strecke an der negativen Schwankung. 


Am Multiplieator und mit polarisirbaren Elektroden, also 
ohne Möglichkeit einer Messung, hatte ich den Eindruck er- 
halten, als sei die negative Schwankung gleich gross, von wo 
sie auch ausgehe, d. h. gleichviel ob die Wirkung des ruhen- 
den Muskels positiv, Null, oder negativ sei, oder gleichviel ob 
es um künstlichen oder um natürlichen Querschnitt in beliebi- 
gem Zustand des letzteren sich handele. Die Kraft der par- 
elektronomischen Schicht schien bei der negativen Schwankung 
dieselbe Rolle zu spielen, wie die eines beständigen, dem 
Strome des ruhenden Muskels entgegenwirkenden Stromes, 
Daraus schloss ich, dass die Kraft der parelektronomischen 
Schicht bei der Zusammenziehung beständig bleibe, und dass 
diese Schicht also nicht theilnehme am Molecularmechanismus 
der Zusammenziehung.?) 


1) S. die erste und zweite Abtheilung dieser Untersuchung in 
diesem Archiv, 1873. S. 517—619; — 1875. 8. 610—667. Sie werden 
im Folgenden als „I.“ und „II.“ angeführt. 

2) Monatsberichte der Akademie. 1851. S. 396; — Moleschott’s 
Untersuchungen zur Naturlehre u. s. w. 1857. Bd. II. S. 155; — Un- 
tersuchungen über thierische Elektricität. Bd. II. Abth. II. S. 145 ff. 
— Vergl. I. S. 535. 536. 548. 


124 E. du Bois-Reymond: 


In dieser Folgerung lag damals keine besondere Unwahrschein- 
lichkeit, weil ich zugleich bewies, dass eine Schicht von verschwin- 
dender Dicke genüge, um die Parelektronomie zu erklären. 
Später zeigte sich an regelmässigen Muskeln, wo die Faser- 
enden mehr der Untersuchung zugänglich sind, dass es nicht 
richtig ist, von einer unmessbar dünnen parelektronomischen 
Schicht zu reden, sondern dass es dort eine parelektronomische 
Strecke giebt, deren Länge mehrere Millimeter beträgt.) 
Es wäre nun wohl nicht unmöglich, sich vorzustellen, dass 
negative Kräfte von einer parelektronomischen Strecke ausgingen, 
welche wie jeder andere Theil des Muskels sich zusammen- 
zöge, und dass gleichwohl jene negativen Kräfte beständig 
blieben. Einzelne zwischen den peripolaren Gruppen vertheilte, 
säulenartig ihre Wirkung summirende dipolare Molekeln, welche 
an dem Molecularmechanismus der Zusammenziehung sich nicht 
betheiligten, würden dies leisten. Allein nach den neuen, in 
der ersten Abtheilung aufgedeckten Thatsachen wird die Schluss- 
folge überhaupt hinfällig, welche dazu geführt hatte, die Nicht- 
betheiligung der parelektronomischen Schicht an jenem Mecha- 
nismus anzunehmen. Zu dieser Vorstellung wäre ich nie ge- 
kommen, hätte ich schon damals gewusst, dass Zerstörung der 
parelektronomischen Schicht die negative Schwankung absolut 
vergrössert (s. I. S. 546). 

Bis auf Weiteres ist jetzt vielmehr zu schliessen, dass die 
negative Kraft der parelektronomischen Strecke an der Schwan- 
kung theilnehme, jedoch in geringerem Maass als die positive 
Kraft des Gesammtmuskels. Ich sage des Gesammtmuskels, 
um die Möglichkeit einzubegreifen, dass auch in der parelek- 
tronomischen Strecke positiv wirkende Elemente enthalten sind, 
welche in gleichem Maasse, wie der übrige Muskel, an der 
Schwankung sich betheiligen. 

Um hier sicher zu gehen, verfahren wir folgendermaassen. 

Der in der Ruhe stattfindende Spannungsunterschied zweier 


passend gewählten Punkte der Muskeloberfläche, etwa eines 


Aequatorpunktes und eines Poles, bei fortgedachter negativer 


1) Dies Archiv, 1863, S. 636. 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s. w. 125 


Kraft der parelektronomischen Strecke, heisse M; der Span- 
nungsunterschied derselben Punkte, wenn umgekehrt nur die 
negative Wirksamkeit der parelektronomischen Strecke in’s 
Auge gefasst wird, heisse ?. In Wirklichkeit ist also der 
Spannungsunterschied beider Punkte in der Ruhe 
OD=M-—P. 

P kann > M werden, wo dann der Muskel negativ wirkt. 
Darüber, um wieviel P> M werden könne, fehlt es noch an 
Bestimmungen. Soll ich eine Schätzung aussprechen, so würde 
ich sagen, dass keinenfalls P>1'5 M gefunden werde. 

Mit aM bezeichnen wir ferner den Spannungsunterschied 
derselben Punkte im Tetanus, abgesehen von der negativen 
Kraft der parelektronomischen Strecke, d.h. aM ist die mittlere 
Ordinate der Ktenoide, welche den zeitlichen Verlauf der po- 
sitiven Kraft des Muskels im Tetanus vorstellt, wenn nur diese 
Kraft in’s Auge gefasst wird. Der Werth von a liegt. erfah- 
rungsmässig (s. I. S. 53) zwischen 06 und der Einheit. 
Ebenso bezeichnen wir mit «P den Spannungsunterschied 
derselben Punkte im Tetanus wegen der negativen Kraft der 
parelektronomischen Strecke allein, d.h. «P ist die mittlere 
Ordinate der Ktenoide, welche den zeitlichen Verlauf der Kraft 
im Tetanus vorstellt, wenn nur die negative Kraft der par- 
elektronomischen Schicht in’s Auge gefasst wird. Der wirk- 
liche Spannungsunterschied im Tetanus ist dann 

U,=aM —aP; 
die negative Kraftschwankung wird gemessen durch 
U, — U,=(1l—-a)M— (1—o)P. 

Es handelt sich darum, & so bestimmen, dass 1. die 
Schwankung stets absolut negativ sei; 2. sie bei natürlichem 
Querschnitt absolut kleiner ausfalle, als bei künstlichem; 3. 
sie im Verhältniss zum Strom in der Ruhe dort grösser ausfalle 
als hier. Analytisch gestalten diese Bedingungen sich so, dass 
1. U, — U, stets positiv bleiben, 2. durch Nullsetzen von P 


7 U; — U 
U; — Ur wachsen, 3. I dagegen dadurch abnehmen 
muss, 


Wir haben zu wählen zwischen drei Möglichkeiten, 1. »=1, 


un 


126 E. du Bois-Reymond: 


was soviel heisst, wie dass die negative Kraft der parelektro- 
nomischen Strecke an der Schwankung nicht theilnimmt; 2. 
«=q, was soviel heisst, wie dass sie in gleichem Maasse daran 
theilnimmt, wie die positive Kraft des Gesammtmuskels; und 
3. 1>a4>a, was soviel heisst, wie dass sie zwar daran theil- 
nimmt, jedoch in geringerem Maass als die positive Kraft. 
«<a würde bedeuten, dass sie stärker abnimmt, als die posi- 
tive Kraft, endlich «>1, dass sie beim Tetanus zunimmt: An- 
nahmen, zu welchen wir vorläufig keinen Grund haben. 


R v—=1. 


Früher hatte ich «=1 gemacht. Dadurch wurde U, = 
aM—P, U,— U =(1-—a)M. Letzterer Ausdruck bleibt 
zwar stets positiv, aber er ist unabhängig von P. Dies ent- 
sprach meinen damaligen unvollkommenen Beobachtungen, wi- 
derspricht aber der zweiten jetzt aufgestellten Bedingung. Unter 
diesen Umständen kann es zu nichts helfen, dass 

Dr Em 
Ware ARENSP 
durch Nullsetzen von P abnimmt. 


ll. a=a. 


Setzen wir «=a, d. h. lassen wir die negative Kraft der 
parelektronomischen Strecke in gleichem Maasse wie die posi- 
tive Kraft des Gesammtmuskels an der Schwankung theilneh- 
men, so wird 9, — U, =(1— a)(M—P), d. h. die Schwan- 
kung ist dem ursprünglichen Strome proportional. Für P<M 
ist zwar U, — U, positiv, wird aber für kleine Werthe dieser 
Ungleichheit kleiner als in Wirklichkeit. Für P=M ist 9, 
— U,=0, der wegen Parelektronomie stromlose Muskel bliebe 
es auch im Tetanus. Auch dies stimmt nicht mit der Erfah- 
rung, wenigstens an der Bussole. Denn die unter diesen Um- 
ständen erfolgende secundäre Zuckung liesse sich noch immer 
durch die geringste Ungleichzeitigkeit in den Schwankungen 
der parelektronomischen Kraft und der positiven Kraft des Ge- 
sammtmuskels erklären. Allein für P>M ist U, — Ur nega- 
tiv, d. h, der wegen Parelektronomie negativ wirksame Muskel 


ARE 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s. w. 127 


zeigte im Tetanus zwar relativ negative, aber absolut positive 
Schwankung. Durch Nullsetzen von P erscheint für P=M 
überhaupt erst negative Schwankung, für P<M wird sie ab- 
solut vergrössert, für P> M verwandelt sich die absolut posi- 
tive in eine absolut negative Schwankung. Endlich das Ver- 
hältniss der Schwankung zum Strom in der Ruhe ist das näm- 
liche bei natürlichem wie bei künstlichem Querschnitt, denn 
man hat 


ul — je M 
ap 


IN 50 


Dies also passt nicht. Schlagen wir nun aber einmal den 
Mittelweg zwischen meiner früheren und der letzten Voraus- 
setzung ein, und setzen wir l>a>a, z. B. a=na, wo n>], 
d. h. lassen wir die negative Kraft der parelektronomischen 
Strecke an der Schwankung in geringerem Maasse theilnehmen 
als die positive des Gesammtmuskels. 

Alsdann wird 

GG —-U=(l1-oa)M-—(l_-ne)P. 
Dieser Ausdruck bleibt positiv, so lange 


P, mit dessen Wachsen die linke Seite abnimmt, wird nicht 

55: a, mit dessen Wachsen die rechte Seite wächst, 

nicht <0:6 (s. oben S. 125). Daraus folgt, dass n nicht 
11 

kleiner als 2. werden dürfe, soll die Schwankung absolut ne- 


gativ bleiben. Doch zwingt uns nichts, n grösser anzunehmen, 
da es nur darauf ankommt, dass überhaupt 2>1 sei, damit die 
Proportionalität zwischen Schwankung und ursprünglichem 
Strom aufhöre. 

Vernichten von P vergrössert sodann absolut die Schwan- 
kung, verkleinert dagegen das Verhältniss 


128 E du Bois-Reymond: 


OD, — Ur 2 (A1—-a)M—(l—na)P 

DR M—P ; 
(1—a)M 
or 

Wie man sieht, stellt unsere Formel die Erscheinungen 
diesmal befriedigend dar. Die nächste Folge wird aber lehren, 
dass wir uns dabei noch nicht beruhigen dürfen. 


denn für n > 1 ist dieser Bruch > 


$. XX. Von den beiden am unversehrten Muskel zu- 
gleich vorhandenen Arten der Nachwirkung, näm- 
lich der inneren und der terminalen Nachwirkung. 


Wer obıgen Verhandlungen aufmerksam folgte, hat leicht 
bemerkt, dass die Auffassung, bei der wir im vorigen Paragra- 
phen stehen blieben, dem Thatbestande noch nicht ganz ent- 
spricht. Ein Punkt ist dabei ausser Acht gelassen, durch den 
die negative Schwankung bei künstlichem Querschnitt, oder 
ohne parelektronomische Strecke, von der bei natürlichem Quer- 
schnitt, oder mit parelektronomischer Strecke, noch anders sich 
unterscheidet, als durch ihre bisher allein berücksichtigte ab- 
solute und negative Grösse. Dieser weitere Unterschied be- 
steht in dem bei künstlichem Querschnitt sich zeigenden eigen- 
thümlichen, langsamen, stockenden, ja von Rückschritten unter- 
brochenen Gange der Schwankung, verbunden mit der grösse- 
ren Stärke und Dauer der Nachwirkung. 

Wie schon in der ersten Abtheilung gesagt wurde, sieht 
man bei natürlichem Querschnitt im Beginne des Tetanus den 
Faden im negativen Sinne vorwärts gehen, zurückweichen oder 
zucken, abermals weiter vorschreiten, zurückweichen, zum drit- 
ten Male vielleicht wieder weniger weit vorgehen, und nach 
öfterer Wiederholung dieses Spieles endlich nicht selten zwi- 
schen engen, bald etwas höheren, bald etwas tieferen Grenzen 
kurze Zeit hin und her schwanken. Hier würde es sehr wohl ge- 
lingen, einen mittleren Werth der Schwankung durch Compen- 
sation zu messen. Doch liegt hier nicht soviel daran, wie bei 
Anstellung des Versuches mit künstlichem Querschnitte, weil 
auch ohne Messung der Augenschein lehrt, dass. die Schwan- 
kung oft den ursprünglichen Strom weit übertrifft, und den 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s.w. 129 


Faden auf die negative Seite des Nullpunktes führt. Aus die- 
ser fast beständigen Ablenkung kehrt nach beendigtem Tetanus 
der Faden meist nur sehr langsam zurück. Es hinterbleibt 
eine Nachwirkung, welche oft die Hälfte der Schwankung be- 
trägt. Siekann aber oberhalb einer gewissen Grenze jeden Werth 
bis fast zu dem der negativen Schwankung selber annehmen, 
mit anderen Worten, bei hoher Parelektronomie kommen Fälle 
vor, wo sich der Strom von der negativen Schwankung kaum 
erholt. Bei erneutem Tetanus erhält man dann nur sehr 
schwache, absolut negative, relativ positive Wirkung, obschon 
der Muskel sich noch ganz gut zu verkürzen scheint.') 

Bei künstlichem Querschnitt zeigt sich von dem Allem 
nichts. Der Faden geht schnell und stetig zu einem viel grös- 
seren absolut und relativ negativen Maximum, und kehrt so- 
gleich, langsamer zwar, doch nicht minder stetig, zurück. Die 
schliesslich hinterbleibende Nachwirkung schätzten wir, so gut 
es anging, auf nur etwa !/,, der Schwankung, oder etwa 4 pOt. 
der ursprünglichen Stromkraft. 

So werden wir zur Einsicht geführt, dass es zwei Arten 
der Nachwirkung giebt, welche am unversehrten Muskel zu- 
gleich vorhanden sind, von denen aber die eine mit dem na- 
türlichen Querschnitte verloren geht. 

Es giebt erstens eine Nachwirkung, welche die ganze Muskel- 
masse ergreift, und daher auch bei künstlichem Querschnitte 
wahrnehmbar ist. Sie ist es, welche Hermann Roeber 


1) Beiläufig sei bemerkt, dass noch nicht untersucht ist, wie bei 
Anwendung eines leichten aperiodischen Magnetspiegels die negative 
Schwankung des Muskelstromes am lebenden Menschen bei willkür- 
lichem Tetanisiren der Gliedmaassen sich gestaltet. Vielleicht wird 
dabei, wie auch bei elektrischem Tetanisiren der Gliedmaassen des 
Kaninchens, die negative Schwankung die soeben in Erinnerung ge- 
brachte Beschaffenheit zeigen, welche dem vom natürlichen Querschnitt 
abgeleiteten Strom eigen ist. Wenigstens giebt sich im Versuch am 
Menschen stets sehr starke Nachwirkung kund (Untersuchungen u.s.w. 
Bd. II. Abth, I. S. 291). Am Kaninchen gelang es aus besonderen 
Gründen bei den älteren Versuchen nicht, die Nachwirkung zu beob- 
achten (a. a. 0. S. 347). 

Beichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 9 


130 -E. du Bois-Reymond: 


in’ seiner letzten Arbeit ausführlich untersuchte”) Es ge- 
lang ihm, viel höhere Werthe dieser Nachwirkung zu beob- 
achten, als sie in unseren Versuchen vorkamen, in welchen wir 
nur ausnahmsweise den Muskel zur Erschöpfung tetanisirten, 
denn mittels der statistischen Methode ?) fand er die Kraft 
von Muskeln, die durch Strychnin- oder Pikrotoxin-Tetanus 
erschöpft waren, um 17, beziehlich 22 pCt. herabgesetzt. An 
Hrn. Ranke’s Ergebnisse anknüpfend, welche er theils bestä- 
tigte, theils berichtigte, bewies Roeber, dass diese Nachwir- 
kung auf der Säurung des Muskels beruht, die nach meiner 
Entdeckung die Zusammenziehung begleitet. Eine nur halb- 
procentige Milchsäurelösung, in Froschmuskeln gespritzt, setzte 
deren elektromotorische Kraft um fast 30 pCt. herab. Dies lehrt, 
eine wie kleine Säuremenge man nur anzunehmen braucht, um 
dadurch die Nachwirkung zu erklären. Andererseits erhöhte 
in Roeber’s Versuchen eine halbprocentige kohlensaure Natron- 
lösung, in Muskeln gespritzt, die durch Pikrotoxintetanus er- 
schöpft waren, deren Kraft wieder um 11 pCt. Dies lehrt, 


1) Dies Archiv, 1870. S. 633. — Dr. Hermann Roeber, geb, 
am 18. October 1842 zu Berlin, ward ein Opfer seiner Hingabe an 
das bedrohte Vaterland. Wegen schwächlicher Gesundheit zum Die- 
nen nicht verpflichtet, betheiligte er sich freiwillig am Feldzug und 
machte als Assistenzarzt von der Belagerung von Strassburg bis zu 
den winterlichen Märschen im westlichen Frankreich den Krieg mit. 
Von dort brachte er eine Lungenerkrankung zurück, die ihn wenige 
Wochen nach seiner Heimkehr, am 27. April 1871, dahinraffte. Die- 
Arbeiten, mit denen er die Jahrgänge 1869 und 1870 dieses Archivs 
bereicherte, zeigen besser als Worte, was die Wissenschaft an ihm 
verlor. Geborner Naturforscher, hatte er von seinem Vater, dem 
verdienstvollen Physiker und Mathematiker, die bezeichnenden Eigen- 
schaften der deutschen physikalischen Schule geerbt: ideales Streben, 
unverbrüchliche Wahrheitsliebe, nüchterne Besonnenheit und ernsten 
Fleiss. Er jagte nicht nach des Tages vergänglicher Berühmtheit,. 
sondern war still bemüht, dauernd Ruhmwürdiges zu schaffen. In einer 
Zeit, wo die reissend steigende Fluth wissenschaftlicher Production. 
schnell auch über den höchsten Leistungen zusammenschlägt, wird. 
Hermann Roeber’s kurze Forscherlaufbahn von der Menge bald. 
vergessen sein: seinen Freunden und Lehrern werden sein Talent, 
sein Charakter stets in liebevoll bedauernder Erinnerung bleiben, 

2) Dies Archiv, 1867. S. 279 ff. 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s. w. 131 


dass ein Säure neutralisirender Einfluss wirklich die Nachwir- 
kung beseitigt, was deren Entstehung durch Säurung des Mus- 
kels ausser Zweifel setzt. Ich will diese Nachwirkung, zum 
Unterschiede von der anderen, gleich zu bezeichnenden, „in- 
nere Nachwirkung“ nennen. 

Wenn aber Roeber auch die negative Schwankung 
selber und sogar deren in das Latenzstadium fallen- 
den, secundäre Zuckung erregenden Theil auf Säurung des 
Muskels zurückführen wollte, so ging er meines Erachtens zu 
weit. Zugegeben, die Säure entstände plötzlich genug, um die 
Schwankung zu erklären, so ist erstens nicht bewiesen, im 
Gegentheil sehr unwahrscheinlich, dass bei einer einzelnen Zu- 
ckung Säure genug im Muskel entstehe, um die elektromoto- 
rische Kraft bis beinah auf Null herabzudrücken (s. II. S. 648). 
Zweitens bliebe dunkel, was aus dieser Säure werde, wenn ein 
paar Tausendstel Secunde später die Kraft fast ihre frühere Höhe 
erreicht. Wäre solche Säuremenge einmal da, der Muskel 
müsste todtenstarr werden. Drittens zeigt der Nerv negative 
Schwankung, und noch stärker als der Muskel (s. II. S. 651), 
ohne Säurung.') Endlich viertens lehrt das Verhalten des Mus- 
kels bei natürlichem Querschnitt, dass neben der Säurung je- 
denfalls noch etwas Anderes im zuckenden Muskel vorgeht. 

Es ist nämlich nun eine zweite Art der Nachwirkung zu 
unterscheiden, welche, da sie nur bei natürlichem Querschnitt 
stattfindet, ihren Sitz nothwendig an den Faserenden hat, und 
deshalb, im Gegensatz zur inneren Nachwirkung, „terminale 
Nachwirkung“ heissen soll. Auch diese der Säurung zu- 
schreiben zu wollen, wäre ganz fehlerhaft. Wir wissen von 
der Säure nicht, dass sie an den Faserenden sich anhäuft, und 
wir sind nicht berechtigt, ihr eine andere Wirkung zuzuschrei- 
ben, als eine kraft- und widerstandvermindernde, nicht aber 
eine kraftvermehrende, geschweige eine nach dem Gesetze des 
Muskelstromes erfolgende selbständige elektromotorische Wir- 


» 


1) Ueber die angebliche Säurung der Nerven bei Anstrengun- 
gen vergl. die Zusammenstellung von Hrn. R. Gscheidlen in 
Pflüger’s Archiv für die gesammte Physiologie u.s.w. 1873. Bd. 
vol 8. 171. 

9# 


132 E. du Bois-Reymond: 


kung. Durch die terminale Nachwirkung aber wird ein in der 
Ruhe unwirksamer Muskel negativ wirksam, ein negativ wirk- 
samer stärker wirksam. Dies lässt sich nicht durch die An- 
nahme erklären, dass die positive Kraft des ganzen Muskels 
abnehme, während die negative Kraft der parelektronomischen 
Strecke beständig bleibe, denn dann müsste die Nachwirkung 
bei künstlichem und bei natürlichem Querschnitte gleich gross 
sein. Jenes Verhalten lässt sich vielmehr nur dadurch erklä- 
ren, dass am natürlichen Querschnitt in den Faserenden eine 
nach dem Gesetze des Muskelstromes mit umgekehrtem Zeichen 
wirksame, also negative elektromotorische Kraft entsteht, die 
zur positiven Kraft der parelektronomischen Strecke sich alge- 
braisch summirt. 

Wie man sieht, ist der Vorgang der negativen Schwan- 
kung auch am regelmässigen, aber unversehrten Muskel noch 
viel verwickelter, als er sich uns schon in unseren letzten Be- 
trachtungen darstellte. Ehe wir dazu schreiten, ihn möglichst 
vollständig zu zergliedern, haben wir aber noch von einer 
wichtigen Beziehung Kenntniss zu nehmen, die sich hier ge- 
radezu aufdrängt. 


$. XXI. Dass die terminale Nachwirkung gleich der 
Parelektronomie bei Herstellung künstlichen Quer- 
schnittes schwinde, wird durch unmittelbaren 
Versuch bewiesen. 


Die terminale Nachwirkung besteht, wie wir wissen, darin, 
dass eine nach dem Gesetze des Muskelstromes mit umgekehr- 
tem Zeichen wirksame, also negative Kraft, zur negativen Kraft 
der parelektronomischen Strecke hinzutritt. Diese neue nega- 
tive Kraft hat zum Sitz die natürlichen Faserenden, d. h. das 
anatomische Substrat der Parelektronomie. Was nun stellt 
solche Kraft anders vor, als Verstärkung der Kraft der par- 
elektronomischen Strecke, als Erhöhung der Parelektronomie? 
So werden wir fast unwillkürlich darauf geführt, dass vielleicht 
terminale Nachwirkung und Parelektronomie einerlei sind. 

Ist dies richtig, so muss Herstellung künstlichen Quer- 
schnittes nach Tetanus grösseren positiven Kraftzuwachs _be- 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 133 


dingen als vorher. Nennen wir N: , N; die Beträge der ter- 
minalen und inneren Nachwirkung in einem gegebenen Augen- 
blicke nach dem Tetanus. Stellt man künstlichen Querschnitt 
her, so geht der Spannungsunterschied M— P— NM: — N; 
über n M—N;. Der Kraftzuwachs ist also P+ N,. Stellt 
man dagegen künstlichen Querschnitt her ohne vorläufigen 
Tetanus, so ist der Kraftzuwachs nur P<P+N,. So sehr 
dies einleuchtet, so unmöglich scheint es beim ersten Blick, 
den Beweis zu führen, dass dem so sei. Denn der Versuch, 
wie er hier gedacht ist, setzt voraus, dass man an zwei Mus- 
keln der Gleichheit von P gewiss sei. Wir beobachten aber 
vor Herstellung des künstlichen Querschnittes stets nur M— P, 
und aus Gleichheit der Wirkung zweier Muskeln mit natürlichem 
Querschnitt dürfen wir nur schliessen, dass M- P-M,-P.. 
Um daraus zu entnehmen, dass P=P,, müssten wir finden 
M=-M,. Nach dem Tetanus messen wir an dem einen Mus- 
kel aber nur M_N;.. Wir würden also im Ungewissen blei- 
ben, abgesehen von der Unsicherheit, die von solcher mittel- 
baren Grössenbestimmung in diesem Gebiet unzertrennlich ist. 

Um den verlangten Beweis zu führen, bedürfen wir also 
eines Verfahrens, um die Parelektronomie sicherer als bisher, 
wo möglich an demselben Muskel vor und nach dem Tetanus, 
zu messen. Dazu ersann ich die schon in der Abhandlung 
„Ueber den Einfluss körperlicher Nebenleitungen 
auf den Strom des M. gastroknemius des Frosches“!) 
näher geschilderte Methode, die Parelektronomie nach dem 
positiven Kraftzuwachs zu schätzen, den ein mit ätzender 
Flüssigkeit, z.B. L:HO::1:1, getränktes Fliesspapierscheib- 
chen von stets derselben Grösse und Gestalt, dem Achilles- 
spiegel angelegt, hervorbringt. 

Man erinnert sich, dass das Verfahren seinen Zweck im 
Allgemeinen erfüllt, dass aber eine unerwartete und lehrreiche 
Verwickelung dabei auftritt. Bei gleicher Parelektronomie 
brivgt das „Milchsäurescheibchen“ um so grösseren Zu- 
wachs hervor, je tiefer es dem Achillesspiegel angelegt wird, 


1) Dies Archiv, 1871. S. 564 ff. 


134 E. du Bois-Reymond: 


Der Grund hiervon ergab sich darin, dass die Muskelmasse für 
den Neigungsstrom des Achillesspiegels eine Nebenleitung bil- 
det, welche um so mehr schwächend auf den Stromzweig im 
Bussolkreise wirkt, je grösser die Muskelmasse, am meisten 
also in der oberen, am wenigsten in der unteren Gegend des 
Spiegels. Legt man mehrere Scheibchen in gleicher Höhe 
nebeneinander an, so wirkt im Allgemeinen | jedes folgende 
Scheibchen schwächer als das vorhergehende; doch tritt dies 
Gesetz sicher erst im Mittel mehrerer Versuche hervor. 
Daraus ergab sich die Nothwendigkeit, hier folgender- 
maassen zu verfahren. In gleichen Zwischenräumen solcher 
Länge, dass die Scheibchen volle Wirkung üben, wozu bei 
verdünnter Milchsäure zwei Minuten genügen, legte ich dem 
Achillesspiegel des im Muskelspanner!) immobilisirten Ga- 
stroknemius in der Medianlinie von unten nach oben zu 
Scheibehen an, und verzeichnete die dadurch bewirkten, mit 
grosser Regelmässigkeit abnehmenden Kraftzuwachse des vom 
oberen Knochenstück und vom Sesamknorpel abgeleiteten Stro- 
mes. Dann tetanisirte ich den Muskel vom Nerven aus?) mög- 
lichst stark und lange, mass abermals die wegen der Nach- 
wirkung verminderte Kraft, und legte darauf über dem 
höchsten vor dem Tetanus angelegten Scheibchen wieder 
ein Scheibchen an. Wirkte dies stärker als jenes, so 
hatte der Muskel durch den Tetanus an Parelektronomie 


1) So nenne ich fortan, der Kürze halber, den auf S. 137 abge- 
bildeten, bisher als „kleine Streckvorrichtung“ bezeichneten kleinen 
Apparat. Vergl. Untersuchungen u.s.w. Bd. II. Abth. I. 8. 67. 
Taf. I. Fig. 86. 87 A u. B. 

2) Um den Muskel zur Erschöpfung zu tetanisiren, hätte ich 
besser bei offenem Bussolkreise die Schläge unmittelbar dem Muskel 
zugeführt. Dagegen sprachen aber dieselben Gründe, welche schon 
vor mehr als zwanzig Jahren bei meinen Forschungen über die Nach- 
wirkung mich verhinderten, so zu verfahren, welche näher darzulegen 
ich aber auch heute noch nicht in der Lage bin (Untersuchungen 
u.s.w. Bd. II. Abth. II. S. 155.) Uebrigens erfüllte das mittelbare 
Tetanisiren seinen Zweck so, dass es nicht rathsam gewesen wäre, 
um etwas grösserer Wirkungen willen einen neuen Fehlerquell zu 
erschliessen. 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s.w. 135 


zugenommen; denn blieb die Parelektronomie dieselbe, so 
hätte das höher angelegte Scheibehen schwächer als das letzte 
gewirkt. Der Sorge, dass mit mehreren Milchsäurescheibchen be- 
legte Muskeln nicht zucken würden, ward ich bald enthoben. 
Meist thun sie dies noch ganz gut, und die negative Schwan- 
kung zeigt noch, wenn auch minder ausgeprägt, die ihr bei 
natürlichem Querschnitt zukommenden Eigenthümlichkeiten 
(vergl. oben S. 128. 129). So erhielt ich Reihen wie folgende, 
in denen die Zahlen Compensatorgrade bedeuten. 


Gastroknemius 


Ursprüngliche Kraft... . Ir 122 


Zuwachs 

+ 

B 

[db] 
Zuwachs. 

— 

or 

© 
Zuwachs 


1 
2| 263 52 | 534 15 | 426 93 


| Tetanus. Tetanus. 

Kraft nach a 237 468 

der L-Scheibehen 3| 318 8l | 585 | 117 | 481 55 
| Tetanus. 
| an 


4 Ko 15 nn 81 


I} 
I 


In jeder dieser Reihen folgt dem Tetanus, ganz wie wir es 
erwarteten, ein stärkerer durch das aufgelegte Milchsäurescheib- 
chen bewirkter Kraftzuwachs. 

Bei der Regelmässigkeit, mit der sonst beim Auflegen der 
Scheibehen die Zuwachse von unten nach oben abnehmen, 
scheint es schon hiernach, als sei wirklich der Muskel durch 
das Tetanisiren parelektronomischer geworden. Es hätte ver- 
hältnissmässig wenig zu sagen, dass auch Fälle vorkommen, 
wo Tetanus den Zuwachs nicht vergrössert. Allein es giebt 


136 E. du Bois-Reymond: 


einen anderen sehr gewichtigen Einwand gegen diese Versuche. 
Es ist unmöglich, zu beweisen, dass der Zuwachs, den ein 
nach dem Tetanisiren aufgelegtes Scheibchen erzeugt, nicht 
bloss deshalb grösser ausfällt, weil während der zwei Minuten, 
deren das Scheibchen bedarf, um seine volle Wirkung zu üben, 
die Nachwirkung sank. Jener grössere Zuwachs setzt sich, 
wenn unsere Vorstellung richtig ist, aus zwei Theilen zusam- 
men, einem Theil A, der auf Zerstörung der ursprünglichen 
und der neugebildeten parelektronomischen Strecke, und einem 
Theile 2, der auf Sinken der Nachwirkung im übrigen Achilles- 
spiegel beruht. Man müsste B von A abziehen können, um 
zu beurtheilen, ob A, im Vergleich zu den ohne vorläufigen 
Tetanus bewirkten Zuwachsen, aus der Reihe falle. Wartet 
man aber, bis alle Nachwirkung verschwunden ist, so sind die 
Zuwachse, die man nun erhält, wegen allgemein verminderter 
Leistungsfähigkeit nicht mehr mit den früheren vergleichbar. 

Geböte man über mehrere Gastroknemien, wie man dann 
und wann einen antrifft (s. oben S. 129), an denen die ter- 
minale Nachwirkung der negativen Schwankung fast gleich- 
kommt, und welche nach dem Tetanus mit fast beständi- 
ger Kraft negativ wirksam bleiben: so liesse sich der Versuch 
mit den Scheibehen wohl anstellen, weil hier der auf Nach- 
wirkung beruhende Theil B des nach dem Tetanus beobachte- 
ten Zuwachses verschwände. Es braucht kaum gesagt zu wer- 
den, warum die Fälle der Art, die sich zuweilen darbieten, 
nicht so verwerthbar sind. Hat man sie erkannt, so ist es zu 
spät dazu. 

Es ist klar, die einzige Art, hier zum Ziele zu kommen, 
wäre Anwendung eines die Parelektronomie so schnell zerstö- 
renden Verfahrens, dass während seiner Ausübung keine: in 
Betracht kommende Abnahme der Nachwirkung stattfände. 
Solches Verfahren ist Berührung des Achillesspiegels mit einem 
heissen Körper. 

Man denke sich einen Platindraht quer über den Achilles- 
spiegel fort ausgespannt und dem Spiegel mit stets demselben 
leisen Druck anliegend. Eine stets dieselbe kurze Zeit hin- 
durch geschlossene Kette, die galvanokaustische Kette 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 137 


genannt, erhitzt bei gleicher Ableitung der Wärme den Draht 
stets auf denselben Grad. So verbrennt er in wenigen Secun- 
den die berührte Stelle in gleicher Ausdehnung und in glei- 
chem Grade. Diese Verbrennung, welche von Erhöhung der 
positiven Kraft des Muskels begleitet ist, muss sich im Versuch 
ebenso verwerthen lassen, wie die Anätzung durch Milchsäure- 
scheibchen, wegen der Geschwindigkeit, mit der sie entsteht, 
aber frei vom Uebelstande sein, den wir letzterer vorwarfen. 


Fig. 1. 

Vorstehende Figur zeigt, wie ich diesen Gedanken ver- 
wirklichte. Ein Gastroknemius war in dem Muskelspanner 
ausgestreckt, mit nach oben gekehrtem, möglichst wagerechtem 
Achillesspiegel. Man erkennt leicht in der Figur die beiden. 
Elfenbeinplatten des Spanners. Zwischen ihnen erblickt man den 
Muskel, dessen Sesamknorpel diesseit des Schlitzes der vorde- 
ren Elfenbeinplatte erscheint, und dessen Nerv den Thonspitzen 
der unpolarisirbaren Zuleitungsröhren aufliegt, welche die te- 
tanisirenden Schläge zuführten. Die Zuleitungsgefässe mit 
ihren Bäuschen und Thonschildern, welche den Muskel- 
strom abführten, sind fortgelassen. dö ist ein an die 
Enden der 2 Mm. dicken Kupferdrähte dd', &ö' gelötheter 
Platindraht von 25 Mm. Länge und 0'’3 Mm, Durchmesser, 


Pe ae DAN AR a; 
ji 


138 E. du Bois-Reymond: 


dessen Mitte auf dem Achillesspiegel ruht. Die Kupferdrähte 
laufen dem wagerechten Hebel d’ö' bis zu dessen Drehpunkt 
entlang und tauchen hier jeder mit verquicktem Ende in ein 
Quecksilbergefäss, von wo aus sie den Strom der ealvanokau- 
stischen Kette (einer Grove’schen Kette grösserer Art) erhal- 
ten. Im Kreise der Kette und des Platindrahtes befindet sich 
zwischen zwei Quecksilberrinnen eine Lücke, in welche die 
verquickten Enden eines durch ein Uhrwerk bewegten Kupfer- 
bügels, wenn das Uhrwerk ausgelöst ist, jedesmal 5“ ein- 
tauchen. Ein- nnd Austauchen des Bügels wird durch ein 
akustisches Signal angezeigt. 

Geschehen alle Zuleitungen durch 2 Mm. dicke Kupfer- 
drähte, so erglüht während des Kettenschlusses der Platindraht, 
und ruht dieser auf dem Achillesspiegel mit dem vollen Mo- 
ment des wagerechten Hebels, so schneidet er den Muskel da- 
bei glatt durch. 

Die Erhitzung des Drahtes ist durch Einführung von wi- 
derständen leicht zu regeln. Um auch den Druck auf den 
Spiegel zu beherrschen, läuft jenseit des Drehpunktes der He- 
bel in eine Stahlstange mit Laufgewicht aus. Ausserdem aber 
hatte ich vermöge der Länge des Hebels und seiner wagerech- 
ten Stellung den Druck beinahe unabhängig gemacht von der 
Höhe, in welcher der Gastroknemius den Draht trägt, wenn 
er verschiedenen Punkten der Muskellänge anliegt. Es lässt 
sich berechnen, dass bei dem 200 Mm. betragenden Abstande 
zwischen Drehpunkt und Mitte des Drahtes, horizontaler Stel- 
lung des Hebels und Erhebung oder Senkung des Drahtes 
um 2 Mm., wie sie höchstens vorkommen kann, der Druck des 
Drahtes nur um 25300 Sich ändert.!) 


1) Es heisse P das im Schwerpunkt S vereinigt gedachte Ge- 
wicht des Hebels. Der Draht ruhe auf dem Muskel mit seiner Mitte 
M. ı sei die Entfernung des Schwerpunktes, 4 die der Mitte des 
Drahtes vom Drehpunkte D. $ liege über der Verbindungslinie DM, 
DM mache mit der Horizontalen den Winkel x, die Verbindungs- 
linie DS den Winkel «&+x. Der Druck A, den M in tangentialer 
Richtung auf den Muskel übt, ist 


A=P.- cos(e +2). 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s.w. 139 N 


Indem so Druck und Temperaturerhöhung des Drahtes 
beherrscht werden, gelingt es zu erreichen, dass eine Be- 
rührung des Drahtes, während der Strom 5" hindurchgeht, 
auf dem Achillesspiegel nur eine matte Strieme hinterlässt, 
und indem der Draht dann immer um 2—3 Mm. auf dem Spie- 
gel aufwärts gerückt wird, kann der Spiegel wie mit einer 
Längentheilung bedeckt werden, deren Striche die Brandstrie- 
men bilden (s. d. Figur). Sie erscheinen völlig gleichmässig, 
nur dass sie oben etwas länger werden, weil hier die Curve 
des Muskelumfanges, wegen grösseren Krümmungshalb- 
messers, mit dem tangirenden Draht in grösserer Strecke zu- 
sammenfällt. 


Setzt man sinz=z und differenzirt man A nach 2, so erhält man 
dN\ 
de 
durch Veränderung der Höhe, in welcher der Muskel den Draht trägt, 
wird also am kleinsten, wenn DS wagerecht ist, wobei zugleich der 


=0 für«e=—-x. Die Veränderung des tangentialen Druckes 


tangentiale Druck am grössten, = 12 wir. In Wirklichkeit 


konnte « vernachlässigt werden, statt DS wurde DM möglichst genau 
horizontal gemacht. Wurde dann beimVerschieben des Drahtes auf 
dem Achillesspiegel M um 7% gehoben oder gesenkt, so betrug die 
Verminderung des tangentialen Druckes 


2 h? 
?.(1-yı-,) 


Wie man sieht, nähert sich die Grösse unter dem Wurzelzeichen der 
Einheit, und der Werth des ganzen Ausdruckes folglich der Null, um 
so mehr, je grösser 4 beigleichem A. h konnte höchstens = #2 Mm. 
sein, 4 war 200 Mm. Daraus ergiebt sich die Aenderung des Dru- 
ckes für die möglicherweise vorkommende Hebung oder Senkung zu 
höchstens =s}»- 

Es lag nahe, die Glühvorrichtung, anstatt sie an einem Hebel 
beweglich zu machen, durch ein Gewicht nahe aufgewogen an Rollen 
aufzuhängen, und die unteren Enden dd der Kupferdrähte unmittelbar 
in Quecksilber zu tauchen. Unter verschiedenen Gründen, welche hier- 
gegen sprachen, ist vorzüglich der hervorzuheben, dass die Vorrich- 
tung nach der Tiefe, bis zu welcher die Kupferdrähte in das Queck- 
silber tauchten, verschieden schwer wog. Bei der gewählten Anord- 
nung ist die Schwankung der Tiefe, bis zu welcher die Drähte ein- 
tauchen, unmerklich. 


140 E. du Bois-Reymond: 


‘Wie zu erwarten, bringt jede Brandstrieme einen positiven 
Kraftzuwachs hervor. Doch sind bei gleicher Parelektronomie 
die Zuwachse kleiner als mit den Milchsäurescheibchen, weil 
die Berührung des Drahtes, der Länge des Muskels nach ge- 
messen, eine kürzere Strecke des Achillesspiegels in künst- 
lichen Querschnitt verwandelt, als die Berührung des Scheib- 
chens, die künstliche Neigungsstromkraft aber mit der Länge 
des blossgelegten künstlichen Querschnittes wächst. Aus der 
geringen Breite der Striemen im Vergleich zu den geätzten 
Stellen unter den Scheibehen erwächst aber der grosse Vor- 
theil, dass man längs der Rückenfläche eines Gastroknemius 
viel mehr Striemen brennen, als Scheibchen anlegen kann. 

Folgende Tabelle zeigt beispielsweise das Verhalten zu- 
nächst ohne Tetanus in einem vollständigen Versuche. 


Ursprüngliche Kraft in Com- 


pensatorgraden . . . .» +442 
J Brandstrieme I. Kraftzuwachs. 
Achillessehne 44:6 EL. (Ü12l 


| 45°6 
[ Il. 
56°5 lit, 
59-4 
IH. 
67°8 ...+%4 
704 
IV. 
11.9 2 ee ZEN 
794 
ıV; 
85°0 NE 
2 Minuten Pause. 
J 89-0 
v1 
94:0  , 
95-4 
vm. 
| 


99-6 ... +42 
99:8 


Achillesspiegel 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 141 


VII. 
1050 Sle.lhınl2 
1066 
IX, 
1110 erh AA 
2 Minuten Pause. 
1150 
[ x 
1160 EL) 
1172 
XI. 
119-0 le) 
Rothes Fleisch . . . | 118-0 
Xo. 
1196 ee 166 
1197 
XIH. 
1114 oe 


Die römischen Zahlen bezeichnen die folgweise von un- 
ten nach oben in etwas über 2 Mm. Abstand von einander vor- 
genommenen Verbrennungen. I]. fand an der Achillessehne 
selber statt, II—IX. am Achillesspiegel, X—XII. am rothen 
Fleische zwischen Achillesspiegel und Hauptsehne. Die beiden, 
gewöhnlich um 1—2 Einheiten im positiven Sinne verschiede- 
nen Zahlen zwischen je zwei Verbrennungen sind die Kraft 
unmittelbar nach der vorhergehenden und unmittelbar vor der 
darauf folgenden Verbrennung. Die Verbrennungen geschahen 
in einem Zeitabstande von je zwei Minuten, während welcher 
die Kraft um jene Grösse stieg, erstens, weil sie häufig am 
Gastroknemius im Steigen begriffen ist, zweitens, weil die Wir- 
kung der Verbrennung, obschon im Wesentlichen rasch been- 
digt, in geringem Maasse noch über die nächstfolgenden Mi- 
nuten sich erstreckt. Jener Zeitabstand wurde zwischen zwei 
Verbrennungen gelassen, theils damit sicher Zeit bleibe zu klei- 
nen Geschäften, deren Dauer sich nicht genau regeln lässt, als 
da sind das Rücken des Drahtes auf dem Muskel, das Corri- 


142 E. du Bois-Reymond: 


giren der täglichen Variation, u.d.m.; theils, um in den nun 
erst folgenden wirklichen Versuchen das Tetanisiren bis zur 
Erschöpfung ausführen zu können, ohne die Periode der Ver- 
suche zu verändern. Zweimal in obiger Reihe, zwischen V. 
und VI, und zwischen IX. und X., ist aber eine Pause von 2 
Minuten gemacht, um festzustellen, dass dies von keinem Ein- 
fluss auf die Grösse des Zuwachses ist, den die darauf folgende 
Verbrennung erzeugt: da man nämlich beim Tetanisiren, aus 
verschiedenen Gründen, die 2-Minuten-Periode nicht immer 
streng innehalten kann. Der Unterschied der beiden durch | 
die längere Pause getrennten Zahlen ist natürlich grösser, als 
der bei kürzerer Pause. 

Liegt der Draht der Achillessehne selber an, so ist oft 
der Zuwachs Null. Im vorliegenden Fall ist eine Spur 
davon da; vielleicht durch Strahlung des Drahtes nach 
den letzten Faserenden des Achillesspiegels zu bewirkt, 
da auf der Achillessehne der Draht durch Leitung und Ver- 
dampfung am wenigsten Wärme verliert, und da die Wirkung 
jener untersten Faserenden am wenigsten durch Nebenschlies- 
sung geschwächt wird. 

Sobald man mit dem Drahte den Spiegel selber betritt, ist 
die Wirkung der Verbrennung verhältnissmässig sehr gross, 
sogleich aber nehmen auch die Zuwachse mit fast vollkomme- 
ner Regelmässigkeit ab biszu der für das Auge am unversehrten 
Muskel nicht sicher erkennbaren Grenze zwischen Achillesspiegel 
und natürlichem Längsschnitt. Das Ueberschreiten dieser Grenze 
spricht sich in unserem Versuche durch plötzliches Sinken des 
Zuwachses aus. Doch fahren, bis nah an die Hauptsehne, 
kleine positive Zuwachse zu erscheinen fort, möglicherweise 
‘weil auch hier noch einzelne Fasern am Perimysium enden, 
und erst ganz oben werden die Zuwachse negativ, wie es mit 
den Milchsäurescheibchen schon früher geschieht. Dies Nega- 
tivwerden der Zuwachse erklärt sich bekanntlich so, dass die 
abgestorbene Stelle wegen der Säurung den in die Bussole sich 
ergiessenden Stromzweig durch Nebenschliessung schwächt.?) 


1) Monatsberichte der Akademie, 1872. S. 201. — Vergl. 1.S.558. 
2) Dies Archiv, 1871. S. 570. 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 143 


Uebrigens ist, wie man sieht, das Gesetz, nach welchem die 
Grösse des Zuwachses von der Höhe abhängt, in der die Ver- 
brennung geschieht, ganz dasselbe, wie für die Milchsäurescheib- 
chen, Natürlich überzeugte ich mich auch hier davon, dass 
die Abnahme des Zuwachses von unten nach oben unabhängig 
von der Reihenfolge ist, in der man die Grösse des Zuwachses 
an verschiedenen Stellen untersucht, mit anderen Worten, dass 
man Zunahme des Zuwachses erhält, wenn man mit den Ver- 
brennungen von oben nach unten vorschreitet.!) Die Abnahme 
der Zuwachse von unten nach oben wäre vielleicht etwas ge- 
schwinder, wüchse nicht aus dem oben S. 139 erwähnten Grunde 
die Länge der Striemen nach oben zu. Eine längere Strieme, d.h. 
eine solche, welche einen grösseren Theil des Muskels umgiebt, 
wirkt in der That stärker als eine kürzere, wie mehrere in 
gleicher Höhe nebeneinander angebrachte Milchsäurescheibchen 
ihre Wirkung gegenseitig etwas verstärken.?) 

Wie schon gesagt, ist die Wirkung einer Verbrennung 
wenige Secunden nach dem Austauchen des die galvanokaustische 
Kette schliessenden Bügels so gut wie beendet. Lässt man 
den Draht an derselben Stelle liegen, und erhitzt ihn nochmals 
durch 5° langes Schliessen der Kette, so ist die Wirkung stets 
sehr klein, und oft negativ. Lässt man aber die Kette länger 
geschlossen, so fährt die Kraft fort zu steigen. In einem Falle 
z.B. war die Reihe: 

Ursprüngliche Kraft + 38°3 
Brandstrieme I. Kraftzuwachs 
AO Elle 
dsl 
II. 
605...+ 74 
62:0 
III. Der Draht bleibi liegen, bis 
kein Steigen mehr erfolgt. 
989. 1.%..11000, 


1) Dies Archiv, 1871. S, 565. 566. 
2) Ebenda, S. 566, 567, 


ET RE a Su 
ICh RR 
We “0 


144 E. du Bois-Reymond: 


Anstatt einer regelrechten Strieme fand sich diesmal eine 
ausgedehnte trockene, matte Stelle, in deren Mitte ein brauner 
Punkt den Anfang der Verkohlung verrieth. Endlich ver- 
steht es sich, dass man durch stärkeres Erglühen des Drahtes 
stärkere Zuwachse erhält. 

Nach diesen Vorbereitungen konnte ich mit Sicher- 
heit zum eigentlichen Versuche schreiten. Mitten in einer 
regelmässigen Reihe wie die oben mitgetheilte, wurde jetzt 
der Gastroknemius möglichst stark und dauernd tetanisirt. 
Der Tetanus führt den Faden weit in die negative Scalenhälfte, 
bis zu 250 se. Mit der Zeit kommt ein Punkt, wo weder 
durch Verstärkung der Schläge, noch durch Hinabrücken mit 
den Thonspitzen am Nerven, der Faden in seiner auf- und ab- 
schwankenden negativen Ablenkung (s. oben $. 128) erhalten 
wird. Sein Sinken wird aber auch nicht beschleunigt dadurch, 
dass man zu tetanisiren aufhört. Es handelt sich also um 
schnell schwindende Nachwirkung. Bald wird das Sinken 
langsamer, zuletzt so langsam, dass es im Laufe von 5—10 
Secunden kaum noch einem Compensatorgrad entspricht. Jetzt 
ist der Augenblick da. Man löst das Uhrwerk aus, und liest 
vor dem Eintauchen und nach dem Austauchen des Kupfer- 
bügels die Kraft ab. Stets findet sich der Zuwachs grösser 
als bei der letzten Verbrennung. Da man, um einen sicheren 
Vergleichspunkt zu gewinnen, immer erst mehrere Verbrennun- 
gen von unten nach oben zu vornimmt, ist die Zunahme des Zu- 
wachses absolut nur klein. Sie istaber relativ beträchtlich, denn 
meist erscheint der Zuwachs mehr als verdoppelt. Fährt man 
im Versuche fort, so zeigt sich oft auch der durch die folgen- 
den Verbrennungen erzeugte Zuwachs vergrössert. Neben- 
stehende Tabelle giebt ein Bild solcher Versuche. 

Diese Tabelle lehrt, dass es diesmal unmöglich ist, wie 
im Falle der Milchsäurescheibehen, die durch den Tetanus be- 
wirkte Vergrösserung des Zuwachses allein auf Rechnung 
schwindender Nachwirkung zu bringen. Denn in Reihe] z.B. 
beträgt der Zuwachs durch die vierte, unmittelbar nach dem 
Tetanus vorgenommene, binnen höchstens 10 Secunden ihre 
Wirkung übende Verbrennung 12:6 °; der Zuwachs we- 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s.w. 145 


Gastroknemius 
en esse 


T. II. II. 
S E Ursprüng- en Ursprüng- N Ursprüng- eat 
E E licheKraft yaehs, |licheKraft Wuchs. |lcheKraft Wachs. 
+ 216 + 805 +75:0 
n | 
DIT LI 99302. 848 ...+98 
29-3 86:2 83°8 
II, 
34 4-7 90:0 38 915 75 
39 89:3 90-3 
III. 
40.0: 2...3°0 93:2 39 96:6 63 
Tetanus Tetanus. 
280 990 IT 
IV. | 
40:6 .. . 12:6 640 8:5 || 102-0 6:3 
Tetanus 
48:0 670 64:6 
W. 
560... 80 | 705 38 730 84 
Tetanus 
50°0 | 730 78:6 
VI | 
HER 8:5 I 76-0 30 | 862 76 
61-0 | 
Vo. 
Se: 10) 
j 


gen schwindender Nachwirkung während der zwölfmal länge- 
ren Zeit bis zum Beginne der fünften Verbrennung nur 7'’4. Da 
die Nachwirkung sinkt, wären freilich nicht 12x 12:6=151'2 er 
Zuwachs zu erwarten gewesen, wenn die erste Zunahme allein 
auf schwindender Nachwirkung beruhte, aber doch sicher eine 


grössere Zahl als 12-6, während eine kleinere beobachtet 
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1875, LO EE 


146 E. du Bois-Reymond: 


wurde. Dieselbe Betrachtung kehrt in jedem einzelnen Falle 
wieder. 

Ich bemühte mich, dem Versuch auch noch die Ge- 
stalt zu geben, dass ich bei compensirtem Strom am ruhen- 
den Muskel die Ausschläge durch die Verbrennungen in Scalen- 
theilen ablas, und auf der Höhe des Tetanus eine Verbrennung 
vornahm, welche einen grösseren Ausschlag liefern sollte. Ich 
stiess aber dabei auf die Schwierigkeit, dass ich den Muskel 
nicht stark genug spannen konnte, um ihn im Tetanus unbe- 
weglich zu machen, weil dann die Brandstriemen unregelmässig 
klafften und der Muskel dort einriss. Durch die Gestaltver- 
änderung beim Tetanus wurde der Draht in die Höhe ge- 
schnellt und kam an eine unrichtige Stelle zu liegen; suchte 
ich ihn erst während des Tetanus anzulegen, so verschob er 
sich bei dessen Nachlass. Ausserdem aber schien in den Ver- 
suchen, welche trotz diesen Schwierigkeiten einigermaassen ge- 
langen, während des Tetanus die Verbrennung nicht gehörig 
auf Erhöhung der Stromkraft zu wirken. Dies macht auf einen 
weiteren Fehler des Versuchsplanes aufmerksam. Durch Her- 
stellung künstlichen Querschnittes wächst die negative Schwan- 
kung, und der positive Zuwachs wegen aufgehobener Nachwir- 
kung muss zum Theil dadurch aufgewogen werden. 


$. XXII. Einerleiheit und gemeinsamer Ursprung 
von Parelektronomie und terminaler Nachwirkung 
aus der lebendigen Kraft der am Querschnitt bran-: 
denden Zuckungswelle werden wahrscheinlich 
gemacht. 


Wie dem auch sei, die vorigen Versuche lassen keinen 
Zweifel daran, dass die terminale Nachwirkung mit der Par- 
elektronomie in ihren wesentlichen Zügen übereinstimmt. Wie 
so oft, wenn man meint, etwas verstehe sich von selber, irrte 
ich mich also, als ich in der zweiten Abtheilung des zweiten 
Bandes meiner „Untersuchungen“ sagte: „Es versteht sich von 
„selber, dass die Erscheinung der Nachwirkung des Teta- 
„aus nichts zu schaffen hat mit dem parelektronomischen Zu- 
„stande*“, und ebenda S. 157: „Die oben erwähnte Frage nach 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s.w. 147 


„der wahren Bedeutung der Nachwirkung, ob sie beruhe auf 
„einer Verminderung der elektromotorischen Kraft des Muskels 
„mit Ausschluss der parelektronomischen Schicht, oder auf einer 
„vorübergehenden Erhöhung der Kraft dieser Schicht allein, ist 
„zu Gunsten der ersteren Ansicht zu entscheiden.“ Der er- 
stere Ausspruch ist falsch, der zweite dahin zu ändern, dass 
beide darin aufgestellte Möglichkeiten in Wirklichkeit zugleich 
stattfinden; indem erstere Möglichkeit durch die innere, letz- 
tere durch die terminale Nachwirkung verwirklicht wird. Um 
dies sicher behaupten zu können, waren freilich noch zwei 
Jahrzehnde tiefgehender Forschung nöthig. 

Jetzt kann die Frage nur noch sein, ob auch die genröhn 
liche Parelektronomie, deren Ursprung uns bisher unbekannt 
war, als Nachwirkung während des Lebens geschehener Zu- 
sammenziehungen zu deuten sei. Von vorn herein erscheint 
diese Vorstellung gerechtfertigt. Der einzige Unterschied, den 
wir zwischen Nachwirkung und Parelektronomie noch kennen, 
besteht in grösserer Flüchtigkeit der Nachwirkung auf ihren 
höheren Stufen. Allein dieser Unterschied ist nur ein grad- 
weiser. Wie schon gesagt, kommen alle möglichen Stufen der 
Nachwirkung bis zu solcher Höhe vor, dass der Strom gleich- 
sam sich nicht aus der negativen Schwankung erholt. 

Wenn es richtig ist, dass Parelektronomie nichts ist, 
als terminale Nachwirkung, so ist also jetzt die nächste Frage, 
warum unter Umständen die Nachwirkung nachhaltiger sei als 
sonst. Ursprünglich hielt ich bekanntlich die Kälte für Ursache 
der Parelektronomie, weil ich die Erscheinung zuerst an den 
Muskeln erkalteter Frösche wahrnahm, und weil Erkaltung le- 
bender Frösche ein sicheres Mittel abgiebt, sie herbeizuführen. 
Es blieb aber räthselhaft, weshalb dies nicht auch mit ausge- 
schnittenen Muskeln gelang. Als ich zu der neuen, hier mit- 
getheilten Einsicht gelangt war, durfte ich glauben, zugleich. 
auf den Grund gestossen zu sein, wesbalb es nicht gelinge, 
ausgeschnittene Muskeln durch Erkaltung parelektronomisch zu 
machen. Nichts schien klarer, als dass es in diesem Fall 
an den nöthigen Zusammenziehungen fehle. Ich hoffte aber 


nun, dass es mir an tief erkalteten Muskeln glücken würde, 
10* 


TEEN TEN 
eh 


148 E. du Bois-Reymond: 


die Nachwirkung regelmässig als Parelektronomie sich fixiren 
zu sehen. 


Zuerst verfuhr ich nur wie gewöhnlich an Muskeln eis- 


kalter Frösche. Als hier jeder auffallende Erfolg ausblieb, 
glaubte ich, dies liege vielleicht daran, dass die Muskeln zu 
warm wurden, bis ich sie in den Bussolkreis brachte und te- 
tanisirte. Da ich nicht mit allen meinen Vorrichtungen in die 
Kälte mich begeben konnte, vergrub ich bei Winterkälte von 
4—5° C. Frösche in Schnee, denen ich am Rücken ein Zink- 
elektrodenpaar angebracht hatte, und tetanisirte sie, dem Erfrieren 
nahe, zur Erschöpfung auf die früher von mir beschriebene Art.?) 
Jetzt musste es doch gleichgültig sein, ob die Muskeln im 
warmen Zimmer untersucht wurden, . da der blosse Aufenthalt 
der Muskeln in der Wärme an der einmal entstandenen Par- 
elektronomie nichts ändert.?) Allein auch so erhielt ich keinen 
ungewöhnlichen Grad von Parelektronomie. Der Einfluss der 
Kälte auf Entstehung der Parelektronomie erscheint überhaupt 
zweifelhaft, seit auch die Muskeln von Warmblütern parelek- 
tronomisch gefunden wurden.?) 

Die Ursache, weshalb unter gewissen Umständen die ter- 
minale Nachwirkung sich als Parelektronomie gleichsam fixirt, 
bleibt uns also vorläufig unbekannt. Dagegen lässt sich über 
die Entstehung der terminalen Nachwirkung selber eine Ver- 
muthung aufstellen. : 

„Man kann sich... . denken,“ sagte ich schon vor zwölf 
Jahren in der Abhandlung „Ueber das Gesetz des Muskel- 
stromes“, „dass gewisse Vorgänge, die sich bei der Verkürzung 
„von der gereizten Stelle im Muskelbündel fortpflanzen, in 
„dessen Verlaufe keine Spur hinterlassen, weil in jeder Quer- 
„scheibe‘) die Störung auf Kosten der folgenden Scheibe sich 


1) Monatsberichte der Akademie, 1859. S. 315. 

2) Untersuchungen u.s. w. Bd. II. Abth. II. S. 135. 136. 

3) Untersuchungen u.s. w. Bd. II. Abth. II. S. 123. — Vergl. 
dies Archiv, 1871. S. 599. 

4) Es versteht sich, dass das Wort „Querscheibe“ hier geometrisch, 
nicht histologisch genommen ist, d.h. nicht, um damit, wie es seitdem 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s.w. 149 


„ausgleicht, dass aber am Ende des Bündels eine veränderte 
„Anordnung hinterbleibt, weil hier die Möglichkeit jener Aus- 
„gleichung fehlt“.') 

Bei Betrachtung der in der Muskelfaser fortschreitenden 
Zuckungswelle muss man in der That fragen, was denn aus 
ihr werde, wenn sie an’s Faserende gelangt. Zurückgeworfen 
wird sie nicht, sondern Welle um Welle erlischt scheinbar 
spurlos am Muskelquerschnitt. Die in diesen brandenden Wel- 
len enthaltene lebendige Kraft kann nicht verschwinden. Hr. 
Bernstein neigt zur Annahme, dass sie Wärme werde.?) Es 
ist aber gewiss keine unberechtigte Vermuthung, einen Theil 
davon in die terminale Nachwirkung sich umsetzen zu lassen. 

Doch bleibt zu erklären, warum bei künstlichem Quer- 
schnitt keine terminale Nachwirkung auftritt. Die Antwort 
liegt nahe: deshalb nicht, weil die am künstlichen Querschnitt 
entstehende parelektronomische Schicht sogleich wieder zerstört 
wird. Die terminale Nachwirkung lässt sich, wie die Parelek- 
tronomie, darauf zurückführen, dass am Querschnitt eine ein- 
fache Lage dipolar elektromotorischer Molekeln positive Pole 
nach aussen kehrt. Wird diese Lage in der Entstehung zer- 
stört, so kommt keine terminale Nachwirkung zu Stande. An 
einem Grunde für die Zerstörung fehlt es am künstlichen 
Querschnitte nicht. Er liest in der dort entstehenden Säure. 
Aeltere Querschnitte ätzen den Achillesspiegel an, denn da- 
durch ward ich auf die Säurebildung im absterbenden Muskel 
geführt.?) Frische mechanische Querschnitte freilich ätzen den 
Achillesspiegel minder stark an, doch sieht man die Kraft eines 
aufliegenden Muskels wegen der Verunreinigung des Thonschil- 
des mit Säure alsbald steigen, und zudem gehört mehr Säure 


gebräuchlich ward, einen der in der Länge der Faser aneinander 
stossenden Bestandtheile der contractilen Substanz zu bezeichnen. 

1) Dies Archiv, 1863. S. 687, 688. 

2) Untersuchungen über den Erregungsvorgang u.s. w. Heidel- 
berg 1871. S. 155. 156. 

3) Monatsberichte u.s.w. 1859. S. 292; — De Fibrae mus- 
eularis Reactione ut Chemicis -visa est acida. Berolini 1859.4. p. 7.11. 
— Untersuchungen u.s. w, Bd. II. Abth. II. S. 83 ff. 


150 E. du Bois-Reymond: 


dazu, um durch den sehnigen Ueberzug die Muskelsubstanz - 
anzugreifen, als um eine an die gesäuerte Schicht stossende. 
Molekellage unwirksam zu machen.!) 

Im Falle chemischen Querschnittes könnte man sich auch 
auf die ätzende Flüssigkeit berufen wollen, welche den Quer- 
schnitt erzeugte; allein dies ist weder nöthig noch richtig, da 
unstreitig die lebende Muskelsubstanz von der eindringenden 
ätzenden Flüssigkeit stets durch eine Schicht abgestorbener 
Substanz getrennt bleibt, deren Säure hinreicht, die in ihrer 
nächsten Nähe entstehende parelektronomische Schicht zu zer- 
stören. Selbst wenn die ätzende Flüssigkeit alkalisch ist, dürfte 
dies der Vorgang sein. 

Der vom künstlichen Querschnitt aus fortschreitende Tod 
des Muskels wäre also Ursache, dass dort keine terminale Nach- 
wirkung zu Stande kommt. Wie langsam er auch fortrücke, 
sein Fortschritt wäre schnell genug, um die im Tetanus stets 
an der Demarcationsfläche sich erneuernde verkehrt wirkende 
Molekellage gleichsam in statu nascenti zu vernichten. 

Am Sartorius und Cutaneus femoris besteht nicht selten 
Parelektronomie fort, nachdem ein Stück vom Muskelende ab- 
getragen ward.?) Hier giebt es eine parelektronomische Strecke, 
von der nur die dem Schnitte nächste Schicht dem Angriffe 
sogleich ausgesetzt wird. Es wäre der Mühe werth zu prüfen, 
ob nicht auch innerhalb dieser Strecke terminale Nachwirkung 
sich entwickele, und ob nicht die negative Schwankung des von 
solchem künstlichen Querschnitt abgeleiteten Stromes etwas 
vom Charakter der Schwankung bei natürlichem Querschnitt 
habe. 

Ueber Nachwirkung am Nerven ist nichts bekannt. Sollte 
am künstlichen Nervenquerschnitt keine terminale Nachwirkung 
sich finden, obschon im absterbenden Nerven keine Säure ent- 
steht (s. oben S. 131), so brauchte man deshalb die Vorstel- 
lung noch nicht aufzugeben, dass die Säurebildung die termi- 
nale Nachwirkung am künstlichen Muskelquerschnitt verhindert. 


1) Dies Archiv, 1867. S. 270 ft. 
2) Dies Archiv, 1863. S. 685; — 1867. 8. 264. 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s.w. 151 


Zwar dürfte man sich nicht darauf berufen, dass vielleicht die 
Innervationswelle eine geringere Summe lebendiger Kräfte vor- 
stellt, als die Contractionswelle. Denn die negative Schwan- 
kung ist am Nerven verhältnissmässig bedeutender, als am 
Muskel. Nicht bloss beträgt die negative Schwankung am Ner- 
ven ein Vielfaches der ursprünglichen Kraft (s. II. S. 651), 
sondern diese selber übertrifit wahrscheinlich die ursprüngliche 
Kraft des Muskels.!) Allein auch am Nerven schreitet der Tod 
vom Querschnitt aus fort, so dass auch ohne Säurung ein ver- 
derblicher Einfluss der Querschnittsnähe stattfindet. Aus dem- 
selben Grunde wäre wohl kaum zu erwarten, dass am künst- 
lichen Querschnitt erkalteter Muskeln terminale Nachwirkung 
sich zeige, wo auch keine Säure entsteht.) 

Ueber Parelektronomie und terminale Nachwirkung am 
Nerven würde man vielleicht an vernarbten centralen Stümpfen 
von Muskelnerven etwas erfahren. 


$S. XXIL Von der Rolle, welche die terminale 
Nachwirkung bei der negativen Schwankung des 
Muskelstromes im Tetanus spielt. 


Nun erst sind wir im Stande, in den Erörterungen des 
XIX. Paragraphen mit gehöriger Einsicht fortzufahren. Es 
fragt sich nämlich, ob bei Berücksichtigung der terminalen 
Nachwirkung die dort gezogenen Schlüsse in Kraft bleiben. 
Die terminale Nachwirkung scheint bei der Schwankung in 
doppelter Art berücksichtigt werden zu müssen. Erstens sum- 
mirt sich ihre negative Kraft in jedem Augenblick algebraisch 
zu der in demselben Augenblicke bestehenden Kraft des schwan- 
kenden Stromes. Zweitens muss jene negative Kraft, wenn 
wirklich terminale Nachwirkung und Parelektronomie einerlei 
sind, an der Schwankung in gleichem Maass sich betheiligen, 
wie die schon vorhandene negative Kraft der parelektronomi- 
schen Strecke. 


1) Dies Archiv, 1867. S, 440. 
2) Monatsberichte u.s. w. 1859. S. 309; — De Fibrae musecula- 
ris Reactione ut Chemicis visa est acida etc. p. 25. 


152 | E. du Bois-Reymond: 


Um dies in unsere Formeln aufzunehmen, vernachlässigen 
wir zunächst die innere Nachwirkung und die Ermüdung. Die 
terminale Nachwirkung, die in den Erörterungen dieses Para- 
graphen schlechthin Nachwirkung heisst, schreiben wir als 
Function der Zeit N«. Der Tetanus beginne zur Zeit t=0. 
Dann ist N« Null für £=0; es wächst mit? nach unbekanntem 
Gesetze, vermuthlich in einer gegen die Abscissenaxe concaven 
Curve, welche sich einer dieser Axe parallelen Geraden asymp- 
totisch anschliesst. Ueber die Ordinate dieser Geraden wissen 
wir nichts Sicheres. Wir können nur aussagen, dass sie mit 
P wächst, dass sie stets viel <P ist und dass bei Beseitigung 
von P auch N«, zu bestehen aufhört. 

Zur Zeit t, ist 

Un = 0M — u(PIENK«)) 
0, —- U,=(1-a)M-(1-a)P +0.Nk). 

Wir haben nun, wie wir im $. XIX ohne Berücksichti- 
sung der Nachwirkung thaten, nacheinander »=1, =«@ und 
>a zu Setzen und zu untersuchen, wie nach Hinzufügen des 
die Nachwirkung vorstellenden Termen unsere Ausdrücke mit 
dem Thatbestande stimmen. Dabei ist aber jetzt zu bedenken, 
dass 1. durch Hinzufügen jenes Termen U, Function der Zeit 
ward; 2. mit P stets zugleich N), =0 zu setzen ist, nicht 
aber umgekehrt, oder wenigstens nicht im Falle, wo N«, durch 
t,=0 verschwindet. 

Die gesuchte Uebereinstimmung wird demnach analytisch 
darin sich äussern, dass 1. U, — U; stets, auch für jeden 
Werth von i,, positiv bleibt; 2. U, — U, durch Nullsetzen 
von Pund N absolut wächst; 3. eben dadurch das Verhältniss 
0, — U, : U, abnimmt. 


Bro 


bedeutet, wie man sich erinnert, Nichtbetheiligung der nega- 
tiven Kraft der parelektronomischen Strecke an der Schwan- 
kung. Auch die Kraft der Nachwirkung wäre nach unseren 
jetzigen Annahmen der Schwankung entzogen. «=1 macht 
für t=t, 


U, — U; = (1-a)M + a.N«,). 


SE nd nn A Zn an 2 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 153 


(1l—a)M ist auch ohne den die Nachwirkung vorstellenden 
Termen stets positiv, vollends mit diesem Termen für jeden 
Werth von f,. Auch nimmt das Verhältniss 
(1-a)M +0.Nk) 
M-:P 

durch Nullsetzen von P und N unter allen Umständen ab, da 
der Nenner vergrössert, der Zähler für jeden Werth von ,>0 
verkleinert wird. Dagegen nimmt für jeden solchen Werth von 
t, (l-a)M+a-Ne«), ab, statt zu, wenn N«, vernichtet wird; 
für ,=0 bleibt der Ausdruck constant. Dje Annahme «»=1 
ist daher unzulässig. 


Ted 


bedeutet, dass die negative Kraft der parelektronomischen Strecke, 
wie auch die der Nachwirkung, in gleichem Maasse schwankt, 
wie die positive Kraft des Gesammtmuskels. Diese Voraus- 
setzung, von allen die natürlichste, mussten wir im $. XIX. 
aufgeben, weil dabei die Schwankung dem ursprünglichen 
Strome stets proportional wurde, d. h. klein bei kleinem posi- 
tiven Unterschiede M— P, Null an dem wegen Parelektrono- 
mie stromlosen, absolut positiv an dem aus demselben Grunde 
negativ wirksamen Muskel. Auch blieb das Verhältniss der 
Schwankung zum Strom in der Ruhe bei künstlichem Quer- 
schnitt dasselbe, wie bei natürlichem. 

Jetzt stellen sich beim ersten Blicke die Aussichten für 
diese Annahme günstiger. Durch die Nachwirkung wird die 
Proportionalität zwischen Schwankung und ursprünglichem 
Strom aufgehoben, aus welcher die der Wirklichkeit widerspre- 
chenden Folgen der Annahme entsprangen. Man hat für t=1, 

U, —-U,=(1l-a)(M-—-.P)+&. Na). 
Ist also M — P sehr klein, oder Null, so erschiene doch, durch 
Nachwirkung vorgespiegelt, negative Schwankung in ausrei- 
chender Grösse. Durch Nullsetzen von P und N wüchse die 
Schwankung absolut, so lange 


N«) 
pP = 


1— a 
a 


154 E. du Bois-Reymond: 


oder < als 3 für «=0'6. Wir haben keinen Grund, anzuneh- 
men, dass dies Verhältniss je. überschritten werde. 

Man hat sodann 

(1 —a)(M-P) +4: Ne, > (1 _ a)M 
In M 
für MZP. 

Weiter aber geht die Uebereinstimmung der neuen Aus- 
drücke mit den Thatsachen nicht. Für M< P wird die linke 
Seite letzterer Ungleichheit die kleinere. Auch ist für P>M 

(1-a)(M-P)+o-Na,>0 
nur so lange wie 
@.Nae)>(l—a)(M-P), 
also negativ für kleine Werthe von ,; d.h. der absolut nega- 
tiven Schwankung, welche bei hinlärglicher Dauer des Tetanus 
dadurch. vorgespiegelt würde, dass die Nachwirkung die abso- 


lut positive Schwankung übercompensirte, ginge ein absolut, 


positiver Ausschlag voraus. 

Aber noch aus anderen Gründen ist die Schwankung bei 
M= oder wenig > P nicht bloss durch Nachwirkung zu er- 
klären. Zwar nicht deshalb, weil dabei keine secundäre Zu- 
ckung stattfinden könnte. Denn um diese zu rechtfertigen, 
genügte, wie schon bemerkt (S. oben 8.126), die kleinste Un- 
gleichzeitigkeit in der Zusammenziehung der verschiedenen 
Theile des Muskels. Allein die Erscheinungen am Rheotom 
lassen jene Auslegung nicht zu. Hier sieht man die Schwan- 
kung im Latenzstadium auftreten, und es ist überhaupt keine 
Nachwirkung nachweisbar (s. oben I. S. 579. 593. — II. S. 667). 
Ebenso zeigt sich die Schwankung bei Einzelzuckungen, wo 


noch weniger daran zu denken ist, sie bloss auf Nachwirkung, 


zurückzuführen. 


Ill. +1. >22 200. 


Sehen wir nun zu, wie die Dinge bei der Annahme 
1>aD»a sich gestalten, welche schon ohne Berücksichtigung 
der Nachwirkung am besten den Thatsachen sich anschloss. Wie 
man sich entsinnt, bedeutet diese Annahme, dass die negative 
Kraft der parelektronomischen Strecke, zu der wir jetzt auch 
die der Nachwirkung rechnen, zwar an der Schwankung 


a BE u 2a ala ige ln la nl lu Senn nn 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 155 


sich betheiligt, doch in geringerem Maass als die positive Kraft 
des Gesammtmuskels. Setzen wir wieder (s. oben S. 127) 
a=na, wo n>|1, so hat man für t=t, 
U,- U,=(1- a)M- (1-na)P + na.N«). 
Dieser Werth ist wohl stets positiv, denn er ist es, so lange 
M na. Ne) l—-na 


USERN © 

wir sehen aber schon S. 127, dass auch ohne den links hinzu- 
gekommenen, die Nachwirkung vorstellenden 'Termen diese Un- 
gleichheit immer erfüllt sein wird, sobald für P<1'5 M und 


v >06, n> = Jetzt wird n wegen jenes Termen sogar 


noch kleiner sein können. Vernichtung von P und N verklei- 
nert sodann das Verhältniss 
A-a)M - (1 ona)P+na- Ne) 
MER 4 
denn wegen n> 1 hat man 
(a I) rn. Ney > 0. 

Endlich Vernichtung von P und N vergrössert absolut die 

Schwankung, so lange na-N«) < (L—-na)P, d. h. wieder so lange 


N, 2 
(s. oben 8. 153. 154.) wie > <5- 


Man sieht, dass die Annahme « >«a bei Berücksichtigung 
der Nachwirkung abermals am besten besteht, noch besser als 
ohne deren Berücksichtigung, denn sie führt zu einem der Null 
gleichen oder absolut positiven Ausschlag unter gewissen Be- 
dingungen später als ohne Nachwirkung. Sie verträgt sich, 
wie kaum bemerkt zu werden braucht, mit den Beobachtungen 
am Rheotom und mit dem Auftreten von Einzelschwankungen. 

Wenn wir im Vorigen die Kraft der Nachwirkung sogleich 
wieder an der Schwankung sich betheiligen liessen, so ist 
übrigens diese Voraussetzung nicht so aufzufassen, als werde 
dadurch die Uebereinstimmung unserer Formeln mit der Wirk- 
lichkeit bedingt, sondern so, dass auch. bei jener Voraussetzung 
diese Uebereinstimmung stattfinde. Man kann in den Formeln 
den Coöfficienten na in dem die Nachwirkung ausdrückenden 
Termen —=]1 setzen, ohne dass die Formeln aufhören, im All- 
gemeinen so gut wie früher der Wirklichkeit zu entsprechen. 


156 E. du Bois-Reymond: 


Wir haben bisher innere Nachwirkung und Ermüdung ver- 
nachlässigt. Es fragt sich, wie bei deren Berücksichtigung die 
. Dinge sich gestalten. Beide würden in unseren Formeln als 
von der Zeit abhängige Coöfficienten einzuführen sein. Es 
wäre besonders zu erwägen, ob die innere Nachwirkung (von 
der Ermüdung scheint dies nicht zweifelhaft) auch die Kräfte 
der parelektronomischen Strecke ergreife oder nicht. Doch 
wollen wir diese weiteren Verwickelungen und feineren Züge 
der Erscheinung vorläufig bei Seite lassen. Die innere Nach- 
wirkung im Vergleich zur terminalen Nachwirkung ist nament- 
lich bei kürzerer Dauer des Tetanus so unbedeutend, dass un- 
sere Schlüsse durch deren Berücksichtigung kaum eine Aende- 
rung erleiden würden. Auf eine aus dem Thatbestande sich er- 
gebende bestimmte Grössenbeziehung zwischen innerer Nach- 
wirkung und Ermüdung kommen wir noch zurück (s. unten 
S. 160). 

Wir halten uns also für berechtigt, bis auf Weiteres von 
der Annahme « > a auszugehen, und unsere Vorstellung vom 
Hergange bei der Schwankung des vom natürlichen Querschnitt 
abgeleiteten Stromes gestaltet sich folgendermaassen. 

Während die terminale Nachwirkung wächst, und einen 
Zuwachs der negativen Kraft der parelektronomischen Strecke 
vorstellt, bekämpfen sich zwei relativ negative Schwankungen: 
l. die auch absolut negative Schwankung der positiven Kraft 
des Gesammtmuskels; 2. die absolut positive Schwankung der 
negativen Kraft der parelektronomischen Strecke und der Nach- 
wirkung. Die absolut positive Schwankung ist im Vergleich 
zur ursprünglichen Kraft die geringere, daher die absolut re- 
lative Schwankung in der Regel (s. unten) die Oberhand hat. 
Die so resultirende Schwankung ist nothwendig absolut kleiner 
als die negative Schwankung bei künstlichem Querschnitt, ja 
es sind Fälle anzunehmen, in welchen der grösste Theil der 
sich kundgebenden Schwankung nur Nachwirkung ist. 

Es scheint sick aber so zugleich eine einfache Erklärung 
zu ergeben für den eigerthümlichen Verlauf der Schwankung 
bei natürlichem Querschnitte, für deren stockenden, ja von 


Rückschritten unterbrochenen Gang. Zu dieser Erklärung 


i 
TED : € 
ER IRRHT a dd udn DE mn a AL dd" m Ham ln N u > 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s.w. 157 


stehen uns jetzt sogar zwei Mittel zu Gebote. Man kann sich 
erstens denken, dass n nicht constant ıst, sondern auf- und 
abschwankt. Man kann sich zweitens denken, dass einer ge- 
wissen Grösse der Nachwirkung ein Zustand labilen Gleichge- 
wichtes entspricht, und dass sie dann leicht auf einen geringe- 
ren Werth zurückspringt, von dem aus sie langsamer wieder 
anwächst, etwa wie die Polarisation beim Erschüttern der Elek- 
troden.‘) Auch könnte beides zu gleicher Zeit stattfinden. 

Die innere Wahrscheinlichkeit beider Annahmen ist indess 
gering. Es widerspricht der Ermüdung, dass die negative 
Schwankung der parelektronomischen Kräfte zeitweise wieder 
an Stärke zunehmen soll, und die Annahme, dass die termi- 
nale Nachwirkung einem Zustande labilen Gleichgewichtes ent- 
spreche, passt schlecht zur Dauerbarkeit der Parelektronomie, 
die mit ihr einerlei sein soll. 

Es wäre nutzlos, neue Vermuthungen zu ersinnen, um 
diesen Schwierigkeiten zu begegnen, und das Gerathenste wird 
sein, durch fortgesetzte Versuche weiteren thatsächlichen Boden 
zu erwerben. 

Wenn der Strom sich aus der terminalen Nachwirkung 
nicht erholt, sondern dauernd kleiner, ja verkehrt bleibt, und 
bei erneutem Tetanus nur sehr geringe absolut negative Schwan- 
kung entsteht, obschon der Muskel sich noch gut zusammen- 
zieht, so ist dies wohl dahin zu deuten, dass dann auch der 
erste negative Ausschlag wesentlich nur durch die sich ent- 
wickelnde und als Parelektronomie fixirende Nachwirkung be- 
dingt war, und eine eigentliche Schwankung fehlte, weil die 
Ungleichheit («) (oben S. 155) sich nicht erfüllt fand, sondern 
deren Unterschied fast Null war. 

Sollte bei Tetanus eines mit natürlichem Querschnitt auflie- 
genden regelmässigen Muskels künftigeinmal im ersten Augenblick 
absolut positiver Ausschlag erfolgen, so wäre darin nicht etwa 
eine unerhörte Ausnahme von dem Satz zu sehen, dass negative 
Schwankung die Zusammenziehung begleitet. Sondern diese 
Erscheinung würde zunächst so auszulegen sein, dass die oben 


1) Untersuchungen u.s. w. Bd, I. S. 212. 


lie 
BENNER WERNER. - 


158 E. du Bois-Reymond: 


S. 155 angegebenen Bedingungen für U, — U, > 0 nicht er- 
füllt waren. Ich lege Gewicht hierauf, weil ich im Laufe mei- 
ner zahlreichen Versuche einige Mal beim Tetanisiren des 
mit Aequator und unterem sehnigen Ende aufliegenden Sartorius 
zuerst positive, dann negative Wirkung erhielt, was mir da- 
mals räthselhaft blieb. Nach Willkür experimentiren lässt 
sich hierüber so wenig, wie über die sich ganz in Parelektro- 
nomie verwandelnde Nachwirkung (s. oben S. 136). Mau muss 
warten, bis Einem gelegentlich solch ein Fall begegnet, eine 
Sachlage, welche planmässiger Erforschung so ungünstig wie 
möglich ist. 

In der ersten Abtheilung, S. 592. 595, erwogen wir die 
Möglichkeit, den Unterschied zwischen den Zeichen der Schwan- 
kung des Gastroknemiusstromes bei unvollkommenem und bei 
vollkommenem Tetanus aus der nur bei letzterem sich ent- 
wickelnden Nachwirkung zu erklären. Jetzt braucht kaum be- 
merkt zu werden, was damals noch nicht gesagt werden konnte, 
dass mit Nachwirkung; dort die terminale gemeint war. 


$. XXI. Graphische Darstellung des elektrischen 
Vorganges im Tetanus. 


Fig. 2 ist die graphische Darstellung der im vorigen Para- 
graphen entwickelten Vorstellung vom elektrischen Vorgang im 
Tetanus. Sie ist abermals eine weitere Entwickelung der ur- 
sprünglichen in meinen „Untersuchungen“ gegebenen Figur, 
welche den Verlauf des Muskelstromes im Tetanus erläuterte, 


soweit er damals bekannt war.!) Zuerst zeigte diese Figur 


nur die Ktenoide mit abwärts gerichteten Zähnen von verschie- 
dener Länge in verschiedenen Abschnitten, um zu verdeut- 
lichen, wie der Abnahme der Stromstärke im Tetanus, sobald 
diese Abnahme nicht stetig sei, verschiedene Länge der Zähne 
entsprechen könne (vergl. oben II. S. 611). Als ich später die 
Nachwirkung fand, wiederholte ich dieselbe Figur mit dem 
Unterschiede, dass die Länge der Zähne unbestimmt blieb, die 
Ktenoide aber, um die mit der Dauer des Tetanus zunehmende 


1) A. a. O. Bd. I. Abth. I. Taf. I. Fig. 89. S. 91. 121. 


ne nu can na ci = ln nn u 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s. w. 159 


a) UNTEN 


PA NUNG 


BE NN mm 
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j 

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= 

= 

ı l 
2 


e— 


Fig. 2. 
Nachwirkung darzustellen, zwischen je zwei Zähnen immer 
weniger hoch wieder emporstieg. Mit wechselnder Dauer des 
Tetanus wurde gleichsam der Rücken des Kammes höher.) 
Jetzt liegt uns ob, in die Figur auch noch die nun er- 
kannte Schwankung der parelektronomischen Kraft aufzunehmen 


1) A. a. O. Bd. II. Abth. II. Taf. V. Fig. 145. S. 157. 


Be iM 
a it, 
RN 


160 E. du Bois-Reymond: 


und die innere von der terminalen a: zu scheiden. 
Dies geschieht folgendermaassen. 

In den beiden Abschnitten I. und II. der Fig. 2 stellen 
die Abscissenaxen Oi die Zeit vor. Die Abscissenwerthe sind 
dieselben. Bei r fängt Tetanisiren an, bei r, ist die letzte 
Einzelschwankung abgelaufen. In I. X sieht man die Einzel- 
schwankungen der Kraft bei künstlichem Querschnitt, in I. N 
die Einzelschwankungen der parelektronomischen Kraft und der 
terminalen Nachwirkung, in II. X die Gesammtschwankung 
bei künstlichem, in II. N die Gesammtschwankung bei natür- 
lichem Querschnitte, wie diese Schwankungen an der aperiodi- 
schen Bussole mit leichtem Spiegel sich darstellen. _Wir be- 
trachten zuerst Abtheilung I. in ihren beiden Unterabtheilun- 
gen K und N. a 

Die in I. X über der Axe verlaufende Curve m, mm, ist 
die der Kraft des Muskels im Tetanus bei künstlichem Quer- 
schnitt. Sie unterscheidet sich von der zuletzt von mir in den 
„Untersuchungen“ a. a. O. gegebenen Curve dadurch, dass jetzt 


u TR 
RAIN ER = 


die Ktenoidenzähne, deren Länge dort unbestimmt blieb, be- 


stimmte Länge erhielten. Wir lassen den ersten Zahn sich der 
Axe nähern, nicht aber sie erreichen. Wenn nämlich auch die 
Einzelschwankung gewöhnlich die Axe erreichte, was nicht der 
Fall ist, dürften wir vorläufig doch der Polarisation halber die- 
sem Verhalten keine wesentliche Bedeutung beilegen, sondern 
müssten darin ein zufälliges Zusammentreffen sehen (s. oben 
Il. S. 649). 

Die Länge der Ktenoidenzähne nimmt mit wachsender 
Dauer des Tetanus wegen der Ermüdung schnell ab: denn 
trotz der wachsenden inneren Nachwirkung führt Tetanus bei 
künstlichem Querschnitte nicht zu beständiger Ablenkung.?) 
Die Zahnlänge muss folglich so schnell abnehmen, dass die 
Verkürzung der Zähne die Schwächung des Stromes in den 
Intervallen zwischen den Zähnen übercompensirt (vergl. oben 
S. 157). Das Gesetz, wonach die Abnahme geschieht, ist uns 
unbekannt; in Ermangelung einer einigermaassen berechtigten 
Vermuthung darüber ist esin der Figur als linear angenommen. 


1) 8.1. S. 529. 530. 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s.w. 161 


Zwischen je zwei Zähnen steigt die Curve immer weniger 
hoch empor. Dadurch stellen wir jetzt ausschliesslich die in 
der Masse des Muskels stattfindende innere Nachwirkung vor, 
Da die innere Nachwirkung vermuthlich einem oberen Grenz- 
werth asymptotisch zustrebt, zeichnen wir die Ourve ihres 
Wachsthumes einstweilen convex gegen die Abscissenaxe. Nach 
Aufhören des Tetanus nimmt die Nachwirkung zuerst schneller, 
dann langsamer, also in einer gegen die Axe concaven Curve 
ab. Vollkommen erholt sich an dem des Kreislaufes beraubten 
Muskel die Kraft wohl nie. 

Am besten betrachten wir nun sogleich den Abschnitt II. X 
der Figur, der den Verlauf der Gesammtschwankung bei künst- 
lichem Querschnitte zeigt. Die Curve k,Akk, steht zur Curve 
m, mm, in folgender Beziehung. 

Der zwischen ihr und der Geraden k, k, begriffene Flä- 
chenraum ist (der Idee nach) gleich dem Flächenraume zwi- 
schen der Curve m, mm, und der Geraden m, m,, und diese 
‘Gleichheit der Flächenräume besteht auch zwischen je zwei 
Ordinaten, deren Abscissenunterschied nicht unter eine gewisse 
Grösse sinkt, welche um so kleiner ist, je kleiner die Beruhi- 
gungszeit des Magnetspiegels.') Denn wäre letztere kleiner, 
als ein gewisser sehr kleiner Werth, so würde der Spiegel die 
Einzelschwankungen unverändert mitmachen. Man bemerkt 
an der Curve der Gesammtschwankung den stetigen Gang; das 
schnell nach Beginn des Tetanus eintretende Minimum M, auf 
dessen absolute Grösse wir noch zurückkommen; das darauf 
folgende Wiederansteigen der Kraft, dadurch bedingt, dass der 
durch die Ktenoidenzähne bedeckte Flächenraum schneller ab- 
nimmt, als die innere Nachwirkung wächst; das plötzliche An- 
steigen bei Aufhören des Tetanus; endlich die verhältnissmäs- 
sig geringe innere Nachwirkung. 

Die bei I. N unter der Axe verlaufende Curve p,pp, ist 
die der negativen Kraft der parelektronomischen Schwankung 
im Tetanus nach unserer jetzigen Anschauung. Um der Vor- 
stellung einen Anhalt zu geben, ist Op, —=(0m, gemacht, d.h. 


1) Vergl. Monatsberichte der Akademie, 1869. S. 835. 
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1375. 11 


162 E. du Bois-Reymond: 


der ruhende Muskel ist als stromlos wegen Parelektronomie 
angenommen. Bei Beginn des Tetanus geht auch die Curve 
Pop P, In eine Ktenoide über, die zum Unterschiede von der 
zuerst betrachteten positiven die negative Ktenoide heissen 
soll. Die Zähne der negativen Ktenoide haben mit denen der 
positiven Ktenoide gleiche Abseissen, sind aber aufwärts ge- 
richtet. Die Zähne beider Ktenoiden liegen somit im Allge- 
meinen symmetrisch zur Abscissenaxe. Sie unterscheiden sich 
aber von einander durch ihre Länge und durch das Gesetz, 
wonach die Höhe ihres Ursprunges mit der Dauer des Tetanus 
sich ändert. 

Die negativen Zähne sind verhältnissmässig, also für 
0p, = 0m, auch absolut, kürzer als die positiven, weil die ne- 
gative Kraft der parelektronomischen Strecke an der Schwan- 
kung weniger sich betheiligt, als die positive Kraft des Ge- 
sammtmuskels (S. oben S. 156). 

Beispielsweise ist in der Figur der erste negative Zahn 
/;mal so lang gemacht, wie der erste positive. 

Während als Ausdruck der inneren Nachwirkung die po- 
sitive Ktenoide zwischen je zwei Zähnen weniger hoch 
emporsteigt, steigt als Ausdruck der terminalen Nach- 
wirkung die negative Ktenoide zwischen je zwei Zähnen 
im Allgemeinen immer tiefer hinab. Die positiven Zähne 
entspringen aus immer geringerer Höhe über, die negati- 
ven im Allgemeinen aus immer grösserer Tiefe unter der 
Abscissenaxe. Weil aber die terminale Nachwirkung die in- 
nere Nachwirkung übertrifft, so ändert sich die Höhe, aus der 
die Zähne entspringen, für die negative schneller als für die 
positive Ktenoide. Hört der Tetanus auf, so ist die Kraft der 
parelektronomischen Strecke vergrössert um die der terminalen 
Nachwirkung, welche in einer gegen die Abscissenaxe zuerst viel- 
leicht concaven, dann convexen Curve sehr allmählich abnimmt. 

Bisher sind wir unserer Sache ziemlich gewiss. Von jetzt 
ab wird Alles hypothetisch, indem es der Möglichkeiten, 
durch welche wir die Erscheinungen formell erklären können, 
mehrere giebt, aber kein Mittel, dazwischen zu entscheiden. 

Es fragt sich nämlich jetzt, wie lang die folgenden nega- 
tiven Zähne zu machen seien, und wohin wir ihren Ursprung 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s.w. 163 


zu verlegen haben. Wir stellten oben S. 151 als wahrschein- 
lich hin, dass die eben erst entstandene Kraft der Nachwirkung 
alsbaldin demselben Maasse wie die derparelektronomische Strecke 
die Schwankung mitmache. Danach könnten wir unter der Vor- 
aussetzung, dass wir das Gesetz kennten, nach welchem die ter- 
minale Nachwirkung wächst, über die Länge eines beliebigen 
negativen Zahnes wohl etwas aussagen. Denn sei n das Ver- 
hältniss der Länge des ersten negativen zu der des ersten po- 
sitiven Zahnes (also in unserer Figur n—=3), was wir so aus- 
drücken wollen: 
Ba, —W.E u 
so hätte man, bei rechteckigen Ktenoidenzähnen (S. oben I. 
S. 641. 650) allgemein die Länge des vten negativen Zahnes 
n-D+ (P+ N) 
M ; 
wo ?, die Abscisse des Zahnes bedeutet. 
Allein eine Menge Umstände widersetzt sich einer so ein- 
fachen Schlussfolge. Wegen -der Ermüdung und der inneren 


A 


Nachwirkung wissen wir nicht, wie wir die Länge Z ,, zu 
nehmen, und was zur Zeit it, als Kraft M des ruhenden Mus- 
kels anzusehen sei. Unstreitig ermüdet, um uns so auszu- 
drücken, die parelektronomische Strecke; ob auch der ihr eben 
in Gestalt terminaler Nachwirkung gewordene Kraftzuwachs, 
wissen wir nicht. Sodann stellten wir schon oben $. 156. 157 Ver- 
muthungen auf, um den eigenthümlichen Gang der Schwankung 
bei natürlichem Querschnitte zu erklären. Wir nahmen an, 
dass entweder n schwanke, mit welchem bei rechteckigen Kte- 
noidenzähnen n durch folgende Relation verknüpft sein würde: 
_ RP+T(P-nL), 

RM+T(M-L) ’ 
oder dass die terminale Nachwirkung zu einem labilen Zustande 


nn 


führe, und ihre Kraft plötzlich auf einen geringeren Werth zu- 
rückspringe, womit denn auch wieder Abnahme der negativen 
Zahnlänge verbunden sein würde. Es fehlte nicht an Einwän- 
den gegen beide Annahmen; wie die Sachen stehen, haben wir 
keine besseren, und ich habe den betreffenden Theil der Figur 


deshalb nach folgendem Prineip entworfen, 
111%, 


TER Eee NE RR 


164 E. du Bois-Reymond: 


Die ersten vier Zähne entspringen aus immer grösserer 
Tiefe, was die schnell wachsende terminale Nachwirkung ver- 
sinnlicht. Sie nehmen wegen Ermüdung an Länge ab, jedoch 
langsamer als die Ktenoidenzähne, weil vielleicht dieser Ab- 
nahme die Zunahme entgegenwirkt, welche aus der Betheili- 
gung der Nachwirkung an der Schwankung entspringt. Vom 
fünften bis achten Zahn habe ich n grösser genommen, um zu 
zeigen, wie solche Schwankung von n Stillstand, ja Abnahme 
der Gesammtschwankung bei natürlichem Querschnitt bedinge. 
Beim achten Zahne springt die bisher stetig wachsende termi- 
nale Nachwirkung auf einen geringeren Werth zurück, und es 
wird so die andere Art veranschaulicht, wie der Gang der Ge- 
sammtschwankung bei natürlichem Querschnitt erklärlich würde. 
Dasselbe wiederholt sich nochmals beim zwölften Zahn. 

Schliesslich ist in II. N die Gesammtschwankung bei na- 
türlichem Querschnitt schematisch dargestellt. Da der Muskel 
als in der Ruhe stromlos gedacht ist, können wir die Curve 
der Schwankung n,nn, bei natürlichem Querschnitt unter der- 
selben Abscissenaxe auftragen, über weicher wir die Schwan- 
kung bei künstlichem Querschnitt auftrugen. Um die Entste- 
hung der Curve n,nn, zu begreifen, denke man sich zuerst 
eine ÜOurve, deren Ordinaten die algebraische Summe der Ordi- 
naten der beiden Curven m,mm,, P,Pp, Seien. Dann steht 
Curve n,nn, zu jener resultirenden Curve in derselben Bezie- 
hung, wie Curve k,kk, zu Curve mymm,. Es würde aber 
nichts zur Deutlichkeit beitragen, wollten wir die resultirende 
Curve selber entwerfen. Es handelt sich nur darum, einsicht- 
lich zu machen, wie, durch Hinzutreten der parelektronomischen 
Kraftschwankung p,pPp,, Curve k,kk, in eine der Curve nınn, 
ähnliche übergeht. 

Man sieht erstens, dass das zwischen der Geraden p) Pı 
und der Abscissenaxe ot gelegene wagerecht schraffirte Stück 
der negativen Zähne sich von den positiven Zähnen abzieht. 
Dagegen fügen sich letzteren hinzu die von der Axe aus 
jenseit der Geraden zwischen je zwei Zähnen gelegenen, senk- 
recht schraffirten Flächenräume, welche die terminale Nach- 
wirkung vorstellen. Der zwischen zwei gegebenen Ordinaten 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s.w. 165 


begriffene wagerecht schraffirte Flächenraum übertrifft besonders 
zu Anfang den die Nachwirkung vorstellenden senkrecht 
schraffirten Flächenraum zwischen denselben Ordinaten. Unter 
dieser Annahme erklärt es sich, dass die Gesammtschwankung 
bei natürlichem Querschnitt langsamer ansteigt, als bei künst- 
lichem. Den Störungen des Ganges der Curve 9,ppı durch 
Schwanken von n, oder Rückspringen der Nachwirkung, oder 
Beides, entsprechen ähnliche Störungen im Gange der Ge- 
sammtschwankungscurve. Das später erreichte Maximum die- 
ser Curve „« bleibt unter dem Maximum der Gesammtschwan- 
kungseurve M bei künstlichem Querschnitt. Vom Maximum sinkt 
die Curve langsam herab, und hält sich, auf und ab schwankend, 
einige Zeit auf einer dem Maximum nahen Höhe; dieSchwankungs- 
curve geht dann allmählich in die der Nachwirkung über. 

Ich übergehe, dem schon oben S. 163 Gesagten gemäss, 
die Frage, ob die innere Nachwirkung auch die parelektrono- 
mischen Kräfte ergreife, als für den gegenwärtigen Stand der 
Untersuchung zu schwierig und unbedeutend zugleich. Dagegen 
scheint schliesslich folgende Erwägung gerechtfertist. Da die 
Curve der Gesammtschwankung bei natürlichem Querschnitt 
allmählich in die der terminalen Nachwirkung übergeht, und da 
letztere die innere Nachwirkung weit übertrifft, so kann zuletzt 
die Schwankung bei natürlichem der bei künstlichem Quer- 
schnitt gleichkommen, ja sie übertreffen, obschon das Maximum 
bei künstlichem das bei natürlichem Querschnitt übertraf. Ich 
habe diese Möglichkeit in die Figur aufgenommen, obschon ich 
über deren wirkliches Stattfinden keine unmittelbare Beobach- 
tung besitze. Um solche zu erlangen, müsste man an einem 
und demselben Muskel erst die Schwankung bei natürlichem 
Querschnitte nach einer gewissen Dauer des Tetanus messen, 
dann chemischen Querschnitt herstellen, und nun die Schwan- 
kung nach derselben Dauer des Tetanus messen. Wenn man 
aber jetzt geringere Wirkung erhält, steht Einem nichts dafür, 
dass dies nicht bloss von der Ermüdung und von der Herab- 
setzung der Erregbarkeit durch das Anätzen herrühre.. Der 
Versuch ist also nicht ausführbar. 

Ich glaube, dass hiermit die Kenntniss der negativen 


166 E. du Bois-Reymond: Ueber die”negat. Schwankung u.s. w. 


Schwankung in formeller Hinsicht soweit geführt ist, wie die 
vorhandenen Beobachtungen gestatten, bin aber weit davon 
entfernt, zu meinen, dass letztere den Kreis der schon mög- 
lichen, noch immer verhältnissmässig fruchtbaren, ja grundle- 
senden Wahrnehmungen erschöpft haben. Im Gegentheil, es 
dürfte sehr lohnend sein, an der Hand der gewonnenen Ein- 
sichten an die Beantwortung der vielen hier noch offenen Fragen 
sich zu machen. Einige dieser Fragen, welche mit dem Vori- 
sen in keinem unmittelbaren Zusammenhange stehen, werde 
ich im letzten Paragraphen dieser Abhandlung anregen. Vor- 
her jedoch liegt uns noch ob, einem auf den Umsturz aller 
obigen Anschauungen gerichteten Unternehmen entgegenzu- 


treten. 
(Schluss im dritten Heft.) 


FREETD 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen 
am Blatte der Dionaea muscipula. 


Von 
HERMANN MUNK. 
Hierzu Taf. I und Taf. III. 


(Schluss.) 


$. 6. Von den elektrischen Erscheinungen bei Reizung 
des Dionaea-Blattes. 

Ausser der Reizbewegung haben wir aber noch andere 
Folgen der Reizung an unserem Blatte zu untersuchen. 

Unter dem Titel: „Negative Schwankung“ theilt 
Hr. Sanderson Folgendes mit!): „a) Wenn das Blatt so auf 
die Elektroden aufgelegt wird, dass der normale Strom des 
Blattes durch eine Ablenkung der Nadel nach links angezeigt 
wird und man gestattet einer Fliege, in dasselbe zu kriechen, 
so schwingt die Nadel in dem Momente, wo die Fliege das 
Innere erreicht und so die sensitiven Haare der oberen Fläche 
berührt, nach rechts, während zu gleicher Zeit das Blatt sich 
über der Fliege schliesst. b) Nachdem die Fliege gefangen ist, 
schwingt die Nadel jedesmal, wenn jene sich bewegt, nach 
rechts. e) Dieselbe Reihe von Erscheinungen tritt ein, wenn 
die sensitiven Haare der oberen Fläche?) statt durch die Fliege 
durch einen feinen Pinsel berührt werden. d)Wenn das Blatt?), 
während es auf den Elektroden des Galvanometers wie zuvor 


1) Centralbl. S. 834—5. — In den Proceed. p. 496 findet sich 
der gleiche Text, nur mit einigen Umstellungen und mit einzelnen. 
Varianten, welche ich in den folgenden Anmerkungen hinzufüge. 

2) „the sensitive hairs of a still expanded leaf“ (Proceed.). 

3) „the open leaf* (Proceed.). 


168 H. Munk: 


aufliegt, von seiner oberen Fläche!) aus von zugespitzten 
Platinelektroden, deren Entfernung 1 Mm, nicht überschreitet, 
eben durchbohrt wird und diese letzteren (Platinelektroden) 
durch Vermittelung einer Wippe mit dem du Bois’schen 
Schlitten verbunden werden, so sind dieselben Erscheinungen 
zu beobachten, wie nach der mechanischen Reizung, jedesmal, 
dass man den secundären Kreis schliesst. Der Effect wird 
nicht geändert, wenn die Richtung der reizenden Ströme um- 
gekehrt wird. In diesem sowie in dem mit c) bezeichneten 
Falle variiren die Erscheinungen, je nachdem das Blatt an ver- 
schiedenen Stellen seiner oberen Fläche gereizt wird: wenn 
das Blatt an seinen Rändern gereizt wird, gleichviel ob elek- 
trisch oder mechanisch, so ist kein Effect zu bemerken; wird 
das Blatt an seiner mittleren Partie gereizt, so schwingt die 
Nadel nach einem Intervall von '/,—!/, Sec.?) nach rechts. 
Wenn jedoch das Blatt an einer dem Stiele zunächst gelegenen 
Stelle der mittleren Partie gereizt wird, so geht dem Schwin- 
gen nach rechts ein leichter, der normalen Ablenkung (links) 
gleich gerichteter Stoss voraus. In jedem Falle kommt die 
Nadel nach der negativen Schwankung in einer Stellung zur 
Ruhe, die weiter nach links gelegen ist, als zuvor, und nimmt 
dann allmählich ihre frühere Stellung wieder ein.“ 

Die grossen Mängel dieser Mittheilung und zwar, von 
allen Einzelheiten abgesehen, gerade im Hauptsächlichsten und 
Wichtigsten, sind nicht zu verkennen. Vor Allem besteht die 
Möglichkeit, dass Hrn. Sanderson’s „negative Schwankung 
des normalen Blattstromes“ gar Nichts weiter sei als die Folge 
der Verschiebung der Ableitungspunkte am Blatte, einer Ver- 
schiebung, welche die mit einer Erschütterung des Blattes ver- 
bundene Reizung mit sich bringen konnte, und welche durch 
die Schliessung des Blattes, bei Hrn. Sanderson’s Ablei- 
tungsweise von den Blattenden (s. Nat. p. 128 Fig. 2), sogar 


1) „one of the concave surfaces* (Proceed.), Hr. Sanderson 
bezeichnet die obere Blattflügel-Fläche öfters als die „concave“, weil 
ihm so wenig als Hrn. Darwin die Concavität des Blattflügels nach 
unten am ganz offenen Blatte (s. oben S. 108) bekannt war. 

2) „from a quarter to a third of a second“ (Proceed.). 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 169 


jedenfalls herbeigeführt sein musste. Man bleibt zweitens ganz 
im Unklaren darüber, was eigentlich zur Beobachtung konımt. 
Die Bezeichnung „negative Schwankung“ ist von Hrn. San- 
derson der Lehre vom Muskelstrome entlehnt. Hat man 
einen Muskel bis zum Maximum der negativen Schwankung 
seines Stromes tetanisirt, so kehrt die Nadel vom negativen 
Ausschlage nicht so bald, wie von sonstigen Ablenkungen, in 

die Ruhestellung zurück, sondern ihre schnelleRückkehr nimmt, 
in Folge der Nachwirkung des Tetanus auf die Kraft des’ 
Muskels, halbweges oder später in auffälliger Weise ein Ende, 
so dass die Nadel schon hier zur Ruhe zu kommen scheint, 
und nur ganz langsam setzt dann die Nadel ihren Weg zur 
Ruhestellung fort!),. Wenn nun nach Hrn. Sanderson auch 
das Blatt die negative Schwankung des normalen Blattstromes 
zeigt, indem die durch den Ruhestrom nach links abgelenkte 
Nadel nach rechts schwingt, so sollte man meinen, dass die 
Nadel auf der Rückkehr zu ihrer ursprünglichen Ablenkung 
weiter nach rechts, als zuvor, zur Ruhe käme und dann 
allmählich ihre frühere Stellung wieder einnähme. Dagegen 
sagt Hr. Sanderson, die Nadel komme zur Ruhe weiter nach 
links, als zuvor; und das ist offenbar ganz unverständlich, 
wenn man das „zuvor“, wie man doch muss, auf diejenige 
Stellung der Nadel bezieht, von welcher aus der negative Aus- 
schlag erfolgt ist, also auf die ursprüngliche Ablenkung nach 
links. Die Vertauschung von „rechts“ und „links“, welche man 
danach in Hrn. Sanderson’s Angabe vermuthen muss, ist 
aber nirgends berichtigt; und das unerfreuliche Dunkel, wel- 
ches in Folge dessen herrscht, ist noch dadurch gesteigert, dass 
Hr. Sanderson in seiner letzten Veröffentlichung das eine 
Mal — bei mechanischer Reizung — des eigenthümlichen Ver- 
haltens der rückkehrenden Nadel gar nicht mehr gedenkt, son- 
dern dort die Nadel einfach vom negativen Ausschlage un- 
mittelbar zu ihrer ursprünglichen Stellung zurückkehren 


1) E. du Bois-Reymond, Untersuchungen über thierische Elek- 
trieität. Bd. II. Abth. II. S. 151 ff. — Dies Archiv 1873. S. 529; 544. 


170 H. Munk: 


lässt!) und das andere Mal — bei elektrischer Reizung — die 
Nadel sogar schon von vorne herein nach links ausschlagen, d. h. 
eine positive Schwankung des Stromes anzeigen lässt”). Wollte 
Jemand in diesen vielfach wechselnden Ergebnissen einen Be- 
weis dafür sehen, dass es sich gar nicht um Folgen der Rei- 
zung, sondern blos um Folgen verschiedener Umstände, die 
rein äusserlich mit der Reizung in Verbindung standen, bei 
Hrn. Sanderson’s Versuchen gehandelt habe, Nichts würde 
sich dagegen einwenden lassen. Endlich besteht der dritte, 
höchst missliche Mangel darin, dass, wenn wir selbst Hrn. San- 
derson’s negative Schwankung in Folge der Reizung trotz 
alledem zugeben wollten, die Bedeutung dieser Schwankung, 
ob sie eine Veränderung des Widerstandes oder Anderes an- 
zeigt, ganz in Frage bleibt; während doch das Interesse, das 
sich an die negative Schwankung des Muskels knüpft, gerade 
darauf beruht, dass in derselben eine Abnahme der Kraft der 
elektromotorisch wirksamen Muskelelemente zum Ausdrucke 
kommt. 

Bei diesen Mängeln kann Hrn. Sanderson’s Mittheilung 
nur einen Fingerzeig abgeben, dass auf die elektrischen Er- 
scheinungen bei der Reizung unseres Blattes zu achten sei, und 
die Untersuchung der Erscheinungen hat von Grund auf zu 
beginnen. Wir werden aber diese Untersuchung jetzt um so 
lieber unternehmen, als auch schon unsere voraufgegangenen 
Ermittelungen uns zu derselben drängen; denn da wir diesel- 
ben Parenchymzellen, welche sich in $. 4 elektromotorisch 
wirksam ergaben, in $. 5 bei der Reizbewegung eine Rolle 
spielen sahen, ist Nichts uns näher gelegt als die Frage, ob 


1) „The spot having assumed a fixed position on the screen, the 
leaf was excited by touching the sensitive hairs with a camel-hair 
pencil. The spot flew back towards the right edge of the screen, im- 
mediately afterwards returning to its original position. 
This effect was repeated several times.“ (Nat. p. 128.) 

2) „Two fine-pointed electrodes.... were thrust into the centre 
of the external surface of a leaf... On thus exeiting the leaf the spot 
of light shot to the left.“ (Nat. p. 128.) 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 171 


und wie die elektromotorische Wirksamkeit dieser Zellen 
mit der Reizung des Blattes sich verändert. 

Da die Mittelrippe der einzige Theil des Blattes ist, der 
bei der Reizbewegung seine Lage im Raume beibehält und an 
der unteren Seitein unveränderter Verbindung mit den Elektro- 
den erhalten werden kann, so stellen wir die Thonspitzen un- 
ter etwa rechtem Winkel nach oben gebogen her und lagern 
sie, unter leichter Hebung des Blattes, der Mittelrippe von un- 
tenheran. Die Elastieitätdes Blattes, welches das Bestreben hat, 
sich mit seiner Spitze dem Boden zu nähern, sichert alsdann die 
Verbindung zwischen Blatt und Elektroden so vortrefflich, dass 
Erschütterungen des Topfes oder der Elektroden, wenn sie 
nicht gar zu heftig sind, die Spiegelstellung unberührt lassen. 
Erst wenn man, durch einen leichten Stoss gegen das Blatt, 
dieses sichtlich momentan aus seiner Lage bringt, wie es na- 
türlich ein völliges Misslingen der folgenden Versuche in sich 
schliessen würde, sieht man, ebensowohl bei Compensation des 
bestehenden Stromes wie ohne Üompensation desselben, 
Schwankungen des Spiegels bald nach der einen bald nach der 
anderen Seite hin auftreten und zwar Schwankungen der Art, 
dass der Spiegel jedesmal rasch um 5—20 Sc. ausschlägt und 
sogleich wieder in die frühere Stellung oder wenigstens ohn- 
gefähr in dieselbe zurückkehrt. Offenbar rühren diese Schwan- 
kungen zum grössten Theile daher, dass die Ableitungspunkte 
verschoben werden, und die Verbesserung oder Verschlechte- 
rung der Verbindung zwischen Blatt und Elektroden ist daneben 
nur von untergeordneter Bedeutung. 

Im Wechseln mit den Reizungsweisen bin ich Hrn. San- 
derson nicht gefolgt, sondern habe mich immer an eine und 
dieselbe Reizungsweise gehalten. Wie ich die Empfindlichkeit 
der oberen Blattfläche kennen gelernt hatte, durfte ich an eine 
Durchbohrung derselben mit feinen Platinelektroden nicht’ 
denken; und von einem solchen Verfahren an der unteren 
Blattfläche (s. o. S. 170 Anm. 2) hielt mich die Ueberlegung 
zurück, dass dann die normale Schliessung des Blattes behin- 
dert und dadurch leicht auch eine Verrückung der Mittelrippe 
auf den Elektroden bedingt sein musste. Ebensowenig mochte 


172 | . H. Munk: 


ich mich zum Experimentiren mit Fliegen entschliessen, weil 
die gewaltsamen Befreiungsversuche des Thieres das Blatt auf 
den Elektroden verschieben konnten. Dagegen ist die Reizung 
des Blattes durch die Bewegung eines sensiblen Haares, sei 
es mittelst eines feinen Pinsels, sei es mittelst eines fein zu- 
gespitzten Hölzchens, von allen Bedenken frei und schont zu- 
gleich am meisten das werthvolle Material. Hrn. Kurtz, der 
immer diese Reizungsweise bei meinen Versuchen in An- 
wendung brachte, gelang es dabei — mit höchst seltenen Aus- 
nahmen, wo dann die Versuche verworfen wurden —, jede 
Berührung und Bewegung des Blattes selbst zu vermeiden 
und auch den zur Reizung verwandten Körper so rasch 
wieder zu entfernen, dass die Schliessung des Blattes 
‚durchaus normal sich vollziehen konnte. Die letztere Rei- 


zungsweise ist also stets im Folgenden bei meinen Ver- 


suchen vorauszusetzen. 

Reizen wir nun unser Blatt bei Ableitung von den beiden 
Enden der Mittelrippe und ohne Compensation des bestehenden 
aufsteigenden Stromes, so beobachten wir Folgendes. Es sei 
z. B. eine Ablenkung von 30 Se. vorhanden. Zuerst nach der 
Reizung nimmt die Ablenkung sehr rasch auf 25—20 Se. ab, 
und darauf nimmt sie sogleich etwas langsamer, doch immer 
noch rasch, auf 40—60 Se. zu. Alles dies ist in längstens 20 
Secunden nach der Reizung vor sich gegangen. Nun verweilt 
der Spiegel nur momentan auf dem Maximum der Ablenkung 
und kehrt dann langsam, in etwa einer Minute, zu seiner An- 
fangsstellung zurück. Der Art ist das regelmässige Ergebniss 
des Versuches; und wir finden somit als Folge der Reizung 
eine positive Schwankung des Stromes mit ne- 
gativem Vorschlage, die wir kurz als Doppel- 
schwankung bezeichnen wollen. 

Wiederholen wir dieselben Reizversuche mit Compensation 
des ursprünglichen aufsteigenden Stromes, so erhalten wir die 
nämlichen Resultate. Wir haben es demnach sicher auch mit 
Veränderungen der Kraft, d. h. mit Veränderungen des Span- 
nungsunterschiedes der abgeleiteten Punkte, nicht etwa blos 
mit Widerstandsveränderungen des Blattes zu thun. Wie weit die 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 173 


anfängliche Abnahme der Kraft sich erstreckt, darüber lässt 
sich Nichts ermitteln, weil der negative Vorschlag zu rasch 
vorübergeht, als dass man von Neuem compensiren könnte. 
Dagegen lässt sich eine neue Compensation erzielen, wenn die 
positive Schwankung auf ihrem Maximum oder nahe demsel- 
ben sich befindet; und ich habe dann in den bestgelungenen 
Versuchen die Kraft um mehr als die Hälfte erhöht gefunden. 
Wenn also auch die Erscheinungsweise unserer Doppelschwan- 
kung von Widerstandsveränderungen desBlattes beeinflusst sein 
mag, so steht doch fest, dass ihr Veränderungen der Kraft zu 
Grunde liegen der Art, dass die Kraft zuerst sehr rasch sinkt, 
dann rasch sich wiederherstellt und noch beträchtlich steigt, 
um schliesslich langsam auf ihre ursprüngliche Grösse abzu- 
nehmen. 

Auf eine ganz unerwartete Weise gelangen wir aber zu einer 
noch viel vollkommeneren Einsicht. Oft bleibt nämlich 
nach der Reizung nicht nur die Schliessung, son- 
dern selbst jede geringste Bewegung des Blattes 
aus, unddochsieht der Beobachter am Fernroöhre die 
elektrischen Erscheinungen wie sonst eintreten. 
So häufig ist das Vorkommniss, dass ich mindestens ebenso 
viele Versuche ohne Schliessung, wie mit Schliessung des Blat- 
tes angestellt habe: während manchmal sogleich auf die erste 
Reizung das Blatt zuging, ist andere Male erst der 2., 3. bis 7. 
Reizung die Schliessung gefolgt, hin und wieder, nachdem auf 
die vorletzte Reizung eine unvollkommene Schliessung sich 
eingestellt hatte. Ob nun das Blatt sich bewegt oder nicht, 
ob es sich unvollkommen oder vollkommen schliesst, immer 
kommt bei den vorbehandelten Versuchen unsere Doppel- 
schwankung in der gleichen Weise zur Beobachtung; und im- 
mer sehen wir bei der wiederholten Reizung desselben Blattes, 
mögen wir jedesmal compensirt haben oder jedesmal nicht 
compensirt haben, oder mögen wir abwechselnd mit und ohne 
Compensation geprüft haben, die Erfolge der verschiedenen 
Reizungen nur unbedeutend, nur um wenige Scalentheile in 
der Grösse des negativen Vorschlages oder der positiven Schwan- 


kung, und dabei noch in unregelmässiger Weise sich von ein- 


174 HA. Munk: 


ander unterscheiden. Es geht daraus klar hervor, dass die 
ganze Doppelschwankung, wie sie sich uns darstellt, ohne Feh- 
ler als eine Schwankung der Kraft aufzufassen ist; denn sowohl 
die Formveränderung des Blattes wie auch eine etwaige Ver- 
änderung seines eigenthümlichen Widerstandes muss nach jenen 
Ergebnissen ohne alle Bedeutung sein gegenüber der Verän- 
derung der Kraft. 

Unwillkürlich drängt sich anfangs, wenn man die elektri- 
schen Erscheinungen ohne die Reizbewegung ablaufen sieht, 
die Vermuthung auf, dass doch nur eine Verrückung des Blat- 
tes auf den Elektroden die Ursache der Erscheinungen sei. 
Aber die Vermuthung ist mit vollster Sicherheit zurückzuwei- 
sen. Wie ich schon gesagt habe, findet man blos Erschütte- 
rungen des Blattes, welche das Blatt sichtbar aus seiner Lage 
bringen, von Einfluss auf die Spiegelstellung, und derartige 
Erschütterungen kamen bei den besprochenen Versuchen nicht 
vor. Während ferner in Folge der Verschiebung des Blattes 
immer nur einfache Schwankungen auftreten, handelt es sich 
beı unseren Versuchen ımmer um Doppelschwankungen. Wei- 
ter erfolgen die Ausschläge des Spiegels in Folge der Verschie- 
bung des Blattes ganz unregelmässig bald nach der einen bald 
nach der anderen Seite hin, und bei unseren Versuchen ist die 
Bewegungsrichtung des Spiegels eine constante in Bezug auf 
die ursprüngliche Ablenkung. Endlich ist es auch gar nicht 
denkbar, dass bei wiederholter Reizung des Blattes, zumal wenn 
wir abwechselnd compensiren und nicht compensiren, in Folge 
von Erschütterungen immer dieselben Erfolge eintreten sollten, 
wie wir es doch gefunden haben. Die Vermuthung, welche 
wir somit als abgethan betrachten dürfen, wird denn auch je- 
der Schritt in der Folge nur von Neuem widerlegen, und wir 
werden sogar den Grund für das Ausbleiben der Reizbewegung 
im geraden Gegensatze zu der Vermuthung stehen sehen. 

Wir setzen nunmehr die Reizversuche fort, indem wir die 
Thonspitzen zwei Punkte der Mittelrippe berühren lassen, 
welche beide der vorderen oder beide der hinteren Hälfte der 
Mittelrippe angehören, so dass die Kraft im ersteren Falle 
aufsteigend, im letzteren Falle absteigend ist. Auch hier stellt 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s. w. 175 


sich in Folge der Reizung regelmässig unsere Doppelschwan- 
kung ein und nimmt denselben zeitlichen Verlauf, wie bei den 
früheren Versuchen. Bei bestehender aufsteigender Kraft er- 
folgt der Vorschlag im Sinne einer absteigenden und die 
Schwankung im Sinne einer aufsteigenden Kraft; bei bestehen- 
der absteigender Kraft ist das Umgekehrte der Fall, der Vor- 
schlag erfolgt im Sinne einer aufsteigenden und die Schwan- 
kung im Sinne einer absteigenden Kraft: so dass der Vorschlag 
immer negativ und die Schwankung immer positiv ist in Bezug 
auf die bestehende Kraft. Auch hier wiederum finden wir die 
ganze Doppelschwankung als eine Schwankung der Kraft auf- 
zufassen, da die Ergebnisse der Versuche, mag compensirt wor- 
den sein oder nicht, mag das Blatt sich geschlossen haben oder 
jede Bewegung des Blattes ausgeblieben sein, immer gerade so, 
wie früher, übereinstimmen. 

Nur in der Grösse des Vorschlages und der Schwankung 
stellen sich Verschiedenheiten bei den verschiedenen Ablei- 
tungsweisen heraus. Zwar sind Vorschlag und Schwankung 
bei jeder einzelnen Ableitungsweise an den verschiedenen 
Blättern von vielfach wechselnder Grösse und bieten nirgends 
eonstante Beziehungen zu der ursprünglichen Ablenkung dar. 
Aber trotz allem Wechsel bleibt kein Zweifel, dass der Vor- 
schlag bei der Ableitung von den beiden Enden der Mittel- 
rippe im Durchschnitte kleiner ist als da, wo die Ableitung 
von der vorderen Hälfte der Mittelrippe geschieht, und hier 
wiederum kleiner ist als bei der Ableitung von der hinteren 
Hälfte der Mittelrippe. Während der aufsteigende Strom im 
ersten Falle in der Regel um weniger, oft sogar um viel we- 
niger als ein Drittel erniedrigt wird, nimmt er im zweiten Falle 
sehr häufig auf die Hälfte und öfters noch weiter ab; und noch 
grösser ist die Abnahme des absteigenden Stromes im dritten 
Falle, wo es sogar nichts Seltenes ist, dass man den (aperiodi- 
schen) Spiegel zum Nullpunkte zurückkehren oder noch um 
einige Scalentheile den Nullpunkt überschreiten sieht: so dass 
hier der negative Vorschlag wirklich zur Umkehr der ursprüng- 
lichen Kraft, zum Auftreten einer aufsteigenden Kraft führt. 
Gerade entgegengesetzt verhält sich dann die positive Schwan- 


176 H. Munk: 


kung: dieselbe ist am kleinsten bei Ableitung von der hinteren 
Hälfte, grösser bei Ableitung von der vorderen Hälfte und am 
grössten bei Ableitung von beiden Enden der Mittelrippe. 
Dem entsprechend sehen wir, während Vorschlag und Schwan- 
kung bei Ableitung von der vorderen Hälfte der Mittelrippe 
von ohngefähr gleicher Grösse sind, bei Ableitung von der 
hinteren Hälfte den Vorschlag, bei Ableitung von den Enden 
der Mittelrippe die Schwankung wesentlich überwiegen und oft 
ein Mehrfaches dort der Schwankung, hier des Vorschlages 
ausmachen. 

Mit besonderem Interesse verfolgen wir noch, was sich 
ereignet, wenn die eine Thonspitze dem hinteren Ende und 
die andere Thonspitze einem Punkte etwas vor der Mitte der 
Mittelrippe angelagert ist, so dass von vorne herein gar keine 
oder nur eine höchst schwache ab- oder aufsteigende Kraft 
vorhanden ist. Der Reizung folgt hier immer zuerst ein sehr 
rascher Ausschlag des Spiegels, der eine ziemlich starke auf- 
steigende Kraft anzeigt; dann schwingt der Spiegel etwas lang- 
samer, aber immer noch rasch, nach der entgegengesetzten Seite 
hin, nur weniger und höchstens halb so weit über den Null- 
punkt hinaus wie vorher, so dass eine wesentlich schwächere 


absteigende Kraft zu constatiren ist; und endlich kehrt der 


Spiegel langsam in die Anfangsstellung zurück. Man kann 
demnach sagen, dass hier die Doppelschwankung eintritt, wie 
wenn von vorne herein eine absteigende Kraft bestanden hätte. 

Die Reihe unserer Prüfungen brauchte damit nicht ab- 
geschlossen zu sein; denn durch unseren Fund, dass die elek- 
trischen Erscheinungen nach der Reizung auch ohne die Schlies- 
sung des Blattes auftreten, sehen wir uns nicht, wie wir es 
anfangs glauben mussten, auf die Mittelrippe mit unseren Prü- 
fungen beschränkt, sondern können auch noch die Blattflügel 
in den Bereich der Untersuchung ziehen. Aber ehe wir dazu 
übergehen, wollen wir unsere bisherigen Erfahrungen einer ein- 
sehenderen Betrachtung unterziehen. 


Wie wir wissen, sind an der Mittelrippe, dort wo unsere ' 


Thonspitzen immer die Mittelrippe berühren, durch die Blatt- 
tlügel-Parenchyme und das obere Mittelrippen-Parenchym, vor 


_. 
\ 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 177 


deren positiven Querschnitten wir uns befinden, starke, in der 
vorderen Hälfte der Mittelrippe aufsteigende, in der hinteren 
Hälfte absteigende Kräfte bedingt; und schwächere Kräfte 
gleicher Richtung gesellen sich noch durch die Neigungsströme 
des Blattflügel-Parenchyms hinzu. Andererseits sind durch das 
untere Mittelrippen-Parenchym, vor dessen negativer Fläche wir 
uns befinden, überall an der Mittelrippe aufsteigende Kräfte 
gesetzt. Aus der algebraischen Summirung aller dieser Kräfte 
resultirt für die Mittelrippe, dass der positivste Punkt etwas 
über die Mitte derselben hinaus nach hinten verschoben ist und 
mit dem Wachsen des Abstandes von diesem Punkte die Po- 
sitivität nach beiden Enden hin abnimmt, bis zum vorderen 
Ende weiter als bis zum hinteren Ende. 

Nun kann die Doppelschwankung, welche wir der Reizung 
folgen sehen, nicht in einer Veränderung der Neigungsströme 
begründet sein; denn nicht blos wird durch die Schliessung des 
Blattes die Neigung, auf welche es ankommt, nicht gestört, 
sondern es zeigt sich auch das Auftreten jener Schwankung 
überhaupt gar nicht an eine Formveränderung des Blattes ge- 
knüpft. Ebensowenig kann aber unsere Doppelschwankung 
auf einer Veränderung der Spannungen beruhen, welche durch 
das untere Mittelrippen -Parenchym bedingt sind, da alsdann 
die elektrischen Erscheinungen nach der Reizung überall an 
der Mittelrippe gleichartig und ausser Beziehung zu der gerade 
bestehenden Richtung der Kraft sich hätten herausstellen müs- 
sen. Auf dem Wege der Ausschliessung finden wir demnach 
die Doppelschwankung denjenigen Kräften zuzuschreiben, welche 
durch die Blattflügel-Parenchyme und das obere Mittelrippen- 
Parenchym, in Folge der Negativität von deren Fläche gegen 
den Querschnitt, an der Mittelrippe gesetzt sind. Wie diese 
Kräfte in der vorderen und in der hinteren Hälfte der Mittel- 
rippe entgegengesetzt gerichtet sind, so sehen wir auch die 
Doppelschwankung dort und hier in entgegengesetztem Sinne 
verlaufen, indem der negative Vorschlag dort absteigend, hier 
aufsteigend und die positive Schwankung dort aufsteigend, hier 
absteigend ist. Wir haben also, da Widerstandsveränderungen 


aller Art sicher keinen Einfluss üben, aus unserer Doppel- 
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 12 


178 H. Munk: 


schwankung zu schliessen, dass an den Blattflügel - Parenchy- 
men und an dem oberen Mittelrippen-Parenchyme die Negati- 
vität der Fläche gegen den Querschnitt in Folge der Reizung 
zuerst sinkt, dann steigt und schliesslich wieder zur ursprüng- 
lichen Grösse abnimmt. 

In voller Uebereinstimmung damit steht das Auftreten der 
Doppelschwankung in dem Falle, dass vom hinteren Ende der 


Mittelrippe und von einem Punkte etwas vor der Mitte der-- 


selben abgeleitet ist. Durch die vom unteren Mittelrippen-Par- 
enchyme gesetzte Kraft sind hier die Kräfte, welche von den 
anderen wirksamen Parenchymen herrühren, nahezu oder ge- 
rade compensirt, und durch die Reizung wird die Compensa- 
tion in der Art gestört, dass anfangs die erstere Kraft, später 
die letzteren Kräfte das Uebergewicht erlangen, bis endlich die 
Compensation sich wieder herstellt. Gewissermassen den Ue- 
bergang zu diesem Falle stellen diejenigen Fälle vor, in wel- 
chen bei Ableitung von der hinteren Hälfte der Mittelrippe und 
ursprünglicher absteigender Kraft der negative Vorschlag zur 
Umkehr der Kraft führt: auch hier handelt es sich offenbar 
nur um ein Hervortreten der durch das untere Mittelrippen- 
Parenchym gesetzten Kraft in Folge der Schwächung der an- 
deren Kräfte, und die Annahme, dass die Spannungen an den 
Blattflügel-Parenchymen und an dem oberen Mittelrippen-Par- 
enchyme wirklich sich umkehrten, die Fläche dieser Paren- 
chyme positiv würde gegen den Querschnitt, wäre durchaus 
unzulässig. 


Verständlich ist es dann auch sogleich, dass der negative 


Vorschlag bei Ableitung von der hinteren Hälfte der Mittel- 
rippe grösser ist, als bei Ableitung von der vorderen Hälfte, 
da in dem ursprünglichen ab- resp. aufsteigenden Strome die 
durch die Reizung schwankenden Kräfte im ersteren Falle ver- 
kleinert zum Ausdrucke kommen, im letzteren Falle vergrös- 
sert durch die vom unteren Mittelrippen - Parenchyme herrüh- 
rende Kraft, welche selber nicht der Veränderung unterliegt. 
Dagegen bleibt es unklar, dass nicht das Gleiche auch für die 
positive Schwankung gilt und diese vielmehr im ersteren Falle 
noch kleiner ist als im letzteren Falle. Ebenso ist.es nicht 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 179 


einzusehen, weshalb die positive Schwankung da, wo ursprüng- 
lich gar kein Strom vorhanden ist, vom negativen Vorschlage 
immer so auffällig an Grösse übertroffen wird. Vollends ent- 
ziehen sich dem Verständnisse der Erfolg der Versuche mit 
Ableitung von den beiden Enden der Mittelrippe und die Be- 
ziehung, in welcher dieser Erfolg zu den Erfolgen der Ver- 
suche mit andersartiger Ableitung steht. Mit alledem sehen 
wir Schwierigkeiten gegeben, welche bei dem jetzigen Stande 
unserer Einsicht sich nicht überwinden lassen. 

Es scheint danach nicht anders sein zu können, als dass 
die Doppelschwankung doch noch verwickeltere Vorgänge im 
Blatte anzeigt, als wir es bisher angenommen haben; und es 
liegt am nächsten, dass wir uns von den Ergebnissen der Ver- 
suche mit Ableitung von den Mittelrippen - Enden leiten lassen 
und dem unteren Mittelrippen-Parenchyme gleichfalls eine Rolle 
für die Doppelschwankung zuerkennen. Lassen wir auch an 
diesem Parenchyme die Negativität der Fläche gegen den 
Querschnitt in Folge der Reizung solche Veränderungen wie 
an den anderen wirksamen Parenchymen erfahren, mit dem 
Unterschiede nur, dass, während bei den letzteren Parenchy- 
men Sinken und Steigen von etwa gleicher Grösse sind, bei 
dem unteren Mittelrippen-Parenchyme das anfängliche Sinken 
an Grösse sehr zurücksteht gegen das nachmalige Steigen, so 
scheinen alle Schwierigkeiten mit Einem Schlage beseitigt. 
Doch nicht so ohne Weiteres dürfen wir zu diesem Auskunfts- 
mittel greifen. Hin und wieder geht, was ich, um die Darle- 
gung zu vereinfachen, bisher verschwiegen habe, bei den be- 
sprochenen Reizversuchen, gleichviel wo die Ableitung geschieht, 
dem negativen Vorschlage noch ein positiver Vorschlag vorher, 
so dass eine complicirte Schwankung, wie ich sie nen- 
nen will, an die Stelle der Doppelschwankung tritt: und diese 
Erfahrung würde bei der eben vervollkommneten Einsicht 
noch mindestens ebenso unverständlich wie vorher sein. Aus- 
serdem muss Folgendes ganz besonders in’s Gewicht fallen. 
Als es sich oben ergeben hatte, dass an den Blattflügel-Par- 
enchymen und an dem oberen Mittelrippen - Parenchyme 
die Negativität der Fläche gegen den Querschnitt in Folge 


12* 


4 


NORTON 


180 H. Munk: 


der Reizung zuerst sinkt, dann steigt und schliesslich wieder 
zur ursprünglichen Grösse abnimmt, konnte, da Widerstands- 
veränderungen aller Art am Blatte ausgeschlossen waren, 
Nichts dem im Wege zu stehen scheinen, dass wir die entspre- 
chenden Veränderungen auch für die Zellen in Anspruch nah- 
men, welche jene Parenchyme constituiren. Trotzdem haben 
wir vorsichtiger Weise diesen letzten Schluss nicht gezogen, 
weil für die einzelne Parenchymzelle die anfängliche Abnahme 
und die nachmalige Zunahme der Negativität ihrer Mitte ge- 
gen ihre Pole einen verwickelten Vorgang abgeben, zu 
dessen Annahme man sich nicht eher entschliessen darf, als 
jede Möglichkeit eines einfachen Vorganges, einer blossen 
Abnahme oder einer blossen Zunahme, sicher fortgefallen ist. 
Sollte nun aber wirklich, wie wir es vermuthen dürfen, ein 
einfacher Vorgang an den betreffenden, Parenchymzellen der 
Doppelschwankung zu Grunde liegen, so wäre es sogar denk- 
bar, dass die vorher unverständlichen Erfahrungen schon da- 
durch allein ihre Erklärung fänden. Bevor wir also die Bedeu- 
tung des unteren Mittelrippen-Parenchyms, die nach dem Dar- 
gelegten immer nur eine untergeordnete sein kann gegenüber der 
Bedeutung der anderen wirksamen Parenchyme, mit Sicher- 
heit zu ermessen vermögen, müssen wir über die Vorgänge 
an den Blattflügel-Parenchymen und an dem oberen Mittelrip- 
pen-Parenchyme noch mehr in’s Klare gekommen sein. Es 
gilt daher vor Allem zu untersuchen, ob nicht unsere Doppel- 
schwankung der Ausdruck einfacher elektrischer Vorgänge an 
den Zellen der letztgenannten Parenchyme ist. 

Worauf man zunächst verfällt, ist die Vermuthung, dass 
die Doppelschwankung darauf zurückzuführen sei, dass ein ein- 
facher elektrischer Vorgang an den Zellen, wenn auch sonst. 
gleichmässig, doch ungleichzeitig verlaufe, weil er der Fort- 
pflanzung von dem Orte der Reizung aus bedarf. In der That 
ist leicht zu übersehen, dass, wenn die Dauer des Vorganges 
nur klein wäre und die Fortpflanzung desselben langsam er- 
folgte, eine Doppelschwankung, wie wir sie gefunden haben, 
unter Umständen zur Beobachtung kommen müsste, wenn 
auch in Folge der Reizung blos eine Abnahme oder blos eine 


I 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 181 


Zunahme der Negativität der Mitte der Zellen gegen ihre Pole 
einträte, wenn auch, wie wir kurz sagen wollen, die Zellen 
blos eine negative oder blos eine positive Schwankung erfüh- 
ren. Im Falle z. B. einer negativen Schwankung der Zellen 
würde alsdann eine positive Schwankung mit negativem Vor- 
schlage zur Erscheinung kommen, wenn wir bei Ableitung von 
zwei Punkten der hinteren Hälfte der Mittelrippe am vorde- 
ren Ende oder bei Ableitung von zwei Punkten der vorderen 
Hälfte der Mittelrippe am hinteren Ende des Blattes reizten; 
und dasselbe würde im Falle einer positiven Schwankung der ° 
Zellen statthaben, sobald wir bei Ableitung von der vorde- 
ren Hälfte der Mittelrippe am vorderen oder bei Ableitung von 
der hinteren Hälfte der Mittelrippe am hinteren Ende des Blat- 
tes die Reizung vornähmen. Aber zugleich übersieht man, dass 
alsdann unter anderen Umständen, so wenn man in den ge- 
wählten Beispielen jedes Mal am hinteren, statt am vorderen, 
resp. am vorderen, statt am hinteren Ende des Blattes reizte, 
gerade die umgekehrte Doppelschwankung auftreten müsste, 
eine negative Schwankung nämlich mit positivem Vorschlage. 
Die Doppelschwankung würde danach in zweierlei Form sich 
uns darbieten und in ihrer jedesmaligen Form vom Orte der 
Reizung abhängig sich herausstellen müssen; auch würde sie, wie 
sich weiter ergiebt, in ihrer Erscheinungsweise beeinflusst sein 
müssen von dem Abstande der Elektroden, indem mit der 
Verringerung dieses Abstandes der Vorschlag an Grösse immer 
mehr gegen die Schwankung zurücktreten müsste. Alles dies 
trifft aber für unsere Doppelschwankung nicht zu, und deshalb 
kann von der Vermuthung, um die es sich handelt, nicht wei- 
ter die Rede sein. 

Was die Frage nach der Erscheinungsweise unserer Dop- 
pelschwankung bei wechselndem Orte der Reizung anbetrifft, 
so habe ich derselben wegen einer von Hrn. Sanderson ge- 
machten Angabe eine ganz besondere Aufmerksamkeit gewid- 
met. Auf Grund der oben S. 169 besprochenen Bemerkung 
Hrn.Sanderson’s, dass dieNadel weiter nach links zur Ruhe 
komme als zuvor,. glaube ich nämlich annehmen zu dürfen, 
dass Hr. Sanderson den Erfolg der Reizung, wenigstens bei 


182 H. Munk: 


seinen ersten Versuchen, richtig beobachtet und nur seine Be- 
obachtungen durchaus missverstanden hat, indemer, voreingenom- 
men für die Uebereinstimmung der elektrischen Erscheinungen bei 
der „Contraction“ des Blattes und des Muskels, eine negative 
Schwankung da zu sehen vermeinte, wo in der Wirklichkeit 
eine positive Schwankung mit negativem Vorschlage sich zeigte. 
Wenn dem so ist, würdeHrn. Sanderson auch unsere compli- 
eirte Schwankung, welche ich vorhin erwähnte, aufgestossen 
sein in den Fällen, wo er seiner negativen Schwankung einen 
leichten positiven Ausschlag vorausgehen lässt’), Aber das 
Auftreten dieser complicirten Schwankung würde dann nach 
Hrn. Sanderson’s Angabe eigenthümlich sein der Reizung des 
Blattes an „einer dem Stiele zunächst gelegenen Stelle der mitt- 
leren Partie“, während bei der Wahl anderer Reizungsstellen 
nur unsere Doppelschwankung zur Beobachtung käme'). Wäre 
nun der Erfolg der Reizung wirklich derart vom Orte der Rei- 
zung abhängig, es würde für die vorbesprochene Vermuthung 
doch Nichts weiter zu besagen haben, weil es sich hier nur 
um die complieirte Schwankung gegenüber der Doppelschwan- 
kung, nicht um verschiedene Formen der Doppelschwankung 
selber handelt; überdies würde, beiläufig bemerkt, schon die 
Existenz der complicirten Schwankung für sich allein ausrei- 
chend jene Vermuthung widerlegen. AlleinHrn. Sanderson’s 
Angabe ist auch geradezu unrichtig. Ich habe bei Ableitung 
von den beiden Enden der Mittelrippe auf Bewegung des vor- 
dersten Haares — solche Reizung hat auch Hr. Sanderson 
gemeint — in der Regel unsere Doppelschwankung erhalten, 
und die complieirte Schwankung ist mir hier durchaus nicht 
öfter vorgekommen, als nach der Bewegung anderer Haare, 
welcher ich sie also gleichfalls habe folgen sehen. Ich habe es 
ferner ziemlich häufig beobachtet, dass bei mehrmaliger Rei- 
zung desselben Blattes, wenn die Reizung immer an demselben, 
gleichviel welchem, Haare statthatte, ein einzelnes Mal die 
complieirte Schwankung eintrat, während die anderen Male 
immer Doppelschwankungen sich einstellten. Endlich habe 


1) S. oben S. 168. 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.5s.w. 183 


ich bei Ableitung sowohl von den beiden Enden wie von den 
verschiedensten anderen Punkten der Mittelrippe, wie auch, 
um dies sogleich vorwegzunehmen, bei Ableitung von den 
Blattflügeln systematisch mit dem Orte der Reizung gewech- 
selt, oft an einem und demselben Blatte, wenn die Reizungen 
nicht zur Schliessung des Blattes führten; und ich habe gefun- 
den, dass, mochte das vordere oder das hintere oder das mitt- 
lere Haar an dem einen oder an dem anderen Blattflügel be- 
wegt sein, die Erfolge der verschiedenen Reizungen doch nur 
ebensowenig und ebenso unregelmässig von einander abwichen, 
wie es beistets gleichem Reizungsorte der Fall ist. Danach kann 
weder die complieirte Schwankung in irgend einer Beziehung 
zum Orte der Reizung stehen, noch kann überhaupt von diesem 
Orte der Erfolg der Reizung, innerhalb der Genauigkeits- 
grenzen unserer Untersuchung, irgendwie abhängig sein. 

Es bietet sich nun noch eine andere Möglichkeit dar, wie 
die Doppelschwankung auf einem einfachen elektrischen Vor- 
gange an den Zellen beruhen könnte, die nämlich, dass der 
eine Theil der Zellen eine positive und der andere Theil eine 
negative Schwankung in Folge der Reizung erführe. Natür- 
lich könnten die Zellenpartieen verschiedenen Verhaltens we- 
der nach der Länge noch nach der Breite des Blattes aneinan- 
dergereiht sein, sondern sie müssten in der Dicke des Blattes 
neben einander liegen; und die Doppelschwankung liesse sich 
dann aus zwei Einzelschwankungen entstanden denken, etwa 
in der Art, wie es Fig. 29 zeigt, in welcher die ausgezogene 
Curve die Resultirende der beiden gestrichelten Curven ist. 
Allerdings hätte bei jedem anderen Körper von durchweg glei- 
chem Baue der Gedanke an die Möglichkeit etwas Ungereim- 
tes und von vorne herein Widerstehendes. Aber hier, wo wir 
das Blattflügel-Parenchym, trotz allem Fehlen unterscheiden- 
der anatomischer Merkmale, in seinen beiden Hälften doch in 
gewisser Hinsicht physiologisch ungleichwerthig erkannt haben, 
wo wir das obere Blattflügel-Parenchym (die obere Hälfte) 
mit dem oberen Mittelrippen-Parenchyme rücksichtlich der Em- 
pfindlichkeit und rücksichtlich der Leistungen bei der Reiz- 
bewegung so sehr häben abweichen sehen von dem unteren 


184 H. Munk: 


Blattflügel-Parenchyme (der unteren Hälfte) mit dem unteren 
Mittelrippen-Parenchyme, ist die Möglichkeit nicht von der 
Hand zu weisen, dass auch in elektrischer Beziehung nach der 
Reizung die ersteren Parenchyme anders sich verhalten als die 
letzteren. 

Wir sehen denn auch sogleich gewichtig für die Möglich- 
keit sprechen das Auftreten der complieirten Schwankung ne- 
ben der Doppelschwankung. Während, wenn alle Zellen erst 
eine negative und dann eine positive Schwankung erführen, 
das Vorkommen der complieirten Schwankung durchaus un- 
verständlich wäre, lässt sich nicht nur diese Schwankung ohne 
Weiteres als die Resultirende einer positiven und einer nega- 
tiven Einzelschwankung begreifen, wie es in Fig. 31 die aus- 
gezogene Curve erläutert als entstanden durch die algebraische 
Summation der beiden gestrichelten Curven, sondern es ist 
auch leicht zu übersehen, wie in Folge blos eines verschiedenen 
zeitlichen Verlaufes der beiden Einzelschwankungen aus diesen 
das eine Mal die Doppelschwankung, das andere Mal die com- 
plieirte Schwankung hervorgehen kann. Aber eine noch viel 
werthvollere Stütze giebt sich uns in der complieirten Schwan- 
kung zu erkennen, wenn wir ihr Auftreten und ihre Erschei- 
nungsweise in einer gewissen Verbindung mit den Doppel- 
schwankungen näher in’s Auge fassen. 

Es ist eine anfangs ganz räthselhafte Erfahrung bei unse- 
ren obigen Reizversuchen, dass die sehr reizbaren Blätter, welche 
man mit Vorliebe für diese Versuche verwendet, und welche 
auch vorher und nachher, wenn man sie ohne Beachtung der 
elektrischen Erscheinungen prüft, jede Reizung mit ihrer 
Schliessung beantworten, bei jenen Versuchen selbst so oft die 
Reizbewegung vermissen lassen oder nur eine unvollkommene 
Schliessung zeigen. Doch ist eine einfache Ueberlegung das 
Rätbsel zu lösen im Stande. Damit die Schliessung eintrete, 
ist offenbar nicht nur eine Reizung überhaupt, sondern auch 
eine gewisse Grösse der Reizung erforderlich. Nun kommt 
es für gewöhnlich, wenn man das Blatt zur Schliessung bringen 
will, gar nicht darauf an, ob das Blatt selbst dabei bewegt 
wird oder nicht, man braucht den Angriff auf das Haar des- 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 185 


halb nicht sorgfältig abzumessen, und man reizt daher in der 
Regel sogleich ausreichend stark. Bei den obigen Reizver- 
suchen dagegen bringt der Umstand, dass jede Erschütterung 
des Blattes vermieden werden muss, es mit sich, dass man 
äusserst behutsam das Haar bewegt; und deshalb ist die Rei- 
zung oft anfangs zu schwach, deshalb bleibt oft die Schliessung 
ganz aus oder kommt nur unvollkommen zu Stande. Das Auf- 
treten und das Ausbleiben der Reizbewegung zeigen also bei 
unseren obigen Reizversuchen, bei der wiederholten Reizung 
desselben Blattes, die grössere resp. geringere Stärke der Rei- 
zung an, gerade so wie sie sonst, bei etwa gleicher Reizstärke, 
die grössere resp. geringere Reizbarkeit der Blätter kundthun. 

In den Fällen der wiederholten Reizung desselben Blattes 
muss es sich danach herausstellen, welchen Einfluss die Stärke 
der Reizung auf unsere Doppelschwankung hat, wenn wir die 
mit der Reizbewegung verbundenen elektrischen Erscheinungen 
mit den ohne die Reizbewegung ablaufenden vergleichen. Beieiner 
früheren Betrachtung der betreffenden Versuche (S. 173) habe 
ich gesagt, dass die Erfolge aller der verschiedenen Reizungen 
nur unbedeutend, nur um wenige Scalentheile in der Grösse 
des negativen Vorschlages oder der positiven Schwankung, 
und dabei noch in unregelmässiger Weise sich unterscheiden. 
Das bedarf aber jetzteiner Berichtigung insofern, als bei genauer 
Musterung doch gerade in Bezug auf das, was uns augenblick- 
lich interessirt, eine Besonderheit in den Versuchsergebnissen 
sich findet. Wo nämlich die Reizbewegung eintritt, zeigt sich 
bald blos der negative Vorschlag, bald blos die positive 
Schwankung, bald zeigen sich beide verändert, und zwar ist 
dann der Vorschlag ebensogross oder grösser, die Schwan- 
kung ebensogross oder kleiner, als da, wo das Blatt in Ruhe 
verharrt; nie aber ist im ersteren Falle der Vorschlag kleiner 
oder die Schwankung grösser, als im letzteren Falle. Hin und 
wieder kommt es bei Versuchen, welche nur aus einer Reizung 
ohne Schliessung und einer Reizung mit Schliessung sich zu- 
sammensetzen, wohl vor, dass bei der letzteren Reizung der 
zuerst kleine Vorschlag bis auf das Doppelte vergrössert oder 
die zuerst grosse Schwankung bis auf ein Viertel verkleinert 


186 H. Munk: 


erscheint; allein das sind Ausnahmefälle, und in der Regel 
handelt es sich blos um wenige Scalentheile. Die Versuche 
mit öfters wiederholter Reizung ohne Schliessung lehren auch, 
dass auf die Grösse der Veränderung kein Gewicht gelegt 
werden darf, da hier bei den verschiedenen Reizungen ohne 
Schliessung oft ebensogrosse und noch grössere Unterschiede 
in der Grösse des Vorschlages und der Schwankung vorkom- 
men, als sie die Reizung mit Schliessung den Reizungen ohne 
Schliessung gegenüber darbietet. Charakteristischist vielmehrnur, 
dass diemit der Schliessung verknüpften Veränderungen der Dop- 
pelschwankung immer in einer Vergrösserung des Vorschlages 
oder in einer Verkleinerung der Schwankung oder in jener 
Vergrösserung und dieser Verkleinerung zugleich bestehen, nie 
aber umgekehrt als eine Verkleinerung des Vorschlages oder 
eine Vergrösserung der Schwankung sich darstellen. Diese 
Erfahrung, so regelmässig in so vielen Versuchen wiederkeh- 
rend, kann kein blosser Zufall sein; und die Abhängigkeit der 
Doppelschwankung von der Stärke der Reizung ist somit da- 
hin auszusprechen, dass mit dem Wachsen der Reizung ent- 
weder der Vorschlag oder die Schwankung oder beide zugleich 
derart sich verändern, dass der Vorschlag grösser, die Schwan- 
kung aber kleiner wird. 

Da die Erscheinung der Doppelschwankung im Ganzen 
als vom Widerstande unabhängig erwiesen ist, und da die ge- 
schilderten Versuchsergebnisse sowohl mit wie ohne Compen- 
sation wie auch mit Wechsel von Compensation und Nicht- 
compensation in gleicher Weise erhalten werden, können Wi- 
derstandsveränderungen am Blatte unserer Erfahrung nicht zu 
Grunde liegen; und es ist die gefundene Abhängigkeit der Dop- 
pelschwankung ebenso auf die Kräfte der Parenchyme und 
ihrer Zellen zu beziehen, wie die Doppelschwankung_ sel- 
ber. Daraus erwachsen aber neue und unüberwindliche 
Schwierigkeiten für die Vorstellung, dass alle wirksamen 
Zellen erst eine negative und dann eine positive Schwan- 
kung erfahren. Denn es widerstrebt die Annahme, dass 
mit dem Wachsen der Reizung die negative Schwankung der 
Zellen gleichfalls wachsen, ihre positive Schwankung aber 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 187 


abnehmen solle; und giebt man dieses selbst zu, so bleibt es 
doch ganz unerklärlich, dass unter Umständen mit wachsender 
Reizung nur die eine oder nur die andere Schwankung sich 
verändern solle. Im Gegensatze dazu ist auf Grund der ande- 
ren Möglichkeit, dass die eine Hälfte der Zellen in der Dicke 
des Blattes eine negative und die andere Hälfte der Zellen eine 
positive Schwankung erfahre, das Verständniss der gefundenen 
Abhängigkeit leicht zu gewinnen. Beide Einzelschwankungen 
können dann naturgemäss mit der Reizung wachsen, und nur 
ihr zeitlicher Verlauf braucht mit wachsender Reizung derart 
verschieden sich zu verändern, dass die positive Einzelschwankung 
rascheran Steilheit desAnsteigenszunimmtals die negative Einzel- 
schwankung und mithin das Maximum der ersteren Schwankung 
dem derletzteren sich immer mehr nähert. Auch die Abhängigkeit 
der Doppelschwankungen von der Stärke der Reizung sehen 
wir also ein bedeutsames Moment zu Gunsten der letzteren 
Möglichkeit abgeben, und das Gewicht, welches dieses Moment 
schon im Augenblicke hat, wird durch die nächste Folge noch 
wesentlich vergrössert werden. 

Betrachten wir nämlich jetzt die complicirte Schwankung 
näher. Ich habe sie der Doppelschwankung gegenüber bisher 
nur dadurch charakterisirt, dass dem negativen Vorschlage 
noch ein positiver Vorschlag voraufgeht. Aber ausserdem ist 
sie noch in zweierlei Weise ausgezeichnet. Erstens ist ihr Auf- 
treten immer und ausnahmslos mit der Schliessung des Blattes 
verknüpft. Ich habe sie in ca. 10°/, der Fälle, in welchen die 
Reizung zur Schliessung des Blattes führte, beobachtet, und 
nie ist sie mir vorgekommen, wenn das Blatt in Ruhe blieb 
oder sich nur unvollkommen schloss. Zweitens sind bei ihr 
die Maxima der Vorschläge wie der Schwankung viel kleiner 
als die Maxima des Vorschlages und der Schwankung bei der 
Doppelschwankung, wie mit besonderer Sicherheit zu consta- 
tiren ist, wenn man in Versuchsreihen mit wiederholter Rei- 
zung zuletzt die complieirte Schwankung erhält. Im Uebrigen 
ist das Verhalten der complieirten Schwankung ein vielfach 
verschiedenes. Am häufigsten stellt sie sich etwa so dar, wie 
es die ausgezogene Curve Fig. 31 zeigt: die beiden Vorschläge 


Ba 1 han Say ah 
en 


188 H. Munk: 


sind von ohngefähr gleicher Grösse und Dauer, und von wie- 
derum etwa gleicher Grösse, aber längerer Dauer ist dann die 
positive Schwankung, bei welcher der Spiegel manchmal eine 
Weile auf dem Maximum der Ablenkung verharrt. Es kommt 
aber auch häufig vor, dass der negative Vorschlag wesentlich 
kleiner als der positive Vorschlag ist, und ich habe in seltenen 
Fällen den ersteren sogar ganz ausfallen sehen, indem der 
Spiegel, vom positiven Vorschlage zur Anfangsstellung zurück- 
gekehrt, unmittelbar nochmals in positivem Sinne abgelenkt 
wurde. Das Maximum der positiven Schwankung habe ich öf- 
ters auch das des positiven Vorschlages übertreffen, selten hin- 
ter dem letzteren zurückbleiben sehen. 

Diese Erscheinungsweise der complicirten Schwankung 
und ihr ausschliessliches Auftreten in Verbindung mit der 
Schliessung des Blattes, wodurch sie als die Folge einer star- 
ken Reizung gekennzeichnet ist, liefern offenbar, so gut wir 
es nur wünschen konnten, den Beweis für die Richtigkeit der 
Vorstellung, welche wir von den Veränderungen der Doppel- 
schwankung mit wachsender Reizung vorhin gewonnen haben, 
Indem die beiden Einzelschwankungen immer weiter wachsen, 
zugleich aber die positive Einzelschwankung immer rascher an 
Steilheit zunimmt als die negative, muss schliesslich an die 
Stelle der Doppelschwankung eine andere Schwankungsform 
treten mit eben den Eigenschaften, welche wir an unserer 
complieirten Schwankung wahrgenommen haben. Und damit 
ist zugleich die complieirte Schwankung ihrerseits vollkommen 
verständlich geworden als das Endglied der Reihe von Doppel- 
schwankungen bei wachsender Reizung.') Die ganze Summe 
von Erfahrungen, welche wir behandelten, seit wir die Mög- 
lichkeit in Betracht zogen, dass die eine Hälfte der Zellen eine 


1) Die Figg. 29, 30 und 31 veranschaulichen die zur Beobach- 
tung kommenden Schwankungen und deren Entstehung aus den Ein- 
zelschwankungen, bei wachsender Reizung. Die ursprüngliche Kraft 
ist durch die der Absceissenaxe parallele punktirte Gerade angezeigt. 
Die Verdickung der Abscissenaxe in Fig. 30 zeichnet die Zeit aus, zu 
welcher neben den elektrischen Veränderungen auch die Reizbewegung 
erfolgt (s. unten $. 199). 


EIER 
u auen 2 a ran n BE nun Dunn um en m 


E9 IV me! 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u. s. w. 189 


positive und die andere Hälfte eine negative Schwankung er- 
fahre, hat also auf Grund dieser Annahme ihre einheitliche 
und einfache Erklärung gefunden, während dieselbe bei der 
anderen Annahme, dass alle Zellen erst eine negative und dann 
eine positive Schwankung erfahren, in jedem Stücke sich dem 
Verständnisse entzieht. Von der letzteren Annahme ist mithin 
abzusehen, und nur die erstere Annahme kann der Wirklich- 
keit entsprechen. 

Zu demselben Resultate gelangen wir auch auf einem an- 
deren Wege, wenn wir nämlich die Folgen der Reizung an 
den Blattflügeln untersuchen, was wir so lange verschoben 
haben. 

Berühren unsere Thonspitzen an der unteren Fläche des 
Blattflügels zwei in derselben Querlinie nach innen von der 
Haupt -Längslinie gelegene Punkte, so tritt auf Reizung eine 
reine positive Schwankung ein, oder es geht der positiven 
Schwankung höchstens ein spurweiser negativer Vorschlag, ein 
Zucken des Spiegels in negativem Sinne, voraus. Die positive 
Schwankung erscheint dabei desto grösser, je grösserder Abstand 
der Elektroden und damit die ursprüngliche Ablenkung ist, und 
erhöht die letztere um ca. '/,—?/,. Sind die berührten Punkte 
der unteren Fläche des Blattflügels zu beiden Seiten der Haupt- 
Längslinie gelegen, so verhält sich Alles gerade so, wie wenn 
es sich um zwei Punkte gleicher Spannungsdifferenz auf der 
inneren Seite der Haupt-Längslinie handelte. Bei Ableitung 
endlich von einem der Haupt-Längslinie nahen Punkte der 
unteren Fläche des Blattflügels und dem derselben Querlinie 
zugehörigen Punkte der Mittelrippe, dort wo wir die Mittel- 
rippe immer berühren, stellt sich regelmässig deutlich unsere 
Doppelschwankung ein, doch beträgt der negative Vorschlag 
nur 1—3 Se., selten noch etwas mehr und ist somit auffallend 
klein gegenüber der ursprünglichen grossen Ablenkung; die 
positive Schwankung erhöht hier diese Ablenkung mindestens 
um die Hälfte, oft auf das Doppelte. 

Ich brauche es wohl nicht als eine unumgängliche Bedin- 
gung dieser Versuche noch besonders hervorzuheben, dass die 
Reizbewegung ausbleiben muss. In günstigen Fällen lässt sich 


190 H. Munk: 


derselbe Versuch fünfmal und öfter anstellen, ehe das Blatt 
sich schliesst, und man sieht alsdann die Felgen der verschie- 
denen Reizungen, selbst wenn man abwechselnd compensirt 
‘ und nieht compensirt, nur so unbedeutend von einander ab- 
weichen wie bei den früheren Reizversuchen. Schliesst sich 
endlich das Blatt, so hat man aus Gründen, die wir später 
werden kennen lernen, noch Gelegenheit zu beobachten, dass 
der negative Vorschlag dieses Mal ein wenig grösser als bei 
den voraufgegangenen Reizungen ist; ein positiver Vorschlag 
vor dem negativen ist mir hier nie vorgekommen. 

Die Ergebnisse dieser Versuche sind nun nach der einen 
Richtung hin ohne Weiteres und auf das Einfachste entschei- 
dend. Wir haben jetzt das Verhalten der Kraft vor der Fläche 
des Blattflügel-Parenchyms, wie auch zwischen der Fläche und 
dem Querschnitte desselben Parenchyms geprüft; und wo die 
Ableitung von einem der Haupt-Längslinie nahen Punkte einer 
mittleren Querlinie und dem zugehörigen Punkte der Mittel- 
rippe geschah, haben wir sogar das Verhalten der Spannungs- 
differenz zwischen einem der negativsten Punkte vor der 
Fläche und einem der positivsten Punkte vor dem Querschnitte 
des Blattflügel-Parenchyms untersucht, einer Spannungsdiffe- 
renz, welche viel grösser ist als die grösste Spannungsdifferenz, 
welche vorher der Prüfung unterlag, als wir ausschliesslich 
von der Mittelrippe ableiteten. Wenn alle wirksamen Zellen 
in Folge der Reizung erst eine negative und dann eine posi- 
tive Schwankung erführen, hätten mithin bei unseren neuen 
Versuchen ebensogrosse und noch grössere negative Vor- 
schläge sich ergeben müssen, als bei unseren früheren Reiz- 
versuchen. Statt dessen hat sich neuerdings der negative Vor- 
schlag ganz vermissen lassen, oder er ist nur spurweise und 
selbst im äussersten Falle in nur sehr geringer Grösse aufge- 
treten. Es kann danach kein Zweifel sein, dass die Annahme 
eines gleichen Vorganges an allen wirksamen Zellen, einer 
anfänglichen negativen und späteren positiven Schwankung 
derselben, unbedingt zu verwerfen ist. 

Nach der anderen Richtung hin sprechen dieselben Er- 
gebnisse sehr zu Gunsten der zweiten Möglichkeit, dass die 


| 
4 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 191 


eine Hälfte der Zellen in der Dicke des Blattes eine negative 
und die andere Hälfte eine positive Schwankung erfährt, so 
zwar, dass die negative Schwankung an den oberen Hälften 
der Blattflügel- Parenchyme und an dem oberen Mittelrippen- 
Parenchyme, die positive Schwankung an den unteren Hälften 
der Blattflügel-Parenchymesich vollzieht. Setzen wir den extre- 
men Fall, dass die negative Schwankung zur Unwirksamkeit der 
von ihr betroffenen Parenchyme führt, so erläutern die Figg. 
32 a und db (Taf. I.) an einem durch die Mittelrippe und die 
benachbarten Partieen der Blattflügel gelegten Querschnitte 
die Veränderungen, welche die Spannungen in den Querlinien 
der unteren Blattfläche in Folge der negativen Schwankung 
erfahren müssen. In Fig. 324 hat man vom Punkte m aus, 
wo unsere Elektroden immer die Mittelrippe berühren, den 
positiven (schraffirten) Gesammtquerschnitt der Blattflügel- 
Parenchyme und des oberen Mittelrippen- Parenchyms vor 
sich. Dagegen ist in Fig. 325 der positive Querschnitt der 
oberen Hälften der beiden Blattflügel-Parenchyme und des 
oberen Mittelrippen-Parenchyms fortgefallen, und blos unwirk- 
samer Leiter erfüllt den Zwischenraum zwischen den unteren 
Hälften der beiden Blattflügel-Parenchyme. Im letzteren Falle 
ist, wie man sieht, der Punkt m nicht mehr der positivste Punkt 
der beiden Querlinien des Schnittes, sondern hat an Positivität 
gegen früher verloren, und der positivste Punkt der jederseiti- 
gen Querlinie ist jetzt nach aussen vom Punkte m gelegen. 
Nimmt man nun noch dazu, dass in der Wirklichkeit, während 
das obere Mittelrippen-Parenchym und die obere Hälften der 
beiden Blattflügel-Parenchyme ein ununterbrochenes Ganzes 
bilden, dessen Zellen überall aneinanderstossen, zwischen die 
beiden Hälften jedes Blattflügel - Parenchyms, wenigstens stel- 
lenweise, unwirksamer Leiter in der Form der Seitennerven 
eingeschoben ist, so müssen auch jetzt an der unteren Fläche 
des Blattflügels die iso@lektrischen Curven gleicher Spannungs- 
differenz spurweise weiter auseinanderfallen ‘als vorher. 
In dieser Art müssen also jedesmal die Spannungen in 
den Querlinien der unteren Blattfläche durch die negative 
Schwankung sich verändern, nur in desto geringerem Grade, 


192 H. Munk: 


je weiter die betroffenen Parenchyme von der Unwirksamkeit 
entfernt bleiben. Und damit stimmen die Ergebnisse unserer 
Versuche vortrefflich überein, da wir gar keinen oder nur ei- 
nen spurweisen negativen Vorschlag bei Ableitung von dem 
Blattflügel allein fanden, einen etwas grösseren negativen 
Vorschlag aber, sobald die eine Elektrode die Mittelrippe 
berührte. 

Auch dass der letztere Vorschlag immer viel kleiner war 
im Verhältniss zur ursprünglichen Ablenkung, als der Vor- 
schlag bei Ableitung von zwei Punkten der Mittelrippe, lässt 
sich im Anschlusse an das eben Verhandelte sehr wohl ver- 
stehen. Die Abnahme der Kraft, welche bei Ableitung von 
einem Punkte des Blattflügels und dem derselben Querlinie 
zugehörigen Punkte der Mittelrippe durch die negative Schwan- 
kung der oberen Parenchymzellen herbeigeführt wird, ist of- 
fenbar zu vergleichen der Abnahme der Kraft, welehe eintritt, 
wenn an der seitlichen Hälfte der Vorrichtung Fig. 19 ein ab- 
leitender Bogen mit seinem einen Fusspunkte auf der oberen 
Fläche (Fig. 19 A), mit seinem anderen Fusspunkte in der- 
selben Querlinie auf dem äusseren Querschnitte (Fig. 19 B) 
und zwar über der Mitte des Zinks sich befindet und der letz- 
tere Fusspunkt, immer in der Querlinie, nach der unteren 
Fläche der Vorrichtung hin verschoben wird. Ebenso ent- 
spricht die Abnahme der Kraft, welche bei Ableitung von zwei 
Punkten der Mittelrippe durch die negative Schwankung der 
oberen Parenchymzellen bedingt ist, derjenigen Abnahme der 
Kraft, welche an der Vorrichtung Fig. 19 statthat, wenn wir 
einen ableitenden Bogen, dessen Fusspunkte in derselben | 
Längslinie über der Mitte des Zinks am äusseren Querschnitte 
der Vorrichtung stehen, mit sich parallel nach der oberen oder 
der unteren Fläche der Vorrichtung hin verschieben. Für die 
gleiche Grösse der Verschiebung muss aber, wie die Betrach- 
tung der Vorrichtung ohne Weiteres lehrt, die Abnahme der Kraft 
im letzteren Falle viel beträchtlicher sein als im ersteren Falle. 

Zwei durchaus verschiedene Wege, die Verfolgung der 
Schwankungsformen an der Mittelrippe und ihrer Abhängig- 
keit von der Stärke der Reizung einerseits und die Prüfung 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 193 


der Folgen der Reizung an den Blattflügeln andererseits, haben 
uns also zu ganz dem nämlichen Ziele geführt. Während es 
sich als unmöglich herausgestellt hat, dass die Zellen der Blatt- 
flügel-Parenchyme und des oberen Mittelrippen-Parenchyms in 
Folge der Reizung zuerst einer negativen und dann einer po- 
sitiven Schwankung unterliegen, sind uns alle Erfahrungen, 
welche in Betracht kamen, verständlich geworden unter der 
Annahme, dass die eine Hälfte jener Zellen in der Dicke des 
Blattes mit einer negativen und die andere Hälfte mit einer 
positiven Schwankung die Reizung beantwortet. Auch hat sich 
noch auf dem zweiten Wege die Annahme in der wünschens- 
werthen Weise dahin präcisiren lassen, dass es die Zellen der 
oberen Hälften der Blattflügel-Parenchyme und des oberen 
Mittelrippen-Parenchyms sind, an welchen die negative Schwan- 
kung, und die Zellen der unteren Hälften der Blattflügel-Par- 
enchyme, an welchen die positive Schwankung sich vollzieht. 
Dass derart wirklich die Zellen sich verhalten, hat sonach eine 
hohe Wahrscheinlichkeit für sich. Aber die Annahme hat noch 
eine Probe zu bestehen. Wir waren oben (8. 175) auf Schwie- 
rigkeiten gestossen, als wir unsere ersten, bei Ableitung von 
der Mittelrippe gemachten Erfahrungen damit zu erklären ver- 
suchten, dass an den Blattflügel-Parenchymen und an dem 
oberen Mittelrippen-Parenchyme die Negativität der Fläche 
gegen den Querschnitt in Folge der Reizung zuerst sinkt, dann 
steigt und schliesslich wieder zur ursprünglichen Grösse ab- 
nimmt. Allerdings bot sich uns dort der Ausweg dar, dass 
wir die gleichen Veränderungen auch dem unteren Mittelrip- 
pen-Parenchyme zuerkannten und nur bei diesem das anfäng- 
liche Sinken der Negativität an Grösse sehr zurückstehen lies- 
sen gegen das nachmalige Steigen. Allein dieser Ausweg er- 
schien uns ungenügend, weil das Vorkommen der complicirten 
Schwankung unverständlich blieb, und zum Mindesten verfrüht, 
weil das Verhalten der Zellen der anderen wirksamen Par- 
enchyme noch genauer zu erforschen war. Nunmehr, da das 
Letztere geschehen, müssen wir auf unsere ersten Er- 
fahrungen zurückkommen und von unserem jetzigen Stand- 
punkte, der jeden Gedanken an einen verwickelten elek- 
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 13 


194 H. Munk: 


trischen Vorgang am unteren Mittelrippen - Parenchyme un- 
bedingt ausschliesst, das Verständniss jener Erfahrungen zu 
gewinnen suchen. 


Ohne dass wir auch das untere Mittelrippen - Parenchym 


an der Doppelschwankung betheiligt sein lassen, kommen wir 
zu dem Verständnisse nicht. Doch ist auch Nichts natürlicher, 
als dass, wenn alle anderen wirksamen Parenchyme in Folge 
der Reizung Veränderungen erfahren, das untere Mittelrippen- 
Parenchym allein nicht unverändert bleibt; und Nichts liegt 
näher, als dass, wie die Zellen des oberen Mittelrippen - Par- 
enchyms mit den Zellen der oberen Hälften der Blattflügel- 
Parenchyme der negativen, so die Zellen des unteren Mittel- 
rippen-Parenchyms mit den Zellen der unteren Hälften der 
Blattflügel-Parenchyme der positiven Schwankung unterliegen. 
Der so naturgemäss erweiterten Annahme sehen wir dann 
aber die Erfahrungen, um die es uns eben zu thun ist, in der 
That sich fügen, sobald wir nur den verschiedenen zeitlichen 
Verlauf‘) der beiden Einzelschwankungen, welche der Doppel- 
schwankung zu Grunde liegen, im Auge behalten. Dass die 
Doppelschwankung an der vorderen und an der hinteren Hälfte 
der Mittelrippe in entgegengesetztem Sinne verläuft, und dass 
sie auch bei Ableitung vom hinteren Ende der Mittelrippe und 
von einem Punkte etwas vor der Mitte derselben auftritt, ist 
jetzt gerade so erklärlich, wie vorher (S. 177); ebenso, dass 
der negative Vorschlag bei Ableitung von der hinteren Hälfte 
der Mittelrippe grösser ist, als bei Ableitung von der vorderen 
Hälfte, da ja die vom unteren Mittelrippen - Parenchyme her- 
rührende Kraft, obschon sie eine Veränderung erfährt, an der 
negativen Einzelschwankung doch nicht betheiligt ist. Es lässt 
sich jetzt aber auch sehr wohl verstehen, dass die positive 
Schwankung bei Ableitung von der hinteren Hälfte der Mittel- 
rippe sich kleiner ergiebt, als bei Ableitung von der vorderen 
Hälfte, und dass da, wo ursprünglich gar kein Strom vorhan- 
den ist, der negative Vorschlag immer auffällig grösser ist als 
die positive Schwankung; denn in diesen Fällen summiren sich 
algebraisch, um die positive Einzelschwankung zu bilden, die 


1) S. oben S. 187; Figg. 29 und 30. 


PE, 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 195 


einander entgegengesetzt gerichteten gleichzeitigen Zuwächse 
der vom unteren Mittelrippen-Parenchyme gesetzten aufsteigen- 
den Kraft und der von den unteren Hälften der Blattflügel- 
Parenchyme herrührenden absteigenden Kraft. Endlich lassen 
sich jetzt auch die Folgen der Reizung begreifen, welche bei 
Ableitung von den beiden Enden der Mittelrippe zur Beobach- 
tung kommen. 

Wenn wir für die von den Blattflügel- Parenchymen und 
von dem oberen Mittelrippen- Parenchyme an der Mittelrippe 
gesetzten Kräfte bisher stillschweigend eine Symmetrie in den 
beiden Hälften der Mittelrippe angenommen haben, so ist dies 
nur der Einfachheit halber geschehen, weil die geringe Unge- 
nauigkeit, welche wir uns damit zu Schulden kommen liessen, 
unseren bezüglichen Ausführungen keinen Eintrag thun konnte. 
Denn es liess sich leicht übersehen, dass wegen der Dicken- 
abnahme der Mittelrippe in der Richtung von vorn nach hin- 
ten, wegen des wechselnden Umfanges der Mittelrippen - Par- 
enchyme, wegen der von den Blattflügeln gebildeten Neben- 
schliessungen u. s. w. jene Symmetrie eine unvollkommene 
sein musste; und in Frage blieb nur die Art und Grösse der 
bestehenden Asymmetrie, weil wir diese als einen vorerst we- 
nig wesentlichen Umstand nicht weiter mit der Untersuchung 
verfolgten (s. o. S. 56). Nunmehr lehren uns offenbar die 
Reizversuche mit Ableitung von den Mittelrippen-Enden, dass 
auch schon ohne den Hinzutritt der durch das untere Mittel- 
rippen-Parenchym gesetzten Kräfte der positivste Punkt an 
der Mittelrippe ein wenig über die Mitte derselben hinaus nach 
hinten verschoben ist, dass auch schon blos in Folge der 
Blattflügel-Parenchyme und des oberen Mittelrippen - Par- 
enchyms eine schwache aufsteigende Kraft zwischen den 
beiden Enden der Mittelrippe besteht. Indem die Verän- 
derungen, welche diese Kraft in Folge der Reizung er- 
fährt, mit den Veränderungen der vom unteren Mittel- 
rippen - Parenchyme herrührenden stärkeren aufsteigenden 
Kraft sich verbinden, entsteht die grosse positive Schwan- 
kung mit dem kleinen negativen Vorschlage, welche wir be- 
obachtet haben. 

13* 


196 H. Munk: 


Die Annahme, welche sich vorher allseitig zutreffend er- 
wiesen hatte, hat sonach, mit einer naturgemässen Erweite- 
rung für das untere Mittelrippen- Parenchym, wie eine solche 
von vorne herein (S. 184) sich hatte vorsehen lassen, auch bei 
unseren ersten Erfahrungen die Probe bestanden; und die 


ganze Reihe der Ergebnisse, welche unsere Reizversuche liefer- 


ten, ordnet sich ausnahmslos derselben unter. Es kann daher 
kein Zweifel sein, dass diese Annahme der Wirklichkeit ent- 
spricht. Aber es ist höchst interessant, dass nunmehr auch 
noch mit einem ganz einfachen Versuche die Richtigkeit der 
gewonnenen Einsicht sich erhärten lässt. Da das untere Mit- 
telrippen - Parenchym am Blatte und am Blattstiele ein natür- 
liches einheitliches Ganzes bildet, muss, wenn die Zellen 
dieses Parenchyms in Folge der Reizung eine positive Schwan- 
kung erfahren, diese Schwankung, deren Erscheinungsweise an 
der Blatt-Mittelrippe durch die gleichzeitigen Veränderungen 
der anderen wirksamen Parenchyme des Blattes getrübt ist, 
an der Blattstiel- Mittelrippe ganz rein hervortreten als eine 
Verstärkung der durch das untere Mittelrippen-Parenchym hier 
gesetzten absteigenden Kraft). Und das ist in der That der 
Fall. Zwar habe ich selber den Versuch, auf den ich zu spät 
verfiel, nicht angestellt, aber schon Hr. Sanderson hat ihn, 
natürlich ohne von seiner Bedeutung eine Ahnung zu haben, 
ausgeführt; und bei der Einfachheit der Beobachtung werden 
wir uns auf deren Richtigkeit verlassen dürfen. „Wenn der 
Stiel auf die Elektroden aufgelegt wird“, sagt Hr. Sander- 
son?), „so wird die den Strom des Stieles anzeigende Ablen- 
kung vergrössert, wenn das Blatt in einer der oben ange- 
gebenen Weisen gereizt wird.“ Mit diesem unmittelbaren 
Nachweise der positiven Schwankung der Zellen des unteren 
Mittelrippen-Parenchyms sind aber offenbar zugleich unsere 
voraufgegangenen Ermittelungen über die Veränderungen der 
anderen wirksamen Parenchymzellen, aus welchen die Er- 
kenntniss jener positiven Schwankung nur als eine einfache 
und letzte Consequenz floss, auf das Beste verbürgt. 


1) Vgl. oben 8. 834 —5. 
2) Centralbl. S. 835; Proceed. p. 496. 


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nn a 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 197 


In Folge der Reizung erfahren also die Zellen der oberen Hälf- 
ten der Blattflügel-Parenchyme und des oberen Mittelrippen-Par- 
enchyms eine negative, die Zellen der unteren Hälften der Blatt- 
flügel-Parenchyme und des unteren Mittelrippen-Parenchyms eine po- 
sitive Schwankung; d. h. die Negativität der Mitte der Zellen gegen 
ihre Pole nimmt in Folge der Reizung bei den ersteren Zellen ab, 
bei den letzteren Zellen zu. Mit grosser Geschwindigkeit 
müssen sieh diese Abnahme und diese Zu- 
nahme von dem Orte der Reizung aus durch 
die ganze Zellenmasse fortpflanzen, in einer 
Zeit, die nur klein ist gegen die Dauer des 
Vorganges an der einzelnen Zelle, da anderenfalls 
Unterschiede in den elektrischen Erscheinungen, je nach 
dem Orte der Reizung, sich uns hätten kundgeben müs- 
sen. Und indem so ohne wesentlichen Fehler der elek- 
trische Vorgang an allen zusammengehörigen Zellen als 
gleichzeitig anzunehmen ist, lässt sich, was wir für die 
Einzelschwankungen, welche die an der Mittelrippe zur Be- 
obachtung kommende Doppelschwankung resp. complieirte 
Schwankung zusammensetzen, hinsichts ihrer Abhängigkeit 
von der Stärke der Reizung ermittelt haben, auf die Vorgänge 
an den Zellen selbst übertragen. Mit wachsender Rei- 
zung wachsen danach die Abnahme und die Zu- 
nahme und verändern sich zugleich in ihrem zeit- 
lichen Verlaufe derart, dass die Zunahme immer 
rascher an Steilheit des Ansteigens zum Maximum 
gewinnt, als dieAbnahme.an Steilheitdes Abfalles 
zum Minimum; so dass jenes Maximum, das bei 
schwacher Reizung verhältnissmässig weitin der 
Zeit zurückbleibt gegen dieses Minimum, mit 
wachsender Reizung dem letzteren immer mehr 
sich nähert. Ueber die relative Grösse der Abnahme und 
der Zunahme ist Nichts mit Sicherheit auszusagen, wegen der 
verwickelten Beziehung, in welcher der zur Beobachtung kom- 
mende negative Vorschlag zur negativen Schwankung der 
Zellen steht (s. o. S. 192). 

Bemerkenswerth ist dann noch ein Zeitverhältniss der elek- 


Pa Born RE Ra ER er Se Sue 


198 H. Munk: 


trischen Vorgänge, für dessen Verständniss ich Folgendes vor- 
ausschicken muss. 

NachHrn. Sanderson liegt zwischen der Reizung und der 
negativen Schwankung bei unserem Blatte ein Intervall von'/,—!/, 
Sec. (s.0.S. 168), und dieses Intervall soll der Periode der laten- 
ten Reizung des Muskels entsprechen. „Onthus exciting theleaf“, 
sagt Hr. Sanderson!), „the spot of light shot to the left, but 
it was observed that there was an obvious interval of time 
between the excitation and the effect. This period, though of 
much greater duration, corresponds to the so-called „period of 
latent stimulation* in muscle.“ Das ist aber unrichtig, da man 
unter der Periode oder dem Stadium der latenten Reizung des 
Muskels die Zeit versteht, welche zwischen der Reizung und 
dem Beginne der Oontraction verfliesst; und dieses Latenzstadium 
der Contraction hat Hr, Sanderson verwechselt mit dem La- 
tenzstadium der negativen Schwankung, dem Intervalle zwischen 
der Reizung und der negativen Schwankung des Muskels. 
Wenn Hrn. Sanderson’s Beobachtung richtig ist, so hat 
unsere Doppelschwankung am Blatte ein Latenzstadium von 
’y—'l, Sec.; aber von demselben ist dann wohl zu unterschei- 
den ein anderes Latenzstadium der Reizbewegung, 
das Hrn. Sanderson entgangen ist. Um das letztere zu 
constatiren, bedarf es nicht erst besonderer Hülfsmittel; so- 
bald man nur überhaupt darauf achtet, fällt es auf, wie eine 
verhältnissmässig lange Zeit, etwa eine Secunde und mehr, 
zwischen der Reizung und dem Beginne der Reizbewegung 
verfliesst; und an Blättern geringerer Reizbarkeit, bei welchen 
diese Zeit verlängert ist, lässt sich das mehrere Secunden be- 
tragende Intervall sogar bei flüchtiger Betrachtung nicht über- 
sehen, 

In dieses Latenzstadium der Reizbewegung fällt nun ein 
grosser Theil der elektrischen Vorgänge, welche die Reizung 
nach sich zieht. Schon bei den Reizversuchen mit Ableitung 
von der Mittelrippe kann man sich davon überzeugen. Wenn 
der Beobachter am Fernrohre in einem Falle, in welchem das 


1) Nat. p. 128. 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 199 


Blatt auf Reizung sich schliesst, nachdem er die Doppelschwan- 
kung bis zur Constatirung des positiven Maximum’s verfolgt 
hat, den Kopf nach dem Blatte wendet, so findet er das Blatt 
jüngst erst in die Bewegung eingetreten, die Blattflügel höch- 
stens etwa um !/, des Weges, den sie zur Schliessung des 
Blattes zurückzulegen haben, einander genähert. (Genauer ist 
aber der Sachverhalt festzustellen, wenn bei Ableitung von 
der Mittelrippe und der unteren Fläche des Blattflügels das 
Blatt sich schliesst. Obwohl hier, sobald die Reizbewegung 
beginnt, der Bussolkreis geöffnet wird, sieht man doch regel- 
mässig die Doppelschwankung, die positive Schwankung mit 
dem negativen Vorschlage, so wie sonst ablaufen, nur dass 
die Rückkehr des Spiegels zur Anfangsstellung rascher als 
sonst erfolgt; und wo Reizversuche ohne Reizbewegung vor- 
ausgegangen waren, stellt sich jetzt das Maximum der positi- 
ven Schwankung ohngefähr ebensogross oder doch nur wenig 
kleiner als vorher heraus. Es sind danach die negative 
Schwankung der oberen Parenchymzellen und die 
positive Schwankung der unteren Parenchymzel- 
len zu einem grossen Theile, etwa bis zum Mini- 
mum resp. Maximum, bereits abgelaufen, wenn 
die Reizbewegung beginnt. 


$. 7. Schlussbetrachtungen. 


Das sind die Untersuchungen, welche ich mitzutheilen 
hatte. Es bleibt nur übrig, dass wir ihre Ergebnisse noch von 
den weiteren Gesichtspunkten aus mustern, welche unser In- 
teresse für das Dionaea-Blatt bestimmten. 

Unsere Kenntniss von der Contraction ist leer ausgegan- 
gen, und sie musste leer ausgehen, weil die Bewegung unse- 
res Blattes, wie sich ergab, gar Nichts mit der Muskelverkür- 
zung zu schaffen hat, sondern den sonstigen Bewegungen der 
Pflanzen sich anreiht. Von den beiden Eigenschaften, welche die 
Thierähnlichkeit der Dionaea ausmachen sollten, der Verdau- 
ungsfähigkeit und der Contractilität, bleibt demgemäss auch 
nur die erstere bestehen; und selbst hinsichts dieser muss man 
auf eigene Gedanken kommen, wenn man einerseits den 


TFEIEIT 


2 


it 
Ze 


200 H. Munk: 


Reichthum der Pflanze an Wurzeln und ihr prächtiges Gedeihen 
bei Ausschluss jeder thierischen Nahrung constatirt, anderer- 
seits die Blätter durch die Zufuhr thierischer Nahrung zu 
Grunde gehen, gleichsam am Bissen ersticken oder richtiger 
durch die Nahrung vergiftet werden sieht. Das Vertreiben 
und Fangen von Inseeten mag unserer Pflanze von Nutzen 
sein, aber in deren Verdauung kann ich nur einen Nachtheil 
für die Pflanze erkennen; und gerade das Eigenthümliche, dass 
der Verdauungsvorgang hier zugleich physiologischer und 
pathologischer Natur ist, scheint mir es zu bedingen, 
was Hr. Darwin so auffällig findet'), dass die Dionaea 
trotz der so hohen Differenzirung ihrer Organe und trotz 
ihrer ausgezeichneten Anpassung doch auf dem Wege zum 
Erlöschen ist. 

In einer anderen Richtung hat sich die gesuchte Entschei- 
dung gefunden. Als die Präexistenz der elektrischen Gegen- 
sätze im Muskel und Nerven von Hrn. L. Hermann?) be- 
stritten worden war, weil die ruhenden Muskeln im unversehr- 
ten lebenden Frosche stromlos sein und erst durch eine mit 
der Entblössung verbundene Schädlichkeit elektromotorisch 
wirksam werden sollten, habe ich das Irrige der neuen Lehre 
dargethan?), indem ich zeigte, wie die zwischen der Haut und 
den Muskeln des Frosches befindliche Lymphe eine gute Ne- 
benschliessung für die Muskelströme abgiebt, so dass nur Spu- 
ren dieser Ströme am unversehrten Thiere zur Beobachtung kom- 
men können, und indem ich weiter die schwachen Muskelströme 
neben den Hautströmen an der Oberfläche des unenthäuteten 
lebenden Frosches nachwies. Zwar hat sich Hr. Hermann 
bei dieser Widerlegung nicht beruhigt; aber weder habe ich 
auf seine phrasenhaften Erörterungen‘) etwas Wesentliches 


1) Ins. Pl. p. 358. 

2) Untersuchungen zur Physiologie der Muskeln und Nerven. Drit- 
tes Heft. Berlin 1868. 

3) Dies Archiv, 1868. S. 529 ff.; 1869. S. 649 f. 

4) Archiv für die gesammte Physiologie u. s. w. Bd. III. 1870. S. 
15 #.; Bd. IV. 1871. 8. 149 £t. 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 201 


zu bemerken nöthig gehabt, das nicht schon in meinen Mit- 
theilungen enthalten war, noch habe ich es über mich zu ge- 
winnen vermocht, mit einem Gegner in Discussion zu treten, 
der nicht begriff, dass, wenn, was sonst deutlich sichtbar, unter 
Umständen undeutlich oder selbst gar nicht wahrnehmbar 
ist, daraus doch nicht geschlossen werden darf, dass dasselbe 
dann gar nicht vorhanden ist. Jetzt bin ich Hrn. Her- 
mann auf einem neuen, dem pflanzlichen Gebiete begegnet. 
Nach den Strömen an Thieren hat Hr. Hermann auch noch 
die Ströme an Pflanzen in den Bereich seiner Untersuchung 
gezogen!) und auch auf diese Ströme, welche er an den Sten- 
geln der verschiedensten Pflanzen, an Blättern, Blüthen u. s.:w. 
studirt hat, seine Lehre ausgedehnt. Die Ströme der Pflanzen?) 
stehen nach ihm „mit den Lebenseigenschaften der Pflanzen- 
gewebe in innigem Zusammenhange, gerade wie die Muskel- 
ströme mit den Lebenseigenschaften der Muskeln. Ihre 
Grundbedingung ist das Vorhandensein einer Verlet- 
zung an einem noch lebenden Pflanzentheile; die Art der 


1) Ebenda, Bd. IV. 1871. S. 155 ff. 

2) Die Kenntniss der Pflanzen - Ströme ist bisher eine höchst 
ungenügende geblieben. Die älteren Untersuchungen sind sicht- 
lich unzureichend, und die beiden neuesten, die eben angeführte 
Hrn. Hermann’s vom J. 1871 und Hrn. J. Ranke’s Untersuchung 
vom J. 1872 (Münchener Sitzungsber. Math.-phys. Kl. II. S. 177 ff.) 
widersprechen einander geradezu. Darauf, dass Hr. Hermann alle 
Ströme von Verletzungen ableitet, während Hr. Ranke „falsche“ Ströme, 
die von Verletzungen herrühren, von den „wahren“ Strömen unter- 
scheidet, würde weniger Gewicht zu legen sein. Aber-es besteht ein 
rein thatsächlicher und dabei vollkommener Widerspruch in der Haupt- 
sache, indem Hr. Hermann den künstlichen Längsschnitt deutlich 
längsgefaserter Pflanzentheile positiv, Hr. Ranke dagegen negativ 
gegen den künstlichen Querschnitt findet. Da Hr. Ranke Hrn. Her- 
mann’s Untersuchung in seiner Mittheilung nicht berücksichtigt hat, 
sind neue Untersuchungen erforderlich, um den wahren Sachverhalt 
festzustellen. DassHr. Ranke an seinen von künstlichem Längs- und 
Querschnitte begrenzten parallelfaserigen Pflanzenstücken auch die 
Neigungsströme und die schwachen Längs- und Querschnittsströme 
hat beobachten können, scheint zugleich mit unseren Ermittelungen 
für Hrn. Ranke’s Angabe zu sprechen. 


202 | H. Munk: 


Verletzung ist wie bei den Muskeln gleichgültig.*') Schlagen- 
der aber kann eine Widerlegung gar nicht gedacht werden, 
als sie die vorliegenden Untersuchungen an unversehrten Blät- 
tern unversehrter Pflanzen liefern mit ihren elektrischen Er- 
scheinungen von der gleichen Art, wie die elektrischen Er- 
scheinungen an den Muskeln und Nerven. Verschwendung 
wäre danach jedes Wort, das sich noch weiter mit der Irrlehre 
befasste. 

Endlich, was die Fragen nach Wesen und Bedeutung der 
elektrischen Erscheinungen an Nerv und Muskel betrifft, sehen 
wir zwar nicht unmittelbare Erfolge, aber doch wesentliche 
Fortschritte erzielt. An die Stelle der spurweisen und vielfach 
unzutreffenden ersten Wahrnehmungen von Hrn. Sanderson 
ist eine genauere Kenntniss des Dionaea-Blattes in elektrischer 


Beziehung getreten, wonach dieses Blatt den Nerven, Muskeln 


und elektrischen Organen mit seiner elektromotorischen Wirk- 
samkeit sich an die Seite stellt. Und nicht blos im Allgemei- 
nen ein neues Angrifisobjeet ist damit gewonnen, um die 
elektrischen Erscheinungen an den Organismen verstehen zu 
lernen, sondern auch die besonderen Angriffspunkte sind 
bereits hervorgetreten. Gegenüber den zur Zeit unfassbaren 
elektromotorisch wirksamen Muskel- und Nervenelementen 
und gegenüber den nicht minder dunklen Elementen der elek- 
trischen Platte haben wir an unseren wirksamen Parenchym- 
zellen wohldefinirte und dem Versuche wohl zugängliche Ge- 
bilde; und diese Gebilde zeigen auf Reizung, bei auch 
anderweitig entgegengesetztem Verhalten, die einen eine 
negative, die anderen eine positive Schwankung, während 
sonst blos die negative Schwankung dem Nerven und 
Muskel, blos die positive Schwankung der elektrischen 
Platte zukommt. Bis zu einem gewissen Punkte ist dann 
auch schon der Angriff durchgeführt. Da die elektromotori- 
schen Kräfte unserer Zellen nach Ablauf der elektrischen 
Folgen der Reizung, auch wenn die Reizbewegung stattgehabt 
hat, genau dieselben wie vor der Reizung und überhaupt überall 


1) A. a. 0. S. 161—2. 


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Archiv fAnat.u. Phystol. 1816: 


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Fig.15. Fig.16 a, 


Fig. 168. 


19. 16 c. 


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19.20 C 


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Fig. %4B. 


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Fig. 24. 


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H Nunk del. 


Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 203 


unabhängig vom Oeflinungswinkel des Blattes sind, und da die 
elektrischen Vorgänge in Folge der Reizung auch ohne die 
Reizbewegung eintreten und, wo sie von der letzteren begleitet 
sind, doch zum grossen Theile vor deren Beginn ablaufen, so 
steht es fest, dass die elektromotorische Wirksamkeit der Zel- 
len zur Form und zum Wassergehalte der Zellen in keiner 
unmittelbaren Beziehung steht. Vielmehr muss die elektromo- 
torische Wirksamkeit der Zelle der Ausdruck oder die Re- 
sultirende sein einer Eigenschaft der Zelle oder eines Bestand- 
theiles derselben, welche unmittelbar durch die Reizung vor- 
übergehend verändert wird und deren Veränderung, wenn sie 
eine gewisse Grösse erreicht hat, die Form- und Wasserge- 
halts-Veränderung der Zelle nach sich zieht. Da nun nach 
Hrn. Pfeffer!) der Primordialschlauch der bei Reizung va- 
riable Theil der Zelle ist und zwar sein Filtrationswiderstand 
in Folge der Reizung plötzlich sinkt, so muss die elektromo- 
torische Wirksamkeit der Zelle der Ausdruck oder die Resul- 
tirende sein der Eigenschaft des Primordialschlauches, von wel- 
cher die Grösse seines Filtrationswiderstandes abhängig ist. 
Von hier aus kann möglicherweise schon der nächste Schritt 
die Bewältigung der Probleme einleiten; aber gerade je fol- 
genreicher der Schritt wäre, desto mehr nehme ich Anstand, 
mit der Hypothese der Erfahrung vorzugreifen. 


Berlin, im März 1376. 


1) Physiologische Untersuchungen. Leipzig 1873. 8. 131 fi. — 
Botanische Zeitung, 34. Jahrg. No. 5. (4. Februar) 1876. S. 75 ff. 


Ueber die Allantoıs des Menschen. 


Von 
Dr. W. Krause, 


Professor in Göttingen. 


Gegen das von mir!) beim Menschen beschriebene blasen- 
förmige Hervorspriessen der Allantois hat Kölliker?) einge- 
wendet: „Bis auf Weiteres halte ich die fragliche Allantois 
für den Dottersack oder die Nabelblase, wie sie beim Men- 
schen heisst und den zerrissenen Dottersack von Krause, der 
bei Embryonen dieses Alters nie mehr so gross ist, 
wie die Figur zeigt, für den abgerissenen Nabelstrang mit 
Fetzen des Ammion — —“. 

Kann man wohl einen unanatomischeren Einwand erheben? 

Wir finden bei dem fraglichen Embryo zwei in der Me- 
dianlinie hervorragende Blasen. Die Eine kleinere liegt distal- 
wärts und unmittelbar an der einwärts gebogenen Cauda, die 
andere grössere ebenfalls gestielte Blase mehr proximalwärts. 
Eine Nabelschnur ist noch nicht vorhanden. Die distale Blase 
ist mithin die Allantois; die proximale ist die Dotterblase 
(Nabelbläschen) — nicht umgekehrt, wie Kölliker will. Ein 
Blick auf meine Abbildung (s. d. Holzschnitt u. a. a. O. Taf. VI.) 


Menschlicher Embryo 3mal vergrössert. a Allantois. d Dottersack, 


1) Dies Archiv, 1875. S. 215. Taf. VI. 
2) Entwicklungsgeschichte des Menschen u.s.w. 1876. S. 306. 


W. Krause: Ueber die Allantois des Menschen. 205 


schliesst jeden Zweifel darüber aus. Der letztgenannte ausge- 
gezeichnete Embryologe scheint übersehen zu haben, dass nach 
seiner Erklärungsweise der fragliche Embryo aus dem unteren 
Ende der Aorta entspringende Aa. omphalo-mesaraicae und ober- 
halb derselben entstandene Aa. umbilicales besitzen müsste. 
Folgeweise müsste auch sein Enddarm proximalwärts von der 
Valvula coli sich befinden; oder trivial ausgedrückt: der After am 
Magen sitzen! Und was die Grösse der Dotterblase anlangt, so ist 
sie schwerlich bedeutender, als an dem von Kölliker (a.a. 0. 
Fig. 231) abgebildeten Embryo Thomson’s, dessen Alter 
Kölliker in die dritte, Thomson selbst in die vierte bis 
fünfte Woche setzt. — Die reelle Umkehrung der beiderseiti- 
gen Insertionsstellen jener Blasen würde mithin eine Missbil- 
dung darstellen, die nicht nur absolut unerklärlich, sondern 
auch niemals und nirgends beobachtet wäre. Ausserdem fehlt 
jede noch so schattenhafte Begründung für eine solche Annahme, 
um so mehr, da der Embryo im Uebrigen ganz normal ist. 
Alles hingegen erklärt sich auf das Natürlichste und Unge- 
zwungenste, wenn man annimmt, dass in dem fraglichen Em- 
bryo ein rasch vorübergehendes, vielleicht kaum einen Tag 
dauerndes, aber unvermeidliches Entwicklungsstadium vorliegt, 
welches bisher beim Menschen noch nicht beobachtet worden 
war. 

Die Streitfrage erscheint damit abgethan. Eine anderwei- 
tige Erörterung jedoch drängt sich bei dieser Gelegenheit auf: 
sie betrifft Altersbestimmungen an sehr jungen mensch- 
lichen Embryonen überhaupt. Allerdings stimmen manche Be- 
funde in Bezug auf Grössen-Verhältnisse und Fortschreiten der 
Entwicklung nach den bisher vorliegenden Angaben über die 
so seltenen menschlichen Embryonen aus dem Ende des ersten 
Schwangerschaftsmonats nur schlecht mit den von den ver- 
schiedenen Autoren selbst registrirten Angaben über die muth- 
massliche Dauer der betreffenden Schwangerschaft. Die Wahr- 
nehmung dieser Widersprüche sowohl älterer als neuerer Be- 
obachter unter einander muss an sich schon dazu führen, jene 
zeitlichen Angaben für höchst unsicher zu halten. Eine ein- 


206 W. Krause: 


fache Ueberlegung erklärt solche von mir (a.a. O.) ebenfalls 
angedeutete Unsicherheit, die bekannt genug ist, trotzdem sich 
aber zur Zeit leider nicht beseitigen lässt. 

Experimentirt man an Säugethieren, so ist der Concep- 
tionstermin bis auf den Tag oder vielleicht selbst die Stunde 
genau bekannt. Bei menschlichen Embryonen hätte man im 
glücklichen Falle mit einer Selbstmörderin oder plötzlicher ge- 
waltsamer Todesart zu thun: gewöhnlich handelt es sich um 
abortirte Eier. 

Der Abortus hat natürlich seinen guten pathologischen 
Grund, wenn dieser auch im speciellen Falle nicht aufzuklären 
ist. Dabei sind verschiedene Verhältnisse möglich. 

Entweder der Embryo entwickelte sich eine Zeit lang, 
z. B. drei bis vier Wochen normal, staıb dann ab und wurde 
noch einige Zeit anscheinend ohne sich zu verändern im 
Uterus getragen. Eben so gut kann sich die Entwicklung 
durch langsam eintretende Ernährungsstörungen der absterben- 
den Frucht retardiren. Beide Male wird das Resultat sein, 
dass der Beobachter den Embryo zufolge etwa vorliegender 
Angaben über die letzte Menstruation u.s. w. für älter hält, 
als es dessen Grössenverhältnissen u. s. w. entspricht. 

Andererseits kann die relativ zu langsame Entwicklung 
Verminderung der embryonalen Dimensionen resp. Differenzi- 
rung der Organe herbeiführen, und wenn keine Angabe über 
Menstruation oder Conceptionstermin vorliegt, es bewirken, 
dass der Embryo jünger erscheint, als er wirklich ist. — Beide 
Fehlerquellen vermögen eventuell auch an Eiern wirksam zu 
werden, die im Uterus von Selbstmörderinnen u. s. w. gelegent- 
lich gefunden werden sollten. 

Das bisher vom Menschen vorliegende Material ist mithin 
keineswegs danach angethan, die absoluten oder auch nur die 
relativen Zeitverhältnisse der Entwicklung mit jener Genauig- 
keit festzustellen, die bei Thieren vergleichsweise leicht erreich- 
bar ist — selbst wenn man von individuellen Unterschieden 
z. B. der Körpergrösse vorläufig ganz absehen wollte. Viel- 
leicht könnte sogar die relative Zeitbestimmung z. B. in Bezug 
auf das Kopf- und Schwanz-Ende erheblich differiren, falls Er- 


Ueber die Allantois des Menschen. 907 


nährungsstörungen in der Uteruswand oder im Embryo selbst 
die obere Körperhälfte des letzteren mehr afficirten, als die 
untere, resp. umgekehrt. Sogar bei Selbstmord u.s. w. dürf- 
ten solche keineswegs als ausgeschlossen schlichtweg voraus- 
gesetzt werden. 

Nach allen diesen Umständen wird also anzurathen sein, 
bei Schlüssen, die (wie der oben nach Kölliker eitirte) di- 
rect oder indirect auf relative oder absolute Altersbestimmun- 
gen von Embryonen aus dem ersten Schwangerschaftsmonate 
basirt sind, grosse Behutsamkeit walten zu lassen. Dies ist 
übrigens keine neue Anforderung. Am besten wird es sein, 
die guten von den unzuverlässigen Beobachtungen zu sondern 
und letzteren ein entsprechend vermindertes Gewicht beizu- 
legen. 

Neue Wahrheiten pflegen aus begreiflichen Gründen hier 
und da schwer Eingang zu finden. Möchten die bekannten 
drei Stadien, welche sonst in jedem Einzelfalle durchlaufen 
werden, diesmal rasch absolvirt werden. Sie lauten ohne Zwei- 
fel: A. es ist die Dotterblase. — BD. es ist wider die Antides- 
cendenztheorie. — . es steht bereits in älteren Exemplaren 
eines Lehrbuchs der Entwicklungsgeschichte. 

Die Thatsachen aber behalten das letzte Wort. 


Ueber die Glandula thyreoidea ohne Isthmus 
beim Menschen. 
Von 
Dr. WENZEL GRUBER, 
Professor der Anatomie in St. Petersburg. 


Hiezu Taf. IV. 


A. Fremde Beobachtungen. 

J. B. Morgagni') hatte bei einem alten Frauenzimmer 
im November 1706 zu Bologna die Glandula thyreoidea in 
zwei Lobi getheilt gesehen, welche durch den ganzen Zwischen- 
raum getrennt waren, den sonst der Isthmus einnimmt. Der- 
selbe gedenkt wohl der Beobachtung von Joh. Heinr. Schultze, 
Professor zu Altdorf, welcher nach einer Nachricht v. J. 1727 
(1731) im Herbst 1726 die Glandula thyreoidea bei einem mit 
einer starken Hernie behaftet gewesenen Manne in zwei Stücke 
völlig getheilt angetroffen hatte?) Zwei von einander ge- 
trennte Glandulae thyreoideae an einem monströsen todtgebore- 
nen Kinde 1736 beobachtet zu haben, hatte auch Joh. Jac. 
Ritter in einer Epistola anatomiea an Haller mitgetheilt,?) 
welcher in seiner Responsio berichtete, dass ihm diese Abwei- 
chung auch „aliquando“* vorgekommen sei.!) Diese Angabe 
wiederholt A. v. Haller5) später wieder und citirt dabei auch 


1) Epistol. anat. Patavii 1764. Fol. Epist. IX. Art. 30. p. 82. 

2) Einige Singularia und Notabilia so bei der Sectione anatomiea 
eines simplen Menschen observirt worden. — Miscellanea phys.-med.- 
math. von Andr. Elias Büchner. An. 1727 (1. u. 2. Quartal), 
Erfurt 1731. 4. Cl. IV. Aprilis 1727. Art. 3. S. 251. 

3) „De foetu exomphalodaeo puerili“. — Acta phys.-med. Vol. VI. 
Norimbergae 1742. 4. Observ. 12. p. 45. 

4) Op. eit. p. 46. 

5) Elementa physiologiae. Tom. III. Lausannae 1768. Lib. IX, 
8. XXI. p. 384 et not. e. „Semel vidi“. 


W. Gruber: Ueber die Glandula thyreoidea u. s. w. 209 


Tab. XXV. von Barth. Eustachius, wo aber zwei Glandu- 
lae thyreoideae nur vielleicht abgebildet sınd.) Sabatier?) 
bemerkte ausdrücklich, dass er die Glandula thyreoidea beim 
Menschen „quelquefois“ in zwei Portionen, in eine rechte und 
in eine linke, getheilt gesehen habe, wie bei den meisten Qua- 
drupeden. J. F. Albers?) hat einen Fall abgebildet. ©. Hand- 
field Jones‘) führt vier Beispiele aus dem Museum des 
Guy’s Hospitales in London an. An einem Beispiele der 
Glandula partita sind zugleich zwei Lobi medii (median colums) 
an dem zweiten und dritten Beispiele ist je ein Lobus medius, 
an dem vierten Beispiele ist ein Lobus medius dexter und 
eine isolirte Portion an der linken Seite (Glandula thyreoidea 
accessoria superior) vorhanden. In den Werken vieler anderer 
Anatomen bis in die neueste Zeit wird der Abweichung ent- 
weder gar nicht gedacht oder doch die Häufigkeit ihres Vor- 
kommens mit den unbestimmten Ausdrücken „sehr selten, sel- 
ten, bisweilen“ bezeichnet, welche, wie man weiss, nicht immer 
eigene Beobachtungen voraussetzen.’) Allerdings mögen in so 
manchem Museum Beispiele davon aufgestellt sein, wenn ich 
auch in einer ganzen Reihe von Museums-Catalogen, die mir 
zur Durchsicht zur Verfügung gestanden hatten, davon keine 
Präparate verzeichnet fand. 


1) Barth. Eustachii tabulae anat. ab J. Maria Laneisio. 
Amstelodami 1722. Fol. Tab. XXV. (In der Erklärung S. 61 keine 
Angabe.) 

2) Trait@ comp]. d’anat. Tom. II. Paris. 8°. Annee 1777, p. 247. 

3) Atlas d. pathol. Anat. Abth. II. Bonn 1842. Fol. Tab. XII 
Fig. 3. 

4) The Cyelopaedia of anatomy and physiology. Vol. II. London 
1852. Art.: „Thyroid. Gland.“ p. 1002. 

5) Ich hatte ja schon die Ehre zu beweisen, dass man gern flun- 
kert und über die Häufigkeit einer Anomalie, die man nur 1 Mal und 
von 1725—1869, also während 144 Jahren, nicht wieder gesehen hatte, 
denn doch mit den bequemen Ausdrücken: „sehr selten, selten, bis- 
weilen“ herum warf. (Siehe meine Aufsätze über supernumeräre 
Handwurzelknochen.) 

Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1375. 14 


210 W. Gruber: 


B. Eigene Beobachtungen. 
Ich hatte während einer langen und an Erfahrung reichen 
Laufbahn auch auf die Abweichungen der Glandula thyreoidea 
mein Augenmerk gerichtet und darunter namentlich auf die, 


durch welche sie, in Folge des Mangels des Isthmus, eine 


Glandula bipartita wird, weil diese Art ihrer Abweichung 
nicht nur als Bildungshemmung und Thierbildung interessant, 
sondern auch in operativ-chirurgischer Beziehung kennenswerth 
ist. Ich erlaube mir daher auch meine Erfahrungen über 
diese Abweichung im Folgenden mitzutheilen, und finde 
mich dazu um so mehr veranlasst, da ich im Stande bin, dar- 
zuthun, wie es sich bei dieser Abweichung eigentlich mit der 
Communication der Arteriae thyroideae von beiden 
Seiten in der für den mangelnden Isthmus glandulae thyreoi- 
deae auftretenden Praetracheallücke verhalte, was, so viel ich 
weiss, man noch nicht kennt. 

Mir sind bis jetzt 31 Fälle des Mangels des Isthmus der 
Glandula thyreoidea zur Beobachtung gekommen. Den ersten 
Fall habe ich in Prag, die übrigen in St. Petersburg beobach- 
tet. Von den Petersburger Fällen habe ich den ersten 1847, 
den letzten 1872 angetroffen. Von diesen bin ich auf 15 ge- 
legentlich, auf 15 jedoch bei den geflissentlich vorgenommenen 
Untersuchungen von 300 Kehlköpfen und deren Anhängen ge- 
stossen, welche ich hinter einander vom September 1860 bis 
Ende 1864, also in einem Zeitraume von 4 Jahren, einer all- 
seitigen Untersuchung unterzogen hatte. Die Untersuchungen 
hatten sich auch auf die Arteriae thyreoideae erstreckt, um zu 
erfahren, wie es um ihre Communication stehe. Es wurden 
deshalb von mehr als 100 Kehlköpfen deren Glandulae thyreoi- 


deae auch arteriell injieirt. Unter diesen gelungenen injieirten _ 


Glandulae thyreoideae waren 10, welche keinen Isthmus 
besassen. Ich konnte daher das Verhalten der Arterien der 
Glandula thyroidea nicht nur mit, sondern auch ohne Isthmus 
studiren. Von den Fällen ohne Isthmus, auf die ich gelegent- 
lich gestossen war, hatte ich nur wenige zur arteriellen Injec- 
tion verwenden können, weil manche andere, wegen zu weit 


Ueber die Glandula thyreoidea u. s. w, 211 


vorgeschrittener Präparation dazu nicht geeignet waren und für 
noch andere taugliche die Zeit zur Ausführung der Injection 
mangelte. | 

Von den von mir beobachteten 31 Fällen der Abweichung 
hatte ich den in Prag bei einem 3öjährigen Irren aufgefunde- 
nen Fall und einen anderen Fall, welcher 1869 bei einem 
Manne, der mit einer retrotrachealen Retentionsgeschwulst be- 
haftet war, sich vorgefunden hatte, bereits veröffentlicht.') Es 
erübrigt somit noch der Bericht über 29 Fälle: 

Vorkommen. Von den mit Mangel des Isthmus der 
Glandula thyreoidea behaftet gewesenen 29 Individuen waren 
26 männliche und 3 weibliche. Von 15 Fällen aus den auch 
auf diese Abweichung geflissentlich untersuchten 300 Kehl- 
köpfen (250 männlichen und 50 weiblichen) gehörten 12 männ- 
lichen und 3 weiblichen Individuen an. Nach letzterer Summe 
würde sich der Mangel des Isthmus glandulae thyreoideae zu 
seinem Vorkommen verhalten überhaupt wie 1: 19; beim männ- 
lichen Geschlecht wie 1: 19,833; beim weiblichen Geschlecht 
wie 1: 16,666. Ich habe 15, 16, 18, 20, 22, 25, 27, 55 und 
selbst 48 Kehlköpfe untersuchen müssen, bevor ich 1 Mal die 
Abweichung angetroffen habe, aber einige Mal Fälle von ihr 
doppelt oder sogar dreifach auch schnell auf einander folgen 
gesehen. 


Verhalten der Lobi laterales. 


Die Lobi hatten zum 5.—8. Trachealring abwärts gereicht. 
Ihre Gestalt ist gewöhnlich die eines nach 3 Seiten comprimirten, 
etwas gekrümmten kegelförmigen oder retortenförmigen Körpers 
mit einer vorderen (vorderen seitlichen) hinteren (hinteren seit- 
lichen) convexen und inneren concaven Fläche, mit oberer 
Spitze und unterem abgerundeten dicken Ende; bisweilen die 


1) a. Ueber die Anomalien der Art. thyreoidea ima und der A. 
erico-thyreoidea in ihrer wichtigen Beziehung zu einigen chirurgischen 
Operationen. — Neuer anomaler Kehlkopfs-Muskel. — Medic, Jahrb. 
d. österr. Staates. Bd. 51. Wien 1845. S. 147. — b. Ueber eine 
retrotracheale Retentionsgeschwulst. — Arch. f. path. Anatom. u.s.w. 
Bd. 47. Berlin 1869, S.1ı1. Taf. I. Fig. 1.B.B. 

14* 


212 W. Gruber: 


eines nach drei Seiten comprimirten länglich-runden oder ovalen 
Körpers mit bald unterem, bald oberem breiteren abgerundete- 
rem Ende. Sie waren, wie die Lobi der Glandula der Norm 
besonders durch die Ligamenta suspensoria') am Larynx und 
an der Trachea aufgehängt. In mehreren Fällen hatte sich von 
einem der Lobi, namentlich vom Lobus sinister, ein anomaler 
Lobus medius verschiedener Länge erhoben, welcher im höch- 
sten Grade seiner Entwickelung, bald vermittelst eines langen 
oder kurzen Lig. suspensorium medium, bald in Substanz an 
den Körper des Os hyoideum sich anheftetee In 27 Fällen 
waren die Lobi völlig von einander geschieden, in zwei Fällen 
aber waren sie vor der Cartilago cricoidea und vor dem 
Lig. erico-thyreoideum medium mit einander vereinigt. Bei 
einem Weibe sandte nämlich jeder Lobus lateralis einen schma- 
len zungenförmigen Lobus medius ab. Diese Lobi medii con- 
vergirten und vereinigten sich an der Cartilago cricoidea zu 
einem Lobus medius communis, der am Arcus cartilaginis cri- 
eoideae und in der Fovea crico-thyreoidea vor dem Lig. crico- 
thyreoideum medium Platz nahm und sich unten am Angulus 
der Cartilago thyreoidea anheftetee DBei einem Manne kam 
ein ähnliches Verhalten vor, aber der Lobus sinister hatte zwei 
anomale Lobi medii, wovon der laterale zum Os hyoideum 
aufstieg und vermittelst eines Ligamentes an dessen Körper 
inserirte. — Sollte man diese beiden Fälle zu denen mit Man- 
gel des Isthmus glandulae thyreoideae nicht rechnen dürfen, so 
würden sie doch als bemerkenswerthe Fälle von Verrückung 
des Isthmus glandulae thyreoideae von der Trachea auf den 
Larynx zu gelten haben. 


Prätracheallücke zwischen den Lobi. 


Die Prätracheallücke reicht verschieden weit und selbst 
bis zum 7. Trachealring herab, ist also verschieden und bis 
2:7—3 Cm. hoch. Sie hat an der Mitte ihre geringste Weite, 
erweitert sich nach oben und unten. In den beiden Fällen 


1) Siehe meinen Aufsatz: „Ueber die Aufhängebänder der Schild- 
drüse.* — Medic. Jahrb. Wien. Jahrg. 1363. 8. 1. 


Ueber die Glandula thyreoidea u. s. w. 213 


mit Vereinigung der an der Trachea wie beim Mangel des 
Isthmus separirten Lobi laterales von diesen abgegangenen 
Lobi medii war die Lücke am Larynx geschlossen und dahin 
zugespitzt. Die Weite variirte an der Mitte von 6 Mm. bis 
1:6 Cm. und betrug oben und innen noch um 6 Mm. mehr. 
Die Lücke enthält Bindegewebe und Gefässe, namentlich Aeste 
der Venae subthyreoideae, aber auch wohl in der Regel Arte- 
rienäste in der Tiefe. 


Verhalten der Arteriae thyreoideae. 


Ich konnte in einer Reihe von Fällen, wegen zu weit vor- 
geschrittener Präparation, diese auf das Verhalten der Arterien 
nicht mehr prüfen. Ich habe an mehreren intacten Fällen, ohne 
oder bei vorausgeschickter gelungener arterieller Injection, 
Communication der Arterien einer Seite mit denen der 
anderen Seite sicher vermisst und in einem der letzteren 
injieirten Fälle, bei Vorkommen eines linken anomalen Lobus 
medius, allerdings die A. dextrae untereinander durch eine: 
feine Anastomose am hinteren Rande des entsprechenden Lobus 
lateralis und die A. sinistrae unter einander auf dieselbe Weise 
und zugleich die A. sinistra inferior mit der A. crico-thyreoi- 
dea sinistra vermittelst eines Zweiges, welcher hinter dem Lo- 
bus lateralis sinister verlief, communieiren gesehen. Ich habe 
auch endlich an 10 Fällen, bei vorausgeschickter völlig gelun- 
gener arterieller Injection Communication der Arterien der 
rechten Seite mit aller Bestimmtheit nachweisen können, 
wie die in meiner Sammlung aufgestellte schöne Collection be- 
weiset. 

An 9 solchen völlig gelungenen arteriell injicirten Prä- 
paraten mit vollständiger Trennung der Lobi laterales habe 
ich Communication der Arterien der rechten Seite mit 
denen der linken Seite bestimmt vorgefunden. An dem |. 
Präparate von einem Manne geht die Communication der Thy- 
reoideae superiores durch ein feines fünfmaschiges Netz in der 
Prätracheallücke, welches gleich unter der Cartilago cricoidea 
am 1. Trachealring liegt, vor sich. Die Thyreoideae dextrae 
allein und ebenso die Thyreoideae sinistrae allein communieiren 


214 W. Gruber: 


durch je einen langen Ast untereinander, welcher am hinteren 
Rande jedes Lobus verläuft. Der Communicationsast ist selbst 
an der schwächsten Stelle noch 1 Mm. dick. An dem 2.Prä- 
parate von einem Jünglinge ist die Communication der Thyre- 
oideae superiores eine ähnliche. Nur ist statt eines Netzes 
ein einfacher feiner Communicationszweig vorhanden. An dem 
3. Präparate (Fig. 1) communieiren die Thyreoideae superiores 
(a. b) durch einen vor dem 2. Trachealring in der Prätracheal- 
lücke geschlängelt in querer Richtung verlaufenden Ast (8) von 
1'25 Mm. Durchmesser. An dem 4. Präparate (Fig. 2) von 
einem Weibe ist die Communication der Thyreoideae superio- 
res (a’. b,) durch einen 2 Cm. langen und 1'5 Mm. dicken, 
etwas S-förmig gekrümmten Ast (0) bewerkstelligt, der mit 
dem oberen rechten Abschnitte am 1. Trachealring mit der 
unteren linken am 2. Trachealring in der Tiefe der Prätra- 
cheallücke schräg von unten und links nach oben und rechts 
aufsteis. An dem 4. Präparate (Fig. 4) von einem Manne 
mit einem Lobus medius (a) des Lobus dexter (A) und einer 
Glandula thyreoidea accessoria sinistra (c) theilt sich der Ter- 
minalast (y) des primitiven medialen Astes (ß’) der Thyreoidea 
superior sinistra (8) in der Prätracheallücke (*) in zwei Zweige 
Der linke Zweig (y”) endigt im Lobus sinister (A’) der rechte 
Zweig (y)) aber, nachdem er sich in zwei secundäre Zweige 
gespalten hat, die durch Wiedervereinigung eine Insel bilden, 
ramificirt sich im Lobus dexter (4). Mit dem die Insel 
schliessenden secundären Zweig geht aber ein langer 
vorderer Ast (£) der Thyreoidea superior dextra (x) eine 
Anastomose ein. Die Crico-thyreoidea dextra (0) und die obere 
Crico-thyreoidea sinistra (e) versieht den Lobus medius dexter 
(@) und die untere Orico-thyreoidea sinistra (=’) versieht die 
Glandula thyreoidea accessoria sinistra (cl) mit Zweigen. An 
dem 6. Präparate von einem Manne ist die Thyreoidea inferior 
sinistra mit der Thyreoidea superior dextra durch eine feine, 
6 Cm. lange Anastomose, welche in der Tiefe der Prätracheal- 
lücke schräg aufsteigt, im Zusammenhang. An dem 7. Präpa- 
rate steht die Thyreoidea inferior dextra mit der Thyreoidea 
superior sinistra durch einen in der Prätracheallücke verlaufen- 


Be RD ne ETER EEE 1 SE in Au > ON en. 
r . 


Ueber die Glandula thyreoidea u.s. w. 215 


den Zweig und stehen ausserdem beide Thyreoideae inferiores 
durch einen queren, geschlängelt hinter der Trachea, gleich 
unter der Cartilago cericoidea, verlaufenden Zweig in Communi- 
eation. Die Thyreoidea superior dextra communieirt mit der 
Inferior derselben Seite durch einen hinter dem Lobus dexter 
verlaufenden Ast; die Thyreoidea superior sinistra mit der In- 
ferior derselben Seite durch einen Randast. An dem 8. Prä- 
parate (Fig. 3) von einem Manne hatte sich die Thyreoidea 
inferior dextra frühzeitig in zwei Aeste, einen medialen (c) und 
einen lateralen (c’) getheilt. Der stärkere laterale Ast (ec) 
senkt sich in den Lobus dexter (4) ein. Der schwächere 
mediale Ast (ce) von 2 Mm. Dicke steigt in der Prätracheal- 
lücke (*) auf und vor dem 4—1. Trachealringe S-förmig ge- 
krümmt schräg zum oberen Rande des Lobus sinistra (A’) und 
ramificirt sich in diesem. Am 2. Trachealringe spaltet er sich 
in zwei secundäre Aeste, einen kurzen rechten («) und langen 
linken (8). Jener senkt sich in den Lobus dexter, dieser in 
den Lobus sinister ein. Jeder dieser Aeste aber communiecirt 
durch ein, rechts längeres (e) und links kürzeres Zweigchen 
(€).ausserhalb der Lobi mit der Thyreoidea superior der ent- 
sprechenden Seite (a. 5). Vom Stamme des medialen Astes 
(ce) geht auch ein Zweig (y) in den Lobus sinister (4’). An 
dem 9. Präparate von einem Manne, beim Vorkommen eines 
am Körper des Os hyoideum durch ein Lig. suspensorium an- 
gehefteten Lobus medius, hat die 3 Mm. dicke Thyreoidea su- 
perior sinistra mit ihrem medialen Aste den Verlauf der Orico- 
thyreoidea.. Am vorderen Rande des M. sterno-thyreoideus an- 
gekommen, wendet sich die Arterie unter einem fast rechten 
Winkel nach aus- und rückwärts, um hinter dem M. sterno- 
thyreoideus sinister und lateralwärts vom Lobus medius zum 
Lobus sinister sich zu begeben. Bevor sich die Arterie um- 
biegt, sendet sie einen 1-5 Mm. dicken Ast zum Lobus sinister, 
welcher am vorderen Rande des letzteren in der Prätracheal- 
lücke herabsteigt. Von diesem Aste, 4 Mm. unter dessen Ur- 
sprunge, geht ein kleiner Zweig von 0'7 Mm. Dicke, ab, wel- 
cher sich auf das Lig. crico-thyreoideum medium begiebt und 
mit der Crico-thyreoidea propria der rechten Seite anastomosirt. 


316 W. Gruber: 


Die 2:5 Mm. dicke Thyreoidea superior dextra verläuft normal. 
Bevor sie sich hinter den M. hyo-thyreoideus dexter begiebt, 
giebt sie 2 Mm. starke Crico-thyreoidea ab. Letztere theilt 
sich in die Crico-thyreoidea propria dextra, welche mit einem 
die Crico-thyreoidea sinistra darstellenden Zweige aus der 
Thyreoidea superior sinistra anastomisirt und ein Ast für den 
Lobus dexter ab, welcher, in diesem sich verästelnd, an dessen 
vorderen und medialen Rande in der Prätracheallücke abwärts 
steigt. Der am medialen Rande des Lobus dexter herabstei- 
gende Ast der Orico-thyreoidea dextra und der am medialen 
Rande des Lobus sinister herabsteigende Ast der Thyreoidea 
superior sinistra geben einen 95 Mm. dicken quer ge- 
gen die Medianlinie verlaufenden Zweig ab. Diese vereinigen 
sich zu einer auf und vor dem 1. Trachealring in der Prä- 
tracheallücke quer-bogenförmigen Anastomose. Die Thyreoi- 
deae inferiores anastomosiren durch eine zwischen der Trachea 
und dem Oesophagus durchsetzende hintere Queranastomose. 

An einem völlig gelungenen arteriell injieirten Präparate mit 
Mangel des eigentlichen Isthmus glandulae thyreoideae, aber 
doch mit Vereinigung der Lobi laterales über der Prätracheal- 
lücke durch Verschmelzung der daran existirenden Lobi medii 
von einem Manne, communieiren weder die Thyreoideae supe- 
riores noch Th. inferiores unmittelbar mit einander, aber in 
der Prätracheallücke, die am Larynx geschlossen ist und dahin 
sich zuspitzt, vertheilt sich ein Ast der Thyreoidea superior 
mit Zweigen im Lobus dexter und sinister, wovon einer, der 
an der hinteren Seite des Lobus sinister aufwärts steigt, mit 
der Thyreoidea superior sinistra direct anastomosirt. 


Besonderheiten. 


In zwei Fällen fehlte das linke Cornu superius der Carti- 
lago thyreoidea. In zwei Fällen war eine Glandula thyreoidea 
zugegen. In einem der Fälle mit der Glandula thyreoidea 
hing diese an einem vom Lobus dexter ausgegangenen Lobus 
medius, war also einem im Museum des Guys-Hospitals zu 
London aufbewahrten Falle mit einem Lobus medius dexter 
und einer Glandula thyreoidea accessoria superior sinistra ähn- 


DR > 


Ueber die Glandula thyreoidea u.s. w. 217 


lich. In einem der Fälle ohne Cornu superius sinistrum car- 
tilaginis thyreoideae, aber mit Vorkommen eines Lobus ano- 
malus medius am Lobus sinister, in einem anderen Falle mit 
diesem Lobus anomalus medius und in einem dritten Falle 
ohne diesen Lobus medius war ein M. levator glandulae thy- 
reoideae zugegen, der am unteren Rande des Körpers des Os 
hyoideum entstanden, in beiden Fällen mit Vorkommen des 
Lobus anomalus medius sinister vor diesem oder ihn einhül- 
lend, am dritten Falle vor der Eminentia laryngea der linken 
Hälfte des Lig. erico-thyreoideum medium und des Arcus car- 
tilaginis cericoideae herabgestiegen war und in allen Fällen am 
Lobus sinister, in einem Falle zugleich am unteren Rande der 
Cartilago thyreoidea medianwärts vom M. hyo-thyreoideus sini- 
ster, in dem Falle ohne Lobus medius am inneren Ende des Lobus 
sinister mit zerstreuten Bündeln endete. Der Muskel war bis 
4 Mm. breit und in dem Falle, wo er am inneren Ende des 
Lobus sinister endete, 6 Cm. lang. 


Folgerungen. 


l. Mangel des Isthmus glandulae thyreoideae kommt 
nicht so selten vor, als man bis jetzt zu glauben schien, weil 
ich denselben bei geflissentlich vorgenommenen Untersuchungen, 
wenigstens bei Russen, schon in !/,, der F. auftreten gesehen 
hatte. 

2. Derselbe scheint häufiger beim weiblichen Geschlechte 
als beim männlichen vorzukommen, weil ich ihm beim ersteren 
schon in !/,—!/ı; d. F., beim letzteren erst in !/ao,—!/s, d. F. 
begegnet bin. 

3. Ob die Häufigkeit seines Vorkommens etwa auch bei 
den Nationalitäten variire, ist bis jetzt noch nicht auszumitteln. 
Immerhin ist die von mir beobachtete Häufigkeit bei den Cze- 
chen in !/,eoo d. F. und bei den Russen schon in !/,;, d. F. 
auffallend. 

4. Mit demselben können andere ungewöhnliche Varietä- 
ten auftreten, wie Mangel des Cornu superius cartilaginis thy- 
reoideae oder eine Glandula thyreoidea accessoria superior 


218 W. Gruber: 


neben einem Lobus medius vom Lobus dexter glandulae thy- 
reoideae (Fall im Museum des Guys-Hospitals; mein Fall). 

5. Wie die Glandula thyreoidea oft in der Norm, so kann 
auch die Gl. th. partita Musculi levatores besitzen. 

6. Communication der Arteriae thyreoideae der 
einen Seite mit denen der anderen existirt bald bei Isthmus- 
Mangel der Glandula thyreoidea, bald fehlt sie. Existenz der 
Communication ist vorwiegend. Die Communication wird ge- 
wöhnlich durch die Art. superiores allein, seltener durch die 
Art. superior der einen Seite und die Art. inferior der anderen 
Seite allein, noch seltener durch eine Art. inferior und beide 
Art. superiores bewerkstelligt. Ganz selten hat sich zu beiden 
ersten Communicationsarten Communication beider Art. in- 
feriores und in diesen Fällen nur durch einen hinter der Tra- 
chea verlaufenden Ast gesellt. Communication aller vier Art. 
thyreoideae in der Prätracheallücke ist nicht beobachtet wor- 
den. Jedenfalls ist bei dieser Abweichung der Glandula thy- 
reoidea die Communication ihrer Arterien in der Prätracheal- 
lücke, wenn sie auftritt, eine variable und zwar um so mehr, 
als die Möglichkeit des Vorkommens der Communication auch 
einer Art. superior mit beiden Art. inferiores oder der Art. in- 
feriores allein, oder aller Art. thyreoideae in der Prätracheal- 
lücke nicht bestritten werden kann. 

7. Die Arterien jedes einzelnen Lobus der Glandula thy- 
reoidea partita können durch einen Rand- oder hinteren Ast 
mit einander anastomosiren, müssen aber einen solchen Com- 
municationsast nicht haben. 5 

8. Wegen möglichen Vorhandenseins von Arterien in der 
Prätracheallücke muss der Operateur auf ihr Vorkommen, selbst 
bei diagnostieirtem Mangel des Isthmus der Glandula thyreoi- 
dea, bei der hohen Tracheotomie gefasst sein. Ein St. Peters- 
burger Chirurg, welcher anatomische Kenntnisse für überflüssig 
hielt, also von dem möglichen Vorkommen der Communication 
zwischen den Art. thyreoideae beider Seiten am Isthmus nicht 
die geringste Kenntniss hatte, wählte, weil es für ihn bequemer 
war, gerade die Region des Sitzes des sehr vorspringenden 
Isthmus der Glandula thyreoidea zur Tracheotomie, obgleich er 


le > un. 


Ueber die Glandula thyreoidea u. s. w. 919 


diese abwärts von jenem hätte ausführen können und diesmal 
hätte ausführen müssen. Er schnitt, ohne Umstände zu ma- 
chen, den 1 Cm. dicken und 2 Cm. hohen Isthmus nur im 
oberen grössten Theile ein und daselbst zugleich mit der Tra- 
chea durch. Es entstand eine starke, durch einen dicken Com- 
municationsast der Arterien auch arterielle Blutung, in deren 
Folge, durch Bluteindringen in die Trachea u.s. w., der Kranke 
starb. Ich bewahre dies Präparat chirurgischer Ehre in meiner 
Sammlung auf. 
Aehnliches könnte auch bei Isthmus-Mangel passiren. 


Erklärung der Abbildungen. 
Fig. 1. 
Cricoidalpartie des Larynx und obere Portion der Trachea mit 


der Glandula thyreoidea ohne Isthmus — Glandula thyreoidea par- 
tita — von einem Manne. 


Fig. 2. 
Ein ähnliches Präparat von einem Weibe. 


Fig. 3. 
Ein ähnliches Präparat von einem Manne. 


Bezeichnung für alle Figuren: 


A, A’. Lobi der Glandula partita. 
* Prätracheallücke. 
a, Arteria thyreoidea superior dextra. 
a’. Medialer Ast derselben. 
a”. Lateraler „ 5 
b. Art. thyreoidea superior sinistra. 
b’. Medialer Ast derselben. 
b’.Lateraler „ > 
. Medialer Ast der Art. thyreoidea inferior dextra. 
ce’. Lateraler Ast derselben. 
d. Art. thyreoidea inferior sinistra. 
. Rechter secundärer Ast des medialen Astes der Art. thyreo- 
idea inferior dextra. 
Linker secundärer Ast desselben. 
y. Besonderer Zweig des medialen Astes der Art. thyreoidea 
inferior dextra zum linken Lobus der Glandula thyreoidea. 


Oo 


R 


m 


3230 W. Gruber: Ueber die Glandula thyreoidea u. s. w. 


d. Communicationsast der Art. thyreoideae superiores in der 
Prätracheallücke. 3 

e. Communicationszweig zwischen der Art. thyreoidea superior 
dextra und dem rechten secundären Aste des medialen 
Astes der Art. thyreoidea inferior dextra. 

€. Communicationszweig zwischen der Art. thyreoidea superior 
sinistra und dem linken secundären Aste des medialen 
Astes der Art. thyreoidea inf. dextra. 


Fig. 4. 


Larynx mit dem Os hyoideum, mit der oberen Portion der Tra- 
chea und mit der Glandula partita. 

1. Os hyoideum. 

2. Larynx. 

3. Trachea. 

4. Museuli hyo-thyreoidei. 

A. A’. Lobi der Glandula thyreoidea partita. 

a. Lobus medius des Lobus dexter. 

b. Dessen Lig. suspensorium. 

c. Glandula thyreoidea accessoria superior sinistra. 

(*) Prätracheallücke. 

«. Arteria thyreoidea superior dextra. 

$. Art. thyreoidea superior sinistra. 

ß. Medialer, wie die Art. crico-thyreoidea anomaler Weise ver- 
laufender Ast derselben. 

ß”.Lateraler Ast derselben. 

y. Terminaler in zwei Zweige gespaltener Ast des medialen 
Astes derselben. 

y. Zweig zum rechten Lobus (durch Spaltung in zwei secun- 
däre Zweige und deren Wiedervereinigung eine Insel 
bildend). 

y'. Zweig zum linken Lobus. 

d. Arteria crico-thyreoidea dextra. 

ge. Zweige des medialen Astes der Art. thyreoidea superior 
sinistra, welche zwei Art. crico-thyreoideae sinistrae re- 
präsentiren. 

£. Langer vorderer Ast der Art. thyreoidea superior dextra als 
Communicationsast beider Arteriae thyreoideae superiores. 


Institut f. d. praktische Anatomie a. d. med.-chir. Akademie. 


31. October 
St. Petersburg, TSaNDrember 1875. 


Ueber ein aus der Epiphyse eines durch einen 
fortsatzartigen Anhang vergrösserten Multangulum 
minus entwickeltes, articulirendes neuntes 
Össieulum carpi. 

Von 


Dr. WENZEL GRUBER, 
Professor der Anatomie in St. Petersburg. 


Hierzu Taf. V. 


Der Processus styloideus des Metacarpale III. entwickelt 
sich ausnahmsweise aus einem besonderen Össificationspunkte, 
weshalb er als persistirende Epiphyse auftreten kann, wie ich 
bereits in 5 Fällen beobachtet hatte.) Derselbe kann fehlen 
und dann aucb durch einen anomalen Anhang (Fortsatz) des 
Multangulum minus vertreten sein, der ebenfalls aus einem be- 
sonderen Ossificationspunkte entsteht und bald als persistirende 
Epiphyse, wie ich in einem Falle sah,?) bald im Falle baldiger 
Verschmelzung der Epiphyse als Apophyse angetroffen wird, 
wie davon mir zwei Fälle zur Beobachtung gekommen waren.?) 

Bildet sich in der Synchondrose zwischen dem Metacar- 
pale III und der anomaler Weise, an seiner Basis auftretenden 
und dem Processus styloideus daselbst entsprechenden Epiphyse; 
oder in der Synchondrose eines Multangulum minus, welches 
durch einen anomalen Fortsatz auf angegebene Weise vergrös- 
sert ist, zwischen dem Körper des Knochens und der seinen 


1) S. dies Archiv, 1869. S. 361. Taf. X,B, Fig. 1—4, No. 9 (1. 
Fall). — Das. 1870. S. 197. Taf. V,C, Fig. 1, 2. (2. u. 3. Fall. — 
Bull. de l’Acad. Imp. d. se. de St. Petersbourg. Tom. XV. Col. 446. 
Fig. 4,a (4. Fall). — Das. Col. 452. Fig. 9, 105. (5. Fall). 

2) S. dies Archiv, 1869, S. 242. Taf. IX, Fig. 1, No.9 u. Fig.5. 

3) Ebendas. 1869. S. 352. Taf. IX, Fig. 8, 95. — Bhll, de St, 
Petersbourg. Tom. XV. Col. 451. Fig. 8«. 


ni 


222 W. Gruber: 


Fortsatz darstellenden Epiphyse ein accidentelles Gelenk: dann 
wird jede dieser Epiphysen ein articulirendes selbstständi- 
ges ossiculum, welches als fünfter Knochen in der unteren 
Reihe des Carpus Platz nimmt. 

Die Art dieses Ossiculum, welches den Processus styloideus 
des Metacarpale III. vertritt, aber vom Ursprunge an dem für 
diesen Knochen präformirten Knorpel angehörte, ist gekannt. 
Dem Ossiculum dieser Art ist das von J. Saltzmann!) er- 
wähnte supernumeräre Ossiculum carpi höchst wahrscheinlich 
und sind die an beiden Handwurzeln eines Individuum von J. 
Struthers?) beobachteten Fälle supernumerärer Ossicula carpi 
sicher gleichbedeutend, wie ich zu wiederholten Malen ange- 
führt habe. Ich selbst hatte davon bis Ende December 1873 
schon 9 Fälle beobachtet.°) 

Die andere Art des Ossiculum, welches zwar ebenfalls den 
Processus styloideus des Metacarpale III. substituirt, aber vom 
Ursprunge an ein fortsatzartiger Anhang des dadurch vergrös- 
serten knorplig vorgebildeten Multangulum minus war, ist bis 
dahin nicht gesehen worden. Wenn aber, wie ich bewiesen, 
durch Gelenkbildung in der Synchondrose zwischen dem Meta- 
carpale III. und einer seinen Processus styloideus darstellenden 
Epiphyse letztere als selbstständiges supernumeräres Ossiculum 
carpi auftreten kann, so ist die Vermuthung zulässig, dass auch 
die Epiphyse eines anomal vergrösserten Multangulum minus, 
welche den mangelnden Processus styloideus des Metacarpale 
IH. substituirt, durch Gelenkbildung in der Synchondrose zwi- 
schen beiden Stücken des Multangulum minus ein selbstständi- 


1) Decas observ. anatom. Obs. Ill. Argentorati 1725. (Diss. ab. 
H. A. Nicolai). — Haller, Disp. anat. select. Vol. VII. Goettingae 
1751. p. 691. 

2) Case of additional bone in the human Carpus.. — Journ. of 
anat. a. physiol. Vol. III. Cambridge a, London 1869, p. 354. 

3) S. dies Archiv, 1870. S. 197. Taf. V,C. Fig. 3. (1—3 Fall). — 
Bull. de l’Acad. Imp. des sc. de St. Petersbourg. Tom. XV. Col. 483 
(4. u. 5. Fall). — Das. Col. 486 Fig. 1—4 (6. Fall. — Das. Tom. 
XVII. No. 2. Col, 399 (7. Fall). — Dies Archiv 1873. S. 766 (&:—9. 
Fall). 


ee = Ä 5 


2 


Ueber ein neuntes Ossiculum carpi. 223 


ges supernumeräres Össiculum carpi mit dem Sitze an dem 
Orte des ersteren werden könne. 

Um auch letztere Art des den Processus styloideus des 
Metacarpale III. substituirenden, aber aus einem anomal ver- 
grösserten Multangulum minus entwickelten, supernumerären 
Össieulum carpi, dessen mögliches Vorkommen zu vermuthen 
ich berechtigt war, zu finden, setzte ich meine Forschungen an 
frischen und trockenen Knochen weiter fort. 

Ich liess also den 1070 untersuchten Händen auch im Stu- 
dienjahre 1874/75 noch viele andere folgen und fand schon im 
November 1874, nachdem ich erst 35 Hände (15 rechtseitige 
und 18 linkseitige) von Extremitäten, die vorher zur Präpara- 
tion der Musculatur verwendet worden waren, an der rechten 
Hand eines Mannes wieder das gewöhnliche supernumeräre 
Össieulum carpi d. i. das, welches sich aus einer dem Proces- 
sus styloideus des Metacarpale III. entsprechenden, also letzte- 
rem Knochen angehörigen Epiphyse gebildet hat. Dieser Fall 
ist der 10. der Fälle, welche ich seit 1868 bei 8 Individuen 
(7 Männern und 1 Frau) und zwar beiderseitig bei 2 (Männern) 
rechtseitig bei 4 (2 Männern und 1 Frau) und linkseitig bei 
2 (Männern) nach Untersuchung von 1105 Händen beobachtet 
hatte, und der 13. der bis jetzt beobachteten Fälle überhaupt 
(aus fremder und eigener Beobachtung. Er hat nichts an sich, 
was nicht schon an den veröffentlichten Fällen vorgekommen 
wäre, bedarf daher keiner Beschreibung. 

Das aus der Epiphyse eines anomal vergrösserten Multan- 
gulum minus entwickelte, den mangelnden Processus styloideus 
am Metacarpale III, substituirende supernumeräre Ossiculum 
carpi hatte ich an frischen Knochen, trotz Nachforschung an 
Massen von Händen, bis jetzt nicht angetroffen, aber es war 
endlich wenigstens an trockenen Knochen zur Beobachtung 
gekommen. 

Unter mehr als 100 Skeleten aus der Maceration vom vor- 
hergehenden Studienjahre 1373/74 nämlich wurde eines von 
einem Erwachsenen jüngeren Alters, behufs Bindens, vor Kur- 
zem aus der Vorrathskammer hervorgeholt. Bei der Sondirung 
der einzelnen Knochen dieses Skelets von Seite der Präpara- 


224 W. Gruber: 


toren trafen. diese für die rechte Handwurzel 9 Knochen an. 
Man legte mir die Knochen dieser Hand sogleich vor und ich 
erkannte daran das, nach welchem ich seit Jahren vergeblich 
gesucht hatte, d. i. das aus der Epiphyse eines durch einen 
fortsatzartigen Anhang vergrösserten Multangulum 
minus entwickelte neunte Ossiculum carpi. 

Ueber diese knöcherne Hand der rechten Seite mit 9 
Stücken im Carpus, welche ich wieder in meiner Sammlung 
aufgestellt habe, kann ich Nachstehendes berichten: 

Die Handwurzel hat in der oberen Reihe 4, in der unte- 
ren Reihe 5 Knochen (Fig 1.). 

Das Naviculare (No. 1) hat eine von seiner gewöhnlichen 
Form etwas abweichende, aber so immerhin bisweilen auftre- 
tende Gestalt. > 

Am Lunatum (No. 2) ist wie in so manchen anderen Fäl- 
len das ulnare Feld der Gelenkfläche an der Superficies digita- 
lis ungewöhnlich gross. 

Das Triquetrum (No. 3) und Pisiforme (No. 4) sind normal. 

Am Multangulum majus (No. 5) sind sein Sulcus und sein 
Tubereulum noch kaum angedeutet. 

Das Capitatum (No. 7) ist etwas deform. Seine S. dor- 
salis ist nach unten ungewöhnlich schmal. Die Felder der-Ge- 
lenkfläche an der S. brachialis sind schärfer von einander und 
von der Gelenkfläche an der S. radialis geschieden als gewöhn- 
lich. An der Gelenkfläche der S. digitalis sind 3 Felder, ein 
grosses zur Articulation mit dem Metacarpale II. ulnarwärts, 
ein kleineres zur Articulation mit dem volaren Theile des Ul- 
narkammes des Metacarpale II. radial- und volarwärts und ein 
noch kleineres zur Articulation mit dem supernumerären Ossi- 
eulum carpi radial- und dorsalwärts. Das ulnare Feld ist von 
den beiden anderen durch eine überknorpelte Kante, die ra- 
dialen Felder aber sind durch eine rauhe Furche geschieden. 

Das Hamatum (No. 8) weist an der Gelenkfläche der S. 
brachialis zwei scharf geschiedene Felder auf, wovon das 
diesmal ungewöhnlich breite radiale Feld die abgestutzte Spitze 
des Knochens einnimmt und, wie in anderen Fällen, mit dem 


PETE RAT 
ER)‘, % 


Ueber ein neuntes Ossiculum carpi. 295 


ulnaren Felde an der Gelenkfläche der S. digitalis des Luna- 
tum artieulirt. 
Das Multangulum minus (Fig. 1. No. 6; Fig. 2.a; Fig. 


3, 4.) gleicht bis auf die dorsale Ulnarecke (Fig. 3.,), dem 


Knochen der Norm. Die Ulnarecke ist in sagittaler Richtung 
abgestutzt. Diese ist unregelmässig vierseitig, an der oberen 
und hinteren Hälfte rauh (Fig, 4.y), an der unteren vorderen 
Hälfte eine abgerundet dreiseitige oder ovale, schwach sattel- 
förmige Gelenkfläche (Fig. 4.) zur Articulation mit dem su- 
pernumerären ÖOssiculum carpi. Die Gelenkfläche seiner S. 
brachialis ist etwas länger als gewöhnlich und hornförmig ge- 
krümmt (Fig. 2, 2.a). 

Das supernumeräre Ossiculum carpi (Fig. 1. No.9; 
Fig. 2.5; Fig. 5. 6) endlich zeigt folgende Eigenschaften: 

Lage. In der unteren Reihe der Knochen der Handwur- 
zeln fast quer und zwar zwischen dem Multangulum minus 
und dem dorsalen Theile des Ulnarkammes an der Basis des 
Metacarpale II. radialwärts, dem Capitatum ulnar- und brachial- 
wärts und über der dorsalen Radialecke des Metacarpale III. 
(Fig. 1. No 9.) 

Gestalt. Eines drei- oder vierseitigen, an der Mitte 
seiner Länge etwas eingeschnürten Keiles (oder Pyramide), 
welcher seine Basis radialwärts, seine quer abgeschnittene, et- 
was abwärts gekrümmte Schneide ulnar- und rückwärts kehrt. 
Seine S. dorsalis (Fig. 2.5) ist in eine breite obere (a’) und 
schmälere hintere Abtheilung (ß’), wovon letztere beson- 
ders ausgebuchtet ist, geschieden. Seine S. radialis oder Basis 
(Fig. 5) zeigt zwei, durch eine überknorpelte Kante getrennte 
und zu einander schräg gestellte Felder, ein oberes viereckiges 
(z. 3) und ein unteres länglich vierseitiges (y). Das obere ist 
vertical gestellt, oben rauh (z), unten und vorn ein abgerundet 
dreiseitiges oder ovales Gelenkfeld (3); das untere ist schräg 
gestellt und gleichfalls ein Gelenkfeld (y). Diese Gelenkfelder 
gehen durch eine überknorpelte, stumpfe Kante in einander 
über. Die S. ulnaris (genau genommen S$. brachialis) (Fig. 6) 
ist vorzugsweise ulnar- und nur wenig brachialwärts gestellt. 


Sie trägt eine dreieckige Gelenkfläche beträchtlicher Grösse (»). 
Beichert's u. du Bois-Reymond's Archiv 1376. 15 


396 W. Gruber: 


Die S. digitalis ist concav, gegen das ulnare Ende und an die- 
sem in dessen ganzer Breite, dann von der Basis angefangen 
in der ganzen Länge dorsal- und radialwärts rauh, volar- und 
radialwärts aber mit einer abgerundet dreiseitigen oder halb- 
ovalen Gelenkfläche versehen, welche mit einer abgerundeten 
Kante in die Gelenkfläche an der S. ulnaris übergeht. Zwischen 
der S. radialis und ulnaris ist ein winklig geknickter, breiter, 
rauher Rand zugegen. 

Verbindung. Es articulirte durch die beiden Gelenk- 
felder an der S. radialis mit dem Multangulum minus und dem 
dorsalen Gelenkfelde am Ulnarkamme der Basis des Metacar- 
pale II; durch die Gelenkfläche an der S. ulnaris mit dem dor- 
salen Radialgelenkfelde der S. digitalis des Capitatum; und 
durch die Gelenkfläche an der S. digitalis mit dem Metacar- 
pale III. an einem Gelenkfelde der dorsalen Radialecke der 
Basis dieses Knochens (Fig. 6.8.) Die rauhen Stellen der 8. 
radialis und digitalis hatten offenbar zum Ansatze von Lig. 
interossea zum Multangulum minus und Metacarpale III. gedient. 

Grösse. Die grösste Länge beträgt 1'3 Cm.; die Dicke 
an der Basis 0.9—1 Cm.; die Breite am abgestutzten Ende 
7 Mm. 

Dem Metacarpale II. fehlt der Processus styloideus (Fig. 7). 
Statt seiner ist an der Basis des Knochens, an dessen dorsaler 


Radialecke (#) ein schwach erhöhtes dreiseitiges Feld (x. ß.) 


zu sehen, welches an der ulnaren Hälfte ein Gelenkfeld (6) 
ist. An dieser Ecke der Basis des Metacarpale Ill. und tiefer 
als diese, steht vom Rücken des letzteren ein kleiner Kamm 
(y) horizontal hervor. Der Kamm hat die Gestalt des Viertel- 
segmentes einer elliptischen Platte, das mit dem geraden Rande 
verwachsen, mit dem gekrümmten Rande dorsalwärts und mit 
dem kurzen Rande radialwärts gekehrt ist. Das Gelenkfeld an 
der dorsalen Radialecke (3) der Basis musste zur Articulation 
mit dem supernumerären Össiculum, das rauhe Feld (#) daneben 
und der kleine dreiseitige Kamm (y) aber zum Ansatze von 
Lig. interossea zur Verbindung mit dem Körper und dem Ende 
des supernumerären Ossiculum gedient haben. 


Ueber ein neuntes Ossienlum carpi. 927 


Die übrigen Knochen dieser rechten Hand, alle Knochen 
der linken Hand und überhaupt alle anderen des Skeletes 
hatten nichts Abnormes an sich. 

Vergleicht man das über diesen Fall des Vorkommens 
eines neunten Ossiculum carpi Mitgetheilte mit dem, 
was über das durch eine Epiphyse oder Apophyse vergrösserte 
Multangulum minus und über das aus der den mangelnden 
Processus styloideus des Metacarpale III. substituirenden Epi- 
physe des letzteren Knochens entwickelte neunte Ossiculum 
earpi gekannt ist, so kann nicht bezweifelt werden, dass das 
neunte Ossiculum carpi dieses Falles sich aus einer 
Epiphyse eines anomal vergrösserten Multangulum 
minus hervorgebildet habe, und dass somit dieses, den Pro- 
cessus styloideus des Metacarpale III. in der unteren Reihe 
der Knochen der Carpus ersetzende supernumeräre ÖOssi- 
eulum, zweierlei Ursprunges sei, falls nicht beide Formen 
schon vom Ursprunge an durch einen besonderen, isolirten 
Handwurzelknorpel präformirt sind, was als möglich vermuthet 
werden kann, aber noch nachzuweisen ist. Von einer Analogie 
dieser Art neunten Ossiculum vielleicht mit dem Os. in- 
termedium carpi der Thiere kann keine Rede sein, wie ich 
schon bei dem, aus der den Processus styloideus des Metacar- 
pale III. vertretenden Epiphyse hervorgegangenen neunten Os- 
sieulum carpi und bei dem von mir entdeckten wahren Ana- 
logon des Os. intermediam der Thiere .beı dem Menschen aus- 
einandergesetzt habe.!) 


Erklärung der Abbildungen. 


Fig. 1. 
Carpus mit neun Knochen nebst den Basalstücken der Metacar- 
palia der reehten Hand eines Mannes. (Ansicht von der Dorsalseite). 
1. Os naviculare. 
2. „ lunatum. 
3.  „ triquetrum. 
4.  „ pisiforme. 


1) S. meine verschiedenen Aufsätze, 
197 


228 W. Gruber: 


Os multangulum majus. 
" 5 minus. 
„ capitatum. 

„ hamatum. 

Aus der Epiphyse eines durch einen fortsatzartigen Anhang ver- 
grösserten Multangulum minus entwickeltes Össieulum 
supernumerarium. 

10. Basalstücke der Metacarpalia. 

Fig. 2. 
Os multangulus minus in Verbindung mit dem Ossiculum super- 
numerarium (Ansicht von oben und hinten). 

a. O0. multangulum minus. 

a. Gelenkfläche der S. brachialis. 
ß. Gelenkfläche der $. ulnaris. 


b. Os supernumerarium. 
@’. Obere Abtheilung der $. dorsalis. 


ER 


ß. Hintere y 5 - 
Fig. 3. 
Os multangulum minus. 
(Ansicht von der Brachial- und Ulnarseite). 
«. Gelenkfläche der S. brachialis. 


ß. Gelenkfläche der S. ulnaris. 
y. Abgestutztes Ulnarende. 
Fig. 4. 
Dasselbe (Ansicht bei abwärts gekehrter Radial-, vorwärts gekehr- 


ter Brachialseite und auswärts gerichtetem, abgestutztem Ulnarende.) 
«. Gelenkfläche der Superficies ulnaris. i 


ß- n x 5 digitalis. 
y. Rauhe Stelle am Ulnarende. 
y’. Gelenkfläche „ 3 

Fig. 5. 


Ossiculum supernumerarium. 
(Ansicht seiner Basis bei abwärts gekehrter Digital- und rechts 
gerichteter Ulnarseite.) 
«. Rauhe Stelle. 
8. Gelenkfläche zur Artieulation mit dem Multangulum minus, 
y. Gelenkfläche zur Articulation mit dem Metacarpale II. 


Fig. 6. 
Dasselbe (Ansicht bei aufwärts gekehrter Basis und rechts und 
rückwärts gerichteter Dorsalseite). 
«. Gelenkfläche an der S. ulnaris zur Articul. mit dem Capitatum. 
'ß. Rauhe $. dorsalis. 


FE 


Archiv fAnat uw Phyf' 1876. Taf al 


Dügikof del. W Grohmann:se. 


Ueber ein neuntes Ossiculum carpi. 2329 


Fig. 7. 
Basalstück des Os metacarpale Ill. (Ansicht der Basis des Kno- 
chens bei abwärts gekehrter Dorsal- und links gerichteter Ulnarseite.) 

a. Gelenkfläche zur Artieulation mit dem Capitatum. 
b. Dorsale Radialecke. 

«@. Rauhe Stelle, 

3. Gelenkfeld, 

y. Anomaler Dorsalkamm 

zur gelenkigen und ungelenkigen Verbindung mit dem Ossiculum 
supernumerarium carpi. 


Institut für die praktische Anatomie. 
24. September 


— 1875. 
6. October Nena 


St. Petersburg, am 


a, 
x RER ram /4 . ar 


Ein Nachtrag zum Vorkommen des zweigetheilten 
Jochbeines — Os zygomaticum bipartitum —, 
bei Anwesenheit des Kiefer-Schläfenbogens — 

Arcus maxillo-temporalis intra-jugalis — Gruber. 

Von 


Dr. WENZEL GRUBER, 
Professor der Anatomie in St. Petersburg. 


Hierzu Taf. VI. 


Ich habe in drei meiner Schriften!) über 14 Schädel, wo- 
von 12 männlichen und zwei weiblichen Individuen angehört 
hatten, berichtet, welche mit dem zweigetheilten Jochbeine — 
Os zygomaticum bipartitum — behaftet sind. An 2 derselben 
kam das zweigetheilte Jochbein beiderseitig, an 2 derselben 
nur rechtseitig, und an 5 derselben nur linkseitig vor. An 
dieser Schädel, wovon 2 das zweigetheilte Jochbein beiderseitig 
und 1 dasselbe nur linkseitig aufweisen, ist beiderseitig auch 
der von mir beim Menschen entdeckte und als Thierbildung 
merkwürdige Kiefer-Schläfenbogen — Arcus maxillo-tem- 
poralis-intra-Jjugalis — zugegen.?) 

Zu dieser Sammlung konnte ich noch einen Schädel, wel- 


1) a. Monographie über das zweigetheilte Jochbein — Os zygo- 
maticum bipartitum — bei dem Menschen und den Säugethieren; 
und Bericht über die Leistungen der praktischen Anatomie an der 
med.-chir. Akademie in St. Petersburg 1868/68—1871/72. (Mitı Tafel.) 
Wien 1873. 4°. — b. Ueber den an der Schläfenfläche des Jochbei- 
nes gelagerten Kiefer-Schläfenbogen — Arcus maxilllo-temporalis intra- 
jugalis — beim Menschen (Thierbildung); nebst Nachträgen zum zwei- 
getheilten Jochbeine — ohne oder mit Vorkommen des Kiefer-Schlä- 
fenbogens —. Dies Archiv, 1873. 8. 234. Taf. V.— c. Ein Nach- 
trag zum Vorkommen des zweigetheilten Jochbeines — Os zygoma- 
ticum bipartitum — beim Menschen. — Dies Archiv, 1875. S. 194. 
Taf. V,B. Fig. 1. 

2) S. vorige Note sub b. 


Gruber: Nachtrag z. Vorkomm. d. zweigetheilt. Jochbeines. 231 


cher nicht nur rechtseitig ein zweigetheiltes Jochbein, sondern 
auch beiderseitig den Kiefer-Schläfenbogen besitzt, den 
ich bei der Durchmusterung von 367 Schädeln aus der Mace- 
ration vom J. 1874/75 angetroffen hatte. 

Ich werde im Nachstehenden auch über diesen Schädel, 
welcher zugleich der 4. eigener Beobachtung ist, an dem bei 
Anwesenheit des zweigetheilten Jochbeines der Kiefer-Schlä- 
fenbogen vorkommt und am Zygomaticum secundarium ma- 
xillo-temporale eine in anderen Fällen nocn nicht beobachtete 
Eigenthümlichkeit aufweist, berichten. 

Der Schädel gehörte einem männlichen Individuum an und 
zeigte manche Erkrankungen am Dache und am Processus al- 
veolaris des rechten Maxillare superius, die ohne alle Beziehung 
zu den Abweichungen an und hinter dem Zygomaticum stehen. 

Das linke Zygomaticum ist einfach und normal. Es be- 
trägt seine Höhe an einer Linie von der Mitte des Orbitalran- 
des zur Mitte des Massetericalrandes 23—2°9 Cent.; seine 
Breite an der Mitte 19 Cm.; die Entfernung des vorderen 
Endes des Massetericalrandes an der Spitze seines Processus 
maxillaris 34 Cm.; die Entfernung des vorderen und hinteren 
Endes des Massetericalrandes vom Ende des Processus fronta- 
lis 45 Om. 

Das rechte Zygomaticum (a) ist durch eine quere Naht — 
Sutura zygomatica —, welche vorwärts etwa über dem unteren 
Fünftel der Höhe des Knochens verläuft, vorn 11 Mm. über 
der Spitze des Processus zygomaticus des Maxillare superius 
in der Sutura zygomatico-maxillaris beginnt, hinten von der 
Spitze des Processus zygomaticus des Temporale an der Mitte 
der winkligen S. zygomatico-temporalis und dem Masseterical- 
rande nicht völlig parallel zieht, zweigetheilt — Zygomaticum 
bipartitum —. Von den beiden über einander liegenden Stü- 
cken — Zygomatica secundaria — ist das obere — Z. secun- 
darium superius s. orbitale (@’) — wie in anderen derartigen 
Fällen, unverhältnissmässig gross und wie das Zygomaticum 
normale von den Canaliculi zygomatici durchbohrt; das untere 
— Z, secundarium inferius s. maxillo-temporale (a”) —, welches 


232 W. Gruber: 


den Massetericalrand des Zygomaticum trägt und die diesem 
zunächst liegende Partie des Knochens einnimmt, klein. 

Das Zygomaticum maxillo-temporale (a”) hat unter dem 
Z. s. orbitale, zwischen der Spitze des Processus zygomaticus 
des Maxillare superius und darüber und der unteren Hälfte des 
Endes des Processus zygomaticus des Temporale seine Lage 
und stellt den vorderen Abschnitt des von ihm und dem Pro- 
cessus zygomaticus des Temporale gebildeten Jochbogen dar. 
Dasselbe hat die Gestalt einer unregelmässig länglich-vierseiti- 
gen, von vorn nach hinten an Breite (Höhe) abnehmenden 
Platte, welche zwei Flächen, zwei Enden, zwei Ränder und 
einen ganz ungewöhnlichen Fortsatz, der an keinem der Zygo- 
matica maxillo-temporalia früherer Fälle vorgekommen war, 
aufweist. Von den Flächen ist die Gesichtsfläche schwach con- 
vex und die Schläfenfläche schwach concav. Von den Enden, 
die geradlinig sind und zur Verbindung dienen, ist das vordere 
schräg ab- und vorwärts, das hintere ab- und rückwärts abge- 
schnitten. 

Von den Rändern ist der obere geradlinige ein Verbin- 
dungsrand, der untere frei, der Massetericalrand des Z. com- 
mune, vorn mit einem Fortsatze (a) von der Gestalt einer drei- 
seitigen, platten Zacke, hinten mit dem von der hinteren Ecke 
ganz oder doch vorzugsweise constituirten Tubereulum masse- 
tericum (8), auf dessen Vorkommen am Jochbogen zwischen 
dessen beiden Abschnitten ich aufmerksam gemacht hatte,') * 
und zwischen beiden mit zwei Ausbuchtungen versehen. Das- 
selbe steht am oberen Rande durch die 1'6 Cm. lange Sutura 
zygomatica mit dem Z. s. orbitale, am vorderen Ende durch 
das untere Endstück der S. zygomatico-maxillaris mit dem 
Processus zygomaticus des Maxillare superius, am hinteren Ende 
durch die untere Hälfte der S. zygomatico-temporalis mit dem 
Processus zygomaticus des Temporale in Verbindung. Es be- 
trägt seine Länge am oberen Rande 1'6 Cm., am unteren Rande 
2:5 Cm.; seine Breite (Höhe) am vorderen Ende Il Mm., am 


2) Ueber supernumeräre Knochen im Jochbogen. Dies Archiv, 
1873. S. 339. 


TREE 


Nachtrag zum Vorkommen des zweigetheilten Jochbeines.. 235 


hinteren Ende $ Mm., an der Stelle mit dem Fortsatze bis 16 
Mm. Der als dreiseitige Zacke vom vorderen °/, des unteren 
Randes ausgehende und gerade abwärts hervorstehende Fort- 
satz («) ist am Abgange 1 Cm. breit und 7 Mm. hoch. Mit 
seinem 9 Mm. langen vorderen Rande verlängert er den vom 
Processus zygomaticus des Maxillare superius gebildeten Bogen 
um etwa °/, seiner Länge und macht diesen viel tiefer als links. 

Am Zygomaticum bipartitum dextrum beträgt die Höhe an 
der Mitte 3°5.Cm., seine Breite an der Mitte 1:3—1'9 Cm.; 
die Entfernung des vorderen Endes des Massetericalrandes von 
der Spitze des Processus maxillaris 3:9 Cm.; die Entfernung 
desselben vom Ende des Processus frontalis 45 Cm.; die Ent- 
fernung des hinteren Endes des Massetericalrandes vom Ende 
des Processus frontalis 49 Cm., die Entfernung der Spitze des 
anomalen Fortsatzes am Massetericalrande von der Spitze des 
Processus maxillaris 46 Cm. und vom Ende des Processus 
frontalis 53 Cm. Das Zygomaticum bipartitum dextrum ist 
daher wohl ähnlich breit, wie das Zygomaticum normale sini- 
strum, aber auffallend höher als dieses. 

An beiden Seiten ist der Arcus maxillo-temporalis- 
intra-jugalis (d) zugegen. Am Zygomaticum bipartitum 
bedeckt dieser die S. zygomatica an der Schläfenseite. Zur 
Herstellung des rechten Arcus trägt vorzugsweise die Spina 
zygomatico-temporalis (Y) des Processus zygomaticus des Ma- 
sillare superius (b), zu der des linken Arcus aber vorzugs- 
weise die Spina zygomatico-maxillaris des Processus zygomati- 
cus des Temporale bei. Beide Arcus, namentlich der rechte 
(d), haben eine beträchtliche Breite (Höhe). Diese betrug an 
der schmalsten Stelle am rechten Arcus noch 7 Mm. 

Damit sind mir bis jetzt 15 Schädel mit dem Zygomaticum 
bipartitum, und zwar beiderseitig an 7, nur rechtseitig an 3 
und nur linkseitig an 5, d.i. 22 Zygomatica bipartita zur Be- 
obachtung gekommen. Unter diesen Schädeln waren 4, wovon 
2 das Z. bipartitum beiderseitig, 1 nur rechtseitig und 1 nur 
linkseitig aufwiesen, zugleich mit dem Arcus maxillo-tempo- 
ralis-intra-jugalis beiderseitig behaftetes, d. i. es war dieser 
mit 6 Zygomatica bipartita aus 22 und mit 2 Z. normalia aus 


234 W. Gruber: 


8 von 15 Schädeln aufgetreten. Nach diesen und den Angaben 
aus der Literatur!) ist ferner damit die Zahl der bis jetzt zur 
Kenntniss gekommenen Schädel mit Zygomatica bipartita nach 
fremden und eigenen Beobachtungen wenigtens auf 46 gestiegen. 


Erklärung der Abbildungen. 


Fig. 2. 

Stück der rechten Gesichtshälfte des Schädels eines Mannes mit 
der Schläfengrube, 

Fig. 2. 

Dasselbe Stück mit dem Processus zygomaticus des Temporale 
vom Schädel getrennt, zur Ansicht des an der Schläfenfläche des 
Arcus zygomatico-temporalis, zu dessen Verstärkuug, gelagerten Arcus 
maxillo-temporalis-intra-jugalis. 

a Os zygomaticum bipartitum. 
rc: S secundarium orbitale. 

Er % a maxillo-temporale. 
b. Maxilla superior. 

c. Processus zygomaticus des Temporale. 

d. Arcus maxillo-temporalis intra-jugalis. 


1) S. angeführte Schriften sub a. und c. (In meinem Aufsatze: 
„Ein Nachtrag zum Vorkommen des zweigetheilten Jochbeines beim 
Menschen“ — dies Archiv 1875, S. 199. Note 10 — hatte ich nach 
Garbiglietti's Citaten „Davis Angaben über Fälle vom Vorkommen 
der Zygomatica bipartita mitgetheilt. Da mir gegenwärtig das Werk 
von Joseph Barnard Davis — Thesaurus craniorum (Catalogue 
of the sculls of the various races of man) London 1867. 8. — vor- 
liegt, so kann ich aus dem Originale anführen, dass Davis in der 
That in seiner Collection den Schädel eines Dayak (sub No. 1244) — 
— a.a. 0. S. 293 — und den Schädel eines andern Dayak (sub 
No. 1409) — a. a. O0. S. 297 — besitze, wovon ersterer nur auf der 
rechten Seite und letzterer auf beiden Seiten das Zygomaticum bipar- 
titum (sein Z. accessorium) aufweise. Er führt ferner (a. a. O0. S. 291) 
abgesehen vom Bekannten an: dass der in van der Hoeven’s Ca- 
talogus verzeichnete Negerschädel (sub No. 141) auf beiden Seiten, ein 
Dayak-Schädel im Würzburger Museum (beiderseitig oder einseitig?) 
das Zygomaticum bipartitum besitze, dass hm Weleker vom Vor- 
kommen desselben auf der linken Seite eines Dayak-Schädels unter 
den von den Gebrüdern Schlagintweit gesammelten Schädeln aus 
Indien die Anzeige gemacht habe.) 


Archiv f_ Anat:u.Phyf. 1876. Taf 17. 


W Grohmann st, 


« 


Nachtrag zum Vorkommen des zweigetheilten Jochbeines. 935 


«. Processus massetericus anomalus, 
8. Tubereulum massetericum 
am 0. zygomaticum maxillo-temporale. 
y. Spina zygomatico-temporalis der Maxilla superior, 
d, Spina zygomatico-maxillaris des Processus zygomaticus des 
Temporale, 
zur Bildung des Arcus maxillo-temporalis. 


Institut für die praktische Anatomie. 


24. September are 


St. Petersburg, am 6. Oktober 


Beiträge zur Physiologie 


von 
Dr. DÖnHorF. 
I. Geringe Fäulnissfähigkeit des löslichen Hühnereiweiss. 


In ein Zimmer, dessen Tages-Temperatur 19° C. betrug, 
brachte ich frische und gekochte Hühnereier. Nach 2 Monaten 
hatten erstere noch keinen Geruch angenommen, und waren 
geniessbar. Die letztern dagegen liessen am $ten Tage einen 


deutlichen Ammonjakgeruch wahrnehmen und schmeckten so 


stark ammoniakalisch, dass sie nicht zu geniessen waren. Hielt 
ich über sie ein Glasstäbchen mit einem Tropfen Salzsäure, so 
entwickelte derselbe lebhafte weisse Nebel. 

Ich füllte ein Gläschen mit frischem Hühnereiweiss. Um 
die schnelle Verdunstung zu hindern, nahm ich eins mit ziem- 
lich enger Oeffnung. Nach 5 Wochen konnte ich an dem im 
geheizten Zimmer aufbewahrten Eiweiss noch keinen Geruch 
wahrnehmen. 

Sodann goss ich in ein Glas frisches Hühnereiweiss mit 
Wasser, und in ein zweites Glas gekochtes mit derselben Menge 
Wasser gemischt, legte in jedes einen blanken Thaler und hob 
beide Gläser in einem geheizten Zimmer auf. Die Mischung 
des frischen Eiweiss begann erst mehre Wochen später deut- 
lichen Fäulnissgeruch zu entwickeln, als die des gekochten. 
Die Thaler färbten sich dem entsprechend auch verschieden 
schnell schwarz. Bemerkenswerth ist, dass die Schwefelwasser- 
stoffreaction nicht von Anfang an allmählig, sondern erst nach 
längerer Zeit eintritt, oft erst, wenn der Fäulnissprocess sich 
schon längst durch üble Gerüche kenntlich gemacht hat. Es 


Dönhoff: Beiträge zur Physiologie. 237 


scheint, dass der Schwefelwasserstoff ein secundäres Product 
der Fäulniss ist. 

Baeillarien treten in ungekochtem und rohem Eiweiss zu 
gleicher Zeit auf, wenn sie mit derselben Menge Wasser infun- 
dirt werden. 

Gekochter, mit Wasser übergossener Eidotter fault eben- 
falls früher, als ungekochter, ebenso behandelter. Doch beträgt 
hier die Differenz nur einige Tage. 

In einem Versuche, den ich allerdings nicht wiederholt 
habe, gab eine ungekochte Mehlinfusion, früher einen Fäulniss- 
geruch als gekochte. Wahrscheinlich war in letzterer die Klei- 
sterbildung der Fäulniss hinderlich. Die grössere Widerstands- 
fähigkeit des frischen Eiweiss gegen die Fäulniss ist wichtig 
für die Entwicklung der Eier. Manche Vögel legen bis zu 24 
Eier, ehe sie zu brüten beginnen. Die ersten Eier würden 
demnach faul sein, ehe das Brüten beginnt, wenn das rohe Ei- 
weiss so schnell in Fäulniss überginge, wie geronnenes Eiweiss, 
wie Vitellin, Myosin oder Kleber. 

Wird Dotter durch Umrühren oder durch Mischen mit 
Wasser zerstört, so fault er schnell. Im Ei wird er durch 
unbekannte Umstände länger vor der Fäulniss geschützt. 


1I. Mangel der Zweckvorstellungen bei den instinet- 
mässigen Handlungen der Thiere. 


Hühner lassen den Gluckton, durch welchen die Jungen 
später herbeigelockt werden, gewöhnlich schon kurz vor und 
während des Brütens hören. Eine höchst interessante Beobach- 
tung aber habe ich im vorigen Jahr an einem meiner Hühner 
gemacht. Dasselbe fing Anfangs Mai an zu brüten, hörte aber 
nach einigen Tagen wieder auf. Von da bis Ende August be- 
nahm es sich nun vollständig wie ein Mutterhuhn. Streute ich 
ihm Brot hin, so zerkleinerte es dasselbe, nahm die kleinen 
Stückchen wiederholt auf, und legte sie wieder hin, indem es 
unterdessen immer den Ton ausstiess, mit welchem Mutter- 
hühner ihre Küchelchen zu locken pflegen. Erst wenn das 
lange Locken ohne Erfolg blieb, frass es die Krümel auf. Nä- 


338 Dönhoff: 
D 

herte ich mich dem betreffenden Huhn, so flog es mit gesträub- 
tem Gefieder auf mich los, als ob es Junge zu beschützen ge- 
habt hätte. Des Nachts sass es nicht wie früher auf der 
Stange bei den andern Hühnern, sondern auf ebener Erde im 
Stroh, die Flügel gespreizt nach Art der Mutterhühner, die 
ihre Brut unter den Flügeln versammelt haben. 

Ich setzte das Huhn allein in eine Stube; es benahm sich 
hier ebenso. Nach einigen Tagen liess ich es wieder frei. 
Höchst ergötzlich war nun das Benehmen zweier alten Enten. 
Dieselben hatten bald’ gemerkt, dass das Huhn lockte, wenn 
es etwas Geniessbares gefunden hatte. Sie machten sich dies zu 
Nutze, begleiteten das Huhn beständig, eilten auf sein Locken 
sofort herbei und verzehrten die Früchte seines emsigen Su- 


chens. Ruhte das Huhn aus, so legten sich die Enten zu seiner 


Seite; stand es auf, so erhoben sie sich ebenfalls. Es lässt 
sich denken, dass das Huhn dabei so mager wurde, wie ein 
Mutterhuhn. 

Sicher ist, dass dieses Huhn, welches, trotzdem es keine 
Jungen hatte, doch sämmtliche Handlungen der Brutpflege aus- 
übte, durch keine Zweckvorstellungen zu denselben veranlasst 
wurde. Es ist daher auch anzunehmen, dass Hühner, wenn sie 
wirklich Junge haben, und sie den Lockton hören lassen, da- 
bei nicht die Vorstellung hegen, dass die Jungen herbeieilen 
sollen, das Futter zu fassen. Sie haben dabei keinen Zweck, 
sondern die instinetmässige Handlung ist ein blinder Mechanis- 
mus, der durch innere Ursachen oder durch äussere Sinnesreize, 
nicht durch eine angeborene Zweckvorstellung ins Werk ge- 
setzt wird. 


III. Instinetmässiges Tiefensehen. 


Am 18. September vorigen Jahres fand ich in einem Hüh- 
nerneste 4 Fuss hoch über dem Boden vier während der Nacht 
ausgekrochene Hühnchen; spät am Abend vorher hatte ich die 
Eier noch gesehen. Die Küchelchen konnten demnach das 
Nest noch nicht verlassen haben, denn Niemand wäre dage- 
wesen, der sie wieder hineingesetzt hätte. Ich sperrte die 
Jungen mit der Henne in einen Käfig, in welchem keine Stan- 


Beiträge zur Physiologie. 2339 


gen waren, auf die sie hätten fliegen können, und nahm den 
Käfig mit auf meine Stube. Am andern Tage kam ich auf den 
Gedanken, zu untersuchen, ob die Thierchen Tiefenwahrneh- 
mung hätten, ehe sie Gelegenheit gehabt hätten, Erfahrun- 
gen zu machen. Ich setzte ein Hühnchen auf einen Tisch und 
den Käfig mit der Henne vor denselben. Das Thierchen gab 
sofort durch lautes Piepen seine Unruhe zu erkennen, jedoch 
machte es keinen Versuch von dem Tisch herunterzuspringen. 
Setzte ich nun einen Stuhl an den Tisch, so sprang es sofort 
auf denselben und von hier herab zur Mutter auf den Boden. 
Da es möglich war, dass dieses Hühnchen die grössere Nähe 
des Stuhls dadurch erkannte, dass von demselben mehr Licht 
in sein Auge fiel, als von dem entfernteren Boden, so setzte 
ich ein anderes auf den Tisch, stellte einen Stuhl etwa 2 Fuss 
vom Hühnchen, und beschattete den Stuhl. Das Thierchen 
lief sofort über den Tisch nach dem Stuhle hin, und benutzte 
ihn, um auf den Boden zu gelangen. Ich setzte das dritte 
Hühnchen auf den Tisch, bedeckte den Boden vor demselben 
mit einem weissen Tuche, und doch lief auch dieses Hühnchen 
wie die anderen zu dem dunkleren Stuhl. Das vierte Hühn- 
chen setzte ich auf meine Hand, welche ich 4 Fuss hoch über 
der Decke eines Betts hielt. Das Thierchen blieb piepend 
sitzen, und sprang erst herunter, wenn.ich die Hand bis auf 
etwa % Fuss der Bettdecke näherte, Hielt ich ein Buch, auf 
welchem ein Mehlwurm lag, einem auf dem Tisch sitzenden 
Hühnchen in etwa 1 Fuss Entfernung vor, so guckte das Thier- 
chen wohl nach dem Wurm, versuchte aber nicht ihn zu er- 
fassen. Erst wenn ich den Wurm so weit näherte, dass es ihn 
erfassen konnte, griff es zu. Diese Versuche wurden varürt 
bei Lampenlicht wiederholt, gaben aber immer dasselbe Resultat. 

Vor drei Jahren nahm ich das Nest eines Bienenschnep- 
pers mit Jungen aus einem Weinstock heraus, und setzte es 
in einem Käfig in ein Zimmer, dessen Fenster geöffnet blieben. 
Die Alten konnten so zufliegen, und ihre Jungen füttern. Als 
diese ganz flügge waren, öffnete ieh: eines Tages den Käfig. 
Ein Junges flog heraus und setzte sich auf den Zweig eines 
vor dem Fenster stehenden Baumes. Als ich es von hier ver- 


N AB * 


240 Dönhoff: 


scheuchte, flog es auf den Zweig eines andern Baumes. Das 
Thier musste eine Empfindung von der Nähe und Ferne des 
Zweiges haben, denn als es ihm nahe gekommen war, mässigte 
es seinen Flug, um nicht über das Ziel hinauszuschiessen. 

Ein andermal setzte ich einem Stock eine italienische 
Königin zu. Als nach meiner Berechnung bald junge Bienen 
auskriechen mussten, setzte ich den Stock zehn Tage in den 
Keller, dann brachte ich ihn auf den Stand zurück und öffnete 
das Flugloch. Es dauerte nicht lange, so kroch eine italienische 
Biene, deutlich an ihrer gelben Farbe zu erkennen, heraus, um 
ihren ersten Ausflug zu halten. Sie flog ab, kehrte zurück und 
setzte sich auf das dicht unter dem Flugloch befindliche Flugbrett. 
Nun befestigte ich das Brett ungefähr einen halben Fuss tiefer 
am Stock. Die nächste italienische Biene, welche ihren Aus- 
flug gehalten hatte, setzte sich nicht auf das Flugbrett, sondern 
direct an das Flugloch und so alle folgenden. Die erste Biene 
empfand also die Nähe des Flugbrettes, die andern empfanden 
dessen Entfernung. 

Bei den Hühnchen und dem Bienenschnepper konnten es 
Accommodations- und Convergenzempfindungen sein, welche sie 
leiteten, bei den Bienen nur Accommodationsempfindungen. Da 
junge Eichhörnchen mit der grössten Sicherheit Sprünge in 
verschiedener Entfernung machen, so muss ihnen ebenfalls 
Tiefenwahrnehmung angeboren sein. Zugleich muss die Stärke 
der Muskelcontraction für die Sprünge in verschiedener Ent- 
fernung instinetmässig angelegt sein, sonst würden sie jeden 
Augenblick ihr Ziel verfehlen und zu Boden fallen, was in 
Wahrheit nur höchst selten geschieht. 


IV. Die Geschlechtsorgane im Zusammenhang mit den Blut- 
ansammlungen in den Fleischanhängen der Hühner. 


Der Kamm der jungen Hühner ist anfangs blass und fängt | 
erst im nächsten Frühjahr an sich zu röthen, bei einem Huhn | 
früher, beim andern später. So lange der Kamm blass ist, 
legt das Huhn nicht, und fängt er an, sich zu röthen, so ist 
dies ein sicheres Zeichen, dass das Huhn bald anfangen wird, 
Eier zu legen. Während des Brütens wird der Kamm dann 


Beiträge zur Physiologie. 941 


wieder blass und sein Rothwerden bezeichnet jedesmal wieder 
den baldigen Beginn des Bierlegens. Was vom Kamm gesagt 
ist, gilt zugleich von den Troddeln unter dem Kinn. Das 
Futter hat durchaus keinen Einfluss auf diesen Farbenwechsel, 
Man kann im Herbst, wenn die Zeit des Eierlegens bei den 
Hühnern vorbei ist, noch so stark füttern; die Fleischanhänge 
bleiben blass. 

Bei den jungen Hähnen röthet sich der Kamm schon im 
ersten Sommer und er behält nun diese lebhafte Färbung das 
ganze Leben hindurch. Es tritt dem entsprechend bei jungen 
Hähnen die Geschlechtsreife auch schon im ersten Sommer 
ein. Kastrirt man einen Hahn, so werden Wangen und Fleisch- 
anhänge so blass wie die Haut eines bleichsüchtigen Mädchens. 
Deshalb schneidet man beim Kapauniren wahrscheinlich auch 
den Kamm und die Troddeln ab. Aber trotzdem behalten die 
Kapaune ein kränkliches Ansehn, denn die Stümpfe der An- 
hänge und der Wangen werden vollständig farblos. Um zu 
prüfen, ob das Abschneiden der Fleischanhänge allein die bleiche 
Farbe der Stumpfe verursachen kann, schnitt ich dieselben drei 
jungen Hähnen ab, aber nach drei Monaten sind Stumpf und 
Wangen noch so hochroth wie vor der Operation. Gleich nach 
dem Abschneiden, wenn die Blutung vorbei war, waren die ab- 
geschnittenen Kämme bleich; die rothe Farbe rührt also nur 
von dem Blutgehalte her. Die Geschlechtsdrüsen haben mit- 
hin die Kraft in den Fleischanhängen einen Blutturgor hervor- 
zurufen. Derselbe hört bei kastrirten Hähnen vollständig auf, 
weil jede Einwirkung der Geschlechtsorgane aufhört. Bei Hüh- 
nern, die nicht legen, wird der Kamm nicht so todtenbleich, 
wie bei Kapaunen, ist deshalb die Congestion nicht so voll- 
ständig aufgehoben. Der Eierstock, wenn er auch augenblick- 
lieh nicht functionirt, bewirkt doch noch einen schwachen 
Turgor. 


Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 16 


Studien über die Physiologie der Gewebs- 
elemente. 
Von 


KonrAD HÄLLSTEN, 
Professor in Helsingfors. 


Die Erregbarkeit an verschiedenen Stellen desselben 
Nerven. 
(Uebertragen aus: Finska Läkare-Sällskapets Handlingar. 
Helsingfors 1875. Heft 2.) 

In einer Abhandlung „Om Protoplasma-Rörelser och Funk- 
tionstillständet i Nervsystemet* (Von den Protoplasma-Bewe- 
gungen und der Nerventhätigkeit) Helsingfors 1873“ habe ich das 
Resultat einiger Untersuchungen in Betreff der Reizbarkeit in 
sensiblen Nerven erwähnt; die Methode, die hierbei angewandt 
wurde, konnte jedoch in dieser Abhandlung in ihren Einzel- 
heiten nicht angegeben werden; daher und weil dieselbe Me- 
thode auch. in einigen folgenden Untersuchungen angewandt 
ist, möge deren Beschreibung zunächst hier Platz finden. 

Das Verfahren war folgendes: die beiden hinteren Extre- 
mitäten eines Frosches im Zusammenhange mit dem Lumbal- 
Theile des Rückens wurden lospräparirt; die Haut wurde ab- 
gezogen und die beiden Nervenstämme in ihrer ganzen Aus- 
dehnung vom Rückenmarkscanale bis zur Fossa poplitea los- 
präparirt; die Weichtheile in der Nachbarschaft des Rücken- 
markscanales und das Os sacrum wurden entfernt; der eine 
Nervenstamm wurde in der Fossa poplitea abgeschnitten; auf 
der anderen Seite dagegen wurde der M. gastroknemius im 
Zusammenhange mit dem Nervenstamme und mit dem Os fe- 


moris und der Achillessehne erhalten. Das Präparat bestand . 


Hällsten: Studien über die Physiologie der Gewebselemente. 243 


dergestalt aus den beiden Nervi ischiadici in Verbindung mit 
dem Lumbaltheile des Rückenmarks, und aus dem einen Wa- 
denmuskel im Zusammenhange mit seinem motorischen Nerven 
und mit dem Os femoris und der Achillessehne. Dieses Prä- 
parat wurde in gewöhnlicher Weise in Pflüger’s Myographion 
befestigt, und zugleich der Rückenmarkscanal mit Nadeln auf 
einer Unterlage von Kork, die auf dem Myographion-Tische ver- 
schoben werden konnte, fixirt. Dabei wurde natürlich die nö- 
thige Vorsicht beobachtet, um möglichst zu vermeiden, dass 
die Nervenstämme gespannt würden, oder vertrockneten, oder 
in anderer Weise litten. Schliesslich sei noch erwähnt, dass 
bei elektrischer Reizung den Elektroden, auf welchen der Nerv 
ruhte, die Ströme dadurch zugeführt wurden, dass die amalga- 
mirten Poldrähte gleichzeitig in zwei Quecksilber-Gefässe, die 
mit den Elektroden in Verbindung standen, eingetaucht wur- 
den, — so dass Stromschleifen und auch unipolare Erscheinun- 
gen als ausgeschlossen zu betrachten sind. 

So habe ich gefunden — wie in der genannten Abhand- 
. lung S. 43—44 angegeben ist — dass die Reflex-Zuckung von 
verschiedener Grösse ist, wenn der sensible (d.h. der abge- 
schnittene) Nervenstamm in verschiedenen Stellen mit Induc- 
tionsströmen von derselben Intensität gereizt wird. Bei der 
Ausführung dieser Untersuchung wurde der abgeschnittene 
Nervenstamm auf zwei Paare von Elektroden, das eine näher 
dem Centrum, das andere näher dem abgeschnittenen Ende des 
Nerven gelegt, und beide Elektrodenpaare konnten nach Be- 
lieben durch Quecksilber-Gefässe mit der secundären Spirale 
eines du Bois-Reymond’schen Inductoriums verbunden wer- 
den. Als Elektroden schliesslich wurden hierbei entweder ganz 
einfach zwei Paare von Nadeln, oder die bekannten unpolari- 
sirbaren Thonstiefeln mit amalgamirten Zinkstreifen in concen- 
trirter Zink-Sulphat-Lösung gebraucht. — Im Sommer 1872, 
als diese Untersuchung zum ersten Male ausgeführt wurde, und. 
später als dasselbe Experiment bei den Demonstrationen und 
praktischen Uebungen wieder aufgenommen worden ist, hat sich 
hierbei gezeigt, dass minimale Erregung durch Ströme verschie- 
dener Intensität erzeugt wird, je nachdem die Reizung in ver- 

16* 


I44 K. Hällsten: 


schiedenen Stellen des Nervenstammes geschieht; bei Reizung 
näher dem Centrum genügt nämlich eine kleinere 
Intensität um Reflex-Zuckung hervorzurufen, als bei 
Reizung in grösserem Abstande davon. 

. Unter den Verhältnissen, unter welchen diese Untersuchung 
ausgeführt wurde, ist die Reizung durch eine Summirung der 
auf einander folgenden Inductions-Schläge hervorgerufen, wie 
einfach dadurch bewiesen wird, dass wenn bei gleichem Rollen- 
abstande wie im vorigen Experiment, der Strom im primären 


Kreise nicht auf gewöhnliche Weise vermittelst des Wagner”- 


schen Hammers geschlossen und geöffnet wird, sondern in Queck- 
silber, so rufen die so erzeugten einfachen Inductionsschläge 
keine Reflex-Zuckung hervor. Aus diesem und noch aus einem 
anderen Grunde, von dem sogleich die Rede sein wird, habe 
ich neulich diese Untersuchung noch einmal aufgenommen mit 
der Veränderung, dass nur ein einziger Inductionsschlag, als 
Reiz gebraucht wurde. Bei den ersten derartigen Versuchen 
zeigte sich, dass auch die stärksten Inductionsschläge eines ge- 
wöhnlichen du DBois-Reymond’schen Schlitten - Apparates 
nicht hinreichende Intensität haben, um Reflex-Zuckung her- 
vorzurufen. Die Untersuchung wurde daher mit einem Rum- 
korff’schen Inductorium ausgeführt; hierbei zeigte sich zuerst, 
dass bei übrigens derselben Anordnung der Oeffnungs-Inductions- 
schlag, der wie bekannt grössere Intensität, obschon kürzere 
Dauer hat, früher als der Schliessungs-Inductionsschlag Reflex- 
Zuckung hervorruft. Die Untersuchung wurde daher so an- 
geordnet, dass nur der Oeffnungs-Inductionsschlag, auf den sen- 
siblen Nervenstamm einwirkte. Auch bei dieser Anordnung 
des Experimentes zeigte sich ganz dasselbe Resultat, als bei 
der vorigen Untersuchung. 

Ich gehe über zur Frage nach der Erklärung dieser Er- 
scheinung. Zunächst findet man, dass sie sich nicht erklären 
lässt durch die Annahme, welche man noch immer in Betreff 
der Bewegung zu machen pflegt, in der die Thätigkeit des 
Nerven besteht, dass nämlich diese Bewegung mit dem zurück- 
gelegten Wege an Intensität wachse. Denn bei dieser Annah- 
me müsste derselbe Reiz grössere Zuckung hervorrufen, wenn 


En a pe A 
. 


Studien über die Physiologie der Gewebselemente. 245 


er am abgeschnittenen Ende des Nerven, als wenn er näher 
dem Rückenmark einwirkt; mit anderen Worten, wäre diese 
Annahme richtig, so würden die Resultate unseres Versuches 
gerade die entgegengesetzten gewesen sein. Deshalb sah ich 
mich in der genannten Abhandlung veranlasst, die Theorie vom 
lawinenartigen Anschwellen der Erregung aufzugeben und statt 
dessen die Erklärung darin zu suchen, dass die Erregbarkeit 
an verschiedenen Stellen des sensiblen Nerven verschieden ist. 

Es könnte aber vielleicht Jemand die Erklärung der frag- 
lichen Erscheinung darin suchen wollen, dass der Reiz näher 
dem Rückenmarkscanale auf mehr sensible Nervenfasern ein- 
wirkt, und damit auch auf mehr Reflexapparate im Rückenmarke, 
und dass so eine hinreichende Summe von Wirkungen zu 
Stande kommt, um den Gastroknemius zu erregen. Dieser Er- 
klärung widersprechen jedoch einige Untersuchungen von A. 
Fick über Reflex-Zuckungen. Fick!) hat nämlich gefunden, 
dass bei Reflexreizung mit einem einzigen Inductionsschlage die 
Zuckung (in den meisten Fällen) in ganz bestimmten Muskeln 
auftritt; mit anderen Worten, dass hierbei der Nerventhätigkeit 
nicht von einem Reflexapparate auf einen anderen übergeht. 
Wird dieses Resultat von Fick festgehalten, so können die 
hier beschriebenen Reizungs-Erscheinungen mit einzelnen In- 
duetionsschlägen nicht durch ein Ueberspringen der Reizungen 
im Innern des Rückenmarks erklärt werden. ' 

Dass die obengenannte Erklärung die richtige sei, scheinen 
mir noch andere Beobachtungen zu beweisen, auf welche ich erst 
aufmerksam wurde, nachdem die genannte Abhandlung ausge- 
geben war. Hierher gehört eine Erscheinung, die W. Wundt?) 
in seiner Arbeit „Physiologische Psychologie“ erwähnt, dass 
nämlich die specifische Erregbarkeit in den Wurzeln der Ner- 
venstämme, nach ihrem Eintritt in das Rückenmark, kleiner 
ist als in den peripherischen Stämmen; ferner eine Beobach- 
tung von Rollet°), dass in derselben hinteren Froschextremi- 


1) Pflüger’s Archiv für die gesammte Physiologie. Bd. IIT. 
8. 328. 

2) W. Wundt, a. a. O. Erste Hälfte. Leipzig 1873. S. 117. 

3) Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte in der 
gesammten Mediein. Bd. IX. S. 275. 


246 K. Hällsten: 


tät die Nervenstämme, welche sich zu den Flexoren begeben, 
eine grössere specifische Erregbarkeit haben als die, die sich 
in den Extensoren verzweigen. Und wenn man die Erregbar- 
keit nicht nur in den Nervenfasern, sondern auch in den ver- 
schiedenen Theilen des Nervensystems berücksichtigt, so hat 
die Erfahrung gelehrt, dass die peripherischen Endapparate der 
sensiblen Nerven eine viel grössere Erregbarkeit als die sen- 
siblen Nervenstämme haben, und dagegen die Centralapparate 
überhaupt eine kleinere. Alles dies zeigt uns, dass die mini- 
male Erregung in verschiedenen Theilen des Nervensystems 
verschiedenen Werth hat; oder mit anderen Worten, dass die 
specifische Erregbarkeit verschieden ist in verschiedenen Thei- 
len des Nervensystems, sowohl in den centralen als in den pe- 
ripherischen Theilen. 

Hiermit können auch die bekannten, von Pflüger ent- 
deckten Erscheinungen, die unter analogen Verhältnissen im 
motorischen Nerven sich zeigen, erklärt werden; und beide, die 
Pflüger’schen und die hier beschriebenen Erscheinungen zei- 
gen zusammen, dass die specifische Erregbarkeit so- 
wohl in motorischen wie in sensiblen Nerven (im 
Allgemeinen) vom Centralapparat gegen die Peripherie 
vermindert wird. 

Die Voraussetzung, die man noch immer zu machen pfleste, 
um die Pflüger’schen Erscheinungen in den motorischen Ner- 
ven zu erklären-— dass nämlich die Nervenbewegung nicht 
wie das Licht und der Schall mit dem zurückgelegten Wege an 
Intensität abnehme, sondern vielmehr anschwillt, diese Voraus- 
setzung muss daher nach meiner Meinung aufgegeben werden, 
und damit auch die bekannte Hemmungstheorie des Processes 
in den Nervenfasern. 


Anmerkung. 


[Hr. Pflüger hat bekanntlich nach einer der obigen ganz glei- 
‚chen Methode, nur dass er den Frosch mit Strychnin vergiftete, Ver- 
suche über das „Gesetz der elektrischen Empfindungen“ angestellt 
(Allgemeine Medieinische Central-Zeitung. 27. Aug. 1859. Jahrgang 
XXVIM. 69. St. Sp. 545.) Dabei musste er nothwendig auf den jetzt 


a >. 


Studien über die Physiologie der Gewebselemente. 947 


von Hrn. Hällsten erörterten Punkt stossen. In seiner Habilitations- 
schrift „Disquisitiones de sensu electric. Bonnae MDCCCLX. 4“ 
spricht sich Hr. Pflüger p. 14 folgendermaassen darüber aus: „In 
summa disquisitionibus meis, quas enarravi, electrodam superiorem 
fortiorem effieacitatem exereuisse, probatum mihi videbatur, cum mi- 
nimus rivus descendens facile solum apertione, ascendens fere sem- 
per solum elusione contractiones reflexorias produceret. Quae quum 
ita se habeant, in disquisitionibus meis incitabilitatem in nervo ischia- 
dico superiore majorem fuisse quam in inferiore mihi videtur.* Hr. 
Pflüger hat also, wenn auch nicht so unmittelbar, dasselbe Ver- 
suchsergebniss erhalten, wie Hr. Hällsten, er sucht es aber durch 
die veränderten Kreislaufsbedingungen und den Mechanismus der Ver- 
giftung zu erklären, ohne den Widerspruch hervorzuheben, in den es 
mit seiner Lehre vom lawineuartigen Anschwellen des Reizes geräth. 
E. d. B.-R.] 


Mechanische Principien der Homöothermie bei 
höheren Thieren und das Newton’sche Gesetz 
bei der Wärmeabgabe derselben. 
Studien über thierische Wärme. 

(Dritte Abhandlung.) 


Von 


Dr. Argertr ADAMKIEWICZ, 
Privatdocenten an der Universität Königsberg. 


Hierzu Taf. VII. 


A. Die Wärmeprocesse und der Process des Lebens 
im Reich der Organismen. 

Nicht sprungweise, sondern in stetiger Fortentwickelung 
haben sich die Arten der Organismen aus ihren einfachen Ur- 
formen hervorgebildet. Jede von ihnen steht gegenwärtig auf 
der Höhe einer Entwickelung, deren Ursprung in längst ver- 
flossenen Jahrhunderten liegen mag. Aber so wie sie sich 
uns heute darbieten, stellen sie nicht wohl isolirte Gruppen dar, 
jede scharf geschieden von der andern. Eine Kette bilden sie 
vielmehr von aufsteigenden Gliedern, zwischen denen sondernde 
Grenzen fehlen. Entstammen sie alle derselben. Urform, wie 
es die Darwin’sche Transmutationslehre fordert, dann kann 
man sie als Entwicklungsphasen dieser Urform betrachten, die 
sich so zu sagen nur um das Entwickelungsdifferential von ein- 
ander unterscheiden. In ihrer Gesammtheit stellen sie deshalb 
das Integral ihrer gegenseitigen Entwickelungsdifferenz dar, — 
also ein Continuum ohne Lücke und Sprung. 

In der That, wer wüsste heute zwische Pflanze und Thier, 
zwischen Thier und Menschen die sicheren Grenzen zu ziehn? 

Ein Kriterium giebt es, welches diese Stellung der leben- 
den Geschöpfe unter einander wohl charakterisirt. Der Wärme- 
process ist es, da er innerhalb der Organismen Schritt hält 
mit deren Entwickelung. 


a 


Adamkiewicz: Mechanische Principien der Homöothermie. 249 


Je höher die Entwickelung eines Wesens ist, desto voll- 
endeter stellt sich die Gesammtsumme seiner Organleistungen 
dar, die wir dessen Leben nennen. Das Leben aber ist nur 
eine Form von Bewegung. Es ist diejenige Bewegung, 
welche aus dem Verlust von Spannkräften hervorgeht, die der 
Lebensprocess im Entstehen vernichtet. Die Spannkräfte, 
welche im Vergehen das Leben wecken, sind aber chemischer 
Natur. Und weil der Untergang chemischer Spannungen als 
lebendige Kraft die Bewegungsform „Wärme“ und nur inner- 
halb der Organismen gleichzeitig die Bewegungsform „Leben“ 
erzeugt, so muss der Wärmeprocess in der Entwickelungsreihe 
der Geschöpfe dasselbe Gesetz befolgen, wie ihr Leben, — er 
muss an Grösse und Entfaltung in der Klasse der Organismen 
wachsen wie dieses. 

Nichts liest in der That mehr auf der Hand, als dass der 
Wärmeprocess in der aufsteigenden Reihe der Wesen einer 
Curve folgt, welche dem Entwickelungsintegral des organischen 
Reiches parallel läuft. 

Zunächst der Abseisse steht diese Cure im Reich der 
Pflanzen, am weitesten von ihr entfernt in der Klasse der höch- 
sten und vollendetsten Thiere. 

Kaum sind in der Pflanze eigene Wärmeherde nachzuwei- 
sen.) Den Sonnenstrahlen muss sie die Kraft entnehmen, die 
den Apparat ihrer Zellen in Bewegung setzt und das Rohma- 
terial ihrer Säfte in Lebensstoffe verwandelt. 

Je mehr sich das Thier von der Pflanze differencirt, desto 
mehr gewinnt es an Fähiskeit, selbständig Wärme zu bilden. 
Schon die Bienen heizen durch selbstgeschaffene Wärme ihre 


1) Grosse Mengen aufgehäuften keimenden Samens vermögen 
allerdings nieht unbeträchtliche Wärmemengen zu produciren. Auch 
sollen sich nach de Sauss ure die Aroideen durch relativ bedeutende 
Wärmebildung auszeichnen. — Im Uebrigen sind die Forscher über 
Wärmebildung in den Pflanzen uneius. Vergl. Tiedemann: Phy- 
siologie des Menschen. Darmstadt 1830. Bd.I. S. 447. — Fontana 
(Efemeride chemico-mediche. 1805. p. 236) stellt letztere ganz in 
Abrede. 


250 A. Adamkiewiez: 


Wohnhäuser und schützen sich so vor der Winterkälte der Um- 
gebung.') Aber erst in der Klasse der Amphibien und Fische 
treten eigentliche Körpertemperaturen auf. Man hat den Aber- 
glauben längst widerlegt, der Kaltblüter sei temperaturlos und 
unterscheide sich in seiner Körperwärme nicht von seiner Um- 
gebung.) In den höchsten Repräsentanten des Thierreiches 
erreicht die Körperwärme den böchsten Grad ihrer Entfaltung. 
Man scheint diesen Grad der Temperaturen als einziges Maass 
der Wärmebildung im Thierkörper anzusehen, wenn man die 
Thiere, welche ihn besitzen, gegenüber allen andern, die „Warm- 
blüter* nennt. Natürlich geschieht das mit Unrecht. Denn 
es ist falsch, eine Eigenthümlichkeit zum unterscheidenden 
Merkmal einer Klasse zu machen, wenn diese Eigenthümlich- 
keit auf Gradationen einer allen Thierklassen zukommenden 
Fähigkeit beruht. Nicht die Intensität, sondern die Differenz 
einer Erscheinung bedingt eine fundamentale Verschiedenheit. 
Die sogenannte „Kalt- und Warmblütigkeit“ der Thiere ist nur 
ein Ausdruck der verschiedenen Energie der Wärmebildung;?) 
und das Maass der Wärmebildung ist nur ein Maass der Le- 
bensprocesse im Reich der lebenden Wesen. 

Daher spielt sich der Process des Lebens in den Thieren, 
welche der Pflanze nahe stehen, träge und langsam ab. Einem 
schwälenden Funken vergleichbar, der bescheiden am Zunder 
glimmt. Das Leben der höchsten Thiere flammt dagegen wie 
ein viel verzehrendes, stolz loderndes Licht. Aber jener glim- 
mende Funke haftet der Materie hartnäckig an und trotzt den 
Gewalten, die ihn bekämpfen. Die Flamme neigt sich und 
flackert, wenn es in der Umgebung unruhig wird und verlischt, 
wenn es um sie stürmt. Das Leben des Kaltblüters ist des- 


1) Berthold: Neue Versuche über die Temperatur der kaltblü- 


tigen Thiere. Göttingen 1835. 8. 36. — Martin: Medical and 
philos. Essays. p. 331. — Huber: Mem. sur les abeilles. Tom. I. 
p. 305. — U. A. 


2) Tiedemann: Physiologie des Menschen. Darmstadt 1830. 
Ba. I. S. 467 ft. 

3) Deshalb wären für sie die Bezeichnungen Oligothermie und 
Polythermie viel entsprechender. 


Mechanische Prineipien der Homöothermie. 951 


halb auch so wunderbar fest an seinen Körperbestandtheilen 
gebunden und widersteht so auffallend lange selbst dem Man- 
gel des freien Sauerstoffs, der doch den Funken belebt.!) An 
der Hülle der Warmblüter schwebt die Flamme nur locker und 
verzehrt sich schnell, wenn der Zufluss stockt. 

Die Wärme, die im Entstehen des Lebens frei wird, die 
also ein Product des Lebens ist, wird wieder zur Lebensquelle. 
Das ist die wunderbarste Macht des Organismus, dass sie durch 
die Resultate ihres Wirkens ihre eigene Schöpferkraft wieder 
belebt. Ist doch die Wärme der mächtigste Motor, der den 
Uebergang todter Spannungen in lebendige Bewegung ver- 
mittelt. 

Das Maass von Wärme, das in den verschiedenen Thier- 
klassen entsteht, ist also auch das Maass von Kraft, welches 
in ihnen neue Lebensprocesse weckt. Niedrige Thiere bedürfen 
dieser Kraft nur wenig, den niedrigen Vegetationen entspre- 
chend, die bei ihnen die Summe des Lebensist. In demselben 
Verhältniss aber, als die Intensität der Lebensprocesse sich in 
der Thierklasse steigert, nimmt das Bedürfniss nach Wärme 
in ihnen stetig zu. Dem Lebensprocess der höchsten Thiere 
genügen erst die grössten Wärmemengen. Diese Thiere müs- 
sen daher auch die höchsten Körpertemperaturen besitzen. 

Aber das Gleichmaass des Lebens bei ihnen fordert es, dass 
diese Temperaturen in ihrer Höhe den Organismen constant 
erhalten bleiben. Dazu ist es nöthig, dass die in ihnen ge- 
bildete Wärme ihnen einerseits nicht wieder verloren geht und 
andererseits sich nicht in einer Weise aufspeichere, dass die 
retinirte Kraft übermächtig wird und die Spannungen sprenge, 
die sie nur lösen soll. 


B. Die Erhaltung der Wärme. 


Diese Forderungen können nur erfüllt werden, wenn der 
Körper nicht mehr Wärme verliert, als er bildet und nicht 


1) Pflüger: Ueber die physiologische Verbrennung in den le- 
benden Organismen. — Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. X. S. 321 ff. 


EAN RER RR 0 


252 A. Adamkiewicz: 


ınehr hervorbringt, als er der Umgebung gibt. Im ersten Fall wür- 
den sich sonst die Temperaturquellen des Körpers schnell er- 
schöpfen und im zweiten würden sie den Organismus leicht 
überfluthen und rasch verzehren. 

Das Geheimniss der organischen Einrichtungen, welche die 
beiden Factoren der Temperaturconstanz, Wärmebildung und 
Wärmeverlust, stets in das erforderlich gleiche Verhältniss zu 
einander setzen, hat von jeher den Forschertrieb der Gelehrten 
lebhaft angeregt. Man hat es bald erkannt, dass die primären 
Gefahren für die Temperaturconstanz nicht in Aenderungen 
der Wärmebildung, sondern in denen des Wärmeverlustes lie- 
gen. Aber man hat sich die Lösung der vorliegenden Räthsel 
sehr leicht zu machen gewusst, indem man dem ÖOrganismus 
nahe liegende compensatorirche Fähigkeiten der Wärmebildung 
zuschrieb, durch welche alle Variationen des Wärmeverlustes 
gedeckt und deren Gefahren ohne Schwierigkeiten beseitigt 
werden sollten. 

Als Haller im Gegensatz zu den Ausführungen seines 
Lehrers Boerhaave für möglich erklärt hatte, dass mit Lun- 
gen athmende Thiere eine Temperatur der Umgebung vertrü- 
gen, die derjenigen ihres Körpers gleichkäme; und als in einer 
Reihe kühner und an Selbstverleugnung reicher Versuche von 
den Englischen Forschern!) Fordyce, Blagden, Dobson 
an der eigenen Person der Nachweis geführt worden war, dass 
ein mehrere Minuten dauernder Aufenthalt in einer Umgebung 
von 60, 100, ja 127° Cels. den Fortgang der Lebensfunctionen 
nicht störe: da sah sich der Physiker Adair Crawfort?) 


1) Philosophical Transactions. Vol. 65. 1775. 463. 484. 

2) Versuche und Beobachtungen über die Wärme der Thiere und 
die Entzündung verbrennlicher Körper. — Uebers. von Crell. Lpzg. 
1789. S. 295. — In ganz anderem Sinne spricht Tiedemann 
(Physiologie des Menschen. Bd. I. S. 461.) noch von der Kältebildung 
bei Thieren in hochtemperirter Umgebung. — „Den Thieren kommt die 
Eigenschaft zu, in einem Medium, das ihre Wärme übersteigt, Kälte zu er- 
zeugen, und dies ist in dereintretenden stärkeren Verdunstung ihrer 
Säftemasse begründet, welche ein Lebensact ist, und wodurch die 
ihnen von aussen zugegangene Wärme in gebundenem Zustande aus- 
gestossen wird.“ 


Mechanische Prineipien der Homöothermie, 253 


veranlasst, anzunehmen, dass der thierische Körper auch die 
Fähigkeit besitzen müsse, Kälte zu bilden, um jedem Ueber- 
maass von Wärme zu steuern. 

Currie!) war der Erste, der aus seinen Beobachtungen 
auch das entgegengesetzte Reactionsvermögen, das der Wärme- 
bildung, als unmittelbare Folge des Wärmeverlustes bei höhe- 
ren Thieren ableitete. 

In neuester Zeit haben die unermüdlichen Arbeiten Lie- 
bermeister’s?) ein schwer wiegendes Material geschaffen, das die 
Anschauungen Currie’s wissenschaftlich zu begründen und zu 
stützen sucht. Jede Kälteeinwirkungaufdie Körperperipherie wird 
von ihm als die Ursache eines Innervationsvorganges angesehen, 
der ein moderirendes und excitocalorisches System nervöser Oen- 
tren in Erregung versetzt und von hier ausauf der Bahn centrifu- 
galer Nerven, also in Form eines einfachen Reflexes, die Wärme- 
bildung direet und ohne Hilfe von Organleistung anregen soll. 
Das ist ein echt vitaler, aus den Eigenschaften der Materie 
nicht verständlicher Vorgang, auf den die ihrer Herrschaft doch 
bereits entsetzte Lebenskraft noch einigen Einfluss zu haben 
scheint. Auch kann er jener hypothetischen centralen Nerven- 
mächte nicht entbehren, auf denen die Erscheinungen von jeher 
doch nur wie auf erborgtem Fundamente ruhten. Definitionen, 
die sich ihrer bedienen, sind kaum mehr als Umschreibungen 
von an sich schwer begreiflichen Processen. Denn eine Er- 
klärung der Lebenserscheinungen giebt nur diejenige Zer- 
gliederung derselben, welche die organischen Complicationen 
entwirrt und in ihren Elementen die mechanischen Grundsätze 
der Molecularbewegung nachweist. Wenn Emil du Bois- 
Reymond!) von den geistigen Erscheinungen, den höchsten 


1) Ueber die Wirkungen des kalten und warmen Wassers als 
eines Heilmittels im Fieber und in andern Krankheiten. Uebers. v, 
Michaelis. Lpzg. 1801. S. 331. 

2) Volkmann’s Sammlung klinischer Vorträge. Heft 19. -- 
Liebermeister, Handbuch der Pathologie und Therapie des Fiebers. 
Lpzg. 1875. — U. A. , 

3) La Mettrie, Rede, gehalten in der Akademie der Wissen- 
schaften zu Berlin, am 28. Januar 1875. S. 24. 


254 A. Adamkiewicez: 


und complieirtesten, welche die Natur überhaupt geschaffen 
hat, fordert, dass der Naturforscher bei ihrer Zerlegung ebenso 
verfahre, wie gegenüber jeder anderen neu hervortretenden 
Thätigkeitsäusserung der Materie, beispielsweise der Elektrici- 
cität; — so darf man nicht daran zweifeln, dass für die Er- 
gründung nicht psychischer, also weniger verwickelter vitaler 
Erscheinungen jenes Gebot geradezu Gesetz wird. 

Bevor man deshalb die an sich schon räthselhaften vitalen 
Potenzen zur Erklärung organischer Erscheinungen heranzieht, 
muss der Versuch erschöpft sein, eine Erklärung für sie aus 
den mechanischen Gesetzen zu geben, die die Aeusserungen 
der lebenden organischen Materie abzuleiten gestattet. 

Für die wissenschaftliche Begründung der Temperaturcon- 
stanz der höheren Thiere ist dieser Versuch!) nicht ohne Er- 
folg geblieben. Er hat beide Factoren, die auf die Tempera- 
turconstanz hinwirken, die Wärmebildung wie die Wärmeab- 
gabe, variabel gefunden und nur unter günstigen Bedingungen 
constant ihre gemeinschaftliche Summe, die Temperatur des 
Körpers. 


I. Wärmeproduction. 


Zunächst hat sich mit Hülfe des Experimentes exact der 
Nachweis führen lassen, dass die viel bewunderte Fähigkeit, 
die Körperwärme beständig auf derselben Höhe zu erhalten, 
auch dem Warmblüter fehlt, wenn die Function derjenigen 
Apparate aus der Gesammtheit seiner Organleistungen ausge- 
schaltet werden, welche der Ausführung seiner Willensimpulse 
dienen — der Muskeln. Der Verlust der Muskelfunction, 
Verlust also der Bewegungsfreiheit setzt auch das höchste Thier 
in Abhängigkeit von dem einfachen physikalischen, nach Du- 
long und Petit benannten Gesetz, welches die Temperatur 
eines Körpers als die Function seiner Grösse und der Tempe- 
raturdifferenz zwischen ihm und Umgebung ausdrückt, Ein 
Thier mit ruhender oder gelähmter Muskulatur erleidet auch 


1) A. Adamkiewicz: Die Analogien zum Dulong-Petit’schen 
Gesetz bei Tkieren. — Dies Archiv 1875. S. 78. 


Mechanische Prineipien der Homöothermie. 255 


bei derjenigen mittleren Temperatur seiner Umgebung, bei 
welcher es unter normalen Verhältnissen seine Temperatur 
constant zu erhalten im Stande ist, einen continuirlichen Ab- 
fall seiner Körperwärme in Form einer bestimmten Ourve, de- 
ren niedrigste Grenze in directem Verhältniss steht zur Tem- 
peratur der Umgebung und in umgekehrtem zur Körpergrösse 
des Thieres. 

Daraus geht klar hervor, dass die Temperaturbeständigkeit 
der höheren Thiere unter Anderem zunächst ein Factor der- 
jenigen Lebensprocesse sein müsse, welche innerhalb der thä- 
tigen Muskelsubstanz sich abspielen. Und wenn es wahr ist, 
dass die Sommerwärme zu einer natürlichen Beschränkung und die 
Kälte des Winters zu einer natürlichen Steigerung der Muskel- 
arbeit anregt; dann wird man anerkennen müssen, dass schon in 
diesen einfachen instinctiven Erscheinungen der Wesen eine That- 
sache gegeben sei, die dem ausgesprochenen allgemeinen Princip 
gerecht wird. Und dieses Princip ist leicht begreiflich, wenn 
man erwägt, dass Wärmebildung eine längst bekannte physio- 
gische Function der Muskulatur ist; dass die Muskeln als die 
thätigsten Wärmeherde im thierischen Körper anerkannt sind, und 
dass der Grad der Wärmebildung in ihnen von der Höhe ihrer 
physiologischen Leistung abhängt, die in der Contraction d.h. 
in Bewegung des Gesammtkörpers ihren Ausdruck findet. 

Die Natur befolgt im Grossen dasselbe Princip, indem sie 
den Anforderungen der Temperaturconstanz in einer Klasse von 
Thieren genügt, die von dem kleinsten Vogel in der Luft bis 
hinauf zu dem mächtigsten Bewohner des Meeres an dieselbe 
so zu sagen alle Variationen möglicher Ansprüche stellen. 
Denn alle diese Thiere leben in Medien, welche kälter sind als sie 
selbst und müssen daher an ihre Umgebung Wärme abgeben. 
Der Wärmeverlust eines Körpers aber hängt unter Anderem 
von der Grösse seiner Oberfläche ab, und die Oberfläche nimmt 
zu im Verhältniss zum Inhalt, wenn sich dieser verkleinert. 
Ebenso zahllos in der Grösse, ebenso mannichfaltig in der Wir- 
kung müssen daher die Compensationen innerhalb dieser Ho- 
möothermen sein, als es Formen und Grössen der Körper giebt, 
die diese Thierklasse umfasst. Und dass diese Anforderungen 


256 A. Adamkiewicez: 
j 


zum Theil durch unendlichen Wechsel in dem Grad der Mus- 
kelarbeit erfüllt werden, lehrt jeder Blick in die Natur. Vom 
kleinsten Thier mit der grössten Oberfläche bis zum grössten 
Thier mit der kleinsten Oberfläche sieht man die natürliche 
Lebhaftigkeit der Bewegungen unverkennbar sinken. 

Wenn die Thätigkeit der Muskulatur für die Wärmepro- 
cesse des Thieres von so hohem Einfluss ist, wie die Erfahrung 
lehrt, so muss diese Bedeutung der Muskulatur noch in ande- 
rer Weise als durch die directe Beobachtung sicher gestellt 
werden können. 

Wärme und Leben sind die beiden correlaten Functionen 
der lebenden Materie. Wie von der Entwickelung des Lebens 
die Menge von Wärme abhängt, die im Organismus entsteht, 
so kann man die Intensität der Lebensvorgänge abhängig ma- 
chen von der Menge von Wärme, die man dem Organismus 
zuführt. In der Kälte nimmt der Lebensprocess ab, — die 
Molekel der lebenden Materie schwingen träger und träger; 
endlich bleiben sie stehen und unterbrechen das Leben. Wärme 
steigert den Lebensprocess und erhöht die Organleistungen, 
wie es die Zunahme der Secretionen und vor Allem der Thä- 
tigkeit der Respirationscentren bei hoher Temperatur beweisen 
— bis die Molekel im Uebermaass der Bewegung die lebende 
Substanz tödten, indem sie sie sprengen. Dort erstarrt, hier 
zerfällt die Materie im wahren Sinne des Wertes. 

Nun ist das Leben der Materie nichts weiter als eine Zer- 
setzung, und auch die Zersetzung ist, wie man weiss, ein 
Product der Wärme. Jede organische Substanz hat das Schick- 
ral, sich unaufhaltsam zu zersetzen; — nicht nur die todte, 
indem sie fault, sondern auch die lebende, indem sie reagirt. 
Wenn sich der Muskel zusammenzieht, bildet er Milch- und 
Kohlensäure, und Milch- und Kohlensäure sind die Producte 
einer Zersetzung in der Substanz des Muskels, die die Con- 
traction veranlasst hat. Die Zersetzbarkeit ist die Ursache der 
Reizbarkeit, sagt Pflüger. 

Ist das Leben eine Zersetzung, so müssen die Zersetzungs- 
producte einen Maassstab für die Höhe des Lebens abgeben. 
Und aus den Aenderungen, die diese Producte unter gewissen 


Mechanische Prineipien der Homöothermie. 257 


Einflüssen erleiden, müssen sich sichere Schlüsse auf die Macht 
dieser Einflüsse folgern lassen, die sie auf den ganzen Lebens- 
process besitzen. 

Unter den Zersetzungsproducten des lebenden Körpers ist 
die Kohlensäure quantitativ die hervorragendste.e Die Menge 
von Kohlensäure, die der Organismus unter verschiedenen Ver- 
hältnissen bildet, kann demnach als ein Maass für die Varia- 
tionen der Lebensintensität angesehen werden, wie sie durch 
diese Verhältnisse bedingt werden. 

Moleschott!) hat längst am Frosch den Nachweis ge- 
führt, dass innerhalb gewisser Grenzen die Kohlensäurebildung 
der Temperatur der Organe proportional wächst, und in der 
neuesten Zeit haben Sanders-Ezn?) und Erler?) dasselbe 
auch für den „Warmblüter* feststellen können. 

Beherrscht nun die Muskulatur die Wärmeprocesse im 
Thier, so muss die Störung oder Unterbrechung ihrer Function 
auch das Leben beeinträchtigen und der Grad dieser Beein- 
trächtigung muss durch die Abnahme der Kohlensäurebildung 
gemessen werden können, die jener Störung oder Unterbrechung 
folgt. 

Hr. Dr. Erler hat die Untersuchung dieser Frage auf 
meine Veranlassung unternommen. Es hat sich als Resultat 
derselben ergeben, dass, wie die Temperatur eines Thieres 
nach dem Verlust seiner Bewegungsfreiheit continuirlich sinkt, 
in nahezu ähnlicher Curve auch die Menge der Kohlensäure 
abnimmt, die das Thier aus den Lungen ausscheidet. 

Es betrug im Mittel die während zehn Minuten von den 
Lungen eines Kaninchens abgegebene Kohlensäuremenge in 
ein und derselben Umgebung von durchschnittlich : 15:7 ° Cels. 


1) Untersuchungen zur Naturlehre des Menschen und der Thiere, 
Bd. I. 1857. S. 315. 
2) Berichte der Kgl. Sächs. Akad. der Wissenschaften. Mathem.- 
phys. Klasse. 1867. S. 58. 
3) Ueber Jas Verhältniss der Kohlensäure-Abgaben zum Wechsel 
der Körperwärme. Inaugural-Dissertation. Königsberg 1875. 
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 17 


258 A. Adamkiewicse: 


Gr. 


Bei einem Körpergewicht 
des Thieres von ... .. || 1020'0| 1020°0| 1112°0| 1112°0| 1372°0] 13720 


Im freien Zustand ..... | 0'050 0074| 0°045| 0'050) 0:045| 0'095 


Im gefesselten Zustand . | 0'042) 0'059) 0'029] 0'031) 0'022) 0'049 


Auf 100'0 Gr. der Körpersubstanz berechnet: 


Im freien Zustand ... .. . | 0'0049| 0:0072| 0'0040| 0'0045| 0'0032]| 0:0069 
Im gefesselten Zustand . | 0'0041| 0'0057| 0'0026| 0'0027| 0:0016| 0'0035 


Das Verhältniss beider. . | 1:0'8| 1:08) 1:07) 1:0°6| 1:05) 1:05 


BL = an 


Ist also die normale Kohlensäurebildung von 100 Gr. Kör- 
persubstanz eines Kaninchens gleich 1, so ist sie, wenn die 
Muskeln des Thieres ruhen, durchschnittlich nur noch 0:65. 

Weit grösser zeigt sich die Depression des Lebensprocesses, 
wenn nach der Lähmung der Muskulatur die Körperwärme ra- 
pide und continuirlich bis zur tödtlichen Grenze sinkt. 


Mittelwerthe der während zehn Minuten aus den Lungen von 
Kaninchen abgegebenen Kohlensäuremengen in ein und 
derselben Umgebung: 


Gr. 
ee ee 
Körpergewicht: « - . . .... 706°0 736.0 | 1306°0 
Im normalen Zustand . . . . 0'046 0'074 0'091 


Nach der Trennung des Rücken- 
MMATKOS NERV nn. u 


0°008 00173 0'016 
Auf 100'0 Gr. der Thiere berechnet: 


Im normalen Zustand . . .. | 0:0065 


0:0094 | 00070 
Nach der Lähmung . . . . . Ä 0:0011 


0'0022 | 0:0012 


Verhältniss 1:02 1:02 1:02 


ER 2. A 
A ER 2 
A 
k 


Mechanische Prineipien der Homöothermie. 259 


Vollkommene Lähmung der Muskulatur setzt demnach die 
Kohlensäurebildung, also die Energie der Lebensprocesse, mehr 
als dreimal so schnell herab, als die einfache Ruhe der Muskeln. 

Vergleicht man die Grösse des durch die Störung der 
Muskelthätigkeit veranlassten Temperaturabfalls der Ver- 
suchsthiere mit derjenigen der durch dieselbe Störung herbei- 
geführten Abnahme ihrer Kohlensäureproduction, so findet man 
das auffallende Resultat, dass während der einfachen Muskel- 
ruhe die Temperatur der Thiere nur im Mittel um 2° C.,') 
die Kohlensäurebildung dagegen fast um die Hälfte der nor- 
malen sinkt, und dass während der Muskellähmung die 
Temperatur noch um das Doppelte,!) die Menge der Kohlen- 
säure aber um das Dreifache des während der Ruhe stattfin- 
denden Abfalls kleiner wird. Die hohe Progression, in weicher 
die Kohlensäurebildung im Verhältniss zur Temperatur sich 
vermindert, muss einigermaassen auffallen. Sie findet indessen 
ungezwungen ihre Erklärung darin, dass für das Sinken der 
Kohlensäure unter den angeführten Verhältnissen gleichzeitig 
zwei Ursachen thätig sind, für das der Körpertemperatur 
aber nur eine. Wenn die Muskeln in ihrer Function ge- 
stört werden, nehmen die Oxydationsprozesse in ihrer Substanz 
ab?) und mitihnen natürlich auch deren Producte, Kohlensäure 
und Wärme. Diese Abnahme wird die zweite Ursache für eine 
Verminderung der Kohlensäurebildung. Denn sie setzt die Kör- 
pertemperatur und damit zugleich die Dissociationen im Orga- 
nismus herab, deren Product wiederum die Kohlensäure, aber 
nicht mehr die Wärme ist. Denn bei der Dissociation wird 
nicht Wärme frei, sondern Wärme latent. 


ll. Wärmeretention, 


Wie sehr auch die Wärmegrössen wechseln mögen, welche 


1) Die Analogien zum Dulong-Petit’schen Gesetz, a. a. O., 
SL17. 

2) Sadler: Ueber den Blutstrom in den ruhenden, verkürzten 
und ermüdeten Muskeln des lebenden Thieres. Berichte der Kgl. 
Sächs. Gesellsch. der Wissenschaften zu Leipzig. Math.-phys. Classe, 
Bd. XXI, 1869. S. 189, 

11% 


260 A. Adamkiewicz: 


der aus allen Zellen des Thierlebens gleichsam hervorrieselnde 
Wärmestrom bei den einzelnen in ihren Dimensionen so sehr 
verschiedenen Individuen an die Umgebung abführen mag; — 
die Wärmequellen, welche die Thätigkeit der Muskulatur nach 
Bedürfniss belebt, erweisen sich als wichtige Compensatoren, 
welche ihm im ganzen Reich der höheren Thiere ein fast un- 
abänderlich gleiches Niveau ertheilt. Denn alle diese Thiere 
haben eine Körpertemperatur, die nur innerhalb enger Gren- 
zen, kaum dreier Grade, um die mittlere Temperaturhöhe von 
37° Cels. schwankt. 

Durch den Reichthum dieser Zuflüsse und das Quantum 
von Wärme, das sie repräsentiren, wird jedoch der absolute 
Höhestand jenes Stromes nicht allein bestimmt. 

Es beherrscht ihn vor Allem der Umstand, dass die Wärme, 
indem sie aus den innersten Räumen des Körpers durch die 
einzelnen Schichten desselben zur Umgebung abfliesst, kurz vor 
ihrer Mündung in das Gebiet der Muskulatur eintritt, deren 
mächtige, an Masse fast die Hälfte des gesammten Körpers be- 
tragende Lage, jene innersten Räume von der peripherischen 
Bedeutung des Körpers wie eine isolirende Schicht trennt. 

In dieser Schicht halten die selbständigen und hohen, 
durch den Reichthum der hier vorhandenen Wärmequellen er- 
zeugten Temperaturen den Strom gleich einer Schleuse auf, 
die ihn am Abfliessen verhindert. 

Daher kommt es, dass die Temperaturen des Thierkörpers 
vom Mittelpunkt bis zur Peripherie nicht in einer stetig sin- 
kenden Curve abfallen, wie die Temperaturen einer homogenen 
Kugel, die die Wärme eines central gelegenen Herdes durch 
Vorgänge einfacher Leitung der kälteren Umgebung mittheilt. 
Sondern dort, wo die Muskulatur einem Gehäuse gleich den 
Lebensapparat umschliesst und ihn von der äussersten Bedecküng 
trennt, hört die Continuität des Temperaturabfalls auf und geht 
in ein jähes Sinken der Temperaturen über, das durch die 
äusserste Zone, die Haut, mit grosser Abschüssigkeit zur Peri- 
pherie statt hat. 

Nun wird die Herrschaft leicht verständlich, welche die 
Muskulatur über die Temperaturen des inneren Körpers ausübt. 


a PIAN, IN 
ag! 


Mechanische Prineipien der Homöothermie. 261 


Erweisen sich doch ihre physiologischen Leistungen, indem sie 
die Wärmequellen im Muskel beleben und dadurch die Tem- 
peraturen des Muskels modifieiren, als regulirende Mächte, die 
gleichsam den Stand der Schleuse und damit das Niveau der 
von ihr aufgehaltenen Wärmefluten bestimmen. 

Durch eine solche Einrichtung wird gleichzeitig eine sinn- 
reiche Ersparniss physiologischer Arbeit erzielt. Da die 
peripherischen Wärmeherde die Temperaturen des inneren 
Körpers beherrschen!) und da diese sich jenen nach physi- 
kalischen Regeln accommodiren, so hat der Organismus in ge- 
gebenen Fällen immer nur nöthig, die Temperaturen der Mus- 
kulatur zu modifieiren, um mit ihnen auch die des ganzen Kör- 
pers mittelbar zu verändern. Da die Muskulatur 45 pCt. des 
gesammten Körpers beträgt und nur sie erwärmt oder abgekühlt 
zu werden braucht, damit der ganze übrige Körper dieselben 
Aenderungen seiner Temperatur erfahre, so erreicht der Orga- 
nismus vermöge jener Rinrichtungen mit 45 pCt. derjenigen 
Wärmequantitäten, welche ohne dieselben nöthig gewesen wä- 
ren, die erforderlichen Effecte. 

Indem nun aber die Muskulatur die im Innern des Kör- 
pers entstehende Wärme am freien Abfliessen verhindert und 
indem sie sie zwingt, sich zu sammeln, bis sie zur Höhe ihrer 
eigenen Temperaturgrenze emporgestiegen ist; — bringt sie das 
Niveau des Stromes an allen Punkten seines Verlaufes dem 
seiner central gelegenen Quellen bis auf wenige Zehntelgrade 
C.?2) nahe. Dadurch wird die Spannungsdifferenz der Wärme 
im Verlauf des Körperradius sehr klein, und die Strömungs- 
geschwindigkeit derselben, die von jener Differenz abhängt, 
sehr gering. Das vor Allem ist der Grund, weshalb die Wärme 
innerhalb der Körpergewebe mit einer gewissen majestätischen 
Ruhe und Langsamkeit sich fortpflanzt und dadurch wiederum 
wird es bewirkt, dass der Wärmestrom das zarte Getriebe des 
Körpermechanismus ungefährdet im Gang erhält, während es 
jeder rauheren Gewalt unmittelbar unterläge, 


1) Die Analogien zum Dulong-Petit’schen Gesetz, a. a. O., 
S. 118 fi. 
2) Ebendas. S. 111, 


262 A. Adamkiewicz: e 


Der mächtige Wärmestrom, der so belebend durch die Ge- 
webe rinnt, würde aber in jedem Augenblick unvermeidlich 
solche Gewalten zertrümmernder Fluten entsenden, wo die 
Schwankungen ihn erreichten, welche die ale der Um- 
gebung fast ununterbrochen erleidet. H 

Aber sie erreichen sie unter gewöhnlichen Verhältnissen 
nicht. An der Muskulatur erlahmt die Kraft ihrer Wellen, die 
sich nur durch die äussere Zone noch Bahn brechen. Die Mus- 
kulatur ist vor diesen Temperaturschwankungen ihres äusseren 
Nachbars durch ihr Unvermögen, Wärme zu leiten, geschützt. 
Die Schlechtigkeit ihres Leitungsvermögens ist so wunderbar 
gross, dass sie selbst die bekannte Unfähigkeit des Wassers, 
Wärme zu leiten, noch um mehr als das Doppelte übertrifft.!) 
Besässe das Eis das Wärmeleitungsvermögen des Muskels, 
dann würde sich die Eisbildung in unserer Zone bei jeder 
Temperatur der Umgebung um das Siebenfache des Zeitraumes 
verzögern, in welchem sie sich unter den gegenwärtigen Ver- 
hältnissen herstellt. Sie würde zwei und ein halbes Jahr eines 
ununterbrochenen Winters beanspruchen, um eine Mächtigkeit 
zu erlangen, zu der ihr jetzt der Zeitraum eines einzigen Win- 
ters genügt.?) 


il. Wärmeregulation. 


Auf solchen Einrichtungen ruht die Homöothermie. Erst 
wo die Ungunst der Bedingungen jene erschüttert, muss auch 
sie zusammensinken. 

Sind aber auch diese Einrichtungen nicht zu schwach, um 
als Stützen der Temperaturconstanz zu dienen, so sind sie 
doch zu gewaltig, um als strenge Regulatoren derselben zu 
gelten. Die absolute Gleichwärmigkeit der Thiere fordert eine 
absolute Gleichheit der in jedem Zeitraume gebildeten und ab- 
gegebenen Wärme. Die Wärmeabgabe ist von der Differenz 
der Temperaturen zwischen Körper und Umgebung abhängig 
und folgt also auch den kleinsten Aenderungen, welche die 


1) A. Adamkiewicz: Die Wärmeleitung des Muskels. Dies 
Archiv, 1875. S. 255. 
2) Ebendas. S. 257. 


Mechanische Princeipien der Homöothermie. 263 


Umgebungstemperatur erfährt. Wäre die Anpassung der Wär- 
mebildung an diese Aenderungen des Wärmeverlustes der re- 
gulirende Vorgang im Thierkörper, dann müsste man von den 
eben geschilderten Einrichtungen erwarten dürfen, dass auch 
sie als Regulatoren minutiösen Aenderungen ihrer Wirkung 
fähig wären. 

Es liegt aber der Wirkung jeder grossen Kraft fern, das 
Maass subtiler Bewegungen einzuhalten und die Forderungen 
eines prompten Eiffectes zu erfüllen. Auch der Organismus 
kann nicht mit Hebel und Brechstangen operiren, wenn er den 
feinen Mechanismus seines zarten Uhrwerks einstellt. 

Modificationen der Wärmebildung durch Ernäh- 
rung und Muskelbewegung können daher dem Thier 
nur die Hülfsmittel der gröberen Einstellung seiner 
Temperatur sein. Wie sollte ein Wärmeherd als Regulator 
wirken, auf dem, wie es bei den Muskeln der Fall ist, zu 
allen Zeiten mehr als die Hälfte der Gesammtwärme des Or- 
ganismus entsteht und der beispielsweise bei einem Menschen 
von 82 Kilogr. Körpergewicht stündlich 57000 Calorien bildet? 
Es sind andere Einrichtungen als Regulatoren der Wärme thä- 
tig, solche, die sich den Bedürfnissen entsprechend abzustufen 
vermögen. 

Wenn ein Thier gezwungen ist, sich gegen den Wechsel 
der Temperaturen in der Umgebung zu vertheidigen, dann sucht 
es seine Oberfläche zu ändern. Es streckt sich aus oder es 
kauert sich zusammen, je nachdem es seine Wärmeabgabe zu 
vergrössern oder zu verringern den Trieb fühlt. Der Mensch 
kommt durch die Art der Kleidung denselben Zwecken zu 
Hülfe und macht die Natur des Stoffes, selbst dessen Farbe 
den strengeren Anforderungen der Regulation dienstbar. 

Damit deuten die Wesen auf natürliche Einrichtungen hin, 
die durch Aenderungen der Wärmeabgabe regulirend wirken 
und die sie nur instinetiv unterstützen. Ist es doch eine cha- 
rakteristische Eigenthümlichkeit gerade der Instincte, dass sie 
nicht bewussten Bedürfnissen des physischen Lebens, sondern 
unbewussten Zwecken der Körpermechanismen dienen. 


264 A. Adamkiewicz: 


1. Rolle des Kreislaufs. 


Hier ist es der Kreislauf des Blutes, dessen Aufgaben zu 
lösen sie helfen. Seitdem wir wissen, dass die Oxydations- 
processe nicht im Blut, sondern innerhalb der Gewebe statt- 
finden, seitdem ferner Pflüger!) darauf hingewiesen hat, dass 
uns die Natur auch in dem Schauspiel der thierischen Phos- 
phorescenz, die nichts weiter als ein sichtbarer Oxydations- 
process der Organismen sei, „ein Beispiel gegeben habe, zu 
zeigen, wo die Fackel brennt, die wir Leben nennen; — dass 
die Organe es seien, also die Zellen und nicht das Blut, welche 
leuchten“: seitdem ist es zur Thatsache geworden, dass von 
jenen Aufgaben ein bedeutender Theil der Wärmeregulirung 
gehört. Das Blut ist nur ein Vehikel, — für das Brennmate- 
rial, das es den Geweben zuführt und für die Producte der 
Verbrennung, die es aus den Herden zurückholt. Ueberall im 
Körper ist das System der Capillaren der Ort der Uebertragung. 
Und weil die Wärme eins dieser Producte ist, die das Blut 
aus den Herden erhält, — so nimmt das Blut stets eine höhere 
Temperatur an, während es ein System von Capillaren durchsetzt. 

So lange das Blut im Innern des Körpers strömt, findet 
es überall Orte, die ihm seine Temperaturbürde vergrössern. 
Noch während es aus den innersten Räumen in die Muskulatur 
tritt und in zahllosen Canälen dieselbe durchzieht, erfährt ihre 
Wärme einen starken Zuwachs, besonders dann, wenn Thätig- 
keit der Muskulatur hier die Wärmeherde lebhafter angefacht 
hat. 

Gelangt das Blut durch die Muskulatur in die äusserste 
Zone, die Haut, so hat es den Hafen erreicht, in dem es sich 
seiner Bürde wieder entledist. Schon in den oberflächlichsten 
Schichten der Muskulatur, bis wohin die Einflüsse der Ober- 
flächenabkühlung reichen, beginnt die Temperatur der Gewebe 
unter das Niveau derjenigen des Blutes zu sinken.?) Was also 


1) A.a. 0. S. 296. 
2) Koerner: Beiträge zur Temperaturtopographie des Säugethier- 
körpers. In.-Diss. Breslau 1871. S. 62. 


» Mechanische Principien der Homöothermie. 265 


an Wärme das Blut jenseit und innerhalb der Muskulatur auf- 
genommen hat, das giebt es diesseits derselben an das Gewebe 
der Peripherie zum Theil wieder ab. So beugt es dort den 
Gefahren der Wärmestauung in einem von Muskulatur einge- 
schlossenen Raume vor und hier den Gefahren zu grossen 
.Wärmeverlustes, den die unmittelbare Nachbarschaft der kalten 
Umgebung verschulden könnte. 

Von der Menge von Wärme, die auf diese Weise dem 
Körperinnern entzogen und der Körperperipherie zugeführt wird, 
hängt der Grad des Temperaturausgleiches zwischen beıden 
Theilen und der absolute Stand ihrer Temperaturen ab. Und da 
eben das Blut der Träger der Wärme ist, so ist es leicht be- 
greiflich, dass die Lebhaftigkeit seines Verkehrs zwischen jenen 
sowohl den einen wie den andern dieser Factoren beherrschen 
müsse. 

Daher steigt die Temperatur des Körperinnern und sinkt 
die Temperatur der Peripherie, wenn der Blutzufluss zur Pe- 
ripherie herabgesetzt oder unterbrochen ist. So erklärt sich 
die Temperaturzunahme der inneren Organe nach Verschluss 
der Aorta und nach der Unterbrechung des ganzen Kreislaufs 
kurz nach dem Tode.!) Wenn der Blutzufluss zu den ober- 
flächlichen Schichten lebhaft und stark wird, muss für die Tem- 
peraturen des Körpers der entgegengesetzte Erfolg eintreten. 
— Daher die Temperaturerhöhung in Gebieten der Haut, in 
denen die zugehörigen vasomotorischen Nerven durchschnitten 
sind oder zu denen aus andern Gründen Fluxionen des Blutes 
stattfinden.) 

Was demnach den Kreislauf modificirt, muss auch verän- 
dernd einwirken auf die Wärmevertheilung des Körpers. 

Auch auf diese Verhältnisse kann die Muskulatur nicht 
ohne Einfluss sein, da sie die Pforte darstellt, durch welche 
die Strombahnen treten, bevor sie zur Peripherie gelangen. 


1) Heidenhain im Archiv f. die ges. Physiol. 1870. S.522—526. 

2) Claude Bernard: Comptes rendus. LV.p. 228. 

Kussmaul und Tenner in Moleschott’s Untersuchungen zur- 
Naturlehre des Menschen. 1857. S. 9ı ff. u.s. w. 


266 A. Adamkiewicz: 


Bei jeder Contraction muss sie den Abfluss des Blutes zur 
Oberfläche verzögern. Weniger deshalb, weil sie bei jeder Zu- 
sammenziehung mechanisch die sie durchsetzenden Blutbahnen 
verengt, sondern vielmehr aus dem Grunde, weil es eine phy- 
siologische Eigenthümlichkeit der Contraction ist, dass sie den 
Blutzufluss zur Muskulatur steigert.) Wenn der Blutzufluss 
zu den Muskeln oder den inneren Organen grösser wird oder der 
 Blutabfluss aus ihnen abnimmt, so muss die Bluteirculation in 
der Peripherie sinken und hier einen Abfall der Temperaturen 
bewirken, bis die durch die Contraction und die vermehrte 
Circulation in den Muskeln bewirkte Steigerung der Oxydations- 
processe innerhalb derselben auch die Temperaturabnahme der 
Nachbarschaft durch Wärmemittheilung wieder compensirt. Das 
ist der Grund, weshalb auch Hankel?) thermoelectrisch fest- 
stellen konnte, dass in der Haut über krampfhaft contrahirten 
‚ Muskeln eine Temperaturzunahme immer erst einem primären 
Abfall folgt.) 

Innerhalb der Capillaren ist der grösste Theil des gesamm- 
ten Blutes angehäuft, weil die Strombahn mit der Theilung 
der Gefässe wächst. Alle Momente, welche die Capacität des 
Capillarraumes verändern, müssen daher vor allen Dingen 
Blut- und Wärmevertheilung zu beeinflussen im Stande sein. 
Die Contractilität der kleinsten Gefässe ist aber nächst der 
directen Nervenwirkung zumeist unterthan den Temperaturen. 
Es ist eine bekannte Eigenschaft des Capillarrohres, durch 
Wärme gedehnt und durch Kälte zusammengezogen zu werden. 
Hohe Temperaturen, die die Capillaren treffen, führen daher 
eine Anhäufung derselben mit Blut, und niedrige Temperaturen 
wieder eine Entleerung der Blutgefässe herbei, ganz abgesehen 
davon, dass Kälte die Strömungsgeschwindigkeit in engen wie 
in weiten Röhren an sich schon herabsetzt. 

Gerade im System der Capillaren findet nun aber, wie 
erwähnt, jede Art der Uebertragung vom Blut zu den Geweben 


1) Sadler: a.a. O. S. 189. 

Ranke: die Blutvertheilung der Organe. 
2) Archiv d. Heilkunde. XIV. Bd. 1873. S. 157. 
3) Vergl. auch Heidenhain a. a. 0. S. 563 ft. 


Mechanische Prineipien der Homöothermie. 267 


und umgekehrt statt. Die Capillaren der Peripherie können 
daher nur die Canäle sein, aus welchen die den inneren Or- 
ganen entzogene Wärme den oberflächlichen Schichten des Kör- 
pers wieder zufliesst. Und da die Capacität des Capillarrau- 
mes die Blut- und Wärmevertheilung beherrscht, so muss von 
dem Contractionszustand der peripherischen Capillaren das 
Verhältniss der Temperaturen zwischen dem Innern des Kör- 
pers und seiner Peripherie abhängen. 

Die Capillaren der Peripherie unterliegen aber wie die 
oberflächlichen Schichten des Körpers selbst allen Temperatur- 
schwankungen der Umgebung. 

Sie ziehen sich also zusammen und theilen weniger Wärme, 
als gewöhnlich, der Oberfläche mit, wenn es in der Umgebung 
kalt wird. Sie dehnen sich aus und führen der Oberfläche 
mehr Wärme zu, als gewöhnlich, wenn die Umgebung hohe 
Temperaturen annimmt. Sie wirken also dem abkühlenden 
Einfluss niedriger und dem erwärmenden Einfluss hoher Umge- 
bungstemperaturen auf den Thierkörper direct entgegen und 
suchen so die Angriffe der Temperaturschwankungen in der 
Umgebung auf die Temperaturconstanz des thierischen Körpers 
zu beseitigen. 

Solche Thätigkeitsäusserungen der Capillaren sind natür- 
liche Vorgänge der Regulation. Sie allein können den Anfor- 
derungen an eine wirkliche Regulirung genügen. Denn sie 
arbeiten den Niveauschwankungen prompt entgegen, denen 
zu verfallen der allgemeine Körperwärmestrom ohne sie stets 
Gefahr laufen würde, und sie stufen sich auf das Feinste ab, 
so weit die grosse Empfindlichkeit der vitalen Capillaren reicht. 

Jetzt werden jene Schwankungen des allgemeinen Körper- 
wärmestromes gegenstandslos. 

Treffen sie doch nur den mündenden Theil dieses Stro- 
mes, der diesseits der Muskulatur im Bereich der peripheri- 
schen Bedeckungen des Körpers fliesst, dort, wo die Capillaren 
ihre regulirende Thätigkeit entfalten. Freilich ändert dieser 
Theil des Stromes in denselben Grenzen die Steilheit seines 
Gefälles, wie die äusserste Zone des Körpers ihre Temperatu- 
ren mit denen der Umgebung wechselt. Es nimmt jene Steil- 


268 A. Adamkiewicz: 


heit begreiflicherweise zu, wenn die Umgebung kalt wird und 
ab, wenn letztere warm wird. Aber diese Aenderungen hören 
nun auf, Ausdruck der Schnelligkeit zu sein, mit welcher der 
Strom seiner Mündung zueilt und Wärmegrössen an die Um- 
gebung abführt. Denn er gleicht nur noch dem Wasserfall, 
der ohne Einfluss auf den Wasserstand hinter der Schleuse 
gerade bei geringer Steilheit seines Gefälles, wenn er in 
weitem Bogen über den Rand der Schleuse zur Tiefe herabeilt, 
mächtige Fluten mit sich fortreisst, weil ihn reiche Zuflüsse 
aus geöffneten kleinen Pforten des Wasserthores — den dilatir- 
ten Blutgefässen — unterstützen, — und der bei steilem 
Gefälle arm längs der Wand der Schleuse herabsinkt, weil 
die kleinen Pforten derselben — die contrahirten Blutgefässe — 
. wieder geschlossen sind und die Zuflüsse stocken, die ihn frü- 
her verstärkt haben. 


2. Das Newton’sche Gesetz bei der Wärmeabgabe 
h der Thiere. 

« Es ist sehr bemerkenswerth, dass man bis jetzt nicht 
diese Vorgänge der Blutströmung, die Folgen der Temperatur- 
schwankungen an der Oberfläche des Körpers, sondern diejeni- 
gen Temperaturänderungen der Körperoberfläche selbst, welche 
durch jene Strömungsvorgänge an der Peripherie erst hervor- 
gerufen werden sollen, als die eigentlichen und einzigen Regu- 
latoren der Wärmebeständigkeit ansieht. 

Bergmann,') der zuerst die Circulationsänderungen in 
der Peripherie aus den Schwankungen der Umgebungstempera- 
tur richtig abgeleitet hat, ist der Erste gewesen, der jene Auf- 
fassung von der Regulation ausgesprochen hat. 

Wenn Wärme auf die Oberfläche des Körpers einwirkt, N 
so schliesst er —, und Dilatation der Blutcapillaren in Folge 
dessen sich einstellt; — dann muss die Blutströmung zur Pe- 
ripherie grösser werden und eine Zunahme ihrer Temperatur 
veranlassen. Kälte, die die Körperoberfläche trifft, bringt da- 
gegen die kleinen Blutgefässe derselben zur Contraction und 


1) Dies Archiv 1845. S. 308. 


ee ar 2 


Mechanische Prineipien der Homöothermie. 269 


setzt die Temperatur der Haut herab, indem sie den Blutzufluss 
zu ihr vermindert. 

„Diese Wechsel müssen als Regulatoren der Wärmever- 
luste der inneren Organe betrachtet werden. * 

Denn eine warme Haut gebe mehr Wärme an die Umge- 
bung ab als eine kalte und eine kalte wieder weniger als eine 
warme. Die Gefahr, dass eine warme Umgebung dem Körper 
zu wenig und eine kalte zu viel Wärme entziehen würde, 
müsse so durch Vermittelung der Bluteirculation gemindert 
werden, die die Haut bei warmer Umgebung warm und bei 
kalter Umgebung kalt machen hilft. 

Diese Schlussfolgerung ist bisher ganz allgemein adoptirt 
worden. Selbst die besten Forscher können in den durch die 
Temperaturwechsel hervorgerufenen Vorgängen der peripheri- 
schen Circulation nur in so fern einen regulirenden Einfluss 
erkennen, als diese Vorgänge die Temperaturen der 
Körperoberfläche im Sinn der sie veranlassenden 
Wärmeänderungen der Umgebung modifieiren.') 

Es kann aber keine Frage sein, dass diese Auffassung nur 
in sehr beschränktem Sinn gelten kann. Erwägt man die 
unmittelbare Wirkung von Temperaturschwankungen an 
der Körperoberfläche auf den allgemeinen Wärmestrom des 
Körpers, wie sie am Schluss des vorigen Abschnittes angedeutet 
worden ist, so wird man finden, dass sie ganz natürliche Feinde 
der Temperaturconstanz sind. Gerade dadurch, dass die 
geschilderten Vorgänge der Bluteireulation an der Peripherie, 
die diesen Schwankungen folgen, dem Effect derselben entgegen 
wirken, sind diese im Dienst der Wärmebeständigkeit thätig. 
Soweit sie thatsächlich die Temperaturänderungen der 
Peripherie unterstützen, die die Temperaturschwankungen der 
Umgebung veranlassen, schädigen sie im Princip ihren re- 
gulatorischen Charakter. Aber es geschieht dies in einer für 


1) Vergl. Liebermeister: Handbuch der Pathol. und Therap. 
des Fiebers. Lpzg. 1875. S. 200. 

Winternitz: Die Bedeutung der Hautfunction für die Körper- 
temperatur und die Wärmeregulation. Separatabdruck aus den Wiener 
med. Jahrb. 1875. S. 4 u. 5. 


ae ER Sr, 1 A 


270 A. Adamkiewicz: 


ihren Endeffect durchaus bedeutungslosen Weise. Denn die 
absoluten Temperaturänderungen der Haut, die sie hervorbringen, 
sind im Verhältniss zu denen, durch welche sie selbst erzeugt 
worden sind, so gering,!) dass sie die durch letztere bedingten 
Gefahren für die Temperaturconstanz kaum zu steigern ver- 
mögen. 

Man hat es ganz vergessen, dass principiell für die 
Temperatur des Körperinneren weit wichtiger ist das Verhält- 
niss dieser Temperatur zu der der Körperoberfläche, als das 
Verhältniss der Temperaturen der Körperoberfläche zu der der 
Umgebung. Denn es ist selbstverständlich, dass Temperatur- 
schwankungen am Körper weit directer dessen Gesammttempe- 
ratur beeinflussen, als Schwankungen in der Temperatur der 
Umgebung. 

Jene Temperaturänderungen der peripherischen Körper- 
schichten bleiben nur in Folge accessorischer, im lebenden 
Organismus gebotener Momente thatsächlich ohne Wirkung. 
Schlechte Wärmeleitungsfähigkeit der Muskulatur vertheidigt 
die Temperaturbeständigkeit des Körperinneren gegen die Un- 
gunst ihrer Einflüsse, und antagonistische Vorgänge der Circu- 
lation schwächen ihre Effecte. 

Aber es kann anderseits nicht übersehen werden, — und 
erst hier kommt die alte Bergmann’sche Auffassung allerdings 
in sehr modifieirter Form, zur Geltung —, dass dieser durch 
accessorische Momente bedingte Schutz nur so lange ausreichen 
kann, als die im Innern des Körpers gebildete Wärmemenge 
jederzeit den Körper durch dessen Oberfläche wieder ganz und 
vollkommen verlässt. 

Erst für die Verwirklichung dieser Grundbedingung der 
Temperaturconstanz wird das Verhältniss der Temperaturen 
an der Körperperipherie und in der Umgebung von Wichtigkeit. 

Indem die Haut den Temperaturschwankungen der Um- 
gebung thatsächlich unterliegt und ihnen folgt, wirkt sie den 
für die Wärmebeständigkeit des gesammten Körpers gefährlichen 
Modificationen der Wärmeabgabe entgegen. Und solche 


1) Vergl. weiter unten. 


Mechanische Principien der Homöothermie. a 


Modificationen sind bei Schwankungen der Umgebungstempe- 
ratur unvermeidlich, da die Wärmeabgabe des Körpers 
von der Temperaturdifferenz zwischen seiner Ober- 
fläche und der Umgebung abhängt und dem Newton’- 
schen Gesetz zu Folge dieser Differenz direct pro- 
portional ist. - 

Niemals können indessen jene Temperaturänderungen der 
Haut die erwähnten Alterationen der Wärmeabgabe compen- 
siren. Solche Compensationen würden erfordern, dass jede 
Temperaturänderung in der Umgebung stets auch eine ihr an 
Grösse vollkommen gleichkommende Temperaturänderung der 
Haut bewirke. Denn nur dann bliebe die Temperaturdifferenz 
zwischen Haut und Umgebung, also auch die Wärmeabgabe 
die normale. Wäre das der Fall, dann müsste die mittlere 
Temperatnr der lebendigen Haut von 35° auf 45° sich erheben, 
wenn die mittlere Temperatur unserer Umgebung von 15 Graden 
im Sommer auf +25° steigt und sie müsste bis auf 5° unter 
Null sinken, wenn sich im Winter die Umgebung einmal auf 
— 25° abgekühlt hat. Noch viel weniger ist daher die An- 
nahme gestattet, die durch die warm werdende Umgebung sich 
erwärmende Haut gebe mehr und die durch die kalt werdende 
Umgebung sich abkühlende Haut gebe weniger Wärme an die 
Umgebung ab, als die normal temperirte Haut an die normale 
Umgebung. Denn solche Wirkungen würden die paradoxe 
Voraussetzung involviren, dass die durch die Temperatur- 
schwankungen der Umgebung bewirkten Temperaturwechsel 
der Haut jenen voraneilen. Im Uebrigen würde dadurch eine 
ganz unnöthige Uebercompensation der gestörten Wärmeabgabe 
herbeigeführt werden müssen. 

Hier ist nur von den groben Temperaturschwankungen 
der Haut die Rede gewesen, welche die Umgebung unmittelbar 
veranlasst. 

Was man jedoch seit Bergmann mit besonderem Nach- 
druck betont, das ist nicht die compensatorische Wirkung 
dieser groben Schwankungen, sondern die derjenigen Tempe- 
raturänderungen der Haut, welche durch die Strömungswechsel 
des Blutes an der Peripherie hervorgerufen werden. 


272 A. Adamkiewiez: 


Da diese Aenderungen sich im Sinn jener Schwankungen 
vollziehen, ist es in der That nothwendig, dass sie deren com- 
pensatorische Wirkung unterstützen. In wie ausserordentlich 
geringem Grade sie indess das zu vollbringen im Stande sind, 
beweist die Thatsache hinreicherd, das unsere Umgebung 
zwischen +30 und -30°, also innerhalb 60°, schwankt; das 
höchste Maass einer nur künstlich herbeizuführenden Strömungs- 
alteration des Blutes in der Peripherie, soweit sie nicht”bis 
zur Erzeugung pathologischer Processe in den Geweben aus- 


gedehnt wird, dagegen die Temperaturen der Haut niemals, 


über die Grenzen von etwa 4° hinaus verrückt. 

Es ist demnach Thatsache, dass die Temperaturänderungen 
der Haut, die sich aus den groben, durch die Wechsel der 
Umgebungstemperatur direct hervorgerufenen Schwankungen 
und den kleineren Temperaturvariationen summiren, welche 
den durch jene Schwankungen erzeugten Circulationsvariationen 
des Blutes folgen, kleiner sind, als die primären Temperatur- 
änderungen der Umgebung. Sie können deshalb eine Compen- 
sation der durch letztere angeregten Störungen der normalen 
Wärmeabgabe unterstützen aber nicht vollenden. 

Eine Vervollständigung dieser Compensation wird durch 
andere Wirkungen der Blutströmungen in der Peripherie in- 
tendirt, die mehr als die vorigen den Charakter der Regulation 
tragen. Es sind das diejenigen Wirkungen, welche 
das an der Peripherie strömende Blut auf das Ver- 
mögen der Wärmeemission der Haut ausübt. 

Dieser Einfluss der Circulation erklärt sich aus dem Um- 
stand, dass die Oberfläche des in der Haut kreisenden Blutes 
als ein wichtiger Factor der Wärmeabgabe fungirt und dass 
diese Oberfläche es ist, welche durch den Wechsel der Umge- 
bungstemperaturen in ihrer Grösse modifieirt wird. 

Nur in denjenigen Fällen, wo nicht die Temperatur der 
Umgebung schwankt und die des Körpers constant ist, sondern 
wo umgekehrt, die Temperatur des Körpers sich ändert, die 
der Umgebung aber beständig bleibt, erweist sich das Verhält- 


Vergl. weiter unten. 


rule ee RE a en 


Mechanische Prineipien der Homöothermie. 2373 


niss der Temperaturen der Körperoberfläche und der Umgebung 
für die Wärmeabgabe und also in der Folge auch für die 
Temperatur des gesammten Körpers allein als unmittelbar be- 
stimmend. Wenn die Körperwärme eines Thieres nach Störung 
oder Unterbrechung seiner Muskelthätigkeit fällt, so wird dieser 
Abfall mit zunehmender Dauer derselben für dieselben Zeiten 
continuirlich kleiner, weil die Temperatur des Thieres sich 
derjenigen der Umgebung beständig nähert und die für die 
Wärmeabgabe desselben maassgebende Temperaturdifferenz 
zwischen beiden immer mehr und mehr abnimmt. So erklärt 
sich die eigenthümliche Form der Curve des „physiologischen 
Temperaturabfalles“.') — So erklärt sich ferner die Thatsache, 
dass ein kleines Thier in sehr kalter Umgebung einen tödtlichen 
Temperaturabfall von 20° nur in einem kleinen Bruchtheil der- 
jenigen Zeit erfährt, welche nöthig ist, damit die letzten Wärme- 
reste von 1 bis 2° aus dem todten Körper desselben Thieres 
in derselben Umgebung verschwinden. Walther,?) dem diese 
Erscheinung der verlangsamten Abkühlung der Thiere nach dem 
Tode aufgefallen ist, hat sie offenbar mit Unrecht als einzige 
Folge der Sistirung des Kreislaufes im todten Thier gedeutet. 
Diese kann nur geringen Antheil an jener Verlangsamung haben. 
Er meint, letztere stellte sich im todten Thier aus demselben 
Grund ein, weshalb ein glühendes Eisen einer ruhenden 
Wassermasse nur 'sehr langsam, einer bewegten dagegen sehr 
schnell seine Wärme mittheile. — 

Der Vollständigkeit wegen sei hier noch erwähnt, dass 
auch die Beobachtung Jürgensen’s,°) die Dauer der Nach- 
wirkung eines kalten Bades sei bei der Nacht stets grösser, 
als bei Tage, sich durch das erwähnte physikalische Gesetz 
hinreichend erklären lässt. Denn die Nachttemperatur eines 
Menschen ist im Mittel niedriger als seine Tagestemperatur. 
Der hier für die Erwärmung des durch das Bad abgekühlten 
Körpers maassgebende Unterschied der Temperaturen zwischen 
ihm und seiner disponibeln Wärmequelle ist also auch bei Nacht 


1) Die Analogien zum Dulong-Petit’schen Gesetz, A.a.0.S.90. 
2) Centralblatt f. d. med. Wissenschft. 1864. S. 801. 


3) Die Körperwärme des gesunden Menschen. Lpzg. 1373. 
Reichert’s u. da Bois-Reymond’s Archiv 1876. 13 


274 A. Adamkiewiez: 


kleiner als am Tage, und kann daher dort nicht so schnell 
wirken, als hier. — 


3. Die Abweichung der thierischen Wärmeabgabe 
von der Newton’schen Öurve. 

Ist die mit der Circulation wechselnde Grösse der von der 
Körperoberfläche abgegebenen Wärme in der That ein ansehn- 
licher Factor der Wärmeregulirung, dann muss das Newton’- 
sche Gesetz bei der Wärmeabgabe der Menschen und der Thiere 
eine interessante Modification erfahren. — 

Denn nähert sich die Temperatur der Umgebung derjenigen 
der Körperoberfläche und wächst so bei abnehmender Temperatur- 
differenz beider der Blutzufluss zur Peripherie, dann vermehrt 
diese Circulationsbeschleunigung die Wärmeabgabe des Körpers, 
die wegen jener Abnahme der Temperaturdifferenz, also aus 
physikalischen Gründen, kleiner geworden wäre. Und wenn 
die Umgebung sich abkühlt und jene Differenz der Temperaturen 
zwischen Körper und Umgebung wächst, tritt der physikalischen 
Forderung einer erhöhten Wärmeabgabe von Seiten der Körper- 
oberfläche die physiologische Thatsache entgegen, dass der in 
seiner Stärke und Lebhaftigkeit gesunkene Blutstrom an der 
Peripherie die Wärmestrahlung der Körperoberfläche herabsetzt, 
da sich jetzt die wärmeabgehende Blutfläche verkleinert hat. 

Daher erfolgt dort die Wärmeabgabe schneller und hier 
langsamer, als den Temperaturdifferenzen einfach proportional. 
— Sie wird daher im ersten Fall grösser und im zweiten kleiner, 
als das Newton’sche Gesetz es vorschreibt und geht so aus 
einerlinearen in eine Öurvenfunction der Tempera- 
turdifferenzen über. — 

Einem ähnlichen Gesetz würden ungefähr die Wärmegrössen 
folgen, die ein auf constanter Wärmehöhe befindlicher Leslie’- 
scher Würfel einer Umgebung mit beständig sinkender Tempera- 
tur mittheilen möchte, wenn derselbe mit zunehmender Tempera- 
turdifferenz zwischen ihm und Umgebung eine allmählich ein- 
tretende Wandlung seiner ursprünglich rauhen und undichten 
Oberfläche in eine metallisch glatte und dichte erführe. 

Liebermeister!) hat jenen Einfluss der peripherischen 


1) Handbuch der Pathol. u. Therap. des Fiebers. S. 213. 


Mechanische Prineipien der Homöothermie. 375 


Circulationsverhältnisse auf die Wärmeabgabe als eine zwar 
theoretisch zu fordernde aber real nicht vorhandene Thatsache 
erklärt, da er bei der Wärmeabgabe des lebenden Körpers ‘an 
kalte Bäder eine Aenderung des Newton’schen Gesetzes nicht 
hat feststellen können. — v. Bärensprung!) hat dagegen die 
Variationen der Blutströmung an der Peripherie als Factoren 
von Bedeutung für die Wärmeabgabe des lebenden Körpers an- 
gesehen, verzweifelte aber an der Möglichkeit, dass für sie je 
würden absolute Werthe erhalten werden können, so wichtigsie auch 
für die Physiologie seien. — In neuester Zeit hat Winternitz?) 
den Versuch gemacht, solche Werthe festzustellen. Er hat zu 
dem Zweck die Schnelligkeit gemessen, mit welcher ein ge- 
schlossener Luftraum sich über einer bestimmten Hautpartie bei 
normaler und bei in mannigfaltiger Weise alterirter Circulation 
in derselben erwärmt. Leider gehen auch diese mühevollen und 
mit vieler Sorgfalt ausgeführten Messungen von der Voraussetzung 
aus, dass die absoluten Temperaturen der Haut ein Maass ab- 
geben für die regulatorische Wirkung der Circulation und geben 
deshalb nicht die hier gesuchten Resultate. — 

Es sind bisher nur wenig Methoden bekannt, die Wärme- 
abgabe verschiedener Oberflächen festzustellen. Leslie?) be- 
stimmte sie aus der Temperaturzunahme eines Thermometers so, 
dass er die mit Russ bedeckte Kugel des letzteren in den Brenn- 
punkt eines Hohlspiegels brachte, in dem er die von der zu 
untersuchenden Oberfläche ausgehenden Wärmestrahlen sich 
vereinigen liess. — Melloni*) benutzte zu demselben Zweck 
die Ablenkung einer Galvanometernadel, die mit einer in dem 
Leslie’schen Verfahren das Thermometer ersetzenden und nur 
einseitig bestrahlten Thermosäule in Verbindung stand. — Die 
Fernwirkung der Wärmestrahlen ist nicht nur von der Natur 
der strahlenden Oberfläche und dem Medium, in welchem 
sich die Wärmestrahlen ausbreiten, sondern vor Allem auch vor: 
der Temperaturdifferenz zwischen der wärmeabgebenden Ober- 


1) Dies Archiv 1852. S. 280. 

2) A. 2.0. 

3) Inquiry into the nature of heat. London 1804. 

4) Poggendorff’s Annal. Bd. XXXV. 1835. S. 385. 
18* 


276 A. Adamkievwicaz. 


fläche und dem die Wärme absorbirenden Körper abhängig. 
Daher giebt man vor jedem Vesuch, nachdem die messenden 
Instrumente die Temperaturen der Umgebung angenommen 
haben, den die Wärme ausstrahlenden Körpern künstlich 
Temperaturen, die zu denen der Umgebung in einem festen 
Verhältniss stehen. — Am lebenden Körper sind die Tempera- 
turen der strahlenden Oberfläche gegeben. Da diese Tempera- 
turen unter den verschiedenen Bedingungen der Circulation in 
der Haut noch innerhalb enger Grenzen wechseln, so musste 
die Brauchbarkeit der vorstehenden Methode für die Bestimmung 
der Wärmeemission von Seiten der Haut an der Schwierigkeit 
der Aufgabe scheitern, zu gegebenen Temperaturen und 
kleinen Variationen derselben stets die Messapparate in 
ein constantes Temperaturverhältniss zu setzen. Die Lösung 
dieser Aufgabe hätte überdies vor Fehlern nicht schützen können, 
die durch einen bei jeder neuen Temperatur der Haut und der 
Messinstrumente auch anders einwirkenden Einfluss der Um- 


gebungstemperatur auf letztere nothwendigerweise hätten herbei- 


geführt werden müssen. 

Auch die dritte überhaupt noch bekannte Methode!) zur 
Bestimmung der Wärmeemission, die sich vor den vorigen da- 
durch auszeichnet, dass sie für letztere absolute calorimetrische 
Werthe giebt, verbietet sich für den lebenden Körper deshalb 
von selbst, weil sie auf der Feststellung der Erkaltungs- 
geschwindigkeiten der strahlenden Körper beruht. — 

Somit blieb nichts übrig, als die Wahl eines neuen Ver- 
fahrens. — Dasselbe sollte das calorische Aequivalent der 
Capillarthätigkeit durch absolute Werthe ausdrücken und die 
Fehler vermeiden, die die Einflüsse der Umgebungstemperatur 
auf den messenden Apparat hätten mit sich bringen können. — 
Zu dem Zweck war es nöthig, die von einer bestimmten Haut- 
stelle unter allen Bedingungen ihrer Circulation abgegebene 
Wärme einem Körper von bekanntem Wasserwerth zu über- 
tragen, der unter allen Umständen leicht und schnell zur 
Temperatur der Haut in ein bestimmtes Verhältniss gesetzt 


1) Wüllner: Lehrbuch der Experimentalphysik. 2. Aufl. Bd. III. 
Leipzig. 1875. 8. 211. 


| 


Mechanische Prineipien der Homöothermie. TUT 


werden konnte und ferner einen Modus der Mittheilung der 
Wärme an dieses Calorimeter zu wählen, bei welchem die Um- 
gebung jeden Einfluss auf letzteres verlor, — 

Man sieht, dass die Erfüllung dieser Forderungen die 
„Wärmeemission“ zur Bestimmung jener Werthe zu verwenden 
widerrieth und auf die Benutzung der „Wärmeleitung“* direct 
hinwies. — Aber man erkennt auch, dass das nichts weniger, 
als einen praktischen Nachtheil bedeutet. Wärmestrahlung und 
Wärmeleitung sind nur verschiedene Bedingungen der Wärme- 
übertragung und können in ihren Effecten nur relativ ver- 
schieden sein, wenn bei ihnen Wärmequelle und der zu er- 
wärmende Körper absolut dieselben sind. — Und da gerade 
die Einflüsse, die sich bei der indirecten Uebertragung der 
Wärme auf die Erwärmung geltend machen, die Werthe der 
Wärmestrahlung relativ machen, so muss man sich im Princip 
absoluten Werthen nähern, wenn man bei directer Mittheilung 
der Wärme jene Einflüsse beseitigt. — 

Die Haut der Hohlhand wurde als wärmeabgebende Fläche 
benutzt. — Indem sie den zu erwärmenden Körper durch eine 
einfache Manipulation und vollkommen umschloss, konnte die 
'Wärmemittheilung an letzteren ohne Zeitverlust und ohne 
störende Einwirkung von Seiten der Umgebung geschehen. — 
Zur Erwärmung diente Wasser, — dessen geringe durch die 
Wahl des Ortes bestimmte Menge der Forderung eines auch 
für kleine Aenderungen in der Wärmeabgabe der Haut empfindli- 
chen Index in sehr erwünschter Weise entgegenkam. — 

Ich schloss das Wasser in einen kleinen, von der Hohl- 
hand leicht zu umfassenden Cylinder von Glas (Fig. I. Taf. 7a.) 
ein, der an messingnen Hülsen einen fixirten Boden (db) und 
einen abschraubbaren Deckel (a) ebenfalls von Glas trägt. In 
einer centralen, nach unten konisch sich verengenden Bohrung 
des letzteren ist ein in Zehntelgrade getheiltes Celsius’sches 
Thermometer eingeschliffen, dessen Spindel bis zur Mitte des 
Gefässes reicht.!) — Dasselbe hat eine Länge von 75 Cm. und 
einen Durchmesser von l’ö5Cm. Bei einer Temperatur von 


1) Den Apparat hat Hr. Mechaniker Rekoss in Königsberg nach 
meiner Angabe gefertigt. — 


278 A. Adamkiewicz, 


15° Cels. wiegt es mit Wasser gefüllt sammt Thermometer nur 
37-451 Gr., wovon 10,719Gr. auf den Inhalt kommen. Die 
specifische Wärme des Apparates beträgt nach dem Ergebniss 
mehrerer nach der Mischungsmethode ausgeführten Bestimmun- 
gen 0'118, — eine Grösse, die sich aus den Wärmecapacitäten 
des denselben zusammensetzenden Glases (0'194), des Messings 
(0'094) und des Quecksilbers (0'133) erklärt. Der ganze Appa- 
rat repräsentirt also mit seinem Inhalt nur einen Wasserwerth 
von 13'873 und stellt gewiss das kleinste Calorimeter dar, das 
je in Anwendung gekommen ist. — 


Methode der Messung. 


Jede Messung beginnt mit einer Temperaturbestimmung 
der Haut, deren Wärmeabgabe festgestellt werden soll. — Die 
feine cylindrische Spindel eines Geissler’schen Thermometer, 
das mit dem des Calorimeter genau verglichen worden ist, wird 
zu dem Zweck entweder von der Hohlhand oder von der 
zwischen Daumen und Zeigefinger befindlichen Interdigitalfalte 
umschlossen. Im letzteren Fall bleibt die Hand selbst während 
der Messung offen. Die schliesslichen Resultate der calori- 
metrischen Bestimmung zeigen sich von der Wahl des Ortes, 
an dem die Temperatur gemessen wird, vollkommen unabhängig. 
— Als wahre und verwerthbare Temperaturen der Haut können 
erst diejenigen angesehen werden, welche vom Thermometer 
wenigstens 3 bis 5 Minuten ununterbrochen angezeigt werden. 
Kommt eine solche Constanz aus irgend einem Grunde nicht 
zu Stande, so muss von dem Versuch überhaupt Abstand ge- 
nommen werden. — Gewöhnlich tritt sie bald nach kürzerer, 
bald nach längerer Zeit ein; macht aber jedenfalls die Temperatur- 
messung selbst zu dem mühsamsten und am meisten zeit- 
raubenden Theil des ganzen Versuchs. — Denn der ganze 
folgende Akt desselben hält sich nur innerhalb der Grenzen 
Einer Minute. — 

Seitlich und in unmittelbarer Nähe der Versuchsperson 
befindet sich das Calorimeter. -- Es ist an der Klemme eines 
Stativs so angebracht, dass es aus seinen Befestigungen mühelos 
und schnell gelöst werden kann. Etwas tiefer befindet sich an 


en 


Mechanische Prineipien der Homöothermie. 279 


einer zweiten Klemme desselben Stativs das Aetherreservoir 
eines Richardson’schen Zerstäubungsapparates, das mit seiner 
Canüle gegen das Calorimeter gerichtet ist. — Zum Zweck einer 
schnellen Verdunstung des Aethers erhält letzteres eine feine. 
Gasehülle, die im Augenblick der Application desselben an 
die Haut wieder abgestreift wird. Der durch einen Gummi- 
schlauch mit dem Reservoir in Verbindung stehende Ballon 
liegt unter dem Experimentirtisch und wird von dem Beo- 
bachter mit dem Fuss dirigirt, damit ihm die Hände zu den 
nöthigen Manipulationen frei bleiben. — Bei einiger Uebung 
gelingt es ihm leicht, während der Dauer der Temperaturbe- 
. stimmung in der Haut der Versuchsperson das Calorimeter durch 
Aetherverdunstung oder, wenn es nöthig ist, durch Erwärmung 
mit seiner eigenen Hand auf Temperaturen zu bringen, die zur 
Zeit der erreichten Temperaturconstanz in der Haut der für die 
Messung der Wärmeabgabe bestimmten Hand zu den an dieser 
festgestellten Temperaturen in einem gegebenen Verhältniss 
stehen. — 

Ist beides genau erreicht, dann legt die Versuchsperson 
das Thermometer bei Seite und erfasst das ihm schnell darge- 
reichte Calorimeter mit voller Hand. In demselben Augenblick 
löst sich das Arr&tement eines Secundenzählers. Der Beobachter 
verfolgt mit einer Lupe die Temperaturzunahme des Calorimeters 
und unterbricht den Gang der Uhr in demselben Moment, wo 
das Calorimeter sich in der Hand der Versuchsperson um eine 
bestimmte Anzahl von Graden erwärmt hat. So ist die Zeit 
gefunden, innerhalb welcher die Fläche der Hohlhand unter 
gegebenen Verhältnissen eine bestimmte Anzahl von Calorien 
abgiebt. — Aus den Variationen, welche diese Zeit erleidet, 
lässt sich der Werth eines Factors auf das Genaueste nach 
absolutem Maass feststellen, der die Wärmeabgabe der Haut 
in irgend einer Weise beeinflusst. — 

In einer grossen Reihe von Versuchen wurde zunächst die 
Sicherheit der Methode, deren Princip die Anerkennung des 
Herrn Geheimrath Prof. Neumann erfahren hat, und die Con- 
stanz ihrer Resultate geprüft. — Nachdem die Versuchspersonen 
durch Uebung das Calorimeter stets in gleicher Weise und 


280 A. Adamkiewicz: 


ohne Druck zu halten gelernt hatten, war beides in den erreich- 
baren Grenzen eingetreten. !) 


Das circulatorische Wärmeäquivalent. 


Das absolute Quantum der von der Haut abgegebenen Wärme 
muss die Summe zweier Grössen sein; derjenigen Wärmegrösse, 
welche durch Leitung aus dem Innern des Körpers bis zur 
Oberfläche der Haut dringt und hier in die Umgebung ausstrahlt 
und demjenigen Quantum von Wärme, welches das ceirculirende 
Blut den inneren Theilen des Körpers entzieht und an der 
Oberfläche desselben" wieder absetzt. 

Der erste dieser beiden Factoren kann als eine constante 
Grösse angesehen werden, die zweite muss eine veränderliche 
sein, da sie von dem Contractionszustand der peripherischen 
Capillaren abhängt. Die ganze von der Körperoberfläche abge- 
gebene Wärmemenge, die sich aus beiden zusammensetzt, ist 
also ebenfalls eine Variable, deren Werthe durch das Verhältniss 
jener beiden Grössen zu einander und durch die Grenzwerthe, 
die die Veränderliche annehmen kann, bestimmt sind. 

Da der mittlere Werth der gesammten die Körperoberfläche 
verlassenden Wärmemenge bekannt ist, so ist die Grenze ihrer 
Variationen gefunden, wenn man die Aenderungen in der 
'Wärmeabgabe der Haut nach Einführung der Grenzwerthe des 
variabeln Factors feststellt. 

Zur Auffindung dieser Werthe wurden die Zeiten bestimmt, 
innerhalb welcher sich das Calorimeter in der Hohlhand, stets 
bei einer constanten Temperaturdifferenz zwischen beiden, um 
5° erwärmte, alse von der Haut 5 mal 13-873 Calorien erhielt. 
Aus ihnen wurde dann diejenige Anzahl von Calorien berechnet, 
welche dieselbe Hautfläche in der Zeit von 1 Minute an das 
Calorimeter unter denselben Verhältnissen abgeben würde. Zu- 
nächst fand die Bestimmung bei normaler Circulation in der 
Haut statt, dann nachdem eine der beiden Grenzen der Variabeln . 


1) Die Herren Candd. med. Löwenthal, Casper und Storch 
haben sich an meinen Versuchen eifrigst betheiligt und durch ihre 
geschickte Assistenz dieselben auf das Dankenswertheste gefördert. 


Mechanische Prineipien der Homöothermie. 381 


eingeführt worden war. Beide Bestimmungen mussten stets 
neben und kurz nach einander vorgenommen werden, damit 
nicht Verschiedenheiten in der Erregbarkeit der Blutcapillaren 
und in der Circulation und das ganze Heer von Zufällen ins 
Spiel kämen, die zu verschiedenen Zeiten den Mechanismus 
der Cireulation in bekannter Weise treffen können. 


Der niedrigste Grenzwerth der variabeln Grösse. 


In der ersten Reihe von Bestimmungen wurde neben der 
normalen Wärmeabgabe diejenige Aenderung derselben geprüft, 
welche sie erlitt, wenn der variable Factor gleich Null gemacht, 
d. h. die Cireulation überhaupt unterbrochen war. 

Die Unterbrechung der Circulation wurde nach der Me- 
thode von Esmarch dadurch bewirkt, dass der Vorderarm 
von den Fingerspitzen bis über das Ellenbogengelenk hinaus 
mit einer elastischen Binde umwickelt wurde. Waren die Gefäss- 
stämme, nachdem das Blut in eben erwähnter Weise aus der 
Extremität herausgepresst worden war, hinreichend comprimirt 
worden, und waren die Pulsationen der A. radialis verschwun- 
den, so begann die Temperaturmessung der Haut. Gewöhnlich 
stellte sich das Thermometer 10 bis 12 Minuten nach erfolgter 
Unterbrechung auf die erforderlich constante Temperatur ein. 
Dieselbe lag fast ausnahmlos 1'/, bis 2° Cels. unter der Tempera- 
tur, welche die Haut bei normaler Circulation besass. Während 
des Abfalls der Temperatur in der Haut durften natürlich calori- 
metrische Bestimmungen nicht vorgenommen werden, da: die- 
selben aus klar liegenden physikalischen Gründen alle möglichen 
Resultate hätten ergeben müssen. Der gleiche Umstand verbot 
es, mit diesen Bestimmungen über den Zeitpunkt der Tempera- 
turconstanz hinaus zu warten, da sich an denselben ein erneu- 
ter Abfall anschloss mit im Verhältniss zum primären sehr viel 
langsamerem Sinken der Temperaturen. Ausserdem erreichten 
die Schmerzen, Formicationen und Stiche im blutleeren Arm 
in dieser Zeit eine unerträgliche Höhe. 

In Folgendem sind die Mittel aus den höchsten und tiefsten 
Werthen zusammengestellt, welche sich für die Wärmeabgabe 
der Haut bei normaler und bei unterbrochener Circulation er- 


282 A. Adamkiewicz: 


geben haben. Letztere sind im Verlauf von einem und einem 
halben Jahr gesammelt und liegen deshalb in einer Zahl vor, 
wie sie zu Schlussfolgerungen aus solchen in ihren Resul- 
taten schwer absolut constant zu erreichenden Bestimmungen 
allein berechtigen. (Siehe Tabelle S. 283.) 

Die erste der drei Versuchspersonen zeichnete sich vor den 
beiden andern durch eine sehr kräftig entwickelte Muskulatur 
aus und ertrug die Compression seiner Gefässe im Verhältniss 
zu ihnen in bewundernswerther Weise. Es liegt nahe, diese 
Thatsache aus einem gewissen Schutz zu erklären, den hier die 
Muskulatur den Blutgefässen gegen den Druck des elastischen 
Bandes gewährt habe. Die niedrigsten calorischen Werthe der 
Circulationsunterbrechung in den zuerst angeführten Bestimmun- 
gen, die so sehr von den übrigen abweichen, dürften deshalb 
wol, zumal minimale Pulse der Radialis schwer zu erkennen 
sind, als durch nicht vollkommene Sistirung des Kreislaufs be- 
dingt angesehen werden und daher unberücksichtigt bleiben. 

Dann hat sich aus den nachstehenden Versuchen ergeben, 
dass von der gesammten mittleren, die Körperober- 
fläche verlassendenundin die Umgebung ausstrahlen- 
den Wärmemenge 20 bis 30pCt., demnach im Mittel 
25pCt. dem variabeln und 75pÜt. dem constanten Factor 
angehören. Beide Grössen verhalten sich also zu ein- 
ander wie 1:3. 

Helmholtz!) hat aus der Verbrennungswärme des in den 
Respirationsgasen erscheinenden Kohlen- und Wasserstoffs die 
Menge von Wärme berechnet, welche der Körper eines gesunden 
Menschen innerhalb einer festgesetzten Zeit bildet. Unter Be- 
rücksichtigung der aus Dulong’s?) berühmten Versuchen be- 
kannt gewordenen Thatsache, dass das Resultat jener Berech- 
nung nur 75 pCt. der wirklich gebildeten Wärme giebt, hat er 
gefunden, dass ein Mann von 82 Kgr. Körpergewicht 113853 
Calorien in der Stunde hervorbringt, wenn unter Calorie die- 


1) Eneyelop. Wörterbuch der med, Wissenschaften. Herausgegeb. 
von der med. Facult. zu Berlin. 1846. Bd. 35. S. 555. 

2) Mem. sur la chaleur anim. (Ann. de Chim. et de Phys. 1841. 
p. 440.) 


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284 A. Adamkiewiez: 


jenige Wärmequantität verstanden ist, welche eine Wassermenge 
von 1 Gr. um 1° Cels. erwärmt. Die Beständigkeit der absoluten 
Körpertemperatur beim Menschen macht es erforderlich, dass 
bei ihm die Grösse der gebildeten und die der abgegebenen 
Wärme einander gleich sind. Da der gewöhnlichen Annahme 
zufolge von der gesammten im Organismus entstehenden Wärme 
nur 775 pCt. den Körper durch die Haut verlassen, so beträgt 
die Gesammtsumme der von der letzteren im Laufe Einer Stunde 
unter gewöhnlichen Verhältnissen abgegebenen Calorien 88236. 

Es werden demnach unter denselben Verhältnissen 
annähernd 66177 Calorien durch Leitung durch die 
Gewebe und 22059 Calorien durch das circulirende 
Blut der Peripherie während Einer Stunde vermittelt 
und an die Umgebung abgeführt. 

Wie weit dieses empirisch gefundene Verhältniss der beiden 
den absoluten Wärmeverlust zusammensetzenden Grössen dem 
thatsächlich vorhandenen entspricht, lässt sich durch eine kleine 
Berechnung prüfen. 

Von allen Geweben des Körpers sind, wie früher dargelegt 
worden ist, die der äussersten Zone, also Haut, Unterhautfett- 
und Unterhautzellgewebe die einzigen, welche dem Blut nicht 
Wärme :geben, sondern von dem eirculirenden Blut Wärme 
aufnehmen. Unterbleibt plötzlich die Zufuhr von Blut zur 
Peripherie, so muss die Temperatur dieser Zone sinken und 
der Grad, in welchem das geschieht, dem Ausfall von Wärme 
entsprechen, den die Circulationsunterbrechung herbeigeführt hat. 
Im Verlauf der ersten halben Stunde nach Unterbrechung des 
peripherischen Kreislaufs sinkt die Temperatur der Haut um 
ungefähr zwei und ein viertel Grade Cels. Die in dieser Zeit 
durch Sistirung des Kreislaufs der Peripherie entzogene Wärme- 
menge kommt also annähernd derjenigen Grösse gleich, welche 
die Masse der äusseren Körperzone um die genannte Zahl von 
Graden zu erwärmen im Stande wäre. 

Dursey!) hat bei einem Selbstmörder von 65'25 Kegr. 
Körpergewicht die Haut sammt ihres Fettpolsters 7'404 Kor. 


1) Nach einem Citat Liebermeister’s: Lehrb. d. Pathol. u. 
Therap. des Fiebers u. s. w. S. 223. 


Mechanische Prineipien der Homöothermie. 285 


schwer gefunden. Die Masse der äussersten Zone beträgt daher 
etwa ein Neuntel des gesammten Körpergewichtes und bei einem 
82 Kgr. schweren Menschen demnach ungefähr 9Kgr. Da sie 
eine von der specifischen Wärme des Muskels!) nicht abweichende 
Wärmecapaeität haben wird, so repräsentirt sie einen calo- 
rischen Werth von 9000: 0 769 = 69210 gr. Wasser. Zur Erwär- 
mung um 225° bedarf sie demnach 15572 Calorien. Das direet 
gemessene und für dieselbe Zeit berechnete circulatorische 
Aequivalent beträgt 11029 Calorien, eine für die vorliegende nur 
schätzende Rechnung hinreichend genaue Uebereinstimmung. 
Die bei jeder Circulationsunterbrechung der Körperperiphe- 
rie entzogene Wärmemenge wird nothwendigerweise in den 
inneren Organen des Körpers zurückbehalten. Weil sie nicht 
ohne Wirkung bleiben kann, muss der Wärmeretention eine 
Temperatursteigerung in den inneren Theilen folgen. In dem- 
jenigen Abschnitt derselben wird sie zunächst sich äussern, 
welcher die Rolle der Peripherie in Beziehung auf den Kreis- 
lauf zufällt. Nun hat Ludwig?) gezeigt, dass das Gefäss- 
system der Muskulatur gegenüber demjenigen der Eingeweide 
und der Haut durch Reactionsträgheit seiner muskulösen Ele- 
mente in hohem Grad ausgezeichnet ist. Wenn die Blutgefässe 
der Eingeweide und der Haut oder eines dieser beiden Gebiete 
sich verengern, findet daher das aus ihnen verdrängte Blut in 
der Muskulatur offene Abflusswege, in die es jederzeit unbe- 
hindert ausweichen kann. Das Blut, das unter gewöhnlichen 
Verhältnissen in der Körperperipherie fliesst, circulirt, wenn 
der peripherische Kreislauf ruht, in der Muskulatur. Die Wärme, 
die das Blut früher der Peripherie zugeführt hat, bleibt nun 
in dem in den Muskeln kreisenden Blut. In kurzer Zeit muss 
daher zwischen der Temperatur des Muskels und des in ihm 
eirculirenden Blutes ein Ausgleich sich herstellen, und dann 


1) Die Wärmeleitung des Muskels. A. a. 0. 8. 254. 

2) Moh. Effendi Hafiz: Ueber die motorischen Nerven der Ar- 
terien, welche innerhalb der quergestreiften Muskeln verlaufen. In 
den Berichten der Kgl. Sächs. Gesellschft. der Wissenschaften - zu 
Leipzig. Math. phys. Classe Bd. XXII. S. 214. 1870, 


NETTE PET IR ER te Fe 


286 A. Adamkiewicz: 


die gesammte in den Muskeln gebildete Wärme die Muskulatur 
selbst erwärmen. 

Letztere beträgt ungefähr 45 pCt. des gesammten Körper- 
gewichtes. Bei einem 82Kilo schweren Mann wiegt sie dem- 
nach etwa 36°9 Kgr. Da sie eine specifische Wärme von 0:769 
besitzt, so repräsentirt sie einen Wasserwerth von 28376. Bei 
absoluter Unterbrechung der peripherischen Circulation würden 
sich, wie sich aus dem Vorhergehenden ergiebt, 22059 Calorien 
während Einer Stunde in der Muskulatur anhäufen. Fände 
eine so lange dauernde Unterbrechung statt, dann wäre sie dem- 
nach hinreichend, durch die durch sie bewirkte Wärmestauung 
die ganze Muskulatur um 0'8° Cls. zu erwärmen. 

Liebermeister!) hat darauf hingewiesen, dass ein in 
der Achselhöhle eines Menschen befindliches Thermometer zu 
steigen anfängt, sobald man jenem durch Kälteeinwirkung auf 
die Körperoberfläche Wärme entzieht. Er hat diese Erschei- 
nung im Verein mit den Resultaten seiner calorimetrischen 
Messungen als ein Zeichen reactiver Wärmeproduction gedeutet 
und in der früher erwähnten Weise erklärt. Wenn nun aber 
ein Thermometer sich in der Achselhöhle befindet, ist es, wie 
bekannt, allseitig von Muskulatur umschlossen und zeigt also 
die Temperaturen der Muskelzone an. Die Muskelzone erwärmt 
sich nun erwiesenermassen durch Wärmestauung, wenn die 
Circulation in der Peripherie stockt. Kältewirkung auf die 
Körperoberfläche bewirkt eine solche Stockung. Folglich ist 
die Temperaturzunahme eines Thermometers in der Achsel bei 
Abkühlung der Körperoberfläche nicht nothwendig ein Zeichen 
vermehrter Wärmebildung.?) Und sie kann es nicht sein, wenn, 
wie behauptet wird,?) es richtig ist, dass eine solche Tempe- 
raturzunahme auch dann nicht mehr als 0'2° Cels. beträgt, wenn 
die Körperoberfläche einen empfindlich kalten und mit 'seiner 


1) Deutsche Klinik. 1859. Nr. 40. Dies Archiv, 1860. S. 523. 

2) Senator (S. u. A. Virchow’s Archiv Bd. L. S. 354. Bd. LII. 
S. 137); — Winternitz (Virchow’s Archiv Bd. LVI. S. 181 fi; 
Wiener med. Jahrb. N. F. 1871. S. 180 ff. u. s. w.) u.A. 

3) Vgl. Senator: dies Archiv, 1872. S. 38. Anm. 


= f 
Be - 


Mechanische Prineipien der Homöothermie. 287 


Nachwirkung den peripherischen Kreislauf etwa !/, Stunde 
alterirenden Bade ausgesetzt ist. 

Gerade die Temperaturzunahme der Muskeln bei Kreis- 
laufssistirung in der Peripherie und bei der dadurch herbei- 
geführten Wärmeretention im inneren Körper verleiht dem 
eigenthümlichen Charakter der Muskulatur und ihrer Bedeutung 
für die Temperaturbeständigkeit der höheren Thiere eine neue 
Stütze. Wirkt sie doch einem Mechanismus gleich, der die 
Schleuse gerade dann höher hebt, wenn die Gefahren für den 
Wärmestrom, den sie schützt, besonders gross werden.') 


Der höchste Grenzwerth der variabeln Grösse. 


Der höchste Werth der Variabeln wurde durch den Ver- 
gleich der bei normaler Circulation mit der bei maximaler 
Capillardilatation in der Peripherie von der Haut abgegebenen 
Wärmegrösse festgestellt. 

Zur Hervorbringung der Dilatation diente die Wärme. In 
grossen Zinkwannen wurde Wasser auf Temperaturen von 
40° Cels. und darüber erwärmt und sorgfältig auf constanter 
Höhe erhalten. Mit dem Schlag des Sekundenzählers tauchte 
die Versuchsperson ihre zu den Messungen bestimmte Hand in 
das Wasser ein und hob sie wieder nach Verlauf einer gewissen 
Zeit aus dem Bade heraus. Sofort wurde die Temperatur der 
Haut in der bereits geschilderten Weise tkermometrisch festge- 
stellt. Die sehr empfindlichen Thermometer stiegen schnell zu 
den hohen Temperaturen der Haut an, um dann wieder lang- 
sam zu sinken. Der höchste, genau betrachtete Stand des 
Thermometers zeigte die gewünschte Temperatur an. Hatten 
mehrere stets von grösseren Pausen unterbrochene Messungen 
dasselbe Resultat ergeben, so wurde in einer neuen Reihe 
ebenso ausgeführter Erwärmungen an Stelle des Thermometers 
unmittelbar das Calorimeter an die Haut angelegt und die 
Wärmeabgabe direct bestimmt. Die Ergebnisse dieser Bestim- 
mungen konnten nun mit den vorher festgestellten Werthen 
der normalen Wärmeabgabe verglichen werden. 


1) Vrgl. S. 260 dieser Arbeit, 


288 A. Adamkiewicz: 


Gefundene Mittelwerthe: 


TRgaS E 
\= a = ä 
1 I = m 
| Temperatur & 5, = BEA 522 
BASS azar „mo ar 
MHOSo Ssaol=a zZ a 
ö ; 
Cireulation. 3328 s „08 Se E 3 
der des Calo-| SY ES |.3=2| 333 | S2® 
B ei SH ö 5 0 salsu2| © > 
Haut |rimeters | 5 2e5 | Aa 
in m 5 <,45 i@} 
= IS =) 38 
: I 
Normal. 358 15°8 20 48. 86°7 
Umgebung zwischen In d.Hohlh. 7 
15 und 20°Cels. | 39°6 15°6 48 86:7 | 100 
In d. Inter- 
digitalfalte 


Capillardilata- | 385 18°5 wa 99114143 
tion nach Einwir- ! pCt. 
kung eines Bades v. 
40° durch 5 Min. 


1 
ID 


Capillardilata- | 411 211 . ..11 36 || 115°6 | + 33°3 
tion. Bad von pCt. 
45° Cels. durch 5Min. 
Capillardilata- | 4rı 211 ... | 36“ | 1156| +33°3 
tion. Bad von 46° u. pCt. 


6' Grenze des für die, 
Versuchsperson Er- 
träglichen. 


l 


Aus der Gleichheit der Ergebnisse der beiden letzten Ver- 
suche folgt, dass eine 5 Min. lang dauernde Einwirkung eines 
Bades von 45° Cels. auf die Haut genügt, die grösste! Erschlaf- 
fung der peripherischen Capillaren zu erzeugen. Eine höhere 
Wärmewirkung auf dieselbe ist wenigstens nicht mehr im Stande 
gewesen, das circulatorische Wärmeäquivalent zu vergrössern. 
Sein grösster Werth beträgt also in runder Zahl 
30 pCt. der normalen Wärmeabgabe. Würde dieser Werth 
unter gewöhnlichen Verhältnissen erreicht werden, dann müsste 
die Körperoberfläche eines 82 Kgr. schweren Menschen 88236 + 
26470 = 114706 Calorien in der Zeit Einer Stunde verlassen. 
In der gleichen Zeit werden von demselben Körper über- 
haupt nur 113853 Calorien gebildet. Es ergiebt sich daraus 


1) Das eirculatorische Wärmeäquivalent gibt hier diejenige Grösse 
der normal von der Haut abgegebenen Wärmemenge in Procenten der- 
selben an, um welche diese bei gesteigerter Hauteirculation 
wächst (+). — 


Mechanische Prineipien der Homöothermie. 289 


die theoretisch sichergestellte Möglichkeit, dass die Function 
derperipherischen Capillarenallein—,ohneden durch 
die Wasserverdunstung von der Körperoberfläche 
unddurch die In- und Egesta aus dem Körperinnern 
herbeigeführten Wärmeverlust —, im Stande ist —, 
die Wärmebildung innerhalb des Körpers durch 
Steigerung der peripherischen Circulation und damit 
der Wärmeabgabe zu compensiren. 

Aber es fordert eine solche Compensation, dass sich der 
höchste Grad der Capillardilatation unabhängig von Temperatur- 
einflüssen der Umgebung auf die Körperoberfläche bei normalen 
Temperaturverhältnissen zwischen der letzteren und der Um- 
gebung einstelle. Wie weit diese Function den natürlichen 
Forderungen der Temperaturconstanz wirklich genügt, wird 
in Folgendem untersucht werden. 


Curve der Wärmeabgabe am lebenden Körper. 


"Den Berechnungen der absoluten Werthe der Capillar- 
thätigkeit ist die normale mittlere Wärmeabgabe der Haut zu 
Grunde gelegt. Man darf annehmen, dass diese Wärmeabgabe 
bei einer Temperatur der Haut von 35° und einer Tempe- 
ratur der Umgebung von 15°, also bei einem Temperatur- 
unterschied zwischen Körperoberfläche und Umgebung von 
20° erfolgt. Die diesen Grössen der normalen wie der 
künstlich modifieirten Wärmeabgabe entsprechenden calorischen 
Aequivalente sind bei derselben Temperaturdifferenz zwischen 
Haut und Calorimeter gemessen worden und gelten demnach 
für ein und dieselben physikalischen Bedingungen der Wärme- 
abgabe. Deshalb sind sie direct mit einander vergleichbar und 
können als Ordinaten eines Coordinatensystems (Fig. Il.) be- 
trachtet werden, dessen Abseisse die verschiedenen Contractions- 
grade der peripherischen Capillaren angiebt. 

Die Untersuchung der calorischen Werthe hat vier solcher 
Ordinaten ergeben, und durch sie sind auch vier Punkte der- 
jenigen Curve bestimmt, welcher die Grössen der Wärmeab- 
gabe unter denselben äussern Temperaturverhältnissen folgen 

Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 19 


2390 A. Adamkiewicz: 


müssten, wenn die Circulation in der Peripherie alle möglichen 
Variationen durchginge von Null bis zum höchsten Grenzwerth, 

Wie bereits erwähnt worden ist, ist der Grad der Capillar- 
thätigkeit eine Function der auf die kleinsten Gefässe ein- 
wirkenden Temperaturen. Der Contractionszustand der Haut- 
capillaren hängt also von den Hauttemperaturen ab. Er steht 
insofern im umgekehrten Verhältniss zu denselben, als er zu- 
nimmt, wenn Letztere sinken. Nun werden die absoluten Tempera- 
turen der Haut zum grössten Theil bestimmt von den Tempera- 
turen der Umgebung. Sie wachsen, wenn letztere steigen und 
nehmen ab, wenn sie fallen. Da sie aber langsamer wachsen und 


langsamer abnehmen, als die Umgebungstemperaturen, unterderen 


Einfluss sie selbst sich ändern, und da hier nur normale Verhält- 
nisse berücksichtigt werden, also solche, bei denen der thierische 
Körper an seine Umgebung überhaupt Wärme abgiebt, d. h. stets 
höher temperirt ist, als seine Umgebung; so bedeutet jede 
Temperaturzunahme der Körperoberfläche gleich- 
zeitig eine’ Abnahme der Temperaturdifferenz 
zwischen ihr und Umgebung und jede Temperatur- 
abnahme derselben ein Wachsen dieser Differenz. 

In einem System von Coordinaten sollen die Abseissen- 
aufsteigende Temperaturen der Körperoberfläche und also auch 
abnehmende Temperaturdifferenzen zwischen ihr und Umgebung 
bedeuten, die Ordinaten dieses Systems dagegen sollen die 
bei den einzelnen Temperaturen der Haut und den gleichzeitig 
vorhandenen Temperaturdifferenzen zwischen der letzteren und 
der Umgebung von der Körperoberfläche nach dem Newton’- 
schen Gesetz abgegebenen Wärmegrössen angeben. 

Die Art der Abweichung, welche die Wärmeabgabe des 
lebenden Körpers von der Newton’schen Curve (Fig. III. NC.) 
erfährt, ist daher definitiv gefunden, wenn zu den eben be- 
zeichneten Ordinaten die festgestellten Werthe des eirculatori- 
schen Aequivalentes algebraisch summirt werden. 

Das Maximum der Capillardilatation fand sich bei einer 
Temperatur der Haut von 41°. Käme eine solche Temperatur 
in der Haut des normal fungirenden Körpers unter dem Ein- 
fluss einer weniger hohen Temperatur der Umgebung zu 
Stande, dann würde die Wärmeabgabe des Körpers bei die- 


RER S 


Mechanische Principien der Homöothermie. 291 


ser Temperatur nicht mehr der normalen Wärmeabgabe multipli- 
eirt in den Quotienten der gewöhnlichen Temperaturdifferenz 
in die neue kleinere, sondern der um 30 pCt. gesteigerten nor- 
malen und in diesen Quotienten multiplicirten Wärmeabgabe 
gleich sein. Sie würde demnach, wenn a die Grösse der nor- 
malen Wärmeabgabe und d die neue Temperaturdifferenz bedeutet, 
nn n Calorien betragen. 

Eine Angabe über die niedrige Temperatur der Haut, 
welche die Capillaren derselben zu einer bis zum vollkommenen 


9] 0 


nicht a Er sondern (@ +qa 


Verschluss führenden Contraction anzuregen im Stande wäre, 
lässt sich leider nicht machen. Eine Reihe von Versuchen, in 
denen an Stelle der warmen kalte und durch Eis regulirte 
Bäder angewandt wurden, führten nicht zum Ziel. Zunächst 
deswegen, weil es kein sicheres Zeichen eines durch Kälte be- 
wirkten Verschlusses der Capillaren giebt. Dann weil sich die 
Absicht nicht ausführen liess, die Abkühlung der Haut so lange 
zu steigern, bis die Resultate der Wärmeabgabe constant blie- 
ben, wie es bei der Erzeugung der Capillardilatation in ana- 
loger Weise geschehen war. Die Temperaturen der durch 
das Bad abgekühlten Haut liessen sich nämlich nie mit Sicher- 
heit bestimmen, weil sie mit dem Augenblick, wo sie dem 
Einfluss des Bades entzogen wurden, rapide sich zu erheben 
begannen. Ferner hätte bei diesen Temperaturen das Oalori- 
meter stets unter Null abgekühlt werden müssen. Die Sicher- 
heit der Application eines so kalten Körpers in einer halb 
erstarrten Hand würde eine sehr problematische geworden sein. 
Endlich hätte die Ungleichmässigkeit der Eisbildung im Calori- 
meter die Berücksichtigung der latenten Wärme des Eises bei 
den Messungen in Rechnung zu ziehen nicht ohne erhebliche 
Fehler gestattet. 

Hier lässt sich daher nur allgemein sagen, dass bei der- 
jenigen niedrigen Temperatur der Haut (Fig. III. x), welche zu 
einem vollständigen Capillarverschluss in derselben führen 
würde, nicht die normale, sondern die um 25 pCt. verringerte 
normale Wärmeabgabe (a) der Körperoberfläche nach dem Ver- 


hältniss der gewöhnlichen Temperaturdifferenz zwischen Körper- 
197 


292 A. Adamkiewicz: 


oberfläche und Umgebung zu der neuen grösseren (d) wachsen 
müsste. 

2 ö 

(ae 100, 0 

Noch sind die calorischen Werthe der normalen Circulation 
und derjenigen bekannt, welche die bei einer Temperatur der 
Haut von 38°') vorhandene Capillardilatation mit sich bringt. 
Es sind also im Ganzen drei Punkte (a, 5, c) der neuen 
Curve (A B Fig. III.) gegeben, die die Interpolation der übri- 
gen positiven Werthe gestatten. 

Den Gang der zweiten Hälfte der Curve, derjenigen für 
die negativen circulatorischen Wärmewerthe, hoffte ich da- 
durch zu finden, dass ich die Zeit für die Abgabe einer be- 
stimmten Anzahl von Calorien, — immer derselben wie in den 
früheren Versuchen —, von Seiten der Haut an das Calorimeter 
feststellte, wenn die Temperaturdifferenz zwischen Haut und 
Calorimeter in einer arithmetischen Reihe stieg. Mit zunehmen- 
der Temperaturdifferenz zwischen Haut und Calorimeter sollte 
ein zunehmender Grad von Capillarcontraction eintreten, dessen 
Wärmeäquivalente sich aus den den Temperaturdifferenzen nicht 
mehr proportionalen Zeiten hätten ergeben sollen. 

Auch von diesem Theil der Curve sollten drei Ordinaten 
gefunden werden. Da die Differenzen von 20° an steigen mussten 
und über 30° nicht betragen durften, damit das Einfrieren des 
Wassers im Calorimeter vermieden wurde, so konnten die 
erforderlichen Differenzen nur 20°, 25° und 30° sein. 

In Folgendem sind die Mittelwerthe vier solcher an drei 
Versuchspersonen gemachten Bestimmungen zusammengestellt. 

(Siehe nebenstehende Tabelle.) 
Die Temperaturdifferenzen zwischen Haut und Calorimeter 
verhielten sich in allen nachstehenden Bestimmungen wie: 
20:25:30=1:1'25:15, und die bei diesen Differenzen 
von der Haut abgegebenen Calorien verhielten sich 
1) bei C. wie 74:3:991:1281=1:135:172, . 
2) bei L. wie 72:5:90'0:126°1=1:1'24:1:73. 
3) bei S. wie 75'0:99:1:1224=1:1:32:1°63. 
Es sind die von der Haut dem Calorimeter mitgetheilten 


!) Vrgl. die früher angeführten Tabellen. 


Mechanische Prineipien der Homöothermie. 2953 


Umgebung 15 — 18°, 
l. Versuchsperson: Hr. Cand. med. C. 


Temperatur | Temperatur- | Zeit der Er- |Wärmeabgabe 
\ differenz zw./wärmung des) der Haut 
IH des ' Haut und ıCalorimt. um |während 1Min. 
er Haut | Calorimeter | Calorimeter Ba in Secund.| in Calorieen 
34:9 149 20. 2 |MR a6 74:3 
34:7 9:7 25 I: \ 2142 I 991 
345 45 30 ee az: 


2. Versuchsperson: Hr. Cand. med. L. 


Pr Be D, 


To: Ad RAR ae | | 

sa | 10 | 03 I 90:0 

35.4 | 54 | 30 | 33 1261 
3. Versuchsperson: Hr. Cand. med. S. 

33-7 | ie 200,, | 055: 75:0 

347 | 97 95 Ä 20 | 91 

30 | :o BOBL EAN An a 1224 


Wärmegrössen im Verhältniss zu den wachsenden Temperatur- 
differenzen zwischen beider, unter deren Einfluss jene Mit- 
theilung geschehen ist, nicht kleiner geworden. Die Messungen 
haben also das erwartete Resultat nicht ergeben. Eine Er- 
klärung für diesen negativen Erfolg lässt sich unschwer darin 
finden, dass die zu den Messungen erforderliche Zeit der Ein- 
wirkung des Calorimeters auf die Haut eine zu kurze und die 
Grösse der Wärmeentziehung von derselben deshalb auch 
eine zu geringe ist —, als dass das kalte Calorimeter eine Re- 
action der kleinen Gefässe durch die die Wärme schlecht leitende 
Cutis hindurch wachzurufen im Stande sein sollte. Dieser 
erfolglose Versuch wäre deshalb von mir überhaupt unerwähnt 
geblieben, besässen seine Resultate nicht auch eine schätzens- 
werthe Seite. Die Wärmegrössen sind den wachsenden 
Temperaturdifferenzen so genau gefolgt, dass die Quotien- 
ten beider fast absolut übereinstimmen. Diese Thatsache beweist 


294 A. Adamkiewicz: 


die grosse Genauigkeit der hier angewandten Methode und 
steigert den Werth der durch sie gewonnenen positiven Er- 
gebnisse. 

Aus der Bestimmung der Grenzwerthe des circulatorischen 
Wärmeäquivalentes hat sich ergeben, dass dasjenige der nor- 
malen Circulation bei mittlerer Hauttemperatur nahezu zwischen 
beiden in der Mitte steht. Es lässt sich daraus vermuthen, 
dass die Curve der negativen Werthe von derjenigen der posi- 
tiven in ihrem Gang nicht sehr abweichen und vielleicht nur 
um ein Weniges gestreckter verlaufen werde, als sie. Unter 
dieser Voraussetzung wäre die Annahme gestattet, dass gleiche 
durch den Wechsel der Umgebungstemperatur erzeugte Ab- 
weichungen der Hauttemperaturen von der normalen mittleren 
auch gleiche circulatorische Wärmewerthe mit verschiedenen 
Vorzeichen haben werden. Da nun unter gewöhnlichen Ver- 
hältnissen solche Temperaturschwankungen der Haut über die 
Grenzen zweier Grade zu beiden Seiten der normalen mittleren 
Temperatur nicht zu treten pflegen, so dürfte mit Rücksicht 
auf das festgestellte calorische Aequivalent einer Hautwärme 
von 38° wol geschlossen werden, dass die Schwankungen der 
Wärmeabgabe von Seiten der Haut für gewöhnlich sich inner- 
halb der Grenzen des um 14 pCt. vermehrten oder verminderten 
normalen Wärmeverlustes multiplieirt in den Quotienten der 
bekannten beiden Temperaturdifferenzen halten. Das kann 
selbstverständlich nur soweit gelten, als nicht von den Tempera- 
turen unabhängige Schwankungen in der Grösse der peripheri- 
schen Strombahn vorkommen. 


Der regulatorische Werth der circulatorischen 
Leistung. 


Die empirisch gefundene Höhe der circulatorischen Leistun- 
gen gibt auf die Frage ihres regulatorischen Werthes unmittel- 
bar noch keine Antwort. Dieselbe kann erst aus dem Verhält- 
niss deducirt werden, in welchem jene Leistungen zu den 
Forderuugen einer absoluten Temperaturconstanz stehen. 

Nimmt man an, dass die Wärmebildung zu allen Zeiten 
sich in den gewöhnlichen Grenzen befindet und sich nicht 
„reactiv* ändert, so kann man diese Forderungen ziffermässig 


Mechanische Principien der Homöothermie. 295 


feststellen, indem man diejenige Wärmemenge berechnet, 
um welche die durch die jedesmal vorhandene Temperatur- 
differenz zwischen Körper und Umgebung bestimmte Grösse 
des Wärmeverlustes zu- oder abnehmen muss, um stets die 
normale bei einer Temperaturdifferenz von 20° vorhandene Höhe 
zu erreichen. 

Durch die Gleichung 

EN A 
(et om). 
ist der zu suchende Werth (x) nach Procenten der normal 
abgegebenen Wärmemenge ausgedrückt, sobald für a .diese 
Wärmemenge und für d die Temperaturdifferenz zwischen Kör- 
per und Umgebung eingesetzt wird. 

Man erhält die Grenzwerthe der von einer absoluten Tempera- 
turconstanz an die regulatorischen Leistungen gestellten Forde- 
rungen, wenn man für d die grösste und die kleinste über- 
haupt mögliche Temperaturdifferenz zwischen Körper und Umge- 
bung einführt. Nun können + 30° und — 30° Cels. als die ge- 
wöhnlichen Temperaturgrenzen unserer Zone gelten. Setzt man 
daher voraus, dass die in ihren Temperaturen so labile Haut 
bei der höchsten Umgebungstemperatur sich schnell bis auf 39° 
erwärmt und bei der niedrigsten Umgebungstemperatur ebenso 
schnell sich auf 30° abkühlt, so würde die kleinste überhaupt 
mögliche Temperaturdifferenz zwischen Körper und Umgebung 
9 und die grösste 60° betragen. 

Dann ist das positive Aequivalent der regulatorischen 
Leistung, — der Zuwachs von Wärme, welcher den bei der 
kleinsten Temperaturdifferenz gegebenen sehr kleinen Wärme- 
verlust der Körperoberfläche bis zur normalen Höhe erhebt, — 
durch das r der Gleichung 
& b) 
ausgedrückt, während der Werth für das negative Aequi- 
valent derselben Leistung, — für diejenige Grösse, um welche 
der bei der grössten Temperaturdifferenz sehr gesteigerte Wärme- 
verlust kleiner werden muss, um wieder zur Norm zurückzu- 
kehren, — aus der Gleichung 


(38236 + 88236 


296 == A. Adamkiewicz: 


60 
(88236 — 88256 10) 0 on = 88236 


folst. 

Dort ist «= 122 und hier x = 666. i 
Daraus folgt, dass die Temperaturconstanz des mensch- 
lichen Körpers regulatorische Leistungen fordert, 
die im höchsten Fall die Wärmeabgabe des Körpers 
um 122 pCt. des normalen Wärmeverlustes zu steigern 
und um 666 pCt. desselben Verlustes herabzusetzen 
im Stande sein müssen. 

Die Vorgänge der Circulation leisten das nicht, da sie die 
Wärmeabgabe der Körperoberfläche nur um 30 pCt. des normalen 
Wärmeverlustes zu erhöhen und um 25 pCt. desselben zu ver- 
ringern vermögen. 

Diese Tnatsache entspricht vollkommen der Natur der 
eirculatorischen Vorgänge als der feineren Einstellungsmechanis- 
men. Solche Mechanismen vollführen nie den Effect des ge- 
sammten nothwendigen Excurses einer gegebenen Bewegung, 
sondern beschränken sich stets auf einen Theil desselben. 

In der Muskelfunction und der Ernährung einerseits, in 
der directen Wärmeabgabe an die Umgebung, in der Wasser- 
verdunstung und der Respiration sind anderseits die Momente 
gegeben, welche die allgemeine, grobe Einstellung der Körper- 
temperaturen bewirken. 

Von principieller Bedeutung aber sind jene Resultai weil 
sie lehren, dass die Vorgänge der Regulation den lebenden 
Körper viel weniger vor Wärmestauung, als vor zu grossem 
Wärmeverlust schützen. Das positive Aequivalent der von 
Seiten der Blutströmung geleisteten Regulation entspricht nur 
dem vierten Theil des für die Temperaturconstanz nothwendigen 
Bedürfnisses, das negative Aequivalent derselben aber der 
Hälfte. ‚Wenn es nun wahr ist.„dass der lebende Kör- 
per den weit höheren Erfordernissen für die Ver- 
meidung der Wärmestauung durch natürliche Vor- 
Sänge ohne Zuhilfenahme einer reactiven Kälte- 
bildung genügt, dann muss man auch consequenter 


Weise annehmen, dass ein Bedürfniss desselben, 


Mechanische Prineipien der Homöoth ie, > I 

NA, 
Wärme reactiv zu bilden, überhaupt ga. nicht/vötry, 
liegt. m 

Denn es bleiben selbst dann die Anforderungen der 
Temperatureonstanz an die Leistungen des thierischen Organis- 
mus bei den höchsten Temperaturen der Umgebung grösser als 
bei den niedrigsten, wenn man die bei hohen Temperaturen 
der Umgebung durch gesteigerte Wasserverdunstung stattfindende 
Vermehrung des Wärmeverlustes in Rechnung zieht. Denn sie 
beträgt nur etwa 25 pCt. der normal abgegebenen Wärmemenge. 

Führt man in die beiden Gleichungen für x die Grenz- 
werthe des circulatorischen Aequivalentes ein, so lehrt die 
Berechnung von d das interessante Factum kennen, dass durch 
die Vorgänge der Circulation allein eine vollständige Com- 
pensirung der durch dieSchwankungen der Umgebungstemperatur 
bewirkten Aenderungen in der Wärmeabgabe erzielt werden, 
so lange die Temperatur der Umgebung derjenigen der Körper- 
oberfläche sich von 20° bis auf 15° nähert und von 20° 
bis auf 26°6° von ihr entfernt.!) Sie entsprechen demnach 
den Forderungen der Temperaturconstanz nur für das Differenz- 
intervall zwischen Körper und Umgebung von 11°6 Graden. Und 
auch diese beschränkte Regulation findet nur dann statt, wenn 
vorausgesetzt wird, dass innerhalb des Bereiches des genannten 
Intervalles das Maximum und das Minimum des variabeln Factor 
der Wärmeabgabe fällt. 

Man kann daraus die Rolle ermessen, die den übrigen 
die Körperwärme beeinflussenden Momenten noch aufdie Tempera- 
tureonstanz zukommt: der Art der Ernährung, der Intensität 
der Muskelbewegung, der Grösse der Wasserverdunstung und 
dem Modus der Bekleidung. Auf die Bedeutung der letzteren 
weist die Natur selbst hin, indem sie die Dichte und Stärke 
des Pelzes der im Freien lebenden Thiere im Sommer und im 
Winter den Bedürfnissen entsprechend verändert. 


. 1) Mit diesem Resultat stimmen die Ergebnisse der Beobachtungen: 
Senator’s (Centralblatt f. d. med. Wissschftn. 1868. S. 708) gut 
überein, der das Regulationsvermögen des Menschen Temperatur- 
schwankungen der Umgebung von nur 8 bis 10 Graden Cels. über- 
winden gesehen hat. 


298 A. Adamkiewiecz: 


Was die Regulation absolut leistet, lässt sich am besten 
an den Folgen eines regulatorischen Mangels erkennen. 

Bei der kleinsten Temperaturdifferenz zwischen Körper 
und Umgebung von 9° wird der stündliche Wärmeverlust eines 
82 Kgr. schweren Menschen dem Newton’schen Gesetz zu 
Folge von 88236 Calorien auf 39706 Calorien vermindert. und 
bei der grössten Differenz von 60° auf 264708 Calorien erhöht. 
Denken wir uns nun einen lebenden menschlichen Körper von 
dem genannten Gewicht frei von allem Vermögen der Wärme- 
regulation und seine Temperatur nur so lange constant, als 
das normale mittlere Temperaturverhältniss zwischen ihm und 
Umgebung vorhanden ist, dagegen veränderlich, wenn dieses 
Verhältniss gestört wird; dann würde man die Folgen jenes 
hypothetischen Mangels gefunden haben, sobald die Zeit be- 
stimmt ist, innerhalb welcher die bezeichneten Störungen der 
Wärmeabgabe den lebenden Körper tödteten. 

Die höchste Körpertemperatur, die sich noch mit den 
Lebensfunctionen des menschlichen Organismus verträgt, liegt 
etwa 4° über der normalen und die niedrigsten Temperaturen, 
die man in einigen Fällen am lebenden Menschen beobachtet 
hat, befanden sich etwa 5°') unter derselben. Da der Wasser- 
werth eines 82 Kgr. schweren menschlichen Körpers gleich 
63058 ist, — ich setze die Wärmecapacität der gesammten 
Körpermasse derjenigen des Muskel 0769?) gleich —, so lässt 
sich aus den oben angeführten Zahlen mit Leichtigkeit finden, 
dass der bezeichnete Körper in einer Umgebung von + 30° Cels. 
im Verlauf von 5 Stunden und in einer Umgebung von 
— 30° Cels. in 1 Stunde tödtliche Temperaturänderungen erfahren 
müsste. 

Genauer lässt sich dieses Resultat durch exactere Rechnung 
wiederfinden. 

Es soll die Oberfläche des Körpers die Temperatur r und 
die Umgebung die Temperatur r haben. Wenn a die Zahl von 
Calorien bedeutet, welche die Körperoberfläche bei der Tempera- 
turdifferenz 7—-r in der Zeit ? an die Umgebung abgiebt; so 


1) Vig. Liebermeister: Hdb. der Pathol. u. der Therapie des 
Fiebers. Lpzg. 1875. S. 69. 
2) A. Adamkiewicz: Die Wärmeleitung des Muskels. A. a. 0. 


Mechanische Principien der Homöothermie. 399 


bleibt die in dem sehr kleinen Zeitraum At von dem Körper 
verlorene Wärmequantität aAt so lange dieselbe, als r und r 
sich nicht ändern. Wächst nun plötzlich die Umgebungstempera- 
tur um s Grade, oder kühlt sie sich plötzlich um s Grade ab, 
so muss die re des Körpers in der Zeit AZ im ersten 


Fall auf die Grösse @* “ At sinken und im zweiten Fall 


auf die Grösse a ——. en At sich erheben. In Folge dessen 


werden in derselben Zeit vom Körper dort (?-a — 2) At 
—r+s 


T—r 


_ a) At Calorien 


über das gewöhnliche Maass ausgegeben. Jenes Wärmequantum 
erhöht die Temperaturen des Körpers, dieses setzt sie herab. 
Und wenn wir den Wasserwerth des Körpers mit A bezeichnen, 


ist AG® a’ =) At der bei der San stattfindende Zu- 
wachs und (die negative Grösse) rn (a -—a” Zi —) At derdurch 


Calorien zurückgehalten und hier (a! 


die vermehrte Wärmeabgabe veranlasste Abfall dbagalten, 

Für den lebenden thierischen Körper ist es charakteristisch, 
dass seine beiden inneren Zonen bei der Erwärmung, wie bei 
der Abkühlung des gesammten Körpers gleichmässig ihre 
Temperaturen ändern.!) Da das Endresultat*) solcher Tempera- 
turänderungen auch in der äussersten Körperzone dem der 
inneren Schichten gleich ist, so darf ohne Schädigung des 
Resultates die für die Rechnung nothwendige Annahme gemacht 
werden, dass auch die Temperaturänderung der Haut von vorn- 
herein mit der der inneren Schichten Schritt hält. Daher kann 
die allgemeine Temperaturänderung des Körpers an der- 
jenigen der Haut gemessen werden. Aendert sich demnach 
die Temperatur r der letzteren unter den bezeichneten Bedingun- 
gen um + Ar in der Zeit At, so gibt Ar auch die unter den- 
selben Bedingungen eintretende Temperaturänderung der ganzen 
Körpermasse an, und es ist 

kei r—-ris 
zl(e-a =) At=Ar. 
Wenn man sich den ganzen Vorgang continuirlich ab- 


1) Die Analogienzum Dulong-Petit’schen Gesetz u.s. w. A.a. 0. 
S.119. 
2) Vgl. ebenda S. 134 Anm. 


300 A. Adamkiewicz: 


nehmend vorstellt bis die Zeit- und Temperaturwerthe unend- 
lich klein werden, dann resultirt aus der vorstehenden Relation 
die Differentialgleichung 


as 
+ 
Ar-— 


dt= dr 
r 


= dt=(r—-r) dr und durch Integration 


derselben 
2as 
= nee + Const. 

Der Werth der Constanten ist durch die Temperatur z, 

zur Zeit {=o bestimmt, und es ist daher 
ne) - N?=@Hr- Dez 

Wird für « diejenige Wärmemenge gesetzt, welche die 
Oberfläche eines lebenden Körpers unter normalen Temperatur- 
verhältnissen zwischen ihm und Umgebung während Einer Stunde 
an letztere verliert, so giebt der berechnete Werth von £ die 
Zeit in Stunden an, innerhalb welcher in diesem Körper eine 
tödtliche Temperaturerhöhung oder Temperaturerniedrigung ein- 
treten müsste, wenn jenes Verhältniss plötzlich unterbrochen 
würde und wenn der Organismus unfähig wäre, den Gefahren 
einer solchen Unterbrechung durch regulatorische Vorgänge 
vorzubeugen. 

Für einen menschlichen Körper von 82 Kgr. Gewicht 
‘findet man daher unter derselben Voraussetzung die Stunden- 
zahl, innerhalb welcher er in einer Umgebung von + 30 Graden 


und 30 Graden lethale Temperaturgrenzen erreichte, wenn . 


man in die oben abgeleitete Gleichung r,= 35, r = 15, a = 88236, 
A=63058 und in dem Fall der Wärmestauung r=39 und 
s=15 und in dem andern Fall der Abkühlung r=30 und 
s-=45 setzt. 

Nach dieser Substitution der einzelnen Grössen wird für 
die Temperaturerhöhung 

t=num. log. 0'62248=4'2 und 
für die Temperaturerniedrigung 
t= num. log. 0:1450 = 1:4. 


Königsberg, März 1876. 


a 


Br 


1876. 


’ rchrw flnat u Phyf- 


Taf: UN, 


7 


Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 
Von 


Dr. Lupwıs LoTZE. 
Aus Göttingen. 


(Hierzu Tafel VII B.) 


Ueber die Frage, in welcher Weise das Wachsthum der 
Knochen erfolge, haben zahlreiche und werthvolle Untersu- 
chungen zu einem allgemein anerkannten Abschluss noch nicht 
geführt; noch immer stehen über diesen räthselhaften Vorgang 
zwei entgegengesetzte Ansichten einander gegenüber. Die eine 
Auffassung, durch Kölliker, Maas, Lieberkühn, Wegner 
und andere vertreten, lässt den Knochen an Länge und Dicke 
durch Auflagerung neu gebildeten Gewebes zunehmen, seine 
typische Form aber durch entsprechende Resorption der schon 
vorhandenen Substanz bewahren; die andere, von Strelzoff, 
J. Wolff und anderen aufrecht erhalten, glaubt das Wachs- 
thum der Knochen dadurch herbeigeführt, „dass die einzelnen 
Knochenbälkchen unter Beibehaltung ihrer Oertlichkeit und 
Richtung durch Expansion immer länger und dicker werden“.!) 

Die Geschichte dieser Untersuchungen ist in den aus- 
führlichen Arbeiten Köllikers?) und Strelzoffs?) eingehend 
behandelt. 


1) Zur Knochenwachsthumsfrage von Dr. Julius Wolff. Vir- 
chow’s Archiv 61. Bd. 4. H. S. 428. 

2) Kölliker, Die normale Resorption des Knochengewebes und 
ihre Bedeutung für die Entstehung der typischen Knochenformen. 1873; 

3) Strelzoff, Eberth, Untersuchungen aus dem pathol. Institut 
zu Zürich. 


302 L. Lotze: 


Wenn ich nun mir erlaube, zu der Lösung dieser Frage 
einen kleinen Beitrag zu versuchen, so motivire ich mein Un- 
terfangen damit, dass ich schon vor dem Erscheinen der 


Schriften von J. Wolff!) und Wegner?) auf Anrathen meines- 


verehrten Lehrers des Hrn. Professor W. Krause den Du- 
hamelschen Nagelversuch im Juni 1874 angestellt habe. Aus 
der Wolff-Wegner’schen Controverse glaube ich ausserdem 
nehmen zu dürfen, dass es nicht ganz überflüssig sei, diesen 
Versuch zu wiederholen. Ich dachte dabei nicht, in der Menge 
der Experimente Sicherheit für die Richtigkeit der zu erlan- 
genden Ergebnisse suchen zu müssen und habe mich darauf 
beschränkt, einige ganz genaue Messungen nach Duhamel 
auszuführen, von denen ich hoffen darf, dass sie, nach einer 
Richtung hin wenigstens, gerechten Anforderungen genügen 
werden. 

Meine Versuchsthiere waren durchweg französische Ka- 
ninchen (Lapins), die mir der Grösse und des schnellen Wachs- 
thums wegen geeigneter schienen als unsere deutschen. 

Der Versuch wurde folgendermaassen ausgeführt. Das Thier 
wurde auf dem Rücken liegend auf ein Öperationsbrett in ge- 
wohnter Weise an den vier Beinen angezogen festgebunden. 
Sodann durchschnitt ich in geringer Ausdehnung die Haut am 
Unterschenkel und zwar so, dass ich den Knochen der Tibia 
dicht unter der Tuberositas hart an der Crista auf etwa 5 Mm. 


sehen konnte. Hier liegt der Knochen so nahe unter der Haut, 


dass man weder Muskeln noch grössere Gefässe verletzen kann. 
Blutung trat daher auch bei keinem der operirten Thiere ein. 
Hierauf bohrte ich mit einem ganz fein zugespitzten Pfriemen 
an der erwähnten Stelle ein und drückte in dieses vorgebohrte 
Loch einen mit einem feinen Köpfchen versehenen Stift von 
reinem in Feuer gehärtetem Silber. Ebenso machte ich es am 
unteren Ende der Tibia, wo medianwärts von der Crista am 
unteren Dritttheil der Tibia eine Stelle des Knochens frei von 
Sehnen dicht unter der Haut liest. Bevor ich die Hautwunden 


1) Virchow’s Archiv 61. Bd. H. 4. 
2) Virchow’s Archiv 61. Bd. H. 1. 


ab N LA 
BE LTR 


Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 303 


schloss, machte ich die Messungen der Abstände der beiden 
Nägelköpfe mit Hülfe von Cirkel und Massstab. Letzterer war 
in Millimeter getheilt und geringere Grössen wurden geschätzt, 
da diese Schätzung nach Wilh. Weber richtigere Resultate 
geben soll, als wenn man sich eines in Zehntel Millimeter ab- 
getheilten Massstabes bedient. Solcher Messungen machte ich 
sechs an jedem Thiere, nahm von ihnen den Durchschnitt und 
liess diesen als annähernd richtigen Messungswerth gelten. 
Ferner mass ich, um doch einigermassen die Länge der Tibia 
zur Zeit der Operation zu kennen, diese beim lebenden Thiere 
über dem Fell. Da aber diese Bestimmung nicht ganz genau 
sein konnte, so wurde versucht, nachdem das betreffende 
Thier wie gewöhnlich an der rechten Tibia genagelt war, die 
linke durch Amputation im unteren Drittheil des Femur als 
genaues Maass der genagelten zu bekommen, da man wohl 
annehmen kann, dass bei einem gesunden Thiere beide zu 
jeder Zeit gleich lang sind. Leider vertrugen beide Versuchs- 
thiere die Amputation nicht, obwohl dieselbe mit allen Cau- 
telen gemacht war. 

Die Einführung der Nägel vertrugen die Thiere ganz gut, 
und traten gleich mit dem genagelten Beine fest auf; auch 
habe ich bei keinem in der Folge irgend eine pathologische 
Veränderung wahrgenommen; ihre Grösse nahm, bei guter 
Fütterung, bedeutend zu, und sechs Monate nachher durfte 
ich annehmen, dass die Knochen hinreichend gewachsen sein 
würden, um, wenn der Knochen sich gedehnt hätte, einen 
messbaren Ausschlag der Nägeldistanz zu geben. 

Ich tödtete nun das zuerst (28. 6.74) operirte Thier am 
15. 11. 74. 

Der Abstand der Nägel ergab genau dieselbe Entfernung 
wie vor fünf Monaten. Ebenso liessen sich bei sämmtlichen 
folgenden Thieren, die ich in kurzen Zwischenräumen tödtete, 
die Nägel in unveränderter Lage erkennen. Die Entfernung 
der beiden Nägel betrug bei einem Thiere beispielsweise am 
3. 7, 74 in 6 Messungen: 


304 L. Lotze: 


1. Messung 39:7 Mm. ) 

2.0 — 401 — ) 

3. — 398 — Im Durchschnitt: 
4,0 — 399 — | 39'9 Mm. 
I. 40.0 — | 

6 — AUT 


am 22. 11. 74 in 6 Messungen: 


1. Messung 39:9 Mm. ) 

2. — 401 — ) 

I. 40.0 — | Im Durchschnitt: 
4. — 398 — [ 39'9 Mm. 

I KA 

6. — Ahr 


Diese Messungen, auf deren sehr geringe Schwankungen 
ich noch zurückkomme, überzeugen mich vollständig, dass bei 
allen diesen Versuchsthieren und während der beobachteten 
Wachsthumszeit kein einziges Mal Zunahme der ursprüngli- 
chen Entfernung der Nägel, also auch keine Längenexpansion 
der von ihnen eingegrenzten Knochenpartie stattgefunden hat. 
Sie können freilich nicht ohne weiteres beweisen, dass über- 
haupt Expansions-Wachsthum in den Knochen nirgends und 
niemals vorkomme. Im Allgemeinen würde die Theorie die- 
ses expansiven Wachsthums drei verschiedene Behauptungen 
aufstellen können. Sie könnte zuerst meinen, der Knochen 
dehne sich in allen seinen Theilen und während seiner 
Wachsthumszeit überhaupt zu jeder Zeit gleichmässig aus, 
bis er seine normale Länge erreicht hat; diese erste An- 
nahme halte ich allerdings für unverträglich mit meinen Mes- 
sungen und sie gilt mir durch diese widerlegt. 

Man könnte aber zweitens sich vorstellen, die Ausdeh- 
nung des Knochens erfolge zwar in allen Theilen und in jedem 
Abschnitt der Wachsthumsdauer, aber nicht gleichmässig, 
sondern nach Ort und Zeit verschieden. Es könnte endlich 
drittens vermuthet werden, der Knochen dehne sich in einigen 
Theilen nur bis zu einer gewissen Zeit aus, bleibe von 
da an in diesen unverändert, während er in anderen Theilen 
in der vorigen Weise fortwächst, vielleicht auch in ihnen sich 


Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 305 


noch energischer dehnt. Die beiden letzteren Annahmen hätten 
wir noch zu überlegen. 

Nach der zweiten würde sich der Knochen zwar in sei- 
ner ganzen Länge, aber ohne Zweifel in der Mitte der Dia- 
physe am wenigsten und an den Enden derselben am stärk- 
sten ausdehnen. Dann muss bei der erwähnten Art des Ver- 
suches eine Zunahme der Nägeldistanz erfolgen, wo auch die 
Nägel angebracht sein mögen; aber in der Mitte der Diaphyse 
wird dieser Ausschlag geringer sein und zwar um so geringer, 
je kleiner die ursprüngliche Distanz der Nägel gewählt 
wurde. War diese Distanz sehr klein und befand sie sich zu- 
gleich nahe der Mitte der Diaphyse, so würde ein Ausschlag, 
der immerhin noch stattfinden könnte, sich einer Messung mit 
gewöhnlichen Hülfsmitteln entziehen. 

Umgekehrt wird der Ausschlag grösser, wenn die Nägel 
nach den Enden der Diaphyse aus einander rücken und dies 
wird um so mehr geschehen, wenn die Expansion selbst von 
der Mitte der Diaphyse an nach der Epiphyse hin stärker wird. 

Auch diese zweite Annahme kann ich mit meinen Ver- 
suchen nicht vereinigen. Die Orte der Nagelungen waren von 
der Mitte der Diaphyse weit entfernt, ihre Distanz sehr be- 
trächtlich. Wenn dennoch nach hinlänglicher Wachsthums- 
zeit keine Aenderung in der Stellung der Nägel eingetreten 
war, so kann die ganze zwischen ihnen liegende Diaphyse 
entweder gar keine oder nur eine so minimale Längenausdeh- 
nung erfahren haben, dass sie innerhalb der Messungsfehler- 
grenzen liegen würde. 

Die dritte Annahme würde man ohne Zweifel so formu- 
liren, dass in der Mitte der Diaphyse die Expansion am 
frühesten aufhört und nach den Enden derselben zu, gleichviel 
ob mit constanter oder vermehrter Energie, längere Zeit fort- 
dauert. Denn das umgekehrte, dass sie in der Mitte nur 
noch lebhafter würde, ist gegenüber obigen Messungsresul- 
taten unhaltbar. Wäre es nun so, so könnte es allerdings ge- 
schehen, dass man bei dem Versuch blos deshalb keinen 
Ausschlag bekomme, weil man durch die Nägel gerade eine 


Partie eingegrenzt hätte, die ihr Wachsthum vollendet hätte, 
Beichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1576. 20 


306 L. Lotze: 


Allein auch dieser Einwurf gilt unseren Versuchen nicht, da 
wir fast die ganze Diaphyse zwischen den Nägeln eingeschlos- 
sen hatten. Man würde also nur noch einwenden können, 
dass während der von uns beobachteten Wachsthumszeit die 
Expansion wirklich blos noch jenseits dieser Grenzen stattge- 
funden habe, was denn ziemlich darauf hinaus liefe, dass sie 
eben nur in der Nähe der Epiphysen überhaupt geschieht. 
Denn unsere Versuche fingen bei vierwöchentlichen Kanin- 
chen an und endigten nach vollständigem Wachsthum. Oder 
endlich: man würde behaupten müssen, in den ersten vier 
Wochen expandiren sich die Diaphysen, von da aber tritt 
jedenfalls die Art des Wachsthums ein, welche ich in dieser 
Abhandlung nachzuweisen unternommen habe. 

Fehlerquellen, welche meine Versuche unschlusskräftig 
machten, kann man vier anführen. Die erste, ungenaue Mes- 
sung, glaube ich vermieden. Nähmen wir aus den sechs oben 
angeführten ersten Messungen die grössten und aus den sechs 
zweiten die kleinsten Zahlen, so betrüge die Differenz, die 
eine etwa stattgefundene Ausdehnung der Diaphyse zwischen 
den Nägeln bedeuten würde, nur 04 Mm. Da der ganze 
Knochen sich von 8Cm. auf 11 ausgedehnt hatte, so würden 
jene 0'4Mm. noch nicht 2pCt. der ganzen Ausdehnung betra- 
gen, d. h. einen so kleinen Theil, dass selbst dann, wenn er 
wirklich direct beobachtet worden wäre, er noch immer in- 
nerhalb der Grenzen annehmbarer Beobachtungsfehler fallen 
würde. 

Die zweite Quelle der Fehler könnte darin liegen, dass 
die Nägel sich gelockert hätten, verschoben oder heraus ge- 
fallen wären oder dass sie dem etwa stattfindenden Wachs- 
thum nicht nachgefolgt wären. Ueber die letzteren Punkte 
muss ich später sprechen. Auch ein Herausfallen ‚und eine 
Verdeckung der Nägel durch überwachsende Knochensubstanz 
ist mir einmal oder zweimal begegnet; allein es war immer 
möglich, auch in diesen Fällen die Messungen mit gleichem 
Erfolge an den Löchern, wo die Nägel gesessen hatten, oder 
nach Abfeilung der bedeckenden Knochenwucherung an ihnen 
selbst vorzunehmen, 


Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 307 


Der dritte Fehler würde zu geringe Distanz der Nägel 
gewesen sein. Ich habe schon hinlänglich erwähnt, dass ich 
im Gegentheil sehr weite Entfernungen wählte, nur die Sorge, 
das Gelenk zu afficiren, bewog mich dazu, die Tub. tibiae 
als Grenze anzunehmen, über die ich nicht näher an die 
Epiphyse gehen wollte. In derselben Entfernung hielt ich 
mich an dem unteren Ende der Tibia von dem Gelenke. Die 
gewählten Zwischenweiten der Nägel betrugen in Mm.: 48:7; 
48:2; 51:8; 39:9; 43:3; 40:6; 556; 51'1; 55°6; 590; 546, 
37:5; 343; 34:0; 37-6; 41:1; 40'2, 

Die vierte Fehlerquelle würde die Wahl zu alter Ver- 
suchsthiere sein. Es könnte sein, dass bei diesen eine früher 
vorhanden gewesene Expansion der Diaphyse bereits aufgehört 
hätte und auch bei weiten Abständen der eingeschlagenen 
Nägel nur noch jenseits derselben fortdauerte. Ich läugne 
nicht, dass, wie man an den vorhin angeführten Zahlen sieht, 
einige meiner Versuchsthiere älter waren als wünschenswerth 
ist, allein die an ihnen gemachten Beobachtungen sind doch 
ganz übereinstimmend mit denen, die an hinlänglich jungen 
Thieren gemacht wurden. 

Soll man berechtigt sein, aus derartigen Versuchen einen 
bestimmten Schluss zu ziehen, so sind einige Kenntnisse über 
die Grössen nothwendig, welche die Knochen der Versuchs- 
thiere zu verschiedenen Zeiten haben. Ich vermisse hierüber 
genaue Aufzeichnungen sowohl bei J. Wolff als bei Wegner 
und glaube, dass die Richtigkeit der Wegner’schen Versuche 
auch für J. Wolff weniger zweifelhaft gewesen sein würde, 
wenn jener diese Zahlen mit Genauigkeit zu geben im Stande 
gewesen wäre. Andrerseits würde J. Wolff auf die minima- 
len, von ihm gefundenen Ausschläge weniger Gewicht gelegt 
haben, wenn er die relativen Grössen des wachsenden Thier- 
knochens mit ihnen verglichen hätte. 

Unerlässlich scheint mir, wenigstens zu wissen, welche 
Länge die Tibia kurz nach der Geburt hat, dann diejenige 
zur Zeit des Experimentes und schliesslich noch die nach 
vollendetem Wachsthum des Versuchsthieres oder seiner Spe- 


cies,. Nur dann wird man beurtheilen können, ob etwa er- 
2055 


308 L. Lotze: 


haltene Ausschläge überhaupt zu berücksichtigen oder zu 
vernachlässigen sind. 

Die drei oben geforderten Zahlen betragen nach meinen 
Messungen für das neugeborene Kaninchen 34Mm.; für das- 
selbe zur Zeit des Experimentes je nachdem 50 — 80 Mm.; für 
das ausgewachsene 117 Mm. 

Die Tibia des neugeborenen Kaninchens war die eines 5 
Tage alten Thieres; die Tibien zur Zeit des Experimentes 
gehörten 4—6 Wochen alten an und der Knochen, welcher 
eine Tibia eines ausgewachsenen Thieres darstellt, ist von 
einem französischen Kaninchen, welches 1'!/, Jahr nach dem 
Duhamel’schen Versuche leben bleiben durfte. 

Ich weiss nicht, ob es irgendwo sichere Angaben 
giebt, welche die Zeit genau bestimmen, innerhalb welcher 
das Wachsthum kleinerer Säugethiere resp. der Knochen de- 
finitiv abgeschlossen ist; jedenfalls scheint mir diese Frist von 
1!/, Jahren nicht zu niedrig gegriffen zu sein. Wenn nun 


auch diesen letzten so wie den ersten Zahlenwerth genau zu: 


wissen wichtig ist, wie ich nachher zeigen werde, so ist doch 
natürlich der zweite von ganz besonderem Interesse. Ihn 
beim lebenden Thiere genau zu erhalten ist mit gewöhnlichen 
Hülfsmitteln unmöglich. Der einzig mögliche Versuch hierzu, 
nämlich durch Amputation im unteren Dritttheil des Femur 
in der abgetrennten und unversehrten Tibia die genaue Länge 
der anderen mit Nägeln versehenen zu bekommen, schlug 
fehl, weil die Amputation zum Tode der Versuchsthiere führte. 
Ich habe den Versuch deshalb nicht weiter wiederholt, weil 
mir aus dem ganzen Hergange ersichtlich wurde, dass der 
Eingriff zu gewaltsam war, und dass sich nicht erwarten 
liess, dass trotz aller Vorsicht bei diesen jungen schwachen 
Thieren ein günstiger Verlauf einmal eintreten könnte. 
Trotzdem sind jene beiden Versuchsthiere für die ganze 
Untersuchung nicht verloren gewesen. Denn wenn ich auch 
darauf verzichten muss, mit den betreffenden Tibien ein und 
desselben Thieres das genaue Mass der Knochenlänge zur 
Zeit des Experimentes und auch nach vollendetem Wachsthum 
zu besitzen, so sind sie dennoch ein brauchbares Material für 


nn 


Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 309 


die annähernd genaue Bestimmung der gesuchten Zahl, wie 
ich im Folgenden zu beweisen hoffe. 

Ich habe nämlich jedesmal zum Experiment einen Wurf 
junger Kaninchen genommen. Bekanntlich sind diese zusam- 
mengehörigen Thiere meist von gleicher Grösse und sind also 
ihre Knochen annähernd gleich lang. Diese in meinem Falle 
nach blossem Augenmass als gleich erachtete Körpergrösse 
wurde auch durch die Messungen über dem Fell bestätigt. 
Diese Messungen, die zwar zeigten, dass Längendifferenzen 
der verschiedenen Tibien vorhanden waren, sollen allein nicht 
beweisführend für die obige Behauptung sein, wenngleich 
man so kleine Unterschiede noch in den Bereich der Fehler- 
quellen rechnen dürfte. Denn es kommt für sie noch folgen- 
der Thatbestand stützend hinzu. An den unmittelbar nach 
einander amputirten Tibien zweier Thiere nämlich konnte ich 
sofort constatiren, dass sowohl meine Schätzung und An- 
nahme der gleichen Grösse sowie auch meine Messung über 
dem Fell genaue Resultate geliefert hatte. Denn am so- 
gleich präparirten Knochen zeigte sich noch deutlicher, dass 
die Tibien beider Thiere als gleich gross anzusehen waren; 
die eine mass 81 Mm., die andere mass 80 Mm. Da nun an 
zwei Thieren der Beweis für meine obige Annahme geliefert 
ist, so halte ich es für unbedenklich, ihn auch für die ande- 
ren Thiere desselben Wurfes als geführt anzusehen. 

So glaube ich denn mit den Tibien der amputirten Ka- 
ninchen das absolute Längenmass der Tibia zur Zeit des Ex- 
perimentes zu besitzen. Ich nehme von den beiden Zahlen 
die grössere, also 51 Mm an. 

Von den übrigen zum nämlichen Wurfe gehörigen Thie- 
ren besass eines eine Tibia, deren Länge über dem Fell zu 
83 Mm. gemessen war, also genau gleich lang denen der am- 
putirten (85 und 87 Mm. über dem Fell gemessen) zu 
setzen ist. 

Nach 6 Monaten zeigte das getödtete Thier eine Tibia 
von 110 Mm., mithin hat die Länge derselben unzweifelhaft 
um 29 Mm. zugenommen. 

Aus dem Gesagten geht also zur Genüge hervor, dass 


ar. 


310 L. Lotze: 


der Röhrenknochen des kleineren Säugethieres nicht durch Ex- 
pansion seine Längenzunahme gewinnt, und es bleibt mir nichts 
übrig, als für das doch unleugbare Wachsthum des Knochens 
die andere Theorie anzunehmen, die allein sich mit Resultaten 
der Experimente vereinigen lässt: die Theorie der Apposition 
und Resorption. 

Sie erklärt es, das keine Distanzvermehrung der Nägel- 
weiten auftreten konnte, eben weil keine Expansion vorhanden 
war, die Längenzunahme erhält der Knochen lediglich durch 
die appositionelle Thätigkeit des Intermediärknorpels, sowie er 
die Wahrung seiner typischen Form den bestimmt erfolgenden 
Resorptionen verdankt. Auf welche Weise und an welchen 
Stellen diese letzteren vor sich gehen, ist am genauesten in der 
oben eitirten Arbeit Köllikers zu ersehen. Ich werde jedoch 
noch am Ende meiner Arbeit auf diese Frage zurückkommen. 

Meine Duhamel’schen Versuche haben also ein negatives 
Resultat gegeben; doch steht dieses nicht allein. 

Wegner!) Lieberkühn?) und Maas?) haben die Unmög- 
lichkeit eines Expansionswachsthums gleich schlagend dargethan; 
sie haben erstens alle unveränderte Nägelzwischenweiten bei con- 
statirt zugenommenem Längenwachsthum gefunden, ebenso haben 
sie alle die Wichtigkeit der Intermediärscheibe erkannt, und 
hat Jeder von ihnen nach seiner Weise und doch in Ueberein- 
stimmung mit den Resultaten der Anderen ihre appositionelle 
Thätigkeit bewiesen und zweitens haben sie auch für das Dicken- 
wachsthum Apposition und Resorption als nothwendig und wirk- 
lich vorhanden bewiesen. 

Diesen Entscheidungen glaube ich nach dem Ergebnisse 
meiner Versuche mich anschliessen zu müssen. ’ 

Man hat die vollständige Widerlegung der einen oder der 
anderen Theorie bis jetzt allgemein anstandslos auf Grund dieser 
Duhamel’schen Versuche geben zu können geglaubt, die für 


1) Virchow’s Archiv Bd. 61. H. 1. 

2) Zur Lehre vom Knochenwachsthum von Lieberkühn (Vor- 
trag gehalten am 6. März 1872.) 

3) Zur Frage über das Knochenwachsthum von Dr. H. Maas. 


Betrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 311 


fundamentale galten und deren Werth zur Beantwortung der Frage 
nur durch die jeweilige Art des Experimentes bald mehr bald 
minder gewichtig in die Wagschale fiel. Die genannten W eg- 
ner, Lieberkühn und ‚Maas haben sich daher auch nicht 
enthalten, darauf hin die Expansion nicht nur für den Thier- 
knochen, sondern überall für unmöglich zu erklären, und in der 
That scheint mir, dass man höchstens auf Grund pathologischer 
Anschauungen, die doch ihrer Natur nach vieldeutige Vorgänge 
betreffen, die Beweiskraft der von ihnen ausgeführten Versuche 
in Zweifel ziehen könnte. 

Der einzige, so viel ich weiss, ist J. Wolff, der gestützt 
auf eine grosse Anzahl von Beobachtungen und Experimenten 
das Wachsthum durch Expansion für den fertigen Knochen 
dennoch in Ansprnch nehmen zu müssen glaubt und selbst die 
Möglichkeit eines theilweisen Appositions- und Resorptions- 
wachsthums ausgeschlossen zu sehen wünscht. Er urtheilt so, 
weil er aus 1. der rein anatomischen Betrachtung der inneren 
Architeetur der Knochen als auch 2. der Betrachtung der phy- 
siologischen oder mathematischen Bedeutung dieser Architeetur 
die Unhaltbarkeit der Appositionstheorie ') erwiesen glaubte. 

In der Berliner klinischen Wochenschrift übergab J. Wolff 
dieResultate seiner Duhamel’schen Versuche und Messungen der 
Oeffentlichkeit. Seine Versuchsgegenstände sind kleinere Säuge- 
thiere. Er stützt seine Expansionstheorie bei Thieren als experi- 
 mentell nachgewiesen 1. auf den Duhamel’schen Nagel- und . 
Ringversuch und 2. auf die nur von ihm gefundenen Wachs- 
thumshemmungen durch Diaphysenspangen. 

J. Wolff hat nun hinsichtlich des Längenwachsthums keines- 
wegs regelmässig ein Auseinanderweichen der Stifte bekommen, 
sodann, was die Distanzvermehrung zwischen den beiden Nägeln 
anlangt, eine solche um 0'5; 1'0; 1'5; in einem Falle um 2°5 
Mm. am Röhrenknochen vom Kaninchen, bei einem Hunde ein- 
mal sogar um 5 Mm., und neuerdings gar an der Scapula vom 
Kaninchen eine Entfernungszunahme bis zu 9 Mm. beobachtet ?). 


1) Virchow's Archiv Bd. 61. H. 4. 
2) Berliner klinische Wochenschrift 1875. Nr. 7. 


312 L. Lotze: 


Was den um 5 Mm. vermehrten Abstand an der Hunde- 
tibia anlangt, so meint J. Wolff, dass hier ein Irrthum von 
1 bis 2 Mm. als möglich zugestanden werden muss'). Es 
bleibt also auch diese Vermehrung in dem Werthe der oben 
angeführten 2:5 Mm. 

Aus diesen Zahlenangaben lässt sich nur das folgern, dass 
das Expansions-Wachsthum bei besagten Thieren nur in höchst 
untergeordneter Bedeutung vorhanden gewesen ist. 

Nun aber ist, wenn man meine Zahlenwerthe des wach- 
senden Thierknochens mit J. Wolff’s Ausschlägen vergleicht, 
ersichtlich, dass in jedem Falle (ausgenommen den Expan- 
sionsantheil verschwindend klein gerechnet), auch noch wenn 
Apposition zu Expansion = 3:1 bestimmt, ganz andere d.h. 
grössere Vermehrungswerthe hätten herauskommen müssen, 
als die, welche J. Wolff gefunden hat. Diese kleinen Zahlen- 
werthe lassen sich ferner auch nicht mit der Behauptung J. 
W olff’s vereinbaren, nach welcher die bekannte Thatsache der 
vermehrten Längenzunahme der Röhrenknochen kleiner Thiere 
in der Nähe der Epiphysenlinien durch sehr vermehrte 
Energie des expansiven Wachsthums der dem Epiphysenknor- 


pel zunächst gelegenen Knochenschichten der Diaphyse zu 


erklären sei °). 
Angenommen nun, es seien junge Thiere, z. B. 4wöchent- 


liche benutzt, so ist die Tibia eines solchen Thieres (Kanin- 


chen) nach meinen Messungen 50'0 bis 550 Mm. lang. Hat 
das Thier nach dem Experiment dann hinreichend lange gelebt, 
so wird die Länge der Tibia sich zu 117:0 bis 1200 Mm. ent- 
wickelt haben; der Knochen ist dann um 67 Mm. gewachsen, 
ist also über noch einmal so lang geworden. Hat nun J. 
Wolff die Nägel an den Diaphysenenden beiderseits ange- 
bracht, und wächst der Knochen zur Hälfte expansiv und zur 
Hälfte appositionell in die Länge, so muss der Ausschlag für 
Expansion 335 Mm. ausmachen. Wächst der Knochen ?/, 
appositionell und '/, expansiv, so würde der Ausschlag für 


1) Berliner klinische Wochenschrift 1875 No. 7. 
2) Ebendaselbst. 


a DE ee 


Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 313 


Expansion 1675 Mm., 5025 Mm. für die Apposition betragen, 
Hätte die Gesammtzunahme des Knochens, wie in dem einen 
. Falle von mir, 29 Mm. betragen, so würde sich '/, Expansion 
zu ‘/, Apposition der Ausschlag mit 14:5 Mm.; bei ®/, Appo- 
sition zu '/, Expansion mit 7:25 Mm. beziffern. 

Hätte die Tibia dagegen, wie in einem anderen von mir 
eonstatirten Falle zu Zeit des Experimentes 55.0 Mm. betragen, 
nach vollendetem Wachsthum dann 110.0 Mm., so würden sich 
die Ziffern folgendermassen ergeben: 

', App. zu '„, Exp. = 27:6 Mm. zu 27:6 Mm. 

3), App. zu '/, Exp. = 41'25 Mm. zu 1375 Mm. 

J. Wolff’s Ausschlagziffer ist im Durchschnitt 2.5 Mm., 
das würde dann soviel heissen, dass bei Längenzunahme von 
550 Mm. auf 110:0 Mm. der Ausschlag, der in Folge der Ex- 
pansion geschähe, '/,, zu *'/,, Apposition zu berechnen wäre. 

Wenn ich die kleinen, nicht einmal regelmässig beobach- 
teten Ausschläge von J. W olff mit den Ergebnissen der Expe- 
rimente von Lieberkühn,!) Wegner, Maas und mir ver- 
gleiche, so finde ich mich gedrängt, dieselben einfach auf 
Messungsfehler zu beziehen, nach Analogie der 5 Mm. betra- 
genden Distanzzunahme an der Hundetibia (S.312), zumal auch 
Lieberkühn gezeigt hat, auf welche Weise bei diesem Expe- 
riment Fehler sich leicht einschleichen können, deren Folgen 
sich meist in genannten Ziffern als Ausschläge präsentiren. 

Was nun J. Wolff’s Ergebnisse hinsichtlich des Längs- 
wachsthums betrifft, die er mit Längsspangen, Dräthen, die er, 
an beiden Enden rechtwinklig gebogen, in die Diaphyse ein- 
drückte, erzielte, so hat er folgendes beobachtet: 

Thatsächlich sprechen zwei Präparate in sehr auffälliger 
Weise gegen die Apposition und für die sehr vermehrte Energie 
des expansiven Wachsthums der Diaphysenenden, und zwar ein 
Präparat mitden Duhamel’schen Stiften, und ein zweites Prä- 
parat mit einer an beiden Enden rechtwinkling umgebogenen 
Drahtspange, die eine bedeutende Verkrümmung des Knochens 
zu Wege gebracht hat,obwohl beide Drahtenden in der Diaphyse 


1) Lieberkühn, Sitzungsvortrag 8. 42 und 43. 


N RE un, 
E z 3 a Wr = 


314 L. Lotze: 


stecken, ‘und obwohl das Präparat ausser eben der einfachen 
Verbiegung keine Spur pathologischer Störungen zeigt '). 

Ferner hat J. Wolff an einer Reihe von Präparaten als - 
Wirkung und sicheren Beweis der Wachsthumshemmung, die | 
durch Diaphysenlängsdräthe zu Wege gebracht worden, eigen- 2 
thümliche Zerrungsfurchen oberhalb und unterhalb der Dräthe | 
gesehen?). Die sogenannten Zerrungsfurchen laufen längs | 
einer Knochenleiste, die genau in der vertikalen Verlängerungs- 
linie des Drathes sich vorfindet, und zwar häufig sowohl nach 
oben als nach unten, sind mehr oder weniger tief und von einer 
Länge bis zu 4 Mm. 

Aus diesen Zerrungsfurchen schliesst nun J. Wolff, dass 
hier das Wachsthum gehemmt sei, dass — mit anderen Worten 
— an den betreffenden Präparaten Kraft und Widerstand ein- 
ander entgegengewirkt haben, und dass mithin innerhalb der 
Diaphyse eine Expansion in die Länge stattgefunden habe‘). 

Auch bei diesen letzteren positiven Beweisen des expan- 
siven Wachsthums muss sofort wieder derselbe geringfügige 
Ausschlag, den J. Wolff bekommen hat, in die Augen sprin- 
gen. Denn meiner Meinung nach müssen auch bei den Ver- 
suchen mit Diaphysenspangen und Diaphysenlängsringen bedeu- 
tend grössere Messungswerthe herauskommen, als er sie auch 
bei dem Duhamel’schen Nagelversuch zu geben im Stande 
gewesen ist. 

Ich glaube, dass, wenn man in die Diaphyse einer Tibia 
z. B., die zur Zeit des Experimentes die Hälfte der ausgewach- 
senenLänge zeigt, eine Diaphysenspange nach J. W olff’scher 
Methode einfügt, falls der Knochen durch Expansion wächst, 
eine ganz bedeutende Verkrümmung, wenn nicht, vorausgesetzt, 
die Spange hält die Dehnung aus, eine vollständig deutliche 
Winkelstellung oder Knickung die Folge sein müsste. Etwas 
dem entsprechendes, denke ich mir, muss bei den Diaphysen- 
längsringen sich ereignen. Und zwar müsste richtiger Weise 


1) Berliner klinische Wochenschrift 1875. Nr. 8. 
2) Ebendaselbst Nr. 7. 
3) Ebendaselbst. 


Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum, 315 


von dem oberen Loche resp. Löchern, durch welche der Draht 
geht, in mehr oder minder genauer Richtung nach dem unteren 
eine sehr deutliche Einkerbung, oder wenn man es so nennen 
will, Zerrungsfurche entstehen; es müsste direct aus den Bohr- 
löchern ein Suleus sich finden lassen, dessen Weite von der 
Dicke des Drahtes abhängig sein würde und an dessen Tiefe 
die Dauer und Intensität der eventuellen Expansion gemessen 
werden könnte. Ein solcher Befund würde eher für die That- 
sache sprechen, dass es sich hier um „Kraft und Widerstand“ 
gehandelt hätte. Nun ist dem aber bei J. W olff’s Präparaten 
nicht so; bei ihnen findet sich genau in der vertikalen Verlän- 
gerungslinie des Drathes kein Suleus, sondern eine Knochen- 
leiste, genau von der Breite des Drathes, und neben dieser 
Leiste zu beiden Seiten finden sich die Zerrungsfurchen. Dieser 
Befund spricht nicht im mindesten für Expansion. Die Kno- 
chenleiste ist eine nebensächliche Erscheinung, nur Neubildung 
und Folge des Reizes des fest auf dem Knochen oder vielmehr 
auf dem Periost aufliegenden Längsdrahtes. Dass sie jeden- 
falls durch den Draht verursacht ist, dafür spricht noch der 
Umstand, dass sie sich nur eine Strecke weit von oben und von 
unten zur Mitte hin ausgebildet hat. Denn die Stelle, wo der 
Drath am festesten aufgelegen hat, befindet sich an den Bohr- 
löchern; wo er lockerer, nämlich in der Mitte, fehlt die Leiste 
und fehlen ebenso die Zerrungsfurchen. Dass sich nun neben 
der Leiste Vertiefungen bilden, ist nicht wunderbar und sind 
dieselben nur als Folgeerscheinung der Leiste zu erklären, mit- 
hin gar nicht beweisend für eine stattgefundene Expansion. 

Wie tief und wie deutlich diese Furchen waren, erwähnt 
J. Wolff nicht. Doch sagt er, dass dieselben am auffällig- 
sten an solchen Präparaten waren, bei denen er einen Längs- 
draht mit dem einen Ende in die Diaphyse, mit dem anderen in 
die Epiphyse gesteckt hatte). 

Dies letztere ist sehr glaubhaft, und in diesem Falle, wo 
die Epiphyse mit in das Spiel kommt, werden auch ohne Zwei- 
fel Zerrungsfurchen vorhanden gewesen sein, wie ich sie gefor- 


1) Berliner klinische Wochenschrift 1875. Nr. 8&., 


316 - L. Lotze: 


dert hatte; denn hier wird ein Zug ausgeübt, der sie hervor- 
bringen kann, wenn auch aus anderer Ursache. 

Hinsichtlich des Diekenwachsthums nun, so glaubt J. 
Wolff auf seine Experimente gestützt auch hier entschieden 


das Expansiv-Wachsthum als bestehend annehmen zu müssen. 


Die Erscheinungen, die er in den darauf bezüglichen Versuchen 
beobachtet hat, sind seiner Meinung nach durchaus nicht mit 
der Appositions- und Resorptionstheorie zu erklären. 

J. Wolff hat gefunden, dass solche Ringe, von welchen 
man bisher annahm, dass sie in Folge der Apposition an der 
periostalen und der Resorption von der medullaren Fläche des 
Knochens in die Markhöhle hineinwanderten, keineswegs ein 
solches einfaches Hineinwandern erfahren, dass sie vielmehr 
zunächst fast in allen Fällen eine Einbiegung der durch den 
Ring in ihrer Expansion gehinderten Knochenpartie zu Wege 
bringen '). 

Und zwar hat J. Wolff beobachtet, dass es sowohl auf 
die Dicke der Dräthe wie der Knochen ankomme, ob die Ein- 
biegung eine plötzliche oder mehr allmähliche sein wird. Die 
Einbiegungen hat er an mehr als einem Dutzend von Präparaten 
in den verschiedensten und zierlichsten Formen an verschie- 
denen Knochen verschiedener Thiere gesehen. 

Besonders hebt er ein Präparat einer Kaninchentibia her- 
vor, an welcher sich eine vollkommene Einwachsung des Rin- 
ges zeigte, bei welcher trotz derselben der Ring sich nicht 
im geringsten der ihm gegenüber überall eingeengten Mark- 
höhle genähert hat. Mikroskopisch fand J. Wolff sodann 
noch, dass sich an der betreffenden Einbiegungsstelle die Ha- 
vers’schen Canäle eingebogen zeigten, ohne in ihrer Conti- 
nuität unterbrochen zu sein. 

Solche Präparate nun nach der Appositionstheorie erklären 
zu wollen, schien ihm schlechterdings eine Unmöglichkeit zu 
sein. Interessant wäre es auch hier wieder zu wissen, wie tief 
die erwähnten Einkerbungen waren, aber man findet nur unbe- 
stimmtere Ausdrücke wie Drahtrinne, Einbiegung. 


1) Berliner klinische Wochenschrift 1875. Nr. 7. 


a 


RR 


— 


Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 317 


Mögen die Einbiegungen nun so tief gewesen sein wie sie 
wollen; jedenfalls sind sie zum Theil im Knochen versteckt 
und von Knochen bedeckt gewesen. Waren sie sehr oberfläch- 
lich, sogen. Einbiegungen, so möchte ich sie so wie Wegner 
erklären, dass an der betreffenden Stelle das Periost ausser 
Function gesetzt war und deshalb im Bereich des Drahtes keine 
neue Knochensubstanz angesetzt werden konnte. Der Umstand 
dann, dass die Havers’schen Canäle eingebogen waren, wird 
ohne Zweifel darauf beruhen, dass die verhältnissmässig sehr 
weiche äusserste Corticalsubstanz durch zu festes Umschnüren 
des Ringes zusammengedrückt wurde und so natürlich auch die 
Havers’schen Canäle eingebogen wurden. Diese Deutung kann 
nicht befremden, wenn man sich von der sehr grossen Weich- 
heit des wachsenden Kaninchenknochens hinlänglich überzeugt 
hat. Ich habe oben bei der Beschreibung meiner Experimente 
den Ausdruck gebraucht, dass ich die Nägel in den Knochen 
„eingedrückt* hätte; dies war in der That so, ich habe bei 
4wöchentlichen Thieren fein zugespitzte Stiftchen ohne Köpf- 
chen nur mit Hülfe einer sehr feinen Zange, um die hinreichend 
kleinen Stifte fassen zu können, mit Leichtigkeit in den Kno- 
chen eingedrückt, ohne vorher vorzubohren. Dass auf diese 
Weise die Einbiegung des Knochens durch den Duhamel’schen 
Ring, wenn nur der Versuch richtig angestellt wird — d.h. 
wenn hinreichend jungen Thieren ein Draht, so fest wie mög- 
lich, um den Knochen gelegt wird und dann das Thier nicht bis 
zum vollendeten Wachsthum leben bleibt — in jedem einzelnen 
Falle gelingt, ist wieder sehr glaubhaft, nur ist dieser Befund 
durchaus kein positiver Beweis des expansiven Wachsthums. 

J. Wolff hat aber auch mehrmals Einwachsungen des 
subperiostal umgelegten Drahtringes gefunden, dabei aber die 
oben erwähnte, der Stelle des Ringes entsprechende Auflage- 
rung an der medullaren Fläche constant beobachtet. Er erklärt 
diese Erscheinung wieder so, dass die Auflagerung in Wirk- 
lichkeit keine Auflagerung, sondern die an der Expansion ebenso 
wie die periostale Fläche gehinderte medullare Fläche des 
Knochens sei. Den Beweis dafür findet er darin, dass die ein- 
gebogene Partie (Auflagerung an der med. Fläche) ein voll- 


318 L. Lotze: 


kommen homogenes Aussehen mit den normalen Knochenpar- 
tien hat. Man sieht die Havers’schen Kanälchen direet aus 
den geraden Knochenpartien sich in die eingebogene Partie 
hinein- und an der anderen Seite wieder hinausbiegen '). 

Diese Einbiegungen sind nur von J. Wolff gesehen. Eine 
Einbiegung der Havers’schen Kanäle an solchen Stellen, 
welche J,W olff angiebt, konnteH. Maas bei vielfacher Untersu- 
chung, bei der er besonders auf diesen Punkt seine Aufmerk- 
samkeit richtete, nicht constatiren; ebenso wenig wie Phili- 
peaux und Vulpian, welche nach dieser Richtung die Flou- 
rens’schen Präparate untersuchten ?). 

Uebrigens stehe ich nicht an zu erklären, dass J. Wolff 
insofern Recht hatte, wenn er in dieser, von den Anhängern 
der Appositionstheorie Auflagerung genannten, Knochenpartie 
in der Markhöhle nur die ursprüngliche, am Expandiren gehin- 
derte medullare Fläche des Knochens sehen will, weil ich der 
Ueberzeugung bin, dass durch sehr festes Umschnüren, wie es 
J. Wolff nach eigener Aussage gethan hat, nicht nur die Ein- 
biegung der sehr weichen Corticalis, sondern auch noch eine 
Einbiegung der medullaren Region in die Markhöhle hinein zu 
zu Wege gebracht werden kann. Alsdann können die Ha- 
vers’schen Kanäle alle die Biegungen machen, können alle Be- 
dingungen erfüllt sein, die J. Wolff wünscht; und doch bedeu- 
ten sie kein expansives Wachsthum. 

Soll diese Erklärung nicht gelten, so wäre man gezwun- 
gen die Deutung anzunehmen, die J. Wolff selbst angiebt, und 
die ihm von den Anhängern der Appositionstheorie zugegeben 
werden könnte: der Ring könnte nämlich da, wo er liegt, die 
Veranlassung abgeben, dass die Resorption ihm gegenüber an 
der Markhöhlenfläche in irgend einer Weise gehindert wäre. 
Dann wäre die eingebogene Stelle der unverändert gebliebene 
Knochen, während die oberhalb und unterhalb des Ringes ge- 
legenen 'Knochenpartien durch Resorption geschwunden und 
durch Apposition von aussen her wieder ersetzt wären’). 


1) Berliner klinische Wochenschrift 1875. Nr. 8. 
2) H. Maas, Zur Frage über das Knochenwachsthum. 
3) Berliner klinische Wochenschrift 1875. Nr. 8. 


u FE u a un m nn de u 


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I) 


Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 319 


J. Wolff weist diesen sich selbst gemachten Einwand 
aus dem Grunde zurück, dass erstens der Ring unmöglich so 
weit hin wirksam werden könnte, und dass zweitens dann die 
Havers’schen Kanäle keine Einbiegung zeigen dürften ; sie 
müssten vielmehr in der eingebogenen Stelle geradlinig verlau- 
fen, und an beiden Enden abgebrochen erscheinen. Ebenso 
müssten sie in demjenigen Theile der Knochenwand, der zwi- 
schen dem Ring und der Anfangsstelle der Einbiegung liegt, 
vollkommen geradlinig verlaufen '). 

Von der Richtigkeit dieser beiden Behauptungen habe-ich 
mich nicht überzeugen können und bin auch unklar darüber, 
wodurch die Einwachsung des Ringes überhaupt zu Stande kom- 
men soll. Nach streng genommener Expansion kann doch der 
Ring gar nicht von Knochensubstanz verdeckt werden; er kann 
höchstens so tief zwischen die beiden Knochenwände, die sich 
zu den Seiten ungehindert expandiren, zu liegen kommen, dass 
es den Anschein hat, als sei er eingewachsen und von Knochen 
überdeckt. Wie kommt denn einmal die periostale Ueber- 
deckung des Drahtringes, die H. Maas?) aufs deutlichste be- 
obachtet und beschrieben hat, zu Stande, und zweitens, wie 
kommt bei Expansion überhaupt der Ring z. B. in die Hirn- 
höhle, der subperiostal um den Schädel gelegt war? Ein 
Bedenken, auf welches Lieberkühn?) sehr richtig aufmerk- 
sam gemacht hat. 

Alle diese Bedenken können nur bei Annahme der Appo- 
sition und Resorption schwinden. 

Dies geben denn auch jetzt fast sämmtliche Forscher zu 
und neuerdings noch hat Steudener*) Resultate auf mikros- 
kopischem Wege bekommen, welche zum grossen Theile gegen 
Strelzoff zeugen, wenn sie auch manches bestätigen, und ihn 
zu folgender Aussage veranlassen: 

„Demnach halte ich mich gegenüber der neuerdings aufge- 


1) Berliner klinische Wochenschrift 1875. Nr. 8. 

2) In der eitirten Schrift. 

3) Lieberkühn ,2.0, 

4) Steudener, Beiträge zu der Lehre von der Knochenentwicke- 
lung und dem Knochenwachsthume, Halle 1875. 


320 L. Lotze: 


stellten Theorie des ausschliesslichen oder theilweisen inter- 
stitiellen Knochenwachsthums mit Rücksicht darauf, dass während 
des ganzen Verlaufes der embryonalen Entwicklung eine Kno- 
chenexpansion nicht stattfindet, oder wenigstens ein sicheres 
Kennzeichen derselben bisher nicht nachgewiesen ist, zu dem 
Schlusse berechtigt, dass auch das postembryonale Kno- 
chenwachsthum bis zu seinem definitiven Ab- 
schluss genau nach denselben Gesetzen wie das 
embryonale vor sieh geht)“. 

Soviel über die experimentelle Seite dieser wichtigen 
Frage. 

Schliesst man nun die Expansion beim Wachsthum der 
Knochen vollständig aus und nimmt man nur die Appositions- 
und Resorptionstheorie in Anspruch, so ist es nothwendig, die 
für letztere Theorie besonders wichtigen Resorptionen ausser 
Zweifel zu stellen. Nach der heutigen Auffassung gehören zur 
Knochenresorption zwei Dinge, erstens Howship’sche Laku- 
nen und zweitens Riesenzellen. Es unterliegt keinem Zweifel, 
dass überall, wo diese beiden Bildungen vorkommen, auch ein 
Schwinden der Knochen- und Zahnsubstanz sich findet?). Die 
so beschaffenen Resorptionsflächen an den wachsenden Knochen 
gefunden und zuerst beim Kalbe an allen Knochen beschrieben 
zu haben, ist das Verdienst von Kölliker°’). Zu denselben 
Resultaten sind auch Wegner) und Steudener’) gekom- 
men; alle drei Forscher haben auf mikroskopischem Wege die 
Ueberzeugung gewonnen, dass die Ostoklasten die Urheber der 
Knochenauflösung sind und haben die Thätigkeit derselben als 
in der Howship’schen Lakunenbildung bestehend erkannt. 

Von Strelzoff und J. Wolff sind sie immer als unauf- 
findbar geläugnet. 


1) Steudener, Beiträge zu der Lehre von der Knochenentwicke- 
lung und dem Knochenwachsthume, Halle 1875. 

2) Kölliker, Die normale Resorpt. u. s. w. S. 28. 

3) Ebendaselbst. 

4) Wegner, Myeloplaxen und Knochenresorption in Virchow’s 
Archiv Bd. 56. 

5) Steudener a. a. 0. 8. 27. 


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Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 321 


In der That aber sind sie nach Kölliker’s Angaben 
leicht zu finden, und ich habe dieselben am wachsenden Kno- 
chen des Kalbes und Kaninchens auf das deutlichste an den von 
ihm angegebenen Stellen wiedergefunden. Ganz besonders ist 
es mir gelungen, als ich auf den Rath meines hochverehrten 
Lehrers des Hrn. Prof.W. Krause den jungen Vogelschädel auf 
diese Frage hin untersuchte, mich von der intracraniellen Re- 
sorption sowohl wie von der subpericraniellen Apposition mi- 
kroskopisch auf das deutlichste zu überzeugen. Denn es ist mir 
stets möglich gewesen, sowohl die Riesenzellen in situ d. h. 
in den Howship’schen Lacunen zu finden, als mich überhaupt 
durch das constante Vorkommen derselben an der inneren Schä- 
delfläche zu vergewissern, dass ihr Vorkommen nicht etwas 
zufälliges sein konnte. Denn so constant, wie ich sie an der 
erwähnten Stelle finden konnte, ebenso constant vermisste ich 
sie subpericraniell; es sei denn, dass ich eine Stelle der äusseren 
Tafeln untersucht hatte, die zur Zeit einer äusseren Resorption 
unterworfen war. 

Findet man die Riesenzellen an der inneren Fläche des 
Schädels, so liegen sie stetsin Howship’schen Lacunen und 
dies um so sicherer, als die Dura bei jungen Thieren fest, an 
dem Schädel haftet. Die Lacunen unterscheiden sich von de- 
nen bei Säugethieren gar nicht; es sind wie dort Aushöhlungen 
des Knochens von mannigfacher Gestaltung und so wechselnder 
Form, dass eine Grundform nicht angegeben werden kann, sie 
sind bald rundlich, bald zackig in die Knochenlamellen ein- 
greifend. Der angenagte Knochenrand sieht dunkelrandig und 
meist glatt aus. Liegen die Lacunen sehr nahe neben einander, 
so geben sie der Lamina vitrea interna des Schädels das Aus- 
sehen, welches Henle') schon vor längeren Jahren mikros- 
kopisch an der inneren Oberfläche des Schädels des Menschen 
beobachtet hat und in seinem Handbnuche beschreibt; und wel- 
cher mikroskopische Befund ihn zu folgendem Ausspruch hin- 
sichtlich des Schädelwachsthums veranlasste. 

„Hier bleibt uns keine Wahl, als, wie bei dem Wachsthuın 


1) Henle, Handbuch der systematischen Anatomie des Menschen 
1. Bd. 1. Abth. S. 218 und 219. 


Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 21 


322 L. Lotze: 


der Röhrenknochen in die Dicke, eine mit der Resorption der 
inneren Knochentafel Hand in Hand gehende Auflagerung an 
dem äusseren Periost zu statuiren, die auch die mikroskopische 
Untersuchung bestätigt: an der äusseren Fläche von Knochen- 
schliffen laufen die Lamellen in weiten Strecken ununterbrochen 
fort, an der inneren Fläche sind sie oft unterbrochen und in 
schräger Richtung abgeschnitten (Lucae.)* 

Wie bedeutend und auffallend die Unterbrechung der La- 
mellen anderinneren Fläche (Taf. VII. B.Fig.1 bei a)des Vogel- 
schädels ist, sieht man am besten durch die Vergleichung mit 
der äusseren subpericraniellen (Fig. 1 bei b). Au ersterer ist 
der ganze Kuochenrand unter der Dura unregelmässig ausge- 
zackt und zerklüftet, während bei letzterer der Rand zwar nicht 
ganz eben und gleich ist, aber doch in ziemlich gerader Rich- 
tung sich unter dem Pericranium ohne Unterbrechung hinzieht. 
Die Dura ist fest mit dem Knochen verwachsen; der ganze Rand 
des Knochens unter ihr ist unregelmässig zerklüftet und aus- 
genagt, mit mehr oder minder tiefen Einbuchtungen versehen 
(Fig. 4a). Hier und da findet sich oberhalb der Knochen- 
einbuchtung eine Riesenzelle (Fig. 1 und 2). An der Aussen- 
seite (Fig. 3 a) dagegen zeigt sich das Pericranium in straffen 
Zügen über einer fast vollkommen glatten Oberfläche der La- 
mina vitrea externa hinweggehend. Leichte Unebenheiten 
lassen sich auch an dieser Linie wahrnehmen, jedoch keine 
Spur von den oben geschilderten Lacunen. Man könnte noch 
einen Unterschied in dem Aussehen der Knochensubstanz heraus- 
finden; und zwar macht sich ungefähr von der Mitte derselben 
ein verschiedenes Ansehen des Knochens geltend ; ich glaube, dass 
von da nach dem Pericranium hin neue Knochensubstanz appo- 
nirt ist, während nach unten zu die alte Knochensubstanz sich 
findet. Der Unterschied liegt, wenn ich mich nicht täusche, da- 
rin, dass die Knochenkörperchen in der unter dem Perieranium 
liegenden Knochenpartie dichter stehen als in der unteren. 

Was nun die Zellen anlangt, die in den oben geschilderten 
Grübchen liegen, so sind es die nämlichen vielkernigen Zellen, 
die zuerst von Robin (Myeloplaxes) und Kölliker (Osto- 
klasten) beschrieben sind. Sie weichen beim Vogelschädel von 


Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 323 


den bei anderen Thieren gefundenen dadurch ab, dass sie nicht 
platt und nicht von rundlicher oder ovaler Form sind, sondern 
sie gleichen den Formen, die Kölliker birnförmig nennt und 
mit Ausläufern oder Fortsätzen versehen beschreibt. Sie ma- 
chen bei schwacher Vergrösserung (Fig. 1) durchaus den Ein- 
druck einer auf der Kante stehenden Epithelzelle; bei starker 
Vergrösserung dagegen (Fig. 2) sehen die Zellen spindel- 
förmig aus; man unterscheidet den diekeren Zellenleib und 
seine zwei Fortsätze. Der Zellenleib ist granulirt und mit 
kleinen Kernen angefüllt. Die Kerne sind im Verhältniss nicht 
so gross und hervortretend gegen das Protoplasma, wie dies 
bei Säugethieren der Fall ist. Die Gestalt dieser Zellen beim 
Vogel ist im Ganzen weniger wechselnd als beim Säugethier. 

Woraus die Riesenzellen entstehen, woher sie stammen, 
ist noch nicht entschieden. Kölliker lässt die Ostoklasten aus 
den Osteoblasten hervorgehen; Wegner lässt sie von den Ad- 
ventitialzellen der Blutgefässe herstammen. Welche von die- 
sen beiden Ansichten die richtige ist, habe ich nicht zu ent- 
scheiden. 

Ob nun die Riesenzellen in der That die Auflösung des 
Knochens bewirken, ist noch nicht direct bewiesen, wenn auch 
ihr constantes Vorkommen die Vermuthung sehr wahrscheinlich 
macht. Wie sie erstere zu Wege bringen könnten, ist durch 
die folgenden Hypothesen auch noch nicht klargelegt. Sie fär- 
ben sich mit neutralem Lackmuspulver violett (Rustizky) 
und können daher eine Säure secerniren. 

Kölliker sagt, dass es ihm aufgefallen sei, dass Chinolin- 
blau, welches die Zellenkörper der Ostoklasten schön blau 
färbt, die Kerne nicht zu tingiren scheint, und man erinnere sich 
hierbei an die Entfärbung von Chinolinblau durch Säuren '). 
Was mit einer Säure, die doch nur aus Blutbestandtheilen durch 
die Thätigkeit der Zellen abgespalten und in ihnen zurückge- 
gehalten sein kann (möglicherweise Milchsäure), im Gegensatz 
zu den unorganischen Salzen des Knochens gewonnen ist, er- 
scheint sehr fraglich. 


1) Kölliker a. a. 0. S. 28. 
21* 


VORAN N ER 2 
Pan rn j 


324 L. Lotze: 


Ferner ist noch zu beachten, dass nicht jede vielkernige 
Zelle einer Riesenzelle, d. h. einer Zelle, deren Thätigkeit es 
ist, da wo sie vorkommt, das normale Gewebe aufzulösen, 
gleich gesetzt werden darf. Hierfür spricht die Thatsache, dass 
es gelungen sei, sog. Riesenzellen künstlich herzustellen, und 
ferner die bekannte Thatsache, dass die weissen Blutkörper- 
chen (die richtiger graue genannt würden) eine grosse Neigung 
haben, nicht nur freischwimmende Kerne und andere Partikel- 
chen, sondern auch rothe Blutkörperchen in sich aufzunehmen 
(Blutkörperchenhaltige Zellen). 

Auf das Vorkommen der Riesenzellen bei pathologischen 
Vorgängen habe ich hier ebenfalls nicht einzugehen; nur möchte 
ich mir die Bemerkung erlauben, dass bei diesen Vorgängen 
wohl öfter eine Riesenzelle gesehen wird, als sie in Wirklich- 
keit vorhanden ist. 3 

Zum Schlusse möchte ich noch ganz kurz meine makros- 
kopischen Präparate besprechen. 

Man sieht nämlich an den Resorptionsflächen (Fig. 5) der 
Knochen zwei Zonen, die sich wesentlich von einander unter- 
scheiden. Die eine, die obere, d. h. nach der Intermediär- 
scheibe zu, ist rauh und uneben, während die untere zwar glatt 
aber glanzlos ist, wodurch man ihre Grenze gegen die Diaphyse 
leicht erkennen kann. Ich habe geglaubt, auf diese Erschei- 
nung aufmerksam machen zu müssen, weil ich sie constant an 
jeder noch wachsenden Kaninchentibia und zwar immer an der- 
selben Stelle in der gleichen Ausdehnung unverkennbar habe 
wiederfinden können, während sie an alten und ausgewachsenen 
Knochen durchaus fehlen, 

Man kann sich an derartigen Präparaten überzeugen, dass 
sowohl die ersteren wie die letzteren Partien immer dieselben 
Stellen innehalten. Deutlich lässt sich erkennen, dass in ge- 
rader Verlängerung der Tub. tibiae nach unten zwei Resorp- 
tions-Zonen längs der Crista tibiae verlaufen. Das gleiche 
‘Verhalten der Zonen zu einander sieht man an der betreffenden 
Rückseite der Tibia. 

Die betreffenden ersteren Stellen zeigen schon für das 
blosse Auge eine rauhe, deutlich zerlöcherte und zerklüftete 


Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 325 


Oberfläche, welche Rauhigkeit mit dem Finger deutlich gefühlt 
werden kann, „wie wenn mit Hohlmeisseln verschiedener 
Grösse und verschiedener Form tiefere und minder tiefe Grüb- 
chen in wechselnder Menge und Vertheilung aus dem Knochen 
ausgeschnitten worden wären“), Das Ansehen ist ganz das 
einesBimssteines; lauter feine Oeffnungen und Risse zeigen sich 
umgeben von ebenfalls porösen Säumen. Die porösen Stellen 
gehen nun unmerklich in die zweite Zone über. Diese ist am 
Knochen matt, ohne Glanz, aber auch ohne Poren und Rauhig- 
keiten. Diese Partien sind nicht scharf von dem Mittelstück 
der Diaphyse geschieden, sondern gehen in feinen Ausläufern 
unmerklich in die glänzende Aussenseite des Diaphysenmittel- 
stücks über. 
Resume. 


Ich habe in der vorliegenden Arbeit erstens experimentell 
nachgewiesen, dass das Längswachsthum der Kaninchentibia 
durchaus ohne Expansion geschieht und habe zweitens makro- 
wie mikroskopisch den Vorgang der Apposition und Resorption 
an geeigneten Präparaten zu zeigen mich bemüht. 

Dass die so wichtige Frage lange nicht erschöpfend be- 
handelt ist, beweist schon der Umstand, dass ich auf die mi- 
kroskopischen ArbeitenStrelzoff’s, Stieda’s undJ. W olff’s 
gar nicht eingegangen bin und die Kölliker’s, Wegner’s und 
Steudener’s nur so weit, als es unumgänglich war, berührt 
habe. 

Eine eingehende Berücksichtigung dieser Arbeiten würde 
aber das gegebene Maass bei weitem überschritten haben, wes- 
halb ich auf dieselbe leider verzichten musste. 


1) Kölliker, a. a. O. 8. 19. 


326 L. Lotze: Beitrag zur Lehre u. s. w. 


Erklärung der Tafel. 


Fig. 1 bis 4 stellen senkrechte Durchschnitte durch die Schädel- 
knochen von F. buteo dar. Fig. 1 und 2 betreffen ein ganz junges 
Thier. Frisch in Müller’sche Flüssigkeit gelegt, wurden die Schädel 
dann durch Chromsäure (1 pCt.), später durch Chlorwasserstoffsäure (5 pCt.) 
entkalkt, darauf in absolutem Alkohol gehärtet und die Durchschnitte 
mit Garmin gefärbt. Nachher Behandlung mit Alkohol, Nelkenöl, Canada- 
balsam. Vergrösserung in Fig. 1, 3, 4=90; in Fig. 2=350. In diesen 
Figuren bedeutet: a Dura mater. b Pericranium. Zwischen ersterer 
und dem Knochen sieht man in Fig. 1 und 2 die Riesenzellen in 
situ. Denkt man sich den Zwischenraum zwischen Fig. 3 und 4 durch 
Knochen ausgefüllt, so repräsentiren beide Figuren zusammen einen 
Durchschnitt der ganzen Dicke des betreffenden Schädelknochens. 

Fig. 5 und 6 stellen Unterschenkelknochen französischer Kanin- 
chen desselben Wurfes in der Ansicht von vorn dar. Natürliche 
Grösse Fig. 5 von einem 6 wöchentlichen, Fig. 6 von einem 11/2 jäh- 
rigen Kaninchen. Erstere unmittelbar nach dem Experiment, nachdem 
die Unter-Extremität amputirt war; Fig. 6 nach einer über ein Jahr 
betragenden Zwischenzeit. Die Distanz der sichtbaren Nägelköpfe 
ist in beiden Figuren genau dieselbe; ihre Durchmesser sind ver- 
schieden. — Die Resorptionsflächen am oberen und unteren Ende von 
Fig. 5 sind dunkler gehalten. 


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Ueber die Lage der Nieren mit besonderer 
Beziehung auf ihre Percussion. 
Von 
An. PanschH in Kiel. 


Es mag anmassend erscheinen, über die Lage der Nieren 
noch etwas Neues bringen zu wollen, nachdem Luschka in 
seinem erst kürzlich erschienenen Werke!) diesen Gegenstand 
abermals ausführlich behandelt hat, und nachdem auch die Pa- 
thologen längst bemüht waren, auf der Oberfläche des Körpers 
die Grenzen festzustellen, innerhalb deren man sich eine nor- 
mal grosse und normal gelagerte Niere zu denken habe. Ausser- 
dem zeigen diese Organe eine relativ sehr gesicherte Lage, so 
dass von postmortalen die directe Beobachtung störenden Ver- 
lagerungen, wie sie bei anderen Organen so vielfach auftreten, 
hier wohl kaum die Rede sein kann. 

Dennoch aber will ich es nicht unterlassen, die Resultate 
einer ausgedehnteren und — ich darf es wohl sagen -- genauen 
Untersuchung über diesen Gegenstand mitzutheilen. Denn es 
sind die bisherigen Angaben in der topographischen Anatomie 
einerseits doch noch zu wenig erschöpfend, andererseits aber 
auch zu wenig übereinstimmend mit den Anschauungen der 
Pathologen und den Resultaten der physikalischen Diagnostik.?) 

Das Material, auf das ich mich stützen konnte, bestand 
aus einer grösseren Reihe von Leichen, die während der letz- 


1) Lage der Bauchorgane. 1873. S. 31. 

2) Vergl. Gerhardt’s Lehrbuch der Auscultation und Percussion. 
Tübingen 1871, und Guttmann’s Lehrbuch der klinischen Unter- 
suchungsmethoden. 2. Aufl. 1874, 


328 A. Pansch: 


ten drei Jahre auf hiesiger Anatomie auf diesen Punkt hin genau 
untersucht wurden. Es sind ihrer über sechszig.. Die Unter- 
suchung wurde in der ersten Zeit nur von der Bauchhöhle aus an- 
gestellt, indem bei horizontaler Lage der Leiche und nach Ent- 
fernung des Dünndarms das oberste und unterste Ende der Nie- 
ren vorsichtig durch einen Schnitt in die Fettkapsel freigelegt 
und durch senkrecht eingestochene Nadeln bezeichnet wurden. 
Durch gewissenhafte Anlegung eines quergerichteten Lineals 
liess sich dann das in gleicher Höhe mit den Nieren liegende 
Stück der Wirbelsäule genau und sicher bestimmen.!) Später 
wurde mit Bezug auf die praktischen Bedürfnisse mehr Gewicht 
auf die Untersuchung vom Rücken aus gelegt, und hier (wäh- 
rend die Leiche sich in einfacher Bauchlage befand) zunächst 
Haut und Fettpolster entfernt, dann die Muskeln Latissimus 
dorsi und Sacrospinalis, sowie der Rand des M. quadratus lum- 
borum der Reihe nach präparirt und gemessen, und die letzten 
Rippen, der Darmbeinkamm und die Dornfortsätze der Wir- 
bel freigelegt. Dann wurden die Nadeln an den Endpunkten 
und Rändern der Nieren senkrecht eingestochen, so dass auch 
hier die Lage der betreffenden Theile sicher und klar bervor- 
treten musste, Ich glaube diese für einen gewissenhaften Ana- 
tomen selbstverständlichen Maassregeln besonders anführen zu 
sollen, und füge noch hinzu, dass durch solche Präparation, 
wenn sie nur einigermaassen sanft geschieht, die Lage der Nie- 
ren durchaus keinerlei Störungen erleiden kann. Um allen 
Einwürfen wegen schlechten Messens u. dgl. zu entgehn und 
einem Jeden die Sache demonstriren zu können, machte ich 
mir in letzter Zeit ausserdem noch die Mühe, mehrere der so 
erlangten Präparate mit der horizontalen Glasplatte und dem 
Diopter in geometrischer Projection genau zu zeichnen. 

Die bis jetzt erlangten Resultate will ich in Folgendem 
mittheilen, ohne dass ich der Meinung bin, der Untersuchung 
dadurch einen definitiven Abschluss gegeben zu haben; im Ge- 
theil, ich möchte Anatomen und Pathologen zu wiederholter 
und genauer Prüfung auffordern. Denn, wie überall bei der 


1) Vergl. übrigens unten $S. 333; Anmerk. 2. 


BE 


Ueber die Lage der Nieren u. s. w. 3239 


Beschreibung bekannterer und in grösserer Zahl vorliegender 
Gegenstände, kommt es auch hier schliesslich weniger darauf 
an, eine einzige bestimmte Form oder Lage als die „normale“ 
hinzustellen, sondern vielmehr die Grenzen festzusetzen, inner- 
halb deren sich das Organ befinden kann, ohne deshalb „ano- 
mal“ oder „pathologisch“ geformt oder gelagert genannt werden 
zu müssen. Wollen wir aber, wie es häufig erforderlich ist, 
eine bestimmte Form oder Lage herausheben oder als Abbil- 
dung vorführen, so sprechen wir hier besser von einer „mitt- 
leren“ Form oder Lage.) 

Bei der Lagenbestimmung von vorne her kann ich mich 
Luschka in den meisten Punkten vollständig anschliessen. So 
meine ich, wird man für die „mittlere Lage“ der Nieren stets nur 
die Höhe des zwölften?) Brust- und der beiden ersten Lenden- 
wirbel (nebst der darunter liegenden Bandscheibe), oder vom 
unteren Rande des elften Brustwirbels bis zum oberen Rande des 
dritten Lendenwirbels angeben können. — Wenn Hoffmann?) 
sagt, dass die Nieren „in der Höhe der beiden unteren Brust- 
und der zwei bis drei oberen Lendenwirbel“ liegen, so ist die- 
ser Ausspruch doch nur so aufzufassen, dass dies der Raum 


1) Welche Verwirrungen und. welche verkehrte Anschauungen aus 
einer Verkennung dieser Begriffe entstehen, sehen wir recht deutlich 
beim Uterus. Die Lage desselben in der Beckenaxe, wie sie bei mäs- 
sig gefüllter Blase und Mastdarm uns entgegentritt (oder nach B. 
Schultze an der oberen Wand der Blase), ist nur als eine der nor- 
malen Lagen anzusehen, und mag deshalb immerhin als „mittlere 
Lage“ sebematischen oder ausgeführten Abbildungen zu Grunde gelegt 
werden; aber man darf nicht vergessen, und es muss stets daran er- 
innert werden, dass der Uterus auch noch andere normale Lagen ein- 
nehmen kann, dass er um viele Grade weiter nach vorn oder auch 
nach hinten gelagert sein kann, ohne deshalb im Geringsten in „ano- 
maler“ Lage sich zu befinden. 

2) In der „Anatomie des- Bauches“ 1863 rechnet Luschka auch 
noch die untere Hälfte des 11. Brustwirbels hinzu. — Auf der Taf. 2 
der „Lage der Bauchorgane“ reichen die Nieren auffallenderweise bis 
zum unteren Ende des dritten und fast bis zur Hälfte des vierten 
Bauchwirbels hinab. 

3) Die Körperhöhlen und ihr Inhalt. 2, Aufl. S. 96. 


330 A. Pansch: 


ist, innerhalb dessen die Nieren bald höher, bald tiefer gelegen 
sind. 

Nach Henke!) liegt die Niere „neben den beiden ersten 
und einem Theile des dritten Bauchwirbels bis. etwa einen 
Zoll über dem höchsten Stande des Randes der Darmbein- 
crista herab.* 

Nach Engel?) liegen die Nieren „in der Höhe des ersten bis 
dritten Lendenwirbels, die rechte Niere gewöhnlich etwas tiefer als 
die linke“. — — „Das untere Ende ist ungefähr zwei Quer- 
finger von dem Kamme des Darmbeines entfernt.“ 

Was die ziemlich allgemein angenommene (auch auf 
Luschka’s Tafel dargestellte) tiefere Stellung der rechten 
Niere angeht, so will sie mir durchaus kein regelmässiges, 
sondern nur ein häufigeres Vorkommen scheinen; ich fand zeit- 
weise, dass bei jeder dritten Leiche die linke Niere tiefer 
lag. Solche Befunde können auch nicht auffallen, wenn man 
sich überzeugt, wie häufig überhaupt einseitig oder doppelseitig 
Abweichungen von der genannten „mittleren Lage“ sind. Nicht 
selten ist ein Hinaufrücken der genannten oberen Grenze um einen 
halben Wirbel, weit häufiger aber ein Hinabrücken der unteren 
Grenze bis um die Höhe eines Wirbels; ja es senkt sich die- 
selbe zuweilen noch mehr, d. i. also bis zum vierten Lendenwirbel 
hinab. Ausserdem werden nach beiden Richtungen hin ein- 
zelne extreme Fälle beobachtet, bei denen man sich streiten 
könnte, ob sie als „normal“ oder als „anomal“ zu bezeichnen 
sind. Dagegen muss ich von einer ganz oder theilweise im 
Becken, d.h. in der Fossa iliaca gelagerten Niere nach meinen 
Erfahrungen entschieden sagen, dass sie sich stets ausserhalb 
der Grenzen des Normalen befindet. 

Bei einer genaueren Bestimmung der mittleren Lage ist es 
übrigens auch zu bedenken, dass das angeführte Stück der 
Wirbelsäule durchaus keine bestimmte Grösse ist, sondern seine 
Länge unter gewöhnlichen Verhältnissen schon zwischen 9 
und 12 Cm. schwankt), so dass eine etwas grössere Niere, 


1) Atlas der topogr. Anatomie, Textband. S. 111. 
2) Compendium der topogr. Anat. 1859. S. 381. 
3) Als Mittelwerth der Länge vom oberen Rande des zwölften Brust- 


Ueber die Lage der Nieren u. s. w. 331 


wie sie von 11'5 und 12 Cm. Länge öfters gefunden wird, jene 
Grenzen ziemlichüberschreiten muss. Eine irgend erhebliche Ver- 
änderung der Länge jenes Stückes durch Beugen oder Strecken des 
Rückens kommt nicht zu Stande, da die Wirbelsäule vom neunten 
Brustwirbel bis zum zweiten Lendenwirbel einschliesslich ein 
ziemlich unbewegliches Ganzes darstellt.!) 

Ob und wie weit eine tiefere Lage der rechten Niere von 
der Leber abhängig ist, dürfte noch sehr unentschieden sein. 
Hyrtl, der sich dagegen erklärt, macht darauf ‚aufmerksam, 
dass die rechte Niere bei allen Säugethieren tiefer?) liegt und 
diese Lage auch beim Situs inversus behält, wo die Leber doch 
links liest. Wenn Hyrtl dann bemerkt, dass bei Volumsver- 
grösserungen der Leber die Niere noch weiter herabgedrängt 
werden kann, wobei namentlich ihr oberes Ende nach aussen 
und unten rücke, so muss ich 'dem hinzufügen, dass in der 
That auch öfters die Niere durch Volumsvergrösserungen der 
Leber nicht dislocirt erscheint. Es wird mir das durch meh- 
rere eigene Sägeschnitte bewiesen und ausserdem durch Ab- 
bildungen°) bestätigt, wo die Leber sich fast über die ganze 
Niere hinweggelagert hat. Ich halte es nicht für überflüssig, 
an diesem Orte noch besonders hervorzuheben, dass die Leber 
für gewöhnlich nicht nur die oberste Spitze der Niere über- 
lagert, sondern dass sie wohl meistens, wie auch Luschka 
anführt, die obere Hälfte derselben bedeckt. Die Faciecula 
renalis der Leber ist also kein kleiner Eindruck von der Spitze 
der Niere, wie man oft anzunehmen scheint, sondern je nach 
der Entwicklung der Fettkapsel der Niere eine bald seichtere 
bald tiefere breite Grube. 


wirbels bis zum unteren Rande des zweiten Lendenwirbels fand ich an 
einer Reihe frischer Wirbelsäulen 9 Cm. 

1) Meyer, Statik und Mechanik u.s. w. S. 215. 

2) Im Text (Topogr. Anat., Aufl. 6. S. 706) steht fälschlich: 
„höher“, — Im Lehrbuch, 1875, S. 674 steht wieder, dass die rechte 
Niere „durch die voluminöse Leber mehr hinabgedrückt wird.“ 

3) Z2.B. Rüdinger, topogr.-chirurg. Anatomie. Taf. IV.B. — 
(Luschka, a.a.O., Taf. 4, Fig. 1. — Le Gendre, Anat. chirurg. 
homalogr. PI. VII) 


332 A. Pansch: 


Von Interesse für die Percussion der lateralen Nieren- 
grenze könnte auch die bisher noch nirgends besonders hervor- 
gehobene Erfahrung sein, dass die schräge Lage der Queraxe 
der Nieren nicht nur bei verschiedenen Individuen, sondern 
namentlich auch auf den beiden Seiten desselben Individuums 
eine äusserst verschiedene sein kann (Differenz bis über 40°). 
In Folge davon ist also in dem einen Falle die ganze „hintere 
Fläche“, in dem anderen fast nur der convexe Rand dorsalwärts 
gerichtet, und die Nieren erscheinen bei getreuer Zeichnung 
von vorn oder hinten im ersten Falle sehr breit, im anderen 
sehr schmal. 

Bei der Beurtheilung der Richtung des Querdurchmessers 
muss man übrigens einige Vorsicht anwenden, da die hintere, 
für gewöhnlich schon längere Lippe des Hilus zuweilen eine 
ganz ungewöhnliche Länge und Dicke erreicht und es dann, 
worauf schon Hyril aufmerksam macht, den Anschein gewinnt, 
als läge der Hilus stark nach vorne; ja es kommen sogar Fälle 
vor, in denen der Hilus schräg lateral- und vorwärts gerichtet 
ist. Ueberhaupt zeigt die Niere ja nach allen Richtungen hin 
eine sehr verschiedene Form und erscheint auf dem Querschnitt 
zuweilen ganz eckig. 

Das obere Ende der Niere (medialer Rand) fand ich meist 
0:5 — 10 — 1:5 Cm. von der lateralen Seite der Wirbelkörper 
entfernt. Es ist deshalb im Allgemeinen richtig, wenn Luschka 
sagt, die Nieren seien neben die betreffenden Querfortsätze 
gelagert; doch liegen sie auch öfters weiter medianwärts, d.h. 
also mit dem oberen Ende noch etwas vor den Querfortsätzen 
und zuweilen sogar fest neben den Wirbelkörpern. 

- In Hinsicht der Convergenz der Längsaxen nach oben 
finde ich nichts Besonderes zu bemerken. Zu der Notiz 
Luschka’s, dass die unteren Enden — d. i. die medialen 
Ränder derselben — 11 Cm. von einander entfernt seien, möge 
noch hinzugefügt werden, dass die tiefsten Endpunkte der 
Nieren meist einen Abstand von 15 Cm. zeigen, also jederseits 
7— 38 Cm. neben der Medianebene liegen. 

Um an der hinteren Seite des Körpers die Lage der Nieren 
zu bestimmen, muss man von anderen Skelettheilen ausgehen. 


em. 


Ueber die Lage der Nieren u. s. w. 333 


Als solche benutzt man die Reihe der Dornfortsätze, denen 
Darmbeinkamm und die letzte Rippe und nimmt ausserdem noch 
eine Marke von den Weichtheilen hinzu, nämlich den lateralen 
Rand des M. sacrospinalis oder die sog. seitliche Lendenfurchet). 

Bei der Benutzung der genannten Marken hat man aber 
einige Vorsicht anzuwenden, denn dieselben wechseln in ihrer 
gegenseitigen Lage ziemlich bedeutend. Es dürfte vielleicht 
auch weiteres Interesse haben, diesen Punkt im Folgenden et- 
was näher zu erörtern. — 

Die Dornfortsätze der Lendenwirbel, sobald sie nicht eine stär- 
kere und dann leicht zu erkennende seitliche Abweichung haben, 
und dadurch also eine gebogene Rückenfurche bilden dürften mit 
genügender Genauigkeit der Medialebene entsprechen, Dagegen 
ist die Länge und Neigung der einzelnen Dornfortsätze eine so 
mannigfaltige, dass man von ihren hinteren Enden aus nur un- 
sicher auf die Höhenlage bestimmter Wirbelkörper schliessen 
kann.?) Im Allgemeinen würde man vielleicht sagen können, 
dass die die oben genannte mittlere Nierenlage begrenzenden 
Horizontalebenen durch die Mitte oder das untere Ende des 
Dornfortsatzes des elften Brustwirbels und durch den unteren 
Theil oder das unterste Ende des Dornfortsatzes vom zweiten 
Lendenwirbel gehen. 

Bei solchen Bestimmungen muss ferner das Resultat eini- 
germaassen verschieden ausfallen, je nach der Lagerung und 
Krümmung der ganzen Wirbelsäule. Die horizontale Projection 
eines Punktes am Ende des Dornfortsatzes verschiebt sich 
auf der vorderen Fläche der Wirbelsäule schon um 2 Cm., wenn 
die Neigung der Wirbelsäule nur um 15° geändert wird.?) 


1) Den lateralen Rand des M. latissimus dorsi als Wegweiser zu 
benutzen, wie wohl empfohlen wurde, ist durchaus unstatthaft, denn 
erstens ist der Darmbeinursprung dieses Muskels sehr verschieden 
breit, zweitens tritt der Rand nicht deutlich genug hervor und drittens 
endlich liegt die Niere überhaupt nicht unter diesem Rande. 

2) Einschlägige Untersuchungen sind vor einiger Zeit bereits von 
anderer Seite her veröffentlicht worden. 

3) Es begreift sich, beiläufig gesagt, wie sehr bedeutend der 
Ausschlag werden muss, wenn man bei verschiedener Körperhaltung 
Punkte der vorderen und hinteren Körperfläche auf einander bezieht. 


334 A. Pansch: 


In Bezug auf die zwölfte Rippe ist daran zu erinnern, dass sie 
in Länge und Richtung ungemein variirt, obgleich sie anderseits 
eine ziemlich gesicherte Lage hat und von den Bewegungen der 
übrigen Rippen weniger beeinflusst wird. An einem anderen 
Orte!) habe ich erwähnt, dass ich sie oft genug so kurz fand, 
dass sie sich der Palpation an der Leiche gänzlich entzog und 
die Meinung ausgesprochen, dass dieses Verhalten bei genauerem 
Nachforschen sich als ein viel häufigeres darstellen würde, als 
man gewohnt ist, anzunehmen. Für den vorliegenden Gegen- 
stand ergiebt sich also die Folgerung, dass man an der letzten 
tastbaren Rippe durchaus keine sichere Marke hat, es sei denn, 
dass man von oben herab zählend, sie als die zwölfte nach- 
gewiesen hat. 

Der Darmbeinkamm ferner, der die untere Begrenzung 
der Lendengegend bildet, bietet uns stets einen unverkennbaren, 
in dieser seitlichen Lumbalgegend fast horizontal verlaufenden 
Rand. Nur darf man bei der Palpation nicht vergessen, dass 
sich über den Knochenrand einige Weichtheile (Bauchmuskeln 
und Haut) hinweglegen, so dass er dadurch verdickt und erhöht 
erscheint. . 

Was endlich den M. sacrospinalis angeht, so ist derselbe 
zwar im Allgemeinen in dem betreffenden unteren Theil 7 Cm. 
breit, doch kann dieses begreiflicher Weise kein unveränder- 
liches Maass sein. Der laterale Rand desselben verläuft leicht 
divergirend nach oben; die Höhe desselben vom Darmbeinkamm 
bis zur letzten Rippe beträgt nach Luschka an Leichen gut 
gebauter Männer 12 Cm., während das Ende der letzten Rippe. 
8 Cm. von der Crista entfernt sein soll. 

In Hinsicht der übrigen Muskulatur der Nierengegend 
fand ich an dem mir zugänglichen Material Folgendes: Der 
M. latissimus dorsi reicht mit seinem Ursprunge noch weiter 
lateralwärts als der M. sacrospinalis und zwar, wie bekannt, 
in wechselnder Breite. Der M. quadratus lumborum zeigt in 
seiner Breite einige Schwankung und scheint den M. sacro- 


1) Ueber Anomalien am Thoraxskelete. In diesem Archiv, 1875. 
S. 562, 563. 


De 
RE 
a u a 


Ueber die Lage der Nieren u. s. w. 335 


spinalis an seinem Beckenursprunge gewöhnlich um 2—3 Cm. 
seitlich zu überragen. Die Breite seines oberen Endes ist übri- 
gens einigermaassen unabhängig von der Länge der zwölften 
Rippe; ist diese ungewöhnlich kurz, so setzt der laterale Theil 
des Muskels sich sehnig an die elfte Rippe an. — 

Fragen wir jetzt, wie sich die Nieren in ihrer Lagerung 
zu diesen Theilen verhalten, so findet sich einige Ueberein- 
stimmung bei den Autoren nur in der Angabe, dass die Niere 
den M. sacrospinalis oder den M. quadr. lumb. seitlich etwas 
überrage und dass ein (verschieden angegebener) Theil der 
Niere noch innerhalb des knöchernen Thorax liege. — 

Es ist nun nach meinen Beobachtungen in der That richtig, 
wenn man sagt, dass die Niere gewöhnlich um 1—2 Finger- 
breiten (15 — 3— 4 Cm.) den M. sacrospinalis überragt, doch 
dürften auch hier nach beiden Richtungen hin extreme Fälle 
nicht selten sein.!) 

Das Verhältniss des oberen Nierenendes zu den Rippen 
ist nach meinen Erfahrungen ein äusserst wechselndes, wie es 
ja auch bei der oben erwähnten, wechselnden Höhenlage der 
Nieren und den vielen Längen- und Richtungsabweichungen 
der letzten Rippen nicht gut anders sein kann. Ich sah die 
Niere (und es war in diesem Falle die rechte) bis zur halben 
Höhe der zehnten Rippe hinaufragen, und konnte andrerseits 
einen Fall constatiren, wo sie den oberen Rand der zwölften 
Rippe kaum erreichte. Das mittlere Verhalten anzugeben, ist 
somit nicht leicht; am liebsten möchte ich mit Hoffmann 
sagen, dass die zwölfte Rippe bei einer Neigung von 45° die 
Niere ungefähr in zwei gleich grosse Hälften scheidet. Nach 


1) Es ist vielleicht nicht ohne Interesse, daran zu erinnern, (Ss. 
Luschka a.a. 0.8.7), dass schon 1829 Gerdy in seiner „Anatomie 
des formes exterieures* (Deutsche Uebers. Weimar 1831. S. 160. 
Anm. u) die Beziehungen der Nieren zur seitlichen Lendenfurche und 
zur letzten Rippe genau erörtert und die Sectio lumborum angelegent- 
lichst empfohlen hat, indem er sie als leicht und ungefährlich hin- 
stellt. Nach ihm wird die seitliche Lendenfurche nach aussen von 
der Niere um zwei Querfinger überragt und liegt diese nur mit ihrem 
oberen Ende vor der zwölften Rippe. 


336 A. Pansch: 


Luschka soll die Niere noch höher, nämlich zu zwei Drittel 
unter den Rippen liegen. 

Während somit meine Beobachtungen mit den Angaben 
anderer Anatomen und wohl mit allen anatomischen Abbildungen 
in den hauptsächlichen Punkten vollständig übereinstim men 
weichen sie leider von den noch neuerdings vorgebrachten» 
grösstentheils auf die Percussion gestützten Ansichten der 
Pathologen in einer wichtigen Beziehung ab; ich meine in dem 
Verhältniss der Niere zum Darmbeinkamm. Aus Gerhardt’s 
Worten!) scheint deutlich hervorzugehen und Vogel?) hat 
es seiner Zeit geradezu ausgesprochen, dass die Niere normaler 
Weise bis an den Darmbeinkamm oder selbst noch weiter in 
das grosse Becken hinabreiche. Schon Luschka?°) hat sich 
gegen diese „jedenfalls befremdende* Behauptung ausgesprochen 
und sagt: „Unter geregelten Verhältnissen findet dieses nie- 
mals statt, dagegen kann man wohl zugeben, dass die Grösse 
des Abstandes zwischen dem Rande des Darmbeinkammes und 
dem unteren Ende der Niere wechselnd ist“ und giebt dann 
an, dass sie „bis zur mittleren Höhe des äusseren Lumbalge- 
bietes“ hinabreiche. 

Bei den sechszig Leichen, die ich genau untersucht habe, 
fand ich, dass die Nieren auch nicht ein einziges Mal den Darm- 
beinkamm erreichten, in vier Fällen einseitig und in zwei Fällen 
beiderseits bis auf 1-5 Cm. sich demselben näherten, im Uebri- 
gen aber in einer mittleren Entfernung von 3—5 Cm. blieben, 

Diese Befunde stehen nun auch in vollem Einklange mit 
den Resultaten einer Reihe von Skelet-Messungen, die ich an 
frischen Leichen zu diesem und ähnlichen Zwecken in letzter 
Zeit ausführte, und die ich hier beifüge, da wohl in der Lite- 
ratur noch keine ausreichenden Angaben dieser Art zu finden 
sind. — 

Was zunächst das Verhältniss der durch den höchsten 
Theil der Darmbeinkämme gelegten Horizontalebere zu der 


1) A.a. 0. 8. 146. 
2) Virchow, Handbuch der Pathol, und Ther. VI. 2. S. 421. 
3) Lage der Bauchorgane. 8. 31. 


Ueber die Lage der Nieren u. s. w. 337 


vorderen Fläche der Wirbelsäule betrifft, so kann es ein all- 
gemein gültiges Maass hier am allerwenigsten geben, denn 
ausser der im unteren Theil ja so wechselnden Krümmung der 
Wirbelsäule kommt dabei noch die Neigung des Beckens sehr 
in Betracht. Indem ich einer Reihe von Becken die durch die 
Untersuchungen Meyer’s festgestellte mittlere Neigung!) gab, 
mass ich den senkrechten Abstand des Promontoriums von 
der Horizontalebene der Darmbeinkämme, Als häufigste Zahl 
ergab sich dabei 6 Cm., doch waren Schwankungen bis zu 5 
und 8 Cm. häufig. Extreme Zahlen entstanden meistens durch 
ungewöhnlich hohe oder tiefe Stellung des Promontoriums zum 
Beckeneingange. An der vorderen Fläche der frischen Wirbel- 
säule traf diese Horizontale nur auf den unteren Rand oder 
die untere Hälfte des vierten Lendenwirbels und reichte kaum 
einmal über die Mitte desselben hinaus. — 

Die Entfernung der vorher angegebenen, mittleren oberen 
Nierengrenze (unterer Rand des elften Brustwirbels) von der 
Höhe der Darmbeinkämme schwankte nach meinen Messungen 
von 14— 18 Cm.; die Entfernung des Köpfchens der zwölften 
Rippe stellte sich im Mittel auf 14 Cm. Von dem unteren 
Rande des elften Brustwirbels bis zum oberen Rande des dritten 
Lendenwirbels dürften im Mittel 11'0—11'’5 Cm. sein, von 
letzterem Punkte bis zur Ebene der Darmbeinkämme im Mittel 
5 Cm. Projieirt man oberes und unteres Nierenende, sowie 
den unter der Niere gelegenen Theil des Darmbeinkammes 
senkrecht auf die Medianebene, so treffen sie alle drei meistens 
in den Wirbelkanal hinein. Die direct gemessenen Entfernungen 
werden also nur wenig von den senkrechten Abständen verschieden 
sein, und würden ausserdem (im Gegensatz zu Luschka’s An- 
schauung) bei Beugung des Körpers höchstens grösser werden 
können, kleiner nur bei starker Rückwärtsbeugung. — 

Da nun nach den geläufigen Angaben und einer Reihe 
eigener Messungen die Niere gewöhnlich 10-3—11'0, seltner 
bis 12 Cm. lang ist‘), so könnte sie nur etwa bis zur Mitte 
des ersten Leudenwirbels hinaufreichen, wenn sie unten das 

1) Neigung der „Normalconjugata* von 30°. — 


2) Man muss hier natürlich nicht die herausgerissene oder her- 
Reichert's u. du Bois-Reymonds Archiv 1376. 22 


338 A. Pansch: 


Darmbein erreichte; nimmt sie aber die oben angegebene mitt- 
lere Lage ein, so muss sie noch 2—6 Cm, von demselben ent- 
fernt bleiben, ein Resultat, das genau mit unseren directen Be- 
obachtungen stimmt. 

Nicht ohne Bedeutung für mich ist ferner auch die lang- 
jährige Erfahrung, die wir bei der Zweitheilung unserer Leichen 
für den Präparirsaal gemacht haben. Obgleich der Schnitt meist 
über den vierten Lendenwirbel und etwazwei bis drei Finger 
breit über dem Darmbeinkamm entlang geführt wird, wurden 
die Nieren nie durchschnitten und nur in einzelnen Fällen 
ihr unterstes Ende freigelegt. Freilich liesse sich hier der 
Einwurf machen, dass die Nieren dabei mit oder ohne Absicht 
nach oben gedrängt worden seien. — 

Was die Chirurgen betrifft, so nahm Simon, der be- 
kanntlich mit glücklichem Erfolge eine Niere exstirpirte, die 
Lage der Niere ebenso an wie die Anatomen. Nach seinen 
Uebungen an der Leiche (und an Hunden) beginnt der Haut- 
schnitt in der seitlichen Lendenfurche deshalb „über der elften 
Rippe und geht herunter über die zwölfte bis zur Mitte des 
Zwischenraumes zwischen dieser Rippe und der Crista ossis 
ilei“. Die Auslösung der Niere hält Simon für den schwer- 
sten Akt der Operation, „weil die Niere zu zwei Dritttheilen 
unter den Rippen liegt.“ — 

Wie sich aus Obigem ergiebt, gehn also die Ansichten über 
die Lage der Nieren noch ziemlich auseinander und wenn eine 
Entscheidung auch vielleicht für die praktische Medicin vor- 
läufig weniger Bedeutung hat, so ist es doch Sache der Ana- 
tomen, einen Abschluss herbeizuführen. Da abweichende An- 
sichten doch wohl wesentlich durch die bedeutenden nach Zeit 
und Ort vielleicht häufigen Variationen der Lage hervorgerufen 
werden, so würden also vor Allem zahlreiche neue und ge- 
naue Beobachtungen erwünscht sein. — 

Was nun die Percussion der Nieren anlangt, so wird 
freilich wohl allgemein anerkannt, dass sie oft genug geringe 
oder unsichere Resultate liefern muss, da die bedeckenden 
ausgeschnittene auf dem Tisch liegende Niere messen, sondern die 


durch das umgebende Fett in ursprünglicher Form in der Leiche er- 
haltene Niere. 


Ueber die Lage der Nieren u.s. w. 339 


Weichtheile zu mächtig sind und die Nieren ausserdem noch 
von der verschieden starken Fettkapsel umschlossen werden. 
Dennoch möchte ich es von anatomischer Seite noch besonders 
hervorgehoben wissen, dass die Fettkapsel, wenn sie einiger- 
massen entwickelt ist, in vielen — ich will nicht sagen, den 
meisten — Fällen eine Erkenntniss der unteren Nierengrenze 
vollkommen unmöglich machen muss. Wenn schon aufmerk- 
same Betrachtung des einfachen Situs dieses zeigen, so wird 
es noch weit deutlicher durch horizontale Sägeschnitte. Ich 
besitze solche, die in der Entfernung von je 2 Cm. durch den 
Körper gelegt sind, und sie zeigen, wie die schalldämpfende 
Schicht unterhalb der Niere vollständig dieselbe Dicke hat 
wie in der Mitte derselben. Ein gleichmässig bis zum Darm- 
bein gehender Dämpfungsbezirk ist also durchaus nicht immer 
identisch mit der eigentlichen Nierendämpfung. 

In Bezug auf die seitliche Grenze der Nierendämpfung 
darf ich mir ferner wohl noch eine Bemerkung erlauben. Zu- 
nächst meine ich, könnte auch hier eine stärkere Fettanhäufung 
im Inneren die Bestimmung sehr stören und den Untersuchenden 
irre führen. Nach den oben angeführten Untersuchungen würde 
man den lateralen Rand der Niere ziemlich sicher in der Ent- 
fernung von 10 Cm. von der durch die Proc. spinosi bezeich- 
neten Medianebene finden. 

Ferner will mir scheinen, dass die in der Percussionslehre 
übliche Weise, den lateralen Rand der Nierendämpfung nach 
seiner Entfernung von der „Wirbelsäule* zu bestimmen, etwas 
unklar und jedenfalls leicht irreführend ist. Man fühlt von 
der Wirbelsäule hinten doch nur die Dornfortsätze; diese 
können aber nicht gemeintsein, wenn es heisst!): „Drei Finger 
breit von der Wirbelsäule findet man einen dumpfen Schall- 
raum“ u. s. w. — Soll man sich zu diesem Zwecke beliebig 
die Wirbelsäule (mit oder ohne Querfortsätze?) an der hin- 
teren Körperseite denken? Öder ist es nicht einfacher und 
klarer, wenn man sagt: Die laterale Grenze der Nierendämpfung 


1) Gerhardt, Lehrbuch der Auscultation und Percussion. 
Zweite Aufl. 1871. S. 146. 
227 


340 A. Pansch: 


liest 10 Cm. von den Dornfortsätzen und etwa 1—3 Cm. 
von der seitlichen Lendenfurche entfernt? — Ein Irrthum in 
der Auffassung wäre aber in dem angeführten Falle um so 
leichter möglich, da auf der beigegebenen Fig. 16, S. 146, 
die „äusseren Nierengrenzen“, die Linien ALN und ARN, 
wohl durch ein Versehn viel zu weit medianwärts liegen. 
Wie sie gezeichnet sind, entsprechen sie etwa dem medialen 
Rande des unteren Theils der Niere. 

Wenn Gerhardt und Andere es aussprechen, dass, schon 
geringe hypertrophische oder hydronephrotische Umfangszu- 
nahme sich durch die Percussion erkennen lässt“, so will ich 
gerne zugeben, dass eine zunehmende Ausdehnung der Niere 
bei einer und derselben Person in manchen Fällen sich durch 
Percussion nachweisen lässt, muss aber ernstlich bestreiten, 
dass aus dem Resultate einer einzigen solchen Untersuchung 
irgend ein Schluss auf eine vergrösserte Niere gemacht wer- 
den kann. 

Was die Sectio lumborum angeht, so hat Simon (a. a. ©.) 
noch erwähnt, dass er eine erleichternde Resection der zwölften 
Rippe gescheut habe wegen der Gefahr einer Bröffnung der 
Pleurahöhle, deren Umschlagsstelle am Orte der Resection den 
oberen Rand der Rippe berühre. 

Wenn Luschka (a. a. OÖ. S. 8) meint, dass diese Be- 
denken nicht gerechtfertigt seien, da das Bauchfell „lose ad- 
härirt und eigentlich nur dem obern Rande jener Rippe folgt,“ 
so muss ich erwähnen, dass nach meinen Erfahrungen aller- 
dings in der Regel die Umschlagsstelle der Pleura in dieser 
Gegend der zwölften Rippe anliegt, und zwar bald dem oberen, 
bald dem unteren Rande entspricht, dass es aber auch Fälle 
giebt, in denen die Pleura bis zur Höhe des Querfortsatzes des 
ersten Lendenwirbels hinabreicht. An zwei Leichen habe ich 
ein solches abweichendes Verhalten der Pleura sicher und zwei- 
fellos constatiren können, und zwar jedesmal auf beiden Seiten. 

Durch solche Vorkommnisse wird die Exstirpation der 
Nieren in Zukunft noch um Einiges erschwert werden, denn, 
will man vor einer Eröffnung der Brusthöhle ganz sicher sein, 
so wird man den Schnitt in der Tiefe (beim Durchschneiden 


Ueber die Lage der Nieren u. s. w. 341 


des tiefen Blattes der Faseia lumbodorsalis) nur bis auf 2 oder 
3 Cm. weit an den unteren Rand der zwölften Rippe hinan 
machen dürfen. | 

Ueber die Lageveränderungen, die bei pathologisch ver- 
grösserten Organen stattfinden, kann ich mir, so wichtig es 
wäre, auch hierauf von anatomischer Seite einzugehn, keine 
Bemerkungen erlauben, da mir eigene Beobachtungen gänzlich 
fehlen. Dagegen möchte ich zum Schluss noch einmal auf 
einen Umstand hinweisen, den ich in einer Reihe von Fällen 
sicher nachweisen konnte, nachdem schon Luschka ihn klar 
hervorhob: ich meine den Umstand, dass !/, —!/, der Nieren 
oberhalb der unteren Grenze des Pleurasacks gelegen ist. Denn 
dadurch ist es nothwendig gegeben, dass bei starker Inspira- 
tion, wo die Lunge hinten mehr weniger nahe an die untere 
Pleuragrenze hinabrückt, durch das Zwerchfell ein Druck auf 
die Niere ausgeübt werden kann, und eine leichte Verschiebung 
des oberen Endes nach vorne stattfinden muss. 

Obige Zeilen hatte ich bereits im Juni 1875 niederge- 
schrieben, zögerte aber mit der Absendung, da ich aus mehr- 
fachen Gründen wünschen musste, meine Nachforschungen noch 
weiter auszudehnen. So habe ich nun noch etwa vierzig weitere 
Leichen auf die Nierenlage genau untersuchen können und die 
bisherigen Resultate fast stets bestätigt gefunden. Nur zwei- 
mal war ich so glücklich, eine tiefere Lage zu finden (bei zwei 
männlichen Leichen): bei einer Leiche reichte bei sonst ganz 
normalen Verhältnissen die linke Niere bis fast an den Darm- 
beinkamm, während die rechte Niere ihn noch um 2 Cm. 
nach unten überschritt. Im anderen Falle reichten die Nieren 
bis auf etwa 05 und 1'0 Cm. an denselben hinan. 

Nach meinen auf hiesiger Anatomie an ca. hundert Leichen 
gemachten Erfahrungen reicht also die Niere nur in 1 pCt. 
bis an den Darmbeinkamm, und es ist dieses Verhalten des- 
halb als ein recht ungewöhnliches und somit anomales zu be- 
zeichnen. — 


Kiel, 1. Mai 1876. 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes 
bei der Zusammenziehung. 


Von 


E. pu Boıs- REYMoOND. 


Dritte Abtheilung. 
(Schluss) 


$. XXV. Widerlegung der Hermann’schen Theorie 
der negativen Schwankung und Untersuchung letz- 
terer bei unmittelbarer Reizung curarisirter 
Muskeln. 


1. Hrn. Hermann’s Theorie der negativen Schwankung. 


Hr. Hermann versucht die negative Schwankung des Mus- 
kelstromes bei der Zusammenziehung durch die Annahme zu. 
erklären, dass thätiger Muskel gleich absterbendem negativ 
gegen ruhenden Muskel sich verhalte, folglich thätiger Muskel 
neutral gegen absterbenden. Nach dieser Hypothese fällt bei 
künstlichem Querschnitte, wenn der Muskel auf allen Punkten 
seines Inneren thätig wird, der Grund zum Strome fort, da am 
Querschnitt thätiger Muskel an absterbenden grenzt. Die ne- 
gative Schwankung ergiebt sich somit um so leichter, als dies 
Apercu der Keim aller thierisch-elektrischen Speculationen des 
Hrn. Hermann war. 

Dagegen bei natürlichem Querschnitt und im stromlosen 
Zustand der Muskeln, den Hr. Hermann als den normalen 
betrachtet, vermag Hr. Hermann aus seiner Hypothese nicht 
ohne Weiteres zu erklären, dass der thätige Muskel im um- 
gekehrten Sinne vom Gesetze des Muskelstromes elektromoto- 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s. w. 343 


risch wirksam wird. Denn wird der Muskel zugleich auf allen 
Punkten seines Inneren thätig, so heisst dies nach Hrn. Her- 
mann soviel, wie dass er auf allen Punkten negativ gegen ru- 
henden Muskel werde. Da nun aber, ohne weitere Hypothese, 
nirgend ruhender Muskel vorhanden ist, kann eben so wenig 
Strom entstehen, als wenn ein in verdünnte Schwefelsäure ver- 
senkter Zinkblock auf allen Punkten zugleich in Platin sich 
verwandelte. 

Dieser Schwierigkeit entgeht Hr. Hermann durch zwei 
Hypothesen. Die eine ist, ‘dass die Zusammenziehung des 
Muskels nicht auf allen Punkten zugleich stattfinde. Das ab- 
geleitete Ende des Muskels ist von der Eintrittsstelle des Ner- 
ven im Allgemeinen weiter entfernt als der abgeleitete Punkt 
des Längsschnittes. Hier wird also die Zuckung früher gegen- 
wärtig sein als dort, und im Augenblicke der Zuckung wird 
der Längsschnittspunkt sich negativ gegen das Muskelende 
verhalten, mit anderen Worten, negative Schwankung wird ent- 
stehen.!) In Muskeln nnd Nerven so entstandene Ströme will 
Hr. Hermann „Actionsströme“ genannt wissen, und mit den 
Froschhautströmen und dem Schlage der elektrischen Fische 
sind sie die einzigen thierisch-elektrischen Erscheinungen, die er 
im lebenden oder überlebenden unversehrten Körper zulässt. 

In seiner ersten Bekanntmachung übersah Hr. Hermann, 
und ich musste ihn erst darauf hinweisen,?) dass ihm mit die- 
ser Annahme noch nicht geholfen sei. Denn wenn die Schwan- 
kung das Ende des Muskels ergriffen hat, kommt ein Punkt, 
wo nach seiner Hypothese dies Ende so negativ gegen den 
Längsschnitt sich verhalten muss, wie vorher positiv; es erfolgt 
positive Schwankung, und die Schwankungen heben einander 
an der Bussole auf. 

Deshalb fügte Hr. Hermann seitdem die zweite Hypothese 


1) Weitere Untersuchungen zur Physiologie der Muskeln und 
Nerven. Berlin 1867. S. 36. 

2) Widerlegung der von Hrn. Dr. Ludimar Hermann kürz- 
lich veröffentlichten Theorie der elektromotorischen Erscheinungen der 
Muskeln und Nerven. — Monatsberichte der Akademie u. s. w. 1867, 
S. 620. 


344 E. du Bois-Reymond: 


hinzu, dass die Zuckung, indem sie im Muskel fortschreitet, 
an Stärke verliere, und dass also die positive Schwankung die 
negative nicht aufhebe, welche somit zum Vorschein komme.') 

An diesen Aufstellungen des Hrn. Hermann ist zweierlei 
zu unterscheiden. Richtig ist daran, dass die Zusammenziehung 
nicht auf allen Punkten des Muskels zugleich in derselben 
Phase begriffen ist, und auch uns steht schliesslich bevor, mit 
Rücksicht hierauf unsere Ergebnisse zu erörtern. Eine andere 
Frage ist, ob Abnahme der Reizwelle stattfinde, und ob dadurch 
die verschiedenen Erscheinungsweisen der negativen Schwankung 
erklärt werden können. Zunächst werden einige Bemerkungen 
über die Vertheilung der Nerven im Muskel hier am Platze 
sein, da um diesen Punkt fortan die Verhandlung sich wesent- 
lich dreht. 


2. Wird bei mittelbarer Reizung die Muskelfaser nur an 
einem Punkt oder an mehreren Punkten ihrer 
Länge erregt? 


Ist Hrn. Gerlach’s Lehre von einem die Muskelfaser in 
ihrer ganzen Länge durchdringenden intravaginalen Nerven- 
netze?) richtig, so würde der Muskel auf allen seinen Punkten 
so gut wie gleichzeitig erregt, und der Hermann’schen Hy- 
pothese würde jede Unterlage fehlen. 

Ich will aber, da ohnehin Hrn. Gerlach’s Darstellung 
mir keinen überzeugenden Eindruck gemacht hat, davon ab- 
sehen,’) und mit der, wie ich glaube, grossen Mehrzahl der Hi- 
stologen daran festhalten, dass es Nervenendplatten in dem 


1) Untersuchungen zur Physiologie der Muskeln und Nerven. 
Drittes Heft. Berlin 1868. S. 59; — Grundriss der Physiologie des 
Menschen. 5. Aufl. Berlin 1874. S. 252. 

2) Gerlach, das Verhältniss der Nerven zu den willkürlichen 
Muskeln der Wirbelthiere. Leipzig 1874. S. 47. 

3) Während des Druckes dieses Aufsatzes erhieltich durch die Güte 
des Hrn. Dr. August Ewald dessen Abhandlung: „Ueber die En- 
digung der motorischen Nerven in den quergestreiften Muskeln“ 
(Pflüger’s Archiv u. s. w. Bd. XII. 1876. S. 529), worin die Ger- 
lach’sche Lehre widerlegt wird. 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s. w. 345 


allgemein angenommenen Sinne giebt. Doch ist hier noch ge- 
nauer festzustellen, wie man deren Vertheilung im Muskel sich 
zu denken habe. 

Hr. Reichert zählte im Brusthautmuskel des Frosches 
auf 160—180 Muskelfasern 230—340 Nervenendigungen, wonach 
jede Faser etwa 2 Nerven erhalten würde.) Hr. Kühne liess 
zu jeder Muskelfaser des Froschsartorius 6—8 Nervenfasern 
treten, obschon er an einigen Fasern auch nur eine, an ein- 
zelnen sogar keine Nervenendigung fand?) Hr. W. Krause 
wiederholte Hrn. Reichert’s Beobachtungen über die motori- 
schen Nervenendigungen im Brusthautmuskel, und seine Worte: 
„Manche Muskelspindeln erhalten übrigens nur eine einzige dop- 
„pelt contourirte Nervenfaser,“ lassen schliessen, dass er sonst 
jeder Spindel dieses Muskels mehr als eine Nervenfaser zusprach.?) 

Für den M. gracilis des Frosches dagegen,‘) sowie für 
alle Säugethiermuskeln, ja sichtlich sonst für alle Muskeln aller 
Thiere stellte Hr. Krause die Regel auf, dass jede Muskel- 
faser nur eine Nervenendigung erhält. Besonders genau über- 
zeugte er sich davon am M. retractor bulbi und am M. tensor 
fasciae latae der Katze’) Die von Hrn. Kühne an den Sar- 
toriusfasern beschriebenen häufigeren Nerveneintritte deutete er 
als Capillargefässe,‘) und sprach es schliesslich rückhaltlos aus, 
„dass auch die längsten Muskelfasern der grössten Muskeln 
„nur eine einzige Endplatte besitzen.“ ”) 

Gleicher Meinung in Betreff der Zahl der in eine Muskel- 


1) Dies Archiv, 1851. S. 58. 

2) Monatsberichte der Akademie u.s. w. 1859. S. 395; — dies 
Archiv, 1859. S. 565 fi.; — Ueber die peripherischen Endorgane der 
motorischen Nerven. 4. Leipzig 1862. 8. 19. 20; — Stricker’s 
Handbuch der Lehre von den Geweben u. s. w. Leipzig 1871. Bd. 
1. S. 153. 

3) Die motorischen Endplatten der quergestreiften Muskelfaser. 
Hannover 1869. S. 95. 

4) A. a. 0.8. 99, 

5) A. a. 0. 8. 76-79. 

6) €. F. Th. Krause’s Handbuch der menschlichen Anatomie. 
3. Aufl. von W. Krause. Bd. I. Hannover 1876. S. 497. 

7) Handbuch u.s. w. S. 495. 


346 E. du Bois-Reymond: 


faser eintretenden Nervenfasern scheint Hr. Gerlach. Dass 
im Brusthautmuskel etwa die doppelte Zahl von Nervenendi- 
gungen gefunden wurde, wie von Muskelfasern, erklärte er 
durch die bei den meisten terminalen Nervenfasern vor dem 
Eintritt in die Muskelfaser vorhandene Zweitheilung.!) 

Von Bedeutung wird nun hier eine andere Lehre des Hrn. 
Krause über den Bau der Muskeln. Die von Hrn. Rollett 
wieder aufgefundene spitze Endigung der Muskelfasern im 
Inneren des Muskels?) betrachtet Hr. Krause als Regel. Sei- 
ner Meinung nach giebt es überhaupt keine längeren Muskel- 
fasern als solche von höchstens 4 Cm. Bei Muskeln von die- 
ser oder von geringerer Länge erstrecken sich die Muskelfasern 
von Sehne zu Sehne, wie man es bisher auch von längeren 
Muskeln fälschlich sich dachte. Bei längeren Muskeln aber 
enden die Muskelfasern an beiden Enden spitz, daher Hr. 
Krause die Muskelfasern „Muskelspindeln“ nennt) Hr. 


1) Das Verhältniss der Nerven zu den willkürlichen Muskeln 
u.s.w. 8. 34. 

2) Wiener Sitzungsberichte u.s. w. 1856. Bd. XXI. S. 176. 

3) Die motorischen Endplatten u.s. w. S. 2-6; — Handbuch der 
menschlichen Anatomie u.s.w. A.a. 0.8.81. Hr. Krause hat 
Recht, wenn er bemerkt, dass durch die von ihm in den längeren 
Muskeln erkannte Anordnung deren Leistungsfähigkeit nicht be- 
einträchtigt werde, da der Zug durch die fest verbundenen Muskel- 
spindeln wie durch eine stetige Faser sich fortpflanze. Wenn er 
aber an der zweiten Stelle hinzufügt: „Im Gegentheil dürfte die 
„mechanische Leistung bei der vorhandenen Anordnung sich vortheil- 
„hafter gestalten, als wenn die Muskelfasern von einem Muskelende bis 
„zum andern reichten,“ wie daraus einleuchte, dass bei letzterer An- 
nahme eine Sartoriusfaser vom Menschen Verhältnisse darböte, wie 
ein Draht von 15 M. Länge und 1 Mm. Durchmesser, — so verstehe 
ich ihn nicht. Zwar findet sich bei seinem Vater die Meinung, dass 
Zwischensehnen einen Muskel verstärken (Handbuch der menschlichen 
Anatomie. 1833. Bd. I. S. 63), aber diese Meinung ist irrig. Die Kraft 
des Muskels ist seinem Querschnitte proportional, der doch nicht durch 
Zwischensehnen vergrössert werden kann. Solche Sehnen verkleinern 
nur den der Länge des Muskels proportionalen Hub, also seine Ar- 
beitsleistung, daher ihr Dasein aus der Entwickelung oder aus beson- 
deren Zwecken zu rechtfertigen ist (Vergl. Henle, Handbuch der 
Muskellehre des Menschen. 2. Aufl, Braunschweig 1871. S. 8). Die 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 847 


Nicol hat dies Ergebniss bestätigt.!) 

Indem jede Muskelspindel nur eine Nervenfaser erhält. er- 
klärt es sich, dass längere Muskeln nicht bloss in der Mitte 
ihrer Länge, sondern bis zu einer Entfernung von ihren Enden, 
die etwa der halben Länge einer Muskelspindel gleichkommt, 
Nerven enthalten. Die Enden des M. tensor fasciae latae der 
Katze z.B. findet man in 0°5 bis 2 Cm. nervenfrei.?) Muskeln 
von geringerer Länge als 4 Cm. müssen im Verhältniss zu 
ihrer Masse um so mehr Nerven erhalten, je kürzer sie sind, 
längere Muskeln .eine ihrer Masse proportionale Anzahl von 
Nervenfasern. Nimmt man hinzu, dass in verschiedenen Mus- 
keln aus Einer Nervenfaser verschieden viel Endfasern ent- 
springen können, so fehlt es nicht an Mitteln, um Erscheinun- 
gen zu erklären, wie den scheinbar grösseren Nervenreichthum 
der Augenmuskeln.°) 

Es wird bequem sein, fortan Muskeln, in welchen die Fasern 


Zusammensetzung längerer Muskeln aus Spindeln ist vortheilhafter 
nur weil der an mehr Punkten innervirte Muskel schneller in ganzer 
Länge einen gewissen Grad von Energie erreicht. Erhielte eine von 
Ende zu Ende auch des längsten Muskels verlaufende Faser soviel 
Nervenendigungen, als Spindeln dazu gehören um dieselbe Strecke 
zu überspannen, so würde sie, selbst angenommen die übereinander- 
greifenden Enden der Spindeln ergänzten sich stets zum gleichen 
Querschnitte, nicht bloss so gut wirken, wie die ihr entsprechende 
Spindelreihe, sondern besser. Denn ist v die Geschwindigkeit der 
Zuckungswelle, und / die Länge, in welcher die Spindeln mit ihren 
Enden aneinander liegen, so erreicht die Spindelreihe erst um die 
Zeit £= v1 später als die zusammenhängende Faser auf allen 
Punkten denselben Grad von Energie, wie diese. 

1) Henle’s und Pfeuffer's Zeitschrift u. s. w. 1866. 3. R. Bd. 
XXVIL S. 78. 

2) Nach Hrn. Kölliker enthält der obere Bauch des M. omo- 
hyoideus des Menschen bei einer Länge von 3“ nur in einem Bereiche 
von 5—8“', also in einem Sechstel seiner Länge, Nervenfasern. Aehn- 
liches berichtet Hr. Kölliker vom unteren Bauche desselben Mus- 
kels, ferner vom M. sternohyoideus, sternothyreoideus, suberuralis 
und eostocervicalis. Doch beziehen sich diese Angaben nur auf grö- 
bere Nervenverzweigungen. (Mikroskopische Anatomie. Bd. II. Leip- 
zig 1850. S. 238. 239). 

3) Vergl. Krause, Die motorischen Endplatten u. s. w. S. 79. 


348 E. du Bois-Reymond: 


von Ende zu Ende reichen, in der Rede kurz von solchen unter- 
scheiden zu können, welche der Länge nach aus mehreren Fa- 
sern oder Spindeln zusammengesetzt sind. Ich werde erstere 
monomere, letztere pleiomere Muskeln nennen. 

Jetzt handelt es sich darum, die Nervenvertheilung in mo- 
nomeren Muskeln zu untersuchen. Nach Hrn. Kühne bleibt der 
Sartorius des Frosches nur im Bereiche weniger Millimeter von 
seinen Enden nervenfrei.!) Nach Hrn. Krause vertheilen sich 
die Nerven im M. retractor bulbi der Katze innerhalb der mitt- 
leren zwei Viertel des Muskels.?) Nach Hrn. Reichert be- 
schränkt sich am Brusthautmuskel des Frosches die Strecke, 
in welcher die Nerven an den Muskelfasern endigen, auf das 
mittlere Drittel) Endlich am Gastroknemius des Frosches 
verlegt Hr. Kühne sämmtliche Endplatten etwa in die Mitte 
der Muskelfasern.*) 

Hier stossen wir jedoch auf eine ernste Schwierigkeit, 
welche nochmals zu erörtern ich nicht für unnütz halte, ob- 
schon ich schon einmal darauf hinwies.’) Aus Hrn. C. Sachs’ 
Versuchen folgt, dass die Wirkung einer Endplatte auf die zu- 
gehörige Muskelfaser beschränkt bleibt.) Aus Hrn. Kühne’s 
Versuch über doppelsinnige Leitung des Nervenprincipes am 
Sartorius folgt weiter, dass auch eine Muskeifaser, der eine 
Reizwelle entlang läuft, die Nachbarfasern unerregt lässt.”) 
Danach erscheint unzweckmässig, dass Nervenendigungen über 
einen grösseren Bezirk des Muskels sich verbreiten. Erstens 
ist Nervenlänge vergeudet, zweitens geht im Nerven eine, 
wenn auch kleine, doch angebbare Zeit verloren, drittens wird 
die Wirkung des Muskels verlangsamt, denn der mittlere Ab- 


1) Monatsberichte der Akademie u.s. w. 1859. S. 395; — dies 
Archiv, 1859. S. 567. 

2) Die motorischen Endplatten u.s. w. S. 76. 

SATA OS TET 

4) Ueber die peripherischen Endorgane u.s. w. S. 22. 

5) Experimentalkritik u.s. w. Monatsberichte der Akademie u.s.w. 
1874. S. 556. 

6) Dies Archiv, 1874. S. 57. 

7) Monatsberichte der Akademie u. s.w. 1859. S. 400; — Dies 
Archiv, 1859. S. 585 ff. 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 349 


stand der Endplatte von allen Punkten der Muskelfaser ist ein 
Minimum, wenn die Endplatte in deren Mitte liegt. Das 
scheinbar allein Zweckmässige wäre, dass sämmtliche Endplat- 
ten in der mittleren Querebene des Muskels lägen, wie es, 
mit Berücksichtigung seiner verschobenen Form, nach Hrn. 
Kühne beim Gastroknemius der Fall ist. 

Diese Schwierigkeit zu heben, müsste entweder eine aus 
der Entwickelung herrührende Ursache für die scheinbar un- 
zweckmässige Anordnung nachgewiesen werden, woran es bisher 
fehlt; oder man müsste einen anderen damit verbundenen Zweck 
ersinnen. Man könnte glauben, die Endplatten lägen deshalb 
nicht alle in Einer Ebene, weil sie als krafterzeugende Organe 
bedeutenden Stoffwechsel haben, und sich gegenseitig beein- 
trächtigen würden, wenn sie sämmtlich in einer Querebene 
versammelt wären. Im Gastroknemius lägen sie zwar virtuell 
in solcher Ebene, seien aber in Wirklichkeit gegeneinander 
verschoben, so dass sie in verschiedener Höhe sich befinden, 
Dieser Annahme widerstreitet, dass in den Ganglien zahlreiche 
Nervenzellen, deren Stoffwechsel dem der Endplatten am ehe- 
sten sich vergleichen liesse, dicht gepackt sind. 

Bei der Dünne der Endplatten ist auch nicht daran zu 
denken, dass sie in Einer Querebene liegend am Muskel einen 
ringförmigen Wulst erzeugt hätten. 

Die Richtigkeit der Angabe vorausgesetzt, dass jede Mus- 
kelfaser auch eines längeren monomeren Muskels nur eine 
Nervenendplatte erhält, erscheint demnach als einziger Ausweg, 
dass es doch noch gelinge, von Einer Endplatte aus mehrere 
Muskelfasern zu innerviren. Da Hrn. Sachs’ Versuche mit 
minimaler Reizung angestellt sind, so ist, wie er selber her- 
vorhebt, die Möglichkeit da, dass bei stärkerer Reizung die 
Wirkung der Endplatte auf mehrere Fasern sich ausbreite. 
Natürlich müsste dann diese Wirkung elektrisch sein. Der 
Sinn der Anordnung wäre dann, dass jede Muskelfaser an meh- 
reren Stellen zugleich erregt würde, nämlich überall, wo sie 
der Rückenfläche der Endplatten benachbarter Fasern hinrei- 
chend nahe käme. Dadurch würde sie schneller in ganzer 
Länge wirksam. 

Auch verstände man, warum in längeren monomeren Mus- 


350°. E. du Bois-Reymond: 


keln, im Vergleich zu kürzeren, eine längere mittlere Strecke mit 
Nervenendigungen versehen ist als in kürzeren (s. oben S. 348). 


Dunkel bliebe dagegen, warum in pleiomeren Muskeln die 
nervenfreie Strecke etwa halb so lang ist, wie eine Muskel- 
spindel (s. oben S. 347), in monomeren nur wenige Milli- 
meter (s. oben S. 348). Auch in ersteren sollte sie so kurz 
wie möglich sein. 

Hr. Krause äussert die Vermuthung, dass die zur Fort- 


pflanzung der Reizwelle nöthige Zeit dem Latenzstadium ent- 


spreche.!) Dies ist nicht richtig. Schon vor achtzehn Jahren 
hatte Hr. Pflüger (damals noch in Berlin) denselben Gedan- 
ken gefasst. Ich erhielt zu jener Zeit von Hrn. Rekoss in 
Königsberg ein Helmholtz’sches Myographion, und der erste 
Versuch, den Hr. Pflüger und ich damit anstellten, galt die- 
ser Frage. Es zeigte sich aber auch bei unmittelbarer Reizung, 
wo der Muskel auf allen Punkten zugleich erregt wird, ein 
Latenzstadium.) Unzweifelhaft war dies schon von Hrn. 
Helmholtz selber beobachtet, und er hatte nur versäumt, es 
in seinen Abhandlungen zu erwähnen. Uebrigens würde am 
Pouillet’schen Chronoskop, bei genauer Einstellung des Mus- 
kels auf Belastung im Helmholtz’schen Sinne, kein Latenz- 
stadium sich zeigen, wenn sofort nach Eintreffen des Reizes 
im Muskel die Zusammenziehung in der Nähe der Endplatten 
anfinge. Denn es liest im Wesen dieser Anordnung, dass 
schon die kleinste Zunahme des Muskels an Spannung den 
zeitmessenden Strom unterbricht. 


3. Anwendung der neuen Lehre vom Muskelbau auf die 
elektromotorischen Erscheinungen der Muskeln. Von den 
sehnigen Scheidewänden der Mm. gracilis und semimem- 
branosus vom Frosche. Vom Adductor magnus, einem 
neuen regelmässigen Oberschenkelmuskel des Frosches. 


Wir kehren zu unserem Gegenstande zurück, indem wir 


ı) Handbuch u.s.w. S. 501. 
2) Vergl. E. du Bois-Reymond, On the Time required for 


the Transmission of Volition and Sensation through the Nerves. - 


Proceedings of the Royal Institution of Great Britain. April 13, 1866. 
p. 6. 8. Fig, 2 


Ueber die negative Schwankung des Mnskelstromes u. s. w. 351 


erwägen, wie Hrn. Krause ’s Lehre vom Muskelbaue zur Lehre 
vom Muskelstrome passe. Sichtlich muss in pleiomeren Mus- 
keln jede Spitze einer Muskelspindel Sitz von Parelektronomie 
und terminaler Nachwirkung sein. Allein die negativen 
Kräfte aller inneren Enden heben, wie man annehmen darf, 
im Allgemeinen einander auf. Der elektromotorische Erfolg ist 
also derselbe, als reichten die Fasern von Sehne zu Sehne. 
Folglich bleiben bei Hrn. Krause’s Vorstellung vom Muskel- 
baue auch an pleiomeren Muskeln alle unsere Schlüsse in Kraft. 

Die monomeren Froschmuskeln werden selbstverständlich 
dadurch gar nicht berührt. Doch hat neuerlich mit Bezug auf 
die Frage nach der Geschwindigkeit der Reizwelle Hr. Her- 
mann!) auf den zuerst von Hrn. Ecker?) hervorgehobenen 
Umstand aufmerksam gemacht, dass die Mm. gracilis und semi- 
membranosus vom Frosche durch eine sehnige Scheidewand in 
zwei Abschnitte getheilt werden. Hr. Ecker hatte für beide 
Muskeln zweifelhaft gelassen, ob die Scheidewand alle Fasern 
unterbreche, und vom Semimembranosus hatte er angegeben, 
dass sie den Muskel in schräger Richtung in eine vordere und 
hintere Hälfte theile. Hr. Hermann behauptet für beide Mus- 
keln mit grösster Schärfe Unterbrechung aller Fasern in der 
Art, dass der Muskel in einen oberen und einen unteren Ab- 
schnitt zerfalle, aus deren einem die Zusammenziehung, wenig- 
stens am entnervten Muskel, nicht auf den anderen übergehe; 
und er gründet hierauf eine Kritik der Versuche, durch 
welche Hr. Aeby°) und später Hr. Bernstein‘) die Ge- 
schwindigkeit der Reizung im Muskel maassen. 

Ich selber habe mich des Gracilis und Semimembranosus 
oft als regelmässiger Muskeln bedient, namentlich des ersteren, 
denn am Semimembranosus hatte ich schon eine andere Ab- 


1) Pflüger’s Archiv u. s. w. 1875. Bd. X. 8. 49. 

2) Die Anatomie des Frosches. Braunschweig 1864. S. 113. 114. 
Fig. 81. 82. 

3) Untersuchungen über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der 
Reizung in der quergestreiften Muskelfaser. Braunschweig 1862. 

4) Untersuchungen über den Erregungsvorgang im Nerven- und 
Muskelsysteme. Heidelberg 1871. S. 76 fi. 


352 E. du Bois-Reymond: 


weichung beschrieben, welche darin besteht, dass der Muskel 
in einem Theile seiner Länge von unten nach oben neue Fleisch- 
bündel ansetzt, die von beiden Seiten eines an seinem äusseren 
Umfang emporsteigenden Sehnenstreifes entspringen.) Die 
Inscriptiones tendineae, welche schräg über die Aussenfläche?) 
beider Muskeln verlaufen, waren mir nicht unbekannt; doch 
hielt ich sie für oberflächlich und hatte bisher keine Veran- 
lassung, sie näher zu berücksichtigen. 

Aus Gründen, welche bald erhellen werden, habe ich jetzt 
diesen Punkt genauer untersucht. Ich gelangte leicht zum 
Ziele mittels des Verfahrens, welches mir zur Darstellung der 
facettenförmigen Endigung der Muskelfasern an den Sehnen- 
spiegeln des Gastroknemius und Triceps so nützlich ward.?) 
Die Muskeln wurden leicht ausgespannt, mit Platindraht auf 
Glasstreifen von etwa 6 Mm. Breite und 40—50 Mm. Länge 
befestigt, und in das bekannte Gemenge von Salpetersäure und 
krystallisirtem chlorsaurem Kali gelegt. Das Immobilisiren 
der Muskeln erfüllt den wichtigen Zweck, zu verhindern, dass 
sie in der isolirenden Flüssigkeit zu unförmlichen Klumpen 
sich zusammenballen. Nach hinreichender Einwirkung des 
Gemenges geht der Muskel da, wo eine sehnige Scheidewand 
vorhanden ist, bei sanfter Berührung auseinander, und in den 
Trennungsflächen unterscheidet man mit der Lupe die sammet- 
artige Mosaik der Faserenden. So ‘sind folgende Ergebnisse 
gewonnen. 

In Fig. 3 zeigt @ die Innenfläche (s. Anm. 2) des rechten 
Graeilis. Der hintere Rand des Muskels, in der Figur der 
linke, wulstet sich nach innen vor, und giebt dadurch Anlass 
zur Bildung einer Falte, in der bei x der Hilus liegt. Die 
über den Muskel ausgezogene Curve ist der Rand der Scheide- 
wand an der dem Beschauer zugekehrten Innenfläche; ihr 
gleichsam durch den Muskel hindurch gesehener Rand an der 


1) Dies Archiv, 1863. S. 679. 

2) Aussen- und Innenfläche der Muskeln heissen im Folgenden 
beziehlich die dem Lymphraum und die dem Knochen zugewandten 
Flächen der Muskeln. 

3) Monatsberichte der Akademie u.s. w. 1872. S. 802. 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 353 


dem Beschauer abgewandten Aussenfläche ist gestrichelt. Der 
Theil der Scheidewand, welcher eine perspectivische Ansicht 


Fig. 3. 

gewährt, ist getüpfelt. Wie man sieht, ist der obere Muskel- 
abschnitt im Allgemeinen keilförmig in den unteren, schwalben- 
schwanzförmigen Abschnitt eingelassen. Aber die Gestalt der 
Inseription ist nicht dieselbe an beiden Flächen. An der 
Aussenfläche bildet sie bei sonst stetigem Verlauf eine nach 
hinten verschobene stumpf lancettförmige Spitze nach unten, 
An der Innenfläche macht sie an der oben erwähnten Falte einen 
Sprung in der Faserrichtung, so dass einander berührende Fasern 
in verschiedener Höhe unterbrochen sind. Der so entstehende 
spitze Zipfel liegt in gleicher Höhe mit der stumpfen Spitze an der 
Aussenfläche. Dies war der nächste Punkt, wo in Hrn. Aeby’s 
Versuchen die von dem Elektrodenpaar am unteren Muskel- 
ende ausgehenden Stromschleifen Enden durchgehender Fasern 
trafen.!) 

Die vier anderen Abbildungen beziehen sich auf den 
rechten Semimembranosus. ‚S, zeigt seine Aussen-, $, seine 
Innenfläche. Beidemal ist der Rand der Scheidewand an der 
dem Beschauerzugekehrten Fläche ausgezogen, an der anderen ge- 
strichelt. Die perspectivisch sichtbare Grenzfläche ist ge- 


tüpfelt. Man bemerkt sogleich, dass die Scheidewand nicht den 


1) Vergl. Aeby in Pflüger’s Archiv für die gesammte Phy- 
siologie u.s.w. 1875. Bd. XI. S. 465. 
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 23 


354 E. du Bois-Reymond: 


ganzen Muskel in zwei Abschnitte trennt, sondern fast wie die 
Narbe eines schräg von unten und hinten nach oben und vorn 
geführten Hiebes nur etwa zwei Drittel des Muskels durch- 
dringt. Nichts ist leichter, als ohne jede weitere Maassnahme 
sich davon schon an dem von der Haut entblössten Muskel in 
situ zu überzeugen, wo er den Anblick wie in S, dar- 
bietet. S, und S, zeigen den Muskel beziehlich ‘von seinem 
äusseren und seinem inneren Rand aus gesehen, nachdem von 
dem Theile des Muskels, dessen Fasern unterbrochen sind, der 
obere Abschnitt entfernt wurde. Eine ‚mächtige Fasermasse 
verläuft, wie man sieht, ununterbrochen vom oberen Ende des 
Muskels bis nahe an das knorpelige Hufeisen, durch welches 
der Muskel an der Tibia sich befestigt; die Länge ihrer längsten 
Fasern beträgt gegen 0°9 der Muskellänge. 

Daraus erklärt sich Hrn Bernstein’s Erfolg, da in sei- 
nen Versuchen Gracilis und Semimembranosus zugleich ange- 
wendet wurden.) Wenn auch nur einem Theile der eine 
Muskelmasse zusammensetzenden Fasern eine Zuckungswelle 
entlang läuft, entsteht doch eine dem Querschnitt der Masse 
einigermaassen proportionale Verdickung am Ort der Welle, 
weil die nicht selbstthätig anschwellenden Fasern, um die Ver- 
kürzung mitzumachen, ziekzackförmig sich lagern, wie man 
bei mikroskopischer Beobachtung des Tetanus bekanntlich an 
ermüdeten Fasern sieht. 

Wer, wie Hr. Hermann, überall zum Meister sich auf- 
wirft, sollte sich doppelt vor so fatalen Fehlern hüten, wie mit 
einem Ausrufungszeichen zu verkünden, dass auch der Semi- 
membranosus durch seine Scheidewand ganz vollständig unter- 
brochen werde, und darauf neuen herben Tadel zu gründen, 
wenn er nur die Augen aufzumachen brauchte, um sich eines 
Besseren zu belehren. 

Der Nerv des Gracilis theilt sich, wie schon Hr. Aeby 


1) Hr. Hermann hatschon darauf aufmerksam gemacht (a. a. O. 
S. 49), dass Hr. Bernstein irrthümlich den Gracilis und Semimem- 
branosus die beiden Adductoren, den Semitendinosus Biceps nennt 
(Untersuchungen über den Erregungsvorgang u.s.w. S. 80). 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s. w. 355 


bemerkte,') in einen Ast für den oberen und einen für den un- 
teren Abschnitt des Muskels. Bei gleichzeitiger Innervation bei- 
der Aeste hat diese Einrichtung grössere Geschwindigkeit der 
Wirkung des Muskels zur Folge. Warum im Semimembranosus 
nur ein Theil der Fasern desselben Vortheils geniesse, ist 
leichter zu fragen als zu sagen. 

Die Fasern beider Muskeln stossen an die sie unterbrechende 
Scheidewand jederseits mit ziemlich gut ausgebildeten Fa- 
cetten, nach Art der Fasern der Seitenrumpfmuskeln der Fische.?) 
Es werden also den Scheidewänden entlang jederseits Neigungs- 
stromkräfte herrschen, bei gleicher Parelektronomie jedoch in 
der Ruhe einander aufheben. Dass dies gewöhnlich der Fall 
sei, folgt daraus, dass gerade am Gracilis das Gesetz des Mus- 
kelstromes, mit Inbegriff der Neigungsströme, am sichersten 
und reinsten sich darstellt. Auch bei mittelbarem Tetanus müssen 
jene Krafte einander aufheben. Deshalb haben wir die Kenntniss 
der sehnigen Scheidewände bisher ohne Schaden entbehrt. Sie 
hätte uns indess eine Auskunft mehr geboten, um die Un- 
regelmässigkeiten zu erklären, auf die wir am tetanisirten 
Gracilis bei Ableitung des Stromes von verschiedenen Längs- 
schnittspunkten stiessen. (S. oben I. S. 536). 

Es erschien jetzt wünschenswerth, für gewisse Gelegen- 
heiten neben dem Sartorius, der so leicht abstirbt und dessen 
Nerv so zart ist, und dem Cutaneus femoris, mit dem vollends 
nichts anzufangen ist, noch einen regelmässigen mono- 
meren Muskel zu besitzen. Ich fand einen solchen, für 
manche Zwecke ganz tauglichen, in dem von Hrn. Ecker als 
Adductor magnus°?) bezeichneten Oberschenkelmuskel vom 
Frosche. Zwar hängt dieser Muskel oben mit dem einen Kopfe 
des Semitendinosus, unten mit dem Adductor longus Ecker 
zusammen. Doch lassen beide Verbindungen ohne Verletzung 


1) A. a. 0. S. 48. 49. 
2) Monatsberichte der Akademie u.s.w. 1872. S. 811. 
3) Die Anatomie des Frosches. Braunschweig 1864. S. 116. Fig. 
83. 84. Man wird sich hüten müssen, den Muskel seinem Namen nach 
mit dem früher von mir (nach Cuvier) Adductor magnus genannten 
Graeilis zu verwechseln. Dies Archiv, 1867. S. 263. Anm. 2. 
23* 


356 E. du Bois-Reymond: 


unseres Muskels sich lösen; unten bleiben Stoppeln des Ad- 


duetor longus stehen, sterben aber unstreitig so schnell ab, 


dass nichts auf sie ankommt. Das untere Ende des Muskels 
bildet, wie Hr. Ecker es ausdrückt, eine Art Muskelrohr um 
das Femur, und lässt sich ohne Verletzung nicht davon trennen. 
Daher der Muskel sich nicht wohl dazu eignet, das Gesetz des 
Muskelstromes mit natürlichem Querschnitt daran zu erweisen. 
Dagegen kann man ihn gut im Muskelspanner mittelbar oder un- 
mittelbar tetanisiren. Oben lässt man ihm ein Stüek Becken, unten 
etwa das untere Drittel des Femur und den Kopf der Tibia, 
die man mittels einer um das Knie gelegten Fadenschlinge an 
die eine Elfenbeinplatte des Spanners befestigt. Der Nerv des 
Adductor magnus ist so viel leichter darstellbar als der des 
Sartorius, Gracilis und Triceps, dass es einer besonderen Vor- 
schrift dafür, wie für die Nerven jener Muskeln (S. oben I. 
S. 521. 542. 556), nicht bedarf. 


4. Hrn. Hermann’s Theorie vermag auch bei den gün- 
stigsten ihr gemachten Zugeständnissen die Erschei- 
nungen der negativen Schwankung nicht zu erklären. 


Wenn es im Vorigen scheinen konnte, als verweile ich 
. über Gebühr bei Betrachtungen, aus denen schliesslich nichts 
sich ergab, als wie wenig wir davon wissen, auf welche Art 
die Muskeln erregt werden: so geschah dies nicht unabsicht- 
lich. Es lag mir daran, den Leser an die unsichere Beschaf- 
fenheit des Bodens zu erinnern, auf dem wir uns bewegen. 
Dies ist der Flugsand, auf welchem Hr. Hermann nach seiner 
eigenen Erklärung!) seine Lehrgebäude mit Vorliebe aufführt. 
Wir sahen schon, was seine Theorie der negativen Schwankung 
werth ist, wenn zufällig und trotz allem Anschein, Hr. Ger- 
lach in Betreff der motorischen Nervenendigungen doch Recht 
behalten sollte (S. oben S. 168). Aber wie steht es um diese 
Theorie, auch wenn Hr. Gerlach sich irrte, wenn aber die 
oben S. 348, 349 geäusserten Zweifel sich bestätigten, und es sich 
zeigte, das der Muskel nicht umsonst bis nahe an seinen Enden 


1) Lud. Hermann, Weitere Untersuchungen zur Physiologie 
der Muskeln und Nerven. Berlin 1867. S. 67. 


ie in ‚ Aic 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s. w. 357 


Nerven hat, sondern bei stärkerer Reizung innerhalb des gan- 
zen nervenhaltigen Bezirkes erregt wird? Dann hätte die Reiz- 
welle nur die wenig Millimeter lange Bahn der nervenfreien 
Enden zu durchlaufen, und wird Hr. Hermann behaupten, 
dass sie schon in so kurzer Strecke hinreichend abnehme? 

Doch ich verschmähe es, in dieser Trübe zu fischen. Ich 
will vielmehr von den Hrn. Hermann günstigsten Annahmen 
ausgehen, 1. dass die Reizwelle im Muskel abnehme; 2. dass 
jede Muskelfaser eines regelmässigen monomeren Muskels nur 
an Einem Punkt ihrer Länge erregt werde. Der Einfachheit 
halber setze ich ferner voraus, dass dieser Punkt die Mitte 
des Muskels sei, oder dass sämmtliche Endplatten in der Mitte 
der Muskellänge liegen. Es wird sich zeigen, dass die Folge- 
rungen aus dieser Annahme dem in Wirklichkeit stattfindenden 
Verhalten angepasst werden können. In der die Endplatten 
enthaltenden Querebene, also am Aequator des Längsschnittes, 
befinde sich die eine ableitende Thonspitze, während die andere 
das sehnige Ende oder dort angelegten künstlichen Querschnitt 
berührt. Wird der Nerv erregt, so laufen also, jeder Reizung 
entsprechend, Reizwellen von der Mitte des Muskels nach sei- 
nen beiden Enden. 

Wir nehmen der Einfachheit halber an, dass die augen- 
blicklichen Reizungen, die wir den Muskel treffen lassen, ein- 
ander in solchem Zeitabstande folgen, dass die Welle Zeit hat, 
am Aequator zu entstehen, nach dem Ende des Muskels zu 
laufen, und dort zu vergehen. Den Zeitraum zwischen je zwei 
Reizungen theilen wir in drei Abschnitte, einen Abschnitt 7\,, 
während dessen die Welle unter der Spitze am Aequator hin- 
durchgeht, einen Abschnitt 2, während dessen sie zwischen 
den ableitenden Spitzen wandert, und einen Abschnitt 7,, 
während dessen sie sich am Querschnitte befindet. Wir wollen 
vorläufig setzen 7, = T,;,= T. Auch nehmen wir, wie bei Erörte- 
rung der Versuche am Elektrodynamometer (S. oben II. S. 641), 
rechteckige Gestalt der Zähne der Doppelktenoide an, als 
welche man die aus abwechselnd positiven und negativen Wellen 
bestehende Curve bezeichnen kann. Die Wirkung des Muskels 
in der Ruhe, oder im Zeitabschnitt R, sei M, seine Wirkung 


358 E. du Bois-Reymond: 


im Abschnitt 7, sei M,, die im Abschnitt 7,, M,. Dann 
wird die Wirkung im Tetanus sein 
EM+ TI, +M) 
R+2T. : 

$ 
Rr2T: 

Denkt man sich nun den Muskel stromlos, d.h. nach Hrn. 
Hermann völlig unversehrt, und die Reizwellen nach den 
Enden des Muskels zu abnehmend, so muss bei Zuckung 
oder Tetanus in der That Wirkung im richtigen Sinn ent- 
stehen. Sei (um Hrn. Hermann’s Hypothese genauer aus- 
zudrücken) A der elektromotorische Unterschied zwischen ru- 
hender und absterbender oder thätiger Muskelsubstanz, und 
A — 0 der Unterschied zwischen ruhender Substanz und der 
Substanz in dem Thätigkeitsgrade, der wegen Abnahme der 
Reizwelle noch am Ende des Muskels herrscht. Dann ist 

M=0, M=-4 M,=-A-0°. 
R 
Man hat S=6- Rat 

Legt man künstlichen Querschnitt an, so erzeugt man 
eine absterbende Schicht, zwischen welcher und ruhendem Mus- 
kel der Unterschied A herrscht. Nun ist schon während der 
Ruhe Strom da. Im Augenblick, wo die Reizwelle am Aequa- 
tor entsteht, wird der Strom Null, weil die Thonspitze dort 
thätige, die Thonspitze am Querschnitt absterbende Substanz 
berührt, welche beide gleich negativ gegen ruhende Substanz 
sein sollen. Vom Augenblick an aber, wo die Reizwelle unter der 
Aequatorspitze hindurchging, ist der Strom wieder in voller 
Stärke da. Denn nach einer von Hrn. Hermann’s zahllosen 
Hülfshypothesen ad hoc bilden ruhende, thätige und abster- 
bende Muskelsubstanz eine V olta’sche Spannungsreihe.!) Dies- 
mal ist also M=A, M,=0, M,;=A, folglich 


und die Schwankung 
S=-EM- MM -M;)- 


Br eh 
ER ea 
S ist beidemal positiv; und da A>0 und 
7) 
Der 


1) Pflüger’s Archiv u.s.w. 1871. Bd. IV. S. 177. 178. 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s.w. 359 


sieht es fast so aus, als seien die oben S. 125. 152 gestellten 
Bedingungen erfüllt, und als vermöchte Hrn. Hermann’s Hy- 
pothese sogar Rechenschaft von unseren neuen Thatsachen zu 
geben, dass die Schwankung bei künstlichem die bei natür- 
lichem Querschnitt absolut übertrifft, und dass das Verhältniss 
der Schwankung zum Strom in der Ruhe bei natürlichem Quer- 
schnitte grösser ist als bei künstlichem. 

Allein damit ist auch ihre Leistung zu Ende. Sobald 
statt dieser Grenzfälle der allgemeine Fall eintritt, dass der 
Muskel mässig parelektronomisch ist, was Hr. Hermann 
dahin auslegt, dass am Querschnitt eine Schicht sich befindet, 
welche minder schnell abstirbt, als die Schicht am künstlichen 
Querschnitt, herrscht nur noch Dunkel. SeiA-d die Kraft 
zwischen dieser Schicht und ruhender Substanz. Im Augen- 
blick, wo die Reizwelle unter der Längsschnittsspitze ver- 
weilt, entsteht negative Schwankung im Betrage von - A+.d, 
Was aber wird geschehen im Augenblicke, wo die Welle am 
Querschnitt anlangt? Hrn. Hermann’s Andeutungen über 
seine Hypothese lassen uns dieser Frage gegenüber völlig im 
Unklaren. Etwas Nutzloseres, als die hier in seinem Sinn 
etwa denkbaren Möglichkeiten zu zergliedern, dürfte es 
nicht geben. Wenn man es nicht scheut, Hülfshypothesen ad 
hoc aufeinander zu häufen, wird es aber freilich auch unter 
diesen Bedingungen glücken, negative Schwankung von passen- 
der Stärke herauszubringen. 

Betrachten wir jetzt den Zustand höherer Parelektronomie, 
in welchem schon der ruhende Muskel negativ wirkt. Schon 
die Erklärung dieses Zustandes an sich bereitet Hrn. Hermann 
unüberwindliche Schwierigkeiten. Bekanntlich fasst er die Par- 
elektronomie als „Indolenz*“ der Muskelsubstanz auf, welche durch 
die Kälte zu träge zum Absterben werde, und der natürliche 
Querschnitt erscheint ihm, den schlagendsten Gründen ent- 
gegen,') sonst als vulnerabelster Theil des Muskels. Jetzt 
muss er annehmen, dass dieselben Umstände, welche bei 
mässiger Einwirkung den Muskel mässig, bei stärkerer Ein- 
wirkung ihn mehr „indolent* machen, bei noch stärkerer 


1) Dies Archiv, 1871. S. 603 ff. 


360 E. du Bois Reymond: 


Einwirkung ihn wieder weniger „indolent“ machen, und 
dass dabei zugleich der Querschnitt der weniger vulnerable 
Theil wird. Aber die Verlegenheit wird noch schlimmer durch 
die absolut negative Schwankung solchen Muskels im Te- 
tanus. Er wird nämlich dadurch zur Annahme gezwungen, 
dass die vulnerablere, schneller absterbende mittlere Gegend 
des Muskels stärkere negative Schwankung hat, als die ver- 
gleichsweise unversehrte Schicht, welche an den Querschnitt 
stösst. Es bleibt ihm nichts übrig, als mittels neuer Hypothe- 
sen ad hoc sich auch über diesen Widerspruch hinwegzusetzen. 

Die innere Nachwirkung kann Hr. Hermann erklären. 
Bei künstlichem Querschnitte bleibt der Längsschnitt noch eine 
Zeitlang negativer zurück. Bei natürlichem Querschnitt über- 
trifft die hinterbleibende Negativität des Aequators die des 
Querschnittes. Wäre nur überhaupt verständlich, wie der Mus- 
kel, nachdem er durch einen dem Absterben vergleichbaren 
Vorgang negativ ward, seine natürliche Beschaffenheit im Nu 
fast vollständig wiedergewinnt.!) 

Was die terminale Nachwirkung betrifft, so wäre ich 
begierig zu sehen, wie Hr. Hermann damit fertig wird. 
Sie beruht erfahrungsmässig auf einer am natürlichen Quer- 
schnitte bei der Zuckung sich bildenden elektromotorischen 
Fläche, welche von innen nach aussen wirkt. Ich vermag mir 
keine Combination auf den von Hrn. Hermann aus der Luft 
gegriffenen Grundlagen zu denken, welche zur Entstehung sol- 
cher Fläche führte. 

Den verschiedenen Verlauf der Zuckung bei künstlichem 
und natürlichem Querschnitt vermag Hr. Hermann scheinbar 
wieder zu erklären. Da er bei natürlichem Querschnitt die nega- 
tive Schwankung aus zwei Schwankungen, einer positiven und 
einer negativen, entstehen lässt, von denen letztere siegt, so ver- 
fügt er, wie man meinen sollte, formell dazu über ähnliche 
Mittel, wie wir (S. oben S. 156). Unmittelbare Erfahrung zeigt 
aber (S. unten), dass in seinem Falle diese Mittel nicht hinreichen. 

Wenn die negative Schwankung der Ausdruck ver- 
schiedener Grösse der Reizwelle an den beiden abgeleiteten 


1) Vergl. Monatsberichte u. s. w. 1867. S. 621. 


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Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 361 


Punkten ist, so muss sie mit diesem Unterschied abnehmen, 
also unter anderem mit der Länge des Weges, den die Welle 
zwischen beiden Punkten zurücklegt; sei’s dass die Spannweite 
des ableiteaden Bogens kleiner, sei’s dass der Muskel kürzer ist. 

An einem regelmässigen, wegen Parelektronomie stromlosen 
Muskel, der vom Nerven aus tetanisirt wird, müsste also, nach 
Hın. Hermann, bei Ableitung vom natürlichen Querschnitt 
und von einem diesem nahen Punkte des Längsschnittes, 
die Schwankung bei gleichem Widerstande sehr klein sein im 
Vergleiche zu der bei Ersatz letzteren Punktes durch den Ae- 
quator. Dagegen dürfte sie nicht merklich zunehmen, wenn, 
während die eine Spitze am Aequator liegen bliebe, die andere 
von einem dem sehnigen Ende nahen Punkt auf natürlichen 
Querschnitt rückte. Bei künstlicbem Querschnitt dagegen 
müsste sie unabhängig von der Spannweite des ableitenden 
Bogens sein. Bei mittlerer Parelektronomie, wobei Hrn. Her- 
mann’s Hypothese, wie man sah, überhaupt ganz unklar ist, 
lässt sich ohne Hülfshypothesen über das entsprechende Ver- 
halten Nichts aussagen; und vollends von dem wegen Parelek- 
tronomie negativ wirksamen Muskel kann gar nicht weiter die 
Rede sein. Nach meiner Lehre ist beim Tetanisiren des Mus- 
kels vom Nerven aus in allen Fällen die Schwankung dem 
Strom in der Ruhe proportional; was am stromlosen Muskel 
soviel heisst, wie dass in jeder Lage des Bogens die negative 
Schwankung in der verhältnissmässigen Stärke hervortritt, in 
welcher bei derselben Lage der positive Strom in der Ruhe 
nach Herstellung künstlichen Querschnittes sich zeigen würde. 
Obschon ich mich von diesem Verhalten schon vor langer Zeit 
überzeugte, und es auch mit den vollkommneren seitdem er- 
fundenen Methoden in der Hauptsache bestätigt fand (S. oben 
I. S. 534), liess ich mich jetzt doch die Mühe nicht verdriessen, 
diesen Punkt nochmals ausdrücklich zu untersuchen. Bei jenen 
früheren Gelegenheiten hatte ich die Aenderung des Wider- 
standes bei verschiedener Spannweite des Bogens nicht berück- 
sichtigt. Da diese Aenderung den Strom des ruhenden Mus- 
kels ebenso wie die Schwankung beeinflusst, kommt eigentlich 
hierauf nichts an; um aber Alles versucht zu haben, schaltete 


362 E. du Bois-Reymond: 


ich jetzt ein Widerstandsrohr in den Kreis, wie wir es oben I. 
S. 530. 531. 600 ff. anwandten. Ich bekam an Sartorius, Ad- 
ductor magnus und Gracilis bei verschiedenen Graden von Parelek- 
tronomie wieder nichts zu sehen, als Annahme der Schwankung 
mit der Spannweite des Bogens. Doch ist zuzugeben, dass, da so- 
wohl nach Hrn. Hermann als nach mir dieser Erfolg zu erwarten 
steht, und nur eine im Verhältniss zum Strom in der Ruhe 
übermässige Abnahme für Hrn. Hermann sprechen würde, wie 
sie gelegentlich auch aus anderen Gründen vorkommen kann, 
die Beweiskraft der Versuche keine unbedingte ist. 

Die sehnige Scheidewand, welche den Gracilis in zwei 
etwa gleich lange Abschnitte theilt, bereitet Hrn. Hermann 
neue Schwierigkeiten. Denken wir uns, dass in jedem Ab- 
schnitt die Endplatten wieder in der mittleren Querebene des 
Muskels liegen, und dass der Gracilis vom Aequator und dem einen 
sehnigen Ende abgeleitet wird, so kann nach Hrn. Hermann die 
Schwankung nur dadurch entstehen, dass in jedem der Abschnitte 
die Wellen nach den Enden des Muskels zu stärker abnehmen, als 
nach dessen Mitte. Erstens sieht man dafür am unversehrten Mus- 
kel keinen Grund. Zweitens erscheint unbegreiflich, dass aus dem 
Unterschied in der Abnahme der auf- und abwärts laufenden 
Wellen stärkere Schwankung entstehen solle, als am Sartorius, 
wo nicht allein die Wellen sich nicht dergestalt von einander 
abziehen, sondern auch einen doppelt so langen Weg zurücklegen. 

Am Semimembranosus müsste wegen dessen undurch- 
brochenen Theiles stärkere Schwankung als am Gracilis auf- 
treten, wovon man nichts gewahr wird. 

Aehnliche Schwierigkeiten bietet Hrn. Hermann der 
Gastroknemius. Am stromlosen, von Haupt- und Achillessehne 
abgeleiteten Gastroknemius kann er die negative Schwankung 
nur durch die neue Hülfshypothese erklären, dass die Wellen 
nach unten sehr viel schneller abnehmen als nach oben, so 
dass bei jeder Reizung der Neigungsstrom des Kniespiegels einen 
Augenblick dieOberhand gewinnt. Abermals ist dafür kein Grund 
einzusehen. Abermals ist unverständlich, wie aus dem Unter- 
schied der Wellen, die fast genau denselben Weg zurücklegten, 
die mächtige Schwankung des Gastroknemiusstromes entspringen 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 363 


solle, um somehr, als die Gastroknemiusfasern im Mittel etwa 
fünfmal kürzer sind, als die Sartoriusfasern (S. oben II. S. 663). 

So steht es mit Hrn. Hermann’s Hypothese, wenn ihm 
die beiden oben $S. 357 erwähnten Zugeständnisse gemacht 
werden. Das eine dieser Zugeständnisse ist sichtlich falsch. 
Mit Ausnahme des Gastroknemius sind die Muskeln in weiter 
Ausdehnung nervenhaltig, mit anderen Worten, die Nervenend- 
platten liegen nicht in der Mitte der Fasern. Es scheint also an 
der Bahn zu fehlen, in der die Zuckungswelle abnehmen könnte, 
Allein unter der Voraussetzung, dass jede Faser nur am Ort der 
Nervenendplatte erregt wird, lässt sich für die Hermann’sche 
Hypothese annähernd dieselbe Grundlage gewinnen, wie wenn 
alle Fasern ihre Nervenendplatten in der Mitte trügen (S. 
oben ebenda). 

Man denke sich zwei aneinanderliegende Fasern, deren 
eine die Nervenendplatte in der Entfernung & vom einen, die 
andere in derselben Entfernung vom anderen Ende hätte. Die 
beiden Fasern werden vom Aequator und dem einen sehnigen 
Ende abgeleitet. Wänn wird, wenn A die Länge der Fasern 
ist, eine Schwankung durch Abnahme der Reizwelle übrig 
bleiben, welche, wenn diese Abnahme dem zurückgelegten 


Wege proportional erfolgte, einer Länge = 2 — 2 +22= 28 ent- 


spräche. Sie würde also kleiner sein, als wenn sämmtliche 
Endplatten in der Mitte der Faserlänge lägen, oder als wenn 


ji 
€=5 wäre, und sie würde für &=0 verschwinden. 


Wendet man diese Betrachtung auf die im Muskel vorhan- 
denen Faserpaare an, deren Nervenendplatten ın gleicher Ent- 
fernung vom Ende liegen, so gewinnt es den Anschein, als 
lasse die Hermann’sche Hypothese zur Noth sich auch mit 
der thatsächlichen Anordnung der Nervenendplatten im Muskel 
vereinigen. Allein man stösst dabei auf den Uebelstand, dass dann 
die Schwankung bei mittelbarer Reizung schwächer ausfallen 
müsste als bei unmittelbarer, während das Gegentheil der 
Fall ist. 


364 E. du Bois-Reymond: 


Der Leser ist im Stande zu beurtheilen, ob viel darauf 
ankommt oder nicht. Gleichviel ob schon die erste Grundlage 
der Hypothese fehlerhaft ist oder nicht, sie trifft, wie man sah, 
auf soviel weitere Schwierigkeiten, dass ihr mit der Hinweg- 
räumung des ersten Anstosses nicht geholfen ist. 


5. Aus Hrn. Bernstein’s Versuchen folgt nicht, dass im 
unversehrten Muskel die Reizwelle merklich abnehme. 


Nur ist es Zeit, auch noch das andere Hrn. Hermann 
oben S. 357 gemachte Zugeständniss näher zu prüfen, die An- 
nahme nämlich, dass die Reizwelle im Muskel abnehme. Hr. 
Hermann hatte ursprünglich diese Abnahme nur ad hoc er- 
funden. Seitdem hat er das Glück gehabt, dass Hr. Bern- 
stein in Versuchen am Differential-Rheotom sie wirklich be- 
obachtete. Regelmässige durch Curara entnervte Muskeln wurden 
vom einen Ende A aus unmittelbar gereizt. Zwei ableitende 
Thonspitzen « und ß lagen symmetrischen Längsschnittspunkten 
an, @ dem Ende A, 8 dem B näher. Es herrschte also kein 
Strom im Kreise; war einer da, so wurd®®er compensirt. Lief 
nun die Welle unter Spitze « fort, so entstand eine Schwan- 
kung im Sinne, dass @ negativ gegen 8 wurde. Diese Schwan- 
kung heisst negativ, weil sie als solche sich darstellen würde, 
wenn Spitze ß dem Ende B des Muskels selber anläge. Nach 
der Zeit, in welcher die Reizwelle von @ nach ß gelangt, folgt 
auf die negative Schwankung eine positive im Sinne, dass 
nun ® negativ gegen @ sich verhält. Wie kaum gesagt zu 
werden braucht, liegt die Erklärung der Erscheinung darin, 
dass die in Thätigkeit gerathende Strecke des Muskels minder 
stark elektromotorisch wirkt, und also negativ gegen den übri- 
gen Muskel sich verhält, wie dies Czermak schon vom Wulste 
bei Hrn. Schiff’s sogenannter „idiomusculären Contraction * 
nachgewiesen hatte.! ) 

Hr. Bernstein stellt nun als Regel hin, dass die nega- 


1) Wiener Sitzungsberichte. 1857. Bd. XXIV. S. 510; — All- 
gemeine Medicinische Central-Zeitung. 1861. XXX. Jahrgang 45. 
Stück. S. 353. 


BEL: 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 365 


tive Schwankung an Grösse die positive übertreffe, was auf 
Abnahme der Reizwelle schliessen lasse, und in der That er- 
kennt man dies Verhalten in 5 unter den 13 von ihm mitge- 
theilten Versuchsprotokollen (XXXIX, XLI, XLIX, L, LI).') 

Allein es ist nicht zu übersehen, dass mit Ausnahme eines 
einzigen Versuches am Gracilis (XXIX) alle diese Versuche 
am Sartorius angestellt sind, einem schwächlichen Muskel, 
der vom Augenblicke der Präparation an meist rasch abstirbt. 
Daher in Hrn. Bernstein’s Protokollen, welche im Ganzen 
23 Versuche umfassen (von denen 13 hierher gehören), 
zehnmal die Bemerkung wiederkehrt, der Muskel habe nur 
schwach gezuckt, er sei unerregbar geworden u. d. m.?) Die 
Vermuthung liegt daher nahe, dass die Abnahme der Reiz- 
welle in den Bernstein’schen Versuchen keine normale 
Erscheinung war, sondern darauf beruhte, dass die Muskeln 
schnell abstarben. 

Ich will damit nicht sagen, dass in einer lebenden, blut- 
umspülten Muskelfaser von unendlicher Länge die Reizwelle 
in’s Unbegrenzte mit unverminderter Stärke fortlaufen würde. 
Ich halte aus theoretischen Gründen für höchst wahrscheinlich, 
ja für gewiss, dass mit der Zeit die Welle erlöschen müsste.°) 
Eine andere Frage aber ist, ob wohl die Abnahme der Welle 
so schnell geschehe, dass sie in einer 10—20 Mm. langen Strecke 
eines gut leistungsfähigen, vollends eines im lebenden unyer- 
sehrten Körper befindlichen Froschmuskels bemerkbar werde. 
Eine so rasche Abnahme scheint nicht wohl vereinbar mit der 
Vorstellung, die wir uns von der Zweckmässigkeit organischer 
Einrichtungen machen. Zwar haben wir im Muskel schon mehrere 
Unzweckmässigkeiten erkannt,?) welche zeigen, dass auch diese 
vollkommenste aller Kraftmaschinen, gleich dem Gebild von Men- 


1) Untersuchungen über den Erregungsvorgang im Nerven- und- 
Muskelsysteme. Heidelberg 1871. S. 64. 73—75. 

2) Nämlich in den Versuchen XI, XII, XVII, XX, XXVII, 
AXXVI, XXXIX, XLIIL XLV, XLVI. 

3) Vergl. Bernstein, a. a. 0. S. 149 ff. 

4) S. meine „Experimentalkritik der Entladungshypothese u, s. w.“ 
in den Monatsberichten der Akademie, 1874, 8. 522. 


366 E. du Bois-Reymond: 


schenhand, gleichsam nur ein Compromiss zwischen der ange- 
strebten Leistung und den natürlichen Bedingungen ist. Um so 
abgeneigter werden wir der Annahme fernerer Unzweckmässigkei- 
ten der Art sein, wie wir uns denn schon gegen die scheinbare Un- 
zweckmässigkeit der Nervenvertheilung im Muskel abwehrend ver- 
hielten (S. oben S. 348). Dagegen kann man sehr gut sich denken, 
dass, je mehr der Muskel abstirbt, um so früher die Welle 
erlischt und um so tiefer sie in einer gegebenen Strecke sinkt, 
so dass ihre Abnahme in einem Froschmuskel bemerkbar wird. 
Schliesslich schreitet sie gar nicht mehr vor, und verharrt am 
Orte der Reizung selber als negativer Wulst der „idiomuscu- 
lären Contraction“. 

In derThat dürfen wir wohl unbedenklich die Welle der nega- 
tiven Schwankung der Zuckungswelle ungefähr proportional setzen. 
Dann aber ist der Vorgang, wie wir ihn am entnervten querge- 
streiften Muskel uns denken, buchstäblich so, wie ihn Hr. | 
Engelmann am Ureter sah. Da der Ureter nach ihm in weiter 
Ausdehnung nervenlos ist, so lässt er sich füglich solchem Mus- 
kel vergleichen. „Man kann oft schon eine halbe Stunde nach 
„Oeffnung der Bauchhöhle beobachten“, sagt Hr. Engelmann, 
„dass von Zeit zu Zeit eine der spontanen Wellen, die kräftig 
„aus dem Hilus renis herauskommen, in ihrem Verlauf nach der 
„Blase schwächer wird und, meist schon im mittelsten Theile 
„des Ureter, erlöscht.... Endlich erhält man statt der peri- 
„staltisch und antiperistaltisch vorschreitenden Wellen nur eine 
„locale lange anhaltende Zusammenschnürung in den unmittel- 
„bar an den direct gereizten Fleck grenzenden Partieen, in 
„einer Ausdehnung von höchstens % bis einigen Millimetern.“ !) 
Es dauert also eine halbe Stunde, bis in dem, im Vergleich 
zu einem Froschmuskel, soviel längeren und zarteren Ureter 
des Kaninchens die Abnahme der Reizwelle dem Auge bemerk- 
bar wird, und auch dann verläuft in einer der halben Länge eines 
Froschmuskels ungefähr entsprechenden Strecke die Welle noch 
ungeschwächt. Ja noch mehr. Bei hohem Leitungsvermögen des 
Ureters sah Hr. Engelmann sogar untermaximale Contractions- 


1) Pflüger’s Archiv u.s.w. 1869. Bd. IL. 8. 265. 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 367 


wellen bis zu einem Maximum anschwellen, und dann im weiteren 
Verlaufe durch den Ureter anscheinend unverändert bleiben ;!) 
so dass hier das von Hrn. Pflüger in den Nerven behauptete 
Anschwellen des Reizes, welches neuerlich wieder lebhafter an- 
gefochten wird,?) ein mit Augen sichtbares Seitenstück haben 
würde; es sei denn, dass das Anschwellen der Reizwelle in die 
Gegend des Ureters fiel, wo dieser noch Ganglienketten enthält. 

In dem von Hrn. Kühne einst als „Porret’sches Phäno- 
men am Muskel“ beschriebenen Versuche?) sieht man Zuckungs- 
wellen mit scheinbar ganz unverminderter Kraft von der Anode 
zur Kathode laufen. 

Mustert man von diesem Standpunkt aus Hrn. Bern- 
stein’s Versuche, so bemerkt man zunächst, dass in 4 von 
seinen 13 Versuchen (XXIX, XXV, XLV, LIII) die positive 
Reizwelle die negative übertraf. Von diesen 4 ist der erste, 
XXIX, der einzige überhaupt am Gracilis angestellte Versuch. 
In den übrigen 5 von den 13 Versuchen kamen gar keine po- 
sitiven Ausschläge zum Vorschein. Der Muskel war also sichtlich 
nicht im normalen Zustand, und in zweien dieser Fälle, XXXVI 
und XLII, steht ausdrücklich da: „Noch erregbar?“ und 
„keine Contraction mehr“ (S. oben S. 365.) Daher Hr. Bern- 
stein selber sich einwendete, dass die negative Welle die po- 
sitive in der Regel vielleicht deshalb übertreffe, weil die Erreg- 
barkeit im Versuch abnahm. Er glaubte diesen Einwand da- 
durch widerlegen zu können, dass die Abnahme auch in Fällen 
sich kundgab, wo der Versuch mit Beobachtung der positiven 
Ausschläge anfing.*) Dies schliesst aber die Möglichkeit nicht 
aus, dass schon im Beginn des Versuches die Erregbarkeit soweit 
gesunken war, da die negative. Schwankung die positive 


1) Ebend. 1870. Bd. Ill. S. 289. 321. 

2) S. Ernst Fleischl in den Wiener Sitzungsberichten. 1875. 
Bd. LXXII. Abth. III. Separatabdruck; — Hällsten, Irritabilite- 
ten pa olika ställen afsamma nerv. Finska Läkare-Sällskapets Hand- 
lingar. Helsingfors 1875. H. 2; — in diesem Archiv, oben, $. 242 ff. 

3) Dies Archiv, 1860. S. 642; — Vergl. Monatsberichte u. s w. 
1860. S. 902. 

4) A. a..0. 8. 64. 


368 E. du Bois-Reymond: 


übertraf. Nimmt man einen dem Tode nahen Muskel, so wird 
man, mit Untersuchung der positiven Schwankung beginnend, 
vielleicht gar keine Wirkung mehr erhalten, während noch deut- 
lich negative Schwankung erscheint. 

Endlich ist zu bemerken, dass Hrn. Bernstein’s Ver- 
suche im Grunde für unseren Zweck nicht beweisend sind. 
Dazu müsste man den ganzen Verlauf der negativen und posi- 
tiven Schwankung aufnehmen, und anstatt der Maximalordinaten 
die von Curve und Abscissenaxe umschlossenen negativen und 
positiven Flächenräume mit einander vergleichen.') 

Noch gehört hierher Hrn. Bernstein’s Versuchsreihe über 
Geschwindigkeit der Reizung im Muskel, insofern wir die 
Zuckungswelle der Reizwelle ungefähr proportional setzen, in 
diesen Versuchen aber eine Abnahme der Zuckungswelle schein- 
bar bemerkbar wurde. Diesmal bediente sich Hr. Bernstein, 
wie wir oben S. 354 sahen, nicht nur nicht des Sartorius, son- 
dern sogar der noch zusammenhängenden Mm. gracilis und se- 
mimembranosus. Die entnervten Muskeln wurden abwechselnd 
von einer Stelle « und einer weit davon entlegenen Stelle 5 
aus gereizt, und die Verdickung des Muskels an der Stelle @ 
in beiden Fällen gemessen. Sie war kleiner bei Reizung von 
b aus, so dass, um sie vona und b aus gleich zu erhalten, wie 
der Zweck des Versuches es verlangte, bei b ein stärkerer | 
Reiz angewandt werden musste. Stets lag dabei, wie Hr. 
Bernstein ausdrücklich angiebt, a dem oberen, 5 dem un- 
teren Ende des vereinten Gracilis und Semimembranosus mög- 
lichst nahe. Es ist nicht wahrscheinlich, dass die Muskeln in 
diesen Versuchen schnell abstarben. 

Allein ein anderer Umstand beraubt letztere jeder Beweiskraft 
hinsichtlich der Abnahme der Zuckungswelle. Der am Punkte 5 
angebrachte Reiz schritt im Gracilis nur bis zur sehnigen Scheide- 
wand fort, welche den Muskel in einen oberen und einen 


1) Diese Bemerkung ist um so wichtiger, als, wie Hr. Bernstein, 
nachdem ich sie niederschrieb, mir brieflich mittheilte, die an Höhe 
abnehmende Reizwelle an Dauer wächst, was seine Fig. 7 nicht zeigt. 
Unserer Annahme 7, = T, auf S. 357 entgegen, ist 7, > 7,, und die 
längere Dauer der Welle compensirt vielleicht ganz ihre geringere Höhe. 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 369 


unteren Abschnitt theilt. Im Semimembranosus geschah theils 
dasselbe, theils ergriff von den durchgehenden Fasern der 
Reiz nur die, welche unterhalb der Stelle 5 entsprangen. Es 
ist also natürlich, dass die von 5 aus in a erregte Welle kleiner 
ausfiel als die in a selber erzeugte, und eher wunderbar, dass 
es gelang, durch Verstärkung des Reizes in 5 den Unterschied 
auszugleichen. 

Auch Hr. Hermann selber hat seitdem Versuche über 
Geschwindigkeit der Reizung im Muskel angestellt!) Da er 
die Abnahme der Zuckungswelle auch im lebenden unversehrten 
Körper als ausgemacht ansieht, und, abgesehen von einem 
Schildkrötenmuskel, wieder des Froschsartorius sich bediente, 
so konnte er Neues über unsere Frage nicht beibringen. 


6. Neue Versuche über die angebliche Abnahme der 
Reizwelle im Muskel. Es fehlt an jedem Grund anzu- 
nehmen, das sie im lebenden unversehrten Muskel ab- 

nehme, was Hrn. Hermann’s Theorie vollends stürzt. 


- Natürlich habe ich mich nicht auf diese kritischen Betrach- 
tungen beschränkt, sondern zur Aufklärung meiner Zweifel eigene 
Versuche unternommen. Es giebt eine einfache Art zu ermitteln, 
ob die Reizwelle im Muskel abnehme oder nicht, bei welcher nö- 
thigenfalls ein einziger, wenig Secunden dauernder Versuchsichere 
Antwort ertheilt, so dass der Muskel wenigstens während des 
Versuches nicht mehr an Erregbarkeit verliert, als die Erregung 
es mit sich bringt. 

Man denke sich einen regelmässigen monomeren Muskel ent- 
nervt und im Muskelspanner immobilisirt, und jedem seiner Enden 
A und B ein Elektrodenpaar in Verbindung mit der Nebenrolle 
desSchlitteninductoriums angelegt. Die Elektroden sind entweder 
zwei Thonspitzen, oder eine Thonspitze und ein das entspre- 
chende Knochenstück berührendes Thonschild eines Zuleitungs- 
gefässes. In solcher Entfernung von der nächsten Thonspitze, 
dass man vor Stromschleifen sicher ist, liegen elektromotorisch 


1) Ptlüger’s Archiv u, s. w. 1875. Bd. X. S. 50. 
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 24 


310... E. du Bois-Reymond: 


symmetrischen Längsschnittspunkten « und 8 zwei Thonspitzen 
als Enden des Bussolkreises an. Es herrscht kein in Betracht 
kommender Strom. Nun wird von A aus tetanisirt. Wäre der 
Muskel nicht entnervt, und würde er vom Nerven aus tetanisirt, 
so bliebe erfahrungsmässig das Gleichgewicht so gut wie unge- 
stört. Am entnervten Muskel aber erregt jeder Inductions- 
schlag eine dem Muskel entlang laufende Welle, welche, nach 
Hrn. Bernstein, an der Bussole erst negative, dann positive 
Schwankung erzeugt. Erstere findet statt, wenn die Welle 
unter a, letztere, wenn sie unter ß hindurch geht. Sind beide 
‚gleich, so muss der Bussolspiegel in Ruhe bleiben. Nimmt die 
Welle von « nach ß hin ab, so überwiegt die negative Wirkung, 
und es muss im Muskel ein Strom im Sinne der fortschreiten- 
den Welle, von « nach ß, erscheinen. Nähme die Welle zu, 
so müsste ein Strom ihrem Lauf entgegen, von B nach a, ent- 
stehen. Legt man eine Wippe um, welche Elektrodenpaar A 
statt B in den tetanisirenden Kreis bringt, so muss, unter den- 
selben Annahmen, der Strom umgekehrt fliessen. Um diese 
Wirkungen von Stromschleifen zu unterscheiden, bringt man 
ausser der A und BD miteinander vertauschenden Wippe noch 
eine Wippe an, welche in dem gerade angewendeten Elektroden- 
paare die Inductionsschläge umkehrt. 

Ich habe eine grosse Anzahl solcher Versuche angestellt. 
Ich bediente mich des Sartorius, des Adductor magnus, des 
Semimembranosus und des Gracilis. Man könnte glauben, dass 
die beiden letzteren Muskeln durch ihre Scheidewand hierfür un- 
brauchbar gemacht seien. Doch kann in Hrn. Hermann’s Sinne 
die Scheidewand keine andere Wirkung üben, als dass sie den 
Weg der Welle verkürzt. Der Erfolg dieser Versuche war, dass 
man am Sartorius stets negative Schwankung, als Zeichen der Ab- 
nahme der Welle, erhält. An den mehr leistungsfähigen Muskeln 
erhält man bei längerer Dauer der Versuche freilich auch negative 
Schwankung. Zu Anfang dagegen ist die Schwankung manchmal 
positiv, nicht selten doppelsinnig, erst positiv, dann negativ. 

Die Wirkungen sind stets nur klein, und oftnur spurweise vor- 
handen. Bei den in der ersten Abtheilung (8. 517. 518) geschil_ 
derten Verhältnissen der Bussole belaufen’sich die positiven Wir- 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 371 


kungen in der Regel auf 5—10s°, die negativen auf 20—30°°; 
selten sieht man welche letzterer Art von 70—808e, 

Die positiven Schwankungen rühren weder von Strom- 
schleifen, noch, wie ich anfangs glaubte, daher, dass die in- 
trapolare Strecke den Muskel an sich zieht, noch endlich von 
Neigungsströmen der Scheidewände am Gracilis und Semimem- 
branosus, denn sie kommen auch am Adductor magnus vor, und 
überdies würde bei Berücksichtigung der Neigungsströme 
die Theorie negative Wirkung verlangen. Ich will übri- 
gens nicht behaupten, dass die positiven Wirkungen auf Zu- 
nahme der Reizwelle zu deuten sind. Ich vermag sie nicht 
sicher zu erklären. Gewiss ist nur, dass der endliche Sieg der 
negativen Wirkung auf Rechnung des Absterbens des Muskels 
zu bringen, dass sie anfangs unmerklich, wenn überhaupt vor- 
handen, und jedenfalls viel zu unbedeutend ist, um in Hrn. 
Hermann’s Sinne sie zur Erklärung der negativen Schwankung 
unter den gewöhnlichen Umständen zu verwenden. 

Ursprünglich entnahm ich die zu diesen Versuchen be- 
stimmten Muskeln curarisirten Fröschen. Da nicht entnervte 
Muskeln bei Versuchen über die Geschwindigkeit der Zuckungs- 
'welle bekanntlich nicht anders sich verhalten als entnervte'), 
erwartete ich aber, dass diese Uebereinstimmung sich auch 
hier kundgeben würde, und wirklich war in Beziehung auf 
den Verlauf der Zuckungswelle, wie er in diesen Versuchen 
sich ausspricht, zwischen entnervten und nicht entnervten Mus- 
keln kein sicherer Unterschied erkennbar. 

Von Bedeutung ist, dass die Schwankung in diesen 
Versuchen völlig stetig verläuft; auch wenn sie doppelsinnig ist, 
sieht man den Faden zuerst nach der einen, dann nach der 
anderen Seite schnell und ohne Stockung sich bewegen. Hr. 
Hermann vermöchte also nicht, wie es beim ersten Anblick 
scheinen konnte, den neuerlich von mir beschriebenen ver- 
schiedenen Gang der Schwankung bei künstlichem und natür- 
lichem Querschnitt aus dem von ihm angenommenen Wettstreit. 
zweier Wirkungen zu erklären (S. oben S. 360). 

1) Aeby, Untersuchungen über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit 


u. s. w. S. 47. 48;— Hermann, in Pflüger's Archiv u.s. w. 1874. 
Bd. X. S. 53. 24* 


372 E. du Bois-Reymond: 


Wird der Versuch dahin abgeändert, dass man zwischen & 
und ß die Quecksilberrinnen des Rheotoms einschaltet, und 
in A oder B mittels des Rheotoms tetanisirt, so ist er einer- 
lei mit Hr. Bernstein’s oben betrachteten Versuchen an Sar- 
torien und an einem Gracilis. Die positiven und negativen 
Wirkungen, welche vorher unmittelbar gegeneinander abgewo- 
gen wurden, kommen bei verschiedenen Schieberstellungen 
jetzt einzeln zur Beobachtung, und können miteinander ver- 
glichen werden. Ich habe dergleichen Versuche mit dem nach 
Obigem zu erwartenden Erfolg angestellt. An schwachen, er- 
müdeten, absterbenden Muskeln überwiegt die negative, an 
kräftigen zuweilen die positive Schwankung. Ich sagte schon 
oben S. 368, weshalb diese Versuche in dieser Gestalt nicht be- 
weiskräftig sind. Die Versuchsweise hat für unseren Zweck über- 
dies den Fehler, dass die Leistungsfähigkeit der Muskeln unter 
dem häufigen Tetanisiren leidet (S. oben I. S. 585. II. S. 666). 

Der Gracilis verhält sich dabei, trotz seiner Scheidewand, 
ganz wie ein undurchbrochener Muskel. Oefter als an anderen 
Muskeln wiegt an ihm die positive Schwankung vor, wie sich 
schon in Hrn. Bernstein’s Versuchen zeigte (S. oben 
S. 367). Ich weiss nicht, ob dies seiner grösseren Leistungsfähig- 
keit, oder seinem Baue zuzuschreiben ist. 

Nach dem Allen halte ich für ganz unerwiesen, dass im leben- 
den unversehrten Körper, bei nicht ermüdeten Muskeln, die Reiz- 
welle innerhalb der Länge einer Muskelspindel merklich abnehme, 


und da dies in hohem Grad unwahrscheinlich ist, fehlt es an 


jedem Grunde, solche Abnahme anzunehmen. 

Nach Hrn. Hermann sind die Muskeln im lebenden unver- 
sehrten Körper stromlos.. Um zur Erklärung der negativen 
Schwankung an solchen Muskeln auch nur den ersten Grund 
zu legen, braucht Hr. Hermann die Abnahme der Reizwelle. 
Da sie nicht abnimmt, so fällt seine Theorie vorweg; aber auch 
wenn sie abnähme, ist diese Theorie, wie wir sahen, unhaltbar. 
Denn sie ist nicht allein unfähig, von vielen wichtigen, ja 
fundamentalen Erscheinungen Rechenschaft zu geben, sondern 
auch im offenbaren Widerspruch mit Thatsachen.') 

!) Hr. Hermann hat kürzlich ein angebliches Exrperimentum 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 373 


$. XXVI. Erörterung der negativen Schwankung mit 
Rücksicht auf die Lehre von der Reizwelle. 


Schliesslich läge uns ob, die Thatsache, dass die Zu- 
sammenziehung sich wellenförmig von den erresten Punkten 
aus verbreitet, unsererseits in Rechnung zu ziehen, und eine 
darauf gegründete Theorie der negativen Schwaukung im Teta- 
nus zu versuchen. In vierfacher Beziehung weicht unsere Be- 


erucis gegen das Vorherbestehen der elektrischen Gegensätze im 
Muskel beschrieben. Er hat eine Vorrichtung, welche einem im Bus- 
solkreise befindlichen immobilisirten und compensirten Gastroknemius 
den Achillesspiegel schnell abstreift und eine kleine Zeit £ darauf den 
Kreis öffnet. Sinkt ? unter s45— z49, so erfolgt kein Ausschlag 
mehr, während der entwickelte Strom während derselben Frist noch 
mehrere Scalentheile Ausschlag giebt. Hr. Hermann schliesst daraus, 
dass der elektrische Gegensatz zu seiner Entwiekelung der Zeit £ be- 
dürfe (Centralblatt für die medicinischen Wissenschaften. 1875. 
S. 705.). 

Er muss doch einigermaassen betroffen gewesen sein, als auch 
dieser letzte Versuch, das Vorherbestehen der elektrischen Gegensätze 
zu widerlegen, so schlecht ausfiel. Er rechnete gewiss darauf, dass 
mindestens ein anständiger Bruchtheil der Secunde für die Entwicke- 
lung des Stromes nöthig sein würde. Recht störend ist auch für 
hn, dass die angebliche Stromentwickelung an stark parelektrono- 
mischen Gastroknemien trotz ihrer „Indolenz“ eben so schnell vor sich 
ging, wie sonst. 

Wenn sein Versuch etwas beweist, so ist es das Gegentheil von 
dem, was Hr. Hermann erwartete. Jeder Sachverständige sieht, 
dass der Gastroknemius nur deshalb im ersten Augenblick keinen 
Strom giebt, weil er wegen der mechanischen Verletzung seiner Fa- 
sern in negativer Schwankung begriffen ist. Hr. Hermann unter- 
nimmt zwar durch verwickelte Schlüsse und das Ziel verfehlende Con- 
trolversuche zu beweisen, dass dies nicht der Grund des beobachteten 
Verhaltens sei. Seine Redensarten werden aber nur solche überzeugen, 
so an ihn glauben. Er thäte besser, offen einzugestehen, dass sein 
Versuch gegen ihn spricht, und diese unfruchtbaren Angriffe auf 
eine Wahrheit aufzugeben, die doch nun einmal nicht zu ändern ist. 
Die Natur kann doch nicht, damit Hr. Hermann Recht behalte, die 
Muskeln ihres Stromes berauben. Auf keine bessere Art könnte Hr. 
Hermann die Reihe der von ihm in diesem Gebiete begangenen 
Fehler in Vergessenheit bringen. 


374 E. du Bois-Reymond: 


trachtungsweise von der eben zurückgewiesenen ab. Erstens ist 
uns die Zuckungswelle ein Ort, wo die Muskelsubstanz zeit- 
weilig die in ihr vorherbestehenden Gegensätze ganz oder zum 
Theil eingebüsst hat, sei’s durch Verminderung der elek- 
tromotorischen Kraft, sei’s durch solche Lageänderung kleiner 
elektromotorischer Flächen, dass keine oder geringere Wirkung 
nach Aussen gelangt. Man kann daher theoretisch die Welle 
durch einen im Muskel wandernden Abschnitt ersetzen, 
den beiderseits eine negativ elektromotorische Fläche be- 
grenzt. Zweitens haben wir zur Verfügung die stärker oder 
schwächer verkehrt wirkende parelektronomische Strecke am 


RER 18 


natürlichen Querschnitte, deren negativ elektromotorische Kraft - 


bei der Zusammenziehung in geringerem Maass abnimmt, als 
die positive des Gesammtmuskels. Drittens berücksichtigen wir 
die terminale Nachwirkung, eine zeitweilige, mit der Dauer 
des Tetanus wachsende Verstärkung der negativen Kraft der 
parelektronomischen Strecke. Endlich viertens suchen wir ohne 
Abnahme der Reizwelle auszukommen, welche wir im leben- 
den unversehrten Körper läugnen; was nicht ausschliesst, 
dass sie im absterbenden und ermüdeten Muskel eine auch für 
uns beachtungswerthe Rolle spielen kann. Die innere Nachwir- 
kung und die Ermüdung lassen wir, der Einfachheit halber, 
wie früher, vorläufig beiseite. 

Die Grundlage für die Behandlung der negativen Schwan- 
kung von diesem neuen Gesichtspunkt aus wurde schon oben 
S. 357. 358 gegeben. Um die Schwankung zwischen Aequator und 


sehnigem Ende zur Zeit i, zunächst bei unmittelbarem Tetani- 


siren vom anderen Ende zu bestimmen, dient uns der Aus- 
druck für die Wirkung des tetanisirten Muskels, entsprechend 
dem U, unserer früheren Auseinandersetzungen (S. oben 
S. 125 [wo durch einen-Druckfehler U, steht] und 152) 
RM+TMA+ T,M; 
R+T+T 


in welchem wir der Einfachheit halber wieder 7, =T3= T machen 


(S. oben S. 357. 368). 
Es it M=M-P-Ne,, 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 375 


MM, =aM—-P- N (e), 
M,=M-naP-naNk), 

wo M,P,N«,), n dasselbe bedeuten wie dort, a’'aber den pro- 
centischen Betrag der in der Einzelschwankung noch übrig blei- 
benden Kraft ausdrückt, wie früher @ dies für die Gesammt- 
schwankung that. «' kann also = 0 werden, jedoch nicht ne- 

gativ (S. oben II. S. 648 ff). I, ist = M- P; folglich 
Se E — a!) M—- (1— na) P+na' Ne UT: Re) 
Der Ausdruck in der viereckigen Klammer ist bis auf den Unter- 
schied zwischen a’ und a« derselbe, zu dem wir oben $S. 155 
ohne Berücksichtigung der Wellenbewegung gelangten. Wir 
brauchen also nicht erst zu untersuchen, ob er im Allgemeinen die 
nöthigen Bedingungen erfülle; nur dürfen nicht a’ und n zu klein 
werden, dasonst bei P>M die Schwankung zuleicht positiv würde. 
Nun ist die Frage, wie die Dinge beim Tetanisiren vom 
Nerven aus sich gestalten, unter der Voraussetzung, welche wir 
bis auf Weiteres doch festhalten müssen, dass die Muskelfasern 
nur an einem Punkt ihrer Länge innervirt werden. Dieser 
Punkt liegtbei verschiedenen Fasern in verschiedenen Querebenen 
des Muskels. Es sind zwei Fälle zu unterscheiden. Auf solche 
Fasern, die vom abgeleiteten Ende aus jenseit des Aequators 
oder in seiner Ebene ihre Endplatte haben, passt ohne Weiteres 
vorige Betrachtung. Hinsichtlich der Fasern, deren End- 
platte zwischen Aequator und abgeleitetem Ende liegt, ist zu- 
nächst zu bemerken, dass gleichgültig ist, von welcher Seite 
die Welle dem Aequator sich nähert. Zweitens ist auch 
gleichgültig, in welcher Reihenfolge die Zeitabschnitte R, 7, 
und 7, mit einander abwechseln. Daraus ergiebt sich, dass 
Formel (=) auch für diesen Fall gilt, so lange nicht die Wellen 
Aequator und Querschnitt zu gleicher Zeit erreichen. Liegt 
die Endplatte so in der Mitte, dass die Wellen zugleich am 
Querschnitt und Aequator anlangen, so giebt esnurnoch einen Zeit- 
abschnitt T veränderter elektromotorischer Wirkung des Muskels ; 
der andere istzu Z zu schlagen. Für M erhält man Null während 
des Abschnittes veränderter Thätigkeit. Dadurch wird diesmal 

rE T[M- P(1-na)) + N«e).[R+T(1+na')]- 

7 R+2T 


376 E. du Bois-Reymond: 


Dieser Ausdruck erfüllt unter erlaubten Annahmen gleichfalls 
die oft erwähnten Bedingungen, uud überdies ist er grösser als 
der mit (x) bezeichnete. Wir erhalten also für die Schwankung 
bei mittelbarem Tetanus stärkere Wirkung als für die bei un- 
mittelbarem Tetanus, während nach Hrn. Hermann, im Wider- 
spruch mit den Thatsachen, vom Nerven aus nur unverhältniss- 
mässig kleinere Wirkung erfolgen könnte (Vergl. oben S. 363.) 

Bei Ableitung des Stromes von zwei Längsschnittspunkten 
treten bei unmittelbarem Tetanus drei Zeitabschnitte veränderter 


Wirkung auf; zwei sind die schon erwähnten, in welchen die 


Welle unter den ableitenden Spitzen hindurchgeht, der dritte 


ist der, in welchem sie den Querschnitt erreicht.') Doch be- 


dürfte man, um diesen Fall genauer zu erörtern, der Kenntniss 
des Gesetzes, nach welchem die Stromkraft mit der Lage des 
Bogens am Muskel und zwar bei verschieden langen Muskeln 
sich ändert, und noch mehrerer anderen Umstände. 

Es wäre um so nutzloser, diesen Mangel durch willkür- 
liche Annahmen ersetzen zu wollen, je lückenhafter hier auch 
noch sonst unser Wissen ist. Nämlich es erübrigt hier nun 
überhaupt, die negative Schwankung durch unmittelbare Rei- 
zung planmässig bei künstlichem und natürlichem Querschnitt, 
an entnervten und nicht entnervten Muskeln, bei verschiedener 
Lage des Bogens, endlich, soweit thunlich, nicht bloss an 
regelmässigen, sondern auch an unregelmässigen Muskeln zu 
untersuchen, und unter allen diesen Umständen sie mit der 
Schwankung durch mittelbare Reizung zu vergleichen. Hrn. 
Bernstein’s und meine oben mitgetheilten Versuche sind nur 
der erste Anfang dieser ausgedehnten und mühevollen Arbeit, 
bei welcher man unter anderen auf die Schwierigkeit trifft, dass 
der Muskel in beiden Fällen gleich stark erregt werden muss. 
Dies scheint nur so ausführbar, dass man beidemal den Mus- 


kel maximal erregt. Dann läuft man aber bei unmittelbarer 


Reizung Gefahr, durch Stromschleifen, wenn auch nicht getäuscht,, 
doch gestört zu werden. 
Bei der Erörterung der Ergebnisse dieser Versuche wird man 


1) Vgl. dies Archiv, 1871, S. 592 #, 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 377 


wiederum nicht vermeiden können, die oben S. 348 angeregte 
Frage zur erneuten Prüfung heranzuziehen, ob die Muskelfasern 
wirklich nur am Ort ihrer Endplatte, oder sonst in ihrem Ver- 
lauf erregt werden. 

In dieser verworrenen Lage müssen wir die Untersuchung 
abbrechen. Die Fragen der nächsten Zukunft bezeichnet zu 
haben, ist schliesslich auch noch ein Fortschritt, und somit sei’s 
an dieser Stelle für diesmal genug. 

Seit Eduard Weber’s Artikel „ Muskelbemenungt in 
Rud. Wagner’s „Handwörterbuch der Physiologie“ hat man sich 
daran gewöhnt, vom thätigen Zustand der Muskeln als von einer 
zweiten Gleichgewichtslage der Muskeltheilchen zu reden, in 
welcher der Muskel bei gleichem Rauminhalte kürzer und dicker 
ist. Muskelton, secundärer Tetanus und die Anzeichen erhöhten 
Stoffverbrauches bewiesen doch längst das Unrichtige dieser Vor- 
stellung. Wenn ich nicht irre, ist die Zeit da, wo man nicht 
länger zögern darf, die stets von mir gelehrte Discontinuität des 
Tetanus und, nach dem von Hrn. Aeby, Hrn. Bernstein und 
Hrn. Jendrässik!) gegebenen Beispiele, dessen Entstehung 
aus Reizwellen mehr zu beachten, als bisher. 


8. XXVIH. Anhang. Vermischte Bemerkungen über 
die negative Schwankung. 


Aus gewissen Gründen war es wichtig, die negative 
Schwankung am mittelbar mechanisch tetanisirten Gastroknemius 
zu untersuchen. Zum Hämmern des Nerven diente der Halske’ 
sche Unterbrecher mit dem von Hrn. Heidenhain beschrie- 
benen Elfenbeinhammer und Amboss.?) Durch geeignete Ver- 
suche überzeugte ich mich, dass keine elektrische Wirkung 
seitens der den Elektromagnet umgebenden Rolle auf den Ner- 
ven stattfand. Der in mechanischen Tetanus verfallende Muskel 
gab nicht bloss negative Schwankung, sondern auch secundären 
Tetanus. (S. oben II. S. 637). Es lag mir nun aber daran, 


1) Dies Archiv, 1874, S. 513. 
2) Physiologische Studien. Berlin, 1856. S. 127 


378 E. du Bois-Reymond: 


die negative Schwankung bei mechanischem mit der bei elek- 
trischem Tetanus zu vergleichen. Hierzu gebrauchte ich den 
Kunstgriff, der mir schon bei meinen Untersuchungen über die 
negative Schwankung des Nervenstromes gute Dienste geleistet: 
hatte, den einen Tetanus, um mich so auszudrücken, in dem 
Augenblick entreten zu lassen, wo die Ablenkung durch den 
anderen Tetanus gerade das Maximum erreicht hat, und die Na- 
del umzukehren im Begriff steht. Ist der zweite Tetanus 
stärker, so geht die Nadel noch weiter zurück, ist er schwächer, 
so kehrt sie sichtlich schneller in die der Ruhe des Muskels 
entsprechende Ablenkung zurück.!) Hier wurde dies Verfahren 
in’s Werk gesetzt, indem ich durch Umlegen der Wippe eines 
Pohl’schen Gyrotropes ohne Kreuz den Strom eines Grove’schen 


Elementes abwechselnd dem Halske’schen Unterbrecher und - 


der Hauptrolle des Schlitteninductoriums zuführte. Der Nerv 
des Gastroknemius lag bald diesseit bald jenseit des Hammers 


auf einem Paar Platinelektroden, welche die Enden der Neben- 


rolle des Inductoriums vorstellten. Obschon der mechanische 
Tetanus vollkommen ausgeprägt war, und die tetanisirenden 
Ströme des Inductoriums nur die gewöhnliche Stärke besassen, 
übertraf die negative Schwankung durch den elektrischen stets 
sehr deutlich die durch den mechanischen Tetanus. 

Nothgedrungen lasse ich hier viel Fragen unberührt, die 
sich von verschiedenen Seiten her zudrängen. Ich erwähne nur 
noch folgende. 

In der ersten Abtheilung, 8. 531, ist die negative 
Schwankung in Tetanus mit künstlichem Querschnitt zu 0-4 
der ursprünglichen Stromkraft angegeben. Gegen diese Be- 
stimmung ist einzuwenden, dass sie möglicherweise nur 
für die angewendete Art des Tetanisirens gilt. Es wird un- 
tersucht werden müssen, wie sich die negative Schwankung 
mit der Häufigkeit, Stärke und sonstigen Beschaffenheit 
der tetanisirenden Schläge ändert. Die Behandlung dieser 
‚Aufgabe erfordert aber vor Allem, dass man sich im Be- 
sitz einer Vorrichtung zum Tetanisiren befinde, wie sie oben 


1) Untersuchungen u. s. w. Bd. II. Abth. I. S. 448. 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 379 


I. S. 518 Anm. 2 geschildert wurde. Voraufgehen müsste na- 
türlich die Untersuchung der Schwankung bei Doppelreizung 
u. d. m. 

Eine der wichtigsten hier zu stellenden Fragen war die 
nach dem Verhältniss der Schwankung zu der gleichzeitig vom 
Muskel geleisteten Arbeit. Schon vor mehreren Jahren hat 
Hr. Lamansky im Heidelberger Laboratorium am Bernstein’- 
schen Rheotom diese Frage in Angriff genommen!), und hat 
dabei, wie ich nachträglich bemerke, Hr. Meissner’s Irrlehre 
selbständig widerlegt, wie auch Hrn. Sigmund Mayer’s 
Versuche über den Verlauf der Gastroknemiusschwankung be- 
stätigt. Indem er dem Muskel etwa nur drei Schläge in der 
Secunde ertheilte, bis das Maximum der negativen Schwankung 
erreicht war, gelangte er zum Ergebniss, dass die Schwankung 
mit der vor der Zusammenziehung dem Muskel ertheilten 
Spannung wächst, also ähnlich sich verhält, wie nach Hrn. 
Heidenhain die Wärmeentwickelung”) Während aber diese 
auch mit der Ueberlastung zunimmt, ist durch Hrn. Lamansky 
die Ueberlastung ohne Einfluss auf die Schwankung. Ich habe 
gegen diese Versuche das Bedenken, auf welches Hr. 
Lamansky noch nicht kommen konnte, dass die Dehnung 
des Muskels durch die Belastung die Nebenschliessung verschlech- 
tert, welche dieMuskelmasse den von den Sehnenspiegeln ausgehen- 
den Strömen darbietet. Um diesen Verdacht zu entkräften, 
müssten die Versuche an regelmässigen Muskein mit thermischem 
Querschnitte wiederholt werden. Auch dürfte sich empfehlen, 
was unsere jetzigen Methoden gestatten, den Erfolg bei Ein- 
zelzuckungen statt bei unvollkommenem Tetanus zu beobachten. 

Hermann Roeber zeigte durch sorgfältige Versuche, 
dass die Stärke des Muskelstromes durch Curara und durch das 
Gift der Calabarbohne erhöht wird, und führte diese auf- 
fallende Erscheinung auch sogleich auf ihre Ursache zurück, 
nämlich auf die an den vergifteten Muskeln bemerkbare 
Blutfülle. Nicht vergiftete Muskeln, an denen durch Unterbin- 


1) Pflüger’s Archiv u. s. w. 1870. Bd. II. S. 193. 
2) Mechanische Leistung, Wärmeentwickelung und Stoffumsatz 
bei der Muskelthätigkeit. Leipzig. 1864. S. 140. 


380 E. du Bois-Reymond: 


dung Blutfülle bewirkt wurde, zeigten gleichfalls Erhöhung 
ihrer elektromotorischen Kraft. Mit dieser Erhöhung ging an 
eurarisirten und calabarisirten Muskeln eine solche der mecha- 
nischen Leistungsfähigkeit Hand in Hand. Endlich auch die 
von Hrn. Funke entdeckte, beim ersten Anblick so paradoxe 
Erhöhung der elektromotorischen Kraft curarisirter Nervenstämme 
führte Roeber auf dieselbe Ursache zurück.) Da nun an 
ceurarisirten Nerven durch Hrn. Funke eine Vergrösserung der 
negativen Schwankung nachgewiesen ist, so liegt die Ver- 
muthung nahe, dass curarisirte, calabarisirte, überhaupt mit 


1) Dies Archiv, 1869, S. 440. — Ich vergass, als Roeber mit diesem 
Gegenstande sich beschäftigte, ihn auf ältere Wahrnehmungen 
aufmerksam zu machen, welche mehr oder minder sicher hierher 
gehören. Es bleibt zweifelhaft, ob Fowler’s Beobachtung hierauf 
zu beziehen sei, nach welcher die Muskeln eines Frosches, dessen 
Bein er durch Reiben mit einer Bürste entzündet hatte, stärker auf 
den Reiz einer Zinksilberkette reagirten (Experiments and Observations 
relative to the Influence lately discovered by M. Galvani etc. Edin- 
burgh 1793. p. 128— 130; — Al. Monro’s und Rich. Fowler’s Ab- 
handlung über thierische Elektrieität u. s. w. Leipzig 1796. S. 145). 
Reinhold hat diese Beobachtung an Muskeln bestätigt, die er durch 
Messerschnitte entzündet hatte (De Galvanismo Specimen I. Lipsiae 
1797. p. 110). Matteucci verwundete Fröschen die Oberschenkel- 
muskeln, so dass sie hyperaemisch wurden: „Un medecin les aurait 
dits engorges.*“ Sie gaben stärkeren Froschstrom als gesunde Frösche, 
nicht jedoch, wenn sie aus der Wunde sich verbluteten oder wenn 
sie in Wasser gesetzt wurden, in welchen Fällen keine Hyperaemie 
entstand (Traite des Phenomenes electro-physiologiques des Animaux. 
Paris. 1844. p. 110. 111; — Vergl. meine Untersuchungen u. s. w. 
Bd. II. Abth. I. S. 170). Dies beweist, dass die wahrgenommene 
Verstärkung nicht auf Herstellung künstlichen Querschnittes be- 
ruhte. Hr. Cima bestätigte Matteucci’s Angabe (Saggio storico- 
critico e sperimentale etc. 1848. p. 476. $. 46). Nach Zerstörung 
des Rückenmarkes fanden Matteucci, Hr. Cima und Hr. Brown- 
Sequard den Muskelstrom verstärkt: Traite ete. p. 77. 78. (Vergl. Unter- 
suchungen a. a.0.8.171; — s. jedoch auch Matteucei, Legons sur les 
Phenomenes physiques etc., p. 183, wo die Angabe zurückgenommen 
ist); — Saggio storico-critico ec. p. 486. $. 63; — Brown-Sequard in 
Experimental Researches applied to Physiology and Pathology. New- 
York 1853 (Letzteres Citat nach Valentin in Cannstatt’s Jahres- 
bericht u. s. w. 1853. Würzburg 1854. S. 216). _ 


Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 381 


Blut überfüllte Muskeln gleichfalls eine verstärkte negative 
Schwankung werden erkennen lassen. Es wird nicht leicht 
sein, hierüber zur Gewissheit zu gelangen. 

Auch die negative Schwankung des postmortal gewachsenen 
Muskelstromest) zu untersuchen, wäre eine wichtige, aber frei- 
lich nicht minder schwierige Aufgabe. Die Schwankung an kalt- 
blütig gemachten Säugethiermuskeln?), an Säugethiermuskeln, 
denen nach Ludwig’s und Al. Schmidt’s Methode künstlich 
Blut zugeführt wird?), an erwärmten und an abgekühlten 
Muskeln, besonders an Froschmuskeln, welche auf eine Tem- 
peratur erkaltet sind, wobei keine Säurung stattfindet*), wäre 
gleichfalls der Untersuchung werth. 

Ich spreche nicht von der specifischen Intensität der 
Schwankung bei den verschiedenen neuerlich von Hrn. Ran- 
vier unterschiedenen Arten von Muskeln’), und anderen ähn- 
lichen Aufgaben. 


1) Dies Archiv, 1867. S. 293. 

2) Dies Archiv, 1867. S. 439. 

3) Arbeiten aus der physiologischen Anstalt zu Leipzig. 1868. S.1. 

4) Monatsberichte u. s. w. 1859. S. 309; — De Fibrae muscularis 
Reactione ete. p. 25. 

5) Comptes rendus ete. 1873. t. LXXVII. p. 1030; — Brown- 
Sequard, Charcot, Vulpian, Archives de Physiologie normale et 
pathologique. Paris 1874. 2me Serie. t. I. p. 5. 


Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur 
auf den Nerven- und Muskelstrom. 


Von 


Dr. J. STEINER. 
Assistenten am physiologischen Institut in Halle. 


Erster Artikel. 


$ 1. Einleitung. 

Der Erregungsvorgang im Nerven war trotz aller Hülfs- 
mittel nur kenntlich durch die Zuckung des zugehörigen Muskels, 
so lange bis E. du Bois-Reymond die negative Schwankung 
des Nervenstromes entdeckt hatte!); an die Stelle des Muskels 
konnte jetzt, mit der bekannten Einschränkung, das Galvano- 
meter gesetzt werden: der Rückschwung der Magnetnadel giebt 
uns Kunde von einem Erregungvorgange im Nerven. Nachdem 
darauf durch H. Helmholtz die Fortpflanzungsgeschwindigkeit 
der Erregung im Nerven numerisch dargestellt war?), stellte 
sich auch für die negative Schwankung des Nervenstromes die 
Aufgabe, ihre Fortpflanzungsgeschwindigkeit von der Stelle der 
Reizung, in ihrem Verlaufe bis zum Eintritt in das Galvano- 
meter zu bestimmen; eine Aufgabe, welche erst vor einigen 
Jahren von J. Bernstein gelöst worden ist?). Derselbe fand, 
dass die negative Schwankung sich in einer Welle, der von 
ihm benannten „Reizwelle“ fortpflanzte, deren Geschwindigkeit 
genau gleich war der Geschwindigkeit der Erregungswelle, und 
er stand auf Grund dieser Thatsache nicht an „die Annahme zu 


1) E. du Bois-Reymond. Untersuchungen über thierische 
Elektrieität. Bd. II. S. 425 u. £. 

2) H. Helmholtz. Messungen über Fortpflanzungsgeschwindig- 
keit der Reizung in den Nerven. Dies Archiv 1850. 

3) J. Bernstein. Untersuchungen über den Erregungsvorgang 
im Nerven- und Muskelsysteme. 1871. 


Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 383 


machen, dass die Reizwelle Nichts anderes ist, als das Bild des 
im Nerven ablaufenden Erregungsvorganges“!). 

Weiterhin hat Helmholtz gezeigt, dass die Temperatur 
einen mächtigen Einfluss auf die Fortpflanzungsgeschwindigkeit 
der Erregung im Nerven ausübt. Besteht nun in der That, 
wie J. Bernstein annimmt, die Identität von Erregungs- und 
Reizwelle, so steht zu erwarten, dass die Temperatur denselben 
Einfluss auch auf die Reizwelle ausüben müsse, wie wir das 
von der Erregungswelle schon wissen; eine Aufgabe, die 
Hr. Professor Bernstein mir anzuvertrauen die Güte hatte, 

Da das Verhalten der negativen Schwankung unter dem 
Einflusse wechselnder Temperaturen im Allgemeinen durchaus 
unbekannt war, so begann ich mit der Untersuchung dieses 
Gegenstandes; aber bald zeigte sich, dass ich auch damit schon 
zuweit vorgegangen war; man musste vorher durchaus erst 
unterrichtet sein über das Verhalten des ruhenden Nerven- und 
Muskelstromes, bevor man einen erspriesslichen Schritt nach 
vorwärts thun konnte. Diese Untersuchung ist in dem ver- 
flossenen Winter von mir ausgeführt worden und ich lege 
hier dieselbe den Fachgenossen in einem ersten Artikel vor. 
Diesem werden sich dann die ursprünglich geplanten Unter- 
suchungen anschliessen. 


$2. Versuchsanordnung. 


Die Versuchsanordnung hat zwei Aufgaben zu erfüllen: 
erstens eine Vorrichtung, in welcher der Nerv oder Muskel be- 
liebig temperirt und durch stets unverrückbare Elektroden 
abgeleitet werden kann; zweitens die allgemein in der Elektro- 
physiologie gebräuchlichen Apparate zur Ableitung, Messung, 
Compensirungu.s. w. derthierisch-elektrischen Ströme, anzugeben. 

Für die Temperirung des Elektrieitätserregers wurde das 
von E. du Bois-Reymond?) an seinem Federmyographion 
angebrachte, und für ähnliche Zwecke bestimmte Kästchen be- 
nutzt; seine Construction als bekannt vorausgesetzt berichte ich, 

»72.2..0: 8: 34. 


2) Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Muskel- und Nerven- 
physik. Bd. I. Leipzig 1875. 8. 282. 


384 J. Steiner: 


dass dasselbe in den hölzernen Boden einer feuchten Kammer, 
die auf vier Korkfüssen steht, so eingefügt wurde, dass die an 
der Zu- und Abflussöffnung des Kästchens angebrachten Gummi- 
schläuche unterhalb des Bodens hervorgezogen und als Zu- und 
Abflussröhren benutzt werden konnten, Der Deckel des Käst- 
chens musste selbstredend fortgelassen werden; der Lack, mit 
dem die Oberfläche, auf welche der Nerv oder Muskel zu liegen 
kommt, isolirt ist, erwies sich als ungenügend, weil er bald 
Risse bekam und die Platte dadurch leitungsfähig wurde; dieselbe 
wurde deshalb mit einer feinen Gummiplatte überzogen, welche 
durch den gebräuchlichen Kitt an den Seiten befestigt war. 
Diese Anordnung hat sich vortreffllich bewährt; es sind alle im 
Folgenden aufgeführten Versuche auf derselben Gummiplatte 
ausgeführt; es war ein Wechsel derselben niemals nothwendig 
geworden. Die feuchte Kammer steht auf einem kleinen Tische, 
von etwa zwei Drittel der gewöhnlichen Tischhöhe zu meiner 
Rechten, wenn ich am Fernrohr sitze; der recht lange Abfluss- 
gummischlauch führt durch eine Oeffnung in der Tischplatte 
zu einem darunter stehenden Gefässe; das Zuflussrohr ist ziem- 
lich kurz und führt zu einer auf demselben Tischchen befestig- 
ten Doppelcanüle von Messing, die durch einen Hahn stellbar 
ist; von den beiden Röhren der Doppelcanüle führen zwei lange 
Gummischläuche zu zwei Trichtern, welche in Stativen befestigt 
auf einem gewöhnlichen Tische stehen. Die beiden Trichter 
sind für warmes und kaltes Wasser bestimmt. Das kalte Wasser 
ist Eiswasser, das in entsprechender Weise zubereitet wird; das 
warme Wasser wird in einem gewöhnlichen Wasserbade erhalten, 
das auf demselben Tische in einem entsprechenden Stative 
angebracht ist. In beiden Gefässen zur Gewinnung von Eis- 
und warmem Wasser stehen constant Thermometer. Von diesen 
beiden Trichtern aus wird nun das Kästchen beliebig erwärmt. 
Statt des kleinen Wasserbades vielleicht ein grösseres Gefäss 
zu verwenden, um mehr Vorrath von warmem Wassser zu ha- 
ben, möchte ich als durchaus unpraktisch widerrathen: es han- 
delt sich grösstentheils nicht darum fortwährend warmes Wasser 
zu haben, sondern darum, warmes Wasser von verschieden 
hoher Temperatur in kleiner Quantität sehr rasch zu besitzen, 


‚ Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 385 


was man am besten in dem gewöhnlichen Wasserbade erreicht; 
man wird den Nutzen dieser Einrichtung in den Versuchen 
selbst noch zu würdigen Gelegenheit haben. Dagegen kann 
das Gefäss zur Beschaffung von Eiswasser, sofern man nur über 
hinreichend viel Eis verfügt, nach Belieben gross sein. Es hat 
sich noch bewährt, die beiden Gummischläuche, welche von den 
Triehtern zur Doppelcanüle führen, mit Quetschhähnen zu ver- 
sehen, die beliebig in Verwendung gezogen werden können. 
Den Grund dafür werden wir bald erfahren. Was die Doppel- 
eanüle betrifft, so ist es durchaus nothwendig, dass sie im Ca- 
liber kleiner ist, als die Zuflussöffnung zu dem Kästchen und 
zwar aus folgendem Grunde. Man kann nämlich das reinste 
Wasser zur Circulation verwenden, so ist dasselbe doch nach 
kurzer Zeit durch die vielfachen Manipulationen mit kleinen 
festen Partikelchen verunreinist. Plötzlich stockt mitten wäh- 
rend des Versuches die Circulation und der Versuch ist ver- 
loren; vielleicht sogar der ganze Tag, wenn sich diese Partikel- 
chen in dem Kästchen festgesetzt haben; hat man aber obige 
Anweisung befolgt, so muss die Stockung stets in der Canüle 
gesucht werden; diese lässt sich aber in einer Minute beseitigen; 
es wird nämlich der zuführende Gummischlauch mit dem 
Quetschhahn verschlossen, derselbe von der Canüle abgezogen 
(es empfiehlt sich die Gummischläuche so passend für die Ca- 
nüle zu nehmen, dass dieselben nicht festgebunden, sondern 
nur darüber geschoben werden) und durch das Ende des Ab- 
flussschlauches kräftig geblasen, so ist das Hinderniss bald aus 
dem Wege geräumt. Sämmtliche Wasserbehälter und Trichter 
waren von dem kleinen Tischchen, auf dem die feuchte Kammer, 
sowie einige andere bald zu erwähnende Apparate standen, 
soweit entfernt aufgestellt, dass durch unvermeidliches Spritzen 
dort nichts beschädigt werden konnte. 

Nerv und Muskel wurden abgeleitet durch die du Bois’- 
schen Thonstiefelelektroden, welche während des ganzen Ver- 
suches unverrückbar auflagen; als Galvanometer diente eine 
ältere Wiedemann’sche Bussole von zusammen 12000 Win- 
dungen, welche nahezu aperiodisch war. Der Strom von Nerv 


und Muskel wird selbstverständlich stets compensirt, so dass 
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 95 


386 J. Steiner: 


man es nur mit elektromotorischen Kräften zu thun hat. Als 
Kette zum Compensiren diente ein grosses Daniell’sches Rle- 
ment von sehr guter Constanz. Eine besondere Aufmerksam- 
keit beansprucht in diesen Versuchen das Rheochord; es ist 
1 Meter lang, von sehr dickem Kupferdraht in Stärke von 1'23Mm.; 
nur mit so dickem Draht sind die hier auftretenden Erschei- 
nungen wahrzunehmen. Rheochord und Schlüssel zum Galvano- 
meter, sowie der Schlüssel für die Aufnahme der Compensatorkette 
sind alle auf dem kleinen Tischchen aufgestellt, um während der 
Fernrohrbeobachtung bequem erreicht werden zu können. Die 
Zusammenstellung aller dieser Apparate zur Messung der elek- 
tromotorischen Kräfte von Nerv und Muskel ist in bekannter 
Weise bewerkstellist. 

Die Versuche wurden sämmtlich im Winter im ungeheizten 
Zimmer bei einer Temperatur von durchschnittlich 2°C. ge- 
macht; da wir beim Abkühlen von Nerv und Muskel keine 
tiefere Temperatur aufzusuchen nöthig hatten, so wurde dadurch 
erreicht, dass wir auf dem Kästchen aus leicht ersichtlichen 
Gründen keine Niederschläge von Wasserdämpfen hatten, die 
vielleicht zu Fehlerquellen hätten werden können. 


8 3. Der Nervenstrom. 


Wie wohl man sonst mit der Untersuchung des Muskel- 
stromes zu beginnen pflegt, so habe ich geglaubt, hier von 
dieser Regel abweichen zu müssen in der Annahme, dass der 
Nerv, als das in seinen Dimensionen beträchtlich kleinere Ge- 
bilde, denn der Muskel, vollständiger in kürzerer Zeit eine belie-. 
bige Temperatur annehmen könne. 

Zur Geschichte unseres Gegenstandes ist zu bemerken, dass. 
du Bois-Reymond angiebt, wie in der Siedhitze, die nur wenige: 
Augenblicke auf den Nerven einwirkt, dessen Strom geschwächt 
oder umgekehrt wird. Wird der Nerv in Wasser von 40—50° ge- 
taucht, so kehrt sich der Strom nicht um, sondern wird allmälich 
kleiner.!) Ferner eine gelegentliche Aeusserung desselben Autors, 
in der es heisst: „Was den künstlichen Querschnitt betrifft, so. 


1) Untersuchungen u. s. w. Bd. II. Abth. I. S. 287. 


Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 387 


zeigen wohl die Nerven eine Schwächung ihres Stromes durch 
lang anhaltende Einwirkung der Kälte!) u. s. w. \ 

In Vorversuchen haben wir uns noch von zwei Umständen zu 
unterrichten; einmal nämlich, ob bei unserer Anordnung keine 
Thermoströme auftreten und zweitens, wie sich der Nervenstrom 
- innerhalb einer Stunde etwa bei einer Temperatur von 1—2° C, 
verhält, ohne dass irgend welche Einwirkungen aufihn geschehen. 
Für die erste Frage hat sich am todten Nerven bei einer Tempe- 
rirung, wie wir sie bald auseinandersetzen werden, ergeben, 
dass Thermoströme nicht auftreten; bezüglich der zweiten Frage 
haben wir ebenfalls durch Versuche, welche wir erst weiter 
unten, um sie dort nicht wiederholen zu müssen, aufführen 
wollen, ersehen, dass, wie vorauszusetzen war, der Nervenstrom 
langsam, aber stetig abfällt. 

So ausgerüstet können wir zu den Versuchen selbst über- 
gehen. Dieselben sollten in folgender Weise angestellt werden. 
Es wurden die beiden Nn. ischiadici oben zusammengebunden, 
am peripheren Ende mit einem Querschnitt versehen auf 
das Kästchen aufgelegt und durch die Elektroden von Quer- 
und Längsschnitt abgeleitet. Darauf wird 5 Minuten lang Eis- 
wasser durch das Kästchen geleitet, jetzt compensirt und ab- 
gelesen; hierauf ebenso 5 Minuten lang warmes Wasser von 
20—22° C., danach ebenfalls compensirt und abgelesen. 

Um auch über die Stromstärken bald orientirt zu werden, 
deren Kenntniss uns später von Nutzen sein dürfte, wird nach 
beendeter Compensation die Compensatorkette geöffnet und der 
Ausschlag in Scalentheilen abgelesen. (S. f. Tabelle.) 

In derselben Weise, wie diese beiden Versuche, fielen noch 
eine Reihe anderer Versuche aus, deren Aufführung überflüssig 
wäre. Wir betrachten nur die Compensatorgrade und sehen, 
dass das Steigen oder Fallen der elektromotorischen Kraft des 
Nerven, mag man erwärmen oder abkühlen, durchaus keinem 
Gesetze zu folgen scheint, sondern vollkommen regellos und 
verworren auftritt: bald sehen wir bei der Erwärmung ein 
Steigen, bald ein Sinken der elektromotorischen Kraft eintreten. 


1) Untersuchungen Bd. II. Abth. II. S. 38. 
25* 


388 J. Steiner: 


Stromstärke. 


Temperatur 
des 
Wassers, 
Stromstärke 
in 
Scalentheilen 
Abs. Grösse. 
Compensator- 
Grade. 
Temperatur. 
Abs. Grösse 
Compensator- 
Grade 


1) 0—2 |176—243 | 67 |657|1) 0—2° | 146—224:5 |78°5 | 784 
20—22 |168—247 | 79 |618| 20—22 147—235 |88 |759 


2), — .|167—-224| 57 60012) — ? ? |746| „ 
—  |164-231|67 51 | ——| 144—224 |80 |750| S 
3) — 1157-209| 52 |572|3) — 143—206 63 [7483| 5 
—  [150-210| 60 |559 _ 141-214 |73 |757| 8 
4) — |145-192| 47 1557| — 140-200 |60 |755| 8, 
—  |143—200 | 57 |540 _ 138—208 |70 |782 & 
5) — 1145-189) 44 |540|5) — 136—191 155 |751| 5 
—  |142-193| 51 |515 — 130—192 |62 |737| * 
6 — [141-184 | 43 |5535|6) — 130—182 |52 |805 
— ae 41 Ne an 128—184 |56 |805 
Zimmertemperatur 5° C. Zimmertemperatu. 5° 
lq = 16 mm. lq=20 mm. 


Sorgfältig war jeder etwaige Versuchsfehler ausge- 
schlossen; das Resultat blieb so inconstant und unverständlich 
als möglich. Es gab nur noch einen Punkt, über den wir nicht 
genügend unterrichtet waren, nämlich der, welche Temperatur 
der Nerv denn wohl in Wirklichkeit hatte; es war vorauszu- 
sehen, dass er gewiss nicht die Temperatur des circulirenden 
Wassers haben könne, sondern durch fortwährende Strahlung 
an der Oberfläche viel Wärme verliere. Um dies zu erfahren, 
wird ein Thermometer mit recht kleiner Kugel horizontal so 
auf ein Stück der Oberfläche des Kästchens gelegt, dass eine 
möglichst grosse Fläche der Thermometerkugel aufzuliegen 
kommt. Wir können auf diese Weise die Temperatur erfahren; 
wir wollen aber hier bald erwähnen, dass zwar alle die auf 
dem Kästchen gemachten Versuche unter sich vergleichbar und 
richtig sind, dass aber die absoluten Temperaturen ungenau 
sind und weiter unten eine Correctur auf die absolute Tempe- 
ratur nöthig sein wird. 


ie 


Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 389 


= s Solist = -„ & la A 
=) = Sulo 3 8513 R RS g u 
Salve la)scie ale 5 ‚Tele ars 
sss 5 |&laseaslast = 1858888 
ge: 48 NEE Scala \e8la5 3 
Su -= = aıdr|o SIıe eE = El or 
= = la el = AN E ne 
no alos._ıra 76 1390) 2° |1)0o—2| 96—174 |78)428| 2% 
25 1103—188°|79 |344| 16°5 25 | 94—193 |99|450| 17% 
2) 101—166 !65 |320}| 3 |2) — | 97-154 !57|384| 3% 
— 1105—176 |7ı |285| 16 — | 97—180 |83)409| 17 
3) — 102-157 |55 |299| 3% |8) — | 95-151 |56|380| 3% 
— /100—158°5| 58:5| 260 | 16 — | 96—164 |68 |382 | 17% 
a) — | 94-143 |51 |283) 3% |) — | 86-136 |50|374| 4 
— | 97-150 |53 2538| 16 |. — | 82—149 |58| 360) 17 
15) — | 69-118 |49|382 | 3% 


— | 55—102 |47 | 225 | 19% 
lq=12 mm. lq=18 mm. 


Die Ergebnisse dieser beiden Versuche sind nicht klarer, 
als die der beiden ersten, aber trotzdem führten sie mich, in- 
dem ich jetzt die Temperaturen genauer übersah, auf den rich- 
tigen Weg. In dem zweiten Versuche nämlich sehen wir inner- 
halb der drei ersten Ablesungen constant ein Steigen der Kraft 
bei der Erwärmung; bei der vierten Ablesung trat wieder ein 
Sinken ein; indem ich die Temperaturen genauer ansehe, zeigt 
sich, dass die Temperaturdifferenz hier kleiner ist, als in den 
vorigen Ablesungen; diese Temperaturdifferenz, meinte ich, ist 
vielleicht zu gering, um eine Steigerung der Kraft hervorrufen 
zu können. Um mich sofort davon zu überzeugen, brachte ich 
die Temperatur in der 5. Ablesung auf 19!/2°, also um 2° 
höher, als sie irgend einmal vorher erreicht war, in der Voraus- 
setzung, dass jetzt die Temperaturdifferenz gross genug sein 
werde, um eine Krafterhöhung zu bewirken. Es traf indess 
genau das Gegentheil ein — die elektromotorische Kraft sank 
noch mehr, als es früher der Fall war. Folglich, wenn die 
supponirte Ursache die umgekehrte Wirkung zur Folge hat, so 
werden wir die Ursache umkehren und dann vielleicht die er- 
wartete Wirkung eintreten sehen; d. h. also, es soll in den 


I RR la lu BES, 


390 | J. Steiner: 


nächsten Versuchen die Temperaturdifferenz nicht, wie bisher 
grösser, sondern kleiner, als in irgend einem bisherigen Ver- 
suche genommen werden; vielleicht tritt dann constant eine 
Kraftsteigerung ein. 


sa 3 19 3855 3 Slsslssı 
az S 2 la°|je sis. E 8. else 
ar 2 = & HH 3a = = & = 
1)0—2| 82—152 | 70| 642 2% |1) 0 | 108—260 1152| 763 at 
18 | 82—161 | 79.675 | 12 18 | 100—272 1172 773 | 10 
2) — |; 84—145| 61/622 3 2) — ı 97—221 1124| 625 2 
— | 84—153| 69|658| 12 — | 94—245 |151|672| 10 
3) — | 87—140 | 53 | 617 3 3) — | 86—197 |111| 567 2 
— | 87—146 | 59|626| 12 — | 80—217 |137|623| 10 
4) | 87-137 | 50|622| 3 14) — | 76128 10555202 
— | 90—146, 561633 | 12% — | 72—191 119) 577 | 10 
5) — | 87-135 | 48|633| 3% 
— | 86—140| 541683 | 12% 
lq = 16 mm. Zimmertemperatur 3° Jg=15mm. 
1) 0 |147—300 | 153 | 705 ı% ID 0 ? ? |828 2 
20 |150—318 |168 | 746 | 10% 20 | 11—191|180) 872| 11 
2) — | 149-230 | 131 | 684 2 2) — ı 23—158 135, 815 2 
— |148--306 |160 |733| ı1 = 2—157 1155851 | 10% 
3) — |152—271 | 119 | 675 2 3) — | 27—154 |127| 809 2% 
— ı154—290 | 146 ‚703 | 11 — | 23—161 1138| 834 | 11 
4) — |ı168—272l10ale6ıl 2 | — | 31-147 \116|)809| 2% 
— |167—290|123|682| 11 — | 31—163 1132) 8535| 11 
Zimmertpr. 3° lg = 14 mm. Zimmertpr. 3° lg =10 mm. 


Diese Versuche bestätigen auf das Schönste die Richtigkeit 
unseres obigen Schlusses, dass ein geringeres Ansteigen der 
Temperatur eine Krafterhöhung hervorruft. Wir haben jetzt 
noch die Aufgabe zu zeigen, dass eine höhere Temperatur- 
differenz, als wie sie in den letzten Versuchen erreicht war, 


Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 391 


in der That auch wieder ein Sinken oder wenigstens ein in-+ 
constantes Verhalten der elektromotorischen Kraft für die Er- 
wärmung herbeiführen wird. 


= s Sale »„ 5 ia 
& 2 S 2 = 8. les Ri S 7 S 2a ® 
238 0 58 SO ıssesslesa 2 |58[35855 
SITE S s |solSaslE 2 Ss „l28l528 
u -- S 2 |s7|oH Sn -< 2 2\a 7 |cH 
= es ZN kelleie 
1) 0 |8z-ı81 | 9alesı! 2 |D 0| aus Juasıı) ı 
40 | 75-189 [11a |684| 25 45 | 8—165 |157|555| 24% 
2) — | ı-ıa2 | 1609! 3% |2) — | 20-123 1103| 571) 2 
— | 74-158 | 841580) 25 _ ? 2 |615| 23 
3) — | 80-143 | 63|623| 3% |3) — | 17-116 | 99661) 2 
— | 73—144 | zıl569| 2341 — | 12-117 I115l619 | 24% 
a) — |es-ı22 | 59 19] |, — | 9-98 | saless| ' % 
le al | 5 78 73558) 25% 
Zimmertpr. 4° lga=16 mm. Zimmertpr. 3° Ig=10 mm. 


1) 0 | 50-130 | solss2| 2411) 0 | 4-123 1119639) 1% 


40 | 44—129 | 85|825| 24 45 | 1-103 |102]|591| 24% 
2) — | 44—110 | 661812 34 12) — ! 4—-0-—90) 94, 615 3 
— | 55—128 | 73/812] 24% — ? Bl #1 20% 
3) — | 48-110 | 62|s21| 4 |3) — |22—0-89111,731| 2% 
— ! 41 97 | 56/781) 23% | — | 18-107 | 89|652! 24% 
4) — | 35— 81 | 46 | 396 4 |4) — ? ? | 702 3 
o ? ? |888| 25 _ ? ? 1617| 25% 
lq=14 mm. lq=10 mm. 


Wir sehen in der That, dass, wenn wir eine gewisse Tem- 
peratur übersteigen, mit der Erwärmung ein Sinken der elektro- 
motorischen Kraft des Nerven einhergeht. 

Das gesammte Versuchsergebniss geht demnach dahin, dass 
wir bei der Erwärmung des Nerven eine Erhöhung seiner 
elektromotorischen Kraft eintreten sehen; dass aber nach 
Ueberschreitung eines bestimmten, zunächst uns noch nicht 


392 J. Steiner: 


genau bekannten Temperaturgrades, ein Sinken der elektromo- 
torischen Kraft des Nerven eintritt. 

Wir werden jetzt weiter, um die bisherigen Versuche noch 
zu vervollständigen, ferner um die obere Temperaturgrenze für 
das Ansteigen der Kraft ausfindig zu machen, steigende Tem- 
peraturen auf ein und denselben Nerven allmälich einwirken 
lassen, bis wir die Temperaturgrade erreicht haben werden, 
wo ein Sinken der Kraft eintritt. Diese obere Temperatur- 
grenze muss aber, wie wir schon jetzt, wenn wir die allerersten 
Versuche zu Hülfe nehmen, schliessen können, zwischen 12 bis 
18° C, liegen; wir wollen der Kürze halber künftig diese Tem- 
peratur als mittlere, die darüber gelegene als hohe und die 
darunter liegende als niedere Temperatur bezeichnen. 

In den nächsten Versuchen wird ein Nerv resp. zwei Nerven 
von 2° bis etwa 20°C. nach einander erwärmt und in ver- 
schiedener Temperaturhöhe ihre elektromotorische Kraft ge- 
messen, um genauer als es bisher geschehen konnte, die Grenzen 
in Bezug auf Steigen und Fallen ihrer elektromotorischen Kräfte 
festsetzen zu können. Es werden in diesen Versuchen nicht 
mehr die Temperaturen des Wassers, sondern an derselben 
Stelle die Zeiten notirt. Zur leichteren Orientirung für den 
Leser sollen die Maxima der Kraft, sowie Temperatur, bei der 
sie liegen, fett gedruckt werden. (S. f. Tabelle.) 

Es ist selbstverständlich, dass man immer nur eine auf- 
steigende Reihe in sich vergleichen kann, niemals die gleich 
hohen Temperaturen verschiedener Reihen. So betrachtet, füh- 
ren die Versuche zu zwei Resultaten, einmal nämlich ersehen 
wir, dass die extremsten, höchst seltenen Fälle mitgerechnet, 
die elektromotorische Kraft des Nerven bei steigender Erwär- 
mung ein Maximum besizt, welches zwischen 9—18° 0. liegt; 
zweitens sehen wir, dass die Abkühlung stets eine Verminde- 
rung der elektromotorischen Kraft zur Folge hat. Diese Abküh- 
lung, möchte ich hier noch erinnern, wurde erreicht durch plötz- 
lich eintretende Circulation von Eiswasser. 

Man könnte in Bezug auf das Resultat der obigen Ver- 
suche meinen, dass sie Anderes lehren werden, wenn man mit 
einer anderen Anfangstemperatur beginnen werde; man könnte 


Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w,. 393 


> Koh m. = = ® = a o 
a erlag Seal Er Ss 
> EIISDEREHS > oO - > (5) z 
9h.58—| 612 1 11h. 11—|687| 2 [12 h. 32—| 760. 2% 
10h. 1—| 638 15 14 |810| 9 34 1820| 10 
3 584 20 17 |742 | 15% 36 |800| 18 
. 512 10 19 |685| 6% 38 |762| 8 
8 496 5% 21 |685| 4 44 |795| 2% 
13 483 2 234 |734| 9 46 |855| 9 
15 331 12 232 209) 115 47% |804| 14 
17 515 16 Pa EL, 49 |875| 18 
19 483 20 29% |-700 | 15% 52 |813| 9 
21 421 7 32% |639| 6 54 1857| 5 
27 435 2 36 |662| 3 55% |925 | 11 
30 491 10 45% =, 1% 57 1995| 17 
sl 470 15% 48% [1652| 11 58 1915| 19% 

33 427 21 50 I685|14 

36 367 8 55 1751/16 

42 406 2 58 584 | 11 

46 442 13 {12h. 1—)845 15 

48 414 16 4 |641| 7 

52 370 I 
11h. — | 384 2 
Zimmertemperatur 4° C. | Zimmertemperat. 5°] Zimmertemperat, 5° 
lq=10 mm. lqa=12 mm. lg=10 mm, 


sich vorstellen, dass der Stromabfall stets in einer bestimmten, 
aber gleichen Temperatur von der Anfangstemperatur erfolge 
oder mit andern Worten, dass diese ganze Erscheinung sei 
eine Function der Anfangstemperatur. Die folgenden Versuche 
lehren, dass diese Meinung ein Irrthum wäre. Wir wollen in 
diesen von unserer sogenannten Mitteltemperatur beginnen. 


394 J. Steiner: 
uTsı8 (281, 8 ee 
> EN ae Ss Hal > ss |B5 
ES m ee) = ®) = 
10h. 8— 610 10 |11h. 22—|588| 9 |12h. a 860 | 10 
13 610 16 25 /616|14 40 1882| 14 
17 580 18 26% 1593| 16 41% |834| 18 
20 566 20 29% |586 | 18 44 |607| 27 
22 599 23 3l [548 | 22 46 1631| 15% 
25 op) 20 33% | 538 | 25 48 1638| 9 
26 908 14 41 |631[13 51 1848| 14 
27 | 497 10 43% 612) 11 54% 1877| 16 
29% 577 14 45 |612| 9 55 1809| 20 
3l 562 16 809 | 24 
34%4| 529 18% 733 | 15 
36% 806 22 800| 9 
39 506 22% 
43 506 16% 
45 510 14 
47 477 8% 
50 5al 14 
51% | 522 16 
56% 503 21% 
58% | 459 27 
Zimmertemperatur 5°. Zimmertemperat. 6°. 
lg = 13 mm. 


lq=12 mm. 


lqa=12mm. 


Die Versuche bestätigen von Neuem unser Strommaximum 
für die mittlere Temperatur von 9—18° C. 

Wir wollen hier bald noch einen weiteren Einwurf durch 
den Versuch entkräften, nämlich die Möglichkeit, dass das 
Maximum Function der Zeit wäre; es könnte Folge des zu 
jähen oder zu langsamen Aufsteigens der Temperatur sein. 

Für jeden Fall soll ein Versuch angeführt werden. 


m, | 


Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 395 


I. Rasches Ansteigen der II. Langsames Ansteigen 
Temperatur. der Temperatur. 

Zu ai ! n IIENN U In} 
a |8=35|3 ®2|& ae 
Seren le Nele nee 
ee las 

SR KERN S a 5 
3h. 2— 398 | H) 10h. 57— 508 6) 
34 | 355 16 Jııh. ı 539 12 
5 302 24 5% 548 15 
b 302 28 10 501 17 
10 292 20 16 485 19 
134 | 316 15 20 481 13 
16% 308 12 23 497 10 
21 500 6) 25% 484 14 
22% 408 14 27% 462 17 
25 332 24 29% | 462 18% 
s0 280 6 35 515 14 
31% 255 6 42 | 547 ir 
33% | 208 15 
lq=16 mm. lq = 16 mm. 


Das jähe Ansteigen der Temperatur wirkt, wie wir sehen, 
durchaus sehr deletär auf den Strom: es findet trotz der Er- 
wärmung keine Steigerung, sondern stetiges Abfallen statt. 
Bei der allmälichen Erhöhung der Temperatur tritt aber die 
Gesetzmässigkeit des Maximums erst recht schön hervor. Dem- 
nach sind auch diese Einwände glücklich überwunden.!) 


1) Wenn man die Zahlen der Versuchsreihen genau durchsieht, so 
wird man bemerken, dass die absoluten Werthe öfter mit der Zeit 
des Versuches wachsen, statt, wie zu erwarten, zu fallen; das kann 
seinen Grund haben in einer Abnahme der elektromotorischen Kraft 
der Compensatorkette. Keineswegs kann aber dadurch an unserem 
Maximum etwas geändert werden, um so weniger wenn man, wie ich 
schon oben bemerkt habe, nur die Werthe einer aufsteigenden Reihe 
miteinander vergleicht. Bei dem Werthe, den ich dieser Erscheinung 
beilege, habe ich auch nicht verfehlt, diesen Factor zu controliren, 


396 J. Steiner: 


Wir kommen endlich zu dem schwersten Einwande, den 
ich an den Schluss verlegen musste, weil er gleichzeitig mit 
einer anderen Betrachtung abgehandelt werden soll. Der Ein- 
wand ist der, dass der Stromabfall bei einer gewissen Höhe 
der Temperatur Folge der Austrocknung sein könnte. 

Die Betrachtung, die wir hier über das Maximum des Stromes 
anzustellen haben, zielt dahin, dass wenn dieses Maximum eine 
grösste elektromotorische Kraft bedeuten soll, von dem aus nach 
unten und oben Absinken der elektrischen Fähigkeiten des 
Electromotors stattfindet; so kann gerade so, wie beim Aufstei- 
gen zum Maximum eine Kraftsteigerung eintritt, auch bei dem 
Abfall der Temperatur zu demselben, eine Kraftsteigerung ein- 
treten, d. h. eine Zunahme der elektromotorischen Kraft bei 
der Abkühlnng von der hohen zur Mitteltemperatur. Wenn 
dies in der That zu erreichen ist, so ist jener Einwand schla- 
gend widerlegt und die ganze Erscheinung selbst jetzt voll- 
kommen zweifellos. 

Folgende Ueberlegungen leiten mich auf diesem Wege: 
1) sieht man ir den früheren Versuchen da und dort, unab- 
hängig von der in der untenstehenden Anmerkung gegebenen 
Erscheinung, wirklich bei der Abkühlung zur Mitteltemperatur 
eine Kraftzunahme; 2) haben wir gesehen, wie deletär ein jähes 
Ansteigen der Temperatur auf den Strom wirkt; 3) pflege ich, 
wie angegeben, die Abkühlung von der hohen Temperatur durch 
Einleiten von Eiswasser zu bewerkstelligen; folglich ist es 
wahrscheinlich, dass, wenn eine jähe Abkühlung ebenso 
wie eine jähe Erwärmung gleich deletär auf den Strom wirkt, 
wir eine Kraftzunahme bei der Abkühlung erhalten, wenn wir 
dieselbe nur allmälich genug herbeiführen können. Statt nun 
zur Abkühlung einen Strom von Eiswasser durchzuleiten, sollte 
die Abkühlung, da die Zimmertemperatur gewöhnlich nicht über 
9° C. betrug, durch die Temperatur der Luft allein erfolgen. 
Folgendes die Versuche: 


und werden weiter unten noch die bezüglichen Versuche angeführt 
werden; hier nur soviel, dass auch dabei das Maximum sich siegreich 
behauptet. Das Steigen der absoluten Werthe kann aber noch einen 
andern Grund haben, der ebenfalls weiterhin noch behandelt wird, 
aber ebensowenig unsere bisherigen Resultate trübt. 


Untersuchungeu über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 397 


7 E Ei = E nn & 3 B 
SE Sa Denen ER = 
aa euer sis | 8E 385 
= N 2 a 85 = ED = = tes) {= Fe} 
= Asa | 2 = IE 
> oe ° 5 a Pr ° ö = 
A OD a) oO m 
10h. 59— 650 20% [11h. 58— 578 | 22 
11h. 5—-| 712 12 [12h 5— 608 13 
10 656 23 7% 608 11 
15 640 ? 134 | 4583 24 
Y7. 640 11 22 591 12 
20 704 15 27 560 21 
23 633 20 35% | 626 12 
28 601 21 
34 520 13 
Zimmertemperatur 5% C. Dieselbe Temp. d. Z. 


Die beiden Versuche sind viel versprechend und scheinen 
unsere Voraussetzungen zu bestätigen. 

Da diese Untersuchung aber durchaus frei von jedem Vor- 
wurfe sein muss, so wurden noch folgende Correcturen einge- 
führt: erstens sollte nur eine Abkühlung an einem Präparate 
gemacht werden, um den Einfluss des Absterbens auszuschliessen ; 
und zweitens sollte die Constanz der Compensatorkette jeder 
Zeit geprüft werden können. Für letzteren Zweck wurde nach 
dem Vorgange von du Bois-Reymond!) in den Kreis der 
Compensatorkette eine sogenannte Hülfsrolle eingeschaltet und 
dieselbe in entsprechender Entfernung ein für alle Mal aufge- 
stellt; es wurde hierauf die Kette geschlossen und die Grösse 
der Ablenkung abgelesen. Nachdem dies geschehen, muss die 
Hülfsrolle wieder ausgeschaltet werden; alle Drahtverbindungen 
müssen aber der Art sein, dass die Einschaltung jederzeit wieder 
innerhalb des Versuches recht schnell geschehen kann. In 
dieser Weise werden die nächsten Versuche ausgeführt. 


1) Ueber die elektromotorische Kraft der Nerven und Muskeln, 
Dies Archiv 1867. 8.419. 


398 J. Steiner: 


ch 5 = = < u 5 =] 8 
era EBE Sn: 
5 |3e as|823°| >35 25 Se 
= sdasıs 2] > re 
2 Se 3 = 

Daniel Daniel 
12h. 32% | 42—0-52 | =101 |12h. 14% 494 15 
38 410 18 18 467 12 
44 415 12 33 154—0—50 | = 104 
46 422 11 36% 390 , 18 
49 422 9% 41% 390 14 
5% 37—0—68 | = 105 43% 390 12 

11 505 18 | | 


In diesen Versuchen haben wir in der That eine Zunahme 
der Kraft bei der Abkühlung zur Mitteltemperatur, aber einige 
Male bleibt sie auch aus.” Der Versuch muss vollständig con- 
stant werden. Vielleicht ist selbst die Abkühlung durch die 
Zimmerluft zu rasch; es wurde deshalb das warme Wasser, 
welches eben das Kästchen passirt hatte und das dabei eine 
Abkühlung erfährt, von Neuem oben in den Trichter gegossen, 
so dass jetzt die Temperatur in der That noch allmälicher ab- 
nahm, als bei der Abkühlung durch die Luft. 


5 77 FE ü - N - 

> „ 5 - Do = © 

h 24258%3| a 2.1851 = =6 

— Smsoa|S ESSEN ET So = 
2 = |198.23|.3I 8 = |23|. 2 = 25 . 

223 |ss3sl.ae| 23 5 |Zsa°8| 2 53 3 mus 

© © © © 

an JESSAlsal 2 sS [23H] #8 SA =: 

3) 22953005 © s>1l55 © a > 8 

> 2" Hal? 15 [Hs]? DIS = 

; EB DO zu - Ä (@) Sal 


11h. 32%] Auflag. d. N.|11 h.47 | Auflag. |1ıh. 4% | Auflagerung 


43 428 | 16 53% 758 | 18 7 \D. 24-0-67 |= 91 
49 630 | 13 58% 785 | 14% 11% 579 | 18% 
51 597 | 11% 4% 774 | 12% 21 600 14 
56 597 9% 13%] 755| 10 23 |D16%-0-74%4]= 91 
4) 569 | 8 31% co | 10 

39 580 8 


Zimmertemperatur 6%°. 


Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 39% 


Die Versuche zeigen hinreichend deutlich, dass unter den 
nothwendigen Cautelen bei der Abkühlung von der hohen zur 
Mitteltemperatur die gesunkene elektromotorische Kraft des 
Nervenstromes sich wieder erholt. Zur Technik dieser Ver- 
suche, die mit der grössten Genauigkeit ausgeführt werden 
müssen, ist noch zu bemerken, dass wenn in meinen Versuchen, 
bei denen im Allgemeinen von 18° angefangen wurde, etwa der 
13.—12.° in der oben angegebenen Weise erreicht wurde, 
man die weitere Abkühlung dann der Luft überlassen konnte, 
Es müssen sich die von mir hier gegebenen Vorschriften im 
Allgemeinen nach der Zimmertemperatur richten; von dieser 
wird es abhängen, ob man das oben durchgesandte warme 
Wasser noch einmal aufgiessen muss, oder ob man die Abküh- 
lung der Zimmerluft überlassen kann. Man hat nur dem Haupt- 
satz zu genügen, die Abkühlung so allmälich, als nur irgend 
möglich, vorzunehmen. 

Ich habe dem Zufall noch die Kenntniss eines weiteren 
Factors zu verdanken, dessen Vernachlässigung ebenso den 
Versuch missglücken macht, wie zu rasche Abkühlung. Es ist 
folgender Versuch: 


Elektromotor. | Temperatur 


Versuchs- Kraft in a 
= Praha Thermometer 
Graden. 
Auflagerung und Beginn 

51 der Erwärmung. 

2 D.12—0—78 = 90 
35 586 18 
1% 572 15 

4 550 14 

8 540 12 
25% 523 

28 | D.54—0—85% = 91 


Trotz der ganz langsamen Abkühlung tritt keine Erhöhung 
der Kraft ein; der Unterschied gegen die früheren Versuche 


400 J. Steiner: 


liest nur in einem Punkte, nämlich darin, dass zu der Tem- 
peratur 18° hier in kürzerer Zeit aufgestiegen war, als dort. 

Man muss sich also auch hüten, selbst wenn man nur die 
Folgen der Abkühlung beobachten will, zu der Temperatur, 
von der aus man abkühlen will, zu schnell aufzusteigen. 

Jetzt beherrschen wir die Erscheinung in weitestem Um- 
fange. Es wird sich späterhin noch zeigen, von welch’ ausser- 
ordentlich grossem Vortheil uns die so genaue Kenntniss aller 
hier in Betracht kommenden Factoren sein wird. 

Fassen wir jetzt kurz unsere bisherigen Resultate zusam- 
men, so ergiebt sich, dass die elektromotorische Kraft des Ner- 
venstromes bei langsamer Erwärmung steigt; bei unserer An- 
ordnung in den Grenzen von 9—13° C. ein Maximum erreicht, 
von dem sie wieder mit zunehmender Temperatur allmälich ab- 
fällt; ferner dass der Nervenstrom bei Abkühlung von dieser 
hohen Temperatur zur Mitteltemperatur, wenn dieselbe genügend 
langsam geschieht, wieder an Kraft gewinnt, um bei niederer 
Temperatur wieder an Kraft einzubüssen. 

Wir haben diese Resultate gegen alle Einwände genügend 
vertheidigt; sie überhaupt nach allen Seiten ‘auf breitester Basis 
gestützt. 

Es wird jetzt an der Zeit sein, sich daran zu erinnern, 
dass wir für die bisher benutzte Methode des Kästchens eine 
ungenaue Bestimmung der absoluten Temperatur vorausgesetzt 
haben; wir wollen nun diesen Fehler corrigiren und die Tem- 
peraturerhöhung nach einer anderen Methode eintreten lassen, 
nach welcher wir die absoluten Temperaturen für das Maximum 
bestimmt werden erfahren können. 

Man bedient sich hierzu am besten des Oelbades. "Wir 
müssen ferner hier ebenso, wie schon im Anfange daran fest- 
halten, dass die Elektroden unverrückbar aufgesetzt werden 
können, dass an ihnen überhaupt keine wesentliche Störung 
zu befürchten ist; es wird sich demnach empfehlen, auch hier 
die Temperaturen von aussen zuzuleiten. Ich habe hierfür 
folgende Einrichtung getroffen. 

‚Auf einem gewöhnlichen Porzellanteller oder besser einem 
oblongen Porzellangefäss von entsprechenden Dimensionen, wird) 


Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 401 


ein gleicher Trog von 100 Mm. Länge und 60 Mm. Breite gesetzt, 
der auf drei kleinen Korkplatten als Füsschen ruht und auf dessen 
Boden in der Mitte ein Kork gekittet ist, auf den der Nerv auf- 
gelegt wird. Der Trog wird mit Oliven- oder Mandelöl gefüllt. 
Neben die beiden Langseiten des Troges kommen auf dass Grund- 
gefäss zwei feste Holzleisten zu liegen, auf welche die Elektroden 
gestellt werden können. Ein Thermometer taucht in das Oel 
und steht hart an dem Kork; man achte darauf, dass dasselbe 
weder den Boden, noch die Seiten des Gefässes berühre. Die 
Temperaturerhöhung geschah in folgender Weise: es wurde im 
Anfang Wasser von etwa 40° auf den Teller gegossen bis nahe 
an den Rand des Troges; in bestimmter Zeit steigt die Tem- 
peratur etwa bis 18°; hierauf wird mit einem Heber, wozu ein 
kurzer Gummischlauch praktisch zu benutzen ist, das Wasser 
entfernt und neues von höherer Temperatur etwa 50° aufge- 
gossen u. Ss. w. Will man abkühlen, so macht man es ebenso 
mit kaltem Wasser. Diese Einrichtung ist recht bequem und 
kostet bei Weitem weniger Mühe und Anstrengung, als die 
Temperirung des Kästchens. 

Von den nächstfolgenden Versuchen wurden einige in 
Oliven-, andere in Mandelöl gemacht, nachdem wir uns vorher 
durch Versuche überzeugt hatten, dass der Nerv in beiden Medien 
in ähnlicher Weise mit der Zeit abnimmt, wie das in Luft der 
Fall ist. Für Olivenöl schien mir besonders der Abfall nach 
den ersten 5 Minuten etwas grösser, als in Luft; für das Man- 
delöl habe ich die Bemerkung nicht gemacht. Im Allgemeinen 
scheint die Abnahme eine grössere zu sein, als in Luft. Die 
hierher gehörigen Versuche werden weiter unten angeführt. 

Folgendes sind die Versuche in Olivenöl von wechselnder 
Temperatur. (S. f. Tabelle.) 

Nach diesen Versuchen liegt, wie wir vorausgesetzt haben, 
wegen der ungenauen Bestimmung der absoluten Temperatur 
auf dem Kästchen, das Maximum etwas höher, als dort und 
zwar zwischen 16—25° Celsius. 

Ich lasse noch zwei Versuche folgen, die nach dem Vor- 
gange von L. Hermann), der das Mandelöl für den Muskel 


1) Weitere Untersuchungen über die Ursache der elektiomo- 
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 26 


402 J. Steiner: 


angewendet hat, in demselben Oel angestellt sind, welches 
fortan allein zur Verwendung kommen soll. 


Olivenöl. 
Fe) ar = - A Be = 
S.& = = ı 9 = 3 
_ . = Rs 
seele Pe 
2 — 
Versuchszeit.sS53| 23830 2 3 Ei: 232 
ASSH SE ES a Ss 
a & =| = © jdo) = - 
Ae=| ® © > = © 5) 
= 78 & A| Q S = 
Ste) = Ss) =) 


I In TE 528 6 3 h. 16— 435 5 
18 563 15 196 | 484 13 
19 972 19 21 587 17 
23 574 24 244 | 568 20 
25 564 32 26 484 25 
2% | 554 35 27% | 452 26 
51 588 10 33% | Ai 24 
6 38% | 379 16 
6 591 16 47 290 9 
4 | 57 22 Ik | 282 7 
10 540 30 57% | 275 5% 
12% | 51a 32 3% | a | 15 
14% 502 33 5 259 18 


44 — | 495 5 10 h. 19— | 348 4 


47% 508 14 . 25 405 16 
49 524 19 29 385 28 
50% 512 21 31% 368 32 
53% 488 25 37 355 24 
55 477 27 43% 347 13 
59 437 23 51% 337 8 
2% 418 18 55 325 6 
6% 384 12 59% 323 15 
ME 335 20 

% | 335 2 

5 330 30 

10% 268 32 


— Zimmertemperatur 8°. 


rischen Erscheinungen an Muskeln und Nerven. Pflüger’s Archiv. 
"Ba. IV. S. 166. 


r 


Untersuchungen über den Eintluss der Temperatur u. s. w. 403 


Mandelöl. 
FETTE ED: 
SASal Sir li.., So jene 
Versuchszeit. Fo SE S = : s ® 3 E = = : 
ee las 
BE o = = >) S al 
10h. 213—| 612 7 19 h. 24— | 545 5 
23 645 14 27% 593 14 
25% 714 18% 29 395 18 
26% 698 21 31% 590 20 
27 686 24 33% 575 22 
28 680 26 40 475 20 
30 660 |” 27 46% 434 15 
35 655 24 53 508 10 
39% 645 21 57 502 9 
43 645 17 10h. 4% 478 7 
44 638 18 11% 470 6 
48 838 13% 15 492 17 
59 632 9 16% 450 19 
18 450 21 
20 450 21 
24% 450 18 
28% 447 13 
38 422 10 
Zimmertemperatur 7°. Zimmert. 6°. lq=20 mm. 


Die Resultate sind dieselben, wie oben, nur haben wir 
schon im zweiten Versuche das Maximum der Stromkraft bei 
14°; um nun allen vorkommenden Fällen zu genügen, wollen 
wir jetz definitiv die Temperatur von 14—25° als diejenige 
bezeichnen, bei welcher die elektromotorische Kraft des Nerven- 
stromes ihr Maximum besitzt, um von da aus nach beiden 
Seiten hin, sowohl nach unten, als nach oben, abzunehmen. 

Es tritt jetzt nun die Aufgabe an uns heran, auch für diese 
Versuche den Nachweis zu führen, dass bei der Wiederabküh- 
lung zum Maximum eine Steigerung der elektromotorischen 
Kraft des Nerven eintrete.e Wenn man indess mit Aufmerk- 
samkeit die bezüglichen Versuche auf dem Kästchen durch- 
mustert, so wird man sehen, wie sehr empfindlich der Nerv 
gegen Temperatureinflüsse ist und wie sehr zart der Nerv be- 
handelt werden muss, um die Erscheinung der Zunahme des 
Stromes bei der Abkühlung zu geben. Wir haben sie nur da- 
durch erreicht, dass der Temperaturabfall so allmälich als mög- 

26* 


404 .J. Steiner: 


lich bewerkstellist wurde; dazu ist aber nothwendig, dass die 
Vorrichtung, durch welche der Nerv abgekühlt wird, die Tem- 
peratur, die ihr ertheilt wird, sehr schnell annimmt und ebenso 
schnell auch wieder abgeben kann. Nun involvirt diese lang- 
same Abkühlung aber ihrerseits wieder eine andere Gefahr für 
diese Erscheinung; es kann nämlich bei allzu langsamer Ab- 
kühlung die Zunahme des Stromes im Maximum gewisser- 
maassen übercompensirt werden durch die Abnahme des Stromes 
als Folge des Absterbens. Beim Oelbade befinden wir uns in 
diesem Dilemma: in Folge der grossen Wärmecapacität desselben 
dauert es ganz geraume Zeit, ehe z. B. Oel von 5°, wenn auf 
den Teller 40° warmes Wasser aufgegossen wurde, auch nur 
um einen Grad zu steigen beginnt. Aehnlich im umgekehrten 
Falle, wenn man abkühlt; nimmt man Eiswasser dazu, so ge- 
schieht die Abkühlung zu schnell, lässt man dieselbe durch die 
Zimmerluft eintreten, so tritt jener eben betrachtete Fall ein, 
dass die etwaige Zunahme bei der Abkühlung von der Abnahme 
als Folge des Absterbens übercompensirt wird. Ich habe des- 
halb und in Folge meiner Beobachtungen, die ich in den an- 
geführten Oelversuchen gemacht habe, wobei ich ja natürlich 
mein Augenmerk auch darauf gerichtet hatte, von weiteren Be- 
mühungen nach dieser Seite Abstand genommen, um so mehr, 
als die Versuche auf dem Kästchen ja vollständig beweiskräftig 
sind. Es kommen übrigens in den Oelversuchen da und dort 
Steigerungen bei der Abkühlung vor, von denen ich überzeugt 
bin, dass sie nichts anderes bedeuten, als was wir auf dem 
Kästchen gesehen. — 

Um uns eine Vorstellung von der Grösse der Zunahme 
der elektromotorischen Kraft des Nervenstromes bei der Er- 
wärmung zum Maximum machen zu können, sind im Folgenden 
die Zunahmen von zehn Versuchen procentisch berechnet und 
aus denselben die Mittelzahl genommen worden, welche uns 
das Gewünschte veranschaulichen wird. (S. f. Tabelle.) 

Es beträgt also die Steigerung für die elektromotorische 
Kraft des Nervenstromes von ca. 2—4° bis zum Maximum 
ca. 20° die nicht geringe Zahl von 11'6 pCt., also etwa eim 
Zehntel des eigenen Werthes. 


Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 405 


Nr. BR > = © | Mittelzahl. 
ea. 2 zum = R S 
Maximum. En 
I. 612— 638 4 pÜt 
I. 687—810 17 
IM. 760—820 7 
IV. 508—539 6 
V 528—574 8 11:6 pCt. 
VI 435—563 29 
vi 495 —524 5 
VIII 348—405 16 
ER 612 — 714 16 
R 545—593 8 


$4. Der Muskelstrom. 

Dass der Einfluss hoher und niederer Temperaturen, die 
den Muskel starr machen, den Strom vernichten, ist vollständig 
zunächst von E. du Bois-Reymond gezeigt worden.') Für 
zwischenliegende Temperaturen hat derselbe Autor später nach- 
gewiesen, dass bei Erwärmung des Muskels durch Strahlung eines 
heissen Bolzens Erhöhung der Kraft um einen kleinen Bruchtheil 
eintrete; bei Abkühlung resp. Entfernung des erwärmenden 
Bolzens sank die Kraft sofort, um sich durch Erwärmung noch 
mehrere Male in die Höhe treiben zu lassen.) Endlich hat 
L. Hermann dargethan, dass bei Eintauchung des Muskels in 
Mandelöl die Kraft in den Grenzen von ca. 0°—39° durch Ab- 
kühlung ein wenig, aber ausnahmslos vermindert, durch Er- 
wärmung ebenso ausnahmslos gesteigert wird und zwar nur für 
die Dauer der einwirkenden Temperatur.?) 

1) Untersuchungen u. s. w.- Bd. II. Abth. I. S. 179. 

2) Ueber die Erscheinüngsweise des Muskel- und Nervenstromes 
bei Anwendung der neuen Methoden zu deren Ableitung. Dies Archiv 
1867. S. 275. Anmerkung 2. 

3) Weitere Untersuchungen über die Ursache der elektromotorischen 


Erscheinungen an Muskel und Nerven. (Fortsetzung.) Pflüger’s 
Archiv u. s. w. Bd. IV. S. 173—182. 


406 J. Steiner: 


Demnach wäre das Verhalten des Muskelstromes unter dem 
Einflusse der Temperatur hinreichend bekannt. Wenn ich trotz- 
dem den Gegenstand noch einmal aufgenommen habe, so geschah 
es, weil ich gehofft hatte, aus meinen Erfahrungen am Nerven, 
auch für den Muskel noch etwas nachtragen zu können. Meine 
Aufmerksamkeit sollie sich wesentlich auf zwei Punkte richten 
und zwar 1) hat der Muskelstrom ein Maximum, ähnlich dem 
Nervenstrome, und wo liegt dasselbe; 2) gelingt es, nach Ueber- 
schreitung des Maximums, ebenso wie beim Nerven, durch die 
Abkühlung zum Maximum, eine Erhöhung der Kraft zu be- 
obachten oder ist das nicht der Fall. 

Wenn man die Versuche von L. Hermann mit Rücksicht 
auf ein solches Maximum genau durchgeht, so sind es nur drei 
Versuche, die wir benutzen können; in diesen erreicht der 
Strom sein Maximum bei 30, 27 und 26°, um nach höheren 
Temperaturen wieder abzunehmen. — In unseren Versuchen 
gehen wir vor der Hand wieder zu unserem Kästchen zurück, 
um zunächst mit dessen Hülfe das Maximum darzustellen. 
An den Anordnungen wurde nur das Rheochord geändert; 
statt des dicken Drahtes trat jetzt ein dünner Kupferdraht von 


0:57 Mm. ein. Durch Vorversuche am todten Muskel hatten 


wir uns auch hier überzeugt, dass bei unserer Anordnung keine 
Thermoströme auftreten. 

Die folgenden Versuche sollen theils die Steigerung der 
elektromotorischen Kraft durch die Wärme zeigen, theils nach 
dem Maximum hin sondiren. Als Präparat wurde der Sartorius 
benutzt mit einem am oberen Ende angelegten mechanischen 
Querschnitt. (S. Tab. I auf der folgenden Seite ) 

Es steigt mit der Temperatur der Strom fortwährend, ohne 
bei 20° ein Maximum erreicht zu haben. Wir werden in den 
nächsten Versuchen über 20° hinausgehen und versuchen, das 
Maximum des Stromes festzustellen. (S. Tab. II ebenda.) 

Der Muskel hat demnach gleich dem Nerven als Function 
der Temperatur ein Maximum, bei dessen Ueberschreiten die 
elektromotorische Kraft wieder abnimmt; es liegt dieses Maxi- 
mum aber bedeutend höher als beim Nerven; die Differenz ist 
so bedeutend, das die extremste Zahl für das Maximum des 


Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 407 


1 


Sartorien mit mechanischem Querschnitt. 


Zeit 
des 


Versuchs. 


Compensator- 
Grade. 


des 


Temperatur 
Thhermtrs. 


Zeit 
des 
Versuchs. 


Compensator- 
Grade. 
Temperatur 


des 
Thermtrs. 


10 h. 
50 
56 
6% 
10 
16% 
20% 


11h. 


Zimmertemperat. 9°. lq=10 mm. 


1 h. 35% 
40 
51 
55 

hs 
7% 
16 
20 


45 — 


318 
323 
289 
802 
278 
290 
262 
272 


437 
498 
409 
453 
398 
437 
386 
427 


ii 
one 
fon 


m 


RR 


Er 
© HD ©: 
BRRR 


N 


5 
21 
b) 
20 
6) 
20 
6) 
20 


lgya=9mm. Muskel zuckt noch. 


ih. 


213 
244 I 
211 
244 i) 
212 
241 1 
216 
Dal 


Igq=16 mm. Muskel zuckt noch. 


en ann nm ran SEHEN EEE nn m nn nn nern ner 


618 4% 
665 20 
595 4% 
625 20 
568 5 
597 20 
548 5% 
576 20 


lIg=11mm. Muskel zuckt noch. 


DE 
Sartorien. 
SE BRETT 
Zeit 2,5 &| Zeit 2,5 & 
23 383%3 22523 
ds |s528;5| de ISE285 
Versuchs. | 3° 3 £|Versuchs. 8” 5 = 
2 |- oe |H 
oO: () 
Or 214 |183| 5 
29 |328| 15 35 1237| 22 
31 1370| 26 27 240 | 28 
31% |272| 38 31 DRS 2T 
33 |224| 29 
35 248) 3l 
36h 1242| 3% 
44 |158| 20 


STE: 
zeit [3085 
des = 
; e5|3”3 

Due E = 

Sn 
| | 
12h —|118| 5 
24 | 164| 18 
4 | 174| 29 
6% | 170) 32% 
| | 
\ 
| | 
lqa=83 mm. 


lg=10 mm. M. starr, 


lqa=10 mm. 


A408 J. Steiner: 


Nerven noch nicht die niedrigste Zahl für das Maximum des 
Muskels erreicht; dort hatten wir es auf 9— 18° festgesetzt; _ 
hier befindet es sich bei 26—32° C. 

Wir haben uns aber jetzt, wie schon oben, zu erinnern, 
dass die absolute Temperaturbestimmung auf dem Kästchen keine 
richtige ist und dass das wirkliche Maximum noch höher liegen 
muss, als es uns auf dem Kästchen angegeben wird. Wir 
nehmen auch hier wieder unsere Zuflucht zu dem Oelbade, 
möchten aber gleichzeitig durch dieselbe Versuchsreihe einen 
Einwand beseitigen, der sich gegen die eben gefundenen Höhen 
des Maximums, welches sich im Oelbade noch erhöhen dürfte, 
machen liesse. Es hat nämlich du Bois-Reymond gezeigt, 
dass nach dem Auflegen des Muskels ein so starkes Ansteigen 
des Muskelstromes auftritt, dass die Stärke um mehr als den 
vierten Theil zunimmt. Die Dauer dieses Wachsthums beläuft 
sich auf 1—20 Minuten.!) Du Bois-Reymond hat ferner 
dargethan, dass die Quelle für diese Steigerung in der Säuerung 
des Muskels zu suchen sei; der dem Muskel anliegende Thon 
wird ebenfalls sauer und bildet mit dem neutralen Thone eine 
Flüssigkeitskette, deren Strom gleiche Richtung mit dem 
Muskelstrome hat und somit letzteren verstärken muss.?) 

Man könnte sich nämlich vorstellen, dass in unseren Ver- 
suchen, wo die Säurebildung auch noch durch die hohe Tem- 
peratur begünstigt wird, das Maximum wirklich tiefer liegt, als 
wir es gefunden haben; vielleicht in gleicher Höhe mit dem 
Maximum des Nervenstromes; dass aber die durch die Säuerung 
des Thones neu auftretende elektromotorische Kraft von bedeu- 
tender Grösse den Abfall des Stromes, der als Folge der Tem- 
peratursteigerung eintreten würde, übercompensirt, uns ein höher 
gelegenes Maximum vortäuscht und damit den wahren Sach- 
verhalt verdeckt. 

Um diesen Fehler zu vermeiden, werden in den nächsten 
Versuchen keine mechanischen Querschnitte mehr angelegt, 


1) Ueber die Erscheinungsweise des Muskel- und Nervenstromes 
u.s. w. Dies Archiv 1867. S. 270. 
2) Ebenda. $. 288. 


Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 409 


sondern nach der Vorschrift von du Bois-Reymond ther- 
mische Querschnitte,') und zwar am unteren Ende des Sarto- 
rius mit gleichzeitiger Erhaltung eines Stückes der Tibia, wel- 
ches von allen Muskelresten sorglich gesäubert, der Querschnitts- 
elektrode als Fusspunkt dienen soll. Wenn der Muskel aus 
der 50 gradigen °/« pCt. Kochsalzlösung herausgenommen war, 
so kam er erst zur Abkühlung für einige Minuten zwischen 
einige Stücke kalter Muskeln. Erst so abgekühlt, wurde er in. 
das gewöhnlich 5° warme Oelbad gebracht. Auf diese Weise 
war gewiss der Einfluss der Säuerung ausgeschlossen und zu 
hoffen, dass das sich bei so zugerichtetem Präparate ergebende 
Maximum der wahre Ausdruck der Thatsachen sein dürfte. 

In den letzten Versuchen hatte sich gezeigt, dass der Draht 
des Rheochordes zu dünn war; die Abstufung der Compensator- 
Grade konnte nicht in genügender Feinheit vorgenommen wer- 
den. Da.aber, wie schon in den Nervenversuchen sich ergeben 
hatte, der Hauptantheil an den Erfolgen der feinen Abstufung 
durch das Rheochord zuzuschreiben ist, womit ermöglicht wird, 
auch feine Differenzen von sonst grosser Oonstanz, hinreichend 
scharf zu bestimmen, so wurde der bisherige Draht durch einer 
neuen Kupferdraht ersetzt, welcher im Caliber zwischen den 
beiden bisher gebrauchten Drähten stand, mit einem Querschnitt 
von 0:8 Mm. Untersucht man so hergerichtete Muskeln in dem 
Mandelölbade bei einer constanten Temperatur von 5°, so ergab 
sich, dass die Kraft stetig und häufig, besonders bei der ersten 
Ablesung nach fünf Minuten, recht erheblich abnahm; es konnte 
aber auch eine Zunahme der Kraft eintreten, welche bald ein 
Maximum erreichte, um dann wie gewöhnlich, abzunehmen. 
Deshalb wurde in allen Versuchen erst durch zwei Ablesungen 
untersucht, ob eine Zu- oder Abnahme stattfände; in ersterem 
Falle wurde zunächst das Maximum abgewartet und erst dann 
mit der Erwärmung vorgegangen. 

Folgendes sind die Versuche: 


1) Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes bei der 
Zusammenziehung. Dies Archiv 1873. S. 525. 


410 


J. Steiner: 


In Mandelöl. 


Sartorien mit thermischem Querschnitt. 


a - - - m -_ 
Zeit 2,8 2| Zeit | 2,2. 8| Zeit. ge 
a2 2,2 28 [2,5 Zee 
des 5: 205 des 531325 des 5833258 
=5 3° 3 e5 la 3 E52 3 
Versuchs. S"|© 1 Versuchs. | 3 © ElVersuchs.|2 "is & 
sa ss | s 
=) ke) S) 
36% = 6 31 517 6 55 |571| 5 
42% |704| 13 36 525 16 33h. — |557| 17 
45 1792| 16 37% 538 | 19 1% 1562| 19 
46 753 | 20% 40 552 23 3 1965| 21 
48 7933| 24 41% [569 27% 5.970725 
51% 1882| 28 44 1583 32 6 1972| 28 
93 912 | 30 46 588 35 8% 1574| 30 
585 |911| 33 48 388 37 10 1575| 35 
3 1925| 38 48% 1586 38 12% 1567! 36 
b) 922| 41 0 953 40 13% |560 | 38 
7 864 | 43 51% 1585(2) 42 15% |547 | 41 
8 Muskel starr 54% 1582 41 18 532 | 46 
und von der Elektr. zu- 56% 972 39 20 |518 | 38 
rückgezogen. Neue Aufl. 57% 1566 38 22 |506 | 36 
11 1549| 42 58% 1558 | 36% 23 |500| 35 
ıh. —-I554 | 35 27% |486 | 30 
4 933 30 


Zimmertemperatur >| 


Muskel nicht starr. 


Muskel nicht starr. 


6) 346 6 
7 8553| 11 
8 870| 16 


ı0 |386| 20% 
14 1443) 26 
15% |455 | 30% 
18% \469| 34 
19% |476| 36 
20% |477| 38 
22 [4195| 38% 
254 |515| 40 
27 |484| 41 
29 |aro| 40 
32 |314| 38 
33 |286| 35 


Muskel nicht starr. 
Zimmert. 5°. 


18% | 712 
22% | 697 
234 | ıı 
ee 
28 | 758 
31 767 
32. | 764 
33 - | 756 
36 | 715 
39% | 620 
41% | 590 
43 | 567 
45 | 535 
59 | 425 


Muskel nicht starr. 


693 
703 
727 
758 
736 
815 
800 
790 


767 
744 
725 
718 
703 
637 
645 
620 


Muskel nicht starr. 


Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. A4]1 


In Mandelöl. 


Sartorien mit thermischem Quersehnitt. 


| = = | u - AB - 
Zeit ER: &| Zeit EINE &| Zeit |5.18 & 
des 133 888 des ER: 335 des EE 28:5 
Versuchs. 3° 5 Z|Versuchs. 3° |2 EBilVersuchs.| 8° 5 E 
[SHE Sale SR 
35 1578 6 53 | 44l 4 11h. — [530 6) 
38 1585| 18 57 |450| 17 5% 1562 21 
47 |606 | 26 58% 1460 | 20 10 |609 30 
48 |617| 31 1% |486 | 28 13 1683 35 
50 |632| 34 3 498 | 31 14% 656 37 
51% 1641| 35 5% |524| 3 16 1657 | 38 
53 1638| 37 6% |530 | 37 17 1650 39 
54h |631| 38 8 [5833| 38 19 [651 42. 
56 1623| 18 9715391 3 20 [646 41 
58 |613| 37 12 544 4 22 1659 40 
59% |605 | 36 13% 542 | 40 23 1635 39 
1% |597| 35 14% |539| 39 24 |633 | 38 
5 |578| 32 16% |538 | 38% 25% |eas | 37 
5 1568| 30 19 |532| 36 26 1624 .| 36 
16% 1538| 17 20% |526 | 36 28 1618 34 
20 1525| 13 2ı [526 | 38 294 613 | 32 
24% 1515| 10 23 18231 40 33 1605 30 
24 ,521| 40 37 1590 20 
26 /520| 40 45 1569 10 
| 27 \518| 39% 
| 93 1010138 
| 30 1508| 37 
31 |504| 36 
| "83 |500| 34 | 
33% |488| 29 | 


Muskel nicht starr. Muskel 
Zimmert. 5°. 


nicht starr. 


Muskel nicht starr. 


Die eben mitgetheilten Versuche bieten uns bei näherer 
Besichtigung der Zahlen mancherlei interessante Punkte. Durch 


den Umstand, dass die Temperatur des Oeles so sehr langsam 


steigt, ist es zunächst möglich, fast bei jedem einzelnen Grade 


die Ablesungen zu machen, wodurch man in die angenehme 
Lage kommt, das Maximum der elektromotorischen Kraft mit 


aller Präcision feststellen zu können. 


höher, als man hätte vermuthen können. 


Es fällt bei Weitem 


Die Grenze für das 


Maximum, mit aller Schärfe fixirt, befindet sich bei 35—40°; 


412 J. Steiner: 


von hier sinkt der Strom zunächst bei noch höherer Temperatur 
ganz allmälich ab, um in der Nähe der Grenze für die Starre 
gekommen, erheblich abzufallen und dann, wenn der Muskel 
erstarrt, fast vollständig zu verschwinden, wie ein weiterer 
Versuch diesen Vorgang in Zahlen vorführen soll. 

Dieses Maximum übersteigt dasjenige, welches aus den 
Hermann’schen Versuchen zu abstrahiren ist, um einige Grade; 
indess Hermann hat dieses Maximum gar nicht gesucht, so 
wenig wie er es in der Temperirung so weit getrieben hatte, 
wie das hier geschehen ist. Hermann hatte überhaupt einen 
ganz anderen Zweck im Auge und hat desshalb seine Versuche 
auch nach ganz anderer Richtung hin verfolgt. Dazu scheint, 
wie man vielleicht aus der Grösse der Compensatorgrade für 
die elektromotorische Kraft entnehmen kann, Hermann ein 
Rheochord von grösserem Widerstande benutzt zu haben, als 
das hier geschehen ist; vorausgesetzt die gleiche Kraft der 
Maasskette, über die ich keine Angaben finden konnte. Her- 
mann seheint gewöhnlich Grenet’sche Elemente anzuwenden. 
Ich habe schon oben erwähnt, wie vielleicht der ganze Erfolg 
dieser Versuche auf der Feinheit der Abstufung beruht, die 
das benutzte Rheochord ermöglicht. Ich möchte deshalb das 
von mir gegebene Maximum für das Richtige halten. — 

Halten wir uns an die Zahlen, welche die elektromotorische 
Kraft im Maximum angeben und verfolgen wir dieselben noch 
über dieses hinaus bis zu 41 und 43°, so können wir sehen, wie 
in der Mehrzahl der Fälle beim Zurückgehen zu niederer Tem- 
peratur der Muskelstrom ziemlich steil abfällt; viel steiler als man 
nach den Erfahrungen am Nerven erwarten sollte; jedenfalls viel 
rascher, als in einigen Versuchen, die in Folge dessen auch 
besondere Eigenthümlichkeiten zeigen und die wir unten noch 
aufsuchen werden. Man kann diesen steilen Abfall der Kraft 
nicht herleiten von einer zu raschen Abkühlung, weil dieselbe im 
Oel in der That nicht rasch vor sich geht; aber auch aus einem 
physiologischen Grunde, weil der Muskel, wie wir noch sehen 
werden, bei Weitem viel weniger gegen Temperaturwechsel 
empfindlich zu sein scheint. Der Grund ist offenbar ein an- 
derer. Erreichen wir die Temperatur von 40—42°, so befinden 


Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 413 


wir uns in nächster Nähe der Lebensgrenze des Muskels, denn 
schon bei 45° pflegt derselbe starr zu werden. Offenbar wird 
der Muskel in seiner Vitalität durch diese hohe Temperatur 
angegriffen und büsst deshalb viel von seiner elektromotorischen 
Fähigkeit ein; er nimmt daher unverhältnissmässig rasch ab. 
Die Folge davon scheint zu sein, dass eine spätere nochmalige 
Erwärmung keinen wesentlichen Effect auf die Stromkraft mehr 
äussert, wie wir das in Versuch auf S.411 zu sehen Gelegenheit 
haben; ganz im Gegensatz zum Nerven, der bei wiederholter 
Erwärmung grösstentheils in entsprechender Weise mit seinem 
Strome reagirt. Aber da sein Maximum so viel tiefer liegt, 
als beim Muskel, so bleiben wir jener gefährlichen Nachbar- 
schaft fern und retten seine Vitalität. 

In einer Anzahl der aufgeführten Versuche ist es auffallend, 
wie gerade innerhalb der Temperaturgrade von 20—30° die 
Steigerung der elektromotorischen Kraft eine besonders grosse 
ist; es soll genügen, hier darauf aufmerksam gemacht zu haben. 

Bisher haben wir niemals Gelegenheit genommen, über 
den Einfluss zu handeln, den die Zeit auf den Strom hat; in- 
dess wir hatten niemals nöthig, davon zu reden, weil uns kaum 
je eine Thatsache begegnet war, die uns diesen Einfluss be- 
merkbar gemacht hätte. Da dieser Einfluss aber bekanntlich 
stets vorhanden ist, so können wir annehmen, dass derselbe 
durch das Aufsteigen der Temperatur und folgeweise Erhöhung 
der Kraft so übereompensirt wird, dass er bisher von uns völlig 
vernachlässigt werden konnte. In den letzten Versuchen können 
wir aber einige Male sehen, dass beim Aufsteigen der Tem- 
peratur von 5 bis ca. 18° nicht nur keine Steigerung, sondern 
ein Fallen der elektromotorischen Kraft eintreten kann. Es 
müssen also hier sich Rinflüsse geltend machen, die die Wir- 
kung der Temperatur modifieiren. Wir werden wohl nicht fehl 
gehen, wenn wir diese Modification auf die Zeit zurückführen, da 
es eine ziemlich lange Zeit dauert, ehe das Oel die Temperatur- 
steigerung von 5 bis 20° vollendet hat. Wenn nicht alle Mus- 
keln diese Modificationen erfahren, so beweist das nur, was wir 
schon wissen, dass die Zeit die verschiedenen Muskeln nicht in 
gleicher Weise beeinflusst. Mir scheint es aber sehr wahr- 


414 J. Steiner: 


scheinlich, dass auch das Oelbad an sich ein wenig zu dieser 
Modification beitragen könnte; der Abfall des Stromes fünf 
Minuten nach der ersten Ablesung dürfte grösser ausfallen, als 
das in Luft der Fall ist. Keinesfalls ist diese Wirkung aber 
bedeutend genug, um entschiedene Störungen zu verursachen. — 

Wir haben oben schon gelegentlich bemerkt, dass der 
Muskel bei Weitem nicht so empfindlich gegen raschen Tem- 
peraturwechsel zu sein scheint, wie der Nerv; ich erinnere 
daran, wie der Nerv bei raschem Ansteigen der Temperatur 
gewöhnlich mit einem Sinken der elektromotorischen Kraft 
antwortet; wie sehr deletär eine rasche Abkühlung wirkt und 
welche Vorsichtsmaassregeln man beobachten muss, um die 
Erhöhung der elektromotorischen Kraft bei der Abkühlung zum 
Maximum zu erzielen. So empfindlich ist der Muskel durchaus 
nicht; auf ihn können Temperaturschwankungen geschwind ein- 
stürmen, ohne dass er alterirt wird; im Gegentheil, seine Kraft 
scheint dann erst recht zu steigen und steigert sich selbst dann 
noch, wenn die Temperatur schon wieder abnimmt. 

Folgender Versuch wird dieses Verhalten veranschaulichen. 


Rasches Steigen der Temperatur. 


u ee 5 = 

23 3= d == 5 

des 3 Ss Ale es = 8 Al 
5 | id) 

Versuchs. 3” | ©38 Versuchs. | 3 8 

S Bo = A7o 


35% 317 6 50% 436 | 43% 

38 340 19 52 442 43 

40 366 | 30 53 445 | 42 A 
42 390 | 33 55% 436 | 39 

44 407 37 57 429 38 

45 419 | 40 58% 424 | 36% 

46% 422 | 41 11h. — 419 | 34 

47% 425 | 42% 8 380 | 16 

49 430 44 18 356 8 


Zimmertemperatur 6°. 


Untersuchungen über den Eınfluss der Temperatur u. s. w. 415 


Es steigt also die elektromotorische Kraft mit der Erwär- 
mung trotz der Geschwindigkeit, mit der diese eingeleitet wird; 
sie steigt sogar noch bei der Wiederabkühlung, ohne vorher 
einmal gesunken gewesen zu sein. Der Grund hierfür liegt 
wahrscheinlich in dem Umstande, dass der Muskel bei so 
rascher Erwärmung nicht in seiner ganzen Dicke dieselbe Tem- 
peratur annimmt, wie sie das umgebende Oel und seine Ober- 
fläche haben; dazu ist die Steigerung eben zu rasch. Während 
die oberflächlichen Schichten vielleicht schon an Stromkraft 
verlieren, steigt noch im Innern des Muskels in Folge der dort 
herrschenden geringeren Temperatur die elektromotorische Kraft, 
so dass die Resultante aller dieser Ströme noch eine Kraft- 
steigerung zeigt bei einer Temperatur, wo dies sonst nicht mehr 
der Fall ist und selbst bei der Abkühlung, ohne eine dazwischen 
fallende Verringerung des Stromes gezeigt zu haben. 

Dieser Vorgang ist, wie leicht einzusehen, sehr wesentlich 
verschieden von jenem Versuche, wo das Maximum überschritten 
wird, d. h. wo bei einer höheren Temperatur, als der zuletzt 
voraufgegangenen, ein Sinken der Kraft eintritt gegen die vor- 
aufgegangene höhere Grösse derselben; geht man mit der Tem- 
peratur wieder zurück, so tritt jetzt bei einer niederen Tem- 
peratur, als die letzte war, eine Stromsteigerung ein. Man 
muss diese beiden Vorgänge sorgfältig von einander trennen 
und auseinander halten. 

Es bleibt uns jetzt noch übrig, auf die zweite der beiden 
Fragen, welche im Entwurf zur Untersuchung des Muskel- 
stromes aufgeworfen worden waren, zu antworten, ob es gelingt, 
nach Ueberschreitung des Maximums für die Wiederabkühlung 
zum Maximum eine Erhöhung der elektromotorischen Kraft des 
Muskels zu erzielen oder ob es nicht gelingt, und welches der 
Grund hierfür sei. Da wie ich oben gezeigt habe, der Muskel- 
strom nicht so empfindlich gegen Temperaturschwankungen ist, 
als der Nerv, so verzichtete ich darauf, zum Kästchen zurück- 
zukehren, wie beim Nerven; sondern beschloss diesen Versuch 
auch im Oelbade zu machen, schon um der Möglichkeit eines 
Einflusses als Folge ungleicher Erwärmung, wie sie auf dem 
Kästchen bei einem so voluminösen Gebilde, wie es der Muskel 
ist, möglich wäre, zu entgehen. 


416 


J. Steiner: 


- 
Zeit Com- = =) Zeit Com- = =) 
= © = © 
des pensator- 25 des pensator- Aue 
Versuchs. Grade. s 2 | Versuchs. Grade. 5 = 
A rs | <=) 
tlche25 633 6 44 377 6 
12 650 16 46 are 9. 
14 674 19 49% 397 20 
17 710 26 53 418 DR 
20% 738 32 55 423 29 
22% 741 35 57 428 30% 
24% 736 36 58% 432 35% 
27% 735 42 59% 433 36 
31 721 41 2 432 38 
32 710 39% 3 425 39% 
33 701 38 4 424 40% 
34 692 36% 5 424 40 
35 680 35 6% 427 39 
37 680 33 5% 439 38 
39 630 30 10 430 37 
190%, 19 479 7 11 430 36 
13 429 34 
15 427 32 
17% 4295 30 
19% 418 27 
23% 415 20 
u kelnieh ; E Muskel nicht starr. 
26% 569 4 51% 644 34 
32 627 15 54 659 87 
34 650 18 55% 668 | 40% 
36 678 20 57% 6600 | MR 
38 707 26 % 665 40 
39 731 28 3 ya : 
44 792 33 5) 669 36 
46 7.97 34 9 672 38% 
47 791 34 10% 671 39% 
92 767 27 13 657 43 
55 750 21 16 650 45 
1 718 15 17% 645 48 
7% 652 12 19% 5öll) |, 49 
33% 573 4 21% 500 52 
39 583 13 24 462 53 
41 592 16 27 (Starre) 128 | 54 
45 605 22 3 69 44 
47 615 26 37% 52 49 
50 630 30 


Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 417 


Wir ersehen aus diesen Versuchen, dass auch beim Muskel 
bei der Rückkehr zum Maximum eine Steigerung der gesun- 
kenen elektromotorischen Kraft auftreten kann. 

In dem ersten dieser drei Versuche ist eine solche Stei- 
gerung eigentlich nicht vorhanden, sondern wir finden darin 
nur eine Andeutung zum Steigen, indem trotz Zurückgehens 
der Temperatur kein Abfall, sondern Constanz des Stromes 
auftritt. Dies deutet diese Steigerung zum Maximum an, denn 
in meinen sehr zahlreichen Versuchen habe ich niemals beob- 
achten können, dass bei der Abkühlung, wenn der Strom erst 
einmal iın Sinken war, eine Differenz von zwei Graden nicht 
stets auch einen Abfall des Stromes zur Folge gehabt hätte. 

Der zweite Versuch zeigt auf’s Schönste den Vorgang der 
Kraftzunahme bei der Abkühlung zum Maximum; nachdem 
letzteres bei 36° erreicht und bis zu 40%° in drei Ablesungen 
überschritten war, trat beim Rückgange zu 39° eine allmäliche 
Zunahme ein, welche bei 33° ihr Maximum erreichte und sich 
bis zu 36° auf demselben erhielt, um bei 34° wieder abzu- 
sinken. Die Werthe dafür sind zwar klein, aber sehr sicher 
und vermittelst eines hinreichend feinen Rheochordes genug 
deutlich darzustellen. Im Scalenbilde selbst markirt sich der 
Vorgang allein schon sehr vortrefflich, da unter diesen Um- 
stäinden 2—3 Scalentheile einem Millimeter-Compensator zu 
entsprechen pflegen. Aus diesem Versuche können wir aber 
noch etwas sehr Wesentliches herauslesen; das ist nämlich, 
worauf ich im gegentheiligen Falle aufmerksam gemacht habe, 
die ausserordentlich langsame Abnahme der Kraft nach Ueber- 
schreitung des Maximums und ebenso bei der Abkühlung zum 
Maximum; wie mir scheint, als Hinweis darauf, dass dieser 
Muskel von der hohen Temperatur noch nicht gelitten hat. 

Der dritte Versuch ist nach mehreren Seiten sehr instructiv. 
Zunächst war die Temperatur bis 34° gesteigert worden, ohne 
das Maximum erreicht zu haben; — es war durch einen Zu- 
fall augenblicklich kein wärmeres Wasser mehr vorhanden —; 
es wurde wieder abgekühlt, nochmals erwärmt und bei 404° 
das Maximum erreicht, bei 41%° war es deutlich überschritten, 
bei der Abkühlung auf 40° nahm die Kraft wieder zu, um bei 

Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 27 


418 J. Steiner: 


38° das Maximum zu erreichen, das bei 36° schon wieder über- 
schritten war; eine neue Erwärmung auf 38%° giebt wieder 
ein Maximum, das schon bei 39%° überschritten ist, um bei 
noch höherer Temperatur weiter überschritten zu werden. Wir 
ersehen daraus, wie bei der Abkühlung zum Maximum die 
Stromkraft zunimmt, wie alle Abfälle der Kraft sehr allmälich. 
geschehen und wie im Gegensatz zu obigem Versuche nach 
Ueberschreitung des Maximums bei der Abkühlung die erneute 
Erwärmung auch wieder eine deutliche Steigerung der Kraft 
hervorrufen kann. In diesem Versuche sollte ausserdem das 
Verhalten des Stromes bis zur Starre untersucht werden; der 
Zufall war dem ausserordentlich günstig, da die Starre erst 
bei 54° eingetreten war, wodurch der Weg vom Maximum 
38—40° bis zur Starre ein verhältnissmässig sehr weiter war, 
so dass der ganze Vorgang in die Länge gezogen ein sehr über- 
sichtliches Resultat ergeben konnte. So sehen wir, dass nach 
überschrittenem Maximum der Strom allmälich ohne wesent- 
lichen Sprung abnimmt bis zu 48°; von hier erfolgt aber bei 
der Zunahme der Temperatur um nur einen Grad bis zu 49 
eine plötzliche Abnahme des Stromes um fast 100 Mm. des 
Compensators. Die nächstfolgenden Temperaturzunahmen geben 
nicht weniger steile Abfälle, dem schliesslich der steilste Ab- 
fall von 53 zu 54°, dem Eintreten der Starre, folgt: es fällt der 
Strom zur Starre plötzlich um über 300 Mm. des Compensators. 
Die Abkühlung von da zurück giebt ebenso rapide Abfälle. 
Jener Punkt, in der Tabelle durch ein Ausrufungszeichen mar- 
kirt, wo der erste hervorstechende steile Abfall des Stromes bei 
der Erwärmung eintritt, bedeutet offenbar, wie oben angedeutet 
wurde, die Temperatur, wo die Muskelsubstanz durch die hohe 
Temperatur in ihrem Gefüge angegriffen wird. 

Die Erscheinung, die in diesem Versuche durch die Gunst 
eines glücklichen Zufalles, über einen längeren Weg ausgedehnt, 
dadurch so ausserordentlich klar sich darstellt, tritt auch in 
allen übrigen Fällen ein, wo schon die Starre bei 45° eintritt; 
nur ist offenbar, dass durch Zusammendrängung auf einen 
kürzeren Weg, etwa auf den von 38—45°, der ganze Vorgang 
undeutlicher wird und in seinen einzelnen Phasen viel weniger 


“ 


Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 419 


verständlich herausgelesen werden kann. Indess fehlt auch hier 
der Punkt nicht, in welchem, ohne dass schon die Starre er- 
reicht wäre, ein sehr entschiedenes Sinken der elektromoto- 
rischen Kraft sich bemerkbar macht. 

Beim Nervenstrom habe ich die Wege angegeben, auf denen 
es möglich ist, fast stets die Erhöhung bei der Kraft zum Maxi- 
mum beobachten zu können, Auf das Studium der gleichen 
Erscheinung beim Muskel habe ich nicht mindere Sorgfalt ver- 
wendet, wie dort, ohne indess nach Belieben die Erscheinung 
hervorrufen zu können. Man findet nur in einer Reihe in 
gleicher Weise angestellter Versuche einige von der erwarteten 
Form. Dagegen kann man jedesmal, wenn man das Maximum 
auch nur um eine Ablesung überschritten hat, voraussagen, ob 
die Erscheinung eintreten werde oder nicht; und zwar ent- 
scheidet darüber der rasche Abfall, den wir schon wiederholt 
besprochen haben. Tritt dieser auf, so pflegt die Erholung 
gewiss nicht einzutreten; ich möchte annehmen, wie schon an- 
gedeutet ist, dass man dann den Punkt erreicht hatte, wo durch 
die Temperatur die Muskelsubstanz angegriffen wird. 

Der Unterschied gegen den Nerven liegt also hier darin, 
dass das Maximum der oberen Lebensgrenze so nahe liegt, dass 
sehr bald der Moment erreicht ist, wo die Muskelsubstanz an- 
gegriffen wird. Dieser Punkt ist aber ein so variabler, 
wie die Lebensgrenze, die wir in jedem einzelnen Versuche 
nicht genau kennen; auf der anderen Seite müssen wir aber 
wieder für alle Fälle das Maximum, das jener Grenze so nahe 
liegt, überschreiten: so ist dem Experimentator die Möglichkeit 
benommen, hier unumschränkt zu herrschen; es tritt hier ein 
Factor mit ein, der nicht zu meistern ist; wenn man so sagen 
darf, die Individualität des Muskels. Das hindert indess nicht, 
die Erscheinung im Allgemeinen als festgestellt zu betrachten, 
wenn wir auch nicht in der Lage sind, über jeden speciellen 
Fall gebieten zu können. 

Zur Technik dieser Versuche möchte ich noch bemerken, 
dass die Abkühlung zum Maximum durch die Zimmertemperatur 


eingeleitet wurde, ohne indess das warme Wasser in dem Aussen- 
27° 


420 J. Steiner: 


gefässe zu entfernen. Erst bei 32—30° wurde das warme 
Wasser entfernt und kaltes wieder aufgegossen. — 

So sehen wir, wie sowohl beim Nerven- wie Muskelstrome 
die beiden Methoden der Untersuchung einander ergänzen, ohne 
dass aber die eine die andere überflüssig machen könnte. — 

Wie oben für den Nervenstrom, so wollen wir auch hier 
für den Muskelstrom seine Zunahme an elektromotorischer 
Kraft bis zum Maximum procentisch ausdrücken. 


Steigerung 


der E.K. Steigerung 
Nr. von ca. 4° bis in Mittelzahl. 
Mana Procenten. 
: 715—925 29 pCt. 
U. 517—588 13 
IM. 571-575 nn 
IV. 346-515 = 
V. 712—767 7 
v1. 693-815 17 ee 
VI. en 
VII. 441 —544 23 
IX. 530—657 98 
x. 633 — 741 17 
x 377—433 14 
XI. 569797 a 


Diese Steigerung würde also ca. das Doppelte betragen 
‘wie für den Nervenstrom. 

Berechnet man die Werthe aus den drei Versuchen am 
Kästchen, so stellt sich die Mittelzahl noch höher. 


Steigerung 


der E’K: Steigerung 
Nr. von ca. 4° bis in Mittelzahl. 
zum P ten 
Maximum. nee: 
iR 118—174 38 pCt. 
Il. 234— 370 30 33 pCt. 


IM. 183— 240 sl 


Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 49] 


Ich habe schon bemerkt, dass ich das Oelbad nicht für so 
ganz indifferent halte; wir werden der Wahrheit am nächsten 
kommen, wenn wir die beiden Mittelzahlen noch vereinigen 
und deren Mittel nehmen. Dasselbe beträgt 269 pÜCt.; es 
würde also der Muskelstrom um ca. ein Viertel seines Werthes 
bis zum Maximum zunehmen. 


$.5. Zusammenfassung der bisherigen Resultate. 


Wir haben demnach gesehen, dass die elektromotorische 
Kraft des Nervenstromes von 2° an desto grösser ist, je höher 
die Temperatur, dass dieselbe ein Maximum zwischen 14—25° 
hat und bei höheren Graden wieder kleiner ist. 

Die Kraft des Muskelstromes ist gleichfalls von 5° aufwärts 
desto grösser, je höher die Temperatur ist; sie hat zwischen 
35—40° ihr Maximum und ist bei höheren Temperaturen wieder 
kleiner, bis sie endlich, wo die Starre eintritt, fast Null wird. 


Halle, im April 1376. 


Untersuchungen zur Gasometrie der Transsudate 
des Menschen. 


Von 


Dr. C. Anton Ewaup, 
I. Assistent der med. Klinik und Docent zu Berlin. 


Zweite Abtheilung. 


Die folgenden Untersuchungen reihen sich als zweites 
Stück den Bestimmungen an, welche ich zur Gasometrie der 
Transsudate des Menschen bereits im Jahre 1373 veröffentlicht 
habe. — 

Wie jene die tropfbar flüssigen, so sollten diese die gasför- 
migen Produkte der Exsudation betreffen und ihre Beziehungen, 
sowohl zu den ersteren als zu der gesammten Kreislaufs -Oe- 
conomie des Körpers betrachtet werden. Es ist Schicksal Kkli- 
nischer Beobachtungen, dass sie abhängig von dem jeweiligen 
Zufluss des Materials häufig mit unerwünschter Langsamkeit 
‘ verlaufen, und gerade der vorliegenden Frage haben die letzten 
Jahre nur spärliche Ausbeute entgegengebracht. Aber es 
schien um so wünschenswerther eine gewisse Fülle des Materials 
zu erstreben, als die Arbeit — ursprünglich viel weiter ge- 
plant — dadurch, dassdem Verfasser mittlerweile die umfassen- 
den Untersuchungen der Herren Demarquay und Leconte') 
bekannt wurden, eine erhebliche Einschränkung erlitt. Diese 
Herren haben die Frage nach der Aenderung der Zusammen- 
setzung, der Einwirkung auf den Organismus und der Art der 
Resorption von Gasen, welche man in Körperhöhlen oder das 
Unterhautzellgewebe injieirt, einer eingehenden Prüfung unter- 


1) Demarquay, Essai de Pneumatologie medicale. Recherches 
physiologigques, eliniques et therapeutiques sur les gaz. Paris 1866, 
Ferner eine Folge von Journal-Aufsätzen in den Aıchives generales. 


Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 493 


zogen und sind, was die beiden letzten Punkte betrifft, 
zu dem überaus wichtigen Resultat gelangt, dass: 1) unter allen 
von ihnen injieirten Gasen und Gasgemengen (Sauerstoff, Wasser- 
stoff, Kohlensäure, Stickstoff, Schwefelwasserstoff, Schwefelam- 
monium und Luft) nur Schwefelwasserstoff und Schwefelammo- 
nium, entweder für sich allein oder nach Beimengung zuandern 
Gasen, eine schädliche Wirkung auf den Organismus resp. seine 
Gewebe ausüben, und dass: 2) eine Verschiedenheit in der 
Schnelligkeit, mit welcher verschiedene Gasarten resorbirt 
werden, in der Weise besteht, dass die Kohlensäure amschnellsten, 
der Stickstoff! am langsamsten verschwindet, dass Sauerstoff, 
Wasserstoff und atmosphärische Luft zwischen jenen die Mitte 
halten und Gasgemenge der reinen Gase miteinander oder mit 
der Luft um so schneller aufgesaugt werden, je mehr Volumen- 
theile eines leicht resorbirbaren Gases sie enthalten. — 
Wenn diese Resultate, welche im Wesentlichsten nur 
eine breitere Ausführung der von früheren Forschern (Astley- 
Cooper'), Davy°), Wintrich°), Bouley und Clement‘) 
angestellten Untersuchungen sind, schon wegen der Einfachheit 
der dazu nöthigen Beobachtungen, kaum beanstandet werden kön- 
nen, so ist dies mit der Antwort, welche die genannten Autoren auf 
die erste der oben aufgeworfenen Fragen, die quantitative und 
qualitative Aenderung der Gasgemische, geben, sicher nicht der 
Fall. DemarquayundLeconte operirten an der Peritonäal- 
höhle und am Unterhautzellgewebe, aber weder hier wie dort schei- 
nen sie mitihren Methoden einen wirklich sicheren Abschluss der 
injieirten Gase gegen die atmosphärische Lufterzielt zu haben. 
Der Umstand, dass sie bei Injection reinen Sauerstoffs oder 
Wasserstoffs in den spätern analysirten Proben bedeutende 
Mengen Stickstoff finden, so z. B. bei Injection von Sauerstoff 
nach 60 Minuten 14-04 pCt. Stickstoff, 4:30 pCt. Kohlensäure und 


1) Surgieal and physiological Essays by John Abernethy. 
London 1793 p. 55. 

2) Davy, Philosoph. Transact. of the roy. soc. of London 1823. 

3) Wintrich, Krankht. der Respirationsorgane. 

4) Bouley u. Clement, eit. beiDemarquay, Arch, gener. d, 
med. t. XIV. 


424 C. A. Ewald: 


8:66 pCt. Sauerstoff, bei Injection von Wasserstoff nach 60 Minuten 
19:75 pCt. Stickstoff, 2:S2 pCt. Kohlensäure, 3:38 pCt. Sauerstoff 
und 74-05 pCt. Wasserstoff, würde, auch ohne eine entsprechende 
Bemerkung der Verfasser, auf eine Verunreinigung ihrer Gase 
mit atmosphärischer von Aussen eingedrungener Luft hinweisen, 
da uns von keinem flüssigen oder festen Gewebe des Körpers 
ein auch nur im entferntesten dem entsprechender Gehalt an gas- 
förmigem Stickstoff bekannt ist. Aber sie geben diese Möglichkeit 
selbst zu, wenn sie an einer Stelle‘) ihrer in verschiedenen Jour- 
nalartikeln niedergelegten Arbeiten die eigenthümliche Erschei- 
nung, dass dieerhaltenen Absorptionswerthe für injieirten Wasser- 
stoff im Allgemeinen grösser als für den Stickstoff zu sein schei- 
nen, obgleich letzerer einen höheren Absorptionseoefficienten hat, 
direct durch die grössere Tendenz des Wasserstoffes, sich in 
der Atmosphäre zu verbreiten, erklären. Was für den Wasser- 
stoff gilt, gilt aber auch für die Kohlensäure und wenn die 
Wasserstoffwerthe auf diese Art entstellt sind, so müssen es 
auch die Kohlensäurewerthe sein. 

Der Hinweis auf diesen Umstand scheint mir aus folgen- 
dem Grunde wichtig: 

Wir verstehen unter Spannungsausgleich zweier gegen ein- 
ander diffundirenden. (freien oder absorbirten) Gase denjenigen 
Zustand derselben, in welchem ihre Procentzahlen diesseits und 
jenseits des Diffusionsmenbran übereinstimmen. Die Grösse 
dieser Zahlen wird dann auf derjenigen Seite der Membran be- 
stimmt, auf der die Menge des in der Zeiteinheit zuströmenden 
Gases am grössten resp. constant ist. 

Injieirt man ein Gas oder Gasgemisch, also beispielsweise 
Sauerstoffund Kohlensäure, in eine abgeschlossene Körperhöhle 
und dasselbe verändert sich so lange, bis es schliesslich auf 
einem constanten Werth stehen bleibt, und hat man von Aussen 
kein neues Gas zuströmen lassen, so muss der endliche Werth 
die Grösse der Spannung jenseits der Zellwandungen des um- 


1) Leconte et Demarquay. Etudes chimiques sur l’action 
physiologique et pathologique des gaz injectes dans les tissus des 
animaux vivants. Archiv. gener. de med, V. ser. t. XIV. p. 424. 


Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 495 


gebenden Gewebes, welchem fortwährend neue Mengen Sauer- 
stoff und Kohlensäure zugeführt werden, vorstellen. Verändert 
sich aber der Procentgehalt eines Gases wie z. B. des Stick- 
stoffes nicht oder nur sehr langsam, obgleich seine Menge in 
den Geweben bekanntermaassen ganz gering ist, so zeigt dies, 
dass das betreffende Gas nicht unter den einfachen Gesetzen 
der Absorptionstehenkann oder dass sein Absorptionscoeffieient 
nur ausserordentlich klein ist. 

Auf dieser Betrachtung fussen die von mir angestellten 
Untersuchungen, über welche ich in dieser Abhandlung 
berichte, 

Demarquay undLecontehabenzum Theilähnliche Ver- 
suche wie ich angestellt, ohne sie allerdings im gleichen Sinne zu 
deuten. Wollte man dies aber.thun, so würden ihre fehler- 
haften Analysen auch zu fehlerhaften, Schlüssen führen müssen. 
Demarquay und Leconte kommenzu dem Ergebniss, dass be- 
vor überhaupt eine Resorption der injieirten Gase eintreten 
kann, ein Ausgleich zwischen den aus dem Blute stammenden 
und den injieirten Gasen nöthig ist, derart, dass das resultirende 
Gemisch eine gewisse Constanz der Zusammensetzung erlangt 
haben muss, um überhaupt resorbirbar zu sein. Ist es aber so 
weit gekommen, so ändert sich die Zusammensetzung eines 
solchen Gasgemisches nicht mehr, sondern es wird dann in toto 
und gleichmässig aufgesaugt, d. h. es ist nach dem Obigen zu 
einem Spannungsausgleich mit dem benachbarten Gewebe ge- 
kommen. Von der einen Seite wird so viel aufgenommen wie 
von der anderen abgegeben und es stellt sich ein mittlerer Span- 
nungszustand her, dessen Grösse die constanten Werthe 
angeben. Nun liegen diese Werthe, wenn Luft, Stickstoff 
oder Wasserstoff in das Peritonäum oder Unterhautzellgewebe 
injieirt wurden, bei Demarquay und Leconte in der Mehr- 
zahl der Fälle für den Sauerstoff zwischen 4 und 6 pÜCt., für 
die Kohlensäure zwischen 3 und 5 pCt., obschon einige nicht 
unbeträchliche Schwankungen nach Oben und Unten vorkommen. 
Diese Zahlen entsprechen nahezu den vonStrassburg') für die 


1) Strassburg, Zur Topographie der Gasspannungen im thie- 
rischen Organismus, Pflüger’s Archiv VI. 


436 C. A. Ewald: 


Spannung des arteriellen und venösen Blutes ermittelten Durch- 
schnittswerthen, welche sich zu 4:05 pCt. für die Kohlensäure 
und 3°4 pCt. für den Sauerstoff beziffern, und so könnte es schei- 
nen als ob die Spannung dieser Gase innerhalb der besagten 
Gewebe nur wenig von der des Blutes selbst unterschieden, 
d. h. der in jener Arbeit erbrachte Beweis, dass die Spannung 
der Kohlensäure in den fixen Geweben höher als im Blute ist, 
erschüttert sei. Diese Uebereinstimmung ist aber eine rein zu- 
fällige und das gegen die ZuverlässigkeitderDemargquay’schen 
Zahlen von mir vorgebrachte Bedenken kann auch dadurch nicht 
beseitigt werden, dass sich laut Aussage der Verfasser nach 
Verlauf einer gewissen Zeit eine dauernd gleiche Zusammen- 
setzung der injieirten Gase eingestellt haben soll. Denn ein- 
mal kann man füglich nicht von einer Constanz der Zusammen- 
setzung sprechen, wenn die Volumenprocente, wie diesin der von 
DemarquayundLecontegegebenen Tabelle der Fallist, von 
einer Stundezur anderen um mehr als2pCt. schwanken, dann aber 
ist es leicht denkbar, dass der Wechselverkehr zwischen inji- 
eirtem Gas und umgebender atmosphärischer Luft nur in den 
ersten Stunden nach der Injection bei weit geblähten Hautdecken 
und starkem Druck energisch stattfand, später aber noch gerade 
ausreichte, um eine scheinbare aber unter den wahren Werthen 
liegende Constanz herbeizuführen. Nicht nur haben frühere For- 
scher (Wintrich, Davy) weit höhere Kohlensäure und Sauer- 
stoff-Werthe selbst noch 24 und 48 Stunden nach der Injection 
erhalten, auch dieneueren mit verbesserten Methoden angestellten 
Analysen von Sertoli') (”—-11 pCt. Kohlensäure nach zwei 
Stunden) und Strassburg?) (7'7 pCt. nach 2 Stunden) weisen 
auf weit höhere als die Demarquay’schen Mittelzahlen hin. 
Diese Gründe machen mir die Richtigkeit seiner Zahlen, deren 
Controle den Physiologen zukommt, sehr zweifelhaft. Ich 
habe sie von meinem Standpunkt aus beleuchten zu müssen 
geglaubt, weilich wegen derdamitnachgewiesenen Unzulänglich- 


1) Sertoli, Ueber Bindung der Kohlensäure und Ausscheidung 
in den Lungen. Medic. chem. Untersuchungen herausg. von Hoppe- 
Seyler Bd. Il. 

2) a. a. 0. 93. 


du 


Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 497 


keitder Methode, dieich für Thiere durch keine bessere zu ersetzen 
im Stande bin, das Thierexperiment bei Seite gelassen habe. Ich 
konnte dieses deshalb, weil ich mich auf die Lösung der Aufgabe 
beschränken wollte,wiehoch dieSpannungderG@ewebe- 
gase unter pathologischen Verhältnissen werden 
kann und die Bedingungen hierzu beim Menschen vorkommen. — 

Es ist zweifelsohne für den Pathologen von allergrösstem 
Interesse, über die Aenderung, welche der Gasgehalt des 
Blutes, und zwar in erster Linie die leicht abdunstbaren Gase 
desselben, durch entzündliche Störungen zumal der Respirations- 
organe erleidet, eine auch nur annähernde Kenntniss zu gewinnen 
und dies Interesse wächst, wenn es gelingt, nicht nur die Art 
dieser Störungen, sondern auch ihre Quelle ausfindig zu machen. 

Während aber über den Stoffwechsel, die Wärmeöconomie, 
die Kreislaufs-Verhältnisse u. A. m. lokalisirter entzündlicher 
Prozesse ausgedehnte Untersuchungen angestellt sind, hat man 
hisher noch niemals versucht, auch dieser Frage gerecht zu 
werden. — 

Dieselbelässt sich von zweiSeiten aus angreifen. Entweder 
kann man nach Analogie der Wintrich’schen und Demar- 
quay’schen Versuche die Zusammensetzung der Luft messen, 
welche längere Zeit und ohne directen Verkehr mit der At- 
mosphäre in Körperhöhlen verweilt hat, welche von entzündlichen 
Membranen umgeben sind, denn hier muss nothwendig die Span- 
nung der einzelnen Gase des Luftraums derjenigen der an- 
grenzenden Gewebe gleichsein, wenn anders ein Diffusionsverkehr 
zwischen beiden stattfindet, oder man kann die Spannung der 
Gase bestimmen, welche von Flüssigkeiten absorbirt sind, die 
längere Zeit im Innern einer Körperhöhle mit entzündeten 
Wänden verweilt haben, denn auch in diesem Fall müsste sich, 
ein Diffusionsaustausch überhaupt vorausgesetzt, die Spannung 
zwischen Gewebe der Wand und Flüssigkeit ausgeglichen haben. 

Nach der oben gegebenen Deduction stellt dann jeder auf 
diese Weise ermittelte Werth die Spannung des Gewebes in 
dem Augenblick der Untersuchung vor, und aus der etwaigen 
Constanz dieser Werthe zu verschiedenen Zeiten würde sich 
auch die Constanz der entzündiichen Spannung ergeben. Eine 


498 C. A. Ewald: 


weitere Untersuchung hätte sich mit der Frage, welches der 
hier betheiligten Gewebe, ob Exsudatflüssigkeit, ob das circu- 
lirende Blut, ob die fixen Zellen die ursprüngliche Quelle der 
beobachteten Spannung ist, zu beschäftigen. Beide Wege habe 
ich beschritten und die Uebereinstimmung der auf diese Weise 
erhaltenen Resultate scheint mir eine derartige zu sein wie sie 
unter so komplexen Verhältnissen nur immer erwartet werden 
darf. 

Im Wesentlichen musste ich mich dabei an die Ausmittelung 
der Kohlensäure-Spannung halten, derübrigens auch das grösste 
Interesse zukommt. Denn da ich mich bei diesen wie bei 
früheren Versuchen nicht des Vortheils begeben wollte, am 
kranken Menschen zu arbeiten, um so mehr als mich die oben 
auseinandergesetzten Verhältnisse direct darauf hinwiesen, 
so sind ihnen von vorn herein gewisse Schranken gesetzt wor- 
den, welche mir das Material auferlegte.e Ich musste mir 
genügen lassen die oben gestellten Bedingungen wenigstens unter 
zwei Umständen verwirklicht zu sehen: dem Pneumothorax und 
dem pleuritischen Exsudat. 

Da aber der Sauerstoffgehalt pleuritischer Exsudate, wie 
ich im ersten Theil dieser Abhandlung gezeigt habe. fast Null 
ist’), so mussten auch Bestimmungen seiner Spannung fortfallen. 

Nun giebt es allerdings noch neben der Pleurahöhle andere 
Orte abnormer Luft- und Flüssigkeits - Ansammlung im Orga- 
nismus, so vor Allem die Peritonäalhöhle, aber sie bieten vor 
jener nicht nur keine Vortheile dar, sondern stehen durch 
mannigfache Complicationen, (schwere Zugänglichkeit, Beimen- 
gung anderer Gase, z. B. aus dem Darmrohr, seltenes Vor- 
kommen) enschieden hinter ihr zurück und -ihre Ausnutzung 
würde erheblich erschwert sein. Schon diese Gründe, noch 
mehr aber die Ueberlegung, dass, was für die Pleura gilt, so 
weit es nicht specielle Eigenthümlichkeiten dieses Gewebes 
betrifft, und davon werden meine Versuche nicht berührt, jeden- 


1) C. A. Ewald, Untersuchungen zur Gasometrie der Trans- 
sudate des Menschen. Dies Archiv, 1873, Heft 6. 


Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 429 


falls auch auf andere entzündete Gewebe übertragen werden 
kann, haben mich bestimmt ausschliesslich diese Stelle zu be- 
nutzen. Hierbei ist ein anderer Vortheil nicht zu unter- 
schätzen: 

Bekanntlich ist es ein äusserst seltenes Vorkommen, dass sich 
beim Menschen ein Pneumothorax ohne gleichzeitige eitrige 
Exsudation der Pleura ausbildet respective entsteht. In der 
Mehrzahl der Fälle findet sich gasförmiges und tropfbarflüssiges 
Exsudat gepaart und man hat es mit einem Pyo- oder Sero- 
pneumothorax zu thun. Es leuchtet aufden ersten Blick ein, dass 
man hier durch den pathologischen Prozess die Bedingungen 
verwirklicht hat, welche für die normalen Gewebe (flüssige 
und feste)in den Arbeiten des Pflüger’schen und Lud wig’schen 
Laboratoriums durch complicirte Apparate erstrebt wurden, 
nämlich die, ein pathologisch verändertes Gewebe und Secret 
gegen eine allseitig abgeschlossene Gasmischung in Spannungs- 
austausch treten zu lassen. Man kann also durch die Analyse 
der pneumothoraeischen Luft nicht nur die Spannung der 
Pleura, sondern auch die der Exsudate messen, wenn, wie 
hier als selbstverständliches Postulat stillschweigend vorausge- 
setzt wird, die Luft der Pleurahöhle durch irgend einen der 
hier möglichen und vielfach diskutirten Verschlüsse gegen die 
Lunge abgesperrt ist. 

Für dies Verhalten geben aber die gewonnenen analytischen 
Werthe selbst in jedem Fall die beste Bürgschaft. Schon 
Demarquaybhat daraufhingewiesen, dass hoher Sauerstoff- und 
niedriger Kohlensäure- Gehalt pneumothoraeischer Luft auf 
eine bestehende offene Communication mit den Lungen hinweist. 
In Folgendem werde ich mehrere Analysen anzuführen haben, 
wo auf Grund eines solchen Befundes die Communication von 
Pleurahöhle und Lunge in einzelnen Fällen direet diagnostieirt 
und p. mortem bestätigt, in den andern angenommen werden 
konnte aber der directen Bestätigung entbehrte, da der Patient 
geheilt wurde. 

Endlich aber lässt die gleichzeitige Analyse der pneumo- 
thoraeischen Luftund derin der Toricelli’schen Leere aus dem 
Exsudat abdunstenden Gase erkennen, wie gross der Bruchtheil 


430 GC. A. Ewald: 


der gesammten sog. locker gebundenen d. h. bei 0 Mm. Druck 
und o. Tension abdunstenden Kohlensäure ist, welcher sich 
unter Atmosphären-Druck und einer bestimmten Wasserdampf- 
spannung abspaltet, und ob derselbe zu dem Gesammtgas in 
einem bestimmten wiederkehrenden Verhältniss steht. 

Leider stehen mir aus rein technischen Gründen nur wenige 
solcher Doppelanalysen zu Gebote, weil es in den meisten 
Fällen schwer hielt uno tenore d. h. ohne eine doppelte Punc- 
tion, sondern nur durch veränderte Richtung des Troicarts 
erst Gas und dann Eiter auszusaugen, und die Ausführung einer 
zweiten Punction unmittelbar nach der ersten, wie es doch im 
Sinne der Frage gewesen wäre, durch die Rücksicht auf die 
Patienten verhindert wurde. 

Sämmtlichein Folgendem anzuführende Analysen wurden nach 
den bekannten Methoden ausgeführt, und das nach Absorption 
und event. Verpuffung von Kohlensäure und Sauerstoff blei- 
bende Restgas als Stickstoff verrechnet. Die pneumothoraeische 
Luft wurde durch das seitliche Rohr der Punktionsspritze direet 
am Krankenbett in die mit Quecksilber gefüllten Eudiometer- 
röhren übergeführt und Sorge getragen, dass erst eine oder selbst 
zwei Spritzen voll Gas aufgesaugt und in die Luft entleert 
wurden, ehe das zur Analyse bestimmte Gas gesammelt wurde. 

Das tropfbarflüssige Exsudat wurde in der bereits früher 
geschilderten Weise!) ausgesaugt und verarbeitet. Stets wur- 
den die zu verwendenden Instrumente vorher auf ihren luft- 
dichten Verschluss geprüft. Die umstehende Tabelle, in wel- 
cher die Reihenfolge, so weit dies möglich, die Zeitdauer 
des Pneumothorax einhält, ergiebt in übersichtlicher An- 
ordnung die betreffende Daten. Da es sich in sämmtlichen 
Fällen um interne Ursachen (Lungen- oder Pleuraulcerationen, 
Bronchiectasen etc.) nicht um äussere Verletzungen, welche 
den Pneumothorax entstehen machten, handelte und in allen, mit. 
einer Ausnahme, ein mehr weniger reichliches und wie aus- 
drücklich constatirt wurde eitriges Exsudat und ein mehr we- 
niger starkes Fieber vorhanden war, so konnten die Bemer- 
kungen aus der Krankengeschichte möglichst kurz gefasst und 


1) Ewald, a. a. 0.8. 666. 


L 
. 
i 


Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 431 


auf die für die Beurtheilung der Analyse nothwendigen Daten 
beschränkt werden. (Siehe Tabelle I S. 12.) 

Ich werde nun zuerst die Ergebnisse der einzelnen Ana- 
lysen, welche sich in gewisse Gruppen anordnen lassen, kurz 
besprechen und dann die allgemeinen Folgerungen daraus ab- 
leiten. — en 

Von diesen Analysen gehört die schon erwähnte erste, vierte 
und fünfte mit aller Sicherheit zu den Fällen, wo eine offene 
Communication zwischen Pleurahöhle und Lungen bestand. 
Sie charakterisiren sich durch ihre selbst bei längerem Bestand 
des Pneumothorax enorm niedrigen Kohlensäure- und dem ent- 
sprechend hohen Sauerstoff-Werthe und einen Stickstoff- 
gehalt, welcher dem der atmosphärischen Luft nahezu gleich- 
kommt. Wenn sich bei Analyse II schon am 2. Tage, bei 
Analyse III am 5. Tage des Bestehens des Pneumothorax 
Werthe für die Kohlensäure von 18 und 15 Volum. Procent 
finden, so müssen offenbar die niedrigen Werthe der Analysen 
I, IV und V in der ausgiebigsten Ventilation der Pleurahöhle 
ihren Grund haben. Bei IV ist dies durch die Section sicher 
gestellt, bei I und V durch die Krankengeschichte höchst 
wahrscheinlich gemacht. Nehmen wir nun von diesen drei 
Analysen die Durchschnittswerthe, so erhalten wir 2:77 pCt. - 
Kohlensäure, 16'75pÜt. Sauerstoff und 805 pCt. Stick- 
stoff, als mittlere Zusammensetzung eines mit 
der Lunge in offener Communication stehenden 
Pneumothorax. 

Es ist übrigens, beiläufig bemerkt, auch ohne grossen 
eudiometrischen Apparat, falls man nur eine kleine und un- 
schädliche Punction nicht scheut, in allen Fällen leicht die 
Pneumothorax - Luft nach dieser Richtung hin zu untersuchen 
und diesen für die Prognostik nicht zu unterschätzenden 
Punkt sicher zu stellen: Man fülle eine gewöhnliche Bürette, 
deren Ausflussöffnung abgesperrt ist, mit einer gesättigten Salz- 
wasser-Lösung, schliesse das offene Ende mit dem Daumen, 
kehre um und fixire dasselbe in bestimmter Höhe unter dem 
Spiegel eines mit derselben Salzwasser-Lösung gefüllten 
Gefässes. Wenn man nun mit einer etwa 50—100 Cem. fassenden 


C.A. Ewald: 


432 


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Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 


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Reichert's u. du Bois-Reymond’'s Archiv 1376. 


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434 C. A. Ewald: 


Spritze punctirt hat, deren Canüle nur die Dicke einer dünnen 
Strieknadel zu haben braucht, so kann man die Spitze der 
Canüle leicht derart schräg unter das Wasser halten, dass sie 
unter die Oeffnung der Bürette zu stehen kommt. Drückt man 
nun den Stempel langsam zu, so steigt das Gas in der Bü- 
rette hoch und man kann an der (freilich umgekehrten) Theilung 
der Bürette, den Stand des Wassers und die ungefähre Menge 
des Gases ablesen. Nun bringe man schnell ein etwa erbsen- 
grosses Stück kaustischen Kali’s unter die untere Büretten- 
öffnung, verschliesse die Bürette wieder mit dem Daumen, 
nehme sie aus dem Wasser, schüttele einige Male tüchtig um 
und tauche sie wieder in das Salzbad, indem man durch all- 
mähliches Aufrichten der horizontal gehaltenen Bürette das 
Kalistückchen ander Kuppe antrocknen lässt. Sehr schnell wird 
die Kohlensäure bis auf geringe bei einem so rohen Versuch 
nicht in Betracht kommende Mengen absorbirt. Beträgt das 
absorbirte Volumen weniger als denzehnten Theil des gesammten 
Gases, so ist nach meinen Erfahrungen mit Sicherheit auf 
eine offene Communication mit den Lungen zu schliessen, 
oder, da die Umkehr des Satzes sich vielleicht noch augenfälliger 
in der Praxis zeigt, ist die absorbirte Menge mehr als ein 
Zehntheil des Gesammtvolumens, so ist luftdiehter Abschluss 
der Pleurahöhle vorhanden. Wenn ich hierbei als Charakte- 
risticum eines offenen Pneumothorax einen Kohlensäuregehalt 
von nicht über 10 pCt. angegeben habe, so ist damit wohl der 
äusserste Grenzwerth nach Oben hin gesetzt, wie er sich nach 
einigen später zu besprechenden Analysen unter Umständen 
stellen kann, im Allgemeinen aber kaum eine die Hälfte davon 
betragende Zahl anzunehmen. Ich habe in allerjüngster Zeit 
Gelegenheit gehabt auf das Resultat einer derartigen Probe- 
Analyse hin eine offene Communication zwischen Pleura und 
Lunge intra vitam zu diagnostieiren, obschon die Grösse des 
Pneumothorax eher auf das Gegentheil hindeutete. Ich fand 
zwischen 3 und 4 pCt. Kohlensäure am 4. Tage des Bestehens 
und am zweiten Tage vor dem Tode des Patienten. Die Ob- 
duction ergab ein linsengrosses, wie ausgeschlagenes Loch 
in der fast intacten Pleura der gänzlich geschrumpften Lunge, 


Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 435 


welches direkt in einen Bronchus hineinführte. Da die Be- 
stimmung der Kohlensäure in diesem Falle nur eine approxi- 
mative war so ist er nicht in die Tabelle aufgenommen worden. 

Gegen den naheliegenden Versuch aus diesen Werthen 
Schlüsse in Beziehung auf den Kohlensäuregehalt der Alveolen 
kranken Lungengewebes ziehen zu wollen, möchte ich mich 
aber sofort verwahren. Die pathologisch-anatomischen Ver- 
hältnisse sind in diesen Fällen zu allermeist derart, dass eine 
unausgesetzte und durchaus ausgiebige Ventilation, und zwar 
mit Ausschluss jeglichen respirationsfähigen Gewebes direkt 
in die Bronchien zweiter und dritter Ordnung hinein stattfindet, 
der regelrechte Gasaustausch der Lungencapillaren entweder 
überhaupt nicht oder nur im allergeringsten Maasse besteht 
und die etwa abdunstenden Gase sofort entfernt werden. 
Daher darf es nicht Wunder nehmen, wenn diese Zahlen hinter 
denen, welche für die Residualluft der Lungen (66 pCt. 
Vierordt'), für die Spannung abgeschlossener Lungenpartieen 
(5:1 bis 586 als Maximalwerthe, Wolffberg?), oder gar für die 
p- m. aus den Lungen genommene Luft (bis 12:2 pCt. Davy?) 
gefunden sind, weit zurückbleiben. Sie berechtigen zu weiter 
Nichts als dem Schluss, dass gegebenen Falls eine offene Com- 
munieation zwischen Pleura uud Lunge bestanden hat, dies 
aber so sicher, dass ick nicht anstehe in dem Fall VI, welcher 
eine Luft mit 20'4 pCt. Kohlensäure, 2:35 pCt. Sauerstoff und 
79-18 pCt. Stickstofl enthielt, ohwohl das Gas erst p. m. auf- 
gefangen wurde und die Section eine fast kirschkerngrosse 
direkt in einen Bronchus führende Oeffnung der Pleura nach- 
wies, eine feste Verlegung derselben bis zum Augenblick der 
Leichenöffnung,, etwa durch einen zähen Schleimpfropf, anzu- 
nehmen. Ich habe diese Analyse deshalb zu den Fällen von 
abgeschlossenem Pneumothorax gerechnet. 

Solcher Fälle stehen mir mit gleichzeitig eitrigem Exsudat, 


1) K. Vierordt, Physiologie der Athmung mit besonderer Rück- 
sicht auf die Ausscheidung der Kohlensäure. Karlsruhe 1845. 

2) S. Wolffberg, Ueber die Spannnng der Blutgase in den 
Lungencapillaren. Pflüger’s Archiv IV 8.474 und VI 8. 26. 


3) 2.2.0. 
28* 


436 C. A. Ewald: | ; 


sechs, mit serösem einer zu Gebote. Letzterer ist getrennt 
von den übrigen zu besprechen. 

Es darf nun billig Wunder nehmen, dass das Resultat 
dieser sechs Analysen, obgleich sie zu so verschiedenen Zeiten, 
unter so verschiedenen Umständen und nach so verschiedenen 
Entstehungsursachen angestellt sind, verhältnissmässig so ge- 
ringe Unterschiede für jede Gasart bei Vergleich der einzelnen 
Analysen giebt. Die grösste Differenz für die Kohlensäure 
beträgt 527 pCt., für den Sauerstoff, mit Fortlassung der 
Analyse II, deren hoher Sauerstoffgehalt offenbar durch den 
kurzen zweitägigen Bestand des Pneumothorax bedingt ist, 3:29 
pCt., für den Stickstoff 4'038 pCt. Da diese Analysen in die 
Zeit vom zweiten bez. fünften bis zum vierunddreisigsten Tage 
fallen, so kann man daraus zu Recht schliessen, dass nach 
kurzer Zeit eine gewisse Stetigkeit der Zusammensetzung, 
welche von gemeinsamen gleichen Bedingungen abhängt, ein- 
tritt und ist berechtigt die zu berechnenden Durchschnittswerthe 
alsdenTypusdes Gasgehaltes eines geschlossenen 
Pneumothorax aufzustellen. Dieselben sind: 18:13 pCt. 
Kohlensäure, 26 pCt. Sauerstoff und 7%S1 pÜt. 
Stickstoff. 

In diesen Mittelwerthen nähert sich die Zahl des Stickstoffs 
und die Summe von Sauerstoff und Kohlensäure nahezu dem 
Sauerstoff und Stickstoff der atmosphärischen Luft, und da 
2 Volumina Sauerstoff und 1 Volumen Kohlenstoff 2 Volumina 
Kohlensäure geben, so werden wir direkt auf die Möglichkeit 
hingewiesen, dass die gesammte Kohlensäure der pneumothora- 
cischen Luftdurch Oxydationsprozesse in den Exsudaten bedingt 
ist. In der That ist es von vorne herein nicht zu bestreiten, dass 
durch den Zutritt von Luft saure Produkte in dem eitrigen 
Exsudate gebildet werden, Kohlensäure frei gemacht und als 
neuer Summand der schon vorhandenen zugesellt werden 
kann. Aber ich stelle die direkte Abhängigkeit der Kohlensäure 
der pneumothoraeischen Luftvon diesem Vorgang in Abrede und 
werde in der Folge zu zeigen haben, dass die letztere durch 
andere Momente bestimmt wird, so dass die Uebereinstimmung 


Untersuch, zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 437 


zwischen dem verschwundenen Sauerstoff und der gebildeten 
Kohlensäure nur zufällig ist. 

Eine eigenthümliche Sonderstellung nimmt diesen Analysen 
gegenüber der Fall VIII ein, wo es sich um einen Sero-Pneumo- 
thorax mit $:13 pCt. Kohlensäure, 126 pCt. Sauerstoff und 
90:61 pCt Stickstoff handelte und bemerkt werden muss, dass 
kein Symptom. auf eine etwaige offene Communication zwischen 
Lunge und Pleurahöhle hinwies. Nichtnur der Kohlensäure-Ge- 
halt, dessen geringe Höhe wohl in Zusammenhang mit der 
serösen Beschaffenheit des flüssigen Exsudates steht, sondern 
vor Allem die abnorme Menge Stickstoff resp. Restgas recht- 
fertigt den Verdacht, es möge ein analytischer Fehler vor- 
liegen. Leider ist dieser Fall vereinzelt geblieben und die 
Gasmenge reichte zu einer Doppelanalyse nicht aus. Da der 
Sauerstoff mit Kalipyrogallat absorbirt wurde und die Schwämme 
mit dem Kalipyrogallat') nach der Absorption in andern Röhren 
auf ihre Wirksamkeit mit positivem Erfolg geprüft wurden, 
so können die niedrigen Werthe für Sauerstoff und Kohlen- 
säure nicht beanstandet werden, zumal sie nicht direkt unwahr- 
scheinlich sind. Hiervon ist aber die procentarische Stickstoff- 
grösse, falls derselben nicht noch andere Gase beigemengt sind, 
was ich nach meinen früheren Analysen bezweifele, in grader 
Linie abhängig. Es muss mir vorerst genügen die Gültigkeit 
der analytischen Werthe, eben weil sie sich so schroff aus dem 
Rahmen der übrigen hervorheben, gesichert zu haben. Eine 
eingehende Betrachtung und damit die ihm zukommende Stelle 
wird dieser Fall erst nach der Beschreibung anderer Versuche, 
welche später besprochen werden, erhalten können, dann 
aber seine scheinbare Ausnahmestellung verlieren und sich als 
durchaus gesetzmässig erweisen. 


1) Ich bediente mich in letzter Zeit statt der in Kugelform ge- 
pressten Kugeln von Papier mache kleiner kugelig geschnittener 
Stückchen von reinem dichten Schwamm, welche auf Platindräthe 
aufgehakt werden. Dieselben lassen sich, nachdem sie vorher in 
Kalipyrogallat getaucht sind, vollkommen luftfrei unter Quecksilber 
ausdrücken und in die Absorptionsröhren einführen. Sie sind leichter 
und schneller herzustellen wie die Papierkugeln, absorbiren aber 
energischer. 


ETRTLTER 


a CAR: 


Eine Art Mittelstellung zwischen den Analysen letzt- 
und erstgenannter Gruppe nehmen die Fälle VII, XIV und XV 
ein. Obgleich in jedem derselben das Vorhandensein einer 
direkten Communication mit der Lunge nach Aussage der 
Krankengeschichte höchst wahrscheinlich ist, ja für den 
Fall XIV zwingende Gründe zu der Annahme vorliegen, dass 
der Pneumothorax erst im Momente der Punction einer eitrigen 
Pleuritis, wahrscheinlich unter Ruptur des Pleuragewebes in 
Folge zu starker Aspiration, entstanden ist (cfr. Ewald, zur 
operativen Behandlung pleuritischer Exsudate.), sind die erhalte- 
nen KohlensäureWerthe dochzu hoch um einen direeten Austausch 
zwischen Pleuragas und Luft, wie in den Fällen der ersten 
Gruppe und zu niedrig um einen abgeschlossenen Pneumothorax 
wie in denen der zweiten anzunehmen. Sie sind aber fast gleich 
denen, welche Demarquay und Lecontein einem Fall von 
Hydropneumothorax avec communication pleuro-pul- 
monaire gefunden haben. Es wurden in diesem Fall an zwei 
Tagen jedesmal mehrere Proben Pleura- Gas kurz hinter- 
einander durch Punction entnommen, Die betreffenden Zahlen 
waren hier für die Kohlensäure am ersten Tage in der ersten 
Probe 10'832, in der zweiten 8'823 pCt., bei einem zweiten vier 
Tage später angestellten Versuche 11'16, 9:36, 796 und 1'53 
pCt., während die gleichzeitigen entsprechenden Sauerstoffwerthe 
1:54, 5'392 und 049, 542, 9-45 und 15°37 sind. Hieraus sieht 
man ganz deutlich, dass die Communicationsöffnnng an beiden 
Punctionstagen anfänglich nicht genügend durchgängig gewesen 
sein muss und sich erst in Folge der Entziehung des Pleura- 
gases und des dadurch relativ wachsenden Druckes der Lungenluft 
erweitert hat. Dasselbe muss in meinen Fällen stattgehabt 
haben. Sie sind in ihren analytischen Ergebnissen characte- 
ristisch für einen ungenügenden, vielleicht nach Art einesschlecht 
wirkenden Ventils verlegten, pleurapulmonalen Verbindungs- 
weg. Vielleicht haben wir im FallXIV ein Bild der Lungen- 


1) Charite-Annalen 1874 S. 153. Einen durch meine Abwesen- 
heit bei der Superrevision der Correctur entstandenen Druckfehler 
bitte ich hier Zeile 2 von unten dahin zu berichtigen, dass es 
statt „nur 0'3 pCt. Sauerstoff“ heissen muss „170 pCt. Sauerstoff“. 


‘Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 439 


luft unter pathologischen Verhältnissen vor uns, da das Gas 
im Moment des Entstehens auch schon zum Zweck der Analyse 
entfernt wurde und kaum Zeit zu einem ausreichenden Aus- 
gleich mit dem Gase des Exsudates gefunden haben kann. 
Obgleich der von Vierordt bei vermehrter Puls- und Re- 
spirationsfrequenz gefundene Werth von 622 pCt. Kohlen- 
säure der Exspirationsluft bei 15 Athemzügen und 201 Pulsen 
in der Minute mit dem hier erhaltenen Resultat von 6'S pÜt. 
in guter Uebereinstimmung steht, lassen doch andere später zu 
erörternde Thatsachen diese Annahme bezweifeln, und es 
muss genügen auf diese Möglichkeit hingewiesen zu haben. 
Es bleibt endlich die AnalyseX. Dieselbe betrifft ein Gas- 
gemenge, welches 20 Stunden p. m. aufgefangen wurde, nach- 
dem sich ein eitriger Pneumothorax, von dessen Luftbeschaffen- 
heit die Analysen VIII und IX Kenntniss geben, in einen 
jauchigen Pneumothorax umgewandelt hatte Es kann hier 
nicht von einer etwa crst p. m. entstandenen Zersetzung und 
Umbildung des Exsudates resp. der Luft die Rede sein. Ersteres 
nicht deshalb, weil diejauchige Beschaffenheit des Exsudates sich 
schon längere Zeit vor dem Tode durch characteristische Zeichen 
kund gab, letzteres, weil uns die Analyse III mit ihrer gleich- 
falls erst vor der Section entnommenen Luft, deren Zusammen- 
setzung von 15'135 pCt. Kohlensäure, 3:94 pCt. Sauerstoff und 
80-92 pCt. Stiekstoff in Nichts von den anderen während des 
Lebens angestellten Analysen abweicht, beweist, dass einkurzer 
Aufenthalt der Luft im todten Körper keine wesentliche 
Aenderung der Gasbeschaffenheit hervorrufen kann. Die 
40°53 pCt. Kohlensäure, 0:54 Sauerstoff, 58:93 Stickstoff und 
1:0 Schwefelwasserstoff zeigen, wie mächtig die Kohlen- 
säure unter dem Einfluss des mit der Verjauchung verbun- 
denen Zersetzungsprozesses und der damit Hand inHand gehen- 
den Säurebildung anwachsen, wie der Sauerstoff fast voll- 
ständig verschwinden und als neuer Bestandtheil Schwefel- 
wasserstoff auftreten kann. Gleichzeitig wird in Folge der 
veränderten Zusammensetzung der procentarische Gehalt an 
Stickstoff um fast ein Drittheil herabgedrückt. Ein Vergleich 
mit einer 7 Tage vorher angestellten Analyse des damals noch 
nicht verjauchten Exsudates (Eiter) ergiebt das interessante 


440 C. A. Ewald: 


Factum, dass der Kohlensäuregehalt der Luft gegen den des 
Eiters bei gleichbleibendem Sauerstoffgehalt um fast ein Drit- 
theil gewachsen ist, und ein Vergleich mit der zu eben jener 
Zeit angestellten Luftanalyse, dass er gegen jene um über das 
doppelte zugenommen hat d. h. dass die Acidität des Eiters 
‘der von demselben Patienten stammenden Analysen VIII und 
IX, wenn überhaupt vorhanden, lange nicht ausreichte um auch 
nur die Hälfte der gesammten austreibbaren Kohlensäure frei zu 
machen. — Gasanalysen des neben dem Pneumothorax bestehen- 
den Exsudates konnten nun leider nur in der Minderzahl der 
Fälle angestellt werden, indessen vertheilen sie sich glücklicher- 
weise derartig über die Gesammtzahl, dass sich mit Sicherheit 
die Unabhängigkeit der Zusammensetzung des Pneumothorax- 
Gases von dem Eiter-Gase, wenigstens bis zu einem bestimmten 
Punkte ergiebt. Es wird am besten sein die Erörterung der 
auf diese Weise gewonnenen Zahlen sofort mit der Ableitung 
der allgemeinen Schlussfolgerungen zu verbinden. 

Vergleicht man nun zuerst die Kohlensäure-Zahlen der aus- 
pumpbaren locker gebundenen Eitergase mit denen der über dem 
Eiter stehenden Luft in den betreffenden Analysen II, HI, IX 
und XI, so ergiebt sich eine Maximal-Differenz der einzelnen 
Luftanalysen untereinander von 413 pCt. während sie für den 
Eiter den enormen Werth von 40:93 pCt. erreicht. Ich habe 
in dem ersten Theil dieser Abhandlung die Gründe entwickelt 
wodurch diese Differenzen im Gasgehalte der tropfbar flüssigen 
Exsudate, welche offenbar mit der Dauer und Beschaffenheit der- 
selben inZusammenhang stehen, bedingt werden und brauche an 
dieser Stelle nicht darauf zurückzukommen. Es möge aus jenen 
Versuchen nur noch einmal hervorgehoben werden, dass diejenige 
Menge von Gas, in specie von Kohlensäure, welche bei 0 Mm. 
Druck gegen das Vacuum aus verschiedenen Exsudaten abdunstet, 
eine ganz verschiedene ist und durchauskeine constanten Werthe 
zeigt, Hier interessirt uns vor Allem das fundamentale Factum, 
dass, während der Kohlensäuregehalt der Exsudate so mächtig 
schwankt, die aus der pneumothoraeischen Luft gewonnenen 
Werthe innerhalb so enger Grenzen eingeschlossen sind und 
sich durchaus disproportional zu denen der Exsudate verhalten. 


Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 441 


Diese Thatsache, welche sich klar und deutlich aus den ge- 
wonnenen Werthen ergiebt, ist aber für die folgenden Betrach- 
tungen von maassgebender Wichtigkeit, weil sie uns zeigt, dass 
die Kohlensäure der Luft nur in beschränktem Maasse von 
derjenigen der Exsudate abhängig sein kann, etwa in so fern 
als diese die Quelle jener abgeben würde. Offenbar muss 
noch ein Regulator vorhanden sein, welcher dem erschöpfenden 
Abfluss derselben aus dem Exsudate steuert. Ein solcher 
Regulator kann aber nirgend anderswo gesucht werden als in 
dem Widerstand, welchen eine ausserhalb der Exsudate und 
jener Luft gelegenen Kraft dem Abdunsten des Gases aus dem 
Eiter entgegensetzt und die einzige Stelle, wo diese 
Kraft gesucht werden kann, liegtindem umgeben- 
den Gewebe und bedeutet nichts Anderes als die 
Gasspannung desselben. Jedenfalls zeigt die Ungleichheit 
jener ersten, derEiter-Gas-W erthe, die annähernde Gleichartigkeit 
der zweiten, der Luftwerthe, dass wir hier ein Maximum vor 
uns haben. Die Bedingungen desselben können nicht wohl in 
der Kohlensäure der Exsudate und einem nur passiven Auf- 
treten derselben in dem Pleuragewebe gesucht werden. 

Denn wollte man den in diesen Versuchen leitenden Ge- 
danken und der aus ihnen sich ergebenden Betrachtungsweise 
den Einwand machen, dass die beobachtete Kohlensäure nicht 
der Spannung der Gewebe, sondern einer in dem Exsudat 
auftretenden dieCarbonate desselben zersetzenden Säurebildung 
entspreche, so würde der Hinweis auf die Analyse X mit 
ihrem bei wenig starker Aciditätso grossem Kohlensäure-Gehalt 
so wie die Thatsache, dass sich eine fast gleich zusammen- 
gesetzte Luft über Exsudaten mit saurer, neutraler und al- 
kalischer Reaction befand, derartige Bedenken entkräften 
müssen. Denn dies beweist zur Genüge, dass einmal die 
pathologischen Verhältnisse dem Abdunsten ungeheurer Kohlen- 
säure-Mengen aus dem Exsudate unter zwingenden Umständen 
keinen Widerstand entgegensetzen können, dass andererseits 
aber in der inneren Säuerung der Exsudate nicht die Gründe 
liegen, welche eine Vermehrung der ausdunstenden Kohlen- 
säure bewirken, weil die ohnehin geringe Acidität derselben 


De A, 7 A ET 
EAN. a Wchdgge 


442 C. A. Ewald: 


einen nennenswerthen Unterschied in dem Gasgehalt der Pneumo- 
thorax-Luft selbst dann nicht hervorrufen kann, wenn die ge- 
sammte lockere Kohlensäure, welche im flüssigen Exsudat vor- 
handen ist, erheblich wachsensollte. Letztere setzt sich offenbar 
aus zwei Componenten zusammen, von denen die eine constant 
und eine Function der Gewebsspannung, die andere aber variabel 
istund sich mit der Beschaffenheit des Exsudates gewissermaassen 
von innen heraus ändert. Hierin liegt aber zugleich ein 
zwingender Beweis dafür, dass wir es nicht etwa mit einer 
leblosen, starren und undurchdringlichen Wand zu thun haben, 
welche die Pneumothorax-Luft einkapselt. Bekanntlich findet 
man bei den Sectionen der an Pneumothorax verstorbenen 
Personen nicht selten einen mehr weniger grossen Bruchtheil 
der Pleuren nicht mehr in dem Zustande einer frischen Ent- 
zündung sondern im Gegentheil auf dem Wege der retrogres- 
siven Metamorphose, in fettiger Umwandlung, in molecu- 
lärem Zerfall, in Mortification des Gewebes begriffen. Auf dies 
Verhalten hin könnte aber nicht ohne Grund der Einwurf ge- 
macht werden, dass es sich in meinen Versuchen überhaupt nicht 
um ein lebendes entzündetes Gewebe und seinen Einfluss auf 
die umgebende Luft handele. Aber wenn Dies in der That nicht 
statt hätte, wenn die Luft des Pneumothorax einfach von einer 
indifferenten Wand verschlossen wäre, wie wollte man damit die 
gefundenen Differenzen der Reaction und der ausgepumpten Gase 
der flüssigen Exsudate einerseits, die fast constante Zusammen- 
setzung der über ihnen befindlichen Luft andrerseits vereinbaren? 
Und wenn wirklich das überwiegende und bestiz:mende Mo- 
ment bei diesen Vorgängen das absterbende und verfettende 
Pleuragewebe bildete, so würde auch damit die Constanz der 
Luftzusammensetzung nicht in Einklang zu bringen sein, weil 
die bei einem solchen Prozess auftretende Säurebildung und 
Zersetzung unausbleiblich zu einem stetigen Wachsen der Koh- 
lensäurewerthe führen müsste. Meine analytischen Ergebnisse 
sind mir im Gegentheil ein Beweis, dass diese Zustände 
entweder nicht die Folgen auf den Gaswechsel haben, die man 
ihnen a priori zuschreiben möchte, oder, dass sie gegen die 
doch stets noch vorhandenen activ entzündlichen Vorgänge 


Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 443 


zurücktreten und nicht die leitende Rolle spielen können. Es 
ist ein lebensfähiges, allen Gesetzen der Diffusion und des 
Stoffwechsels unterworfenes Gewebe, mit dem wir es zu thun 
haben und dies Verhalten der Pleuren muss gerade deshalb 
ganz besonders betont und hervorgehoben werden, weil es 
überhaupt die Möglichkeit, die erhaltenen Resultate auf das 
Verhalten entzündeter Gewebe zu übertragen, giebt. Für diese 
Betrachtung ist es nun auch ganz gleichgültig, ob man die 
nachgewiesene Spannung der pneumothoraeischen Luft als das 
Maximum der Exsudatspannung d. h. der im flüssigen Exsudate 
vorhandenenund unter Atmosphärendruck abdunstenden Gase an- 
nehmen will oder ob man etwa die letzterenoch höher beziffert, mit 
andern Worten, obmandem Exsudat dabei eine active oder passive 
Rolle zuertheilen will. Denn da jedes einzelne Theilchen der secer- 
nirten Flüssigkeit zu irgend einer Zeit einmal das Pleuragewebe 
durchwandert haben muss, so muss sich auch seine Spannung mit 
der des Nachbargewebes (Pleura) auf diesem Wege ausge- 
glichen haben und das einzelne Molecul wird sich seinen Vor- 
gängern mit einem Spannungsindex zugesellen, welcher aus 
seiner eigenen und des Gewebes Spannung resultirt. Sollten 
die bereits ausgetretenen Elementeausirgend welchen Gründen 
einen Theil ihrer Spannung an einen neuen Factor z. B. die 
plötzlich in die Pleurahöhle strömende atmosphärische Luft ab- 
zugeben haben oder von ihnen aufnehmen, so müsste sofort ein 
rückläufiger Ausgleichzwischen jenen ersten Ankömmlingen und 
den letzten und den neu nachrückenden eintreten, etwa wie 
sich der Wasserspiegel eines Sees durch Vertheilung der ein- 
zelnen Wassertropfen von einem Punkt aus überall hin senkt, 
wenn an seinem einen Ende ein plötzlicher Abfluss stattfindet. 
So hängt also jeder der drei Factoren Luft, Exsadat und Ge- 
webe vom andern ab, alle drei aber suchen fortdauernd in’s 
Gleichgewicht zu kommen. Wenn es gelingt einen von ihnen 
dabei als activ betheiligt, die anderen als passiv zu erweisen 
so ist damit zugleich die Quelle der ermittelten Spannungs- 
werthe gefunden. Jedenfalls muss also die Spannung in dem 
Exsudat und in den anstossenden Geweben nahezu gleich 
dem Durchschnittswerth der pneumothoracischen Luft sein. 


444 6. A. Ewald: 


Da nun Gewebe und Exsudat zu einer bestimmten Zeit ihre 
Spannung ausgetauscht haben, so handelt es sich nur noch um 
den Nachweis, ob ursprünglich das Gewebe dem vorbeiströmen- 
den Exsudat oder dieses dem Gewebe abgegeben hat, ob ersteres 
oder letzteres ursprünglich höher gestellt war. Wäre letzteres 
der Fall, so muss, da das Exsudat doch ein Abkömmling des 
Blutes ist, das gesammte im Körper kreisende Blut eine gleiche 
oder annähernd gleich grosse Spannung haben. 

Obgleich sicherlich bei allen schweren Respirations -und 
Circulationskrankheiten die Kohlensäure- Spannung des Ge- 
sammtblutes erheblich gegen die Norm erhöht ist, scheint es - 
nun doch in hohem Grade unwahrscheinlich, dass der mensch- 
liche Organismus auch nur vorübergehend die hier in Frage 
kommende Luftspannung aushalten kann. Wenn man sich 
dagegen die anderweitig sicher gestellten Thatsachen vergegen- 
wärtigt, unter denen eine jede Entzündung zu Stande kommt, 
der erhöhten Temperatur entzündeter Stellen, der verlangsam- 
ten Circulation, der gesteigerten Plastieität, mit einem 
Wort jener alten Vierzahl des calor, rubor, turgor und dolor 
gedenkt, was Alles doch schliesslich nichts weiter als eine 
locale Stoffwechselerhöhung bedeutet, und wenn man-sich er- 
innert, dass die Erhöhung der sogen. inneren Athmung d. h. 
ein vermehrter Sauerstoffverbrauch und eine dem entsprechende 
gesteigerte Kohlensäureproduction bei gesteigerter Thätigkeit 
einzelner Organe von Ludwig und seinen Schülern direct 
nachgewiesen ist, so dürfte eine vermehrte Kohlensäurepro- 
duction event. ein vermehrter Sauerstoffverbrauch entzündlich 
veränderter Gewebszellen und damit eine über die Norm er- 
höhte Gasspannung derselben, nichts Befremdliches haben. 
Von dieser Annahme aus lassen sich auch die vorliegenden 
Verhältnisse durchaus ungezwungen und einfach erklären. Denn 
die entzündete Zelle gleicht ihre Spannung mit dem langsam 
vorbeifliessenden Blut aus, und die von dieser Stelle aus das 
Blut verlassenden festen und flüssigen Elemente nehmen den 
gleichen Werth in die Pleurahöhle hinüber und theilen ihn 
schliesslich der pneumothoracischen Luft mit. So betheiligen 
sich an der endlichen Feststellung der procentarischen 


EEE en 


Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 445 


Werthe der Pneumothoraxluft sowohl Exsudat wie Gewebe, 
aber die endgültige Regulation ist direct oder indirect dem 
Protoplasma der Gewebszellen zuzuschreiben. Ist aber, um 
allgemeiner zu werden, das Blut an irgend einer entzündeten 
Stelle des Körpers, gleichviel ob mit oder ohne Exsudation 
um ein Mehr von Kohlensäure reicher, um Sauerstoff ärmer 
geworden, so wird es wahrscheinlich nur wenig weiter im Sinn 
des Stroms vorgeschritten, bereits zur normalen oder nahezu 
normalen Spannung zurückgekehrt sein. Es wäre sehr interes- 
sant zu erfahren, wie sich der Gasgehalt des Blutes peripherer 
Gefässe gestaltet, wenn an irgend einer beschränkten Körper- 
stelle innerhalb der Blutbahn oder doch so, dass das Blut in 
leichtem Wechselverkehr damit stehen kann, eine constante 
Kohlensäurequelle hergestellt wird. Ich meinestheils bin über- 
zeugt, dass dadurch der Kohlensäuregehalt des Gesammtblutes 
bei ungestörtem respiratorischem Gasaustausch nur wenig ge- 
ändert würde. Für die thierische Wärme habe ich wenigstens 
durch directe (noch nicht publicirte) thermoelectrische Versuche 
nachgewiesen, dass die Temperatur des Magens um 20° und 
noch mehr unter die der Achselhöhle sinken und nur allmählig 
innerhalb 30bis45 Minuten die gewöhnliche Wärme annehmen 
kann, ohne dass die Achselhöhlen-Temperatur um mehr als 
wenige Zehntheile eines Grades und auch dies nur vorüber- 
gehend zu fallen braucht. Also dass der Wärmeverlust des die 
Magenwandungen durchströmenden Blutes sich vollkommen 
ausgeglichen haben muss, bis dasselbe die Peripherie erreicht, 
etwa wie sich die Oberfläche eines Haufens Erbsen nicht merk- 
lich ändern würde, aus dessen Mitte man eine oder auch zwei 
oder drei fortnimmt. Aehnliche Verhältnisse werden aber im 
Blute statthaben, d.h. eine normale Anhäufung oder Produktion 
eines Blutgases vertheilt sich bei regelrechter Lungenventilation 
soschnell aufeine so grosseBahn, dass sie an einzelnen Punk- 
ten derselben nicht mehr augen- oder sinnfällig ist. So wenig 
stens erkläre ich mir die lokale Cyanose entzündeter Körper- 
stellen, welche nicht mit einer allgemeinen Oyanose verbundenist. 

Obgleich ich nun den Ort der Kohlensäurespannung, als 
in der Zelle des entzündeten Gewebes liegend mehr als wahr- 


RA \ Fa 
a wB \ 
> 


446 C. A. Ewald: 


sch einlich gemacht habe, will ich mich doch bei Formulirung 
des aus diesen Analysen zu ziehenden Schlusses nicht von dem 
Boden der nüchternen Thatsachen entfernen und behaupte, 
dass die Kohlensäurespannung entzündeten Ge- 
webes (Blut oder fixe Zellen), in welchem eine. 
Eiterproduktion stattfindet zwischen 15 und 20 
Volumprocenten liegt und in ihrer Höhe von der 
Intensität der Entzündung abhängig ist. 

Betreffs des Sauerstoffs und Stickstoffs kann ich mich 
kürzer fassen. Ersterer wird bis auf wenige Procente absor- 
birt und zwar nahezu gleichmässig in allen Analysen von etwas 
längerem Bestande. Der Durchschnittswerth von 2:6 pCt. 
weicht kaum von den von Strassburg für das venöse Blut er- 
mittelten Werth von 2° 9 pCt. ab, und es hat dies durchaus 
nichts Befremdendes, wenn man bedenkt, dass der Sauerstoff fort- 
während durch das Blut, auch wenn er in erhöhtem Maasse 
verbraucht wird, zugeführt und erneuert werden kann. 

Die Sauerstoffspannung entzündeten und mit 
Eiterproduktion verbundenen Gewebes würdesich 
danach auf 2: 6 pCt. stellen. 

Da das Stickgas, soweit wir bis jetzt wissen, bei allen 
Vorgängen des thierischen Stoffwechsels eine rein passive Rolle 
spielt, so werden wir es auch rein mechanischen Gesetzen 
unterworfen finden. In der That scheint es, ziemlich von glei- 
cher Menge in den verschiedenen Analysen der pneumo- 
thoraeischen Luft, von den Exsudaten proportional der Zeitdauer 
ihrer Berührung mit jener Luft absorbirt zu werden. Er beträgt 
in Maximo am 2. Tage 1'45, am 3. 2:09, am 24. 12'25 und am 
34. Tage 37:66 pCt. Schon Demarquay und Leconte haben 
nachgewiesen, dass der Stickstoff trotz seines hohen Absorp- 
tionsco£fficienten —25— am langsamsten von allen Gasen resor- 
birt wird, ein Factum, welches sich, nebenbei gesagt, aus der 
einfachen Thatsache, dass in den Lungen fortwährend Massen 
von Stickstoff mit einem in höchstem Grade resorptionsfähigen 
Organe in Berührung sind, ohne dass normaler Weise in irgend 
einem Gewebe ein nennenswerther Gehalt an (gasförmigem) 
Stickstoff vorkommt, ergiebt. Die Gewebe scheinen also der 


Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 447 


Aufnahme des Stickstoffs einen gewissen nicht unerheblichen 
Widerstand entgegenzusetzen, so dass sie erst nach längerer 
Zeit und unter erhöhtem Partiardruck mit ihm imprägnirt wer- 
den. Der Durchschnittswerth von 79:81 pCt., welchen ich für 
den Stickstoff der pneumothoracischen Luft gefunden habe, 
beweist nur aufs Neue, dass sich dieses Gas dem Organismus 
gegenüber vollständig indifferent verhält. — 


Die vorliegenden Untersuchungen hatten es mit eitrigen 
Pleuritiden, mit der Form des Pyopneumothorax d. h. mit 
einem Pleuragewebe mit mehr weniger starker eitriger Auf- 
lagerung und entzündlichen Schwarten zu thun. Obschon ich 
nun im Vorhergehenden nachweisen konnte, dass eine solche 
Pleura sich keineswegs wie eine todte Kapsel, sondern ganz 
und gar wie lebendes Gewebe verhält, wollte ich doch nicht 
unterlassen den zweiten der Eingangs erwähnten Wege ein- 
zuschlagen und direct die Gasspannung seröser Exsudate mit 
Hülfe der aörotonometrischen Methode zu ermitteln, wie die- 
selbe zu ähnlichen Zwecken von Pflüger in die Wissenschaft 
eingeführt ist. Ich bediente mich hierzu eines Apparates, der 
im Wesentlichen ganz ähnlich dem Pflüger’schen Aörotono- 
meter construirt war.') Der Sinn desselben ist bekanntlich 
der, zwei Portionen einer gleichzeitig aufgefangenen Körper- 
flüssigkeit (Blut, Harn. u. s. w.) ohne Berührung mit der Luft 
mit zwei Gasgemischen verschiedener aber bekannter Zusam- 
mensetzung in Contact zu bringen und aus der Art, wie diese 
Gasgemische dadurch verändert werden, die Spannung 
der betreffenden in der Flüssigkeit absorbirten Gase 
zu bestimmen. Dies geschieht, indem man die zu prüfende 
Flüssigkeit gleichzeitig durch mehrere lange cylindrische, 
vertical gestellte, oben und unten conisch zu laufende Röhren 
fliessen lässt, welche mit den Gasen bekannter Zusammen- 
setzung gefüllt sind. Diese Röhren können auf Körpertempe- 
ratur erwärmt und erhalten werden. 


1) Siehe die genaue Beschreibung desselben in der citirten Arbeit 
Strassburg’s. Mein Apparat war bis auf die im Text angegebene 
Abweichung genau ebenso construirt. 


448 C. A. Ewald: 


Bestimmt man nun vor und nach dem Durchlaufen die 
Zusammensetzung des in diesen Röhren enthaltenen Gases, so 
zeigt sich erstens, ob die durchgelaufene Flüssigkeit an die 
Röhren Gas abgegeben hat oder umgekehrt, und zweitens 
gelingt es bei ungefährer Kenntniss der Werthe, um die es 
sich handelt, die Gasmischung zweier Röhren so einzurichten, 
dass die durchlaufende Flüssigkeit von der einen aufnimmt, an 
die andere abgiebt, d. h. innerhalb zweier Grenzwerthe ein- 
geschlossen ist. Hat dann ein vollständiger Ausgleich statt- 
gefunden, so müssen die betreffenden Werthe (z. B. die Kohlen- 
säurewerthe) nach dem Versuch in beiden vorher verschiedenen 
Röhren gleich oder nahe zu gleich sein und die daraus sich er- 
gebende Zahl ist der annähernde Spannungswerth des betreffen- 
den Gases. Indem ich betreffs der näheren Versuchsanordnung 
und Beschreibung des Apparates auf die Arbeit Strassburg’s 
verweisen kann, habe ich noch Folgendes zu bemerken: Ich 
konnte selbstverständlich einen so complieirten Apparat, wie 
den hier benutzten, nicht am Krankenbett aufstellen sondern 
war gezwungen die durch Punction gewonnene Flüssigkeit 
von den Krankensälen in das Laboratorium zu bringen. Da 
ich mich aber auf die Ermittelung der Kohlensäurespannung 
beschränkt habe und da ich früher nachgewiesen habe, dass 
die Aenderungen in dem Gasgehalt der Exsudate in den ersten 
Stunden nach der Punction nur minimale sein können, so durfte ich 
diesen Wegunbedenklich einschlagen. Stattdervon Strassburg 
benutzten vier Röhren habe ich nur zwei angewendet und mit 
einem Gemisch aus Stickstoff und Kohlensäure gefüllt, welches 
immer erst unmittelbar vor dem eigentlichen Versuch zu einem 
Theil in die Tonometerröhren übergeleitet, zu einem andern zur 
Feststellung seiner Zusammensetzung besonders aufgefangen 
wurde. — Ich verfuhr also folgendermaassen: mit dem Punctions- 
troicart wurde eine grosse eigens zu diesem Zweck angefertigte 
gläserne Spritze von genau 290 Ccm. Inhalt verbunden, nachdem 
zuvor der Troicartund die verbindenden Gummischläuche nöthi- 
‚genfalls durch Pressen des Patienten mitFlüssigkeit gefüllt waren. 
Dann wurde die Spritze voll gesaugt, luftdicht am oberen Ende 
abgeklemmt und in Eis versenkt in’s Labortorium gebracht. 


Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 449 


Hier waren kurz vor der Punction die betreffenden Röhren 
gefüllt und die nöthige Temperatur derselben hergestellt. Als- 
dann wurde die Spritze mit dem zuführenden Schlauch ver- 
bunden, nachdem sie zuvor gleichfalls auf eine Temperatur von 
37—38° gebracht war, der Gasdruck in den Röhren mit der 
Atmosphäre in Gleichgewicht gesetzt, die todten Räume der 
Leitungen mit Hülfe doppelt durchbohrter Hähne mit Exsudat 
gefüllt und nun von einem Gehülfen durch langsamen und 
stetigen Druck auf den Stempel der Spritze die gesammte 
Flüssigkeit innerhalb anderthalb bis zwei Minuten durchgepresst. 
Aus jeder der zwei Tonometerröhren sammelte sich die durch- 
laufende Flüssigkeit über Quecksilber in graduirten Röhren, 
so dass annähernd gleiche Mengen derselben mit Sicherheit 
als durch beide Röhren geflossen nachzuweisen waren. 
Sammelte sich in der einen Vorlage mehr Flüssigkeit wie in 
der andern, so konnte man leicht durch entsprechendes Heben 
des betreffenden Zuleitungsschlauches die andere nachrücken 
lassen. Nach dem Durchleiten wurde das Gas jeder Röhre 
wiederum zur Analyse abgefüllt. 

Dadiese Versuche sehr complieirt und schwierig anzustellen 
sind, so sind mir leider nicht wenige misslungen, in denen es 
zu gar keinem oder nur sehr mangelhaftem Ausgleich der Gas- 
spannung in beiden Röhren kam, wovon die grossen Differenzen 
nach dem Durchleiten zeugten, oder es nicht gelang die Serum- 
Gase zwischen ein Minimum und Maximum der Tonometer- 
röhren-Gase einzuschliessen. Von den neun überhaupt ange- 
stellten Versuchen sind daher nur vier in der folgenden Tabelle 
aufgenommen worden und selbst von diesen zeigen einige, wenn 
man die ursprüngliche Spannung des Flüssigkeits-Gases für 
jede Röhre aus den einzelnen Differential - Werthen berechnen 
wollte, grössere Unterschiede, nämlich bis 2:32 pCt., als unter 
physiologischen Bedingungen erlaubt sein dürfte. Da man aber 
unmöglich an diese Versuche die strengen Anforderungen des 
physiologischen, durchaus in die Hand des Experimentators 
gegebenen Experimentes stellen darf, und da sie ausserdem doch 
durchaus eindeutige Resultategeben, halteich mich für berechtigt 
sie hier anzuführen. — 


Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 29 


C. A. Ewald 


450 


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Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 451 


Jedenfalls sieht man aus dem Verlauf dieser Versuche auf 
das Deutlichste, dass, ebenso wie es von Strassburg für das 
Blut nachgewiesen ist, so auch für seröse Flüssigkeiten die 
scheinbar so kurze Zeit von 1 bis 2 Minuten vollständig aus- 
reicht um einen erschöpfenden Gasaustausch in den Tono- 
meterröhren zu Stande kommen zu lassen, dass also der Span- 
nungsausgleich ein fast momentaner ist und dies Verhalten 
hatte ich im Auge, wenn ich oben (S. 18) das Resultat der 
Analyse XIV nicht ohne Weiteres als Ausdruck der Lungen- 
luft ansehen zu können glaubte. 

In drei von diesen Versuchen ist es nun gelungen in dem 
einen Tonometerrohre soviel Kohlensäure im Kohlensäure-Stick- 
stoffgemisch zu haben, dass die Kohlensäurespannung höher, im 
anderen so wenig, dasssie niedriger als im Exsudat war, d.h. dass 
die Kohlensänre-Spannung im ersten Rohr nach der Exsudat- 
Durchleitung gesunken, im Zweiten gestiegen ist und die Span- 
nungen nach dem Durchleiten sich nahezu gleich verhalten. Im 
vierten Versuch (Analyse III) liegt die resultirende Spannung 
unterhalb derjenigen, welche vor. dem Durchleiten in den beiden 
Röhren bestand. Da aber der Kohlensäuregehalt beider Röhren 
nach dem Durchlaufen so wenig von einander verschieden ist, dass 
man einen fast vollkommenen Ausgleich der Spannungen an- 
nehmen darf, so ist auch diese Analyse mit aufgenommen und 
als Ergebniss derselben das Mittel der halben Differenzen der 
Spannungszahlen gegen die ursprünglichen Kohlensäureprocente 
genommen. 

Die so erhaltenen Werthe, welche demnach 
direet dieSpannungder Kohlensäure seröser Exsu- 
date anzeigen, liegen zwischen 75 und 11'5 pCt. 

Hierbei ist zu bemerken, dass die Ziffer 11'’5 die höchste 
ist, welche ich überhaupt in allen, auch den nicht in der Ta- 
belle angeführten Analysen erhalten habe, während umgekehrt 
niedrigere Werthe als 75 vorkommen. Wenn dies aber in 
dem einen Rohr statthatte, so zeigte regelmässig der unver- 
hältnissmässig höhere Werth in dem anderen Rohre oder eine 
sonstige Unregelmässigkeit, dass der Versuch nicht ordnungs- 
mässig verlaufen war. 

29* 


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452 C. A. Ewald: 


Hier ist nun auch der Ort um auf die oben nicht weiter be- 
sprochene Analyse XIII, welche es mit einem Seropneumothorax 
zu thun hatte, zurückzukommen. Unter den Luftanalysen mit ab- 
geschlossener Pleurahöhle bildete dieselbe mit ihren 8:13 pCt. 
Kohlensäure eine scheinbare Ausnahme gegen die übrigen so viel 
höher gestellten Fälle. Im Lichte dieser Tonometer-Versuche be- 
trachtet reiht sie sich den gewonnenen Ergebnissen vollkommen 
an. In der Thatkonnte ihre Kohlensäurespannungnicht merklich 
grösser sein, weil eben die Gewebsspannung seröser Exsudate 
nicht merklich höhere Werthe erreicht, und die scheinbare Aus- 
nahme bildet den besten Beweis für die Zulässigkeit der 
Methode. 

Ich habe bereits im Eingange dieser Abhandlung die Ueber- 
legung auseinandergesetzt, welche mich bei Anstellung dieser 
Tonometer-Versuche leitete. Sie sollen gewissermassen die 
Probe auf das Exempel geben und die Schlüsse, welche bei 
den Luftanalysen an der Hand umständlicher Deductionen ab- 
geleitet werden mussten, glatt und zweifellos aus dem directen 
Wortlaut des Experimentes folgen lassen. Dies ist, wieman aus 
den gewonnenen Ergebnissen ersieht, in der That der Fall und so 
bilden diese Versuche nicht nur einenothwendige Ergänzung, son- 
dern geradezu das Fundament der vorangestellten Luftanalysen, 
nur um deshalb nach ihnen besprochen, um desto wirksamer die 
noch haftenden Bedenken entkräften zukönnen. Denn vieleZwei- 
fel, welchesich betreffs der dort abgeleiteten Schlüsse erheben und 
nur durch eingehende Ueberlegung beseitigen liessen, fallen durch 
die hier angewandte Methode von vornherein fort und es 
lässt sich kein stichhaltiger Vorwurf, welcher denselben gemacht 
werden könnte, ersehen. Dieselbe Sicherheit, welche die nach 
der Methode der Spannungsausgleiche angestellten Blutanalysen 
gewähren, müssen diese Serumanalysen besitzen, nachdem ich 
früher den Nachweis geführt habe, dass der Gasgehalt seröser 
Exsudate in den ersten Stunden nach der Punction nur mini- 
male Aenderungen erleidet. Obgleich der Ausführung nach 
complicirter, sind diese Versuche der Ueberlegung nach ein- 
facher als die Luftanalysen und deshalb weit eindeutiger 
als jene. Schliesst man von diesen auf jene zurück, so verlei- 


Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 453 


hen sie ihnen eine weitere und vielleicht die sicherste Stütze 
und in der Reihe der dort gezogenen Betrachtungen bilden sie 
das letzte und bindende Glied. Bei einer acuten serösen Pleu- 
ritis ist der entzündliche Zustand des Pleuragewebes nicht zu 
bestreiten. Hier handelt es sich nicht um etwaige Zersetzungs- 
vorgänge im Innern des Exsudates, um Stagnation desselben 
in einer undurchdringlichen Kapsel, um Oxydationsprocesse, 
welche unter dem Einflusse neu hinzutretender Luft entstehen 
könnten. Dennoch liegen die gewonnenen Zahlen erheblich 
über der Spannung normalen Blutes und indem sie sich eng 
an diejenigen Werthe anschliessen, die für die Spannung nor- 
maler fixer Gewebe gefunden worden sind, setzten sie diesel- 
ben so zu sagen nach oben hin fort. Da man aber nach den 
uns geläufigen Anschauungen nicht anders kann, wie eine 
Steigerung der Intensität des entzündlichen Processes einer 
serösen und einer eitrigen Pleuritis anzunehmen, so ist damit 
auch die Vermehrung der Spannung des betheilisten Gewebes 
der eitrigen Pleuritiden gegenüber den serösen erklärt und 
begründet. 

Fasst man endlich die beiden hier behandelten Processe, 
die Entzündung mit serösem und eitrigem Product zusammen, 
so ergiebt sich folgende allgemeine Schlussfolgerung: 

Die Kohlensäurespannung der Zellen entzün- 
deter Gewebe liegt in jedem Falle über der des nor- 
malen Blutes. Siebeginnt mitWerthen, welche sich 
eng an diejenigenanschliessen, welche fürdie nor- 
male Gewebszelle ermittelt sind, und steigt so 
hoch an, dass sie dieselbe um das Doppelte und 
Dreifache übertreffen kann. Diese Steigerung ist 
abhängig theils von der Dauer der Entzündung 
theilsundingrösseremMaassevonihrerIntensität. 
Ist letztere auf ihrem mit der Bildung von Eiter 
verbundenen Höhepunkt angelangt, so sind damit 
auch die höchsten Spannungswerthe der Zellen 
verbunden. 


454 C. A. Ewald: Untersuchungen zur Gasometrie u.s. w. 


Es sei mir gestattet dieser Arbeit eine Mittheilung folgen 
zu lassen, deren Bezeichnung als eine vorläufige nicht die 
Unsicherheit der gewonnenen Ergebnisse, sondern der Mangel 
des Control - Experimentes, welches mir bisher anzustellen un- 
möglich war, veranlasst. 

Ich habe die Aenderung des Gasgehaltes des Blutes nach 
Einverleibung gewisser Stoffe in dasselbe studiert und bin 
zu folgenden Resultaten gekommen : 

1)Hunde, welchein starker Morphium-Narkose sich befinden, 
haben einen bis auf die Hälfte und noch etwas mehr verrin- 
gerten Sauerstoffgehalt des Blutes. Der Kohlensäuregehalt 
ist unverändert oder sogar etwas gesteigert. 


2) Hunde, welchen man grössere Quantitäten — bis 10 


grm. — Traubenzucker in die Venen injieirt, zeigen unmittel- 
bar nach der Injection eine Verminderung des Sauerstoff- und 
Kohlensäuregehaltes um 2 bis 4 pCt. 

3) Injection gleicher Mengen Wasser bewirkt nur solche 
Unterschiede, welche durch die Versuchsanordnung oder die 
physiologischen Schwankungen bedingt sind. 

Ich arbeitete mit einer Pumpe. Die erste — unverän- 
derte — Portion Blut wurde in Eis gestellt und erst nach der 
zweiten unmittelbar nach der Injection entgasten Portion ver- 
arbeitet, so dass also das Sinken des Sauerstoffs a fortiori be- 
wiesen wurde. Den endgiltigen Versuch, nämlich die gleich- 
zeitige Entgasung zweier Blutproben mit zwei Pumpen, habe 
ich bis jetzt noch nicht anstellen können. 


Beiträge zur Physiologie. 
Von 


Dr. DÖNHOoFF. 


l. Uebergang von Spannkräften im Zucker 
in Muskelbewegung. 

Nimmt man Bienen vom Flugloch und setzt sie bei einer 
Temperatur von 19° C. in ein Glas, so laufen sie Anfangs an 
der Glaswand hastig auf und ab, und fliegen im Glase umher. 
Später werden die Bewegungen weniger lebhaft; nach 45 Mi- 
nuten sitzen sie still zusammen, bewegen sich langsam und 
unbeholfen. Sie sind nicht mehr im Stande zu fliegen; lässt 
man sie auf einen Bleistift kriechen, und schnellt diesen in die 
Höhe, so fallen sie senkrecht ohne Flugton nieder. Untersucht 
man sie, so findet man die Honigblase leer, welche bei Bienen, 
die man vom Flugloch nimmt, mit etwas Honig gefüllt ist, 
Gibt man ihnen nun eine Zuckerlösung, und wirft sie nach 
3 bis 4% Minuten in die Höhe, so hört man beim Fallen den 
Flugton, sie fallen nicht senkrecht, sondern etwas weiter nie- 
der. Bleibt man am Werfen, so sieht man, dass sie immer 
weiter niederfallen; nach etwa wieder einer Minute fallen sie 
nicht mehr nieder, sie fliegen zum Fenster; sie sind die früheren 
lebhaften Thiere geworden. Bringt man Bienen in eine nie- 
drigere Temperatur als 19°, so werden sie früher flugunfähig, 
und es dauert länger, bis sie nach Zuckergenuss wieder flug- 
fähig werden; in höhern Temperaturen dagegen erlangen sie 
die Flugfähigkeit schneller wieder. Bienen, welche ich in einem 
Glase in Wasser von 37° stellte, waren nach Zuckeraufnahme 
schon in 1% Minuten wieder flugfähig. 

Man könnte den Grund für die Wiederherstellung der 
Flugfähigkeit nach Zucker darin suchen, dass man sagt: Muskel 
und Nerv sind durch das Hungern verschlissen, der Zucker 
geht in die Zusammensetzung dieser Maschinen ein, und bessert 


456 n Dönhoft: 


sie wieder aus. Abgesehen davon, dass es seine chemischen 
“ Bedenken hat, dass der Zucker sich am Aufbau der Organe 
betheilige, ist es sehr unwahrscheinlich, dass diese verschlis- 
senen Organe 1% Minuten nach der Aufnahme von Zucker sich 
reconstruirt hätten. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Biene 
: flugunfähig ist, weil ihr die Spannkräfte zum Umsatz in Muskel- 
bewegung fehlen, und dass sie flugfähig wird, weil ihr dieselben 
im Zucker geboten werden. \ 

Lässt man die Bienen noch länger als % Stunde hungern, 
so werden sie unfähig zu gehen, sie fallen auf die Seite, strecken 
wohl den Rüssel nach vorgehaltenem Honig aus, können aber 
keine Leckbewegungen mit demselben machen; nach etwa einer 
% Stunde sind sie todt. Da Zucker den Tod verhütet, so ent- 
stehen nicht bloss die Muskelbewegungen, sondern auch die 
anderen organischen Thätigkeiten aus Spannkräften im Zucker. 
Man könnte einwenden, es ist hierdurch nicht bewiesen, dass 
andere organische Thätigkeiten auch aus Spannkräften im Zucker 
bestehn, denn der Tod könne eintreten, weil die Athemmuskeln 
nicht mehr functioniren. Dem wende ich ein, dass im ruhigen 
Zustand, wie auch vor dem Sterben, die Biene keine Athem- 
bewegungen macht, während sie bei Mangel an Luft, wenn man 
sie z. B. unter Wasser hält, die Hinterleibsringe lebhaft bewegt. 
Zudem stirbt eine Biene bei Sauerstoffmangel nicht sofort, son- 
dern sie fällt erst in Scheintod, aus welchem sie bei Sauer- 
stoffzufuhr noch nach zwei Stunden erwacht. Der Versuch zeigt 
direct den schon aus anderen Versuchen geschlossenen Umsatz 
von Spannkräften in Kohlehydraten in Muskelbewegung; er 
zeigt aber zugleich den Umsatz von Spannkräften in einem 
Kohlehydrat in die übrigen organischen Actionen. Da die 
Versuchsbienen, wenn man sie nach dem Tode secirt, noch 
einen bedeutenden Vorrath von Eiweiss im Chylusmagen auf- 
weisen, welches das Aussehn von Hühnereiweiss hat, wie die- 
ses zusammenhängt, durch Hitze, Alkohol und Mineralsäuren 
gerinut, so zeigt der Versuch zugleich die Unzulänglichkeit des 
Eiweisses zur Muskelbewegung und zu den übrigen organischen 
Thätigkeiten. Giebt man den Bienen statt Zuckerlösung Pollen 
und Wasser, so rühren sie beides nicht an, obgleich beides 


Beiträge zur Physiologie. 457 


Nahrungsmittel für die Bienen sind. Die Bienen stellen ihre 
Functionen ein, nicht aus Mangel an Nahrung, sondern aus 
Mangel an einem Kohlehydrat. Hat man Bienen in einer 
Temperatur von 20°C. durch Hunger flugunfähig werden lassen, 
und bringt sie dann an den Öfen, oder setzt sie in ein Glas, 
welches man in Wasser von 80° stellt, so werden sie auf kurze 
Zeit wieder flugfähig; ebenso werden Bienen flugfähig, wenn 
man sie in einer Temperatur von 27° hat flugunfähig werden 
lassen, und man bringt sie dann in eine solche von 37°. Es 
scheint, dass die Flugfähigkeit wieder hergestellt wird, weil 
in der höheren Temperatur stärkere Oxydationen von noch 
geringem Honigvorrath vor sich gehn. Setzt man die Bienen 
aus der höheren Temperatur in die niedere zurück, so hört 
nach wenigen Secunden die Flugfähigkeit wieder auf. Liegen 
die Bienen in Folge des Hungerns schon auf der Seite, und 
man bringt sie dann in eine höhere Temperatur, so tritt der 
Tod schnell ein, wahrscheinlich weil in dieser höheren Tem- 
peratur das Minimum von Spannkräften, welches noch vorhan- 
den ist, schnell aufgezehrt wird. 


II. Die Spannkräfte in den Nahrungsmitteln gehn 
nicht erst in Wärme, und dann in Muskelbewegung 
über. 


Brachte ich Bienen, die ich in einer bestimmten Temperatur 
hatte Augunfähig werden lassen, in eine 1 bis 3° höhere Tem- 
peratur, so wurden sie nicht flugfähig. Liess ich Bienen in 
einer Temperatur von 30° Augunfähig werden, brachte sie dann 
eine Zeitlang in eine Temperatur von 20° und dann wieder in 
eine solche von 32°, so wurden sie nicht wieder flugfähig, 
Wenn demnach eine Erwärmung des Muskels um 1, 3 oder 12 
Grade die Flugfähigkeit nicht wieder herstellt, so ist es höchst 
unwahrscheinlich, dass die geringe Wärme, welche durch das 
langsame Verbrennen des Zuckers in der Biene entsteht, die 
Flugfähigkeit herstellt, sondern entweder gehn die Spannkräfte 
direet oder nach vorheriger Umwandlung in eine andere Kraft 
in Muskelbewegung über. 


458 Dönhotf: 


II. Ueber das Wasserbedürfniss der Thiere ver- 
glichen mit dem der Pflanzen. 

Käfer und andere Insecten, die ich in ein leeres Glas 
setzte, starben binnen einigen Tagen. Setzte ich sie in ein 
mit feuchtem Sand gefülltes Glas, so lebten sie mehrere Wochen. 
Mehlwürmer (Tenebrio molitor) dagegen hielt ich in einem 
trockenen Glase vier Monate am Leben. Wie der Unterschied 
in dem Wasserbedürfniss zwischen diesen Käfern und dem 
Mehlwurm ein sehr grosser ist, so ist er es auch bei anderen 
Thieren. Eine Ente säuft viel häufiger und mehr als ein Huhn, 
sie säuft fast alle Viertelstunden. Wirft man Enten Futter vor, 
so fressen sie einen Augenblick, dann saufen sie, und wechseln 
beständig damit ab. Weil das Huhn weniger Wasser zu sich 
nimmt, ist der Koth consistenter, der Koth der Ente ist immer 
von einer grossen Lache wässerigen Urins umgeben. Versuche 
das Wasser zu messen, welches eine Ente säuft, misslangen, 
weil sie so viel Wasser herumschleudert. Dagegen nahmen 
Enten, die ich mit Hühnern in einem Käfig einsperrte, und 
denen ich alle halbe Stunden den Wassernapf vorhielt, viermal 
so oft Wasser zu sich als die Hühner. Man könnte nun sagen, 
der Koth der Ente ist deshalb mit der grossen Lache Wasser 
umgeben, weil sie gründelt, und dabei unwillkührlich Wasser 
verschluckt. Ich schloss deshalb Enten in einen Käfig ein, 
hielt ihnen alle halbe Stunden den Wassernapf vor, und zog 
ihn zurück, wenn sie mit dem Saufen aufhörten, und anfangen 
wollten zu gründeln. Nach zwei Tagen noch war der Koth 
von einer grossen Lache Wasser umgeben. Die Gans ähnelt 
der Ente in Bezug auf die Wasseraufnahme. Man kann Thier 
und Pflanze in Bezug auf das Wasserbedürfniss paralellisiren. 
Die Ente gleicht der Wasserpflanze, das Huhn der Ackerpflanze, 
der Tenebrio molitor dem Sempervivum tectorum.') Der Regen- 
wurm stirbt nach wenigen Stunden ausgetrocknet, wenn man 
ihn auf den Tisch legt. Dies rührt wohl von der starken 
Schleimabsonderung seiner Haut her. Ein Regenwurm, welchen 
ich an einem Faden aufhing, lebte länger, weil er weniger 
Schleim absonderte. 


1) Beruht der Aufenthalt der Wasserthiere im Wasser vielleicht 
auf ihrem Bedürfniss, viel Wasser aufzunehmen? 


Beiträge zur Physiologie. 459 


Warum Käfer auf feuchtem Sand am Leben bleiben, ist 
mir unklar. Wenn ich Käferarten, die nach einigen Tagen 
verdursten, in ein leeres Glas gesetzt hatte, und ich hielt ihnen 
nach ein oder zwei Tagen einen Tropfen Wasser vor, oder 
setzte sie auf feuchtem Sand, so konnte ich nie sehen, dass 
sie Wasser zu sich nahmen. Regenwürmer und Frösche saugen 
Wasser durch die Haut ein; ob dies beim Käfer möglich ist, 
ist wohl sehr zweifelhaft. 


IV. Ueber oscıllirende Gesichtsempfindungen. 


Drehe ich mich achtmal schnell um meine Achse, und 
stehe dann still, so sind die Gegenstände, nach denen ich sehe, 
in einer oscillirenden Bewegung von rechts nach links, und 
von links nach rechts begriffen. Sehe ich nach den Fenstern 
eines 50 Fuss entfernten Hauses, so schätze ich die Weite der 
Öseillation auf den Bruchtheil eines Zolls, sehe ich nach einer 
% Meile entfernten Baumgruppe, so ist bei derselben Empfindung 
die Schätzung der Oscillationsweite eine viel grössere. Drehe 
ich mich fünfmal im Kreise herum, so ist die Oscillationsweite 
geringer. Bei achtmaligem Umdrehen zähle ich 35 Oseillationen, 
die 20 Secunden anhalten; sie nehmen an Weite und Dauer all- 
mälich ab. Die Bewegung ist für mich dieselbe, ob ich mich 
rechts, oder links herumgedreht habe. Die Angabe der Au- 
toren, dass nach Rechtsherumdrehen die Gegenstände sich nach 
rechts drehen, kann ich nicht theilen; sie ist auch nicht gut 
möglich. Fände eine continuirliche Bewegung nach rechts statt, 
so müssten die Gegenstände im Gesichtsfeld sich immer weiter 
nach rechts schieben, was nicht der Fall ist. Auch mir schei- 
nen zuweilen, so wohl, wenn ich mich rechts herum, als wenn 
ich mich links herum gedreht habe, die Gegenstände in einer 
continuirlichen Bewegung nach rechts sich zu befinden. Viel- 
leicht ist die Ursache die, dass man dann nur auf die Oseil- 
lationsbewegung nach rechts merkt, und die Rückschwingung 
nach links übersieht. Jedenfalls ist das Grundphänomen das 
einer Öscillation, der Schein einer continuirlichen Denen 
in einer Richtung etwas Abgeleitetes. 

An den Bügel eines Eimers befestigte ich ein Tau, und 
drehte dieses, so oft es anging, nach rechts herum. Hob ich 


460 Dönhoft: 


nun den Eimer vom Boden, so wickelte das Tau sich ab, und 
der Eimer gerieth in eine schnelle Bewegung um seine Axe. 
Bedeckte ich den Boden des Eimers mit Sand, oder legte ich 
eine Gummikugel in den Eimer, setzte diesen in Bewegung, 
und hemmte diese, ehe das Tau abgelaufen war, so lagen der 
Sand und die Kugel am Rande des Eimers. Goss ich Wasser 
in den Eimer, legte auf das Wasser Hölzchen und versetzte 
_ den Eimer in Bewegung, so blieben anfangs die Hölzehen ruhig 
liegen. Wenn gegen das Ende der Abwickelung die Kreis- 
bewegungen des Eimers langsamer wurden, fingen die Hölz- 


chen an zu kreisen; so wie der Eimer still stand, wurden - 


die Kreisbewegungen viel schneller, und dauerten längere 
Zeit an. Wendet man diese Thatsachen auf das Gehirn an, 
so kann man sich 1) denken: Durch die Centrifugalkraft 
werden beim Herumdrehen Molecüle der Gehirnsubstanz nach 
aussen geschleudert, beim Stillestehn gehn sie durch die Elas- 
tieität der Gehirnsubstanz zurück, schwingen über ihre Gleich- 
gewichtslage hinaus, und oscilliren längere Zeit hin und her, 
bis sie zur Ruhe kommen; 2) kann man sich denken, dass der 
Liquor sanguinis, welcher das Gehirn erfüllt, nach dem Stille- 
stehn des Gehirns in seiner Kreisbewegung fortfahre, und da- 
durch die Gehirnsubstanz in Schwingungen setze. Bemerken 
möchte ich noch, dass wenn ich nach einer Bewegung um meine 
Axe stille stehe und mit zugehaltenen Augen mir einen räum- 
lichen Gegenstand vorstelle, dieser vorgestellte Gegenstand 
nicht in Oscillation geräth.') 


V. Ueber die Ansammlung von Sauerstoff während 
des Schlafes. 


Voit hat die Entdeckung gemacht, dass während des 
Schlafes Sauerstoff sich im Körper anhäuft. Man könnte daraus 
schliessen, dass ein Thier, welches geschlafen, die Luft länger 
entbehren kann, als ein Thier, welches den Tag über in Thätig- 
keit gewesen ist. Dies ist aber nicht der Fall. Ich hielt den 
Kopf eines Huhns, welches ich am Tage fing, unter Wasser. 


1) Vielleicht wird die Netzhaut durch ihre Oseillation abwechselnd 
von anderen Strahlen getroffen. 


a 


Beiträge zur Physiologie. 461 


Nach 1% Minuten geschah das Athmen interrupt, gewaltsam 
mit weit geöffnetem Schnabel wie bei Sterbenden. Als der 
Kopf eine Viertel Minute später aus dem Wasser genommen 
wurde, liess das Huhn Kopf und Hals auf die Seite fallen; 
hingesetzt viel es auf den Bauch, kurz es hatte alle Erschei- 
nungen der beginnenden Erstickung. Als ich dasselbe Huhn 
Nachts, nachdem es acht Stunden geschlafen hatte, in Wasser 
tauchte, zeigte es nach derselben Zeit dieselben Erscheinungen. 
Eine Taube, die ich am Tage und Nachts unter Wasser tauchte, 
war nach 45 Secunden dem Erstickungstode nahe. Ein sechs 
Wochen altes Hühnchen war am Tage nach 30 Secunden am 
Ersticken. Dasselbe Hühnchen, als ich mit ihm das Experiment 
wiederholte, wie es Nachts um drei Uhr den Schnabel in die 
Federn gesenkt fest schlief, zeigte nach einer halben Minute 
dieselben Erscheinungen. Vom Felde kommende Bienen, die 
ich am Flugloch abfing wie Bienen, die ich Morgens früh vor 
der Flugzeit am Flugloch abfing, ‘waren unter Wasser von 19° 
nach drei Minuten scheintodt. Da die Thiere Nachts mehr 
Sauerstoff aufgehäuft hatten als am Tage, die Erstickungs- 
Erscheinungen aber um dieselbe Zeit auftraten, so konnte der 
Grund der Erstickung nicht Mangel an Sauerstoff sein. Der 
Grund konnte nur der sein, dass in die mit Kohlensäure über- 
ladene Lunge keine Kohlensäure aus dem Blut mehr austrat. 
Es folgt daraus, dass der Tod des Ertrinkens kein Tod aus 
Mangel an Sauerstoff, sondern ein Tod aus Ueberfluss von 
Kohlensäure im Blut ist, 


VI. Ueber die Schalenhäute des Hühnereies. 


Einige Autoren sprechen von einer Schalenhaut, andere 
von zweien. Es giebt aber in Wirklichkeit im Vogelei drei 
Schalenhäute. Nimmt man ein Stückchen Kalkschale am 
stumpfen Pole eines Eies ab, so sieht man eine Haut. Nimmt 
man diese fort, so trifft man auf eine zweite Haut; diese 
liegt auf dem Eiweiss, welches in Folge der Verdunstung sich 
zurückgezogen hat. Legt man das abgenommene Stückchen 
Kalkschale in Salzsäure, so bleibt, nachdem der Kalk sich ge- 
löst hat, eine dritte Haut zurück, 


Neue Untersuchungen über die Structur der 
elektrischen Platten von Torpedo. 


Von 
Prof. Franz BoLL. 


(Aus dem Laboratorium für vergleichende Anatomie und Physiologie 
zu Rom. Vierte Mittheilung.) 


Hierzu Tafel VII. 


Seitdem ich im Jahre 1875 die „Punktirung“ als ein neues 
und eigenthümliches Structurverhältniss der elektrischen Platten 
von Torpedo beschrieben habe,!) sind von zwei verschiedenen 
Forschern, wie Ciaccio und Ranvier einige höchst werthvolle 
Mittheilungen über die feinere Structur dieser Platten veröffent- 
licht worden. Ich selber habe im Herbst 1875 in Viareggio 
demselben Gegenstande eine erneute, sehr eingehende Unter- 
suchung gewidmet, über deren Resultate bereits an einer an- 
deren Stelle ein vorläufiger Bericht erstattet wurde.?) Das 
Gesammtresultat dieser verschiedenen von Ciaccio, Ranvier 
und mir vorgenommenen Untersuchungen ist ein höchst befrie- 
digendes. Die absolute Uebereinstimmung unserer Resultate 
berechtigt zu dem Ausspruche, dass nunmehr die Nervenendigung 
in den elektrischen Platten von Torpedo mit einer fast abso- 
luten Präcision festgestellt und jedenfalls viel genauer bekannt 
ist, als jede andere Nervenendigung in irgend einem Organ 
des thierischen Körpers. 


1) Die Structur der elektrischen Platten von Torpedo, — 
M. Schultze’s Archiv für mikroskopische Anatomie. X, 8. 101. 

2) Neue Untersuchungen zur Anatomie und Physiologie von 
Torpedo. — Monatsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften 
1875, S. 710, 


Neue Untersuchungen über die Structur u. s. w, 463 


Ciaccio hat in dieser Frage zwei verschiedene Abhand- 
lungen veröffentlicht, von denen die erste!) nicht lange nach 
meiner Publication der „Punktirung“ erschien und zum Theil 
gegen meine Angaben gerichtet war. Es waren im Wesent- 
lichen drei Einwürfe, die er gegen die von mir gegebene Be- 
schreibung der elektrischen Platten geltend machte: 

1) Behauptete er, dass die von mir in Uebereinstimmung 
mit Max Schultze u.a. in die homogene Schicht versetzten 
runden Kerne in der Nervenschicht gelegen seien, 

2) Bestriitt er der von mir entdeckten Punktirung den 
Werth eines besonderen Structurverhältnisses. Meine „Pünkt- 
chen“ seien nichts anderes als die ihm längst bekannten, die 
Substanz der Nervenschicht zusammensetzenden feinen Körn- 
chen von wechselnder Grösse, die durch Osmium dunkel und 
durch carminsaures Ammoniak roth gefärbt wurden. 

3) Kritisirte er meine Beschreibung des sogenannten 
Koelliker’schen Terminalnetzes, dessen Configuration bisher 
noch von Niemand und auch von mir nicht richtig beschrieben 
worden sei: die wahre Form dieser letzten Nervenendigungen 
sei nuran Goldchloridpräparaten zu ermitteln, welches Reagens 
bisher nur von ihm allein zum Studium der elektrischen Platten 
von Torpedo angewandt sei. Es glichen diese Nervenendigungen 
ganz den von Kühne in Stricker’s Handbuch der Lehre 
von den Geweben Fig. 36 abgebildeten Endverästelungen in 
den motorischen Endplatten von Lacerta. Im Uebrigen gab 
Ciaccio keine weitere Beschreibung dieser Configuration, son- 
dern verwies auf die seiner Mittheilung mitgegebene photo- 
graphische Abbildung. Diese — übrigens keine directe Photo- 
graphie eines mikroskopischen Präparats, sondern eine auf 
photographischem Wege vervielfältigte Zeichnung — stellte eine 
von meiner Abbildung sehr abweichende Configuration dar. 
Die zwischen den Nervenfasern des Koelliker’schen Terminal- 
netzes freibleibenden Räume erscheinen hier nicht, wie ich an- 


1) Intorno all’ intima tessitura dell’ organo elettrico della Torpe- 
dine (Torpedo narke). — Rendiconti dell’ Accademia delle scienze dell’ 
Istituto di Bologna. Sessione del 21. Maggio 1874. 


464 Fr. Boll: 


gegeben und abgebildet hatte als „verzogene und unregelmässige 
Rhomben“, sondern als Zwischenräume von manigfaltigster und 
unregelmässigster Gestaltung. f 

In dem Referat, welches ich bald darauf von dieser Mit- 
theilung Ciaccio’s veröffentlichte,') machte ich gegen diese Ein- 
wände einige antikritische Bemerkungen. In Bezug auf den ersten 
Punkt musste ich meine frühere Angabe über die Lage der runden 
Kerne gegenüber der Behauptung Ciaccio’s einfach aufrecht 
erhalten. Wenn zweitens Ciaccio in der von mir entdeckten 
Punktirung weiter nichts besonders Merkwürdiges erblicken und 
die Punkte als von ungleicher Grösse und in Carmin sich fär- 
bend beschreiben konnte, so konnte ich nicht anders als an- 
nehmen, dass ihm bisher die reine und volle Wahrnehmung 
des von mir beschriebenen und von ihm kritisirten Structur- 
verhältnisses noch nicht geglückt sei. Ueber den dritten Punkt 
endlich musste ich mit meinem Urtheil zurückbalten. Durch 
einen unglücklichen Zufall war ich 1873 in Viareggio verhin- 
dert gewesen, das Goldchlorid auf die Untersuchung der elek- 
trischen Platten anzuwenden und hatte mich auf das Studium 
von frischen und Osmium-Präparaten beschränken müssen. Es 
war daher sehr wohl möglich, dass das Goldchlorid in der Dar- 
stellung des Koelliker’schen Terminalnetzes die besonderen, 
ihm von Ciaccio zugeschriebenen Vortheile besitze, und die 
letzten Nervenenden wirklich in der von Ciaccio abgebildeten 
charakteristischen Form hervortreten lasse. Ueber diesen letz- 
teren Punkt beschloss ich bei der nächsten Gelegenheit erneute 
Untersuchungen anzustellen. 

Durch die in meinem Referate enthaltenen antikritischen 
Bemerkungen wurde Ciaccio zur Veröffentlichung einer zweien 
Mittheilung?) veranlasst. In dieser vom 22. August 1875 da- 
tirten Publication wurden die zwischen uns obwaltenden Diffe- 
renzen wesentlich vereinfacht dadurch, dass Ciaccio die beiden 


1) Centralblatt für die medieinischen Wissenschaften 1874. Nr. 56. 

2) Nuove osservazioni intorno all’ intima tessitura dell’ organo 
elettrico della Torpedine (Torpedo narke Risso e Torpedo Galvanüi 
Bonap.) — Lo Spallanzani, Rivista di Scienze mediche e naturali. 
Anno XIll. Fasc. X. 1875. 


Neue Untersuchungen über die Structur u. s. w. 465 


ersten Punkte einfach zurücknahm. Namentlich erkannte er 
jetzt die „Punktirung“ als ein durchaus eigenthümliches Structur- 
verhältniss an und bestätigte dadurch die Richtigkeit meiner in 
dem Referate ausgesprochenen Voraussetzung, dass ihm zur 
Zeit, als er seine erste Mittheilung veröffentlichte, die Wahr- 
nehmung der wirklichen „Punkte“ noch nicht einmal geglückt 
war. Nur die dritte Differenz, betreffend die Form des Koel- 
liker’schen Terminalnetzes, blieb zwischen uns beiden noch 
bestehen. In Bezug auf diese Bildung wiederholte und erwei- 
terte Ciaccio seine früheren Angaben, dass sie aus nackten 
Axeneylindern zusammengesetzt sei, „welche, bald sich verbrei- 
ternd, bald sich verschmälernd, theils mit einander sich ver- 
binden, theils mit freien Enden aufhören, also in ihrem Ensemble 
durchaus nicht das bisher von allen Autoren beschriebene 
regelmässige, aus gleichmässig starken Nervenfasern bestehende 
und gleichartige Mäschen einschliessende Netz darstellen“. 

Als ich mich im Herbst 1875, unmittelbar nach dem Er- 
scheinen dieser letzten Mittheilung nach Viareggio begab, um 
die elektrischen Platten mittelst der Goldmethode zu unter- 
suchen, hatte ich das Glück, dort Ciaccio persönlich vorzu- 
finden, den ganz die gleiche Absicht dorthin geführt hatte. So 
konnte denn jeder von uns die uns beide gleichmässig interes- 
sirende Arbeit mit gedoppeltem Nutzen vornehmen, da Jeder 
dem anderen seine Erfahrungen vorlegte und die besten Prä- 
parate demonstrirtee Speciell bin ich Ciaccio dafür Dank 
schuldig, dass er mir seine Methoden zur Vergoldung und Ver- 
silberung mittheilte und mir dadurch viel nutzloses Herum- 
experimentiren ersparte. Unter diesen gewiss ausserordentlich 
günstigen Bedingungen sind die in dieser Arbeit niedergelegten 
Resultate gewonnen worden. 

Ueber die Methoden der Untersuchung ist zu bemerken, 
dass sowohl die Versilberung wie die Vergoldung, wie eine 
Combination beider Methoden angewandt wurde. 

Für die erste Methode dienten mir Silbernitratlösungen 
verschiedener Concentrationen (1:200, 1:300, 1:500). An 
den so imprägnirten elektrischen Platten bleiben die Nerven- 


fasern weiss; es färben sich die zwischen ihnen frei bleibenden 
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 30 


466 Fr. Boll: 


Maschen des sogenannten Koelliker’schen Terminalnetzes in 
den gelben bis braunen Tönen, welche der Silberimprägnation 
eigenthümlich sind. Diese Bilder will ich als negative Dar- 
stellungen des Terminalnetzes bezeichnen. 

Für die Vergoldungsmethode hielt ich mich ganz aus- 
schliesslich und streng an die ursprüngliche Cohnheim’sche 
Vorschrift, und bediente mich nur einer schwach durch Essig- 
säure angesäuerten halbprocentigen Goldchloridlösung. Diese 
Methode producirt ausschliesslich positive Darstellungen des 
Terminalnetzes, dessen Nervenfasern roth oder violett gefärbt. 
erscheinen. 

Viel empfehlenswerther als die Einzelanwendung der bei- 
den Metallsalze ist ihre Combination, — ein Verfahren, welches, 
so viel ich habe ermitteln können, zuerst von A. Hansen!) vor- 
geschlagen worden ist und dessen ganz hervorragende Vortheile 
speciell für die Untersuchung der elektrischen Platten mich 
Ciaccio kennen lehrte. Man kann entweder erst die Gold- 
lösung und dann die Silberlösung einwirken lassen oder auch 
umgekehrt verfahren; doch giebt die erstere Methode bei 
Weitem die besseren Resultate. Ich wage nicht zu erörtern, 
durch welche chemische Wechselwirkung der beiden Metallsalze 
die eminenten histiologischen Vorzüge dieser comıbinirten Me- 
thode zu erklären sind. Thatsache ist, dass die so erhaltenen 
Bilder in jeder Beziehung den Vorzug vor den blossen Silber- 
bildern oder Goldbildern verdienen. Einmal treten in ihnen 
die Färbungen viel intensiver und schöner ein und zweitens 
zeigen beide Arten von Bildern, die negativen sowohl wie die 
positiven, eine grössere Klarheit und schärfere Begränzungen. 
Gewöhnlich werden bei Anwendung dieser combinirten Methode 
stets gleichzeitig positive und negative Bilder erhalten, die 
oft in einer und derselben Platte mit einander abwechsela, 
ohne dass es mir möglich gewesen wäre, einen ersichtlichen 
Grund ausfindig zu machen, weshalb hier eine negative Fär- 
bung und unmittelbar daneben eine positive Färbung der elek- 


1) Untersuchungen über die entzündlichen Veränderungen der 
Hornhautkörper. — Wiener medieinische Jahrbücher 1871. 8. 218. 


Neue Untersuchungen über die Structur u. s. w. 467 


trischen Platte eingetreten war. Bei den negativen Bildern ist 
der gefärbte Grund der Platten, von dem die meisten Nerven- 
fasern sich abheben, jedoch niemals gelb oder braun wie nach 
der reinen Silberimprägnation, sondern von einer Farbe, welche 
die grösste Aehnlichkeit mit einem tiefen Nachtblau hat. Bei 
den positiven Bildern ist die Färbung der Nervenfasern stets 
unvergleichlich viel intensiver, als bei der isolirten Anwendung 
der Goldmethode. Nicht selten kommen in diesen Bildern 
tiefbraune, wie mit Silber imprägnirte Nervenfasern vor, und 
die so gefärbten Stellen dieser Präparate sind es gerade, denen 
ich die entscheidenden Aufschlüsse über die letzten Enden der 
elektrischen Nerven zu verdanken habe. 

Im Allgemeinen ist über alle diese drei Methoden zu be- 
merken, dass sie in ihrer Anwendung auf die elektrischen 
Platten nicht weniger launisch sich beweisen als bei den anderen 
Geweben. Oft muss man die gefärbten elektrischen Platten 
weit und breit durchmustern, ehe man auf Stellen trifft, in 
denen die positive oder negative Reaction wirklich in homo- 
gener und befriedigender Weise eingetreten ist und nicht regel- 
lose Niederschläge die Bilder unzuverlässig machen. 

Aber auch an solchen Stellen, an denen wirklich eine 
durchaus gleichartige und scheinbar vollkommen zuverlässige 
Reaction über weite Strecken erfolgt ist, darf man dem An- 
schein durchaus nicht ohne Weiteres trauen. 

Besonders unzuverlässig sind in dieser Beziehung die reinen 
Silberbilder, welche negative Darstellungen der elektrischen 
Platten liefern. So stellen z. B. die Abbildungen Fig. 1—3 
alle drei scheinbar ganz normale Silberbilder dar. Alle 
drei sind von Präparaten gezeichnet, in denen auf ganz weite 
Strecken hin die dunkelgefärbten Partien die in den Zeich- 
nungen wiedergegebene characteristische Configuration in voll- 
kommener Gleichartigkeit darboten, eine Gleichartigkeit, die die 
Meinung erwecken könnte, als ob hier wirklich jedesmal durch 
die Silberimprägnation ein präformirtes Structurverhältniss zum 
wahrheitsgetreuen Ausdruck gebracht worden sei. Dennoch 
ergiebt eine einfache Ueberlegung, dass von diesen drei Silber- 


bildern mindestens zwei „falsch“ sein müssen, d. h. dass sie 
30* 


468 Fr. Boll: 


die in dem Koelliker’schen Terminalnetz bestehende Con- 
figuration, die Balken wie die zwischen ihnen eingeschlossenen 
Maschen nicht wirklich wahrheitsgetreu reproduciren können. 
Denn es ist sicher, dass diese Configuration überall in den 
elektrischen Platten eine vollkommen gleichartige ist und nir- 
gends Verschiedenheiten zeigt, welche für das Zustandekommen 
so verschiedener Silberbilder verantwortlich gemacht werden 
könnten. Wenigstens ist es mit den zuverlässigsten Methoden 
— Untersuchung in Liquor cerebrospinalis und Osmiumsäure — 
niemals gelungen, irgendwelche locale Verschiedenheiten im 
mikroskopischen Bilde der elektrischen Platten nachzuweisen, 
welches überall durchaus gleichartig erscheint. 

Wie ein eingehenderes Studium der zahllosen, durch die 
Silberimprägnation in den elektrischen Platten hervorzubrin- 
genden verschiedenen Bilder (von denen die drei hier mit- 
getheilten nur willkürlich gewählte, besonders characteristische 
Typen darstellen) mit grosser Evidenz ergiebt, stehen alle diese 
Silberbilder in einem verschiedenen relativen Verhältniss zur 
Wahrheit, d. h. sie reproduciren mehr oder minder approximativ 
die wirkliche natürliche Configuration des Terminalnetzes. 

Am meisten entfernt von der Naturwahrheit ist unter den 
mitgetheilten Bildern Fig. I, welche kleine dunkle Silbernieder- 
schläge darstellt, die nirgends auf grössere Strecken hin zu- 
sammenhängen, sondern überall von einander durch ungefärbte 
Zwischenräume getrennt sind. Einzelne dieser Niederschläge 
entsprechen in ihrer Form fast vollkommen genau den Figuren 
auf der Abbildung, welche Ciaccio seiner ersten Mittheilung 
beigegeben hat.!) — Das zweite Präparat Fig. II nähert sich 
schon mehr der Naturtreue: die einzelnen Silberniederschläge 
erscheinen voluminöser und complicirter gestaltet, wie wenn sie 
durch ein Zusammenfliessen mehrerer der in Fig. I noch durch- 
weg vereinzelt gebliebenen Figuren entstanden wären. — Denkt 
man sich dieses Zusammenfliessen der einzelnen Silberfiguren 


1)Das von Ciaccio reproducirte Präparat, in der Erklärung der 
Abbildung einfach als Goldpräparat bezeichnet, war sicher nach der 
combinirten Gold-Silbermethode erhalten worden. 


Neue Untersuchungen über die Structur u. s. w. 469 


noch weiter fortgesetzt, so kommen Bilder zu Stande, wie die 
Abbildung Fig. III, welche unter den mitgetheilten reinen 
Silberimprägnationen entschieden die vollkommenste ist und der 
Naturtreue am nächsten kommt. 

Aus dem Studium dieser verschiedenen Bilder hat sich 
also ergeben, dass die reine Silbermethode insofern wenigstens 
absolut unzuverlässig ist, als niemals die Garantie einer wirk- 
lich naturgetreuen (negativen) Wiedergabe des Koelliker’schen 
Terminainetzes besteht. Es werden bei der Silberimprägnation 
der elektrischen Platten in die Zwischenräume der Nervenfasern 
weniger oder mehr reichliche Silberniederschläge deponirt, die 
diese Zwischenräume weniger oder mehr vollkommen ausfüllen 
und so eine Reihe verschiedener Bilder bedingen, welche je 
nach der grösseren Vollkommenheit der Silberniederschläge der 
Naturwahrheit sich immer mehr annähern. Nach diesem Grund- 
satze gelingt es zwar unschwer zu bestimmen, welches von zwei 
vorliegenden Silberbildern das vollkommenere ist und sich mehr 
der Naturtreue annähert; die Frage aber, ob ein Silberbild 
wirklich absolut genau die Configuration des Terminalnetzes 
reprodueire, kann der Natur der angewandten Methode nach 
niemals mit Sicherheit entschieden werden, da es niemals mit 
Gewissheit festzustellen sein wird, ob wirklich eine absolute 
und vollständige Ausfüllung der Zwischenräume durch die 
Silberniederschläge stattgefunden hat. Die Frage, ob und in- 
wiefern selbst das vollkommenste der erhaltenen Silberbilder, 
z. B. Fig. IH wirklich genau die natürliche Configuration des 
Koelliker’schen Terminalnetzes reproducire, kann also auf 
Grund dieser Methode allein gar nicht beantwortet werden. Zu 
ihrer definitiven Erledigung ist es nöthig, noch erst eine andere 
Methode, die der positiven Goldbilder zu Hülfe zu nehmen. 

Während bei den Silberbildern die Reaction in der mehr 
oder. minder vollständigen Form, in welcher sie gerade ein- 
getreten ist, sich gewöhnlich in gleichmässiger Schärfe und 
Deutlichkeit über eine grössere Ausdehnung der elektrischen 
Platten zu erstrecken pflegt, ist bei der Goldfärbung das Gegen- 
theil der Fall. Eine (positive) Färbung des Terminalnetzes ist 
zwar gleichfalls auf ausgedehnte Strecken hin eingetreten; aber 


470 Fr. Boll: 


leider ist diese Färbung meist eine so wenig entschiedene und 
hebt die blassröthlichen Nervenfasern nur so ungenügend von 
dem farblosen Grunde ab, dass es bei der grossen Schwierig- 
keit des Objects doch so gut wie unmöglich ist, die Configu- 
ration der Nervenverästelung scharf und bestimmt mit dem 
Auge aufzufassen. Nur an einigen, seltenen und meist ganz 
circumscripten Stellen ist inmitten des blassroth gefärbten 
Nervennetzes eine Vertiefung des Farbentones eingetreten, und 
auf ganz kleine Strecken hin erscheint das Terminalnetz in- 
tensiv violett oder braunroth gefärbt mit so vollendeter Schärfe, 
dass es möglich ist, seine Configuration genau mit dem Auge 
aufzufassen und bis ins kleinste Detail in der Zeichnung zu 
reprodueiren. 

Derartige beschränkte, dunkler gefärbte Stellen des Nerven- 
netzes sind in den Abbildungen Fig. IV’— VII wiedergegeben 
worden. Ich glaube, dass das Studium der mitgetheilten Zeich- 
nungen ausreichen wird, um richtige und erschöpfende Vor- 
stellungen über die Natur der in den elektrischen Platten von 
Torpedo stattfindenden Nervenverästelung zu gewinnen. 

Zunächst und vor allem ist die Richtigkeit der Bemerkung 
Ciaccio’s anzuerkennen, dass es sich in dieser Terminal- 
verästelung des N. electricus nicht um ein gleichmässiges ge- 
schlossenes Netz, bestehend aus regelmässigen Balken und 
ebenso regelmässig geformten Maschen handelt, wie M. Schultze 
es beschrieben hat und auch ich noch in meiner letzten Arbeit 
es angenommen hatte, sondern dass die hier vorliegende Bil- 
dung einen von der eigentlichen Netzform sehr abweichenden 
Character trägt, indem die Nerven durchaus nicht regelmässig 
mit einander anastomosiren, sondern allenthalben mit freien 
Enden aufhören. Hierdurch wird es bedingt, dass von irgend 
einer bestimmten Form' der Maschen, die M. Schultze als 
quadratisch und ich als verzogene Rhomben beschrieben habe, 
gar nicht die Rede sein kann, sondern dass diese, die nichts 
weiter sind als die zwischen und neben der Nervenverästelung 
ausgesparten Räume, eben jede mögliche Form werden an- 
nehmen können. 

Hier ist nun eine anatomische Frage zu erörtern, deren 


Neue Untersuchungen über die Structur u. s. w. 471 


Entscheidung, wie ich glaube, eine hohe Bedeutung für die 
physiologische Erkenntniss der elektrischen Platten von Torpedo 
besitzt, ob nämlich in dem Bereiche dieser Terminalveräste- 
lung neben den freien Enden der Nervenfasern auch noch 
wirkliche Anastomosen der Nervenprimitivfasern vorkommen 
oder nicht. Ciaccio, dem das Verdienst gebührt, zuerst gegen 
die seit M. Schultze’s bekannter Arbeit feststehende Idee 
eines geschlossenen Netzes Opposition gemacht und ganz im 
Sinne einer älteren, aber unter dem Eindrucke der M. Schultze’ 
schen Monograpbie in ungerechtfertigte Vergessenheit gera- 
thenen Mittheilung von Remak!) — das Vorhandensein freier 
Endigungen der Nervenfasern hervorgehoben zu haben, lässt 
in seiner ersten, wie in seiner zweiten Abhandlung, in der Ab- 
bildung wie im Text neben diesen freien Endigungen noch den 
Modus der Anastomosenbildung bestehen. Auch ich war eine 
Zeit lang der Ansicht, dass beide Formen, freie Endigungen 
und Anastomosen neben einander vorkämen, wenn ich auch 
geneigt war, die letzteren als die Ausnahmen zu betrachten. 
Die noch in Viareggio selbst gezeichnete Abbildung Fig. IV, 
in welcher neben sehr zahlreichen freien Enden auch noch 
einige Anastomosen wiedergegeben sind, ist ein Beleg dafür, 
wie ich damals das mikroskopische Bild dieser Terminalver- 
ästelung beurtheilen zu müssen glaubte. Ich vermied es daher 
auch in der am Schlusse meines Aufenthaltes in Viareggio ab- 
gefassten (vom 17. October datirten) Mittheilung an die Ber- 
liner Akademie die Existenz dieser Anastomosen absolut zu 
verneinen und formulirte mein Endresultat dahin, „dass fast 
überall die letzten Enden der Nervenfasern frei aufhören und 
nicht mit denen anderer Nervenfasern in Continuität treten“, 

Von Viareggio nach Rom zurückgekehrt, setzte ich dort 
an mitgebrachtem und vortrefflich conservirtem Material meine 
Studien fort und gelangte bald zu der Ueberzeugung, dass es 
dieses einschränkenden „fast“ nicht bedurft hätte und dass die 
von mir angenommenen und auch noch in Fig. IV gezeichneten 


1) Ueber die Enden der Nerven im elektrischen Organ des Zitter- 
rochen. — Dies Archiv, 1856. S. 470. 


472 Fr. Boll: 


 Anastomosen in der That nicht existiren und nur an weniger 
vollkommen gefärbten Stellen der Präparate vorgetäuscht wer- 
den. Je vollkommenere und intensiver gefärbte Präparate ich 
erhielt, desto seltener konnte ich die Anastomosen nachweisen, 
so dass ich bald dazu gekommen bin, ihre Existenz völlig zu 
bestreiten und in den elektrischen Platten von Torpedo ganz. 
ausschliesslich die zuerst von Remak behauptete freie Endi- 
gung der Nervenfasern anzunehmen. Das entscheidende Prä- 
parat, welches mir jeden Zweifel in dieser Hinsicht benahm, 
ist in Fig. VII wiedergegeben worden. An den tief braunroth 
gefärbten Nervenfasern sind ganz ausschliesslich nur freie Endi- 
gungen und niemals Andeutungen einer Verschmelzung mit einer- 
benachbarten Faser wahrzunehmen. 

Es ist mir eine grosse Genugthuung, dass ich in dieser 
absoluten Negation der Anastomosenbildung vollständig über- 
einstimme mit Ranvier, welcher gleichzeitig mit mir die 
elektrischen Platten von Torpedo an Gold- und Silber-Präpa- 
raten untersucht hat und gleichfalls zu dem Resultate gelangt 
ist, dass die letzten Enden der Nervenfasern nur frei aufhören, 
niemals aber eine Anastomosenbildung eingehen.!) 

Unter diesen Umständen wird es nunmehr angezeigt sein, 
die bisher für die Endverästelung des N. electricus übliche 
und bequeme Bezeichnung des Koelliker’schen Terminalnetzes 
gänzlich aufzugeben. Denn man kann unmöglich die Bezeich- 
nung „Netz“ einer Bildung belassen, deren characteristisches. 
Wesen eben darin besteht, dass sie nirgends geschlossene 
Maschen besitzt, also ganz das Gegentheil eines Netzes ist, 
wenn der äussere Anblick auch eine noch so grosse Aehnlich- 
keit mit einem Netze darbietet. Es wird sich für diese letzte 
Endverästelung statt des unmöglich gewordenen Namens des 
Koelliker’schen Terminalnetzes noch am Besten die Be- 
zeichnung der Koelliker’schen Terminalverästelung empfehlen. 


1) Sur les terminaisons nerveuses dans les lames electriques de 
la Torpille. — Gomptes rendus etc. 20 Decembre 1875, und Bulletin 
hebdomadaire de l’Association scientifique de France. t. XVII. p. 251. 
23 Janvier 1876. 


Neue Untersuchungen über die Structur u. s. w. 473 


Nach diesen durch das Studium der (positiven) Goldpräparate 
erzielten Resultaten kann nunmehr zu der Beantwortung der 
oben: offen gelassenen Frage geschritten werden, ob und welche 
(negative) Silberbilder wirklich genau die Configuration der 
Koelliker’schen Terminalverästelung reproduciren. Offenbar 
kann man dies nur von solchen negativen Bildern behaupten, 
welche sich als die vollkommenen Ergänzungen der positiven 
Goldbilder darstellen. Entsprechend diesen letzteren, in denen 
niemals eine wirkliche Anastomose zweier Nerrenfasern vor- 
kommt, dürfte also in den wirklich getreuen Silberbildern nie- 
mals eine geschlossene Masche d.h. niemals ein isolirtes Stück 
des dunklen Grundes vorkommen. 

Derartige absolut vollkommene negative Bilder habe ich 
mittelst der reinen Silberimprägnation niemals erhalten. Selbst 
‘ die vollkommenste der mitgetheilten Abbildungen, Fig. III, zeigt 
die weisse Zeichnung der Nervenverästelung durchaus nicht 
auf einem überall zusammenhängenden dunklen Grunde, son- 
dern zeigt eine Menge einzelner dunkler Inseln, welche all- 
seitig von den weiss gebliebenen Nervenfasern umschlossen 
werden, — ein Verhältniss, das mit den positiven Bildern der 
Goldmethode in Widerspruch steht. Wirklich vollkommene 
und den positiven Goldbildern absolut entsprechende negative 
Darstellungen der Koelliker’schen Terminalverästelung erhielt 
ich nur durch die combinirte Methode der Gold- und Silber- 
Behandlung, bei welcher — wie oben erwähnt — nicht selten 
negative Bilder der Terminalverästelung auf stahlblauem Grunde 
erscheinen. Diese Bilder, von denen die Abbildungen Fig. VIII 
und IX eine getreue Vorstellung zu erwecken geeignet sind, 
zeigen ebensowenig ein isolirtes Stück des dunklen Grundes, 
wie gelungne Goldpräparate eine Anastomose zweier Nerven- 
fasern zeigen. Von den beiden mitgetheilten Abbildungen ist 
übrigens nur Fig. IX nach einem Präparat gezeichnet; Fig. VII 
ist eine schematische Zeichnung, bei deren Herstellung die Um- 
risse des positiven Goldpräparates Fig. VII zu Grunde gelegt 
wurden, um so an einer einzigen ganz bestimmten Configuration 
direct das negative mit dem positiven Bilde vergleichen zu 
können. 


474 Fr. Boll; 


Es bieibt nun nach Erledigung der Frage über die Con- 
figuration der Koelliker’schen Terminalverästelung noch die 
andere Frage zu erörtern, wie sich an den mittelst der Gold- 
und Silbermethode hergestellten Präparaten die „Punktirung“ 
der elektrischen Platten verhält. Ueber dieses eigenthümliche 
Structurverhältniss haben die es als ein solches anerkennenden 
neueren Untersucher Ciaccio (der die Punkte mit den Spitzen 
einer Reibungselektrisirmaschine vergleicht) und Ranvier neue 
Thatsachen oder Aufschlüsse beizubringen nicht vermocht. 
Auch ich selbst bin heute noch nicht im Stande, auch nur 
einen Schritt über das hinauszugehen, was ich im Jahre 1873 
in meiner ersten Abhandlung über dieses räthselhafte Structur- 
Verhältniss ermitteln konnte. 

Sowohl das Silbernitrat wie das Goldchlorid sind im Stande 
die Punktirung vollständig und mitunter höchst elegant zu con- 
serviren; doch sind sie in dieser Beziehung sehr unzuverlässig, 
und man kann an Gold- oder Silberpräparaten niemals mit 
solcher Sicherheit darauf rechnen, die Pünktchenstrucetur er- 
halten zu sehen wie nach Einwirkung der Osmiumsäure. Ver- 
hältnissmässig am vorzüglichsten bewährte sich auch für diesen 
Zweck die combinirte Anwenduug der beiden Metallsalze. 

In wohlgelungenen Präparaten, welche unmittelbar nach 
eingetretener Gold- und Silberreaction untersucht wurden, finden 
sich nicht selten ausgedehnte Stellen, wo die Pünktchenstructur 
in gleicher Vollkommenheit und fast mit gleicher Präeision zu 
demonstriren ist, wie an den besten Osmiumpräparaten. Diese 
Erhaltung der Pünktchenstructur findet sich sowohl an den 
positiv wie an den negativ gefärbten Stellen der elektrischen 
Platten; besonders die letzteren (Vgl. die Abbildungen Fig. VIIL 
und IX) gewähren einen ausserordentlich eleganten Anblick, 
indem die dunkleren Pünktchen auf dem weissen Grunde sich 
ungemein scharf abzeichnen. Aber auch in den positiven Bil- 
dern, in denen die Pünktchen nicht auf einem weissen Grunde 
sondern als dunklere Körnchen auf dem an und für sich schon 
gefärbten Grunde der Nervenverästelung erscheinen, erhält man, 
wenn auch seltener, in ihrer Art kaum minder vollkommene 
Präparate. (Vgl. die Abbildung Fig. VI.) 


Neue Untersuchungen über die Structur u. s. w. 475 


An vielen Präparaten der letzteren, positiven Art findet 
jedoch ein eigenthümliches Verhalten statt, das ich besonders 
besprechen muss, weil es sonst leicht zu einer irrigen Vor- 
stellung über das wahre Aussehen der Punktirung Anlass geben 
könnte. Sehr viele, ja man kann sagen die meisten positiven 
Goldpräparate, in denen die Punktirung erhalten ist, zeigen 
sie in der in der Abbildung Fig. V wiedergegebenen Weise. 
Diese weicht, wie eine Vergleichung der beiden Abbildungen 
Fig. VI und V lehrt, nicht unerheblich ab von dem oben als 
normal bezeichneten Verhalten, wie es in Fig. VI dargestellt 
ist, dadurch dass die Punkte in sehr viel sparsamerer Anzahl 
vorhanden und in ihrer Stellung fast ausschliesslich auf die 
Ränder der Nervenfasern beschränkt sind, in der Mitte der 
Nervenfasern aber so gut wie völlig fehlen. 

Diese Differenz ist nicht imıner, wie ich zuerst glaubte, 
einfach auf einen Altersunterschied zurückzuführen, indem in 
den jüngeren Individuen schmälere und gestrecktere Nerven- 
fasern mit sparsameren Punkten vorkommen, sondern sie findet 
sich auch an den elektrischen Platten desselben Individuums, 
ja in einer und derselben Platte. Sie kann daher nicht in jenen 
entwickelungsgeschichtlichen Differenzen, die an einer anderen 
Stelle erörtert werden sollen, sondern muss ihren Grund haben 
in anderen von diesen Wachsthumsverhältnissen unabhängigen 
Ursachen. Ich erkläre die Bilder wie Fig. V mir dadurch, dass 
in ihnen nur eine unvollständige Conservirung und Darstellung 
der Pünktchenstructur stattgefunden hat, die im ursprünglichen 
Zustande an jenen Stellen ganz so bedeutend entwickelt war, 
wie sie in den anderen Fig. VI entsprechenden Goldbildern 
erhalten und wiedergegeben ist. Ich stütze diese Anschauung 
darauf, dass die unvollkommneren Bilder, wie Fig. V, sich vor- 
zugsweise in älteren Präparaten finden, ja dass conservirte voll- 
kommene Goldbilder, wie Fig. VI, nach einiger Zeit eine be- 
ginnende Verarmung an Pünktchen zeigen und so den unvoll- 
kommneren Bildern allmählich ähnlich und ähnlicher werden. 
Durch diese immer fortschreitende Verminderung der Pünkt- 
chen wird dann schliesslich ein Stadium erreicht, wie das in 


476 Fr. Boll: 


Fig. VII dargestellte, wo die ganze Nervenverästelung voll- 
kommen glatt und ohne jeden ihr ansitzenden Punkt erscheint. 

So sind also durch die neuen Methoden, wenn auch keine 
neuen Aufschlüsse über die Bedeutung der Pünktchenstructur 
erhalten, so doch die Resultate meiner früheren Untersuchung 
durchaus nur in schönster Weise bestätigt worden. Nach zwei 
bereits veröffentlichten, mehr oder minder noch mit Fehlern 
behafteten Versuchen,!) wage ich es nunmehr eine dritte und 
hoffentlich letzte! — vervollkommnete Zeichnung der Pünktchen- 
structur den Fachgenossen vorzuführen, die in der Abbildung 
Fig. X genau so wiedergegeben wurde, wie sie an gelungenen 
Osmiumpräparaten erscheint. Ebenso wie ich in Fig. VIII die 
Configuration von Fig. VII in negativer Weise reproducirt habe, 
habe ich bei Anfertigung der Zeichnung Fig. X die Configu- 
ration von Fig. VI zu Grunde gelegt, um so eine deutliche 
Vorstellung von dem Verhältniss der Nervenverästelung zu der 
Pünktchenstructur und der Goldpräparate zu den Osmium- 
präparaten zu erwecken. Wer die beiden neben einander- 
stehenden Abbildungen mit einander vergleicht, wird es be- 
greiflich und verzeihlich finden, wenn ich in meiner ersten, 
allein auf das Studium von Osmiumpräparaten begründeten 
Mittheilung die Maschen des „Netzes“ als verzogene und un- 
regelmässige Rhomben und das „Netz“ selbst als ein vollkommen 
geschiossenes beschreiben konnte: denn als ein solches stellt 
sich diese Bildung dar in Osmiumpräparaten, in denen die 
Nervenfasern selbst stets nur äusserst blass gefärbt sind,?) und 
in denen die durch die Pünktchenstructur hervorgebrachte Re- 
production der Nervenfasern den Anschein geschlossener Maschen 
erweckt aus dem Grunde, weil oft die Distanz zweier verschie- 
denen Nervenfasern angehörigen Punkte nieht grösser ist als 
die normale Distanz, welche zwischen den einzelnen einer ein- 
zigen Nervenfaser angehörigen Punkten vorliegt. 


1) Archiv für mikrosk. Anatomie. Band X, Tafel VIII, Fig. V 
und ebenda Band X, Tafel XV, Fig. X. 

3) Die von Ranvier mit solchem Erfolge angewandte Combi- 
nation der Osmiumfärbung mit der Goldchloridkaliumbehandlung habe 
ich noch nicht versuchen können. 


Neue Untersuchungen über die Structur u. s. w. 477 


Ich stehe am Ende einer Darstellung, für deren Weit- 
schweifiskeit ich fühle um Entschuldigung bitten zu müssen. 
Andererseits schien mir eine derartig eingehende Behandlung 
auch der untergeordnetsten Details geboten, um die an die 
Spitze dieses Aufsatzes gestellte Behauptung zu rechtfertigen, 
dass nunmehr die Nervenendigung im elektrischen Organ 
von Torpedo genauer bekannt sei, als jede andere Nerven- 
endigung in irgend einem Organ des thierischen Körpers. 
Durch die mit gleichem Erfolge auf ein gleiches Ziel 
von Ciaccio, Ranvier und mir gerichteten Bemühungen ist 
es in vollkommen. übereinstimmender Weise festzustellen ge- 
lungen, dass die elektrischen Nerven von Torpedo endlich 
übergehen in eine ausserordentlich feine Endverästelung, be- 
stenend aus etwas abgeplatteten Nervenfasern von wechselnder 
Breite, welche der Bauchfläche der elektrischen Platten ange- 
drückt ist. Innerhalb dieser Endverästelung endigen die sämmt- 
lichen, sich vorher unzählige Male getheilt habenden Nerven- 
fasern alle ohne Ausnahme frei: keine einzige geht eine pe- 
ripherische Verbindung mit einer anderen einem anderen Stamme 
entsprossenen Nervenfaser ein. An der unteren (dem Rücken 
zugekehrten) Fläche dieser terminalen Nervenverästelung und 
ihre Configuration genau reprodueirend befinden sich die zahl- 
losen räthselhaften Pünktchen als ebenso viele Spitzen, in 
welche die Nervenfaser zuletzt übergeht. 

Trotz der grossen Schwierigkeit des mikroskopischen Ob- 
jects und der starken Vergrösserungen, die zu ihrer Feststellung 
nothwendig sind, sind diese Thatsachen vollkommen positiv. 
Wir können nunmehr das grosse Wort gelassen aussprechen, 
dass die Frage nach der Nervenendigung im elektrischen Organ 
des Zitterrochen abgeschlossen ist, und dass für unsere Zeit 
wenigstens es der Anatomie nicht mehr gelingen wird, sie noch 
weiter zu fördern. Die Anatomie hat innerhalb der ihr ge- 
stellten Grenzen ihre Aufgabe vollkommen gelöst und erwartet 
nuumehr von der Physiologie und ihren Methoden eine weitere 
Vertiefung der Erkenntniss. Vielleicht dass der von der Ana- 
tomie jetzt geführte Nachweis der ausschliesslichen freien En- 
digungen der elektrischen Nerven die Schwesterwissenschaft 


478 Fr. Boll: 


veranlassen wird, eine schon einmal aufgeworfene Frage!) näher 
ins Auge zu fassen: was unter diesen Umständen denn schliess- 
lich aus der negativen Schwankung des Nervenstromes werden 
muss, die den Erregungsvorgang innerhalb der Nervenfaser 
jedenfalls doch wohl bis an das äusserste peripherische Ende 
begleitet, und ob die in den elektrischen Platten von Torpedo 2) 
durch die anatomischen Verhältnisse der Nervenverästelung 
bedingte, mehr als millionenfache:) Multiplication dieser Stromes- 
sehwankung nicht vielleicht ausreichend befunden wird, den 
„ Schlag des Zitterrochen zu erklären? 


Roma, am 2. März 1876. 


Erklärung der Abbildungen. 


Sämmtliche Abbildungen mit Ausnahme von Fig. VIII und X 
sind direct nach Präparaten bei einer Vergrösserung durch die Hart- 
nack’sche Immersionslinse Nr. IX gezeichnet. Es wurden stets die 
günstigsten optischen Bedingungen gesucht und je nach der Hellig- 
keit auch verschiedene Oculare angewandt. So ist es gekommen, 
dass der Maassstab, in welchem die einzelnen Präparate wiedergegeben 
worden sind, nicht genau der gleiche ist: ein Fehler, den der Be- 
schauer zu beachten und in Gedanken zu verbessern gebeten ist. 

Fig. I. Silberpräparat. Sehr unvollkommen negative Darstellung. 
der Terminalverästelung. 

Fig. II. Silberpräparat. Etwas vollkommnere negative Darstel- 
lung der Terminalverästelung. 


1) M. Schultze’s Archiv für mikroskopische Anatomie. Bd.X,. 
S. 118. 

2) Nicht von Malopterurus. 

3) [Wenn nur die negative Schwankung an den Nervenenden in 
Betracht kommt, würde meines Erachtens die Multiplication nur durch 
die Zahl der in den Säulen übereinander geschichteten Platten statt- 
finden, und, wegen der Nebenschliessung durch die Lücken zwischen 


den Nervenenden, nicht einmal durch die volle Plattenzahl. 
E. d. B.-R.] 


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Neue Untersuchungen über die Structur u. s. w. 479 

Fig. III. Silberpräparat. Relativ vollkommene negative Dar- 
stellung der Terminalverästelung. 

Fig. IV. Gold- und Silber-Präparat im Herbst 1875 in Viareggio 
gezeichnet. Positive Darstellung der Terminalverästelung. In der 
Zeichnung befinden sich einige Anastomosen zwischen benachbarten 
Nervenfasern, die auf unrichtiger Beurtheilung des Präparats beruhen. 

Fig. V. Gold- und Silber-Präparat mit positiver Darstellung der 
Terminalverästelung und unvollkommen wiedergegebener Pünktchen- 
structur. 

Fig. VI Gold- und Silber-Präparat mit positiver Darstellung 
der Terminalverästelung und vollkommen wiedergegebener Pünktchen- 
structur. 

Fig. VII. Gold- und Silber-Präparat mit positiver Darstellung 
der Terminalverästelung; die Pünktchen fehlen vollkommen. 

Fig. VII. Die Zeichnung, welche die Configuration von Fig. VII 
in negativer Darstellung und mit erhaltenen Pünktchen wiedergiebt. 

Fig. IX. Gold- und Silber-Präparat. Vollkommen negative Dar- 
stellung der Terminalverästelung mit erhaltenen Pünktehen. 

Fig. X. Auf die Configuration von Fig. VI basirte Zeichnung 
der Pünktehenstruetur, wie sie an wohlgelungenen Osmiumpräparaten 
erscheint. 


Anatomische und Physiologische Untersuchungen 
über den Arm der Kephalopoden. 
Von 
Dr. GIUSEPPE COLASANTI. 


(Aus dem Laboratorium für vergleichende Anatomie und Physiologie 
in Rom. Fünfte Mittheilung.) 


Hierzu Tafel IX u. X. 


1. Einleitung. 

Wenn man einem eben aus dem Meerwasser gezogenen 
lebenskräftigen Kephalopoden einen seiner Arme abschneidet, 
so fährt das abgetrennte Glied fort Bewegungen auszuführen 
und auf Reize zu reagiren, ganz in derselben Weise, wie 
wenn es noch mit dem Körper in Verbindung wäre. Die 
Trennung des Armes von den im Kopfknorpel gelegenen 
grossen Centralorganen des Nervensystems scheint weder in 
der Sphäre der Bewegung noch der Empfindung die geringste 
Störung hervorgebracht zu haben: wenigstens vermag die auf- 
merksamste Beobachtung keinerlei Unterschied zwischen dem 
Benehmen und den Bewegungen eines vom Rumpf getrennten 
und eines mit diesem noch in unverletzter Verbindung stehen- 
den Armes nachzuweisen: nicht einmal die quantitative. Energie 
der nervösen und motorischen Functionen erscheint im Gering- 
sten vermindert. Mehr noch als der enthauptete Frosch oder 
der abgeschnittene Aalschwanz erschien daher der vom Körper 
getrennte Arm der Kephalopoden als ein vorzügliches Object, 
um gewisse auf die thierische Sensibilität sich beziehende 
Fundamentalfragen experimentell in Angriff zu nehmen. 

Die ersten hierauf bezüglichen Versuche wurden im Herbst 
1875 in Viareggio unternommen. Es gelang hier schon eine 


Anatomische und physiologische Untersuchungen u: s. w. 481 


Reihe physiologischer Thatsachen zu beobachten, welche sich 
im Verlauf der Versuchsreihen mit grosser Regelmässigkeit 
wiederholten. Andererseits war es jedoch unmöglich aus diesen 
physiologischen Thatsachen überhaupt irgendwelche bindenden 
Schlüsse, irgendwelche Resultate für die allgemeine Physiologie 
des Nervensystemes abzuleiten. Denn es fehlten damals noch 
gänzlich die nothwendigen anatomischen Fundamente für ein 
physiologisches Raisonnement: es fehlte jegliche genauere 
Kenntniss über die Anatomie der Muskeln und Nerven, welche 
in die Zusammensetzung des Kephalopodenarmes eingehen. 

Diese Kenntniss zu erlangen war daher das erste Erfor- 
derniss, um in der Behandlung dieser physiologischen Fragen 
weitere Fortschritte machen zu können. Es wurde daher in 
dem folgenden Winter eine genaue anatomische Untersuchung 
des Armes der Kephalopoden vorgenommen, zu deren Behuf 
das in chromsaurem Kali gehärtete Organ nach der Stilling’- 
schen Methode in eine Reihe successiver Querschnitte gelegt 
wurde. So gelang es, die Anatomie der Muskeln und Nerven 
des Kephalopodenarmes vollständig; festzustellen und eine sichere 
Basis zu gewinnen, von welcher aus die Lösung der physio- 
logischen Fragen erfolgreicher als bisher in Angriff genommen 
werden konnte. 

Dieses geschah im Februar d. J. 1876 in Porto d’ Anzio, 
wo die in Viareggio begonnenen Versuchsreihen wiederholt 
und vervollständigt wurden. In der Deutung der Versuchs- 
resuitate bestanden jetzt nicht mehr die früheren durch die 
Unkenntniss der Anatomie des Organs bedingten Zweifel und 
es gelang durch die glückliche Vereinigung des anatomischen 
und physiologischen Beweismaterials zur Feststellung einiger 
Thatsachen zu gelangen, welche für die Frage von der thie- 
rischen Sensibilität von der allergrössten Bedeutung zu sein 
scheinen. x 

Alle die in dieser Arbeit mitzutheilenden Thatsachen, die 
anatomischen Angaben und die physiologischen Versuche be- 
ziehen sich allein auf die eine sowohl in Viareggio wie in 
Porto d’ Anzio häufigste Species: Eledone moschata, welche an 


ihren acht Armen je nur eine einfache Reihe von Saugnäpfen. 
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 3 31 


482 Giuseppe Colasanti: 


trägt. Doch hat eine an dem mit einer doppelten Reihe von 
Saugnäpfen versehenen Octopus vulgaris angestellte anatomische 
und physiologische Nachuntersuchung im Wesentlichen ganz 
dieselben Resultate ergeben, so dass es nicht zu gewagt sein 
wird, die an Eledone ermittelten Thatsachen auf die ganze 
Kephalopodenklasse überhaupt auszudehnen. 


2. Allgemeine Bemerkungen über die Anatomie des 
Armes der Kephalopoden. 


Das anatomische Studium des Kephalopodenarmes zerfällt 
naturgemäss in drei Abschnitte: es sind zu berücksichtigen 
die Muskelmasse, welche die Hauptsubstanz des Armes bildet, 
zweitens die dieser Muskelmasse aufsitzenden Saugnäpfe und 
endlich die in einer centralen Höhlung des Armes enthaltene 
„nervöse Axe*, — eine Bezeichnung, die später noch ausführ- 
lich gerechtfertigt werden wird.') 

Ueber alle diese drei Organe enthält die classische Mono- 
graphie Cuvier’s?) die ersten Angaben: sie sind als er- 
schöpfend zu betrachten in so weit, wie die anatomische Unter- 
suchung dieser Theile ohne Anwendung des Mikroskops vor- 
genommen werden kann. . 

Nach Cuvier scheint die Structur der die Hauptmasse des 
Armes bildenden Musculatur nicht weiter Gegenstand anato- 
mischer Untersuchungen gewesen zu sein. — Auch über den 
Bau und Mechanismus der Saugnäpfe liegt in der Literatur 
nach Cuvier nur eine einzige Angabe von Keferstein?) vor: 


1) Ueber die Haut, welche den Arm der Kephalopoden überzieht 
und hier übrigens ganz dieselben Structureigenthümlichkeiten zeigt 
wie an den anderen Stellen des Leibes, wird in dieser Monographie 
nicht gehandelt werden, da die Absicht besteht, ihr nebst ihren in- 
teressanten Einschlüssen, den Chromatophoren, an einer anderen Stelle 
ein besonderes Studium zu widmen. 

2) Memoire sur les Cephalopodes et sur leur Anatomie. — 
Memoires pour servir & l’histoire et ä l’anatomie des Mollusques. 
Paris 1817. p.1. 

3) Bronn und Keferstein, Klassen und Ordnungen des Thier- 
zeichs Bd. III. S. 1363. 1866. 


Anatomische und physiologische Untersuchungen u. s.w. 483 


Die Bemerkungen von W. Müller und Koelliker'!) sowie 
von Boll?) beziehen sich ausschliesslich auf Eigenthümlich- 
keiten des ihre freie Oberfläche überziehenden Epithels. — Die 
grosse Literatur endlich, welche sich in diesem Jahrhundert 
über die Neurologie der Kephalopoden angesammelt hat, ver- 
nachlässigt gerade die Nerven der Arme in auffallendster Weise. 
Die besten und ausführlichsten Angaben über sie bietet die 
fleissige Monographie von Cheron;?) die auf sie bezüglichen 
Angaben Owsjannikow’s und Kowalevsky’s sind nur sehr 
unvollständig und stehen durchaus nicht auf derselben Höhe 
wie die übrigen Abschnitte der von beiden Forschern über die 
feinere Anatomie des Nervensystems der Kephalopoden ver- 
öffentlichten ausgezeichneten Arbeit.*) 


3. Anatomie der Musculatur des Kephalopodenarmes. 


Jeder einzelne der acht die Mundöffnung der Eledone 
moschata umgebenden Arme zeigt einen elliptischen Querschnitt, 
dessen lange Axe gegen die Mundöffnung des Thieres gerichtet 
ist. Dem entsprechend sind an dem Arme zwei längere Seiten- 
flächen und zwei kürzere Flächen zu unterscheiden, von denen 
die eine gegen die Mundöffnung gerichtete, welche die Saug- 
näpfe trägt, die innere Fläche heissen soll, während die ihr' 
gegenüberstehende als äussere Fläche bezeichnet werden wird. 
In den beiden Abbildungen Fig. 1 und 2, welche Querschnitte 
des Armes, Fig. 1 dicht an der Basis, Fig. 2 dicht an der 
Spitze genommen, darstellen, bezeichnen die Buchstaben A, 
und A, die beiden Seitenflächen, B, die innere mit Saugnäpfen 
bekleidete und B, die äussere freie Oberfläche. An der Basis 


1) Koelliker, Untersuchungen zur vergleichenden Gewebelehre, 
Würzburger Verhandlungen VIII. S. 63. 1858. 

2) Beiträge zur vergleichenden Histiologie des Molluskentypus. 
S. 61. 1869. 

3) Recherches pour servir & l’histoire du systeme nerveux des 
Cephalopodes dibranchiaux. — Annales des sciences naturelles. Zoo- 
logie. 5me Ser. t. V. p. 1. 1866. 

4) Ueber das Centralnervensystem und das Gehörorgan der Kepha- 
lopoden. — Memoires de I’ Academie imperiale des sciences de St. 
Petersbourg. 7me Ser. t. XI. 1867. 

31* 


434 Giuseppe Colasanti: 


der Arme erscheint der elliptische Querschnitt stets länger 
ausgezogen als an der Spitze, wo der lange und der kurze 
Durchmesser verhältnissmässig weniger: differiren. 

Die ganze Länge des Armes wird von einem Canale durch- 
zogen, welcher in ein lockeres Bindegewebe eingebettet, die 
nervöse Axe und die Hauptblutgefässe des Armes enthält. 
Dieser Canal ist nicht genau central, sondern stets näher an 
der inneren (mit Saugnäpfen besetzten) als an der äusseren 
(freien) Oberfläche gelegen. Sein Querschnitt ist an der Wurzel 
des Armes elliptisch; doch sind die lange und kurze Axe die- 
ser Ellipse nicht gleichsinnig, sondern gerade umgekehrt orien- 
tirt wie die beiden Axen des ganzen Armes. Gegen die Spitze 
des Armes wird das Lumen des Canals kreisförmig. 

Auf sämmtlichen Querschnitten des Armes von der Wurzel 
bis zur Spitze zeigen die Muskelfasern stets die identische 
Anordnung; mit absoluter Regelmässigkeit reproducirt sich in 
allen Präparaten ein und dasselbe höchst elegante Bild, welches 
in den Abbildungen Fig. 1 und 2 wiedergegeben ist. 

Sämmtliche Muskeln des Kephalopodenarmes lassen sich 
in folgende drei Kategorien theilen: 

1) Längsmuskeln, welche von der Wurzel bis zur Spitze 
des Armes stets der Axe des Armes parallel verlaufen und 
daher auf den Querschnitten gleichfalls stets querdurchschnitten 
erscheinen müssen. 

2) Quermuskeln, deren Richtung genau senkrecht steht 
zur Axe des Armes und der Längsmuskeln, und deren histi- 
ologische Elemente daher auf Querschnitten ihrer Längsaxe 
parallel getroffen werden. 

3) Schrägmuskeln, welche weder eine reine Längs- noch 
eine reine Querrichtung besitzen, sondern in einer zu der Axe 
des Armes schiefen Ebene orientirt sind; ihre histiologischen 
Elemente erscheinen daher auf Querschnitten als kleine schräg- 
gestellte Stückchen. 

Die Längsmuskeln nehmen die Peripherie des Armes ein. 
Der stärkste Längsmuskel (M. longitudinalis externus) liegt 
unmittelbar an der Aussenfläche des Armes; ein etwas dünnerer 
«M. longitudinalis internus) an der Innenfläche unmittelbar 


Anatomische und physiologische Untersuchungen u. s. w. 485 


unter der Reihe der Saugnäpfe. Beide Muskeln haben einen 
elliptischen Querschnitt. An den beiden Seitenflächen zeigt der 
Querschnitt der Längsmuskeln die Form einer schmalen Sichel, 
welche durch einen feinen in ihrer Mitte verlaufenden Streifen 
von Quermuskeln in zwei nahezu gleiche Hälften getheilt 
wird. 

Die Hauptmasse der queren Muskeln nimmt das Centrum 
des Armes ein, wo die auf dem Querschnitt eine schon von 
Cuvier erwähnte trapezförmige Figur bilden, in deren Mitte 
die für die Aufnahme der nervösen Axe bestimmte Höhlung 
liest. In dieser Hauptmasse verlaufen die Muskelbündel theils 
der langen theils der kurzen Axe des querdurchschnittenen 
Armes parallel und bilden ein ausserordentlich dichtes Geflecht. 
Von der centralen Hauptmasse drängen allenthalben feine 
Muskelbündel bis an die Peripherie des Armes, welche um 
dorthin zu gelangen die Längsmusculatur durchsetzen müssen. 
Diese wird dadurch vielfach unterbrochen und in einzelne 
Bündel zerlegt und abgetheilt, welche innerhalb der Mm. lon- 
gitudinales externus et internus eine unregelmässigere, innerhalb 
der seitlichen Längsmuskeln aber eine völlig regelmässige Con- 
figuration besitzen, die den Querschnitten ein unvergleichlich 
zierliches und elegantes Aussehen giebt. — Ausser der cen- 
tralen Hauptmasse und diesen von ihr ausgehenden Muskel- 
bündeln, sind an der Peripherie des Armes noch einige Züge 
querer Muskelfasern vorhanden und zwar erstens ein zwischen 
den beiden Polen der Ellipse verlaufender, schmaler, sichel- 
förmiger Muskelstreif, welcher wie schon oben erwähnt, die 
beiden seitlichen Längsmuskeln in zwei fast gleiche Hälften 
theilt, und zweitens eine dünne Muskelhaut, welche das System 
der Armmusculatur nach aussen gegen die Cutis hin vollkommen 
abschliesst. 

Eine nur sehr geringe quantitative Entwickelung zeigen 
endlich die schrägen Muskeln: sie sind auf einen einzigen 
schmalen Streif redueirt, welcher beiderseits zwischen der 
langen Seite des aus queren Muskelfasern bestehenden Tra- 
pezes und dem seitlichen Längsmuskel eingeschoben ist. 

Ein Muskelsystem, wie das eben beschriebene, welches 


486 Giuseppe Colasanti: 


von Cuvier mit den Zuüngenmuskeln der Säugethiere ver- 
glichen wurde, macht die ausserordentlichen motorischen und 
mechanischen Leistungen des Kephalopodenarmes leicht be- 
greiflich und erklärt die grosse Leichtigkeit, mit der dieses 
Organ sich verlängern, verkürzen und in allen möglichen 
Richtungen krümmen und beugen kann (Cuvier). 


4, Anatomie der Saugnäpfe des Kephalopodenarmes. 


Die erste für die Anatomie der Saugnäpfe wichtige That- 
sache ist die vollkommene Unabhängigkeit ihrer Musculatur 
von der soeben beschriebenen Musculatur des Armes. Diese 
letztere bildet stets ein vollkommen in sich abgeschlossenes 
Ganze, welches ebenso wie von der es überziehenden äusseren 
Haut sich auch von den Saugnäpfen vollkommen unabhängig 
erhält. Dieses Verhältniss wird aus der Betrachtung von Fig 3 
sehr deutlich, welche einen gleichzeitig durch die Muskelmasse 
des Armes und das Centrum eines Saugnapfes geführten Quer- 
schnitt darstellt. Man sieht, dass das Muskelsystem des Saug- 
rapfes und das des Armes, beide vellkommen in sich abge- 
schlossen sind und von einander durchaus getrennt bleiben, und 
dass allein die Hautmuseulatur, die an den Stellen wo die 
Saugnäpfe befindlich eine etwas stärkere Entwickelung zeigt, 
nur einige ganz schwache und unerhebliche Verbindungen mit 
der Muskelmasse des Armes einerseits und den Saugnäpfen 
andererseits eingeht. Diese Verbindungen — und die Anord- 
nung der Hautmusculatur unter den Saugnäpfen überhaupt — 
scheinen übrigens eines bestimmten morphologischen Typus 
durchaus zu entbehren, wie ein solcher in der Musculatur des 
Armes und der Saugnäpfe so sehr charakteristisch ausgeprägt 
ist. Wie Fig, 3 lehrt, sind es nur ganz schwache und dünne 
Muskeln, welche die Verbindung zwischen der Muskelsubstanz 
des Armes und den Saugnäpfen herstellen und die mit der 
Function betraut sind, die geringe Verschiebung längs und 
seitlich des Armes auszuführen, welche nothwendig ist, um diese 
Organe an den für ihre günstigste Wirkung geeignetsten Ort 
zu bringen. 

Die Musculatur der Saugnäpfe selbst bildet eine anatomische 


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Anatomische und physiologische Untersuchungen u. s. w. 487 


Einheit, die in sich völlig so abgeschlossen ist wie die eben 
betrachtete Musculatur des Armes; die beiden Abbildungen 
Fig.4 und 5 sind ausreichend, um eine klare Vorstellung vom 
Bau dieser Organe zu erwecken. Fig. 4 stellt einen durch die 
Längsaxe eines Saugnapfes geführten Schnitt dar: der ganze 
Saugnapf zeigt die Form eines Bechers von unregelmässiger 
Gestalt und Wandungen von ungleicher Dicke. Der Hohlraum 
dieses Bechers wird durch eine Einschnürung in zwei Abthei- 
lungen geschieden, von denen die der Mündung nähere und 
grössere, der Haftraum, die den Grund des Bechers einnehmende 
kleinere, der Saugraum heissen soll. Der erstere wird von 
der Muskelsubstanz unmittelbar aufsitzenden, sehr hohen 
Cylinderepithelien ausgekleidet, über deren freie Oberfläche eine 
sehr starke Cuticula ausgebreitet ist; die cylinderepitheliale Aus- 
kleidung des letzteren zeigt eine beträchtlich geringere Ent- 
wickelung. Dieser Unterschied steht mit der Function der 
Theile im innigsten Zusammenhang, da allein die Oberfläche 
des Haftraumes mit den von dem Saugnapfe angepackten Ge- 
genständen in Berührung kommt und daher eines stärkeren 
Epithelialüberzuges bedarf als die niemals damit in Contact 
kommende Oberfläche des Saugraumes. 

Entsprechend den verschiedenen Functionen der beiden 
Abtheilungen des Saugnapfes sind auch die muskulösen Wan- 
dungen beider durchaus verschieden gebildet: die Muskelwand 
des Haftraumes ist sehr viel dünner und besteht aus einem 
sehr innigen Geflecht von feinen Muskellagen, die beständig in 
ihrer Richtung mit einander abwechseln und sich durchkreuzen; 
es begreift sich daher leicht, wie eine derartige Anordnung der 
allerverschiedenartigsten Bewegungen und Formveränderungen 
fähig sein und auch den verschiedenst gestalteten Oberflächen 
sich stets genau wird anpassen können, während quantitativ 
bedeutende mechanische Leistungen nicht von ihr zu erlangen 
sein werden. Diese letzteren sind vielmehr in ganz hervor- 
ragendem Maasse von der Musculatur des Saugraumes zu er- 
warten, die durchschnittlich um das Doppelte mächtiger ist, 
als die des Haftraumes, und in welcher die einzelnen contrac- 
tilen Fasern fast alle in ein und derselben Richtung angeordnet 


488 Giuseppe Colasanti: 


sind und zwar in derjenigen, in welcher ihre Zusammen- 
ziehung die gröstmöglichste Erweiterung des Saugraumes her- 
vorbringen muss. 

Die Structur dieser Muskelwand ist so sehr einfach, dass 
zu ihrem Verständniss der in Fig. 4 wiedergegebene Längs- 
schnitt vollkommen ausreicht, und die Abbildung eines Quer- 
schnittes durchaus überflüssig erschien. Dagegen schien es 
wünschenswerth, zum besseren Verständniss der in der Wand 
des Haftraumes bestehenden verwickelteren Anordnung der 
Muskelfasern noch die Querschnittsabbildung Fig. 5 mitzu- 
theilen, zumal da diese gleichzeitig dazu dient, eine Structur- 
eigenthümlichkeit des Haftraumes zu veranschaulichen, die 
an Längsschnitten unmöglich hervortreten konnte: nämlich 
die Existenz riffartiger Leisten, weiche auf der freien Ober- 
fläche von der Basis bis zur Mündung des Haftraumes ver- 
laufen, und deren Nützlichkeit auf der Hand liest, da eine mit 
solchen Vorsprüngen versehene Oberfläche sich viel inniger 
an einen fremden Körper wird anpressen können als eine glatte 
Oberfläche. Die Zahl dieser Leisten ist (bei Eledone wenig- 
stens) inconstant und nimmt an den einzelnen Saugnäpfen von 
der Basis bis zur Mündung (durch Theilung) beständig zu. 

Mit der hier gegebenen Darstellung des Baues der Saug- 
näpfe von Eledone, haben die von Keferstein gegebene Be- 
schreibung und Abbildung der Saugnäpfe der riesigen Archi- 
teuthis dux Steenstrup (aus dem Kopenhagener Museum) nur 
eine sehr entfernte Aehnlichkeit. Erneute Untersuchungen 
werden zu entscheiden haben, ob diese Differenzen auf fehler- 
haften Beobachtungen beruhen oder — was das Wahrschein- 
lichere ist — in specifischen Eigenthümlichkeiten der ver- 
schiedenen Kephalopodenarten ihren Grund haben. 


5. Anatomie der nervösen Axe des Kephalopoden- 
armes. 


Der in dem centralen Canal des Kephalopodenarmes ver- 
laufende Nerv zeigt bei der Betrachtung mit blossem Auge 
Anschwellungen, welche in regelmässigen Abständen auf ein- 
ander folgen und in ihrer Anzahl und Lage genau der Reihe 


Anatomische und physiologische Untersuchungen u.s.w. 489 


der Saugnäpfe entsprechen. Es erweckt dieses Bild durchaus 
die Vorstellung, als ob der Nerv des Armes in regelmässigen 
Abständen mit Ganglien besetzt sei. In der That haben alle 
Autoren ohne eine einzige Ausnahme, auch Cheron und 
Owsjanikow und Kowalevsky dieser aus der makros- 
kopischen Betrachtung abgeleiteten Vorstellung ohne weiteres 
gehuldigt und übereinstimmend den Armnerven der Kephalo- 
poden als einen peripherischen, allein aus Primitivfasern zu- 
sammengesetzten Nerven beschrieben, welcher in regelmässigen 
Abständen zu peripherischen Ganglien anschwelle und nur 
innerhalb dieser Anschwellungen Nervenzellen enthalte, 

Die genauere mikroskopische Untersuchung ergiebt jedoch, 
dass diese Vorstellung durchaus irrig ist, und dass vielmehr 
der Nerv des Kephalopodenarmes in seiner ganzen Länge von 
der Basis bis zu der Spitze des Armes Ganglienzellen enthält 
und zwar in einer vollkommen bestimmten Anordnung, die 
sich auf jedem einzelnen Querschnitte in identischer Weise und 
mit gleicher Regelmässigkeit, reproducirt, wie das bekannte 
schräge Kreuz auf den Querschnitten des Rückenmarks der 
Wirbelthiere. Es müssen also die Centralnerven der Arme (für 
welche daher zweckmässig die Bezeichnung der nervösen Axe 
eingeführt wird) durchaus als nervöse Centralorgane angesehen 
und sie dürfen in keiner Weise, wie bisher allgemein geschah, 
zum peripherischen Nervensystem gerechnet werden. 

Die drei Abbildungen Fig. 6—8 stellen drei verschiedene 
Durchschnitte durch die nervöse Axe dar, von denen Fig. 6 
durch eine der an der Basis des Armes gelegenen ganglien- 
artigen Anschwellungen, Fig. 7 durch die darauf folgende 
Einschnürung und Fig. 8 durch eine ganglienartige Anschwel- 
lung der Armspitze geführt wurde. Es ist unmöglich, diese 
drei neben einander stehenden Abbildungen zu betrachten und 
mit einander zu vergleichen, ohne auf die höchst überraschen- 
den Uebereinstimmungen aufmerksam zu werden, die zwischen 
dieser Bildung und dem Rückenmark der Wirbelthiere be- 
stehen. 

Zunächst fällt hier ins Auge die bilaterale Symmetrie, die 
bei der nervösen Axe nicht weniger deutlich ausgesprochen 


490 Giuseppe Colasanti: 


erscheint als beim Rückenmark der Wirbelthiere; eine von der 
in einer medianen Längsfurche der nervösen Axe eingebetteten 
Arteria brachialis ausgehende Raphe von Bindegewebe und 
Gefässen theilt die Substanz der nervösen Axe genau so in 
zwei symmetrische Hälften, wie das Rückenmark durch die 
beiden Ineisurae longitudinales eingetheilt wird; die Längs- 
richtung dieser Raphe fällt mit der Be Axe des elliptischen 
Querschnittes zusammen. 

Zweitens drängt sich dem Beobachter die Constanz auf, 
mit welcher sich in allen möglichen Querschnitten der ner- 
'vösen Axe von der Basis bis zur Spitze, in den Anschwellungen 
wie in den Einschnürungen, stets ein und dasselbe Bild repro- 
ducirt, ganz wie im Rückenmark stets das Bild des Kreuzes 
wiederkehrt. Diese Uebereinstimmung gewinnt noch an Be- 
deutung durch die Thatsache, dass ganz wie im Rückenmark 
so auch in der nervösen Axe das identische Bild bedingt wird 
durch eine bestimmte Abwechselung und Configuration von 
zwei Substanzen, die ohne den geringsten Zwang als graue 
und weisse bezeichnet werden können, da die erste ganz wie 
die des Rückenmarks exclusiv aus Ganglienzellen und molecu- 
lärer Masse, die zweite ebenso exelusiv aus Nervenfasern be- 
steht, die ganz ebenso querdurchschnitten erscheinen, wie die 
weissen Stränge des Rückenmarks. 

Dieses stets wiederkehrende Querschnittsbild der nervösen 
Axe, welches zuerst, wenn auch ungenau von Cheron beschrieben 
und abgebildet wurde, ist allerdings dem Querschnitte desRücken- 
marks einigermaassen uuähnlich. In der nervösen Axe umgiebt 
nicht eine Schaale weisser Substanz den grauen Kerr, sondern 
beide Substanzen erscheinen auf dem Querschnitt neben ein- 
ander gelagert. Die weisse Substanz besteht aus zwei sym- 
metrischen Strängen von rundlichem Querschnitt, welche den 
der Aussenfläche des Arms zunächstliegenden Theil der ner- 
vösen Axe einnehmen. Di graue Substanz liegt der Innen- 
fläche des Armes näher; sie zerfällt in einen Ganglienzellen- 
haltigen und in einen Ganglienzellen-freien Theil, welcher 
letztere in seinem mikroskopischen Aussehen die grösste Aehn- 
lichkeit mit der moleculären Aussenschicht der Kleinhirnrinde 


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Anatomische und physiologische Untersuchungen u. s.w. 491 


zeigt. Das Verhältniss dieser beiden Theile der grauen Sub- 
stanz ist ein durchaus constantes, indem die Ganglienzellen- 
schicht die moleculäre Masse von aussen in Hufeisenform um- 
giebt. 

Die interessantesten Uebereinstimmungen zwischen der 
nervösen Axe und dem Rückenmark ergeben sich jedoch erst 
aus dem Vergleich der einzelnen verschiedenen Querschnitte 
der nervösen Axe und aus der Discussion über die anatomische 
Bedeutung der Verschiedenheiten, welche das eben beschriebene 
Querschnittsbild der nervösen Axe an verschiedenen Stellen 
zeigt. Diese Discussion ergiebt für die anatomische Auffassung 
der nervösen Axe ganz die gleichen Gesichtspunkte, welche 
aus dem Vergleich der verschiedenen Rückenmarksquerschnitte 
für die Anatomie dieses Organs festgestellt worden sind. 

Vergleicht man die beiden in Fig. 6 und 7 wieder- 
gegebenen Querschnitte der nervösen Axe mit einander, von 
denen der erste durch eine an der Basis des Armes gelegene 
Anschwellung, der zweite durch die dicht daneben befindliche 
Einschnürung geführs wurde, so ergiebt sich, dass das vermin- 
derte Volumen des letzteren ausschliesslich seinen Grund hat 
in der Volumsverminderung der grauen Substanz und in der 
verringerten Anzahl der Ganglienzellen, während die weisse 
Substanz nicht die geringste Volumsverminderung zeigt. Es 
erklärt sich dieses Verhalten daraus, dass in den Einschnürun- 
gen die graue Substanz allein für die Musculatur und Haut 
des Armes die Nervenwurzeln herzugeben hat, während in den 
Anschwellungen noch die sensitiven und motorischen Nerven 
für die Saugnäpfe hinzukommen. Es deckt sich diese Erklä- 
rung vollkommen mit der allgemein acceptirten Anschauung, 
nach welcher die Hals- und Lenden-Anschwellung des Rücken- 
marks durch die von den beiden Extremitätenpaaren geforderte 
grössere Menge von Nervenwurzeln bedingt wird. 

Noch eine zweite Thatsache der Anatomie des Rücken- 
marks reprodueirt sich auch in der nervösen Axe: das Volu- 
men der weissen Substanz nimmt auf den Querschnitten von 
der Basis bis zur Spitze des Armes continuirlich ab, — offen- 
bar aus dem gleichen Grunde wie im Rückenmark, weil, je 


492 Giuseppe Colosanti: 


weiter man gegen das Ende (des Rückenmarkes oder der ner- 
vösen Axe) vordringt, der durch die weisse Substanz mit den 
höheren Nervencentren in Verbindung stehende Körpertheil 
beständig kleiner wird und ein beständig geringer werdendes 
Nervengebiet in der weissen Substanz repräsentirt zu werden 
braucht. 

Dagegen möchte es — auf den ersten Blick wenigstens — 
auffallend erscheinen, dass (wie ein Vergleich von Fig. 8 mit 
Fig, 6 zeigt) die graue Substanz an der Spitze des Armes 
quantitativ ganz so mächtig entwickelt ist wie an der Basis, 
während die dünne Armspitze doch viel weniger Nerven zu 
ihrer Versorgung brauchen sollte als die starke Basis. Doch 
ist es nicht schwer, eine ausreichende Erklärung, für diesen 
scheinbaren Widerspruch zu finden: Offenbar hat die dünne 
Armspitze eine ganz andere Funktion als die starke Basis; 
sie ist vorzugsweise Tastorgan, während die mechanischen Lei- 
stungen des Armes ausschliesslich in der muskelkräftigen Basis 
ihren Sitz haben. Wenn daher auch die Spitze des Armes 
sehr viel weniger motorische Nervenfasern verbraucht, so hat 
sie dafür desto mehr sensitive Nervenfasern nöthig und es be- 
greift sich leicht, dass der Ueberschuss an letzteren den Aus- 
fall der ersteren vollkommen compensiren kann. Offenbar mit 
diesem Verhältniss hängt die charakteristische Verschiedenheit 
der Ganglienzellen der Armspitze von denen der Basis zu- 
sammen. Die ersteren sind fast durchweg äusserst klein und 
ihr Ensemble hat sehr grosse Aehnlichkeit mit der Körner- 
schicht des Kleinhirns oder der Retina. An der Basis hingegen 
finden sich vorzugsweise grosse Ganglienzellen mit deutlichem 
Kern. Es scheint also, als ob auch innerhalb des Mollusken- 
typus dasselbe Verhältniss stattfindet wie bei den Wirbelthieren, 
dass nämlich die sensiblen Zellen stets kleiner gebildet sind 
wie die Ursprungszellen der centrifugalen Nervenfasern. 

Während die nervöse Axe, als nervöses‘ Centralorgan be- 
trachtet, mehrere höchst bemerkenswerthe anatomische Ueber- 
einstimmungen mit dem Rückenmark zeigt, fehlen solche durch- 
aus für die von ihr ausgehenden Nerven, für welche sich kei- 
nerlei derartige Beziehungen mit den Rückenmarksnerven nach- 


Anatomische und physiologische Untersuchungen u.s.w. 493 


weisen lassen. Die peripherischen Nerven entspringen von der 
nervösen Axe während ihres ganzen Verlaufes, reichlicher von 
den Anschwellungen, aber auch von den Einschnürungen. Ihre 
Ursprungsweise ist sehr inconstant; das einzige constante Fac- 
tum ist, dass sie stets aus dem moleculären Theil der grauen 
Substanz hervorgehen und daher, um an die Oberfläche der 
nervösen Axe zu gelangen, die Ganglienzellenschicht durch- 
setzen. Vorzugsweise entspringen sie (wie in Fig. 6 und 8) 
aus den beiden Winkeln des Hufeisens; doch sieht man nicht 
selten die Nervenfasern auch näher an der Oefinung des Huf- 
eisens aus der moleculären Substanz heraustreten. Meist ent- 
springen die Nerven einzeln, jedoch nicht selten auch finden 
sich zwei oder dreiNerven, die ganz dicht zusammen die ner- 
vöse Axe verlassen. Von einem Entspringen mit gesonderten 
Wurzeln wie im Rückenmark ist niemals etwas zu sehen, wie 
überhaupt auf den Querschnitten der nervösen Axe nichts von 
einer Scheidung oder Localisirung der motorischen und sen- 
siblen anatomischen Elemente nachzuweisen ist. Ja, es scheint 
in Bezug auf Anzahl und Modus der Nervenursprünge nicht 
einmal auf beiden sonst bilateral symmetrischen Seiten der 
nervösen Axe eine Uebereinstimmung vorzuliegen. 

Die peripherischen Nerven durchsetzen den mit lockerem 
Bindegewebe ausgefüllten Zwischenraum zwischen nervöser 
Axe und der Muskelwand des Armes und dringen in die 
letztere ein, innerhalb deren sie sich theilen und so schliess- 
lich dem Auge entziehen. Zu den Saugnäpfen und zu der 
Haut gelang es nur sehr selten besondere Nervenstämmchen 
durch die Armmusculatur hindurch zu verfolgen. Ueber ihre 
Endigung in den Muskelfasern des Armes, der Saugnäpfe 
oder der Haut gelang es nicht, irgend etwas Bestimmtes zu 
ermitteln. Doch scheint eine Thatsache vollkommen sicher, 
dass nämlich diese ganze peripherische Nervenverästelung keine 
Ganglienzellen enthält, dass in dem Kephalopodenarm ausser 
in der nervösen Axe keine Nervenzellen mehr enthalten sind 
und dass die von der nervösen Axe ausgehenden peripheri- 
schen Nerven ganz direct und ohne Dazwischenkunft periphe- 


494 Giuseppe Colasanti: 


rischer Ganglienzellen in den contractilen Elementen oder in 
den Sinnesepithelien des Armes endigen. 


6. Physiologische Versuche und Schlussfolgerungen, 


Nach den soeben gegebenen Aufschlüssen sind nunmehr 
die in der Einleitung erwähnten Thatsachen nicht mehr auf- 
fallend. Wenn der Arm des Kephalopoden nicht bloss einen 
centralen Nerven, sondern ein wirkliches nervöses Centralorgan 
besitzt, das die allergrössten Uebereinstimmungen mit dem 
Rückenmark der Wirbelthiere zeigt, so hat sich Niemand da- 
rüber zu verwundern, wenn ein solcher abgeschnittener Arm 
sich ebenso zweckmässig benimmt, wie ein enthaupteter Frosch 
oder ein abgeschnittener Aalschwanz. Auch wird die That- 
sache verständlich, wie ein solcher Arm sich loslösen und mit 
einer Patrontasche von Samen versehen als Hectocotylus selbst- 
ständig auf die Frei gehen kann. 

Uebrigens übertrifft der Kephalopodenarm die beiden eben 
erwähnten kaltblütigen Wirbelthiere erheblich an Vitalität. 
Seine nervöse Axe behält ihre Erregbarkeit viel länger als das 
Rückenmark des Frosches oder des Aales, und die Muskel- 
contractionen erfolgen auch noch ganz lange Zeit nach der 
Abtrennung des Armes mit unverminderter Energie. Diese 
Eigenschaften sind unschätzbar für den experimentellen Phy- 
siologen, der an dem Rückenmark der kaltblütigen Wirbel- 
thiere in der so leicht erschöpften Erregbarkeit dieses Organs 
beständig ein Hinderniss oder eine Fehlerquelle für seine Ver- 
suche berücksichtigen muss. Die Erregbarkeit des Kephalo- 
podenarmes ist hingegen scheinbar unerschöpflich; wenigstens 
kann man eine Stunde lang und noch mehr an ein und dem- 
selben abgeschnittenen Arm herumexperimentiren ohne ihn zu 
ermüden und man kann — was sehr wichtig ist — die ein- 
zelnen Versuche beliebig oft hinter einander wiederholen, um 
so durch die stets sich gleichbleibenden Erfolge sich der con- 
stanten Versuchsergebnisse zu vergewissern und sie von zu_ 
fälligen und unzuverlässigen Einzelbeobachtungen zu unter- 
scheiden. 

Die erste Frage, welche experimentell in Angriff genommen 


Anatomische und physiologische Untersuchungen u.sw. 495 


wurde, war diese: Welchen Erfolg hat die elektrische Reizung 
des centralen Stumpfes der nervösen Axe? Zu diesem Zwecke 
wurden einige Centimeter der nervösen Axe an der Basis eines 
abgeschnittenen Kephalopodenarmes freipräparirt und auf ein 
Paar Elektroden gebreitet, durch welches jeden Augenblick 
auf beliebige, längere oder kürzere Zeit der tetanisirende Strom 
eines du Bois’schen Schlitteninductoriums geleitet werden 
konnte. 

Der Erfolg dieser Versuche war stets ein positiver: stets 
trat in Folge der elektrischen Reizung eine Muskelcontraction 
ein und zwar sowohl eine Contraction der Armmusculatur wie 
der Saugnäpfe und auch derjenigen Muskeln, welche schon die 
in der Haut gelegenen Chromatophoren inseriren und bei ihrer 
Contraction die weissliche Farbe der Haut in ein tiefes Braun 
verwandeln. Stets waren also bei diesen Experimenten drei 
Erscheinungen zu beobachten: 1) die Bewegungen des Armes 
2) die Action der Saugnäpfe, und 3) die Farbenveränderung 
der Haut. 

Nun war es im höchsten Grade bemerkenswerth, dass bei 
den ausserordentlich oft wiederholten Experimenten doch fast 
niemals eine Constanz der Resultate zu erzielen war in dem 
Sinne, dass der wiederholten Reizung auch immer der gleich- 
artige Erfolg entsprochen hätte: ein Erfolg trat, wie schon ge- 
sagt, jedesmal nach der Reizung ein, aber meist ein wechselnder, 
indem bei den verschiedenen Reizungen die drei oben er- 
wähnten Factoren (die Bewegung des Armes, die Action der 
Saugnäpfe und die Farbenveränderung) stets in verschiedenen 
Verhältnissen zusammentraten und so stets verschiedenartige 
Symptomencomplexe bedingten. 

So trat z.B. imersten Versuche eine sehr energischeBewegung 
des ganzen Armes, Action einiger weniger Saugnäpfe und eine 
nur sehr geringfügige Farbenveränderung ein. Bei der nächsten 
Wiederholung färbte sich der ganze Arm tiefbraun, blieb aber 
verhältnissmässig unbewegt; die in dem ersten Versuche thätig 
gewesenen Saugnäpfe functionirten diesesmal nicht, dafür aber 
andere. Oder die Färbung des Armes beschränkte sich auf 
einen bestimmteu Abschnitt, der bei der nächsten Wieder- 


496 Giuseppe Colasanti: 


holung des Versuches jedoch wechselte, ebenso unberechenbar 
wie in einem Versuche allein die Saugnäpfe der Basis und im 
nächstfolgenden allein die der Spitze sich contrahirten. Sehr 
selten nur gelang es, einen und denselben Symptomencomplex 
sich genau wiederholen zu sehen; es war dieses nur möglich, 
wenn in beiden Versuchen die Stromstärke dieselbe geblieben 
war und der Nerv nicht die geringste Verschiebung auf den 
Elektroden erlitten hatte. Sobald in dieser Rücksicht die Ver- 
suchsbedingungen auch nur die allergeringste Veränderung er- 
litten hatten, gelang es niemals wieder, denselben Symptomen- 
complex hervorzurufen, sondern das durch das Zusammentreten 
der drei erwähnten Factoren bedingte Gesammtresultat des 
_ Versuches war stets ein ungleichartiges. 

Wenn man diese Versuche oft hinter einander wiederholt 
und sich jedesmal überzeugt, dass auf die elektrische Reizung 
des centralen Stumpfes der nervösen Axe zwar jedesmal ein 
positives Resultat, wenn auch in beständig wechselnder Form 
erfolgt, so drängen sich dem Experimentator schliesslich mit 
grosser Unmittelbarkeit gewisse einfache physiologische Ueber- 
legungen auf, welche geeignet sind, den scheinbaren Wider- 
spruch befriedigend aufzulösen, welcher zwischen der un- 
bestreitbar vorhandenen elektrischen Erregbarkeit; der nervösen 
Axe und der stets wechselnden Form ihrer Reaction besteht. 

Zunächst ist es klar, dass der Experimentator niemals in 
der Lage sein kann, die natürliche Willensinnervation des 
Thieres nachzuahmen, welche von den grossen Ganglien des 
Kopfes zu der nervösen Axe geht und dabei ihren Weg wahr- 
scheinlich durch die weisse Substanz nimmt. Das Thier inner- 
virt stets nur ganz bestimmte Fasern und Fasergruppen der 
weissen Substanz, während es die unmittelbar daneben liegen- 
den völlig unerregt lässt. So ist das Thier in der Lage wirk- 
lich jedesmal ganz bestimmte Bewegungen zu reiner Ausführung 
zu bringen. Eine solche isolirte Innervation mit stets gleich- 
bleibendem Resultat ist aber der Experimentator künstlich nach- 
zuahmen ausser Stande: er reizt stets sämmtliche Nervenfasern 
der weissen Stränge und zwar mit Strömen, deren Intensität 
für jede einzelne Nervenfaser verschieden ist, ja auch für die- 


Ye EEE, 
FONS N N 
Kr 


Anatomische und physiologische Untersuchungen u.s.w. 497 


selbe Nervenfaser in zwei aufeinanderfolgenden Experimenten 
fast niemals constant zu erhalten ist. Unter diesen Umständen 
muss es gänzlich unberechenbar sein, welche Form des Erfolges 
auf die einzelne Reizung einzutreten haben wird. Man kann in 
dem ersten Experiment einen ganz bestimmten charakteristischen 
Symptomencomplex erhalten, der bei der zweiten Reizung 
gänzlich ausbleiben und bei einer dritten in einen völlig ent- 
gegengesetzten verwandelt sein kann, weil bei der zweiten 
Reizung vielleicht antagonistische Nervenfasern in gleicher 
Stärke mitgereizt wurden und weil bei der dritten endlich die 
Reizung der antagonistischen Fasern die der zuerst gereizten 
gar überwog. 

Zweitens ist zu berücksichtigen, dass, wie die anatomische 
Untersuchung unzweifelhaft dargethan hat, die weissen Stränge 
der nervösen Axe niemals direct die Muskelfasern des Armes, 
der Saugnäpfe oder der Haut innerviren, sondern stets erst nach 
der Durchsetzung von grauer Substanz und von Ganglienzellen. 
Es ist aber vollkommen illusorisch, anzunehmen, dass die Inner- 
vation sich durch jede Ganglienzelle ohne Widerstand oder 
auch nur mit dem gleichem Widerstande fortflanzen müsse; es 
ist vielmehr viel wahrscheinlicher, dass die lebendigen und 
vollkommen erregbaren Ganglienzellen der Fortpflanzung der 
Innervation einen individuellen, ja vielleicht sogar einen be- 
liebigen (d.h. von dem „Willen“ der Zelle abhängigen) Wider- 
stand entgegensetzen können. Sobald aber dieser Vorstellung 
ihre Berechtigung zugestanden wird, ist die Thatsache, dass, 
die Reizung der weissen Stränge von stets wechselndem Erfolge 
begleitet wird, nicht mehr schwer zu erklären. 

Es ist zu hoffen, dass diese beiden Ueberlegungen auch 
dann zur Geltung kommen werden, sobald wieder ein Unter- 
sucher die verwickelte und unerquickliche Frage nach der 
Erregbarkeit der vorderen Rückenmarksstränge zu behandeln 
unternimmt. Wahrscheinlich wird sich in dieser ein Einver- 
nehmen unter den Physiologen ohne Schwierigkeit erzielen 
lassen, wenn man nicht mehr, wie bisher. das Dilemma stellt, 
ob diese Stränge erregbar seien oder nicht, sondern wenn man 
die natürlichen Ursachen aufzufinden strebt, weshalb nach ihrer 

Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 32 


498 Giuseppe Colasanti: 


Reizung der Erfolg entweder ausbleibt oder doch eine beständig 
verschiedene Form annimmt. Das Problem hat eine zu grosse 
Analogie mit dem soeben behandelten der nervösen Axe, als 
dass es nicht mit gleichen oder doch mit ähnlichen Mitteln zu 
lösen sein sollte. 

Aehnlich nahe Berührungspunkte zwischen der Physiologie 
des Kephalopodenarmes und der Wirbelthiere, wie sie eben 
angedeutet wurden, existiren auch noch in Bezug auf eine 
zweite am Kephalopodenarm unternommene Versuchsreihe. 
Während die bisher mitgetheilten Untersuchungen dazu dienten 
ein neues Licht auf die Physiologie des Rückenmarks zu wer- 
fen, erweitern die jetzt zu berichtenden Versuche die Vor- 
stellungen über die eigene Irritabilität der Muskelsubstanz. 

Diese Vergleiche beziehen sich auf die Action der Saug- 
näpfe. Wenn man mit dem Finger den freien Rand eines 
Saugnapfes berührt, so tritt dieses Organ sofort in ganz be- 
stimmter Weise in Function: die Muskelwand des Haftraumes 
schmiegt sich an die dargebotene Oberfläche hermetisch an und 
die Muskelwand des Saugraumes zieht sich kräftig zusammen. 

Jedem unbefangenen physiologisch gebildeten Beobachter 
wird dieser Vorgang als ein einfacher Reflexvorgang erscheinen: 
die sensitiven Nerven haben die Berührung nach dem Central- 
organ der nervösen Axe geleitet und dort auf reflectorischem 
Wege die Contraction der Muskeln des Saugnapfes ausgelöst. 

Es schien interessant zu versuchen, wie ein Saugnapf sich 
benimmt, wenn er zwar gereizt wird, sich aber doch nicht an- 
saugen kann. Sticht man einen Saugnapf mit einer feinen 
Nadelspitze, so erfolgt ganz dieselbe Reihe von Bewegungen 
wie bei der Berührung durch den Finger, aber natürlich frucht- 
los. Die Muskeln des Haftraumes bewegen sich, als wenn sie 
die Nadelspitze umschliessen wollten, und der Saugraum er- 
weitert sich ganz als wenn durch den Haftraum wirklich ein 
hermetischer Verschluss hergestellt wäre. Auch dieser Ver- 
such scheint durchaus mit der Idee einer Reflexaction ver- 
einbar. 

Nun ist es eine höchst merkwürdige Thatsache, dass diese 
Function der Saugnäpfe in vollkommen gleicher Weise auch 


Anatomische und physiologische Untersuchungen u.s.w. 499 


dann eintritt, wenn von einer Reflexaction absolut die Rede 
nicht sein kann, nämlich an Kephalopodenarmen, aus denen die 
nervöse Axe völlig herausgeschnitten wurde oder an ein- 
zelnen abgetrennten Saugnäpfen. Auch diese saugen sich noch 
an, wenn auch mit sehr verminderter Kraft. Die Bewegungen 
des Haftraumes und des Saugraumes finden aber ganz in der 
oben beschriebenen Weise statt. 

Diese Thatsache schliesst sich in sehr befriedigender Weise 
an an verschiedene neuere Beobachtungen über die Physiologie 
muskulöser Organe. 

Engelmann') hat nachgewiesen, dass die Bewegungen 
des Ureter unabhängig vom Nervensystem erfolgen, ja dass der 
ganze Ureter sich stets ganz so verhält, wie sich eine einzige 
hohle Muskelfaser unter denselben Umständen verhalten würde. 

Auch Cohnheim!) ist dazu gelangt, die Ursachen der 
physiologischen ünd pathologischen Erweiterung und Verenge- 
rung der Arterien direct in den Reizzuständen des Muskel- 
rohres und nicht im Nervensystem zu suchen. 

Der oben mitgetheilte Versuch hat gezeigt, dass selbst ein 
so complieirt gebautes muskulöses Organ wie der Saugnapf 
auch dann noch functionirt, wenn es nicht mehr mit Ganglien- 
zellen in Verbindung steht und dass es sich — nach dem 
glücklichen Ausdrucke von Engelmann — vollkommen so 
benimmt, wie sich eine einzige ebenso gestaltete Muskelfaser 
unter gleichen Umständen benehmen würde. 


Rom, 4. März 1876. 


Erklärung der Abbildungen. 


Fig. 1. Durchschnitt eines Armes von Eledone moschata, dicht 
an der Basis, 7mal vergr. B, innere (mit Saugnäpfen besetzte), B, 
äussere, freie Fläche. A, A, die beiden Seitenflächen. 

Fig. 2. Durchschnitt desselben Armes an der Spitze, 7 mal vergr. 
B, B, A, A, wie in Fig. 1. 


1) Zur Physiologie des Ureter. — Pflüger’s Archiv II. S. 243. 1869. 
2) Neue Untersuchungen über die Entzündung. S. 25. 1873. 
32* 


500 Giuseppe Colasanti: Anat. u. phys. Untersuch. u. s. w. 


Fig. 3. Durchschnitt durch die Basis eines Armes von Eledone 
moschata, um das Verhältniss des Saugnapfes zur Armmuseulatur zu 
zeigen, 7mal vergr. 

Fig. 4. Längsdurchschnitt durch einen Saugnapf, 10mal vergr. 

Fig. 5. Querdurchschnitt durch den Haftraum eines Saugnapfes, 
10mal vergr. 

Fig. 6. Durchschnitt durch die nervöse Axe eines Armes von 
Eledone moschata, 7Omal vergr.; der Schnitt ist durch eine der An- 
schwellungen geführt worden. 

Fig. 7. Dasselbe. Der Schnitt ist durch eine der Einschnürungen 
an der Basis geführt worden. 

Fig. 8. Dasselbe. Der Schnitt ist durch eine der Anschwellungen 
an der Spitze geführt worden. 


IW Grohmann. sc. 


Archiv f.Anat: u Phyf. 1876. 


I 


EBoll del. 


uyf. 1870. 


Irchiv f Anatw Ph 


Pr 


Ef Bou det. 


W Grohmann. sc 


Uebersicht der neuen Untersuchungen über Ent- 

wickelung, Bau und physiologische Verhältnisse 

der elektrischen und pseudoälektrischen Organe. 
Von 


A. BAaBucHmn. 


Hierzu Taf. XI u. XII. 


Im Jahre 1869 habe ich gefunden und 1870 publicirt, 
dass die von Max Schultze sogenannten elektrischen Platten 
bei Torpedo keineswegs nervöser Natur sind, sondern sich aus 
Muskelfasern bilden, und dass die Nervenfaserverzweigungen' 
(resp. das Nervennetz) nichts Anderes, als sehr entwickelte 
motorische Endplatten sind. Dieser Homologie wegen nannte 
ich damals das Nervennetz „elektrische Platte“. 

Im Jahre 1872 habe ich wieder im „Centralblatt für die 
medicinischen Wissenschaften“ in einer vorläufigen Mittheilung 
bekannt gemacht, dass auch die pseudoelektrischen Organe bei 
Mormyrus und bei den Rochen, wo die Verhältnisse besonders 
klar sind, sich in derselben Weise entwickeln, wie bei Torpedo. 

Ungeachtet dieser Mittheilungen schreibt Darwin von 
1859 bis zu diesem Moment, dass die Entstehung der elek- 
trischen Organe ein Räthsel sei. Wiederholt erklärt er: 
„Die elektrischen Organe der Fische bieten (in Bezug auf seine 
Theorie) einen Fall von besonderer Schwierigkeit dar; denn es 
ist unmöglich, sich vorzustellen, durch welche Abstufungen die 
Bildung dieser wundersamen Organe bewirkt worden sein mag.“') 


1) Origin of Species. „Ueber die Entstehung der Arten.“ Ueber- 
setzt von Bronn. Nach der sechsten englischen Auflage berichtigt 
von Carus, 1876. Cap. 6. — Fälle von besonderer Schwierigkeit in 
Bezug auf die Darwin’sche Theorie. — ($S. 215.) 


N EEE 


502 A, Babuchin: 


Nachdem er eine von vertrauenswürdigen und hervorragenden 
Specialisten nicht für richtig erkannte Beobachtung erwähnt hat, 
wonach die Muskelcontraction von einer der Entladung des 
elektrischen Organes vergleichbaren elektrischen Erscheinung 
begleitet sein soll, fährt Darwin fort: „Diese Organe schei- 
nen aber auf den ersten Blick noch eine andere und weit 
ernstlichere Schwierigkeit darzubieten; denn sie kommen in 
ungefähr einem Dutzend Fischarten vor, von denen mehrere 
verwandtschaftlich sehr weit von einander entfernt sind. Wenn 
ein und dasselbe Organ in verschiedenen Gliedern einer und 
derselben Klasse, und zumal bei Formen mit sehr auseinander 
gehenden Gewohnheiten auftritt, so können wir gewöhnlich 
seine Anwesenheit durch Erbschaft, von einem gemeinsamen 
Vorfahren, und seine Abwesenheit bei anderen Gliedern durch 
Verlust, in Folge von Nichtgebrauch oder natürlicher Zucht- 
wahl, erklären. Hätte sich das elektrische Organ von einem 
alten, damit versehen gewesenen Vorgänger vererbt, so hätten 
wir erwarten dürfen, dass alle elektrischen Fische auch sonst 
in näherer Weise mit einander verwandt seien; dies ist aber 
durchaus nicht der Fall. Nun giebt auch die Geologie durch- 
aus keine Veranlassung zu glauben, dass vordem die meisten 
Fische mit elektrischen Organen versehen gewesen seien, welche 
ihre modifiecirten Nachkommen eingebüsst hatten. Betrachten 
wir uns aber die Sache näher, so finden wir, dass bei den 
verschiedenen, mit elektrischen Organen versehenen Fischen, 
diese Organe in verschiedenen Theilen des Körpers liegen, 
dass sie im Bau, wie in der Anordnung der verschiedenen 
Platten und nach Pacini in dem Vorgang oder den Mitteln, 
durch welche Elektrieität erregt wird, von einander abweichen, 
endlich auch darin, dass die nöthige Nervenkraft (und dies ist 
vielleicht unter allen der wichtigste Unterschied) durch Nerven 
von weit verschiedenen Ursprüngen zugeführt wird. 

Es können daher bei verschiedenen Fischen, die mit elek- 
trıschen Organen versehen sind, diese nicht als homolog, son- 
dern nur als analog in der Function betrachtet werden. Folg- 
lich haben wir auch keinen Grund, anzunehmen, dass sie von 
einer gemeinsamen Stammform vererbt werden; dann wäre 


Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 503 


dies der Fall, so würden sie einander in allen Beziehungen 
gleichen. Die grössere Schwierigkeit zu erklären, wie ein 
allem Anschein nach gleiches Organ in mehreren, entfernt von 
einander verwandten Arten auftrat, verschwindet; es bleibt uns 
die geringere, aber immer noch grosse, durch welche allmäh- 
liche Zwischenstufen diese Organe sich in jeder der verschiedenen 
Gruppen von Fischen entwickelt haben.“ 

Weiter äussert sich Gegenbauer in seinem „Grundriss 
der vergleichenden Anatomie“ 1874 (S. 520) über elektrische 
Organe ganz entschieden: „Ob sie in genetischem Zusammen- 
hange mit Muskeln stehen oder nicht, ist unbekannt.“ Er fügt 
aber die elektrischen Organe den Muskeln bei, „weil die Ner- 
ven auch in ihrer Endigungsweise mit jenen der motorischen 
Nerven in den Muskelfasern übereinkommende Verhältnisse 
‚darbieten*“. 

Dagegen erlaube ich mir zu bemerken, dass die Ulassifi- 
cation der Organe nach einem einzigen] Mel ziemlich ge- 
fährlich ist. Danach gälte die Regel, dass die Organe und 
auch Körpertheille, bei denen die Nervenendigungen ent- 
sprechende Verhältnisse darbieten, analog, homolos u. s. w. 
sind. Aber vor Kurzem ist entdeckt worden, dass auch in den 
Sehnen Endplatten existiren, welche beinahe ganz aussehen, 
wie die grossen motorischen Platten. Zwar hat im vorigen 
Jahre ein Forscher dahin sich geäussert, dass die Muskelfasern 
. nichts Anderes als Bindegewebzellen sind. Aber ein solches 
Streben zur Verallgemeinerung fördert am Ende die Wissen- 
schaft in Nichts, und ist mehr leidenschaftlicher, als wissen- 
schaftlicher Natur. 

Weiter möchte ich fragen, welche übereinstimmenden Ver- 
hältnisse die elektrischen Organe von Malopterurus mit den 
Muskeln darbieten. In diesem Fall könnte man sagen, dass 
die elektrischen Organe des Malopterurus darum den Muskeln 
beigesellt werden müssen, weil sie mit keinem einzigen Organ 
im ganzen Thierreich übereinkommen. 

Es ist wahr, dass W. Krause vor einigen Jahren sich 
dahin sesprede hat, dass die motorischen Platten wie die 
elektrischen wirken sollen. Aber diese Meinung war nicht die 


504 A. Babuehin: 


Folge von eingehenden wissenschaftlichen Untersuchungen, viel- 
mehr stützte sie sich auf zwei ganz falsche Gründe. Erstens 
hat W. Krause sich durch Prof. Meissner’s Endeckung ver- 
führen lassen, wonach die Muskeln bei der Contraction in 
einem gewissen Momente eine positive Schwankung ihres 
Stromes zeigen. Aber Prof. du Bois-Reymond hat nach- 
gewiesen, dass diese Entdeckung Meissner’s, obschon ihr eine 
richtige Thatsache zu Grunde liegt, doch auf unrichtiger Deu- 
tung der Erscheinungen beruhte.) Zweitens hat W. Krause 
eine falsche Vorstellung von motorischen Platten gehabt; er 
glaubte, dass sie Säckchen darstellen, in welche die motorischen 
Fasern eindringen. In Folge dessen schienen sie ihm den 
elektrischen Endkörpern (resp. Platten) bei Malopterurus sehr 
ähnlich zu sein, von welchen er, wie damals überhaupt die 
Gelehrten, keinen -richtigen Begriff hatte. So kam es, dass er 
das Unbekannte durch Vergleichung mit einem anderen Un- 
bekannten erläutern wollte. Uebrigens hat W. Krause den 
Bau der motorischen Platten (einige Nebensachen ausgenom- 
men) früher und richtiger als viele Andere erkannt. 

Meiner Meinung nach ist vor Allem die Entwickelungs- 
geschichte berufen, in wissenschaftlicher Weise Aufschluss über 
die Stellung zu geben, welche die elektrischen Apparate unter 
anderen Organen einnehmen sollen, und das zu erklären, was sogar 
dem scharfsinnigen Darwin unerklärbar blieb. Es ist dies auch 
vielleicht der einzige Weg, die alte, phantastische Ansicht von 
der Analogie der elektrischen Organe und der Muskeln, eine 
Ansicht, welche sich im Grunde nur auf die gleiche Abhängig- 
keit der Muskeln und der elektrischen Organe von den Nerven 
stützte, zu verwirklichen, und die Voraussetzung zur Thatsache 
zu erheben. Trotzdem ist meine Arbeit über die Entwickelung 
der elektrischen Organe, wie aus oben Gesagtem zu ersehen, 
hervorragenden Biologen der Gegenwart so gut wie unbekannt 
geblieben. 

Prof. du Bois-Reymond hat die Ergebnisse meiner 
mühsamen, gewissenhaften Untersuchungen mit den unbegrün- 
deten Voraussetzungen von W. Krause verwechselt und glaubt, 

1) Dies Archiv, 1873. S. 564 ff. 


vr EN NO 


Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 505 


dass ich schon zu weit gehe, wenn ich elektrische Organe als 
metamorphosirte Muskeln betrachte oder als Muskeln, aus wel- 
chen die contractile Substanz ausgezogen ist.!) 

In seinem „Handbuch der menschlichen Anatomie“ 1876, 
gedenkt W. Krause meiner Untersuchungen vorübergehend 
mit den Worten: „Auch aus der Entwickelungsgeschichte leitet 
Babuchin eine Homologie der elektrischen und motorischen 
Endplatten“ ab u. s. w., fügt aber hinzu: „wenn das wahr 
ist“. (l) 

Unterdessen sind die neuen Untersuchungen von Prof. 
de Sanctis über die Entwickelung der elektrischen und 
pseudoelektrischen Organe erschienen.°) 

Die Ergebnisse von Prof. de Sanctis weichen von den 
meinigen sehr ab; da aber die Arbeit von de Sanctis 
viel später als meine Mittheilungen erschienen ist, so könnte 
es geschehen, dass Nichtspecialisten jene für die richtigere 
hielten, um so mehr, als dieselbe von der Neapolitanischen 
Akademie prämiirt worden ist. Dies veranlasst mich, meine 


1) An dieser Verwechselung trage ich übrigens selbst die Schuld. 
Meine Mittheilungen von 1869 und 1872 habe ich abschreiben lassen 
müssen und war unglücklicherweise verhindert diese Abschrift vor 
dem Druck durchzusehen, so dass sich dabei zuweilen sinnentstellende 
Fehler eingeschlichen haben, die ich im „Centralblatt“ (1875) in einer 
Berichtigung theilweise angeführt habe. 

[Ich glaube mich einer Verwechselung der Art, wie der Hr. Verfasser 
sie mir vorwirft, nicht schuldig gemacht zu haben, und auch das Urtheil, 
Hr. Babuchin gehe zu weit in seinen Aufstellungen, habe ich nicht 
gefällt, sondern rein thatsächlich berichtet: „Hr. Krause... be- 
trachtet die Einerleiheit der Endplatten mit den elektrischen Platten 
als ausgemacht, und die Zurückführung der verschiedenen Formen 
der Endplatten auf dasselbe Schema bietet ihm keine Schwierigkeit. 
Hr. Babuchin geht auf Grund embryologischer Forschungen an 
Torpedo so weit, dass er das elektrische Organ einen Muskel nennt, 
aus dem die Muskelsubstanz entfernt sei“. (Experimentalkritik der 
Entladungshypothese über die Wirkung von Nery auf Muskel. Monats- 
berichte der Akademie u. s. w. 1874. S. 523.) Die Hrn. Babuchin 
zugeschriebene Meinung ist buchstäblich seinem Aufsatz im Centralblatt 
1870, S. 259, entlehnt. E. d. B.-R.] 

2) Embriogenia degli organi elettrici delle Torpedine e degli organi 
pseudoelettrici delle Raie. 1872. 


506 A. Babuchin: 


Resultate mit denen von Prof. deSanctis hier zu vergleichen, 
und zu beweisen, dass er viele Entwickelungserscheinungen 
falsch, oder gar nicht verstanden hat, und dass man sogar 
sagen könnte, dass seine Arbeit, ausser einigen, die Entwicke- 
lung der äusseren Körperform betreffenden Thatsachen, mit 
meinen Resultaten gar nichts gemein hat. 

Ich beabsichtige nicht, sein Werk in seiner ganzen Aus- 
dehnung hier zu berücksichtigen. Ich wünsche nur, die Auf- 
merksamkeit der Leser auf das Wichtigste darin zu lenken 
und zwar auf das, was dazu dienen kann, einen richtigen Be- 
griff von der Entwickelung der elektrischen Organe zu geben, 
oder so zu sagen, die Idee und den Plan der Natur zu er- 
mitteln, welche sie beim Bau der elektrischen Organe gehabt 
hat. 

I. Prof. de Sanctis unterscheidet fünf Entwickelungs- 
stufen der Torpedo: 

1) Stadio squaliforme, 

2) Stadio raiforme, 

3) Stadio torpediforme, 

4) Stadio torpedinetta bianca, 

5) Stadio torpedinetta macchiata, 
und will diese verschiedenen äusseren Formen mit der Histo- 
genesis der elektrischen Organe in zeitlichen Zusammenhang 
bringen. 

II. Er behauptet, dass im ersten Stadium, dass heisst, 
wenn die, embryonalen Kiemenbogen, (welche er seit inter- 
branchiai, Kiemenscheiden, nennt), noch aus indifferenten 
Zellen zusammengesetzt und durch von aussen nach innen 
gehende Spalten von einander getrennt sind, noch keine Spur 
von einer etwaigen Anlage der elektrischen Organe zu sehen 
sei. Er sah aber, dass schon in diesem Stadium in den Kie- 
menbogen die Bündel von Nervenfibrillen, welche vom Central- 
nervensystem ausgehen, nach aussen streben und dort endigen. 

III. Zweites Stadium, — stadio raiforme, nennt de Sanctis 
die Entwickelungsstufe, wo die Spalten zwischen den Kiemen- 
bogen verschwinden, indem sie vom Derma überzogen werden, 
und nur auf der Bauchseite fünf Löcher zurückbleiben, aus 


Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 507 


welchen äussere oder provisorische Kiemen, — nach de Sanctis 
filamenti branchiali decettori, — als rothe Fäden heraushängen. 
In Folge dessen sind anstatt Kiemenspalten und interbranchialer 
Scheiden nur auf einander folgende Furchen und Wülste zu 
sehen, oder, — wie de Sanctis sich ausdrückt — die ganze 
Regio branchialis erscheint zackenförmig. "Dieses Stadium hält 
de Sanctis für sehr wichtig, weil die elektrischen Organe erst 
hier zum Vorschein kommen. 

An senkrechten Schnitten der Regio branchialis des 
Embryo sieht man unter dem Mikroskop Rudimente der Colonne 
oder cilindretti elettrici. Diese Colonne befinden sich nur an 
den Stellen, welche den setti interbranchiali entsprechen, dort 
aber, wo das embryonale Gewebe die interbranchialen Säcke 
von aussen begrenzt, fehlen die Colonne ganz und zwar nach 
der Ansicht von de Sanctis aus dem Grunde, weil hier nicht 
genug Raum für die Bildung derselben vorhanden ist. Die 
Zellen, aus welchen die Colonne bestehen, unterscheiden sich 
in nichts von den sie umgebenden embryonalen Zellen, ausser 
darin, dass sie dichter an einander gedrängt sind und eine 
mehr compacte Masse bilden. Was aber den feineren Bau der 
cilindretti betrifft, so hält ihn de Sanctis für ein unauflösbares 
Geheimniss, und nur nach langer, mühsamer Arbeit hat er be- 
merkt, dass die gedrängten Zellen sich in einer bestimmten 
Richtung, der Länge der cilindretti nach, an einander reihen; 
die erste Reihe schliesst sich der zweiten von der Seite in 
derselben Richtung und zwar der Art an, dass die Zellen der 
ersten Reihe wie Zacken zwischen den Zellen der zweiten ein- 
dringen und so weiter, bis eine gewisse Anzahl von Serien der 
senkrechten Zellen eine Colonna oder einen cilindretto elettrico 
bilden. Als de Sanctis die Embryonen in 3procentiger Chrom- 
säurelösung erhärtete und die cilindretti von solchen Embryonen in 
Natronlauge bearbeitete, sah er unter dem Mikroskop beim 
Druck auf das Deckgläschen die Zellen sich verlängern und 
einander nähern. Nach der Aufhebung des Druckes entfernten 
sie sich wieder vonei nander. Aus dieser nichtssagenden Beob- 
achtung hat er den Schluss gezogen, dass die Zellen sowohl 


508 A. Babuchin: 


in senkrechter als in horizontaler Richtung mit amorpher Kitt- 
substanz zusammengeklebt sind. 

Jedes von den fünf elektrischen Nervenstämmchen, welche 
aus feinsten Fibrillen bestehend in der Substanz der inter- 
branchialen Scheiden verlaufen, verzweigt sich unter den cilin- 
dreiti elettrici. Von den grösseren Aesten lösen sich die klei- 
neren Bündel von Nervenfibrillen ab, welche sich manchmal 
fächerförmig ausbreiten und in die cilindretti eindringen. 

IV. Bei weiterer Entwickelung der elektrischen Organe 
und besonders im Stadio torpediforme spricht de Sanctis von 
einigen neuen Thatsachen, welche er in den cilindretti elettrici 
bemerkt hat. Er sieht in diesen cilindretti Zellen mit nieren- 
förmigen Kernen, welche sehr glänzende Körnchen enthalten 
und mit zwei oder drei Nervenfibrillen im Zusammenhang 
stehen. Aus diesen sonderbaren Kernen entstehen durch Thei- 


lung zwei oder drei neue Kerne, welche aber rund sind, und 


ein jeder für sich nur eine einzige Nervenfibrille erhalten. 
Diesen Befund hält de Sanctis für ungemein wichtig; denn 
er glaubt, dass nur aus diesen neuen, durch Theilung ent- 
standenen Zellen elektrische Platten (in Max Schultze’s Sinne) 
sich bilden. Die übrigen Zellen, welche keinen nierenförmigen 
Kern haben, dienen zur Bildung der Gefässe, der Schwann’- 
schen Scheiden und überhaupt des Bindegewebes. In diesem 
Stadium nimmt unterdessen die Zahl der cilindretti zu, und das 
elektrische Organ vergrössert sich allmählich. 

V. So hat de Sanctis gefunden, woraus die piastrini 
elettrici sich zusammensetzen. Es fragt sich aber, auf welche 
Art und Weise sie entstehen. Er findet in den cilindretti keine 
Kraft, um diesen Prozess zu Stande zu bringen. Er ruft eine 
vom Thätigkeitsort entfernte Maschine zu Hülfe. Es sind die 
grossen Zellen, welche Verfasser Schleimzellen nennt (cellule 
muciferi), welche übrigens den Fettzellen ähnlich sind und im 
Derma, im Subcutangewebe und zwischen den cilindretti ruhelos 
wandern. Mit der Zeit geben sie diese zwecklosen Spaziergänge 
auf und dringen endlich von der Seite in die cilindretti, um 
dort Nutzen zu bringen, sogar mit Aufopferung ihres Daseins. 

Durch ihr seitliches Eindringen in die cilindretti wirken 


Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 509 


sie auf dieselben wie Keile und zerspalten sie in aus Zellen 
bestehende Scheiben. Diejenigen Zellen, welche aus den 
Zellen mit nierenförmigen Kernen entstanden sind, verschmelzen 
zu elektrischen Platten. Die übrigen aber dienen zur Bildung 
der Gefässe, des Bindegewebes, und anderer Nebentheile. Unter- 
dessen schwellen die Schleimzellen mehr und mehr auf, werden 
durchsichtig, hydropisch. Ihre Hülle wird immer dünner und 
dünner. Auf diese Art entfernen sich die elektrischen Platten 
mehr und mehr von einander, und es entstehen zwischen ihnen 
mit Schleim gefüllte Räume. In diese Räume dringen die 
nackten, manchmal mit Kernen versehenen Neryenfasern hinein, 
um dort auf der Bauchseite der elektrischen Platten sich mehr 
und mehr zu verzweigen und mit ihren nackten Enden die 
bekannten engmaschigen Netze zu bilden. Man muss aber 
nicht vergessen, dass ausser den eben beschriebenen Nerven- 
fasern dabei noch andere sind, welche früher mit nierenförmigen 
Kernen im Zusammenhange standen. Allem Anscheine nach 
dienen diese Fasern zur Bildung des unbekannten weitmaschigen 
Nervenfasernetzes, welches sich über das bekannte engmaschige 
ausbreitet, und in dessen Knotenpunkten die Kerne der elek- 
trischen Platten liegen. Damit sind in den wesentlichen 
Punkten die elektrischen Organe fertig. Meiner Meinung nach 
beweist diese Schöpfungsgeschichte der genannten Organe nur, 
dass es unmöglich ist, eine wissenschaftliche Forschung zu 
einem gewissen Preise und zu einer bestimmten Frist zu be- 
stellen, und dass die Akademien mit ihren Aufgaben und 
Preisen auf die gesunde Entwickelung der Wissenschaft mehr 
schädlich als nützlich wirken. 

Hat die neapolitanische Akademie für ihren Preis etwas 
Belehrendes bekommen? 

Diese Frage wird von selbst gelöst, wenn ich die Angaben 
von Prof. de Sanctis eingehender beurtheile, und mit den 
Ergebnissen meiner eigenen Arbeit über denselben Gegenstand 
vergleiche. Damit meine ich aber n;cht, dass ich die längst 
versprochene Monographie über elektrische Organe überhaupt 
hier niederschreiben will; seit zwei und einem halben Jahre 
verhinderte mich der Zustand meiner Gesundheit mein Ver- 


Br 5 
N 


510 A. Babuchin: 


sprechen zu erfüllen. Ich will hier, wie ich schon oben gesagt 
habe, nur über die wesentlichsten Entwickelungserscheinungen 
berichten, damit die Leser eine richtige Anschauung von den 
elektrischen Organen und ihren Bestandtheilen bekommen. Ich 
werde nicht den von Prof. de Sanctis gestellten Entwicke- 
lungsstufen streng folgen, was er für sehr wichtig hält. Diese 
Stadien sind wirklich wichtig, wenn man die Bildung der 
äusseren Körperformen des Embryo, nicht aber, wenn man 
histogenetische Erscheinungen bei der Entstehung der elek- 
trischen Platten und Prismen studirt. In der That trifft man 
bei allen Embryonen bis zum Anfang der Zeit, wo die elek- 
trischen Platten im Begriff sind, sich vollständig auszubilden, 
die primitiven elektrischen Säulchen auf verschiedenen Stufen 
ihrer Entwickelung. In Folge dessen entsprechen die ver- 
schiedenen Entwickelungsstufen der elektrischen Säulchen gar 
nicht den so streng begrenzten, von de Sanctis aufgestellten 
äusseren Formen des Embryo. 

Wenn überhaupt bei der Beschreibung der Entwickelung 
Perioden aufgestellt werden müssen, so ziehe ich vor, in der 
Entwickelung der elektrischen Organe drei Perioden zu unter- 
scheiden: 

I) Allererste Anlage der elektrischen Lappen, der elek- 
trischen Nervenstämme und der primitiven elektrischen Säulchen. 

II) Entstehung des Plattenbildners unter fortwährender 
Zunahme der elektrischen Säulchen mit ihren Hauptbestand- 
theilen. 

II) Ausbildung der elektrischen Platten(vonMaxSchultze), 
des metasarkoblastischen Gliedes (von mir) und Entstehung des 
Pseudonetzes. 

In der ersten Periode kann man betreffs der Entwickelung 
der Bestandtheile der elektrischen Organe sammt den Lappen 
ganz ungezwungen drei Phasen unterscheiden: die erste, wo 
die Kiemenbogen durch und durch aus embryonalen indifferen- 
tem Gewebe bestehen und von aussen mit Epithel überzogen 
sind; die zweite Phase, wo die primitiven Nervenstämmchen 
in den Kiemenbogen erscheinen, und die erste Anlage der 
elektrischen Lappen zu sehen ist; die dritte Phase, wo die 


Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 511 


Entstehung der primitiven elektrischen Säulchen bemerkbar 
wird. 

In dem Abschnitt des Medullarrohrs, wo später die elek- 
trischen Lappen entstehen, wird der Centralcanal breiter, bleibt 
aber von allen Seiten geschlossen; die Bauchwand ist dicker 
als die Dorsalwand. Aus der Bauehwand zu beiden Seiten 
der Medianlinie entstehen faltenförmige gegen die Dorsalwand 
gerichtete Hervorragungen, welche aus eylinder- oder spindel- 
förmigen Zellen zusammengesetzt sind. Mit der Zeit verlieren 
die rudimentären elektrischen Lappen dieses faltenförmige Aus- 
sehen. Die Zellen theilen sich in mehr oder weniger runde 
“ Zellen, ihr Protoplasma schickt nach aussen Fortsätze, welche 
am Entstehungspunkte konisch sind, bald aber in ungemein 
dünne Fibrillen übergehen (künftige Axencylinder). Diese 
Fibrillen gehen durch die Seitenwände des Medullarrohrs und 
vereinigen sich bei ihrem Ausgange aus der Centralnervenmasse 
zu fünf primären elektrischen, je nach der Entwickelungsstufe 
und Behandlung mehr oder weniger fein granulirten Nerven- 
stämmchen, welche im embryonalen Gewebe des oberen Gliedes 
je eines von den fünf Kiemenbogen verlaufen und bis zur Knie- 
stelle derselben reichen; hier theilen sie sich grösstentheils in 
zwei oder drei Aestchen, welche sich endlich in der feinkör- 
nigen Masse verlieren, wo sie unregelmässig verlaufen und 
sammt denselben eine Art von Bulbus bilden, so dass man 
sagen könnte, dass die genannten Aestchen mit feinkörnigen 
und kolbenförmigen Anschwellungen endigen. Die Stämmchen 
sind ebenso, wie die von ihnen ausgehenden Aestchen mit An- 
schwellungen, mit einer dichten Schicht der Embryonalzellen 
umzogen. Manche von diesen Zellen sind spindelförmig, andere 
rund oder unregelmässig geformt, und lassen im frischen Zu- 
stande unter dem Mikroskop Bewegungserscheinungen erkennen. 
Aber bei sehr scrupulösen, an mehr als 20 Embryonen in die- 
ser Phase angestellten Untersuchungen habe ich keine einzige 
mit Kernen versehene Fibrille gefunden. Zwar kann man 
später dicht an der Wurzel der Nervenstämmchen, und zwar 
rückwärts, viele spindelförmige, mit runden Kernen versehene 
Zellen beobachten, welche: medianwärts zur Centralnervenmasse 


512 A. Babuchin:;: 


und seitwärts nach der Peripherie sehr lange und dünne Aus- 
läufer schicken, die sich an die elektrischen Stämmchen an- 
schliessen. Diese Zellen gehören aber eigentlich zu Ganglien 
der sensiblen Nervenwurzeln. Die Ganglien sind verhältniss- 
mässig sehr gross, aber nicht scharf begrenzt. Einige von den 
Ganglienzellen dringen sogar auch zwischen motorische resp. 
elektrische Fasern ein, was weniger Geübte zu dem Gedanken 
führen könnte, dass die Axencylinder hier und da kernhaltig 
seien. Hier, glaube ich, ist der Ort kurz zu bemerken, dass 
Alles dafür spricht, dass wenigstens elektrische resp. motorische 
Axencylinder als Nervenzellenfortsätze betrachtet werden müssen. 

Ich war so glücklich, Embryonen von der jetzt zu be- 
schreibenden Periode der Entwickelung, d. h. zwischen der 
Phase, wo keine Nervenfasern zu sehen sind und der, in wel- 
cher schon die feinsten Fibrillen erscheinen, in so grosser 
Masse zu bekommen, dass ich bei sorgfältiger unausgesetzter 
Untersuchung nicht im Stande war, das ganze Material zu be- 
wältigen. Aber vergebens suchte ich in der ersten Phase etwas, 
was auf das Entstehen der peripherischen Nervenfibrillen aus 
besonderen Zellen gedeutet hätte. Ich sah immer, dass die 
motorischen Nervenfibrillen aus dem Oentralnervensystem heraus- 
wuchsen. Zwar habe ich oft im oberen Gliede des Kiemen- 
bogens Zellen mit kurzen Ausläufern gesehen, aber sie lagen 
zerstreut im Embryonalgewebe, d. h. nicht zu regelmässigen 
Reihen geordnet, und kein Forscher, mag er noch so erfahren 
und scharfsinnig sein, dürfte behaupten, dass diese Zellen zur 
Bildung der Nervenfasern dienten oder blos embryonale oder 
ganz unschuldige Bindegewebszellen seien. 

Als ich zum ersten Male gesehen hatte, dass in späteren 
Stadien die embryonalen Nervenstränge ihrer ganzen Länge 
nach von spindelförmigen Zellen mit sehr langen Fortsätzen 
begleitet waren, und dass man innerhalb dieser Fortsätze lie- 
gende, sehr feine Fibrillen unterscheiden kann, kam ich auf 
den Gedanken, dass ich nervenbildende Zellen sähe. Man 
könnte glauben, dass Nervenfibrillen sich aus dem Protoplasma 
der spindelförmigen Zellen bilden, auf die Art, wie die aller- 


FR EREN 
ABER 


nz 


Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 513 


ersten quergestreiften Fibrillen im Protoplasma der muskel- 
bildenden Zellen entstehen. 

Ich habe schon anderswo die Vermuthung ausgesprochen, 
dass die Nervenfibrillen auf diese Art entstehen könnten, was 
bestimmt zu behaupten aber sehr gewagt wäre. Das eben von 
mir geschilderte Bild der spindelförmigen Zelle mit in ihr ein- 
gebetteten Fibrillen, kann auch so gedeutet werden, dass diese 
Zelle eine junge Bindegewebszelle sei, welche ein Stückchen 
wirklicher Nervenfibrille umzogen hat, um sich später in eine 
Schwann’sche Scheide umzuwandeln. Es giebt noch eine an- 
dere Deutung. Die fragliche Zelle ist nichts Anderes, als eine 
junge Bindegewebszelle, deren Protoplasma sich zu Binde- 
gewebsfibrillen differenzirt. Wenn aber von vielen Seiten be- 
hauptet wird, dass peripherische Nervenfasern aus einer Reihe 
spindelförmiger Zellen zusammengesetzt sind, und dass dies die 
erste Stufe der Nervenfaserentwickelung bedeutet, so beweist 
das nur, dass wirklich Nervenfasern existiren, welche wie aus 
langen Zellen bestehend erscheinen. Was aber die Deutung 
solcher Thatsachen betrifft, so ist das Geschmackssache, nicht 
aber das Resultat eingehender Untersuchungen. Die Forscher 
sind sicher, dass sie früh genug gekommen sind, um die aller- 
erste Bildung der Nerven zu sehen. Aber es ist möglich, dass 
sie schon etwas zu spät kamen, und nichts Anderes gesehen 
haben, als junge Nervenfasern mit Schwann’scher Scheide 
und ohne Marksubstanz. Es kann auch geschehen, dass sie 
die Entwickelung der centripetalen Nervenfasern, welche mög- 
licherweise sich anders entwickeln, als die centrifugalen, sahen. 
Es ist eine allbekannte Thatsache, dass auch Remak’sche 
Fasern wie eine Reihe spindelförmiger Zellen aussehen. Mit 
einem Wort, ich darf behaupten, dass weder ich, noch Jemand 
Anderes im Besitz irgend welchen Beweises sich befindet, dass 
die peripherischen centrifugalen Nervenfasern an Ort und Stelle 
im mittleren Kiemenblatte sich entwickeln. Man weist beständig 
auf solche Thatsachen hin, die vielfach gedeutet werden können. 
Es findet also in der eben besprochenen zweiten Phase der 
ersten de Sanctis’schen Entwickelungsstufe noch keine Diffe- 


renzirung im embryonalen Gewebe des Kiemenbogens statt, 
Beichert’s u, du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 33 


514 A. Babuchin: 


weil die Nervenfasern in diese Substanz von aussen eindringen. 
Wenn man etwas Neues finden kann, so sind es nur kleine 
Vorsprünge (zwei oder drei an der Zahl), welche auf der in- 
neren Seite jedes Kiemenbogens sich befinden und später zu 
äusseren Kiemen sich entwickeln. Bald aber schwellen die 
Kniestellen der Kiemenbogen merklich an. Hier bekommt 
jeder der fünf Bogen seitwärts einen Vorsprung und oben in 
diesen Anschwellungen beginnt schon die Differenzirung des 
embryonalen Gewebes. Man kann sehen, dass in der Substanz 
dieser Gewebe zwei, drei, oder, je nach der Zeit, mehrere 
Säulchen sich bilden, welche von der äusseren Oberfläche der 
Rückenseite des Thieres bis zur Bauchfläche senkrecht sich 
hinziehen und von dem embryonalen Gewebe auf allen Seiten 
umgeben sind. Die Kiemenspalten sind zu dieser Zeit noch 
nicht ganz geschlossen; nur etwas später wachsen die oben- 
genannten Anschwellungen zusammen. 


Fig. 1. 


Die Hälfte eines Querschnitts durch den Kiemenbogen eines Torpedo- 

embryos. a) die erste Anlage der elektrischen Lappen. b) Seitenwand 

des Medullarrohrs. c) Anlage des elektrischen Nervenstammes. d) seit- 

licher Vorsprung des Kiemenbogens. e) allererste Anlage der elek- 
trischen Säule. Schematisch. 


Mit der Zeit vergrössert sich die Zahl der Säulchen, bei 
gleichzeitigem Wachsthum der zwischen ihnen liegenden Em- 
bryonalgewebe, so dass die künftigen elektrischen Organe schon 
dem blossen oder mit der Lupe bewaffneten Auge zugänglich 


Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 515 


werden. Sie bilden am Rande der Kiemen einen Saum, wel- 
cher sich allmählich vergrössert und am vorderen Ende breiter 
als am hinteren wird. Die elektrischen Säulchen stehen in 
gleicher Entfernung von einander. Die Nervenstämme, welche 
in Kiemenscheiden vereinzelt verlaufen, verästeln sich mehr 
und mehr zwischen den Säulchen. Man kann sehr klar sehen, 
dass einige Fibrillenbündelchen mit den elektrischen Säulchen 
sich verbinden, einmal mit dem Bauchende derselben, manch- 
mal mit dem oberen Ende, nicht selten auch mit ihrer Seite. 
Es gelang mir aber nie die Fibrillen weit in der Substanz der 
Cylinderchen selbst zu verfolgen. Ich kann nur behaupten, 
dass die Fibrillen dort inwendig der Länge nach verlaufen. 
Auch in dieser Phase sieht man keine kernhalt;gen Nerven- 
üibrillen. Das embryonale Bindegewebe ist viel lockerer und 
durchsichtiger als die Säulchen. Die Säulchen stehen mit die-. 
sem Gewebe in so schwacher Verbindung, dass, wenn das Prä- 
parat ein paar Tage in verdünnter Lösung von chromsaurem 
Kali-Ammoniak liest, man blos nach Entfernung des Epithels 
die Säulchen, welche wie regelmässig vertheilte weisse Punkte 
aussehen, wie die Bienenlarven mit der Nadel aus ihren Zellen 
herausziehen kann. Nach diesem Verfahren bleibt das embryo- 
nale Gewebe der künftigen elektrischen Organe wie eine Wabe 
mit ausgeleerten Zellen zurück. 

Jetzt kommen wir zu den wichtigsten Momenten der Ent- 
wickelung der elektrischen Organe. Wir werden den Bau der 
elektrischen Säulchen und die Bildung der elektrischen Platten 
aus denselben näher erforschen. 

Prof. de Sanctis war nicht im Stande, weder das Eine 
noch das Andere zu verstehen, obgleich er nach seiner eigenen 
Aussage zu den stärksten Vergrösserungen Zuflucht nahm, in- 
dem er wahrscheinlich glaubte, dass nur die allerstärksten Ver- 
grösserungen uns alle Geheimnisse der Natur zu enthüllen ver- 
mögen. Er brauchte nämlich das Hartnack’sche System 
Nr. 9 in Verbindung mit Ocular 5 (!), d. h. eine sehr unvor- 
theilhafte Verbindung, mit welcher er nur sehr grobe und ver- 
waschene Contouren im Objeete sehen, und nur einen sehr 


schwachen Begriff von dessen Bau bekommen konnte. Er 
33* 


ee AL, EUREN 


>’ 


516 A. Babuchin: 


untersuchte seine Embryonen in sehr starker Chromsäurelösung 
(3 pCt.) erhärtet und zwar ausschliesslich an Schnitten, welche 
gewöhnlich nur zu topographischen Studien des gegebenen 
Organs, aber nicht zur Kenntniss des feineren Baues desselben 
und der histologischen Elemente dienen konnten. Um die 
Frage vom Bau der elektrischen Säulchen zu entscheiden, 
hätte er ausser der Schnittanfertigung auch die zur Isolirung 
dienenden Mittel benutzen müssen, welche zur Zeit seiner 
Arbeit in grosser Zahl bekannt waren, und die ich vorzüglich 
gebraucht habe. 

Das ist die Ursache, warum die Resultate der de Sanctis’- 
schen histiologischen Untersuchungen mit den meinigen nichts 
gemein haben, und warum er die äusseren Formen der Ent- 
wickelung der elektrischen Organe so schön beschrieben, histo- 
genetische Verhältnisse aber so gut wie gar nicht verstan- 
den hat. 

Es ist ganz richtig, dass beim ersten Anblick isolirte 
elektrische Säulchen, welche zu allererst in den obengenannten 
Vorsprüngen der Kiemenbogen erscheinen, als aus dicht ge- 
drängten Zellen bestehend sich darstellen. Es gelingt auch 
sehr selten, die einzelnen Elemente zu isoliren, sogar nach 
Gebrauch der macerirenden Flüssigkeiten, weil wegen der 
Kleinheit der Säulchen selbst es sehr schwer ist, dieselben mit 
Nadeln zu zerzupfen; wenn dies aber einmal gelingt, so kann 
man klar sehen, dass die gedrängten verschieden gestalteten 
embryonalen Zellen die Bündel der langen Zellen von allen 
Seiten umgeben. Diese Zellen sind im Anfang schmal, haben 
einen oder zwei verhältnissmässig grosse Kerne mit Kern- 
körperchen. Bald werden sie aber dicker und im Protoplasma 
derselben bildet sich ein mehr oder weniger starker Faden, 
welcher grösstentheils seitlich liegt und in gerader Richtung 
oder hier und da gebogen die ganze Zelle durchläuft. Derselbe 
ist quergestreift und steht in keinem Zusammenhange mit 
Kernen. Uebrigens hängt die grössere oder geringere Schärfe 
der Querstreifung von der Bearbeitung und von günstiger Be- 
leuchtung des Präparats ab. Es ist jedenfalls keine leichte 
Aufgabe, diese Querstreifung beim ersten Blick in’s Mikroskop 


Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 517 


zu unterscheiden. Es sind dazu erforderlich ein gutes Objectiv 
mit grosser Oefinung, passende Behandlung und gute Beleuch- 
tung. Ich habe das nach zweimonatlicher Arbeit zum ersten 
Mal an einem sehr hellen Tage mit sehr gelungenem Objectiv 
(Nr. 9) (trocken) und Ocular 2 von Hartnack an einem zer- 
zupften Präparate, welches 24 Stunden in Müller’scher Flüssig- 
keit lag, wahrnehmen können. Es giebt Reagentien, welche 
die Querstreifung ganz und gar vernichten, und nach ihrer 
Wirkung bleibt nur der ungestreifte Faden mit Protoplasma 
und Kernen zurück. Die vorzüglich von mir gebrauchte Flüssig- 
keit, welche die histologischen Elemente leichter isolirbar macht, 
indem sie sich mehr als alle macerirenden Flüssigkeiten ver- 
schont, so dass sie wie im lebendigen Zustande erscheinen, 
werde ich in der versprochenen Monographie später ebenfalls 
namhaft machen, nachdem ich ihre Wirkung näher studirt 
haben werde; denn auch mit dieser Flüssigkeit werden nicht 
immer gute Resultate erreicht. 

Jeder, welcher Gelegenheit gehabt hat, die embryonalen 
Bündel der kurzen Muskelfasern bei Torpedo zu sehen, kann 
bei Betrachtung der zerzupften elektrischen Säulchen nichts 
Anderes sagen, als dass er embryonale Muskelfasern vor sich 
hat, Das sagten auch alle Sachkundigen, denen ich meine 
Präparate zeigte. Einige solche Präparate, welche schon seit 
sieben Jahren conservirt worden, hatte ich vor kurzem Gelegen- 
heit dem Prof. du Bois-Reymond zu demonstriren. Einige 
dabei anwesende Herren glaubten darin embryonale Muskel- 
fasern zu erkennen, obwohl sie vor ihren Augen nur zerzupfte 
elektrische Säulchen hatten. 

Aus dem Gesagten folgt, dass die ersten Anlagen der 
elektrischen Prismen bei Torpedo eigentlich im strengen Sinne 
des Wortes die ersten Anlagen von Muskelfasern sind. Mit 
der Zeit nimmt in jedem Säulchen die Anzahl der Muskelfasern 
zu. Das weitere Wachsthum (ich will jetzt schon bestimmt 
sagen) der Muskelfasern besteht darin, dass ihre Kerne, resp, 
Muskelkörperchen sich vielfach theilen und in Folge der Proto- 
plasmazunahme sich von einander entfernen, so dass man am 
Ende sieht, dass die Säulchen aus Bündeln langer, dicht neben 


518 A. Babuchin: 


einander liegender, mit vielen Kernen versehener Fasern, nur 
mit darin verlaufenden quergestreiften Fäden, bestehen. Zu 
dieser Zeit findet man zwischen den Fasern nur hier und da 
der Länge nach verlaufende Fibrillen; aber zwischen den 
Muskelfasern kann man keine Zellen finden. Dagegen an der 
Oberfläche sind die Bündel von allen Seiten immer von dicht 
gedrängten embryonalen Zellen umgeben, mit welchen sie ein 
aus dem übrigen embryonalen Gewebe leicht isolirbares Ganze 
bilden; wie schon oben gesagt worden ist, will ich diese Zellen 
äussere Belegzellen nennen. 

Prof. de Sanctis hat nämlich auf dieser, nicht aber auf 
der frühesten Stufe der Entwickelung stehende Säulchen ge- 
sehen, und da er die einzelnen Elemente’nicht zu isoliren ver- 
mochte, glaubte er, wie aus Nr. III ersichtlich ist, dass die . 
Säulchen nur aus den spindelförmigen Zellen bestehen, welche 
eine besondere Anordnung haben, und in senkrechter wie 
horizontaler Richtung mit amorpher Kittsubstanz zusammen- 
geklebt sind. Meinen Untersuchungen nach lege ich den 
Schwerpunkt der Ausbildung der elektrischen Prismen und 
elektrischen Platten in die merkwürdige Metamorphose der 
Muskelfasern. De Sanctis glaubt aber, dass hier die von 
ihm gesehenen grossen Zellen mit nierenförmigen Körpern die 
Hauptrolle spielen. 

Er behauptet, dass diese Zellen sich theilen sollen, um, 
indem sie miteinander verschmelzen, später zur Bildung der 
elektrischen Platten zu dienen. Vergebens suchte ich diese 
Zellen an meinen sehr gelungenen Präparaten, bis ich mich 
überzeugen musste, dass Alles, was de Sanctis von diesen 
Zellen gesehen, Täuschung war. 

In der That geht die allererste Bildung der elektrischen 
Platten in folgender Weise vor sich. Die Enden der embryo- 
nalen Muskelfasern, welche gegen die Bauchseite gerichtet sind, 
schwellen auf. Diese Anschwellung kommt daher, dass der 
dem Bauchende nächste Kern der Faser sich in zwei andere 
theilt. Sie entfernen sich nicht mehr von einander wie früher 
der Länge der Faser nach, sondern bleiben nebeneinander 
liegen. Das Endstück des Protoplasmas, von den neugebildeten 


Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 519 


Kernen anfangend, nimmt an Dicke zu. In der Substanz des- 
selben liegt nicht nur die Verlängerung der oben beschriebenen 
quergestreiften Fäden, sondern es kommen noch zwei oder drei 
andere Fädchen zu Tage, welche einen geradlinigen oder 
wellenförmigen und ziekzackförmigen Verlauf nehmen und quer- 
gestreift sind. Sie stehen grösstentheils in Verbindung mit 
ursprünglichen gestreiften Fäden und erscheinen als gabelförmige 
Verzweigung der letzteren. Das Ganze erinnert an einen Quast, 
welcher an einer mit Knoten (Muskelkerne) versehenen Schnur 
hängt. Wenn das Präparat so liest, dass die Ursprungsstelle 
der Fäserchen mit Kernen zugedeckt ist, entsteht der 
Schein, als ob die Fädchen mit Kernen im Zusammenhange 
stehen. Jetzt ist begreiflich, was die de Sanctis’schen nieren- 
förmigen Kerne mit Nervenfäserchen bedeuten. Wenn das 
Präparat zu stark erhärtet ist, verbacken sich die nebenein- 
ander liegenden Kerne so stark mit einander und werden so 
undurchsichtig, dass die Grenze zwischen ihnen sehr schwer 
zu unterscheiden wird, und zwei Kerne als ein einziger er- 
scheinen. Das Trugbild wird noch täuschender, wenn die 
Kerne nebeneinander in gekrümmter Linie liegen, was immer 
der Fall ist mit der quastenförmigen Anschwellung, deren 
Kopf verschieden angeordnete Kerne bilden. Die quergestreiften 
Fibrillen sind ohne allen Zweifel die Nervenfäserchen von de 
Sanctis. 

Also: die allererste Metamorphose der langen embryonalen 
Muskelfasern, aus welchen die Säulchen bestehen, unterscheidet 
sich dadurch, dass das Bauchende der Muskelfasern sich in 
quastenförmige Gebilde umwandelt. Da aber diese Gebilde zu 
derselben Zeit die allererste Anlage der elektrischen Platten 
sind, so wollen wir der Kürze wegen diese quastenförmige 
Anschwellung „Plattenbildner* nennen. Die entgegengesetzten 
Enden der Muskelfasern sind abgerundet, manchmal aber ge- 
schweift zugespitzt. Die quergestreiften inneren Fäden reichen 
bis zu dieser Spitze. In den abgerundeten Enden aber theilen 
sie sich nicht selten in zwei Fibrillen, was überhaupt an em- 
bryonalen Muskelfasern immer wahrzunehmen ist. 

Ich habe schon früher gesagt, dass im Anfange die Muskel- 


520 A. Babuchin: 


fasern die ganze Länge der Säulchen einnehmen. Dann wäre 
es unbegreiflich, warum die Plattenbildner nicht nur am Bauch- 
ende der Säulchen sichtbar sind, sondern auf verschiedener 
Höhe der Säulchen sich befinden; aber ich habe auch früher 


gesagt, dass die Säulchen mit der Zeit stärker werden und / 
zwar dadurch, dass die neuen embryonalen Muskelfasern in/ 


diesen Säulchen vielleicht von äusseren Belegzellen sich bilden. 
Diese sind jedenfalls kürzer und ihre Bauchenden reichen nicht 
bis an die Bauchenden der Säulchen. Sie metamorphosiren sich 
immer auf die Art, wie die früher entstandenen Muskelfasern, 
das heisst, dass ihre Bauchenden sich zu Plattenbildnern um- 
wandeln. Ich habe auch nicht selten beobachtet, dass irgendwo 
in der Mitte einer Muskelfaser die Vermehrung der Kerne 
stattfindet, welche mit der Zeit einen Haufen bilden. Gleich- 
zeitig schwillt auch auf einer gewissen’ Strecke das Muskel- 
protoplasma auf. In Folge dessen entsteht ein quastenförmiges 
Gebilde, dessen Basis, das heisst die Plattenbildner, eine ge- 
wisse Zeit mit dem Bauchabschnitte der Muskelfasern in Ver- 
bindung steht. Manchmal kann man diese Verbindung sehr 
lange Zeit sehen. In Folge dieses Prozesses stellen sich die 
Plattenbildner als beinahe regelmässig in der Substanz der 
Säulchen zerstreut dar. 

Um die Aufmerksamkeit der. Leser durch detaillirte Be- 
schreibung von Nebenumständen nicht zu zerstreuen, werden 
wir zuerst ausschliesslich die Entstehung der elektrischen 
Platten bis zur vollständigen Ausbildung derselben verfolgen. 
Der Prozess ist sehr einfach. Der nicht angeschwollene Ab- 
schnitt der Muskelfasern bleibt immer auf derselben Stufe der 
embryonalen Entwickelung, und wenn eine Veränderung an diesen 
zu bemerken ist, so ist das ihre fortwährende Verlängerung und 
gleichzeitig ihre Verschmälerung, ohne dass sie dabei ihre 
Querstreifung verlieren. Das Protoplasma umzieht zu dieser 
Zeit den quergestreiften Faden, als sehr dünne kaum unter- 
scheidbare Hülle. (Ich muss hier davor warnen, dass man 
nicht durch unvorsichtige Zerzupfung eine Muskelfaser sehr 
ausdehne, denn dadurch verschwindet die protoplasmatische 
Hülle und Querstreifung ganz.) Was die Plattenbildner betrifft, 


Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 52] 


so besteht ihre Metamorphose nur in ihrer Vergrösserung, 
Formveränderung und fortwährender Kernvermehrung. 

So wandeln sich die Plattenbildner vor Allem in birn- 
förmige Körper mit sehr langem, knotigem und quergestreiftem 
Stiel um. Eine Anzahl der Kerne liest im dorsalen Ab- 
schnitt des Körpers, wo der Stiel sich an der Verbindungs- 
stelle allmählich konisch ausbreitet. Der Bauchabschnitt der 
Plattenbildner stellt ein beinahe durchsichtiges oder je nach 
der Bearbeitung feinkörniges Protoplasma dar, welches von 
einer Anzahl Fäserchen durchzogen ist. Diese erstrecken sich. 
von der Basis des birnförmigen Körpers zu den Kernen, mit 
welchen sie aber keine Verbindung eingehen, sondern durch 
oder auch über dem Haufen derselben sich an die quergestreiften 
inneren Fäden des Stieles anschliessen. 

Manchmal habe ich bemerkt, dass einige von den be- 
schriebenen Fäserchen quergestreift sind. Man muss daher 
annehmen, dass auch zu dieser Zeit in der protoplasmatischen 
Abtheilung der birnförmigen Körper eine fortwährende Bildung 
der Muskelfibrillen stattfindet. 

Ich habe nicht selten die feinkörnigen und cylindrischen 
Fortsätze gesehen, welche von der Basis der Plattenbildner 
ausgehen und gleich Kerzen senkrecht stehend ihren Rand 
umgeben. Diese Fortsätze, (zwei, drei bis vier an der Zahl), 
verschwinden bald ganz und gar. Ich habe endlich Fortsätze 
auch an mikroskopisch kurzen Fasern bei anderen Fischen 
bemerkt. 

Die ganze äussere Ansicht der Säulen stellt sich dann so 
dar, als ob sie aus, mit embryonalen Zellen umgebenem, kugel- 
förmigem Gebilde zusammengesetzt seien. 

Es sind wahrscheinlich jene wanderlustigen Schleimzellen, 
welche de Sanctis die cilindretti elettrici wie mit Keilen in 
aus Zellen zusammengesetzte Scheiben zerspalten lässt, aus 
denen später die piastrini elettrici sich bilden. 

Je weiter überhaupt die Entwickelung des Embryo fort- 
schreitet, desto mehr verändern die Plattenbildner ihre 
Form. Die Basis der birnförmigen Körper wird mehr und 
mehr flach. 


922 A. Babuchin: 


Auch der spitzige Pol des Körpers beginnt sich abzuplatten 
und verdiekt sich gleichzeitig, die Kerne streben bei fortschrei- 
tender Vermehrung sich zu einer scheibenförmigen Schicht an- 
zuordnen, der Stiel wird immer dünner und sitzt nicht 
immer im Centrum der dicken scheibenförmigen Körper, son- 
dern sehr oft seitlich; dafür vergrössert sich die Anzahl der 
feinsten Fäserchen im protoplasmatischen Abschnitt, so dass 
dieser Abschnitt manchmal wie quergestreift erscheint. Die 
Strichelchen ziehen sich von der Rückseite in gerader Richtung 
zur Bauchseite der Plattenbildner. Wenn man zu dieser Zeit 
die isolirte, elektrische Säule im Ganzen betrachtet, so be- 
kommt man den Eindruck, dass die Säule aus nicht ganz 
regelmässigen, dicken, kuchenförmigen Körpern zusammengesetzt 
ist, welche von einander durch embryonale Zellen getrennt, 
nicht die ganze Breite der Säule einnehmen und nebeneinander 
und übereinander liegen. 

Im Querschnitte stellen zu dieser Zeit also die Platten- 
bildner zwei Schichten — eine obere körnige und eine untere, 
durchsichtige und quergestreifte dar; die Schichten sind an 
Dicke beinahe gleich. Uebrigens kann man noch eine durch- 
sichtige protoplasmatische Schicht unterscheiden, welche die 
körnige von der dorsalen Seite deckt, und sich allmählich aus 
einem konischen Stück der oben erwähnten birnförmigen 
Plattenbildner bildet. Die Räume zwischen den kuchenförmigen 
Körpern sind, wie ich schon oben gesagt habe, mit Zellen 
verschiedener Form gefüllt, welche ich als innere Beles- 
zellen bezeichnen will. Besonders sammeln sie sich an der 
Basis der Plattenbildner und hängen sich hier fest an. Man 
sieht auch lange aus dem Haufen der Zellen heraussteckende 
(Nerven?) Fibrillen. Man kann manchmal sehr klar sehen, 
dass diese Fibrillen mit spindelförmigen Körperchen im Zu- 
sammenhange stehen. Was den Rest von früheren Muskelfasern 
resp. Stielen betrifft, so werden sie dünner und verschwinden 
allmählich ganz. 

Von dieser Stufe der Entwickelung der Plattenbildner an 
wird die Isolirung derselben immer schwieriger und schwieriger, 
denn die äusseren Belegzellen bilden allmählich eine mehr und 
mehr zusammenhängende Hülle um die elektrischen Säulchen. 


Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 525 


Nach dieser Periode platten sich die Plattenbildner unter 
fortwährender Rernvermehrung mehr und mehr ab, die untere 
protoplasmatische Schicht wird immer dünner, während die 
dorsale sich etwas verdickt, die Keruschicht aber dieselbe 
Dicke behält; am Ende nehmen die Plattenbildner die Form 
runder Platten an, welche den ganzen Querschnitt der Säulchen 
einnehmen. Es sind schon ausgebildete sogenannte elek- 
trische Platten, in welchen die Kerne (eigentlich Zellen) 
mehr der Bauchoberfläche genähert und von einander entfernt 
liegen. Sie entstehen also nicht aus dem Zusammenfliessen 
der embryonalen Zellen, sondern sie bilden sich durch die 
Metamorphose der Myoblasten, das heisst aus vielkernigem 
Protoplasma, und sind keineswegs nervöser Natur, was Max 
Schultze so lange Zeit behauptete und was von Allen ange- 
nommen wurde. Die Platten sind von einander durch eine 
Menge von verschiedenförmigen Zellen getrennt. Sie sind 
grösstentheils spindelförmig, aber mit runden Kernen versehen. 
Die Isolirung der einzelnen Platten ist zu dieser Zeit ungemein 
schwierig, und wenn macerirende Flüssigkeiten etwaigen Nutzen 
bringen, so verderben sie zugleich die histologischen Elemente, 
Ausserdem sind die Platten so ungemein dünn, dass es nur 
sehr selten gelingt, wirklich eine einzige Platte zu isoliren. 
Wenn aber zwei oder drei Platten einander decken, bringt es 
keinen Nutzen. Wenn es mir einmal gelang, eine einzige Platte 
zu isoliren, so fand ich immer, dass die Zwischenzellen sehr 
stark an der Bauchseite der Platte haften, während die Dorsal- 
seite ganz glatt und entblösst ist. 

Das Wachsthum der elektrischen Platten geschieht nach 
dem Princip des Wachsthumes der Muskelfaser bei Wirbel- 
thieren. 

Bei langsamer Kernvermehrung nimmt die Substanz der 
Platten an Breite immer zu, die Kerne der Platten entfernen 
sich mehr und mehr von einander, in Folge dessen verdicken 
sich die elektrischen Säulchen immer mehr und mehr und 
werden bei weiterem Wachsthum vom Druck, den sie gegen 
einander ausüben, prismatisch. 

Das embryonale Gewebe, welches sich zwischen den Pris- 


524 A. Babuckin: 


men befindet, wandelt sich allmählich zu einem echten fibril- 
lären Bindegewebe um. Wenn die elektrischen Platten einmal 
gebildet sind, so entwickeln sich in den Säulchen oder Prismen 
keine neuen Platten mehr. Die Prismen wachsen in die Höhe 
einerseits, weil die Platten sich absolut verdicken, anderseits, 
weil der Zwischenraum zwischen. je zwei Platten sich ver- 
grössert, indem dort das fibrilläre Gallertgewebe sich entwickelt, 
in welchem die Gefässe und die gröbere Nervenverästelung 
eingebettet sind. 

Jetzt wenden wir uns zur Histogenese des nervösen Appa- 
rats der elektrischen Organe, unter welchem ich in erster Reihe 
elektrische Lappen und Nervenstämme mit ihren Verzweigungen 
verstehe, in zweiter Reihe die Nervenfaserverzweigung zwischen 
je zwei Platten bis zur Bildung der Nervenendplatte, welche 
nach meinen früheren (im Jahre 1869) und im vorigen Sommer 
(wegen der Behauptung von Prof. Boll (1873):!), dass diese 
Platten ein Netz bilden) wiederholten Untersuchungen, weiter 
nach Untersuchungen von Ciaccio (1869 und 1875)?) und von 
Ranvier (1375)°) nichts Anderes ist als eine reiche Terminal- 
verzweigung der elektrischen Nerven, was 1875 endlich auch 
von Boll anerkannt worden ist.*) 

Ich muss aber gestehen, dass ich mich bei Erörterung der 


1) Max Schultze’s Archiv für mikroskopische Anatomie, 1873. 
Bd. X. S. 101. 

2) Intorno all’ intima tessitura dell’ Organo elettrico della Tor- 
pedine. (Nuove Osservazioni.) Lo Spallanzani, Rivista di Scienze 
Mediche e Naturali. Modena 1875. Anno XIII. Fasc. X. — Meine 
neuen Beobachtungen, obwohl sie schon im Juli 1875 beendet waren, 
habe ich nicht veröffentlicht, weil ich erfuhr, dass Ciaccio schon am 
20. August seine Ergebnisse bekannt gemacht hatte, welche von den 
meinigen nur in Einzelheiten abweichen. Die Präparate aber, welche 
nach ganz anderen Methoden als den von Ciaccio und später auch 
von Boll angewendeten behandelt sind, habe ich Prof. Brücke im 
August während seines Aufenthalts in Venedig, im September Prof. 
Schwalbe und Prof. du Bois-Reymond demonstrirt. 

3) Comptes rendus etc. 20 Decembre 1875. 

4) Monatsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften. 1875. 
S. 710 f& — [S. oben S. 462. — Red.] ’ 


DE a TE 


Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 525 


vorliegenden Fragen nicht mit solcher Bestimmtheit oder so zu 
sagen apodiktisch über Entwickelungserscheinungen äussern 
kann, wie das bei Beschreibung der nicht nervösen Platten- 
bildung der Fall war. Die Ursache wird aus allem Nächst- 
folgenden für Sachkundige von selbst verständlich. Unter 
Anderem fehlen auch einige Details, welche zu ergänzen ich 
schon begonnen habe. Was die Entstehung der elektrischen 
Nerven und Lappen betrifft, so habe ich für einen Journal- 
artikel schon genug gesagt. Zur ausführlichen Darstellung 
wäre ein ganzes Buch nöthis, daher muss ich mich hier auf 
einige weitere kurze Andeutungen beschränken. Nach der von 
mir schon beschriebenen Stufe der Entwickelung der Nerven- 
zellen vergrössern sich dieselben allmählich und fangen an 
nach allen Seiten Fortsätze auszusenden, welche anfangs breit 
abgestumpft und feinkörnig sind; nachher aber verjüngen und 
verästeln sich ihre Enden. Zu der Zeit, wo das Propterygium 
der Brustflossen die elektrischen Organe von hinten und an 
den Seiten umgiebt, findet man schon in den Lappen zwar 
sehr kleine, aber ganz fertige Nervenzellen; der Axeneylinder- 
fortsatz derselben lässt sich manchmal auf so lange Strecken 
isoliren, dass er eine Länge von ein bis zwei Millimetern er- 
reicht. Auch an so langen Axencylinderfortsätzen habe ich nie 
etwas an Kerne Erinnerndes gesehen. Sie erscheinen immer je 
nach der Behandlung ganz glatt und structurlos oder blass und 
ausserordentlich feinkörnig; nicht selten liegt in der feinkör- 
nigen Masse eine sehr feine structurlose Fibrille, was zum 
Schluss führen könnte, dass der Axencylinder nicht die un- 
mittelbare Fortsetzung des Protoplasma der Nervenzellen ist, 
sondern in und aus dem Protoplasma des Fortsatzes sich diffe- 
renzirt, wobei das Protoplasma sich später in feine Körnchen 
umwandelt. Um diese Verhältnisse zu sehen ist die schonende 
Behandlung nicht ausreichend; man muss ein starkes, sehr gutes, 
übercorrigirtes Objectiv brauchen. 

Die Nervenstämmehen verdieken sich immer unter fort- 
währender Zunahme der neuen Nervenfibrillen. Gleichzeitig 
schicken die Zweige der Nervenstämme in das Parenchym der 
künftigen elektrischen Organe immer mehr und mehr Aetes, 


526 A. Babuchin: 


welche dort allseitig in verschiedenen Schichten des elektrischen 
Organs manigfaltig gebogen verlaufen und scheinbare Maschen 
bilden. Auf welche Weise und aus welcher Ursache diese 
Verästelungen entstehen, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. 
Ich kann nur auf die eben beschriebene Thatsache hinweisen und 
hinzufügen, dass sowohl die Nervenstämmchen als ihre Aeste 
immer von einer Schicht dichtgedrängter Zellen umgeben sind. 
Mit der Zeit dringen vielleicht diese Zellen oder ihre Nachkömm- 
linge zwischen die Fibrillen und zerspalten auf diese Weise 
die Nervenstämme und ihre Verzweigungen in mehr und mehr 
dünne Bündel. Dadurch entstehen am Ende der Nervenzweige 
neue Aestchen, welche gegen die Säule sich richten und, wie 
ich schon oben gesagt, sehr oft nur wenige primitive Nerven- 
fibrillen enthalten. Hier schliessen sich die Endästchen an die 
Säulen sebr dicht an, indem sie entweder in der Länge, oder in 
schiefer oder querer Richtung verlaufen. Nach der Entfernung 
der darüber liegenden Zellen kann man sich vollkommen über- 
zeugen, dass manche einzelne Nervenfibrille an ihrem Ende 
sich in zwei, drei oder mehrere Aestchen theilt. Um das zu 
sehen, ist es unbedingt nothwendig, gute starke Wasser- 
objective und besser übercorrigirt als untercorrigirt in Verbin- 
dung, mit schwachen Ocularen (Nr. 2) zu brauchen. 

Auf welche Art und Weise diese Fibrillenästchen ent- 
stehen, ist sehr schwer zu bestimmen; da aber alle Merkmale 
fehlen, die auf irgend welche Art und Weise auf die Art der 
Entstehuzg der Aestchen weisen, so muss man annehmen, dass 
wir es hier mit Sprossenbildungen zu thun haben, was anderswo, 
wie wir später sehen werden, in der That geschieht. 

Man kann sich überzeugen, dass die Fibrillen, wie ich 
schon oben gesagt habe, wirklich in die Substanz der Säulchen 
eindringen, schon zu der Zeit, wo dieselben noch aus Bündeln 
einfacher und nackter embryonaler Muskelfasern bestehen; ihr 
weiteres Schicksal aber ist beinahe unmöglich zu verfolgen. 
Die Schnitte der Säulchen stellen nichts besonderes dar und 
nur in sorgfältig zerzupften Säulen kann man hier und da die 
Fibrillen wahrnehmen, welche grösstentheils längs der Muskel- 


Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u, s. w. 527 


fasern verlaufen. Diese Unbestimmtheit bleibt bis zur Ausbil- 
dung der elektrischen Platten. 

Jetzt muss ich daran erinnern, dass zwischen den embryo- 
nalen Muskelfasern, welche sich zu Bündeln resp. zu elek- 
trischen Säulen vereinigen, keine anderen Zellen vorhanden 
sind, oder wenigstens in sehr geringer Anzahl; dieser Zustand 
dauert bis zum Beginn der Metamorphose der Bauchenden der 
Muskelfasern. 

Von dieser Zeit an erscheinen die Plattenbildner mit in- 
neren Belegzellen umgeben, besonders an ihrer Basis. Diese 
Zellen nehmen ihren Ursprung; unstreitbar von äusseren Beleg- 
zellen. Sie sind von mannigfaltiger Form und aus ihren An- 
häufungen stehen nicht selten eine oder zwei Fibrillen heraus 
welche den Nervenfibrillen sehr ähnlich sind. Aber die näheren 
Verhältnisse dieser Fibrillen zu den Platten sind mir trotz aller 
meiner Bemühungen noch nicht klar. Wenn die Zellenhaufen 
an Ort und Stelle bleiben, so kann man zur Ueberzeugung 
kommen, dass einige von den genannten Fibrillen eigentlich - 
Fortsätze der spindelförmigen Zellen sind. Ein anderes Mal 
aber ist das nicht der Fall; die methodische Isolirung der 
Zeilen ist mir nie gelungen, wegen der Kleinheit der Platten- 
bildner zu dieser Zeit. Wenn es auch einmal gelingt bei 
hundertmaliger Vergrösserung die Zellen von der Basis mit 
einer Nadel zu entfernen, so schwimmen sie augenblicklich fort 
oder bleiben an der Nadel haften. 

Nachdem die Plattenbildner in Platten sich umwandelten, 
welche die ganze Dicke der Säulchen einnehmen, findet man 
folgende Verhältnisse: 

Die Platten sammt den Belegzellen bestehen aus zwei 
Schichten. Die dorsale Schicht bilden eigentlich durch Meta- 
morphose der Muskelfaser entstehende Platten. Sie sind je 
nach der Behandlung entweder ganz structurlos oder an der 
Bauchseite feinkörnig. In der Substanz derselben ist eine nicht 
besonders grosse Anzahl von runden Kernen eingebettet. Die 
Bauchschicht besteht aus runden, spindelförmigen und auch mit 
verästeltem Fortsatz versehenen Zellen. Manchmal sieht man, 
dass die eine oder die andere von den letztgenannten Zellen 


528 A. Babuchin: 


vermittelst ihres Fortsatzes mit einem Faden in Verbindung 
tritt, welcher von aussen kommt und aus einer sehr verlängerten 
oder aus zwei zusammengeklebten Zellen besteht. Man kann 
auch einen anderen Faden sehen, welcher mit anderen spindel- 
förmigen Zellen sich vereinigt. Grösstentheils aber fehlen diese 
Fäden ganz und gar. Bei genauer Betrachtung kann man 
sich überzeugen, dass in der sehr feinkörnigen Masse der Faden 
eine feine Fibrille durchläuft, und dass auch die mit ihm ver- 
bundenen Zellen in ihrer Substanz (aber nur bei sehr glück- 
licher Beleuchtung wahrnehmbare) eine Fibrille enthält; diese 
Fibrille steht ihrerseits wieder in Verbindung mit der Fibrille, 
welche in die Substanz von aussen kommender Fäden ein- 
gebettet ist. Die obengenannten Fäden sind unstreitig elek- 
trischeNervenfasern, welche nur aus der embryonalen Schwann’- 
schen Scheide und dem Axencylinder bestehen. Wir kennen schon 
die Entwickelung derselben. Anfangs bestehen sie aus feinen 
Fibrillen, welche sich nachher zu einem mit embryonalen 
Zellen umzogenen Stämmchen vereinigen. Wir wissen auch, 
dass mit der Zeit diese Zellen in die Substanz der Stämmchen 
eindringen und sie in Bündel zerspalten. Am Ende trennen sie 
auch die einzelnen Fibrillen von einander, indem sie dieselben 
rundherum umziehen und auf diese Weise die Schwann’sche 
Scheide bilden. Mit der Verlängerung der Fibrillen verlängern 
sich auch diese Zellen. Gleich nach diesem Process wird auch 
die Marksubstanz wahrnehmbar und zwar nicht an unversehrten 
Fasern, sondern nach dem Zerreissen derselben. Dann sammelt 
sich die Marksubstanz in verschiedenartig gestalteten Tröpfehen 
und Krümeln, welche nach ihrer Form an Myelin erinnern, 
aber viel blasser und mit doppelten, aber sehr feinen Conturen 
umgeben sind. Das weist darauf hin, dass die Marksubstanz 
bei erster Ablagerung andere (chemische?) Beschaffenheit als 
später hat. 

Jetzt fragt sich, ob die spindelförmigen und verästelten 
Zellen die Nervenfibrillenbildner sind, oder Bindegewebs- 
körperchen, welche zur Bildung der Schwann’schen Scheide 
dienen? Auf die erste, sowie auch auf die zweite Frage, kann 
man nur muthmassend antworten. Viele Erscheinungen sprechen 


‘ 


Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 529 


für die erste Voraussetzung und viele auch fürdie zweite, und 
das ist eben der schwierigste Punkt in der Entwickelungs- 
geschichte der Nervenendplatten, den ich jedoch noch zu über- 
winden hoffe; dafür aber liegt die weitere Entwickelung der- 
selben klar vor Augen. An jedem Ende der fibrillenhaltigen 
Zelle entstehen immer zwei Sprossen, welche mit der Zeit zu 
kleinen Aestchen aufwachsen, und wieder am Ende jedes dieser 
Aestchen bilden sich zwei Sprossen u. s. w. 

Das Protoplasma der Zellen begleitet immer diese sprossen- 
haft entstehenden Fibrillen, bildet aber immer eine dünnere 
und dünnere Schicht um sie herum, welche endlich ganz ver- 
schwindet. Das geschieht grösstentheils dort, wo zwei neue 
Sprossen entstehen, welche bei ihrem weiteren Wachsthum und 
Theilung vom Protoplasma einer neuen embryonalen Zelle um- 
zogen werden. Mit dem Wachsthum der aus Muskeln ent- 
stehenden Platten geht die Ramification der ' Nervenfibrillen 
immer vorwärts, bis es zu der feinsten und dichtesten Ver- 
ästelung oder der Bildung des sogenannten Netzes kommt, 
welches in und auf einer feinkörnigen Schicht gelagert ist. 
Hier entsteht diese sehr verwickelte Verästelung auch durch 
fortwährende Sprossenbildung, welche auch bei den erwachsenen 
Thieren fortdauert; bis zu welcher Zeit kann ich nicht sagen. 
Die Zahl der allerletzten Terminalästchen ist nicht gleichmässig 
an die verschiedenen Stellen der Platten vertheilt: an einer 
Stelle sind die Aestchen so dicht an einander gedrängt, dass 
man glauben könnte, wirkliche Netze vor sich zu sehen; an 
einer andern sind die Zwischenräume so gross, dass das rich- 
tige Verhältniss sogar mit Objectiv Nr. 5 von Hartnack und 
Oeular Nr. 2 gleich in’s Auge fällt. 

Einen ganz ähnlichen Prozess der Terminalverästelung habe 
ich auch bei der Entwickelung der motorischen Endplatten 
bei Torpedo ganz klar beobachtet. Dort entsteht die Terminal- 
verästelung auch durch Sprossenbildung. Darüber, dass hier 
zwischen Verästelung und Muskelsubstanz feine Körnchen vor- 
handen sind, habe ich mich schon längst und ausdrücklich 
ausgesprochen. 


Auf Grund von allem oben Gesagten können wir behaupten, 
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 34 


530 A. Babuchin: 


dass bei Torpedo ein im embryonalen Zustande sich befindendes 
motorisches Organ aus für uns unbekannten Ursachen, bei 
weiterer Entwickelung eine andere Bahn eingeschlagen, und 
zum elektromotorischen Apparat sich gestaltet hat. Die Muskel- 
fasern sind in Platten umgewandelt, denen physiologisch viel- 
leicht eine sehr geringe, möglicher Weise aber auch eine sehr 
wichtige Bedeutung zukommt. Dafür aber ist das, was sonst 
zur Erregung der Muskelcontraction bestimmt ist, (die moto- 
rische Endplatte), in Wesentlichem unverändert geblieben, und 
hat sich nur enorm entwickelt. Unter diesen Umständen rufen 
die motorischen Platten, wenn sie in Thätigkeit gesetzt werden, 
nicht Contraction hervor, sondern erzeugen mit dem, was sich 
contrahiren sollte, vielleicht auch ohne dasselbe, Elektrieität. — 

Der oben ausgesprochene und ungezwungen aus der Ent- 
wickelungsgeschichte entnommene Schluss findet glänzende 
Unterstützung in meinen Untersuchungen der Entwickelung der 
pseudoelektrischen Organe bei Rochen und bei Mormyrus; 
während, wenn de Sanctis Recht hat, er meinen Begriff von 
den elektrischen und pseudoälektrischen Organen ganz zerstören 
würde. Ich hoffe den Lesern klar darzustellen, dass, obwohl 
de Sanctis dasselbe, was ich gesehen, er die Erscheinungen 
gar nicht verstanden hat. Er schreibt: „Die folgenden Resul- 
tate der Untersuchungen an dem kleinsten Individuum von 
Raja Schultzii kamen mir Anfangs so unerwartet vor, dass ich 
es für nöthig fand, die Untersuchungen von Neuem anzustellen, 
bis ich die volle Ueberzeugung von ihrer Wirklichkeit gewann. 
Als ich mit der grössten Sorgfalt aus dem Schwanze der klein- 
sten Rochen (bei denen die Dicke des Schwanzes in dem 
Punkte, wo die pseudoälektrischen Organe beginnen, kaum ein 
Millimeter betrug) den M. sacrolumbalis mit dem pseudo&lek- 
trischen Organe, welches von ihm ausgeht, isolirte, sah ich, 
dass das elektrische Organ gleich der Sehne des ihm ent- 
sprechenden Muskels vom äussersten Ende desselben bis zu 
der Spitze des Schwanzes verläuft. Das vordere Ende des 
pseudo£lektrischen Organes ist zugespitzt und verbindet sich 
mit den mittleren Fasern des M. sacrolumbalis. Nach hinten 
verdickt sich das pseudoelektrische Organ, und nimmt die 


Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 531 


Form eines Konus an, dessen Seiten die Muskelfasern in 
schräger Richtung erreichen, indem sie von vorne ein Zehntel 
des pseudo£lektrischen Organes bedecken, und auf diese Weise 
eine Art von Scheide bilden ohne sich weiter fortzusetzen. Es 
befinden sich gewöhnlich in den Sehnen der Länge nach ver- 
laufende Fasern, welche durch Scheidewände, gleich einem 
Muskel in vieleckige Bündel getheilt werden, was man an 
Querschnitten beobachten kann. In den Sehnen findet man 
ausserdem auch Netze von feinen elastischen querlaufenden 
Fasern. Wir haben im pseudoelektrischen Organe, welches 
sehnenförmig aussieht, dieselben Verhältnisse, die hier aber 
viel deutlicher zum Vorschein kommen, denn Längsscheiden 
theilen das zugespitzte vordere Ende des Organs in zwei, dann 
je nach Verdickung des Organs in drei, vier oder mehr Ab- 
theilungen. 

In Folge dieser Längstheilungen entstehen viele Colonne 
beinahe von gleicher Grösse und auch diese Haupttheilungen 
des Organs haben dieselbe Form wie das ganze Organ, indem 
sie an dem vorderen Ende zugespitzt erscheinen, und sich in 
der Mitte immer verdicken, rückwärts sich aber wieder ver- 
jüngen. Ausser dieser Längstheilung giebt es noch andere 
Quertheilungen, weiche die der Länge nach liegenden Sehnen- 
bündel in gleicher Entfernung durchschneiden. Die Längs- 
bündel sind deswegen Schritt für Schritt unterbrochen, und 
das ganze Organ erscheint an der Oberfläche wie aus Vierecken 
bestehend gleich der Oberfläche einer Weizenähre (Fig. 28, IV). 
Die Elemente desselben sind im Arfang birnförmig, nachher 
in Folge des ‚gegenseitigen Druckes viereckig und von einander 
ganz isolirt, vermittelst Bindegewebes, welches Längs- und 
Querscheiden bildet. 

Jetzt wenden wir uns zu dem feineren Bau der Theile, 
welche das pseudoelektrische Organ bilden, und zu den in- 
timeren Beziehungen dieser Theile, zu Muskelfasern und 
Nerven. 

Wenn man diese Elemente mit Nadeln zerzupft, theilen 
sie sich der Länge nach und dann, wenn sie ein wenig gezogen 


werden, theilen sie sich auch der Quere nach. Das geschieht, 
34* 


532 A. Babuchin: 


nachdem ein Stückchen vom Organ zuerst in Alkohol oder 
Essigsäure gehalten wurde, oder wenn es in dieser Mischung 
von Essig und Alkohol längere Zeit gekocht wurde. Die ein- 
zelnen Stückchen, welche, so lange sie von einander gedrückt 
waren, quadratisch aussahen, werden im isolirten Zustande ab- 
gerundet und wirklich birnförmig. Am spitzen Pol des birn- 
förmigen Körpers befindet sich ein picciuolo (Stift) (Fig. 38, 
IV), welcher sich in eine Muskelfaser fortsetzt, welche, 
nachdem sie sich verjüngt hat und den Körper erreicht, mit 
dem Stift verschmilzt. Dieser Stift stellt so zu sagen den 
Anfang einer grossen Anzahl elastischer Maschen dar, welche 
eine Art von Skelet bilden, das dem Körper die Form ver- 
leiht. Diese elastischen Fasern sind eigentlich die intercellu- 
lare Substanz, welche Fasergestalt angenommen hat. Ausser 
diesen dicken Fasern giebt es noch feinere, welche mit ein- 
ander verklebt sind und dadurch vollkommener als die iso- 
lirten Fibrillen die Streifung dieser intercellularen Substanz 
behalten, welche alle elastischen Maschen anfüllt und an der 
Oberfläche des Körpers eine Decke bildet.“ (Solch’ einen 
klaren und eigenthümlichen Begriff hat de Sanctis von der 
mäandrischen Substanz!) „Um mich vollkommen von den Ver- 
hältnissen des Stieles des birnförmigen Körpers mit den Muskel- 
fasern zu überzeugen, musste ich mit grösster Vorsicht einen 
von diesen Körpern isoliren; dann habe ich ganz deutlich unter 
dem Mikroskop gesehen, dass die Muskelfaser, welche ihrer 
ganzen Länge nach eine gleiche Dicke behält, eine sehr klare 
Streifung darbietet und dann, wenn sie sich ihrem Ende nähert, 
sich um !/, oder !/, ihres Diameters verdünnt, eine weniger 
klare Streifung zeigt, aber statt dessen feinkörnig in diesem 
kurzen Raume erscheint und dann mit dem Stiele ver- 
schmilzt, wie schon angeführt. Wenn man das Ganze dieses 
Körpers betrachtet, so gleicht es einer Weizenähre, deren Haare 
durch Muskelfasern, die Samenkapsel durch die Fasern der 
feingestreiften Substanz und die Samen endlich durch einen 
Körper, von welchem wir sprechen werden, repräsentirt sind. 
Um die Structur eines Körperchens der pseudoelektrischen Or- 
gane gründlich kennen zu lernen, musste ich das Stückchen 


Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 533 


in verschiedener Weise bearbeiten. Was mir am besten gelang, 
war das einige Minuten lange Kochen des Stückchens in Sal- 
petersäure und chlorsaurem Kali. Mit diesen Mitteln habe ich 
sehr klar gesehen, dass das Körperchen, nachdem das Binde- 
gewebe vernichtet war, aus einem Knäuel von elastischen Fasern 
bestand, welche zu einem Netz verflochten sind. Diese Fasern 
verbreiten sich in der Weise, dass sie dem Körper das Aus- 
sehen eines Fensterwerkes in allen Richtungen verleihen (Fig. 31). 
In das Innere dieser Fenster dringen die kernhaltigen Nerven- 
fasern mit ihren letzten Enden ein, und so viel ich sehen 
konnte, sind sie in Verbindung mit Fortsätzen einiger stern- 
förmigen und anastomosirenden Zellen. 

Da die elastischen Körper in besondere Kästchen von 
membranösen Scheiben des Bindegewebes vertheilt werden, habe 
ich. mir folgenden Begriff: vom pseudoälektrischen Organ ge- 
macht: es entsteht aus einer Sehne, welche sich grösstentheils 
in elastische netzförmige Geflechte transformirt, welche sich in 
Körper verwandeln, von denen ein jeder für sich in besonderer 
Beziehung zu den Muskeln- und Nervenfasern steht. 

Die pseudoälektrischen Platten stellen sich im Anfange 
als birnförmige Körper dar, welche nichts Anderes, als ein 
Knäuel von elastischen zu einem Netze vereinigten Fasern sind, 
in welchem sternförmige Zellen eingebettet sind, die mit ihren 
Fortsätzen einerseits untereinander, andererseits mit Nervenfasern 
sich vereinigen. Diese birnförmigen Körper stehen auch ver- 
mittelst ihrer Stifte in Verbindung mit Muskelfasern“. 

Dies ist der Schluss, welchen de Sanctis aus seinen 
Untersuchungen zu ziehen sich bemüht. Dieser Schluss aber 
und alle seine Angaben stehen von Anfang bis zu Ende in 
diametralem Widerspruch mit meinen Beobachtungen. Er sagt, 
dass die Entwickelung der pseudoelektrischen Organe viel 
schwieriger zu studiren ist, als die der elektrischen Organe bei 
Torpedo, und beklagt, dass er nicht eine volle Reihe von Em- 
bryonen und kleinen Rochen gehabt habe. Ich behaupte, dass 
nichts leichter zu begreifen ist, als die Entstehung der pseudo- 
@lektrischen Organe. Es ist auch gar nicht nothwendig, sich 
eine grosse Zahl von Embryonen oder ganz junge Rochen zu 


534 A. Babuchin: 


verschaffen. Nöthigenfalls kann man sich mit einem einzigen 
Exemplar begnügen. Es ist ferner ganz gleich, von welcher 
Grösse der junge Roche ist, denn die Bildung der pseudoelek- 
trischen Organe dauert hier sehr lange Zeit. Wenn de Sanctis 
noch jüngere Rochen gehabt hätte, so hätte er vielleicht unab- 
sichtlich nicht die Entwickelung der pseudoelektrischen Organe, 
sondern die der Muskeln und motorischen Endplatten studirt. 

Es ist schon oft bemerkt worden, dass die Bestandtheile 
der pseudo£lektrischen Organe so angeordnet sind, ‘als ob sie 
die unmittelbare Fortsetzung des M. sacrolumbalis darstellten. 
Ich füge hinzu, dass dies nicht nur dem Schein nach, sondern 
auch in Wirklichkeit so sich verhält. 

Nach Entfernung der Haut am Schwanze eines jungen 
Rochen hat de Sanctis anstatt pseudoälektrischer Organe nur 
eine Sehne gefunden, welche bis zu der Spitze des Schwanzes 
sich ausdehnt. Als ich aber einen ganz durchsichtigen Schwanz 
von einem sehr jungen Rochen unter dem Mikroskop bei sehr 
sreller Beleuchtung betrachtete, fand ich, dass anstatt des 
pseudo£lektrischen Organs nur Muskelfasern da waren, welche 
sich sowohl willkürlich, als bei galvanischer Reizung heftig 
contrahirten. Im Wasser verhalten sich junge Thierchen ganz 
ruhig; dafür macht ein schmaler Endabschnitt des Schwanzes 
fortwährend sehr mannigfaltige wurmförmige Bewegungen, so 
dass manchmal die Hälfte des Schwanzes eine wellenförmige 
Linie darstellt. Bei älteren Rochen kann man dies nicht mehr 
bemerken. Die Muskelfasern haben ganz dieselbe Anordnung, 
wie im M. sacrolumbalis, mit dem Unterschiede, dass einzelne 
Muskelbänder, je mehr sie dem Schwanzende sich nähern, unter 
desto spitzerem Winkel sich vorne vereinigen, so dass sie un- 
weit vom Schwanzende beinahe parallel neben einander liegen. 
An isolirten Muskelfasern aus dem Gebiet, wo später pseudo- 
Elektrische Organe entstehen, kann man schon sehr klar mo- 
torische Endplatten unterscheiden, welche aus einer reichen 
Verzweigung grösstentheils einer einzelnen Nervenfaser mit 
Schwann’scher Scheide aber ohne Marksubstanz bestehen. 
Die Terminalästchen verbreiten sich merkwürdigerweise ganz 
dicht am hinteren Ende der Muskelfaser und zwar an der 


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Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 535 


inneren, d. h. zur Medianlinie des M. sacrolumbalis gekehrter 
Seite derselben. Grösstentheils aber nehmen die Aestchen oder 
motorischen Platten den natürlichen Querschnitt der Muskel- 
faser ein. Die näheren Verhältnisse kann man nicht in moto- 
rischen Endplatten unterscheiden, denn dieselben stellen sich 
immer nur in Profilansicht vor. Man kann nur sehen, dass an 
und zwischen den Aestchen die kleinen Zellen eingelagert 
sind, und dass zwischen der Muskelsubstanz und den Terminal- 
ästchen feine Körnchen vorhanden sind, welche aber an mit 
Säuren (ausser Chromsäure) behandelten Präparaten ganz un- 
wahrnehmbar werden. Bei etwas grösseren Thieren derselben 
Art (welche aber weder ich, noch die Zoologen von Fach be- 
stimmen können), sowohl an Längsschnitten des Schwanzes als 
an isolirten Muskelfasern, bemerkt man schon Veränderungen 
an denselben. Diese Veränderungen treffen die Muskelfasern, 
welche das mittlere Dritttheil des Schwanzes einnehmen, und 
bestehen darin, dass das Ende der Faser unter Vermehrung 
der Muskelkörperchen allmählich aufschwillt, so dass die Muskel- 
faser sich schliesslich in einen kolbenförmigen Körper umwan- 
delt. Zu derselben Zeit vergrössert sich: die motorische End- 
platte, indem die allerletzten Terminalästchen sich verdicken 
und an ihren Enden durch Sprossungsprocess immer zwei neue 
Aestchen produciren. Zwischen den Aestchen befindet sich 
auch zu dieser Zeit eine Anzahl kleiner embryonaler Zellen, 
von welchen einige spindelförmig sind. Mit der Vermehrung 
der Aestchen verbreiten sie sich mehr und mehr an der inneren 
Seite des Kolben. Auch in diesem Zustande antworten die 
kolbenförmigen Muskelfasern auf die galvanische Reizung. 
Willkürliche Contraction aber habe ich nicht bemerkt. Die 
Bewegungen des Schwanzes werden so zu sagen steifer. Es 
sind dies die corpuscoli piriformi de Sanctis, welche nach 
seiner Meinung aus Quertheilung der Sehnen entstanden sind 
und durch und durch, d. h. sowohl der Kopf als der Fortsatz, 
picciuolo, aus elastischen Fasern bestehen! 

Die kolbenförmigen Muskelkörper sind desto grösser, je 
mehr sie in der Mitte jedes Muskelbandes eingelagert sind; 
gegen das vordere wie das hintere Ende des Muskelbandes hin 


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536 A. Babuchin: 


aber verkleinern sie sich allmählich, so dass man zu gewisser 
Zeit an beiden Enden des Muskelbandes nur einfache Muskel- 
fasern finden kann. Im Ganzen hat das isolirte pseudo£lektrische 
Organ wirklich eine, wenn auch sehr entfernte Aehnlichkeit 
mit einer Weizenähre. Ich gebe hier eine schematische Ab- 
bildung des Uebergangs des M. sacrolumbalis in das pseudo- 
elektrische Organ. / 
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Fig. 2. 


Längsschnitt der Uebergangsstelle des M. sacrolumbalis in das pseudo- 

elektrische Organ a, a. Muskelfaserbänder; die Querstreifung ist nicht 

angegeben. b. die Muskelfasern des künftigen pseudo&lektrischen 

Organs, welche sich vom Winkel c. nach hinten allmählich zu kolben- 
föormigen Körperchen d. umwandeln. 


Die weitere Metamorphose der kolbenförmigen Muskelfasern 
besteht darin, dass der Kopf derselben in der Richtung von 
hinten nach vorn abgeplattet wird. Die Querstreifen, welche 
früher wie im Fortsatze so auch im Kopfe der Kolben beinahe 
parallel angeordnet waren, biegen sich jetzt mannigfaltig in der 
Kopfabtheilung (Plattenbildner) und stellen schon zu dieser Zeit 
eine mäandrische Zeichnung dar. Die motorische Endplatte 
verbreitet sich mehr und mehr auf dieser Seite. Die sprossen- 
artige Bildung der neuen Aestchen schreitet immer weiter 
vor. Die vermehrten Muskelkörperchen werden rund oder 
elliptisch und sind von der körnigen Masse, welche sich in 
Goldchlorid tief schwarz färbt, wie von einem Hof umgeben. 
Sie sind in der mäandrisch gestreiften Substanz nicht tief einge- 
bettet, wie Max Schultze glaubte, sondern liegen an ihrer 


Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 537 


Oberfläche. Die älteren Nervenästchen fangen schon an sich 
mit einer sehr feinen Schicht Marksubstanz zu umgeben. 

In Folge des Wachsthums wendet sich die mäandrisch 
gezeichnete Oberfläche nach vorn sammt der motorischen End- 
platte. 

Ich habe bis jetzt ausschliesslich auf die Bildung der quer- 
gestreiften oder mäandrisch gestreiften Substanz und auf die 
fortschreitende Entwickelung der motorischen Endplatte Rück- 
sicht genommen. Auf der entgegengesetzten Seite geht ein 
anderer Process vor sich; dort kann man, wenn die Muskel- 
fasern noch ein kolbenförmiges Ansehen haben, eine stärkere 
Muskelkernvermehrung unter gleichzeitiger Zunahme des sie 
umgebenden Protoplasmas bemerken. Man sieht eine unter- 
brochene Schicht von blassem, körnigem Protoplasma mit einer 
Anzahl eingebetteter, runder oder elliptischer Kerne. Aus dem 
Protoplasma entstehen mit der Zeit mannigfaltige Hervorragungen 
und kernhaltige Balken, welche sich unter verschiedenen Win- 
keln mit einander vereinigen, und auf diese Art bilden sich 
unregelmässige Vertiefungen, offene Lacunen zwischen densel- 
ben. Der Boden der Lacunen besteht aus durchsichtigem, 
kernhaltigem Protoplasma, durch welches mäandrisch gezeichnete 
Substanz schimmert. Mit dem Wachsthum des elektrischen 
Körpers nimmt die Zahl der Balken zu, sie wachsen in die 
Höhe wie in die Länge, wodurch die Lacunen sich auch ver- 
grössern und tiefer und abgerundeter werden. Auf dem Boden 
derselben entstehen wieder neue Balken und in Folge dessen 
neue Vertiefungen. So dauert dieser Process unter beständiger 
Kernvermehrung und Zunahme des Protoplasmas immer fort 
bis sich zuletzt der sogenannte Schwammkörper vollständig 
ausbildet, welcher von der hintern Seite ganz so wie ein Ab- 
schnitt von Froschlungen ohne Gefässe aussieht. Was den 
Fortsatz des früheren kolbenförmigen Körpers betrifft, so ver- 
liert er allmählich die Querstreifung und atrophir. Das 
geschieht aber sehr spät, und ich beobachtete diese Fortsätze 
noch an 15 Cm. langen Rochen. Die mäandrisch gezeichnete 
Substanz bildet nicht bei allen Rochenarten eine zusammen- 
hängende Schicht. Bei Raja quadrooculata wandelt sich die 


538 A. Babuchin: 


quergestreifte Muskelsubstanz in starke, kernhaltise und netz- 
artig verflochtene Fasern um, welche de Sanctis irrthümlich 
für elastische Fasern genommen hat, und als Skelet der 
pseudoelektrischen Platten betrachtet. 

Ich halte für überflüssig zu erwähnen, dass zwischen den 
elektrischen Platten sammt den dazu gehörenden Nerven binde- 
gewebige Scheiden sich entwickeln, so dass das elektrische 
Element von allen Seiten vom Bindegewebe umgeben bleibt; 
mit anderen Worten, in sogenannte Kästchen eingelagert ist. 

An gelungenen Längsschnitten des pseudoelektrischen Or- 
gans kann man an jedem spindelförmigen Hauptabschnitt des- 
selben, weleher aus früheren Muskelbändern entstanden ist, von 
vorn nach hinten folgende Schichten unterscheiden. 

1) Die dichte bindegewebige Scheide, welche theilweise 
Blutgefässe und auch vereinzelte starke Nervenfasern, oder 
kleine Bündel derselben enthält. 

2) Die Nervenfaserschicht, in welcher ungezwungen drei 
Lagen zu unterscheiden sind. 

a) Die vordere, welche grösstentheils markhaltige dicho- 
tomisch getheilte Nervenfasern enthält. 

b) Die mittlere, wo ausschliesslich nur marklose mit 
Schwann’scher Scheide versehene und dichotomisch 
verzweigte Nervenfasern sind. 

c) Die hintere Lage, die von zahlreichen Terminalver- 
zweigungen eingenommen ist. 

Der Charakter dieser Terminalverästelung ist ganz derselbe, 
wie der der Terminalverzweigung an früheren motorischen 
Endplatten, d. h., die Aestchen sind nicht horizontal gelagert, 
wie das z. B. bei Torpedo der Fall ist, sondern sie stre- 
ben in mehr oder weniger senkrechter Richtung zur hinteren 
Oberfläche der elektrischen Platten. Am Ende schicken sie 
Sprossen, welche sich in der feinkörnigen Masse verlieren, und 
so weit meine Erfahrung reicht, weder weit- noch engmaschige 
Netze bilden, wie Max Schultze sie beschrieben und 
abgebildet hat. Ausführliches darüber s. im nächstfolgenden 
Abschnitt dieses Aufsatzes. 


ne 


Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 539 


3) Die eben erwähnte feinkörnige Masse bildet eigentlich 
die dritte Schicht. 

4) Die vierte Schicht besteht aus mäandrisch gezeichneter 
Substanz. Zwischen diesen zwei Schichten sind grosse von 
einem Hof umgebene Kerne eingelagert. 

5) Die fünfte Schicht besteht aus dem Schwammkörper. 
Zwischen demselben und der nächstfolgenden bindegewebigen 
Schicht existirt ein mit Gallertgewebe erfüllter Raum, in wel- 
chem spärliche Biudegewebsfibrillen, feine elastische Fasern, 
zahlreiche sternförmige Zellen eingebettet sind und auch er- 
nährende Gefässe verlaufen. 

6) Weiter kommt wieder eine bindegewebige Schicht u. s. w. 

Die anisotropen Scheiben der Muskelfasern verlieren nicht 
ihre optische Eigenschaft, auch in der mäandrisch gezeichneten 
Substanz. Wenn man sie im farbigen polarisirtem Licht be- 
trachtet, so stellen sie sich entweder aus blau und purpur, oder 
aus gelb und purpur gefärbten Streifen bestehend dar, indem 
die bindegewebige Schicht meistens die umgekehrte Färbung 
annimmt. 

Die Mormyri betreffend, will ich hier nur erwähnen, dass 
bei ihnen die pseudoälektrischen Platten sich auf dieselbe Weise 
entwickeln, wie bei Torpedo und beim Rochen, jedoch mit dem 
wesentlichen Unterschiede, dass an der Bildung der pseudo- 
@lektrischen Platte der Mormyri viele kaum metamorphosirte 
und zusammengeschmolzene Muskelfasern theilnehmen, während 
bei Torpedo und dem Rochen jedes elektrische Element aus 
einer einzigen metamorphosirten Muskelfaser und sehr ent- 
wickelten Nervenendplatte besteht. Die pseudoälektrischen 
Platten bei Mormyrus sind eigentlich aus drei dicht zusammen- 
geklebten Blättern zusammengesetzt, Das vordere Blatt besteht 
nur aus einer ausserordentlich dünnen, structurlosen Membran, 
welche von der hinteren Seite mit einer Schicht mehr oder 
weniger feinkörniger Substanz bedeckt ist. Dieses Blatt ent- 
hält auch zahlreiche runde Kerne. Das zweite Blatt stellt 
nichts anderes als sehr abgeplattete, nach verschiedenen Rich- 
tungen gelagerte, quergestreifte und zusammengeklebte Muskeln 
dar. Das hintere Blatt wird durch eine sehr dünne, vor der 


540 A. Babuchin: 


inneren (resp. vorderen) Seite mit feinkörniger Schicht be- 
deckten Membran gebildet. Hier finden sich auch zahlreiche 
Kerne. Wenn man eine Platte im Ganzen unter dem Mikroskop 
betrachtet, so stellt sie sich mäandrisch gestreift dar. Die 
Streifen haben das Aussehen, als ob der eine aus feinen Körn- 
chen, der nächstliegende aber aus einer durchsichtigen structur- 
losen Masse bestehe. Das sind aber ganz falsche, von sehr 
leicht anzugebenden optischen Ursachen abhängige Bilder. 
In Wirklichkeit stellt das mittlere Muskelfaserblatt keine mäan- 
drische Zeichnung dar, sondern die Querstreifungen kreuzen 
sich unter verschiedenen Winkeln. 

Somit glaube ich mit volistem Recht zu behaupten, was 
ich schon viele Male ausgesprochen habe: Jedes elektrische 
und pseudoälektrische Organ, wenigstens bei Torpedo, bei allen 
Arten von Mormyrus, bei den Rochen und ganz sicher auch 
bei Gymnotus, ist ein metamorphosirtes Muskelorgan. Die 
Degeneration trifft mehr die Muskelfaser als den Nervenend- 
apparat. Dieser entsteht als motorische Endplatte und bleibt 
als solche bei allen möglichen Metamorphosen der Muskelfasern 
bestehen. Obwohl die Muskelfasern sich immer nach demselben 
Gesetze metamorphosiren, wandeln sie sich doch am Ende zu 
verschiedenen Körpern um, wenn sie auch überall dieselbe ge- 
netische Bedeutung haben. Es sind Formen, für welche der 
Name Platte ganz unpassend ist, und da dieser Name nicht 
selten mit Nervenplatte verwechselt wird, so glaube ich, dass 
die „elektrische Patte* aus der Beschreibung der elek- 
trischen Organe ganz und gar entfernt werden muss. Die 
Nomenklatur der Hauptbestandtheile dieser Organe wäre am 
besten nach ihren physiologischen Eigenschaften zu bilden. Da 
aber diese so gut wie unbekannt sind, so bleibt nichts übrig, 
als die Nomenklatur auf embryologische, gut bekannte Erschei- 
nungen zu gründen. Man kann sagen: Das elektrische Organ 
besteht aus elektrischen Elementen; jedes Element zerfällt in 
zwei Glieder. Das eine Glied entsteht aus Muskelprotoplasma; 
es muss darum als metasarkoblastisches Glied bezeichnet 
werden. Der andere Hauptbestandtheil aber muss nervöses 
Glied genannt werden. Die einzelnen Elemente sind von einander 


Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 541 


durch Bindesubstanz, was für eine es auch sei, getrennt und 
haben immer eine regelmässige Anordnung. Damit, glaube ich, 
können verschiedenartig gebaute und in verschiedenen Theilen 
des Körpers gelagerte elektrische Elemente zusammengefasst 
und auf ein allgemeines Schema reducirt werden. Der mor- 
phologische Hauptunterschied zwischen elektrischen und pseudo- 
elektrischen Organen besteht darin, dass dort embryonale, 
aber schon contractionsfähige, hier aber schon ganz entwickelte 
und functionirende Muskelfasern zum metasarkoblastischen 
Glied sich umzuwandeln beginnen. Dort geht die anisotrope 
Substanz zu Grunde, hier aber bleibt sie unversehrt bestehen. 


Erklärung der Abbildungen Taf. XI. 


Zitterroche. 


Fig. 1. Eine primitive elektrische Säule — resp. ein Bündel von 
embryonalen Muskelfasern, dicht mit äusseren Belegzellen umgeben. 

Fig. 2. Eine isolirte embryonale Muskelfaser aus dem Bündel. 

Fig. 3. Anfang der Metamorphose der embryonalen Muskelfaser 
(quastenförmiges Gebilde). A Plattenbildner; a protoplasmatischer Theil; 
5 die Kerne; B unveränderter Abschnitt der Muskelfaser. 

Fig. 4. Weitere Entwickelung des Plattenbildners. Die Bestand- 
theile sind aus Obigem ohne Weiteres begreiflich. 

Fig. 5. Plattenbildner von derselben Stufe der Entwickelung, nur 
von inneren Belegzellen umgeben. 

Fig. 6. Mehr vorgerücktes Stadium des Plattenbildners ohne 
Belegzellen. 

Fig. 7. Ein Stück von der embryonalen elektrischen Säule von 
eben genannter Stufe der Entwickelung. «a die Plattenbildner — de 
Sanctis’sche Schleimzellen; 5b äussere Belegzellen; c innere Beleg- 
zellen. r 

Fig. 8. Die Plattenbildner von der Zeit, wo sie schon abgeplattet 
sind, aber noch nicht den ganzen Diameter der Säule einnehmen. 
a durchsichtige Schicht; 5 Kernschicht; ce Rest der embryonalen 
Muskelfaser. 

Fig. 9. Optischer Durchschnitt der elektrischen Platte (Max 
Schultze) des metasarkoblastischen Gliedes (von mir). Die Zellen- 
haufen, welche die dorsale Oberfläche bedecken, sind entfernt. 


542 A. Babuchin: Uebersicht der neuen Untersuchungen u. s. w, 


Roche, 


Fig. 10. EineMuskelfaser aus dem M.sacrolumbalis von einem sehr 
kleinen Rochen. a die Stelle, wo die Muskelfaser anzuschwellen beginnt 
und wo die Kernvermehrung stattfindet; 5 motorische Endplatte, 

Fig. 11. Nach hinten nächstliegende Muskelfaser. 

Fig. 12. Eine Muskelfaser schon zum kolbenförmigen Körper 
umgewandelt. 

Fig. 13. Weitere Entwickelung sowohl des Plattenbildners wie 
auch der motorischen Endplatte. 

Fig. 14. Der Plattenbildner ist von vorne mit Nervenverzwei- 
gungen bedeckt. a eine Nervenfaser mit Schwann’scher Scheide. 


Erklärung der Abbildungen Taf. XII. 


Fig. 15. Pseudoelektrische Platte von der vorderen Seite. Die 
grossen Kerne gehören der Oberfläche der mäandrischen Schicht. Der 
Rest der Muskelfaser ist im Begriff zu atrophiren. Von der Nerven- 
faserschicht ist nur die vorderste, markhaltige, diehotomisch getheilte 
Lage, der Klarheit wegen, abgebildet. 

Fig. 16. Die Kehrseite des kolbenförmigen Körpers, welche nach 
ihrer Stufe der Entwickelung zwischen den in Fig. 12 und 13 ge- 
zeichneten Körpern steht. Im Centrum «a des Plattenbildners findet 
starke Kernvermehrung und Protoplasmaentwickelung statt. 

Fig 17. Anfang der Bildung der Balken aus dem oben genannten 
Protoplasma (erste Anlage des Schwammkörpers). 

Fig. 18. Kehrseite des pseudoelektrischen Elementes, welche 
Fig. 15 abgebildet ist. (Schwammkörper aus Balkennetz bestehend.) 
Die mäandrische Zeichnung, welche viel tiefer liegt, ist nicht ange- 
geben. 

Fig. 19. Kolbenförmiger Körper in polarisirtem Licht. 

Fig. 20. Querschnitt von einem sehr jungen aber schon ganz 
ausgebildeten elektrischen Elemente in polarisirtem Lichte. « Binde- 
gewebsschicht; d Nervenfaserschicht; ce mäandrisch gezeichnete Sub- 
stanz; d Schwammkörper; e Schleimschicht ; f Blutgefässe. » 


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Archiv f Anat u. Phys. 1876 Tax. 


Dr Dogel del. e I Grohmann sc 


Ein Beitrag zur Kenntniss des vermehrten mensch- 
lichen Fruchtwassers (Hydramnion). 


Von 


TH. WEyL, cand. med. 
(Aus dem physiologisch-chemischen Institut des Hrn. Prof. Hoppe- 
Seyler zu Strassburg i. E.) 


Die erste Analyse des vermehrten menschlichen Frucht- 
wassers (Hydramnion) wurde von Siewert ausgeführt.') Sie 
ist bisher die einzige geblieben. Die bei derselben befolgte 
Methode genügt den heutigen Ansprüchen kaum mehr. Glaubt 
doch Siewert von der Aufsuchung und Trennung der ein- 
zelnen organischen Stoffe in der untersuchten Flüssigkeit Ab- 
stand nehmen zu können, da dieselben seiner Meinung nach 
in dem unveränderten Fruchtwasser nicht vorhanden seien, 
sondern erst durch die Manipulationen der Chemiker aus den 
Eiweisskörpern entständen! Dem zu Folge fasst er unter dem 
Namen der „albuminösen Substanzen“ alle organischen Stoffe 
mit Ausnahme der Fette und des Harnstoffes zusammen. Diese 
Anschauung ist selbstverständlich unrichtig. 

Das Interesse des Arztes an dieser Analyse ist beinahe noch 
geringer als das des Physiologen, da die zum Verständniss und 
zur Charakteristik des Falles, von welchem das Fruchtwasser 
tsammt, nothwendigen klinischen Angaben durchaus fehlen. 

Unsere Kenntnisse von der Zusammensetzung des mensch- 
lichen Fruchtwassers bei Hydramnion sind also bisher äusserst 
geringe geblieben. Diese in etwas vermehren zu können, danke 


1) Zeitschr. f. d. ges. Naturw. 1863. Bd. XXI. S, 146 (Referat 
Centralbl, f. d. med. Wiss, 1863. S. 399. 


544 Th. Weyl: 


ich der Freundlichkeit des Hrn. Prof. Gusserow, welcher mir 
das Material für die folgenden Analysen überliess und die 
Benutzung der geführten Krankenjournale gütigst gestattete. 


Hydramnion I. 


Marie Müller, 22 Jahr alt, Dienstmagd, menstruirte seit 
dem 15. Jahre regelmässig alle vier Wochen. In ihrem 
14. Jahre bestand sie das „Schleimfieber*. Sonst ist sie stets 
gesund gewesen. 

Erste Geburt Mai 1871 (Bürgerspital zu Strassburg). Die 
Geburt dauerte 35 Stunden und wurde durch Kunsthülfe (Zange?) 
beendigt. Todtes Kind. Bis auf eine Vesico-Vaginal-Fistel 
normales Wochenbett. 

Zweite Geburt 1873: 

Seit der ersten Entbindung erschienen die Menses unregel- 
mässig. Noch im Jahre 1871 machte sie die Pocken durch. 
Sie ist jetzt von gesundem Aussehen. An der Schleimhaut der 
labia minora suspecte Röthungen. Im achten Schwangerschafts- 
monate wurde wegen Beckenenge die künstliche Frühgeburt 
nach Tarnier eingeleitet. Kind in zweiter Steisslage. Die 
unreife, lebende Frucht wog 2160 Grm. und war 43 Cm. lang. 
Gewicht der Placenta 445 Grm. Länge der Nabelschnur 54 Cm. 
Dauer der Geburt 9'!/, Stunde. Das Kind ging nach zwei 
Monaten durch schlechte Pflege zu Grunde. 

Dritte Geburt November 1875: 

Die Kreissende ist von gesundem Aussehen. Abdomen stark 
aufgetrieben. Deutliche Fluctuation. Geburt spontan im sie- 
benten Schwangerschaftsmonate. Schädellagee Wendung auf 
die Füsse. Das weibliche todte Kind wog 1447 Grm. und war 
39 Cm. lang. Gewicht der Placenta 650 Grm. Länge der 
Nabelschnur 59 Cm. 5500 Cem. Fruchtwasser. Geburtsdauer 
9°/, Stunden. 

Das Fruchtwasser war fast klar, gelblich, von alkalischer 
Reaction. Spec. Gewicht 1:007. 50 Cem. der ältrirten, 
völlig klaren Flüssigkeit wurden in einer Platinschale zur 
Trockne verdunstet und im Luftbade bei 120° so lange 
getrocknet, bis sich keine Gewichtsabnahme mehr bemerklich 


Beitrag zur Kenntniss des vermehrt. menschl. Fruchtwassers. 545 


machte. Der feste Rückstand betrug 11'855 p. M. Derselbe 
ergab bis zum völligen Verschwinden der Kohle geglübt 6°55 
p. M. anorganische Stoffe. Hieraus wurde die Summe der 
organischen Stoffe zu 5'3 p. M. berechnet. Der Wassergehalt 
betrug somit 958'15 p. M. 

Mucin. Versetzte man die Flüssigkeit mit wenigen 
Tropfen einer verdünnten Essigsäure, so erfolgte ein deutlicher 
Niederschlag, der sich im Ueberschusse der Säure nur unvoll- 
kommen löste. Der Niederschlag reducirte nach dem Kochen 
mit verdünnter H, SO, Kupfer in alkalischer Lösung, war so- 
mit Mucin.!) Dieser Körper liess sich aus seiner natürlichen 
Lösung durch CO, + viel H,O nicht fällen. Hierdurch war 
die Möglichkeit gegeben über die im Fruchtwasser enthaltenen 
und durch H,O + CO, fällbaren Globulinsubstanzen (siehe unten) 
Aufschluss zu erhalten. — Zur quantitativen Bestimmung des 
Mucins wurden 50 Cem. Fruchtwasser mit einem grossen Ueber- 
schuss mässig starker Essigsäure versetzt und drei Tage hin- 
durch bei niederer Temperatur stehen gelassen. Der Nieder- 
schlag wurde auf aschefreiem, gewogenem Filter mit Wasser, 
Alkohol und Aether ausgewaschen und bei circa 120° im Luft- 
bade getrocknet. Die Wägung ergab 0°] p. M. Mucin. 

Das Vorkommen dieses Körpers im menschlichen Frucht- 
wasser ist bereits von Scherer?) nachgewiesen worden. Seine 
Angaben scheinen in Vergessenheit gerathen zu sein; wenig- 
stens finde ich sie in den Lehrbüchern von Kühne, Gorup- 
Besanez (dritte Auflage) und Hoppe-Seyler (vierte Auflage) 
nicht erwähnt. — 

Das Mucin im Fruchtwasser stammt vielleicht aus der 
Wharton’schen Sulze des Nabelstrangs, in welcher sein Vor- 
kommen constatirt ist.?) 

Eiweisskörper. Das Vorhandensein von „Eiweiss“ in 


1) Hoppe-Seyler: Handbuch u. s. w., vierte Auflage, S. 260. 

2) Scherer: Zeitschrift f. wiss. Zoologie. Bd. I. S. 89 (1849). — 

Lassaigne (Ann. de chim. et de phys. t. XVII. p. 300 (1821) scheint 

einen ähnlichen Körper im Fruchtwasser der Kuh gefunden zu haben. 

3) Hoppe-Seyler: Handbuch u. s. w., vierte Auflage, S. 259. 
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 35 


546 Th. Weyl: 


der Flüssigkeit liess sich mit den bekannten Reaetionen nach- 
weisen. 

Das mit verdünnter Essigsäure neutralisirte Fruchtwasser 
zeigte nach Sättigung mit NaCl] (Steinsalz) noch nach 48 Stun- 
den keine Fällung. Die Flüssigkeit konnte also wesentliche 
Mengen von Myosin, fibrinoplastischer (Paraglobulin) und fibrino- 
gener Substanz nicht enthalten. Es ist dies zugleich ein 
Zeichen dafür, dass das Fruchtwasser mit Blut kaum verun- 
reinigt war. 

Verdünnte man das Fruchtwasser mit dem 20fachen Volum 
destillirten Wassers und leitete andauernd CO, hindurch, so 
erfolgte mit Eintritt der schwach sauren Reaction eine nicht 
unbedeutende Fällung eines Körpers, der sich durch seine 
Löslichkeit in NaCl-Lösung (10 pCt.) als Globulinsubstanz docu- 
mentirte. Kurze Zeit nach der Fällung!') löste sich der 
Niederschlag vollkommen in der NaCl-Lösung auf. Es war 
also das Mucin (s. 0.) durch H, O + CO, nicht mitgefällt 
worden. 

Der durch H, O+CO, erhaltene Niederschlag wurde durch 
Filtration in der Kälte isolirt und in NaCl (10 pCt.) gelöst, 
Die Lösung reagirte neutral. Sie gerann bei 75—80°. Der 
gefällte Körper war also Vitellin?) (Hoppe-Seyler) oder eine 
demselben sehr nahestehende Globulinsubstanz. Die Herkunft 
und physiologische Bedeutung dieses Körpers an dieser Stelle 
bleibt zunächst vollkommen unverständlich. 

Die klare, über dem Vitellin-Niederschlage befindliche 
Flüssigkeit gab, nachdem durch verdünnte Essigsäure eine 
Fällung nicht mehr erreicht werden konnte, noch einmal beim 
Kochen Coagulation. Hierdurch ist das Vorhandensein von 
Serumalbumin wahrscheinlich gemacht. 


1) Lässt man den gefällten Körper längere Zeit mit H,O in Be- 
rührung, so lösst er. sich in NaCl nicht mehr vollkommen. Er ist in 
ein Albuminat verwandelt. 

2) Hoppe-Seyler: Handbuch, 4. Aufass, S. 235 und Weyl: 
Pflüger’s Archiv, Bd. XII, S. 635. 


Beitrag zur Kenntniss des vermehrt. menschl. Fruchtwassers. 547 


Die quantitative Bestimmung des „Gesammt-Eiweisses“ 
ergab, nach Scherer’s') Methode ausgeführt, 3:5 p. M. 

Allantoin. Das Vorhandensein dieses Körpers wurde 
durch Darstellung einer organischen Ag- und Hg-Verbindung 
wahrscheinlich gemacht, welche ich nach dem Meissner’schen ?) 
Verfahren aus eirca 300 Cem. Fruchtwasser erhielt. Nach 
Zersetzung dieser Verbindung durch H, S gewann ich aus der 
concentrirten wässrigen Lösung beim Trocknen über H, SO, 
Krystalle, welche mit denen des Allantoins übereinzustimmen 
schienen. Zu einer As-Bestimmung reichte das gewonnene 
Material nicht aus. 

Auf Harnsäure wurde nicht geprüft. 

Harnstoff. Der Nachweis von Harnstoff gelang nach Ent- 
fernung der Eiweisskörper durch Coagulation, Ausfällung der 
Phosphorsäure und der Chloride durch die Liebig’sche Reaction; 
ferner nach Neutralisation des Fruchtwassers mit verdünnter 
Essigsäure durch das Fermentpapier von Musculus;°) endlich 
durch Darstellung der Krystalle, welche in H, O oder Alkohol 
gelöst die bekannten Reaetionen zeigten. 

Zucker liess sich nicht nachweisen (vergl. Hydramnion II.) 

Beim Aufsuchen der Milchsäure nach dem Verfahren 
von Liebig,*‘) wurde ein entscheidendes Resultat nicht er- 
halten.°) 

In dem HCl-Auszug der Asche fand sich CaO, der als 
oxalsaurer Kalk nachgewiesen wurde.°) 


Hydramnion 11. 


Barb. Hirn, 27 Jahre alt, Dienstmädchen, war stets gesund 
und menstruirte seit dem 15. Jahre meist regelmässig in drei- 
wöchentlichen Perioden. — Erste Geburt: 1869 normal, ohne 
Kunsthülfe. Das Kind starb nach neun Monaten. Zweite Ge- 

1) Hoppe-Seyler: Handbuch, 4. Auflage, S. 336. 

2) Hoppe-Seyler: Handbuch, S. 175. 

3) Musculus: Pflüger’s Archiv XII, 8. 214. 

4) Hoppe-Seyler: Handbuch. S. 96. 

5) Siehe Hydramnion II. \ 

6) Siewert a. a. 0. konnte CaO in der Asche des von ihm 


untersuchten Fruchtwassers nicht auffinden. 
3 


NEE NT BR RT TAN 


548 Th. Weyl: 


burt 1874: Schieflage. Wendung. Profuse Blutung nach der 
Geburt. Kind lebte !/s Jahr. 

Dritte Geburt den 20. Januar 1876: Die Kreisende ist 
kräftig gebaut. Gesichtsfarbe etwas blass. Seit der ersten 
Entbindung besteht unterbrochen Fluor albus. Die Messung 
ergab ein fast normales Becken. Starke Fluctuation des Leibes. 
Andauernde Krampfwehen. Künstlicher Blasensprung. Das 
Kind, weiblichen Geschlechts, stellte sich in zweiter Schädel- 
lage und ward ohne Kunsthülfe geboren. Es lebte, war aber 
schlecht entwickelt. Länge 46 Cm. Gewicht 2380 Grm. Es 
entsprach also ungefähr der Mitte des neunten Monats. 

Die Placenta wog 460 Grm. Länge der Nabelschnur 46 Cm. 
Dauer der Geburt 22 Stunden. Es wurden 4000 Cem. Frucht- 
wasser aufgefangen. 

Das Kind starb nach 24 Stunden. Die Section ergab starke 
Atelektase der Lunge, besonders des mittleren rechten Lappens. 
Nirgends Oedeme. Das Wochenbett verlief normal. 

Das Fruchtwasser ist mit geringen Spuren von Blut ver- 
unreinist, von röthlich gelber Farbe, etwa trübe. Sparsame 
Fibrincoagula. Reaction neutral oder schwach alkalisch. Menge 
4000 Cem. Spec. Gewicht 1'008, 

Die Analyse dieses Fruchtwassers wurde nach Hoppe- 
Seyler’s Angaben!) mit geringen Abänderungen ausgeführt. 
Die Resultate derselben sind unten zusammengestellt. 

Mucin wurde in einer besonderen Portion nach der bei 
Hydramnion I angegebenen Methode bestimmt.?) Es wurden 
0:2 p.M. erhalten. 

Von Eiweisskörpern enthielt die Flüsigkeit ausser 
Serumalbumin auch noch Paraglobulin (fibrinoplastische Sub- 
stanz). Letzterer Körper ist wahrscheinlich als Verunreini- 
gung durch das Blut zu betrachten. Da, wie ich mich 
überzeugt habe, Paraglobulin aus seinen neutralen Lösungen 
durch NaCl bei Sättigung nicht vollkommen‘) ausgefällt wird, 


1) Hoppe-Seyler: Handbuch, S. 373. 

2) Wenn nicht anders angegeben ist, so gelten im Folgenden für 
den Nachweis der Körper die bei Hydramnion I befolgten Methoden. 

3) Weyl: Pflüger’s Archiv, Bd. XII, S. 636. 


Beitrag zur Kenntniss des vermehrt. menschl. Fruchtwassers. 549 


so konnte nicht versucht werden, das Vorhandensein des vitellin- 
artigen Körpers (vergl. Hydramnion I) zu constatiren, welcher 
durch CO, oder durch H, O + verdünnte Essigsäure in gleicher 
Weise wie das Paraglobulin gefällt worden wäre und noch dazu 
in 10pCt. NaCl-Lösung denselben Coagulationspunkt!) hat wie 
dieses. 

Wir haben also bisher kein Mittel Paraglobulin und Vitellin 
nachzuweisen, wenn sie in derselben Flüssigkeit neben einander 
vorkommen. 

Harnstoff wurde sicher, Allantoin mit grösster Wahr- 
scheinlichkeit constatirt. Das Allantoin stammt jedenfalls aus 
dem Harne des Foetus.?) Sein Vorkommen im Fruchtwasser 
ist ein neuer Beweis dafür, dass der Harn des Kindes eine 
Quelle des Fruchtwassers ist.°) 

Da Frerichs und Staedler, später auch Köhler‘) das 
Allantoin im Harne von Hunden nach gestörter Respiration 
auftreten sahen, so wäre zu untersuchen, ob sich dieser Körper 
im Fruchtwasser und Harne von Kindern, welche stark asphyk- 
tisch geboren werden, vielleicht besonders reichlich vorfindet. 
} Zucker konnte in diesem Fruchtwasser ebensowenig con- 
statirt°) werden als in Hydramnion I. Das Fehlen dieses 


1) Weyl: Pflüger’s Archiv, Bd. XII, S. 636." 

2) Hoppe-Seyler: Handbuch, S. 174. — Gorup-Besanez; 
phys. Chemie (3. Auflage) S. 246; — Neubauer und Vogel: Harn- 
analyse (7. Auflage) S. 111; — Parrotet Robin: Compt.-Rend. 1876, 
p. 105 und Archiv. gen. de med. 1876, p. 312 und 329 No. 9. 

3) Will man durch die S. 547 angegebenen Reactionen das Vor- 
handensein des Allantoins im Fruchtwasser aus dem sieberten 
Schwangerschaftsmonate für bewiesen erachten, so wäre zu folgern, 
dass der Fötus bereits im siebenten Monate in das Fruchtwasser 
urinirt. 

4) Neubauer und Vogel: Harnanalyse, 7. Auflage, S. 409. 
— Gorup-Besanez: phys. Chem. $. 610. 

5) Auch Cl. Bernard (Physiol. exper. I, 403 [1855]) und Ma- 
jewsky (de substantiarum quae liquoribus amni et allantoidis in- 
sunt diversis rationibus. Diss. inaugrls. Dorpat 1858 [eitirt nach 
Schmidt’s Jahrbücher, Bd. UI, S. 155]) fanden, im menschlichen 
Fruchtwasser niemals Zucker. 


550 Th. Weyl: 


Körpers scheint für das menschliche Fruchtwasser charakte- 
ristisch zu sein. Im Fruchtwasser des Schweins und der Kuh 
wurde Zucker von Majewsky und anderen stets aufgefunden.t) 

Aus eirca 500 Cem. Fruchtwasser liess sich nach Liebi g’s 
Methode zur Aufsuchung der Milchsäure?) das Zink-Salz 
einer Säure darstellen, welches in seinen chemischen Eigen- 
schaften mit denen des milchsauren Zinks übereinstimmte. 
Das erhaltene Material war für eine Zink-Bestimmung nicht 
ausreichend. 

Kalk wurde im HOl-Auszuge der Asche nachgewiesen (vergl. 
Hydramnion I). 


Zusammenstellung der Analysen des vermehrten menschlichen Frucht- 
wassers (Hydramnion). 


Siewert 

lg! | Weyl. Weyl. 
Zahl der Schwangerschaft . | keine Angabe 3 3 
Monat der ln keine Angabe VIl IX (Mitte) 
Spec. Gewicht... . . 1021 1'007 1'008 
Massen na  erlae : 985°88 98815 98822 
Fester Rückstand NE AUUNG | 1412 11'85 11'78 
Organische Stofe ... . . 7:06 9'350 6:13 
ASCHem NA REDEN. N 7:057 6'55* 565* 
Bösliche Salze . 2»... — —_ 546 
Unlösliche Salze... . . — — 019 
Wasser- Auszug .......... — = 1:48 
Aether-Auszug. . . .. . _ _ | 1:04 
Motte male re AN (EYE 0'277 _ | — 
Alkohol-Auszug . . . . . N, = 1:04 
ZUCKER NEN CR EN nein nein nein 
Nilchsaures El a een — zweifelhaft -| wahrscheinl. 
Eiweiss. . . NR RN — 3:50 E37 
Serumallumin ERBEN AH — wahrscheinl. | wahrscheinl. 
Nivellinee une do cm Dane — ja _ 
IMueinaı a ner: anal — 01 02 
Hannstolt sc nee. ra A 0'352 ja ja 
Allantouns en. — wahrscheinl. | wahrscheinl. 
Albuminöse Substanzen. . 6'434 —_ — 
NEE Be nein ja ja 


* Die Werthe für die Aschen sind durch zu lange fortgesetztes 
Glühen wohl etwas zu niedrig ausgefallen. 

1) Majewsky a. a. O. 

2) Hoppe-Seyler: Handbuch, $. 96. 


Beitrag zur Kenntniss des vermehrt. menschl. Fruchtwasseis. 551 


Soweit die Analysen. 

Ehe wir daran denken könnten, dieselben zu irgend welchen . 
Schlüssen zu benutzen, ist sicher zu stellen, dass es sich in 
den beiden mitgetheilten Fällen wirklich um Hydramnion ge- 
handelt hat. 

H. Jungbluth!) hat bekanntlich in den von ihm unter 
Rindfleisch’s Leitung untersuchten Fällen von Hydramnion Ca- 
pilargefässe — von ihm als Vasa propria bezeichnet — in der 
oberflächlichsten, dem Amnion dicht anliegenden Schicht der 
Placenta durch Injection nachgewiesen. Da er diese Gefässe 
bei normaler Fruchtwassermenge stets obliterirt fand, schloss er, 
dass Hydramnion durch das Offenbleiben dieser Gefässe und 
durch die anormale Fortdauer des Transsudationsprocesses 
aus dem Blut entstände, welcher bei Obliteration dieser Oapil- 
laren zur physiologischen Zeit unmöglich gemacht sei. Diese 
Beobachtungen Jungbluth’s haben durch Lewison?) ihre 
Bestätigung gefunden. 

In jüngster Zeit versuchte nun Sallinger in seiner unter 
Frankenkhäuser’s Leitung angefertigten Dissertation Jung- 
bluth’s Lehre der Entstehung von Hydramnion zu erschüttern. 
„Mechanische Störungen des foetalen Kreislaufes, oder Ver- 
änderungen der foetalen Blutmasse, nicht besondere anatomische 
Einrichtungen der Placenta, wie Jungbluth will, erzeugen 
das Hydramnios.“ °) 

In den zwei Fällen von Hydramnios, welche oben mitge- 
theilt sind, wurden keine Gründe für die Annahme einer 
mechanischen Störung des foetalen Kreislaufs aufgefunden. 


1) H. Jungbluth: Beitrag zur Lehre vom Fruchtwasser und 
seiner übermässigen Vermehrung. Jnaugr. Dissert. Bonn 1869. 

2) Lewison: Bidrag til Laron om Fostervandet og den ab- 
norme Forygelse af dettes Monz de Kjöbenharn. Kurzes Referat in 
Virchow-Hirsch’s Jahresbericht für 1873, II, 650. Das Original 
war mir nicht zugänglich. 

3) Sallinger: Ueber Hydramnios im Zusammenhange mit der 
Entstehung des Fruchtwassers. Inaugr. Dissert. Zürich 1875. S. 18.— 
Ich verdanke die Kenntniss dieser Abhandlung der Freundlichkeit des 
Hrn. Cand. med. A. Hoffmann in Strassburg. 


552 Th. Weyl: 


Dass in Fällen von Hydramnion eine Veränderung der 
foetalen Blutmasse vor sich gegangen wäre, ist meines Wissens 
von Niemand bewiesen. 

Jungbluth’s Vasa propria sollen mit der Entstehung von 
Hydramnion nichts zu thun haben, weil Sallinger')Fällekannte, 
„bei welchen gerade in den späteren Monaten der Schwanger- 
- schaft eine plötzliche und rapide Vermehrung des Frucht- 
wassers beobachtet wurde, und schon durch Gassner’s Unter- 
suchungen nachgewiesen ist, dass die Fruchtwassermenge in 
den letzten Monaten der Gravidität nicht ab- sondern zunimmt“. 

Sind das wirklich Einwände gegen Jungbluth’s An- 
schauungen ? 3 

Wie, wenn die fast obliterirten Vasa propria bei einer plötz- 
lichen Drucksteigerung im mütterlichen Kreislauf dem unge- 
stümen Andrange des Blutstromes nicht hätten widerstehen 
können und nach Loslösung oder Zertrümmerung der frischen 
Thromben eine neue Transsudation in die Amnioshöhle hätten 
gestatten müssen ? 

Ferner ergiebt sich aus Gassner’s Beobachtungen,?) dass 
die Zunahme des Fruchtwassers vom siebenten bis zum zehn- 
ten Monate der Schwangerschaft ungefähr 0:87 Kilgr. beträgt. 

Sollte sich also nicht die Zunahme des Fruchtwassers in 
den letzten Schwangerschaftsmonaten mit Leichtigkeit durch 
die auch von Sallinger°) acceptirte Thatsache erklären lassen, 
dass der Foetus in’s Fruchtwasser urinirt? 

Wie dem auch sei — jedenfalls ist dadurch, dass Sal- 
linger eine unter hohem Drucke durch die Nabelvene gepresste 
Flüssigkeit, an deren Oberfläche transsudiren sah,*) nicht „zu- 
gleich der Nachweis geliefert... .., dass es keiner eignen 
Gefässe (vasa propria) zur Abscheidung... .... (des Frucht- 
wassers) bedarf.“ >) 


IN a. 0080 

2) Gassner: Monatsschrift für Geburtskunde XIX, 31 (1862) 

3) A. 2. 0,8. 60% 

4) A. a. O., S. 78. Versuch Nr. 2. 

5) A. a. O., S. 76.-- Sallingers Transsudationsversuche von der 
uterinen Fläche der Placenta aus (S. 100) sind erst recht nicht be- 


Da 
> +, 


Beitrag zur Kenntniss des vermehrt. menschl. Fruchtwassers. 553 


Gesetzt aber auch, die Transsudationsversuche Sallinger’s 
hätten bewiesen, „dass!) sowohl das Fruchtwasser sowie auch des- 
sen übermässige Vermehrung (Hydramnios) das directe Transsu- 
dationsproductder Vene der Nabelschnurund deren Verzweigungen 
in der Placenta foetalis ist,* so bliebe immer noch zu beweisen 
übrig, dass normales und vermehrtes nicht auch durch die 
Vasa propria transsudiren könnten. 

Sallinger hat sich offenbar von dem Vorhandensein oder 
Fehlen der Vasa propria überhaupt nicht überzeugt; er hat — 
was für ihn nahe genug liegen musste — nicht einmal ver- 
sucht, die Vasa propria in der Placenta einer ausgetragenen 
Frucht bei normaler Fruchtwassermenge nachzuweisen und da- 
durch Jungbluth’s Lehre zu entkräften. 

Für mich bleibt es also vorläufig bei Jungbluth’s Lehre. 
Ja, ich bin geneigt anzunehmen, dass bei Hydramnion die 
Störungen im mütterlichen und im foetalen Kreislaufe zum 
grösseren Theile nicht Ursache sondern Folge des Hydram- 
nion sind. 

Obgleich nun in den zwei Fällen, deren Fruchtwasser von 
mir untersucht wurde, weder mechanische Störungen des foe- 
talen Kreislaufs noch Veränderungen der foetalen Blutmasse 
constatirt wurden, so halte ich mich trotzdem für berechtigt 
sie als Hydramnion zu bezeichnen. 

Es geschieht dies in Uebereinstimmung mit Schröder,?) 
der jede übermässige Anhäufung von Fruchtwasser in der 
Amnionhöhle—ohne Rücksicht auf deren Entstehung— Hydram- 
nion nennt. 

In unserem Falle I wurden über 5:5 K. Fruchtwasser auf- 
gesammelt, in Fall II 4 K. Wir finden also, wenn wir Gass- 
ner’s Angaben?) zu Grunde legen: 1'004 K. für den siebenten 
Monat, 1'618 K. für den neunten Monat — das Fruchtwasser 
ım Fall Ium 45 K., ım Fall II um 2'4 K. vermehrt. 


weisend. — Ich glaube, dass bei genügendem Druck die meisten 
thierischen Gewebe Flüssigkeiten durch sich durchlassen werden. 

HD) AvIar 0:8. 76. 

2) Schröder: Lehrbuch der Geburtshülfe, 4. Aufl. S. 409. 

3) Gassner: Monatsschrift für Geburtskunde (1862). Bd. 19, 31. 


954 Th. Weyl: 


Ferner darf ich hinzufügen, dass es Hrn. Prof. Waldeyer 
gelang, im Amnios von Fall I die Vasa propria durch Injection 
nachzuweisen. ?) 

Gestützt auf Gassner’s Angaben über die normale Frucht- 
wassermenge, auf Schröder’s Definition des klinischen Be- 
sriffes Hydramnion, endlich auf den Nachweis der J ungbluth’- 
schen Öapillaren in Fall I, sind wir anzunehmen berechtigt, 
dass es sich in den beiden mitgetheilten Fällen um Hydram- 
nion gehandelt habe. Welche Schlüsse gestatten nun die mit- 
getheilten Analysen ? 

Durch Scherer’s,’) Majewsky’s,‘) Gassner’s’) und 
Anderer Arbeiten sind die Veränderungen des normalen mensch- 
lichen Fruchtwassers in den einzelnen Schwangerschaftsmonaten 
mit einiger Sicherheit ermittelt worden. 

Es musste versucht werden, ob sich ähnliche Gesetze nicht 
auch für das Fruchtwasser bei Hydramnion auffinden liessen, 
was bißher nicht geschehen ist. 

Da nur die eine oben besprochene Analyse des vermehrten 
Fruchtwassers von Siewert publicirt ist, muss dieser Versuch 
für jetzt unterbleiben. 

Als ich nun ferner die mir zugängliche Literatur durch- 
suchte, um Analysen des normalen menschlichen Fruchtwassers 
aus dem siebenten und neunten Schwangerschaftsmonate auf- 
zufinden und deren Ergebniss mit den Resultaten der Analysen 
des Fruchtwassers bei Hydramnion zu vergleichen, ergab sich, 
dass solche bisher nicht existiren, obgleich sich Chemiker und 
Physiologen bereits seit mehr als fünfzig Jahren‘) mit der 
chemischen Zusammensetzung dieser Flüssigkeit beschäftigen. 


2) In Fall II konnte der Nachweis der Vasa propria aus äusseren 
Gründen nicht versucht werden. 

3) Scherer: Zeitschrift für wiss. Zoologie. I, 89 (1849) und 
Würzburger Verhandlg. II, 2 (1851). 

4) Majewsky,.a.a.0. 

HrA:.a.LO. 

6) Die erste Analyse des menschlichen Fruchtwassers von Buniva 
und Vauquelin stammt aus dem Jahre 1800. Ich kenne bisher 
überhaupt nur 15 Analysen dieser Flüssigkeit und habe Grund zu 
zweifeln, dass sich in der Literatur mehr vorfinden, 


Beitrag zur Kenntniss des vermehrt. menschl. Fruchtwassers. 555 


Die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen möchte dem 
Einzelnen kaum gelingen. 

Hier ist für Viele ein Feld zu lohnender Arbeit. 

Hrn. Prof. Hoppe-Seyler, meinem verehrten Lehrer, 
sage ich für seine freundliche Unterstützung, die mir auch bei 
dieser Arbeit zu Theil wurde, meinen besten Dank. 


Strassburg i. E., August 1876. 


Ueber das Verhältniss der Kohlensäure-Abgabe 
zum Wechsel der Körperwärme. 


Von 


Dr. Huco ERLER. 
(Aus dem physiologischen Institut zu Königsberg i. Pr.) 


Es ist eine bekannte Thatsache, dass den respiratorischen 
Gasaustausch, d.h die Umwandlung der O-reichen Inspirations- 
luft in O-ärmere und CO,-reichere Exspirationsluft die mannig- 
faltigsten Umstände beeinflussen. So wissen wir, dass nicht 
nur die Athembewegungen, wie Athemfrequenz und Tiefe der 
Athemzüge, sondern auch das Lebensalter, die Ernährung, die 
Beschaffenheit der Einathmungsluft u. s. w. auf den CO,-Gehalt 
der Exspirationsluft von erheblichem Einfluss sind. Da nun 
die thierische Wärme mit der Lebensprocessen des Thiers 
gradezu identisch ist, und da als Maass für die vitalen Processe 
ein Product derselben, die CO,, angesehen wird, so musste von 
vornherein angenommen werden, dass mit den Aenderungen der 
Temperaturen im thierischen Körper ebenfalls ähnliche Aende- 
rungen der CO,-Ausscheidungen einhergehen werden. Es war 
daher die Aufgabe der vorliegenden Arbeit, genauer zu prüfen, 
welchen Einfluss der Temperaturwechsel im thierischen Körper 
auf die CO,-Ausscheidungen ausübe. Es schliessen sich meine 
hierüber angestellten Versuche an die unlängst im Druck er- 
schienene Arbeit von A. Adamkiewicz: Die Analogien zum 
Dulong-Petit’schen Gesetz u. s. w.!) an, auf dessen Anregung 


1) Dies Archiv 1875. 8. 78. 


ar 


Ueber das Verhältniss der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 557 


sie unternommen ist, indem ich das Verhältniss der CO,-Abga- 
ben zu denjenigen Temperaturänderungen, deren Gesetze in der 
erwähnten Schrift näher erörtert sind, festzustellen suchte. 


Methode. 


Der Apparat, welchen ich zu meinen Untersuchungen be- 
nutzte, war folgendermaassen construirt: Dem Thier wurde 
über die Schnauze eine Kautschuckkappe mit gabelförmig ge- 
 theiltem Rohr gezogen, durch dessen einen Arm, welcher mit 
einem Müller’schen Flaschenventil in Verbindung stand, die 
Inspirationsluft einströmte; der andere Arm, der Weg der 
Exspirationsluft, stand durch einen Kautschuckschlauch mit 
einer gekrümmten Glasröhre in Verbindung, in welcher sich 
mit concentrirter Schwefelsäure getränkte Glasperlen befanden, 
um den in der Exspirationsluft enthaltenen Wasserdampf zu 
binden. Von da strömte die Luft durch den mit Kalilauge zur 
Hälfte erfüllten Geissler’schen Kugelapparat zur Absorption 
der CO,. Dieser letztere Apparat wurde vor und nach jedem 
Versuch auf’s genaueste gewogen; die Differenz zeigte dann 
die Menge der absorbirten CO, an. Um den Moment zu er- 
kennen, wo die Kalilauge von der aufgenommenen 00, gesät- 
tist war, stand diese letzte Vorrichtung noch mit einer Baryt- 
lösung in Verbindung, die sich trübte, sobald CO, mit über- 
geführt wurde, und so den Zeitpunkt angab, die gesättigte 
Kalilauge zu erneuern. War das Respirationshinderniss wegen 
der verschiedenen flüssigen Medien, welche die exhalirte Luft 
durchströmen musste, für besonders kleine Thiere zu gross, so 
verband ich den ganzen Apparat mit einer Saugvorrichtung, 
bestehend in einer mit Wasser gefüllten Flasche, an deren 
Boden sich zum Abfluss des Wassers ein Ausflussrohr befand, 
so dass durch Verringerung der Wassermenge im oberen Theil 
der Flasche ein luftverdünnter Raum entstand, der die im Apparat 
befindliche Luft ansog. 

Als Versuchsthiere dienten mir Kaninchen, deren Gewicht 
und Temperatur vor jedem Versuch festgestellt und deren 
CO,-Abgaben zuerst im freien Zustand gemessen wurden, ehe 


558 Hugo Erler: 


ihre Temperatur physiologisch oder physikalisch modificirt wurde. 
Wie schon erwähnt, schliessen sich meine Untersuchungen an 
die Wärmebestimmungen von Adamkiewicz an, der zunächst 
feststellte, dass, sobald man Thieren die Freiheit nimmt, ihre 
Temperatur continuirlich bis zu einer gewissen Grenze, die 
„minimale“ von ihm genannt, herabsinkt, dann aber Schwan- 
kungen unterworfen ist, die bald über bald unter das Niveau 
jener Grenze fallen und bezüglich des Umstandes, dass dieser 
Temperaturabfall lediglich eine Folge der Muskelruhe ist, nennt 
er ihn einen „physiologischen“. Meine Versuche sind 
gewissermaassen Controlversuche zu den seinigen, die nur in- 
sofern eine Erweiterung erlitten haben, als ausser der Tempe- 
ratur noch die jedesmalige CO,-Abgabe unter den verschiedenen 
Bedingungen gemessen worden ist. 

Es wurden daher zur ersten Reihe meiner Versuche Ka- 
ninchen verschiedenen Gewichts auf das von Czermak ange- 
gebene Brett gebunden und ihre CO,-Ausscheidung nach vor- 
heriger Messung der Temperatur bestimmt. 


I. CO,-Abgaben im gefesselten Zustand. 


It Adamkiewicz’s Bezeichnung und Erklärung des 
physiologischen Temperaturabfalls die richtige, so muss nach- 
zuweisen sein, dass mit dem Abfall der Temperatur während 
der Ruhe ein Abfall der CO, stattfinde: denn das Sinken der 
Temperatur soll ja nur durch Verminderung der Oxydations- 
processe im Muskel entstehen, und eine solche Verminderung 
muss sich an der Veränderung der Oxydationsproducte erkennen 
lassen. 

Die Versuche der ersten Reihe wurden daher an Kanin- 
chen im freien und gefesselten Zustand bei einer Zimmertem- 
peratur von 15—18° Cels. angestellt; die Zeit, während welcher 
die Thiere im Apparat athmeten, dauerte stets zehn Minuten; 
die Resultate sind im Folgenden tabellarisch zusammengestellt. 


Ueber das Verhältniss der Kohlensäure-Aagabe u. s. w. 559 


Tabelle Nr. 1. 


Temperatur- 
Grad Cels. Durch- | Gewicht 
Nr. A 60, le 
Umge- a schnitt. | in Grm. 
bung. 
1 15'6 391 0'060 
2 0:040 0 050 1020 
3 0'050 
Gefesselt: 
1 380 0:038 
2 36'235 0:05 
3 3655 0'046 0:042 
4 36°5 0°:030 
5 367 0:038 
Tabelle Nr. 2. 
Temperatur- 
Grad (Cels. Durch- | Gewicht 
Nr. CO, a 
ehnitt. | in \ 
Umge Thier ; en 
bung. 
il 144 | 39:2 | 0°073 
2 | \ 0'070 8°074 1020 
| | 0:078 
Gefesselt: 
1 | 384 | 0'074 
2 | 372 | 0062 
3 376 0'052 
4 31221 20:050, 1 0002 
5 374 0°060 
6 378 0°056 


60, auf 
1000 Gr. 


0.0049 


0:0041 


60, auf 
100'0 Gr. 


0:0072 


0:0057 


560 Hugo Erler: 


Tabelle Nr. 3. 


Temperatur- 

Nr. Grad Cels. 00, Durch- | Gewicht | CO, auf 
Umge- Thier. f schnitt. | in Grm. 100°0 Gr. 
bun 

ı | ı92 | 397 | o0ss Be 1112 AN 

2 0'042 

Gefesselt: 

1 39:6 0 032 

2 391 0'048 

3 388 0'028 

4 38°5 0:020 

5 3814 1 0.016, | 008 0:0026 

6 382 0'038 

7 18°0 38°6 0:032 

8 38°5 0'018 

Tabelle Nr. 4. 
Temperatur- 

Nr. Grad Cels. | co, Dusch: Senicht CO, auf 
Umge-| pier. schnitt. | in Grm. | 1000 Gr. 
bung. 

1 | 15:6 330 | OEL N, 1112 ne 

1 0:054 

Gefesselt: 

1 16°8 391 0:048 

2 384 0'051 | 

3 3825 0'034 

4 381 0'041 

6) 381 0:035 

6 A a | Doaı 0:0027 

7 3770, | 0:092 

8 37° 0014 

9 380 | 0'024 

10 379 | 0'020 


Ueber das Verhalten der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 561 


Tabelle Nr. 5. 


Temperatur- 

Grad Cels. Durch- | Gewicht | . CO, auf 
Nr. Co, r \ 

Umge- | Mpjer schnitt. | in Grm. | 100°0 Gr. 

bung. 
1 16°8 331 0:041 1372 
2 0:032 0'045 0:0032 
3 0:062 

Gefesselt: 
1 385 | 0'024 | 
2 377 0'030 
3 37:3 0°:025 0:022 0:0016 
4 378 0'019 
5 | | 372 | 0014 
Tabelle Nr. 6. 

Temperatur- 

Grad Cels. Durch- | Gewicht | CO, auf 
Nr. CO, e N 

Umge- Thier schnitt. | in Grm. | 100'0 Gr. 

bung. 
1 15°0 392 0°081 1372 
2 0:092 0:095 0:0069 
3 0'114 

Gefesselt: 

1 15°6 38°9 0:084 
"2 | 38°2 0:048 
3 38°7 0:036 
4 376 0:065 0:049 0:0035 
5 371 0'024 
6 37:5 0'029 


In vorstehenden Versuchsprotokollen ist ersichtlich, dass 
mit dem Abfall der Temperatur während der Ruhe der Abfall 


der CO,-Abgaben ziemlich genau Schritt hält. Wenn äuch die 
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 36 


562 Hugo Erler: 


7 


Temperaturänderungen der vorstekenden Versuche ebenfalls 
jene ausgesprochene Regelmässigkeit, wie siein Adamkiewicz’s 
Versuchen nicht vermisst wird, zeigen, so ist die Gleichmässig- 
keit in den Aenderungen der CO,-Ausscheidungen doch nicht 
so deutlich ausgeprägt, ein Umstand, dessen Ursache augen- 
scheinlich in der Doppelseitigkeit eines jeden meiner Versuche 
liegt: denn ausser der Temperatur musste auch die jedesmalige 
CO,-Abgabe genau gemessen werden, und während des Wiegens 
der CO,-haltigen Kaliflüssigkeit bewegte sich nun das unbeob- 
achtete Thier trotz seiner Fesseln oft ziemlich stark. Und dass 
Bewegungen besonders von kleinen Thieren, zu denen ja Ka- 
ninchen auch zu rechnen sind, sofort die Oxydation erhöhen, 
beweisen auch die von Adamkiewicz (S. 101) angegebenen 
Temperaturcurven. Wegen der langen Dauer konnten die ein- 
zelnen Versuche ferner nicht so weit ausgedehnt werden, bis 
mehrfache Schwankungen von Temperatur und CO,-Ausgaben 
eintraten; ich begnügte mich daher, sobald ich aus mehreren 
CO,-Abgaben einen folgerichtigen Schluss zu ziehen mich be- 
rechtigt fühjte. 

Auf die Führung einer genaueren Controle über die Ab- 
hängigkeit der CO,-Ausscheidungen unter gleichen Verhältnissen 
von der Grösse der Thiere, musste ich in dieser wie in den 
folgenden Versuchsreihen verzichten, weil ich mich auf Kanin- 
chen nahezu derselben Grösse beschränkte, in denen sich deut- 
liche und maassgebende Gewichtsdifferenzen nicht haben er- 
warten lassen. 

Um einen allgemeinen Ueberblick über Temperatur und 
CO,-Aussche;dungen unter den gegebenen Verhältnissen zu ge- 
winnen, ist die folgende Tabelle angefertigt worden, in welcher 
ausser der höchsten und niedrigsten Temperatur und CO,-Aus- ' 
gabe noch die Durchschnittssummen der im freien und im ge- 
fesselten Zustand ausgeathmeten CO,-Mengen angegeben sind; 
um mir ferner über das Verhältniss der im freien zu der im 
gefesselten Zustand ausgeschiedenen CO, Aufschluss zu ver- 
schaffen, habe ich dasselbe am Ende jeder Rubrik verzeichnet, 
nachdem die genannten Durchschnittssummen auf 100 Gr. des 
Körpergewichts als Gewichtseinheit berechnet sind. 


563 


Ueber das Verhalten der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 


CE00.0 : 6900.0 


I100.0 : 6800.0 


L800:0 : 6&00-0 


9200.0 : 0700-0 


2900.0 : 21.00.0 


1?00-0: 6700-0 


0.007 ae °09 


ZLEIL ZLEL un SLıı 0201 0301 ee Fe LS LT) 
670.0 | C60-0 | 220.0 | CF0.0 | TEO.0 | 060.0 |680.0 | C70:0 |6C0.0 |F20.0 | 270.0 |0c0.0 | ° ' " ° ° " Yrugosypung 
620.0 | 180.0 |FT0-0 | TE0.0 |FL0.0 | 8F0.0 |910:0 | 270.0 ||0C0.0 | 020.0 | 080.0 |0F0.0 | ° ° ' * " " ° ogsätperu (og 
780.0 | FIT-O 1080-0. | 90.0 | 190.0 | 70:0 | 870-0 | 650.0 |F20.0 | 820.0 |GC0-.0 |090.0 | * " ' * * ° * * "oysuoog 
C.1E &.LE C.LE 6.88 G.LE 2.98 " * o9sdrıporu 

6.68 I:6€ 9.68 1.68 6.68 T.68 JO | angerod 
68€ 9.8E T68 9.68 7.88 0.88 “2 rogsupoy 
-woL, 
8-91 8.91 91 2.61 vH 9.91 “9° Jungodun 
y[ossaf yIossoF NERER) WEREEN 108507 IGERL) 
191 T941 1941 N 
=: TO} en 194} ah 101} es To1F En To} en toaF 
HN N Fun N N HN 


"2 IN STIPgeL 


36* 


564 Hugo Erler: 


Bringen wir sämmtliche Durchschnittssummen in Eine 
Tabelle zusammen, so erhalten wir folgende: 


Tabelle Nr. 8. 


frei gefesselt 
Umgebung) a. 15°7 
Temperatur höchste . .. . 38'7 
hier 39:3 
niedrigste . . . 373 
Menge Hochstor Pr an e " -.0:069 0'057 
der abgegeb. } niedrigste... ... - 0'052 0'025 
00, Dürchschnut a. 28: 0'060 0:039 
GESICHE e ekee alyeeelihe 1168 
BEOMaAUTLLOOLO N EAN Ste euere 0:0051 : 00034 


Il. CO,-Abgaben im gelähmten Zustand. 


Ist der Temperaturabfall gelähmter Thiere ebenfalls auf 
eine Verminderung der physiologischen Stoffwechsel- und Ver- 
brennungsprocesse im Muskel zurückzubeziehen,!) so muss hier 
der Abfall der CO, in noch höherem Grade hervortreten, als 
während der einfachen Ruhe: denn durch Lähmung der will- 
kürlichen Muskeln wird der Freiheitsverlust vervollkommnet, 
die Bewegungsfähigkeit gänzlich ausgeschlossen, die Oxydation 
gestört. Zur Prüfung dessen wurden folgende Versuche nach 
erfolgter Durchschneidung des Rückenmarks unterhalb der Ver- 
tebra prominens angestellt und soviel als thunlich bis zum Tode 
der Thiere, der gewöhnlich nach 20 bis 30 Stunden unter den 
Symptomen der allgemeinen Paralyse erfolgte, fortgesetzt. 


1) A. a. 0. S. 106 und 117. 


[SE SB 


Sonn Ppon-m 


Ueber das Verhalten der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 


Tabelle Nr. 9. 


565 


Temperatur- \ 
Grad Cels. co Durch- | Gewicht CO, auf 
| 2 . . 
Umge- schnitt. | in Grm. 100:0 Gr. 
bung. | 
16°8 39:6 0'036 706 
0:057 0'046 0'0065 
0:045 
Gelähmt: 
37:05 0'007 
35°05 0'009 
33°8 0'011 
332 0'010 
9222 0:005 
30:9 0:013 
305 0:002 
29:8 0'006 0:008 0:0011 
28:6 0'006 
28°5 0°007 
284 0'012 
278 0'011 
2376 0'007 
ale) 0:007 
DT 0:008 
Tod. 
Tabelle Nr. 10. 
| — | en, | 0:074 | 186 | 0.0094 
Gelähmt: 
16:9 | 38:8 | 0020 | | 
3220. 12.0:036 
36°9 0'031 | 
15'6 369 0°:031 
36° 0:040 
892 0'034 
349 | 0033 
Nach einer längeren Pause: 
26°2 0:021 
258 0:019 
2 0°018 
25°2 0°010 0:0173 0°0022 
251 0°:006 t 
DAR 0'013 
248 0'011 
247 0°013 
24°6 0'005 
24°8 0:006 
24°6 0°002 
246 0:005 
244 | 0:001 


Tod. 


ei, 70% 


566 Hugo Erler: 


Tabelle Nr. 11. 


Temperatur- | | | 
Nr. Grad Cels. co, | Durch- | Gewicht CO, auf 
Umge- Thier. | schnitt. | in Grm. ! 100'0 Gr. 
bung. | 
1 | 15'6 390 0'122 1306 
2 0104 | gogı 00070 
3 0'077 | 
4 | 0.062 | 
Gelähmt: 
1. [ 38:35 | 0:019 | 
2 371 0:030 
3 36°8 0'030 
4 3675 0021 
6) 39°5 0:027 
6 14°5 355 0:018 
7 35°5 0'017 
3 15°6 304 0'019 
9 301 0'019 0'016 0'0012 
10 18:0 29:8 0°009 
a1 290 0:018 
12 231 0'008 
13 27°5 0008 
14 16°8 26:9 0:010 
15 26°5 0'010 
16 261 0'006 
17 26°0 | 0:003 


Trotz der Befunde von Weber,!) Quincke?) und 
Naunyn,°) die nach Rückenmarksverletzung und acuten 
Rückenmarkserkrankungen Temperatursteigerung zu con- 


1) Commun. to the clinical Soc. oft London. 1868. 
2) Berliner klin. Wochenschrift. 1869. Nr. 29. 
3) Dies Archiv, 1869. S. 174. 


Ueber das Verhalten der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 567 


statiren Gelegenheit hatten, hat doch kein einziger meiner 
Versuche dasselbe Resultat aufzuweisen; ja im Gegentheil 
die Temperatur und mit ihr auch die (60,-Aus- 
scheidung sinkt vom Zeitpunkt der Verletzung an 
continuirlich bis zum Tode, der „physiologische“ Ab- 
fall der Ruhe steigert sich zu einem „pathologischen* der 
Lähmung, wie Adamkiewicz in seiner Schrift (S. 106) 
treifend sagt. — Hierin aber liest wiederum ein Beweis, dass 
Wärme- und 0O,-Production abhängig sind von den Lebens- 
processen, die im thätigen Muskel vor sich gehn, und dass mit 
der Aufhebung der Bewegungsfreiheit auch jene Production 
gehindert werden muss. 

Zur Controle möge hier noch eine von Adamkiewicz 
„beobachtete, doch nicht veröffentlichte Temperaturcurve nach 
erfolgter Lähmung ihren Platz finden: 


Tabelle Nr. 12. 


Umgebung 16°8 Grad Cels. 


Körper- Körper- Körper- 


temperatur. temperatur. “ temperatur. 


U. Min. Grad Cels. | U. Min. | Grad Cels.|| U. Min. | Grad Cels. 


10 12 393 1 55 898 11 35 38'5 
bis bis bis bis bis bis 
12 15 376 EURER 392 11 46 381 


Rückenmarksdurchschneidung. 


12 22 369 2 15 392 11 50 | 379 
122229 365 27,116 391 37:8 
12 36 36°0 2 18 88:9 377 
12 45 35° 2 20 38°8 11 58 376 
12 55 330 2 21 887 37:5 
154 34° 2 23 38°6 374 
12715 340 2 24 38°5 22 | 374 
1 40 32:9 2 27 374 37:3 
1 47 320 2 31 37:3 372 
1 50 Sl 20202033 372 371 
1 55 sl’. | 234 371 a) 37:3 


568 Hugo Erler: 


Körper- Körper- Körper- 
eu temperatur. zen temperatur. Sn temperatur. 
U. Min. | Grad Cels.| U. Min. | Grad Cels. | U. Min. Grad Cels. 
2016 31°0 2 35 370 37:2 
2. 18 30°5 2 45 35°8 12 14 371 
2 89 29'3 2 48 35'7 O2 36'3 
2 42 23:0. 121190 35°6 36'2 
2 45 AT A 2 102 35'5 361 
2 47 275 35 35'2 12 25 36°0 
2 58 270 3.6 351 35°9 
ER 26°5 30,8 35°0 35°8 
a | 242 EN) 349 35°7 
4 2 23°5 39°6 
4 11 23:0 35'5 
4 31 22°5 354 
6 25 220 12 39 „35'3 
6 28 21°5 12 42 351 
6 34 210 34:9 
6 40 20°5 348 
6 52 20:0 347 
= 20:7 12 48 347 
ST 20°5 346 
8 12 20:0 345 
8 15 20°5 344 
| 


Dass in dieser Versuchsreihe Temperatur und CO, nach 
ihrem Abfall nicht in die Schwankungen der „Constanten“!) über- 
gehen konnte, liegt einfach darin, dass hier die Tendenz einer 
Einstellung auf die „Constante* natürlich fehlt und die Lebens- 
processe wegen des Verlustes der Bewegungsfähigkeit continu- 
irlich sinken. 

Sehr auffallend ist namentlich der plötzliche sehr erheb- 
liche Abfall der CO, im Beginn der Lähmung. Er erklärt sich 
aus der plötzlichen Unterbrechung, die die normalen Oxyda- 
tionsprocesse durch die Lähmung erfahren, aus dem schroffen 
Uebergang normaler Functionen des Muskels in einen Zustand 
pathologisch herabgesetzter Lebensprocesse. Das an den an- 
fänglich plötzlichen Abfall der CO, sich anschliessende all- 
mähliche Sinken derselben aber erklärt sich aus dem continu- 
irlich und allmählich erfolgenden Abfall een Lebens- 
processe zu ihrem lethalen Ende. 

1) Vergl. Adamkiewicz a. a. 0. 


Ueber das Verhältniss der Kohlensäure-Abgabe u. s. . 569 


Zur besseren Debersicht folgen die Durchschnittssummen 
aller drei Versuche in näherer Zusammenstellung. 


Tabelle Nr. 13. 


al N 
aaa ee, 
oO © © 
=tı) {=10) {etı} 
8 Umgebung... . 16°8 16'8 15°6 
324 „.. [höchste . 37:05 38:8 38:35 
© S| Thiers . .. 39:6 - 39:3 39:0 
= niedrigste Del 244 26° 0 
höchste ... . 0:057 | 0:013 || 0'077 | 0040 0122| 0:030 
” 4 niedrigste . . | 0036| 0:002| 0070| 0'001 | 0'062 | 0'003 
Abgabe i | 
Durchschnitt . 0:046 | 0:008 || 0'074 | 0:017 | 0'091 0'016 
Gewichu 4 len. 706 786 1306’ 
CO, auf 1000 . . . .  [0°0065 : 0'00110'0094 : 0°0022|0 0070 : 0:0012 


Diese Resultate in eine Tabelle gebracht, ergiebt folgendes: 
| Tabelle Nr. 14. 


| frei. gefesselt. 

Umeebungy. ... ... $ 16°4 
Temperatur hochsten.2 a .0% 38°6 

Mn Thi | I, 39:3 
niedrigste . . . 26:1 
höchstes m 5 5 005 | 008 

CO,-Abgabe ! niedrigste. .... . . 0.056 0'002 
Duxchsehmitt an. aa 0:070 0:014 

GEWIChti gi 1 a ee a ne 932 
COF3UT 1000ER a 0:0076 : 0:0015 


‘Waren bei den bisher ausgeführten Versuchen die Oxyda- 
tionsprocesse das primäre, die Temperaturänderungen das secun- 
däre, so tritt bei den folgenden Versuchen das umgekehrte ein. 
Wie erwähnt, sind Wärmeprocesse und Lebensprocesse im 
Thier identisch; es muss daher auch leicht zu zeigen sein, dass 
mit den physikalischen Temperaturänderungen secundäre Aen- 
derungen der exhalirten CO,-Menge stattfinden. 


IRRE 0 


570 Hugo Erler: 


Darauf hin habe ich nun Versuche an Kaninchen angestellt, 
um zu sehen, von welchem Einfluss veränderte Umgebungs- 
temperatur auf die CO,-Production und ob auch hier wie in 
den vorigen Versuchen ein annähernd gleiches Verhältniss 
zwischen ihr und der Temperatur vorhanden sei. Es wurden 
daher Thiere aufgebunden in einen verdeckten doppelwandigen 
Zinkkasten gesetzt, dessen Temperatur durch Anfüllung mit 
Eisstücken zunächst erniedrigt und dann zur zweiten Versuchs- 
reihe durch Erwärmung des Wassers, das sich in dem von den 
Wänden des Kastens begrenzten Raum befand, durch unter- 
gestellte Gasflammen erhöht wurde. Der übrige Apparat blieb 
derselbe. 


Ill. CO,-Abgaben bei erniedrigter Umgebungstemperatur. 


Tabelle Nr. 15. 


Temperatur- | 
Grad Cels. Durch- | Gewicht CO, auf 
Dr Umge- j Oo schnitt. | in Grm. | 100'0 Gr. 
ba Thier. | 
16°8 392 | 0034 805 
0'954 0°049 0:0060 
3 0'058 
In Eis: 
1 12:0 36°8 0:009 | 
2% 5. 10:2.% 3592, .0:010 | 3 
3 9:6 35'2 0017 | 
4 343 | 002 | 
5 345 | 0012 | 
e.| 30. | 30 | 0056 |, 00 NR 
7 84 339 0'035 
8 334 0:021 
$) 329 0'032 
10 324 0:024 


Nr. 


SAAB OD 


ww 


ee 
Pom Hm ©O%000 IN Om N Mi 


Ueber das Verhältniss der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 571 


Tabelle Nr. 16. 


Temperatur- 
Grad Cels. co Durch- | Gewicht CO, auf 
Umoe- 5 o schnitt. | in Grm. | 100°0 Gr. 
> | Thier. 
bung, 
20:20, 3351 4.0:037 945 
0:041 0:039 00041 
In Eis. 
16°8 38°7 0:033 | 
150 | 378 | 0031 | 
1339309 ..0:095 
13°2 366 0:012 | 
144 | 362 | 0.009 | 
358 0:006 | 
15°0 38° 0:005 0°014 0:0014 
144 347 0:006 
15'0 343 0:014 
33°9 0:013 
330 0:007 
331 0:006 
327 0:010 
Tabelle Nr. 17. 
19'2 395 0:030 
0:042 0:034 1032 0:0033 
0:031 
In Eıs: 
163 38'7 0.030 
15°6 374 0'022 
15°0 367 0:009 
360 0011 | 
35°8 0:008 
132 362 0'005 
349 0:020 i A 
347 0022 0:016 0°0015 
345 0:017 
13°8 345 0'022 
342 0:010 
14°4 33:9 0'012 
337 0'018 
33°6 0:019 


972 


RENT DI 


Hugo Erler: 
Tabelle Nr, 18. 
Temperatur- 

N Grad Cels. co, Durch- 9, auf 
Umge- Thier. schnitt. 100°0 Gr. 
bung. 

1 | 18:0 393 0:068 0061 00058 

2 0'055 

In Eis. 

1 | 126 | 384 | 0:046 

2 102 | 376 | 0'066 

3 | 371 | 0045 

4 367 0'033 

5 | 108 | 86811.0:019: | nigag | 0:0026 

6 358 0'025 

7 35°2 0'006 

8 114 34°8 0:004 

9 12°0 344 0:004 

Tabelle Nr. 19. 
183 394 0.031 
0'047 0'039 0'0038 
0'040 
In Eıs. 

1 15°6 38°5 0'029 

2 15'0 380 0'037 

3 374 0'025 

4 36°9 0'012 

5 13'2 36°3 0'019 

6 35'8 0°:009 

7 12°6 399 0:008 0'016 0:0015 

8 352 0'014 

9 347 0:021 

10 344 0'013 
11 13'2 33°9 0'014 
12 33°6 0:010 
13 | 33'2 0'008 


Ueber das Verhältniss der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 573 


Liebermeister und nach ihm Roehrig und Zuntz'!) 
fanden eine Zunahme der CO,-Ausscheidung in derjenigen Pe- 
riode, während welcher unter der Einwirkung peripherischer 
Abkühlung die Temperatur steigt. Diese Zunahme der CO,, 
die auch Senator?) festgestellt hat, ist von allen diesen For- 
schern nur in derjenigen kurzdauernden Anfangsperiode, 
während welcher jene eigenthümliche Temperatursteigerung in 
der Achselhöhle stattfindet, die von Liebermeister bekannt- 
lich auf Regulationsvorgänge bezogen wird,°) gefunden worden. 
Bei meinen Versuchen aber handelt es sich um weitergehende 
Einwirkung der peripherischen Abkühlung, um wahre durch 
sie erzeugte Temperaturherabsetzungen, mit welchen 
ich in der That gleichzeitig einen continuirlichen Abfall der 
CO, nachweisen konnte. In den ersten Zeiten zeigt sich aller- 
dings ein unerhebliches Ansteigen der CO,, wenn man den 
Abfall in Rechnung zieht, den das gefesselte Thier vermöge 
der Ruhe an sich erfahren haben würde. Es muss dahin ge- 
stellt bleiben, ob dieses Ansteigen auf irgend welche Vermeh- 
rung der CO,-Bildung bei der Abkühlung beruht, die etwa auf 
reactive Temperatursteigerung (Liebermeister) bezogen wer- 
den könnte. Senator erklärt das in dieser Periode vermehrte 
Auftreten von CO, in der Exspirationsluft nur als Folge ver- 
mehrter Ausscheidung derselben. Es kann ferner dieser Abfall 
nicht eine directe Folge der Muskelruhe allein sein: denn es 
erreichen in der ersten Reihe meiner Versuche, die zur Prü- 
fung jenes Einflusses oben angestellt sind, die Durchschnitts- 
zahlen der exhalirten CO,-Mengen nirgends so geringe Grössen 
wie hier. Dort sind sie 0'029 und 0'022, hier dagegen 0016 
und 0'014. Daher kann man wohl mit Fug und Recht diese 
Abnahme von Wärme und die CO,-Ausgaben wohl nur auf 
Rechnung der niedrigen Umgebungstemperatur setzen. — Zur 
schnelleren Uebersicht und zum Vergleich der Resultate dieser 
Versuchsreihe mit denen der ersten diene hier wieder eine aus 
den Durchschnittssummen zusammengestellte Tabelle: 


1) Pflüger’s Archiv. Bd. IV. 8. 57. 

2) Centralblatt 1871, S. 737 und dies Archiv 1872, S. 1. 

3) Vergl. Adamkiewicz: Mech. Prineip. der Homöothermie u.s.w. 
Dies Archiv 1876. S. 248 fi. 


. 
. 


Hugo Erler 


574 


GT00.0 : 8800-0 


I800.0 : 8400.0 


GT00.0 : 8800-0 


7109.0 : TF00.0 


6800.0 : 0900 0 


* 0.007 ne °09 


E201 FOL 2801 976 08 ee) 
910.0 |680.0 || 820.0 | 190.0 | 910.0 | FE£0.0 || FIO.0 |6E0.0 || 720.0 | 6r0.0 nr umosgorn| 
800.0 | 180.0 | 700.0 |9C0.0 || 800.0 |080.0 || G00.0 |280:.0 || 600.0 | FE0.0 7 Sorsonpertel ln 
260.0 | 10.0 | 990.0 | 890.0 | 0800 [270.0 | 880.0 | 170.0 | 940.0 | 850.0 SE SEE UpQN 
3.88 vr 9.88 1.38 P.58 " OSSLIporU 

P.68 8:68 9.68 9.68 3.68 AoIq,], 
G.88 v.88 1.88 1.88 8.98 * » 09s700y anyeıodwo], 
6.87 | E81 FIT 1081 87T |261 FI [9.08 8-6 8-91 + Zungodun 
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u 
San N EIN ZN TAN 


‘0% IN OTIPgeL 


Ueber das Verhältniss der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 575 


Und diese wiederum zu einer zusammengezogen ergiebt: 


Tabelle Nr. 21. 


| frei gefesselt 

Umgebung... 2.000 | 18°3 12:4 

Temperatur | höchsten... or 38:2 

\ Tier Ent 39:3 

niedrigste . . . 33°4 

höchste un U u rule 0:051 0:044 

on DIEOTIESEON N N 0:037 0°006 

Durehschntin a Sun 0044 | 0'019 
Gewichts ne Luis Ne BR 970 

EOFAURLOO NE ee 0.0045 : 00019 


IV. CO,-Abgaben bei erhöhter Umgebungstemperatur. 


Da die Kälte, wie wir gesehen haben, die Lebensprocesse 
herabsetzt, so muss die Wärme bis zu einem gewissen Grade 
dieselben steigern. Es war daher zu erwarten, dass in erhöhter 
Umgebungstemperatur mit dem Wachsthum der Temperatur 
des Thiers auch die CO,-Ausscheidungen einige Analogie zeigen 
würden. — Daher wurden die Kaninchen in den Zinkkasten 
gesetzt, nachdem dessen Temperatur vorher erhöht worden war. 


Tabelle Nr. 22. 


Temperatur- 

Grad Cels. Durch- | Gewicht CO, auf 
T. Co, o 2 

Umge- Thier schnitt. | in Grm. | 1000 Gr. 

bung. ‘ 
ı | 156 | 330 | os | | 
2 0:029 0°027 0:0035 
3 | | 0080 | | | 


Temperatur erhöht 24—30° C. 
240 | 381 | 0'028 
246 | 374 | 0'030 
25°8 31.9 0'025 Rd 2 
264 | 272 | og | 00% ganz 
25°8 al 0°031 
26°4 371 0'055 


Dvpov- 


£ 


576 


DD + 


So ı 9 np DD - 


er 
Ne © 


oo so np @ DD - 8 M 


en 
DD AM © 


Hugo Erler: 


Tabelle Nr. 23. 


Durch- 
schnitt. 


0:029 


Gewicht 
in Grm. 


771 | 


Temperatur 24—30°C. 


0041 


Tabelle Nr. 24. 


0'048 


825 | 


| 


Temperatur 30—36° C. 


Temperatur- 
Grad Cels. co, 
Umge- | hier 
bung. 
15°6 30°2 0:030 
0'028 
264 38°6 0'034 
38°3 0:038 
270 38'2 0:045 
38.1 0'042 
26°4 38°3 0'038 
382 0:043 
383 0'035 
38'3 0°:029 
25°8 38°1 0'038 
381 0'043 
330 0'058 
25'2 38°1 0'051 
168 390 | 0'035 
0'053 
| 0:056 
30°6 38°5 0'056 
31'8 384 0'060 
38°4 0'062 
31'2 384 0'058 
38:6 0:070 
38°7 0:076 
31'8 33:9 0:068 
324 389 0'074 
39:0 0:063 
31'2 3I°0 0:066 
30'6 38:9 0'068 
39:0 0:074 


0'066 


CO, auf 
100'0 Gr, 


0'0053 


0:0058 


0:0088 


OD - 


[orKo EI. usb SB 


[SU SE 


A199 PWmD m 


8 

9 
10 
11 
12 
13 
14 


Ueber das Verhalten der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 577 


Tabelle Nr. 25. 


Temperatur- 
Grad Cels. Durch- 
SE chnitt 
e- nitt. 
ae Thier. n 
bung. 
18'0 39:3 0:070 
0'076 0:073 
0:072 


393 
38°3 
38'6 
38:9 
393 
39:6 


39:9 
40'2 
40°4 
40'7 
40°8 
41'0 


399 


0:068 
0074 
0:084 
0'072 
0:071 
0°:077 


0:074 


Dyspnoe. 


0 064 
0'055 
0:033 
0'034 
0'033 
0:037 


Tabelle Nr. 26. 


0-084 
0:068 
6:086 


0:076 


Gewicht 


in Grm. 


325 


emperatur 36—42° C. 


| 1092 


Temperatur 36—42° 0. 


387 
382 
378 
881 
386 
38'838 
390 


33:2 
395 
396 
40°0 
401 
402 
40°5 


0:050 
0:074 
0:095 
0°088 
0083 
0:080 
0:096 


0:081 


| 


Dyspnoe. 


0:057 
0'046 
0'032 
0'074 
0'073 
0:030 
0:043 


0:051 


Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 


| 


CO, auf 
100'0 Gr. 


37 


9:0090 


0:0051 


0:00969 


0:007& 


9:0046 


mc 


> Nee „EL Her) 


a 


IE SE 


HOBSD IND 


gen 


Temperatur- 
Grad Cels. 


Umge- 
bung. 


| 15:6 


372 


36°0 


42°6 


42:0 


Thier. 


38°9 


Temperatur 36—42° C. 


381 
376 
380 
384 
38°8 


395 
39-9 
40°5 
407 
410 
411 


39°5 


394 
39:1 
39:3 


395 
39:8 
40'2 
40°5 
411 
41°5 
417 
42°3 


Hugo Erler: 


Tabelle Nr. 27. 


Durch- 
C0, : 

schnitt. 
0°:030 Ri 
oo: | 0081 


0:021 
0'050 
0'063 
0'044 | 


0'042 


0'054 


Dyspnoe. 


0'032 

0'020 

0'045 0029 
0024 

0'016 

0015 | 


Tabelle Nr. 28. 


0:091 
0:094 


Temperatur 42° C, 


0073 
0'061 
0:081 


0°072 


Dyspnoe. 


0'051 
0'033 
0:034 
0'043 0°042 
0'045 
0:040 
0'045 
0'046 


0092 | 847 


CO, auf 
100°0 Gr. 


0:0035 


0:0048 


00032 


0:0109 


0:0049 


0:0084 


Ueber das Verhalten der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 379 


Die schlechte Leitung') der thierischen Gewebe verhindert 
es, dass mit dem Augenblick der Einführung der Thiere in 
eine warme Umgebung sofort die Temperatur des betreffenden 
Thiers zunimmt. Es verstreicht erst einige Zeit, bis sich eine 
Temperatursteigerung in.der höher temperirten Umgebung ein- 
stellt, und während dieser Zeit kommt noch der gewöhnliche 
physiologische Abfall zur Geltung, da die Versuche nur an 
gleichzeitig gefesselten Kaninchen angestellt werden konnten. 
Daher nehmen wir auch mit der Temperaturabnahme gleich- 
zeitig einen anfänglichen CO,-Abfall wahr; aber mit dem Be- 
sinn der Wärmezunahme im Thier stellt sich auch 
eine Vermehrung der CO,-Ausscheidung ein, die bis 
zu denjenigen Momenten anhält, wo die hohe Körpertemperatur 
Veranlassung zur Dyspnoe wird. Hier erklärt die vermin- 
derte Respiration den Ausfall der CO,-Abgaben: denn durch 
verringerte Zahl und mangelhafte Tiefe der Athemzüge wird 
die Berührungsfläche zwischen Blut und Luft verkleinert und 
der respiratorische Gasaustausch beeinträchtigt. Bei meinen 
Versuchen trat diese plötzliche Unterbrechung der ansteigenden 
CO,-Curve gewöhnlich bei einer Körpertemperatur von durch- 
schnittlich 394° ©. ein. Bei einer Umgebungstemperatur von 
der enormen Höhe von 42° C. in Tabelle 28 trat die Dyspnoe 
des Thiers so früh ein, dass ein deutliches Exacerbiren der 
CO, nicht mehr beobachtet werden konnte. 

In der folgenden Uebersichts-Tabelle sind die Durchschnitts- 
summen von Temperatur und CO, vor und während der Dyspnoe 
wegen der plötzlichen durch sie bedingten Veränderung beson- 
ders angegeben. 


1) Vergl. Adamkiewicz: Die Wärmeleitung des Muskels. Dies 
Archiv 1875. S. 239. 


. 
. 


Hugo Erler 


380 


»oudskq 39mepaq ( ) 
"6% IN S1IP98L 


6010-0 van I: 2900-0 || 8800.0 : 800.0 || 2700.0 : 98000 | * * * * "7° 007 me E09 
086 928 12L ae ea. ee marken 
(170-0) u...“ CS a Ya u asudan 
260.0 0200 [| 090.0 || 990.0 870.0 || 9E0.0 880.0 ruyospang 
160.0 a) 990.0 | 920.0 | ge00 | 9800 | 9800 | ** * * * * * * egsdtpeu \*on 
760.0 an) 2900 | »200 | 900 | 9800 | 0800 | "nen rogsuogg 
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8.91 9.98 891 £.18 8-91 0.08 9.01 + + Sungesun 
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IN 13 0 98 ‘0 "IN N "eg 0 ga ıN 


Ueber das Verhalten der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 581 


Ich will hier noch bemerken, dass ausser Sanders-Ezn,!) 
der auch unter längerer Einwirkung hoher Wärmegrade stär- 
kere CO,-Ausscheidung gefunden hat, nach Moleschott?) schon 
lange vor mir ähnliche Versuche, allerdings an Kaltblütern, 
nämlich an Fröschen angestellt hat und zu demselben Resultat 
gelangt ist, dass Steigerung der Temperatur in der Umgebung 
der Thiere eine vermehrte CO,-Abgabe zur Folge hat. Nur 
weichen seine Befunde von den meinigen darin ab, dass bei 
ihm die CO,-Abgaben kurz vor dem Tode der Thiere während 
des Todeskampfes ihre höchste Höhe erreichten; während bei 
mir grade, sobald die Thiere dyspnoetisch geworden waren, 
dieselben continuirlich bis zum Tode abnehmen oder 
wenigstens um vieles geringer werden, als sie vorher 
gewesen sind. 


V. CO,-Abgaben im gefirnissten Zustand. 


Wenn auch durch meine vorstehenden Versuche der Nach- 
weis geliefert ist, dass Körpertemperatur und Oxydationsprocesse 
im Thier einander parallel gehen und einander gegenseitig be- 
einflussen, so schlug ich zur Vervollständigung und Bekräfti- 
gung dieses Befundes noch einen anderen Weg ein, die Körper- 
wärme des Thieres zu modificiren, um zu zeigen, dass die 
Temperaturen des Körpers, wodurch sie auch modifieirt werden, 
immer direct den Lebensprocess beeinflussen. Um also die 
Körpertemperatur auf andere als physicalische Weise herab- 
zusetzen, wurden die Thiere in pathologische Zustände versetzt, 
von denen es feststeht, dass sie Temperaturabfall zu erzeugen 
vermögen. Dahin gehört bekanntlich die Unterdrückung 
der Hautperspiration, die stets von einem lebhaften Sinken 
der Temperatur begleitet ist. 

Zu diesem Zwecke wurden nun Kaninchen zu ?2/, ihrer 
Körperoberfläche mit Oelfirniss überzogen, und es ergab sich 
gleichzeitig ein mit der Abnahme der Temperatur Hand in 
Hand gehender CO,-Abfall in folgender Art: 


1) Sächs. acad. Sitzber. Math, phys. Cl. 1867. S. 58. 
2) Untersuchungen z. Naturl. d.M. u. d. Th. 1857. Bd.II. 8.315. 


582 Hugo Erler: 
Tabelle Nr. 30. 
Temperatur- . 
. | Grad Cels. Durch- | Gewicht | CO, auf 
bs 00: hnitt. | in G 1000 G 
X E schnitt. | in Grm. :0 Gr. 
Umge-| qnier. 
bung. 
1 16°8 394 0:038 113 
2 0'034 0 032 0°0042 
3 0'026 
Gefirnisst: 
1 36°8 | 0'022 
2 3621) 0025 
3 351 0'015 
4 352 | 0012 
5 15'6 349 0° 09 
6 345 | 0018 
7 342 0'018 
8 340 0°009 ß : 
9 343 | 0010 ums OT 
10 337 ‘0 015 
11 SE) 0'015 
12 332 0014 
13 32:61211 20208 
14 322 0'016 
115) 51'8 0'014 
16 iso 0014 
Tabelle Nr. 31. 
Temperatur- 
Grad Cels. Durch- | Gewicht CO, auf 
ah | a oe 100°0 6 
= schnitt. ın Grm. "DO ur. 
Umge- | per. 
bung. 
ı | 124 | 393 | oo2ı 758 
2 0019 | 0021 0:0027 
3 0.022 
Gefirnisst: 
1 86:7.21.,.0:012 
2 35:6 | 0:008 
3 551 0'012 E S 
a 947 0.012 0'013 00018 
d 368 0020 
6 36 3 0:017 


4 


Ueber das Verhalten der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 583 
Tabelle Nr. 32. 

Temperatur- 

Grad Cels. Durch- | Gewicht | CO, auf 
an ea hnitt ne on % 

Umge- Thier. schnitt. | ın Grm. 1000 Gr. 

bung. 
1 144 33:9 0:046 896 
2 0:031 0:039 00043 
8 0'041 

Gefirnisst: 
1 38°0 0:024 
2 36°6 0'028 
6) 361 0:016 
4 39'8 0:011 
6) 35'3 0'021 
6 13°6 353 0018 0:013 0:0017 
7 347 0:018 
8 34 6 0:024 
9 34:0 0:006 
10 34:0 0:005 
ıl 335 0:004 
Tabelle Nr. 53. 
N 13°6 397 0'056 1074 
2 0:056 0:042 0:0039 
3 0:035 
Gefirnisst: 

1 369 0:012 
2 360 0:019 
3 394 0:018 
4 351 0:013 
6) 34°8 0:007 
6 344 0:006 
7 34:0 0:005 N h 
8 33-6 0:006 0°008 0:0007 
9 349 0 005 
10 342 0:004 
11 32'2 0'004 
12 314 0'001 
13 309 | 0.006 | | 
14 30:0 


0:005 | 


Tod. | 


584 Hugo Erler: 


Schon lange vor mir ist von Laschkewitsch,!) Tsche- 
schichin,?) Socoloff°) u. a. der Einfluss der Unterdrückung 
der Hautperspiration geprüft und immer als schädliche Folge 
derselben stete Temperaturabnahme bis zum Tode gefunden 
worden. Meine Versuche lehren, dass auch mit dieser, durch 
Lähmung der peripherischen Gefässe bekanntlich erklärten 
Temperaturabnahme, Herabsetzung der CO,-Ausscheidung Hand 
in Hand geht. 

Die Tabelle der Durchschnittssummen gestaltet sich in 
folgender Art: 


- and 
rm {er} oO [er] - {ce} Q 
g.o (do) © ha [= je) {=} 
Q o m a BT ae 
© on A > SIMSMLSO oO 
Sp) 52) I2 3 
= © 
i 5 a: 
a = S SINN S 
= SEE Q 
© 
{) > Zn 
a een 
N Der ESS OERS S 
a en) - Se) np) = = > d 
= A See, Zei) iS) 
[er) a 
2 x = ler) SO Re NaR 
1 = o = [ap} op) =} 
Ai o = = SE NE = 
H SONO Q 
>) 
1 oo 
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ENT 8-2 ER 2 
on ap) = (>) je») [e>) {ee} =) 
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. = = ne} ao > 
- Zi an 4 = N a a 
va) = - 2) ED = 
5 De SH orEo 5 
© >) 
© ! 3 oo = =D 
2 : Er : Palo 2 
ap) te} Je} - = 
& co 2 in OD Q 
a en enlen ae 
En o % 
Z R — Nor Neal & 
m = [ar] au [or] 
2 > = SUSE =) 
S 5 5 : S 
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7 
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an © „og E=) {>} >} 
= = Bo 1 a Wr 
5) = Seal ae 
3 
—_— — = 
ınygerod ai E a 
© oe © 
wo] ® SE 


1) Dies Archiv 1868, S. 61. 
2) ibid. 1866, S. 151. ; 
3) Centralbl. f. med, Wissensch. 1872, S. 689. 


Dar N, 
Ph IM BL, 


Ueber das Verhalten der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 585 


Diese Angaben in eine Rubrik gebracht ergeben: 


'Tabelle Nr. 35. 


| frei. gefirnisst. 

Umeebuner ua u | 14'8 14°3 

Temperatur höchste 371 

p | Thier | Br N 39:3 

U niedrigste . . 32:3 

Höchstens. m Su an 0:023 0'023 

GOR/ Fniedrieste. ha nee. 0:027 0:005 

Durchschnitt en ea 0033 0'013 
BIC HR RE TR UNE 875 

EOFTAUL LOGO RE N N 0:0037 : 00015 


Um noch zum Schluss einen Vergleich anstellen zu können, 
wie sich Temperatur und CO,-Abgaben während der drei ab- 
normen Zustände des physiologischen und pathologischen Frei- 
_ heitsverlustes und der Unterdrückung der Perspiratio cutanea 

verhalten, möge hier noch eine Zusammenstellung der am 
Schluss jener Versuchsreihen angefügten Reductions-Tabellen 


folgen. 


Tabelle Nr. 36. 


Nr. 8. Nr, 14. Nr. 25. 
Gefesselt.| Gelähmt. | Gefirnisst. 

Umgebung . 15:7 16°4 | 14°3 

Temperatur PAR . 387 386 371 

Thier 

I niedrigste. . 37:3 261 32°3 

hachste Ban 2 nO-087 0:028 0:023 

BROS Medraostenne a. 0:025 0:002 0:005 
Direhschnitt ng a 0:039 0'014 0'013 
Gewicht EA EL NN, 1168 932 875 


COS aut 10007 2. 2.22 0:0934 0:0015 0°:0015 


586 H.Erler: Ueber das Verhalten der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 


Hieraus und namentlich aus den Verhältnissangaben der 
im freien zu der im veränderten Zustand exhalirten und auf 
100 Gr. des Körpergewichts berechneten CO, ist ersichtlich, 
dass Temperatur und CO, ihren stärksten Abfall während der 
pathologischen Freiheitsberaubung durch die Lähmung erfahren. 
Nichts kann den hohen Einfluss der normal fungirenden Mus- 
culatur auf den Lebensprocess besser beweisen. 

Aus allen vorstehenden Versuchen geht hervor, dass die 
CO,-Ausscheidungen in gewissen Grenzen mit den Aen- 
derungen der Temperatur im thierischen Körper 
vollkommen parallel einhergehen, und aus der Ab- 
hängigkeit der CO,-Abgaben von den physikalischen und patho- 
logischen Temperatur-Aenderungen des Thierkörpers lässt sich 
direct die Abhängigkeit der vitalen Processe von der Körper- 
wärme erschliessen. Wissen wir ja doch, dass jene Processe 
moleculare Bewegungsvorgänge sind und dass die Bewegung 
der Molecule durch die Wärme direct beherrscht wird. 

Schliesslich will ich nicht verabsäumen, Hrn. Prof. Dr. 
v. Wittich für die freundliche Bereitwilligkeit, mit der er 
mir zur Anstellung obiger Versuche sein Laboratorium zur 
Verfügung gestellt hat, sowie meinem lieben Freunde und Col- 
legen Hrn. Dr. Albert Adamkiewicz für die gütige Unter- 
stützung in meinen Versuchen hierdurch öffentlich meinen herz- 
lichsten Dank auszusprechen. 


Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 
Von 


J. HiRSCHBERG, M. D. 


I. Theil. 


Hierzu Tafel XIII. 


Die dioptrischen Untersuchungen von Gauss (1341), welche 
die Strahlenbrechung im Auge zuerst vollständig klar legten, 
und welche von Listing, Helmholtz und Töpler erweitert 
wurden, sind trotz ihrer einfachen Eleganz und trotz der mehr 
elementaren Darstellungen von Helmholtz, Neumann, von 
Lang, Reuss u. A. noch keineswegs Gemeingut der Medi- 
einer geworden. 

Wenn man mit G. Kirchhoff der Ansicht ist, dass die 
Physik die Aufgabe hat, die vorkommenden Bewegungen voll- 
ständig und möglichst einfach zu beschreiben, so dürfte 
die folgende Darstellung einige Berechtigung haben, da sie 
wenigstens für das medicinische Bewusstsein einfacher ist als 
die bisherigen, ohne darum an Allgemeinheit und Schärfe ein- 
zubüssen. Gleichzeitig haben sich dabei einige Resultate er- 
geben, die nicht ohne Interesse sind. 


I. Brechung an einer Kugelfläche. 


$ 1. Die Hauptbrennpunkte. 

B,BB, (Fig. 1) stelle die kugelige Trennungsfläche dar 
zwischen den beiden gleichförmigen Mitteln I und II mit den 
absoluten Brechungszahlen n, und n,; B sei ihr Scheitel, M ihr 
Krümmungsmittelpunkt; die Grade AC, welche durch 2 und 
M geht, heisst die Hauptaxe. Ki 

/ B,MB, die halbe Apertur des einfachen Kugelflächen- 
systems B, B,, sei ein so kleiner Winkel, dass sein Unter- 
schied von dem zugehörigen Sinus verschwindet.!) 


» a 


588 J. Hirschberg: 


Der Lichtstrahl DE falle parallel der Axe zwischen B und 
B, auf die Trennungsfläche. Der Radius MEF ist das Einfalls- 
loth, da er auf demjenigen Theil der Kugelfläche, zu dem er 
hingeht, senkrecht steht. (ME=R). 
£ FED=i ist der Einfallswinkel, 
/ MEG=r ist der Brechungswinkel. 
Unter der gemachten Voraussetzung gilt, da arc EB < are 
BB,, das vereinfachte Brechungsgesetz: 


P 2 Na 
Dim, om sr 2 
un (2) 


Der gebrochene Strahl EG bleibt in der Einfallsebene DEM. 

Ferner ist 

2) EMB=Y/i=/r+ /0oodrir=a, 
oder, für r seinen Werth aus 1) eingesetzt 

3) —- : —. (1%, 

Es sei EJ senkrecht auf BM und gleich c. Für die klei- 
nen Winkel © und @ werden ihre sinus genommen. (BJ ist 
sehr klein gegen BM.) 

(ns =. 5 = Tor wenn BG=JG=F, gesetzt wird. 

Die Grösse c hebt sich fort; es bleibt 


UF ER! a An 
1.) BR Ze oder F, = ne 
Ia.) N, Du 
! Pi EJ 
sın  BME = EM 
ang : sin = EB: EJ 
N " 
re Eu - 


Dan AR HENER.: 


Für Einfallswinkel <9° (oder kleiner als — u. für das Breehungs- 


verhältniss des Glases weicht der nach dem approximativehi Brechungs- 
gesetz (n,i=n,r) berechnete Brechungswinkel von dem wahren um 
weniger als eine Bogenminute ab, demnach um eine Grösse, welche 
geringer ist als das Minimum unseres Distinctionswinkels. Dies ist 
der Sinn der Vernachlässigurg der kleinen Grössen zweiter und 
höherer Ordnung. { 


Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 589 


Unter den gemachten Voraussetzungen hängt die Lage des 
Punktes @, in welchem der gebrochene Strahl die Hauptaxe 
schneidet, lediglich von den optischen Constanten des Systems . 
(n,, 2, und R), nicht aber vom Einfallspunkt (nicht von ec) 
ab; alle zwischen B und 2, parallel der Hauptaxe auf die Con- 
vexität der Kugel einfallenden Lichtstrahlen werden in einem 
Punkte der Hauptaxe vereinigt, in @, dem zweiten Haupt- 
brennpunkt, dessen Entfernung vom Scheitel BG = F, durch 
Gl. I gegeben ist. 

Was wir für die Ebene der Zeichnung bewiesen haben, 
gilt für jede Ebene eines grössten Kreises der Kugel, welche 
durch B gelegt werden kann. Alle parallel der Axe auf das 
Kugelsegment B,BB, fallenden Strahlen werden im zweiten 
Hauptbrennpunkt vereinigt. Fällt ein Strahl parallel der Haupt- 
axe vom zweiten Medium her auf E, also auf die concave Seite 
derselben Kugelfläche, so ist statt £ zu setzen — R, 

statt nn aber n,, 
statt n, endlich n, : es folgt 


DDR — eB oder 
R ( 1 En) ( )F 1) 
N, N No N, 1 
DH en Bun 


Alle I der Hauptaxe zwischen DB, und B auf die 
concave Seite des Kugelflächensegments einfallenden Strahlen 
werden in einem Punkt der Hauptaxe vereinigt, in ZL, dem 
ersten Hauptbrennpunkt, dessen Entfernung vom Scheitel 
(LB=F,) durch Gl. II gegeben ist. F, wird als erste, A, 
als zweite Hauptbrennweite bezeichnet. 


1) Man findet dieses Resultat auch direct: 


a er ae 
N, 
(n,—n,) = b, 
um 
N ZE RRE (IRRE 
NEE RT ABER 


Hieraus folgt F',= ns a y’ so dass (da n, jetzt das erste Me- 
2 
dium vertritt), wenn Lichtstrahlen auf eine concave Kugelfläche 


fallen, R negativ zu setzen ist. 


590 J. Hirschberg: 


$ 2. Die conjugirten Vereinigungspunkte, 

In Fig. 2 sei O ein beliebiger Axenpunkt, von dem ein 
beliebiger Strahl OJ im Punkt J zwischen B und 2, auf die 
kugelige Trennungsfläche fällt. Der Radius MJK ist das Ein- 
fallsloth, {2 OJK= 7 J ist der Einfallswinkel, 7 MJP=/7p der 
Brechungswinkel. Wenn alle Strahlen nahezu senkrecht auf 
BB, einfallen, d. h. alle Einfallswinkel so klein sind, dass sie 
gleich ihren Sinus gesetzt werden dürfen, so ist 


Mo, a 
ı N5 
Ferner ist immer 
9) ZIJ= /dHti 
3) i=o+e; i-e=0; Ü-e) = a (nach 1); 


Gleichung 2) und 3) vereinigt geben 
4) 2 G-o=itd oder 
un 


€ € € € 
5) Na (3-5). . Be . iR 
wenn OB=OQ=f, und BP=QP=1f, gesetzt wird. 
€ hebt sich fort, es bleibt 
6) (N. — Mn.) m 9 


Fan Ten age 


wenn man rechts für n, und n, ihre Werthe aus Ia und Ila einsetzt, 


(nz; —n,) (ns —n,) F (N. —nR,) 1 


oder, 


BT Re RR NE 
d.’he,, Im) n + - =| A 
I) =, - EIS oder 
N 
Ib) fı en 


@. 6 wie Gl. I (oder IIIa oder IIIp) zeigt, dass die Lage 
des Punktes P, in welchem der gebrochene Strahl die Hauptaxe 
schneidet, unter den gemachten Voraussetzungen nicht von dem 
Einfallspunkt, also nicht von c, sondern lediglich von /,, d.h. 
von der Objectsdistanz und von den Constanten des Systems, 
Nz, N,, R oder F, und F,, abhängt. Alle von O ausgehenden 


Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 591 


und zwischen B und B, (und ebenso zwischen D und 5,), 
kurz alle auf das Kugelsegment B,BB, auffallenden Strahlen 
werden in demselben Punkt der Hauptaxe, nämlich in P 
vereinigt. P ist dasBild des Objectes 0. Wird der Gang 
der Lichtstrahlen umgekehrt, so vertauschen der einfallende 
und der gebrochene Strahl ihre Rollen: O ist auch das 
Bild von P, wie aus Gl. III) ersichtlich is, Da die Gl. II 
linear, d. h. vom ersten Grade ist, so giebt es für ein gege- 
benes System zu einem bestimmten Objectpunkt nur einen be- 
stimmten Bildpunkt und umgekehrt: O und P werden deshalb 
als zwei conjugirte Axenpunkte des gegebenen Systems 
bezeichnet.') 
Setzen wir OL=y,=fı-F,, alo ı=yı+ Fi; 
GE 9 5 RI also y, ı,: so folet 


1 
9, Mm+9ıFfa =yıfa+F,F, oder 


IHe) 4,9 =F,F, : die eleganteste Darstellung 
der conjugirten Vereinigungsweiten, welche hier von 


aus IIl2) Y3 +M,= 


den respectiven Brennpunkten ab gerechnet werden; y, positiv, 
wenn im Sinne des Lichtstrahlenganges O vor L; p, positiv, 
wenn im Sinne der Lichtstrahlen P hinter @ liegt. 

Da OÖ beliebig gewählt wurde, so giebt es in jedem System 
unendlich viele Paare conjugirter Axenpunkte. 


$3. Wahl der Vorzeichen. 


Um die Regeln der gemeinen Rechenkunst auf unsere 
Formeln anwenden zu können, sind wir nicht blos berechtigt, 
sondern sogar genöthigt, jeder der darin vorkommenden Grösse 
das negative Vorzeichen zu geben, so bald sie continuirlich 
abnehmend kleiner als Null geworden ist. 


1) Setzt man in Gl.6 f, =», so wird /, die hintere Haupt- 
N, Tn, 


brennweite, also —- = ; für f,= © folgt ebenso 


—- 2 1. die Resultate des $1. 


592 3. Hirschberg: 


a) Den Radius BM=R haben wir positiv gerechnet, wenn 
das Kugelflächenstück dem einfallenden Licht seine convexe 
Seite zukehrt. R nimmt ab, wenn BD näher an M heranrückt 
und wird null, wenn B mit M zusammenfällt. Rückt B noch 
weiter, so nimmt das Kugelflächenstück die entgegengesetzte 
Lage gegen die einfallenden Lichtstrahlen an, die Strahlen 
fallen auf die Concavität der Kugel. Die Note auf S. 589 zeigt 
auch direct, dass, wenn wir in diesem Fall R negativ setzen, 
wir in Uebereinstimmung mit dem Brechungsgesetz bleiben. 

b) Wenn R positiv ist, wird (nach Gl.) F, positiv, falls 
N,—n, positiv, d.h. n,>n,, oder Medium II optisch dichter als I. 
Dann ist auch immer F\, positiv (nach Gl. II); durch Division 
von Gl. II durch I erhalten wir 
nn 
Iilzın, 
d. h. F, und F, müssen in jedem Fali dasselbe Vorzeichen 
besitzen, da n, und n,, die Brechungsexponenten, nothwendig 
positive Zahlen sind (>21 und <3). Negativ wird F, (d. h. 
der zweite Hauptbrennpunkt hat zur Kugelfläche die entgegen- 
gesetzte Lage; er liegt im Medium ]), 

a) wenn R negativ, (n,—n,) positiv; 
ß) wenn R positiv, (n—n,) negativ. 

Diese beiden Fälle bedeuten dasselbe System, von zwei 
verschiedenen Seiten betrachtet; man kann auch sagen, F, und 
F, sind negativ, wenn die concave Seite der Kugelfläche dem 
optisch dünneren Mittel zugekehrt ist. 

Durch Subtraction der Gl. II von I folgt 

Ai = GR per 
F (n—n,) 
V) F,-F,=R. 

Für positive Systeme (d. h. Systeme mit positiven Haupt- 
brennweiten) ist #3>F'\ : dieses Resultat stimmt mit den Fest- 
setzungen über das Vorzeichen von R. 

Setzen wir den einfallenden Strahl OJ in ungeänderter 
Richtung nach dem zweiten Medium fort, (sei OJT die Richtung 
des einfallenden Strahles); so wird durch unser positives System 
der Strahl durch Brechung gegen die Axe hin (in Richtung JP) 


IV) 


’ 


Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 593 


abgelenkt. Fällt der Strahl ?J in umgekehrter Richtung ein 
auf dasselbe positive System, so wird er durch die Brechung 
gleichfalls gegen die Axe hin (in Richtung JO) abgelenkt. 
Der Ablenkungswinkel ö wird positiv gerechnet für diesen Fall 
d=J—o= Ra an) My, 
N, 

Bedeutet Fig. 2, ein negatives System (R positiv, n,<n,), 
so wird der einfallende Strahl OJ nach UJ abgelenkt, der 
Strahl wird durch die Brechung von der Axe entfernt, der 
Ablenkungswinkel ö wird negativ. Ist aber für dasselbe nega- 
tive System UJ. der einfallende Strahl, so stellt OJ den ge- 
brochenen Strahl dar, der gleichfalls von der Hauptaxe abge- 
lenkt ist. Mithin hängt die Art der Ablenkung, ob zur Axe 
oder von der Axe, nur von dem (positiven oder negativen) 
Charakter des Systems, nicht von der Richtung des Durch- 
gangs ab. 

c) OB=f, haben wir positiv gesetzt, wenn O im ersten 
Medium d. h. im Gange der einfallenden Lichtstrahlen vor 2 
gelegen ist; /f, nimmt ab, wenn ÖO näher an DB heranrückt, 
und wird null, wenn O mit 5 zusammenfällt. In dem letzteren 
Fall wird auch (nach Gl. IIla) %=0: dieses Resultat ist selbst- 
verständlich, da von B aus Lichtstrahlen nach beiden Medien 
vordringen, somit in B der Öbjeet- und der Bildpunkt zu- 
sammenfallen. Rückt O in gleichem Sinne weiter, d.h. über 2 
hinaus in das zweite Medium hinein, so wird f,<0, d.h. negativ. 

BP=f, haben wir positiv gerechnet, wenn P im Sinne der 
vordringenden Lichtstrahlen jenseits D liest; f, nimmt ab, wenn 
P näher an B heranrückt und wird Null, wenn P mit DB zu- 
sammenfällt. Rückt P in gleicher Richtung noch weiter über 
B hinaus, also in das erste Medium hinein, so muss %<0, d.h. 
negativ werden. Für ein negatives System wird 7, und A, 
negativ; es wird also aus 

RN 
Ila) f Ar) 
d. h. für positive /, wird /, immer negativ: für einen im ersten 
Mittel gelegenen Objeetpunkt liest auch der Bildpunkt im 


ersten Mittel. 
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 33 


594 J. Hirschberg: 


$4. Abbildung von Objecten. 
Es sei in Fig. 2 ausser O noch ein anderer Punkt O' 
neben der Hauptaxe vorhanden, so dass OM=O'M und OMO! 


ein kleiner Winkel (etwa / OMO'<,.). 

Wir betrachten jetzt O'M als Axe des Systems. Alle von 
O' auf B,B, fallenden Strahlen besitzen so kleine Einfalls- 
winkel, dass diese gleich ihren Sinus gesetzt werden können: 
folglich werden alle einfallenden Strahlen (nach $ 2) in einen 
und denselben Punkt P' der Axe Ö'M vereinigt, so dass 
MP'-MP. 

Liegen zwischen O und O' leuchtende Punkte auf der um 
M mit dem Radius OM construirten Kugelfläche, so liegen ihre 
. Bildpunkte zwischen P und P‘ auf der Kugelfläche, welche um 
M mit dem Radius MP construirt wird. Object und Bild 
sind geometrisch ähnlich (oder perspectivisch zu 
einander), weil alle Axen in M sich kreuzen. Object und 
Bild haben die entgegengesetzte Lage zur Hauptaxe aus dem 
nämlichen Grunde. Sehr kleine Stücke einer Kugelfläche 
weichen von der Tangentialebene nicht merklich ab, d. h. der 
kleine Bogen O'O in Fig. 2 kann durch die Grade O'0 1 OMP, 
und der kleine Bogen P'P durch die Grade P'P1OMP er- 
setzt werden. 

Von einem ebenen und zur Hauptaxe senk- 
rechten Object O'O, dessen scheinbare Grösse (vom 
Mittelpunkt des Systems M aus gesehen) sehr klein 
ist,!) entwirft das System ein bestimmtes ebenes und 
zur Hauptaxe senkrechtes Bild, welches dem Object 
ähnlich ist. 

Für ein negatives System gelten analoge Schlussfolgerungen; 
nur liegt (Fig. 2,) für positive /, der kleine Bogen pp’, welcher das 
Bild von O0' darstellt, von M aus auf derselben Seite wie 
OÖ! und hat deshalb auch dieselbe Lage gegen die Hauptaxe 
(vergl. $3 zu Ende). Wird (Fig.2) O0‘ mit $, und P’P mit —ß2 


1) muss im Verhältniss zu R eine kleine Zahl darstellen. 


Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 595 


bezeichnet, (das Minuszeichen bedeutet die entgegengesetzte 
Lage gegen die Hauptaxe), so folgt aus der wegen Gleichheit 
der Winkel stattfindenden Aehnlichkeit der rechtwinkligen 
Dreiecke O'OM und P'PM 


Br OM _ fı+R u ne 


2 : F,+(fhı= 
8% PM 5,-R 7- 


HU r) 
Fr F, 
hıza-a,3h. 8 a DA F, — (8361. Ille). 
Pı REEL IN _ (Ey +91) Pı _(F3+9.)9ı 


pa ach Gl. V)=: 


ER I IE Ana ln TE on 
F + 
$ı 
Pı 
P) F} 
VI) Pı N U Sa. 


a 
oder, wenn für g, und 9, wieder aus $ 3 ihre Werthe eingesetzt 
werden, 


Ba 7 12 L = I el 2 
Die Formel VIa) ist abgeleitet für positive Systeme und 


Bı 


besagt, dass für positive /,, die grösser sind als F\, 8, 
2 


negativ wird, d. h. die beiden conjugirten Bilder im Verhält- 
niss zur Hauptaxe die entgegengesetzte Lage besitzen, und dass 


das directe Bildgrössenverhältniss 5: abnimmt, wenn f, ab- 


nimmt, also der absolute Werth von + (f,- #,) abnimmt. 


Für 2 NA Can 1 oder = an 
EB B 
für fı= #ı wird — 0 oder, wenn £, endlich, &, =—», 


2 
d. h. für ein endliches Object im ersten Hauptbrennpunkt 
wird das Bild a gross. Das inverse Bildgrössenver- 


Re _hE 


hältniss FT — nimmt ab mit abnehmendem /;; 
1 I) 


= 


für ,=2 F, wird = 


ft 


= 1'oder fı = Ba 


für f,= F, wird En = 0 oder f,=— 


ID 
38* 


hi, Ba a A 


"596 J. Hirschberg: 


Bı _fıt 
a2 Mr Fi 2 +R’ 
sie das directe Bildgrössenverhältniss eines negativen Systems 
dar, für welches aber bei positivem f, immer /, negativ, also 
Pı DE ı+R_W 

Ba JetR pp’ 
und VI, auch für negative Systeme. 


so stellt 


Schreiben wir Gl. 1 dieses $ jetzt 


wie Fig. 2, ergiebt: somit gelten die Gl. 1, VI 


Setzen wir in VI und VIa) F, resp. F, negativ, f, aber 
positiv, so folgt für ein negatives System 


Br RN Bi ur. MER 
a Pa an F,34+fs 
d. h. bei positiver Objectsdistanz ist das Bild stets dem Object 


gleich gerichtet. 


$5. Einfachste Darstellung des Gesetzes der con- 
jugirten Bild-Distanzen und der conjugirten Bild- 
grössen. 


Die Objectsdistanz OB=f, und die Bilddistanz PB=f, 
(Fig.2) wurden vom Scheitel B aus gerechnet. Man kann sie aber 
auch von anderen festen Punkten der Hauptaxe aus rechnen, 
die Objectsdistanz vom ersten Hauptbrennpunkt Z, die Bild- 
distanz vom zweiten Hauptbrennpunkt @. 

Wir haben dazu die Zeichen 9,, g, gewählt und erhielten 
FF; 


’ı 


1) 9,9, = FıF, le $3) oder 9 = 
2) - En = B VI $ 4) 
9; ist umgekehrt proportional zu y,; wenn g, abnimmt, 
nimmt d, regelmässig zu, und umgekehrt. 
%ı=+%, giebt nach Gl. 1) 9,= 0, 
9,=+F, » E) » $a=+tF» 
gr, 0 > » » P9=-+®, 
=» » » » $3=-F5, 
ee ar 2 > RN 
Wählt man die Zahl F,.F, als Einheit des Längenmaasses, 


setzt man F.. F,=1, so wird überraschend einfach p, = 
L 


Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 597 


Aus Gl. 2) folst für 


ßı Ba 
=+o0, —= = ı) 
e2 "Ba Pı : 
B% 
a et an 
Bı Ba 
= 0, ———= NO ee io 
ET N TEN ; 
3 22 _ 
9,=-F,—=-Hl en lo 
Ba u 
Bi Ba 
Yı = 09) a 0) 


8$6. Die Divergenzwinkel. 
Fällt von dem Object O00' (Fig. 2) ein beliebiger Strahl 
O0J auf die Trennungsfläche des Systems, so ist d der Diver- 
genzwinkel zwischen dem einfallendem Strahle und der 


Hauptaxe, tang d = no 1 oder, sehr kleine Divergenzwinkel 
vorausgesetzt; 
1) fı d= 


Der zu OJ conjugirte Strahl JP macht mit der Haupt- 
axe den Winkel D_e. Das Minuszeichen ist einleuchtend; 
denn wird durch P die Grade PS+0J gezogen, so dass 
zd=_/d'!, so hat ZJPB gegen die Hauptaxe die entgegen- 
gesetzte Lage wie d'. 

JQ (6 
tang (-e) = op ni 
2 hnOZE. 
Aus 1 und 2 folgt 


a) dead Fi, 


Fa d 
Jı F, 
Dr G1. II, 8 2). 
N SE b$ ) 
= I el ea, ed ae ren giebt 
Pa la; 
fı Ba ER Toy \ 
ze 
an a NN 
ES NR u | 
7) j7 nr Die eingesetzt in 3, giebt — mc : 


598 J. Hirschberg: 


oder, wenn die absolute Werthe der Divergenzwinkel für den 
einfallenden Strahl statt d jetzt &,, für den gebrochenen Strahl 
statt e jetzt «, genannt werden, 

VID) nıcı ßı = Nng05P>. 


$7. Die charakteristischen oder fundamentalen 
Punktpaare der Hauptaxe. 

Während 9, von + bis O0 und von O0 bis — varlirt 
wird, nimmt auch 4, jeden Werth von O0 bis +0 und von — 
bis O an, aber jeden Werth nur einmal, d. h. für ein bestimm- 
tes g,. Aus der unzähligen Anzahl conjugirter Axenpunkte 
wollen wir einige charakteristische oder fundamentale 
hervorheben. 

1) 9, =+%, %=0. Zu dem vorderen in unendlicher 
Ferne gelegenen Endpunkt der Hauptaxe ist der zweite 
Hauptbrennpunkt conjugirt. (Vgl. $1 und $5.) 

2) 9 =+%, $%,=0. Zu dem hinteren in unendlicher 
Ferne gelegenen Endpunkt der Hauptaxe ist der erste Haupt- 
brennpunkt conjugirt. 

3) 9ı=-Fi, m=-Fr. 

y,=-F, bedeutet (Fig. 2) den Scheitel 3, da LB=F, und 
gı negativ ist, wenn es im Gange der Lichtstrahlee hinter Z 
liegt. 

„= —F, bedeutet auch den Scheitel B, da @GB=F,, und 
negativ ist, wenn es im Gange der Lichtstrahlen vor G liegt. 
(Vgl. $2 zu Ende.) 

Der Punkt B ist sich selber conjugirt (vgl. $ 3, ce) und wird 
als Hauptpunkt des Systems, die in B auf der Hauptaxe 
senkrechte Ebene als Hauptebene bezeichnet. 


Setzen wir in VI) m Tr jetzt 
2 1 
Yı=-F,, so folgt 
Pı 


Ba 
als charakteristische Eigenschaft der Hauptebene: 
Object und Bild sind gleich und gleich gerichtet. 
($ 3.) Aus VII $ 6 folgt für die Hauptebene m - _ 
v2 


ug 


Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 599 


4) ıı=-P, 9%p=-Fı. %ı=- F, giebt den Krümmungs- 
mittelpunkt M, ML=-(F,ıR)=-FR, (G.V) %=-F, 
giebt denselben Punkt M, GM=-(F,- R)=-F.. 

Auch der Punkt M ist sich selber conjugirt, wie selbst- 
verständlich, da die von M ausgehenden Strahlen (Radien) 
vollkommen lothrecht auf die Kugelflächen fallen und unge- 
brochen in das andere Medium austreten, und umgekehrt. 

M wird der Knotenpunkt des Systemes genannt, und 
die in M auf der Hauptaxe senkrechte Ebene die Knoten- 
punktsebene. 


Setzen wir in VI) a = menu jetzt 
r2 EN 
Q,= —F',, so folgt 
a m 
BE en, 
oder ar 
Bı N 
RR: { n SOME 
Dies eingesetzt in VII) _! = Pr giebt 
Naty Bı, 
ı@ı _Nr oder 
N 
En =1 


9 
als charakteristische Eigenschaft der Knoten- 
punktsebene: die Divergenzwinkel sind gleich d.h. 
ein nach dem Knotenpunkt zielender Strahl wird nicht ab- 
gelenkt. 


$8. Erweiterung des Begriffs der Hauptbrennweiten. 

Befindet sich das Object B,= 1 im ersten Hauptbrennpunkt, 

so ist die directe Vergrösserung v E Au NN vn gleich null, 
Ba = 


da pı=o ($5). Wird das Object ß,=1 um — F\, auf der Axe 


verschoben, d. h. nach dem Hauptpunkt, so ist u=4+ gt 
2 


($ 7), da 9,=-Fı. Wird dasselbe Object 8,=1 beliebig auf 
der Axe verschoben, so erlangt die directe Vergrösserung 


IR Real EA ER 


609 J. Hirschberg: 


Me 


= jeden beliebigen Werth zwischen +0 und -o ($5), 


b 


aber jeden nur ein Mal d. h. für einen bestimmten Werth der 
variablen g,. Wird das Object B,=1 von einem beliebigen 
Axenpunkt aus um die Strecke — F, verschoben, so wächst 


die directe Vergrösserungszahl » jedes Mal um die Einheit an. 


Es sei nn F =d, wo a eine beliebige Zahl; ferner 
Pı Pr B 
BES FreHt l. Gesucht wird y,'. 
2 1 
PNÜNEN URN ieh l ‘ F, wodurch B 
ah N pn? also g2 =g> - £, wodurch unsere De- 


hauptung erwiesen und eine allgemeinere Definition der 
vorderen Hauptbrennweite gewonnen ist. 

Es sei für ß,=1 das inverse Bildgrössenverhältniss, wel- 
ches auch (nach $5) jeden Werth zwischen +0 und — 
annehmen kann, 


il - =, wo a eine beliebige Zahl; ferner 
IN HN 
Banıaı fa’ helm N. ht wird 1 
ae esucht wird g,'. 
J ) nell. . . 
en = +1= 27 2, also 9a'=4s—F,. Wird das Bild 


ß, des Objectes 6, um —F, auf der Hauptaxe verschoben 
(durch Verschiebung des Objectes 8,), so wächst das inverse 
Bildgrössenverhältniss um die Einheit. 

Diese erweiterte Definition der Hauptbrennweiten giebt 


die sicherste Methode zur empirischen Bestimmung derselben, 


ll. Brechung an beliebig vielen Kugelflächen. 


89. Unter der Voraussetzung, dass die sämmtlichen 


vorkommenden Lichtstrahlen mit der Hauptaxe eines beliebigen. 
centrirten!) Systemes von m Kugelflächen zwischen (m+]1) 


isotropen Medien nur kleine Winkel (= 9° oder = bilden, gel- 


1) d.h. eines solchen dessen m Krümmungsmittelpunkte a der- 
selben Geraden, der Hauptaxe, liegen. 


TER Tr 


e, 


/ 
F 


Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 601 


ten die folgenden Sätze!) wie für eine einzelne Brechung so 
auch für alle m Brechungen: 

1) Ein homocentrisches Strahlenbündel bleibt homocentrisch 
($ 2 und $4). 

Fällt ein homocentrisches Strahlenbündel auf die erste 
Kugelfläche, so bleibt es nach der Brechung homocentrisch. 
Folglich gelangt ein homocentrisches Strahlenbündel auf die 
zweite Kugelfläche, welche dasselbe nach der Brechung wieder 
homocentrisch hervorgehen lässt u. s. f. 

2) Von einem ebenen Object ß, das senkrecht zur Haupt- 
axe steht, wird nach den m Brechungen ein ebenes Bild £’ 
gebildet, das senkrecht zur Hauptaxe steht und dem Object 
geometrisch ähnlich ist. | 

a) Die erste Brechung entwirft von 8 das Bild ß,, dieses 
dient als Object für die zweite Brechung, welche das Bild ß, 
liefert u. s. f. Ist 8 senkrecht zur Hauptaxe, so bleibt auch 
ß, senkrecht zur Hauptaxe; ist &, senkrecht zur Hauptaxe, so 
bleibt auch ß, senkrecht zur Hauptaxe, u. s. f. ($ 4.) 


b) en see 


Bneo 9% 

3) Ist das Object 8 nach Lage und Grösse bestimmt, so 
ist auch das definitive Bild 8', welches nach den m Brechungen 
hervorgeht, nach Lage und Grösse bestimmt. 

Von dem nach Lage und Grösse bestimmten Object ß lie- 
fert die erste Brechung an der ersten gegebenen Kugelfläche 
ein nach der Lage und Grösse bestimmtes Bild 8, ($4); ß, 
wird Object für die zweite gegebene Kugelfläche, welche von 
ß, das nach Lage und Grösse bestimmte Bild ß, liefert, u. s. f. 
bis ß'. Das directe Bildgrössenverhältniss . des zusammen- 


1 


gesetzten Systems hängt, abgesehen von den Constanten der 
m Kugelflächen, lediglich von der Grösse und Lage des Ob- 


1) Helmholtz, physiol. Optik S. 50. 


602 J. Hirschberg: 


jectes ab, also, wenn die Grösse des Objectes als constant be- 
trachtet wird, lediglich von seiner Lage (Objectdistanz) und 
den Constanten der m Kugelflächen. 

4) Es ist nßa =n'ß'a', wenn die Grössen ohne Index sich 
auf das erste, die mit dem Index ' sich auf das letzte der 
(m+1) Medien beziehen. ($ 6.) 

n, 0, ßı =, ß, 


N, 5 & =n; 0; ß; 


Nm Am Bm = Nm + 1&m + 1m +1 
n,c, ßı = Nm+1&m+1ßm+ı oder 
nianB nah. 


$10. Die Hauptbrennpunkte des zusammengesetzten 
Systems. 


Aus dem ersten Satz des $ 9 folgt, dass das aus m Kugel- 
flächen zusammengesetzte System auf der Hauptaxe einen 
zweiten Brennpunkt B‘ besitzt, den Vereinigungspunkt der im 
ersten Medium (von einem unendlich fernen Punkte der Haupt- 
axe herkommenden) parallel der Hauptaxe einfallenden Licht- 
strahlen; und einen ersten Brennpunkt D, den Vereinigungs- 
oder Ausgangspunkt der im letzten Medium parallel der Haupt- 
axe verlaufenden Strahlen. 

Die Lage der Brennpunkte ist auf empirischem Wege 
einfach zu ermitteln.) (Wie dieselbe theoretisch aus den Con- 
stanten der m Kugelflächen gefunden wird, soll im nächsten 
Abschnitt gezeigt werden.) 

In B befinde sich das Object ß=1. Wir betrachten irgend 
einen von B ausgehenden Strahl, dessen Divergenzwinkel « 
einen endlichen Werth besitzt; der zugehörige definitive Bild- 
strahl tritt parallel der Hauptaxe aus, x'=0. Nun ist immer 


9) a 
lee ee 


1) Teleskope, d.h. solche Systeme, denen bei endlicher Dimen- 
sion unendlich entfernte Brennpunkte zukommen, müssen zu diesem 
Behufe in ihre beiden Hälften zerlegt und jede Hälfte besonders unter- 
sucht werden. 


Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 603 


Der eingeklammerte Factor rechterseits ist von endlichem 
1 ? BER, 
Werth, da = nach der Annahme endlich, — seiner Natur nach 


endlich und zwischen den Grenzen 3 und '!/, eingeschlossen 
ist; &' aber ist null: folglich wird die rechte Seite des GI. null, 


also & = 0, wenn die vom ersten Hauptbrennpunkt des zu- 


ß 


sammengefassten Systems, nämlich von B ab, gerechnete Object- 
distanz =0. (Wir rechnen die Objectdistanz positiv, wenn 
8 vor B liest und umgekehrt.) 

Da das directe Bildgrössenverhältniss oder die Vergrösse- 


rung des zusammengesetzten Systems m für ein Object ß=1 


lediglich von der Objectdistanz und den Constanten der m 
Kugelflächen abhängt (8 9, 5), dergestalt, dass für das gegebene 
System zu einer bestimmten Distanz des Objectes 8=1 nur 


eine bestimmte Vergrösserung = gehört; so kann die Gleich- 


. ß 
ung, welche den Zusammenhang zwischen 7 
eine lineare sein. Die allgemeinste Form einer solchen 


und regelt, nur 


| Gleichung vom ersten Grade ist bekanntlich 2, = Cp+C', wo 
C und C’ Constanten. 


Da für 9=0 auch == 0 wird, wie oben bewiesen worden, 
so fällt C’ fort; es bleibt = Cy. (Selbstverständlich darf 


man nicht setzen E= 2 da für g=0 auch 7=0, nicht aber 


gleich &). 


$11. Die Hauptbrennweiten des zusammengesetzten 
Systems. 


Hat das Object ß=1 eine bestimmte Entfernung von B, 
folglich $ einen bestimmten Werth; so bedeutet ($ 9,3) das 
directe Bildgrössenverhältniss des zusammengesetzten Systems 


- eine bestimmte Zahl v. Jetzt verschieben wir (nach Töpler) 


604 J. Hirschberg: 


dem Gange der einfallenden Lichtstrahlen entsprechend, so 
dass p abnimmt, 8 auf der Hauptaxe um eine so grosse Strecke 
F, dass v um die Einheit angewachsen ist; b’ sei dann die 
Grösse des definitiven Bildes. 


rue 
ß | 
mw. N Op“. ‚Subtr: i 
LAU DR RL NIGHT 
1=—- CEH'ooder I) Ve 


Damit - noch weiter um eine Einheit anwachse, muss 
von hier ab 8 wieder in demselben Sinne um dieselbe Strecke 
F' verschoben werden, da der absolute Werth der Vergrösse- 
rungszahl v, von der wir ausgingen, ganz beliebig war. F ist 
also für das aus m Kugelflächen zusammengesetzte System eine 
Constante von endlichem Werthe, welche wir als die erste 
Hauptbrennweite des Systems definiren. Wir erhalten so- 


mit aus >= Cp ($ 10) und aus ee schliesslich 


ae 

BR 
p ist variabel, da die Objectsdistanz (gerechnet von B) 
jeden beliebigen Werth von + bis — oo annehmen kann. 
Dabei muss für 8=1 auch das directe Bildgrössenverhältniss 
wegen der linearen Gl. 2) jeden beliebigen Werth von + 


bis —co annehmen, aber jeden nur ein Mal d. h. für ein be- 


stimmtes q. 
Für = 0 wird = 0 
ß 
=ıF —— et 
op Sr ß' 
F ä 
=— _- 1 
p B' air 
= [e'o) = [2.0] u.S: I 


Wir können aber auch ß' als Object betrachten und gleich 


Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 605 


1 setzen. Für eine Objectdistanz 9'!) gleich null wird auch 


a (Vgl. $ 10). Deshalb können wir setzen 
B' 
3) = Dy', 
B 2 
wo D eine noch zu ermittelnde Constante darstellt. 

Für irgend ein bestimmtes 4‘ sei > =w, wo w irgend 
eine Zahl bedeutet. Wir verschieben ß', so dass „' abnimmt, 
auf der Hauptaxe um eine so grosse Strecke F", dass w um 
die Einheit angewachsen: 5 sei jetzt die Grösse des definitiven 
Bildes. 


ß' 
_=-Du'= 
Ba 
=Dip—P)=w+1 
— DE‘ = 1 oder 3) D= 7 


folglich 4) — — 
Da die Zahl w, von der wir ausgingen, ganz beliebig, ist 
F' für das aus m Kugelflächen zusammengesetzte System eine 
Constante, welche wir als die zweite Hauptbrennweite 
des Systemes definiren. 
Aus 2 und 4 folst allgemein 


r? RG En | 
Bi 
und hieraus 
I pp/= ER": 


genau so wie für eine einzelne Kugelfläche. 

y ist die Objectdistanz, welche wir positiv gerechnet haben, 
wenn im Gange der vom ersten Medium her einfallenden Licht- 
strahlen 8 vor B liegt; @' ist die Bilddistanz, welche wir po- 
sitiv gerechnet haben, wenn im Gange der vom ersten Medium 
her einfallenden Strahlen ß' hinter B' liegt. F ist die 
erste Hauptbrennweite, F" die zweite Hauptbrennweite des zu- 


1) Gerechnet von B', positiv, wenn %' im Gange der jetzt aus 
dem letzten Medium herkommenden Strahlen vor B’ liegt. 


606 J. Hirschberg: 


sammengesetzten Systems. Wann diese Grössen positiv zu 
rechnen sind, soll später definirt werden (Abschn. III). Jeden- 
falls nennen wir ein zusammengesetztes System collectiv, 
wenn es reelle Brennpunkte besitzt, wenn also ein parallel 
der Hauptaxe im ersten Medium auffallendes Strahlenbündel 
zu einen auffangbaren Bildpunkt im letzten Medium wirklich 
vereinigt wird. Man sieht sofort, dass, wenn der eine Brenn- 
punkt des zusammengesetzten Systems reell ist, auch der andere 
reell sein muss. Wäre dies nicht der Fall, so würde ein zur 
Hauptaxe paralleles Strahlenbündel durch dieselben (identischen) 
m Kugelflächen bei der einen Durchgangsrichtung nach der 
Axe zugebrochen, bei der Entgegengesetzten von der Axe weg- 
gebrochen, wodurch für ein oder mehrere Kugelflächen ein 
Widerspruch mit $ 3,c entstehen mässte. 

@l. I regelt die Grösse, Gl. Il die Lage zweier conjugirter 
Bilder des zusammengesetzten Systems. 

Wenn % abnimmt, nimmt 4‘ zu, da 
FR 
a 

Wenn p von +o bis - « variüirt wird, nimmt @‘ jeden 
Werth von + bis — oo an, aber jeden nur ein Mal d.h. für 


4 


G 


ein bestimmtes 4. 
Für = Owird p=+o 
g= F p'= F 
ol NE 
y=+» [pr — 10 US 


Wegen = = -- muss auch 5, wenn p von + w bis — 


ß 


varürt wird, jeden Werth von + bis — © annehmen, aber 
jeden nur ein Mal d. h. für ein bestimmtes g. 
Deshalb ist die Frage zulässig, für welche Werthe von 
die Vergrösserung 5; gleich den einfachen Zahlen 
+%©,+1,0,-1, -©. (Siehe unten $ 14.) 
$13. Zweiter Beweis, dass m Kugelflächen durch 
ein System zu ersetzen. 


Waren die m Kugelflächen vollständig gegeben, so mussten 


Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 607 


ihre Brennweiten und ihre Brennpunkte, folglich auch die 
gegenseitigen Abstände der letzteren bekannt sein. Wir wollen 
für die m Brechungen an je einer Kugelfläche der Bilddistanz 
p und der Brennweite F' für jede einzelne Kugelfläche einen 
unteren Index 1, 2, 3 bis m beilegen, welcher die Ordnungs- 
zahl der brechenden Kugelfläche bezeichnet, und einen oberen 
Index ‘' oder ‘, je nachdem die betreffende Grösse sich auf das 
erste oder zweite Medium irgend einer der m Kugelflächen 
bezieht. Es sind dann gegeben 

Biss Blau Allau., su Re bis Braunau; 
und ferner d, = Bi" B,'; 
DB Ban Bas 


dm 1 = BR“ Ban’. 
Für die einzelnen Kugelflächen gelten jetzt die folgenden 
Relationen (I. $5, Gl. VL) 


a Em 
ENT, m p" 
Ä [L 
a ana es 
Ba IE P2 
Bm 1 mi em Fam 
Pm PB" Fm Em’ 


Multiplieirt man diese Gleichungen mit einander, in dem 
man setzt 
OR ZEN NG a A im DR 


Nur 


BP) Pa 93" 93" - - . . Pm'=y 
VER SHNESN  R  mn — Bi 
ÖR B  Rae he sontolet, 
a oder 
P 
DER Ce ) 
B® NR +Pp 


Da ß ganz beliebig, so Ei diese analytische Formel 
geometrischh dass es ein einfaches analoges System 
geben muss, welches genau dasselbe leistet, wie die 
Summe der m einzelnen Kugelflächen d. h. von jedem 
nach Lage und Grösse gegebenen Object ß dasselbe nach Lage 


608 J. Hirschberg: 


und Grösse bestimmte Bild ß’ liefert, wie die m Brechungen 
der m Kugelflächen. Unsere Substitutionen a bis ö sind er- 
laubt, da die sämmtlichen Grössen y: mit zwei Indices nur von 
der ersten y,' und von den Constanten der einzelnen Kugel- 
flächen abhängen. 


s REN ER 
N Dr 
dı=g1"+ pa" oder ag EREN {a8 Sa Hu ae 
Yı Yı 
u ae Eh 
Pa = 4 = D 4 Mm 
Pa ®,.dı -Fı'F, 
s Yr'd,d - 9, F (FE u 
a a a nn. 
m Au gr FE, 


Geben wir in unserer Gl. I dem +‘ dieselbe Bedeutung 
wie im vorigen $, d. h. rechnen wir die Objectsdistanz von 
demselben Punkte (BD) wie dort; so hat auch F" hier dieselbe 
Bedeutung wie dort. 

Die Brennweiten des substitutiven Systems müssen das 
Product der entsprechenden Brennweiten der einzelnen Kugel- 
flächen enthalten; es muss sein die erste Brennweite F" des 
substitutiven Systems 

NEN Pippi einen lm leide 
und die zweite Brennweite 

PUR, BU er int ADD 
‘X einen noch zu ermittelnden Factor darstellt, der bei Aus- 
führung der Multiplication @,'43'*"ym' in den Nenner, bei 
Ausführung der Multiplication y5”'P-3‘' "4 m‘' in den Zähler des 
resp. Bruches tritt ($ 20). Aber auch ohne den Factor A zu 
kennen, können das Verhältniss F’: F“ ermitteln, da diesen 
beiden Grössen A gemeinsam ist. 

Das zweite Medium der ersten Kugelflläche ist identisch 
mit dem ersten Medium der zweiten Kugelfläche u. =. f. 

Also ist nach. ($ 3, IV) 


Fa NR 
DEF 
1 U2 
751 N 


Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 609 


Fm' Nm 
Em“ ® Nnm+1 


« Multipl. 


Fy' F,' F,' ee. Fm' _MeNng N, Heim 1 


Ru Fz4u Ru Ra] Em" SW Ny sm ER 
TE OD 
also [nach I] II) m = en 


wenn n das erste, n' das letzte der (m-+1) Medien charakterisirt; 
genau wie bei einem einfachen System. ($ 5, IV.) 


14. Die fundamentalen Axenpunkte des zusammen- 
P 
gesetzten Systems. (Vgl. Fig. 5.) 


)) g=+» giebt (aus Gl. III $ 12) 9'=0. Zu dem vor- 
deren in unendlicher Ferne belegenen Endpunkte der Hauptaxe 
ist der zweite Hauptbrennpunkt 5’ conjugirt. ($ 10.) 

ß ß 
gi =—- 0, —=(. 

Zu jedem im ersten Medium parallel der Hauptaxe ver- 
laufenden Strahl gehört ein conjugirter Strahl, der im letzten 
Medium durch den zweiten Hauptbrennpunkt geht, und um- 
gekehrt. 

2) g'=+© giebt (aus Gl. II $ 12) 9=0. Zu dem hin- 
teren in unendlicher Ferne belegenen Ende der Hauptaxe ist 
der erste Hauptbrennpunkt conjugirt. ($ 10.) 

Bar: Br 
B 5 gi =0. 

Zu jedem im ersten Medium durch den ersten Hauptbrenn- 
punkt gehenden Strahl gehört ein conjugirter Strahl, der im 
letzten Medium parallel der Hauptaxe verläuft, und umgekehrt. 

3) o=—F giebt (aus Gl. III $ 12) y’=- F'. Trägt man 
von B aus auf der Hauptaxe die Strecke -— ab, so dass 
HB=-F, und von B' aus die Strecke - F', so dass H'B'=_F': 
so sind H und H' zwei conjugirte Axenpunkte. Dieselben 
werden als Hauptpunkte des zusammengesetzten Systems 
und die in ihnen auf der Hauptaxe senkrechten Ebenen als N 


Hauptebenen bezeichnet. Wird in Gl. IV © =) jetzt 


p=-F gesetzt, so folst für die conjugirten Hauptebenen 
Reichert’s und du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 39 


610 J. Hirschberg: 


5-1 oder ß=Pß' als charakteristische Eigenschaft der- 
selben: Object und Bild sind gleich und gleich ge- 


richtet. Aus la folgt für dieselben Ebenen = = 


Ein Object in der ersten Hauptebene hat ein Bild in der 
zweiten Hauptebene, welches dem Object gleich und gleich 
&erichtet ist; und umgekehrt. Ein Strahl, welcher auf die 
erste Hauptebene einfällt in der Entfernung +«a vom ersten 
Hauptpunkt, tritt hervor aus der zweiten Hauptebene in der- 
selben Entfernung +a vom zweiten Hauptpunkt; die Gerade, 
welche die Durchschnittspunkte der Strahlenbahn durch die 
beiden Hauptebenen mit einander verbindet, ist der Hauptaxe 
parallel. In einem zusammengesetzten System stehen die bei- 
den Hauptpunkte um die Distanz D von einander ab, bei 
einem einfachen fallen sie in denselben Punkt, den Scheitel der 
brechenden Fläche, zusammen. Von den Hauptpunkten des 
zusammengesetzten Systems aus werden die Brennweiten ge- 
rechnet, BA=F von H aus und B’H'= F' von H' aus: positiv 
im Sinne der Lichtbewegung. Auch die Bilddistanzen (con- 
jugirten Vereinigungsweiten) können von den Hauptpunkten 
aus gerechnet werden, indem man setzt 

S=y+F odr =f-F und 

f=gp'+F oder y=f!- = dann folgt aus II) 
W-AGH=RR; j-,- an oder 

nr = 7, und ebenso VD f= Fr an 

4) 9=-F" giebt (nach Gl. I1$ 12) g'=—-F. Trägt man 
auf der Axe von B aus die Strecke BK=-F' ab und von 
B' aus die Strecke B’K'=-F; so stellen K und Ä' zwei 
conjugirte Punkte dar. Dieselben werden als Knotenpunkte 
und die in ihnen senkrecht zur Hauptaxe errichteten Ebenen 


als Knotenpunktsebenen bezeichnet. Wird in Gl. IV & =-7 


jetzt 9=— F' gesetzt, so folgt für die conjugirten en. 
= er — (Gl. II $9) und (aus IIs $ 9) 


Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 611 


Be 

BERN ne! a 

en =1 oder «=«’ 

& 
als charakteristische Eigenschaft derselben: ein Strahl 
der im ersten Medium nach dem ersten Knotenpunkt zielt, 
geht im letzten Medium vom zweiten Knotenpunkt aus und 
bleibt nach der Brechung seiner ursprünglichen Richtung par- 
allel.e Ein Object 8 in der ersten Knotenpunktsebene hat sein 


Bild 8‘ in der zweiten Knotenpunktsebene, so dass ß'= er & 


Während in einem einfachen System die beiden Knotenpunkte 


in einen, den Krümmungsmittelpunkt, zusammenfallen, sind 

sie in einem zusammengesetzten System um die Strecke D! 

von einander entfernt. D'=-D; denn es ist identisch 
2,2, 1 MD. 

da hierdurch dieselbe Strecke BB', die Distanz zwischen den 

beiden Hauptbrennpunkten auf zwei verschiedene Arten aus- 

gedrückt wird. | 


9) Setzen wir weiter (nach Töpler) Dr 1, so erhalten 


wir die beiden negativen Hauptpunkte AR und A‘, für welche 
die conjugirten Bilder gleich gross, aber entgegengesetzt ge- 
richtet sind und für welche 

mn 


a DE SE ON 
er Til 


6) Setzen wir endlich 2 =-1, so erhalten wir die nega- 


tiven Knotenpunkte %& und k‘, für welche die conjugirten 
Divergenzwinkel an absoluter Grösse gleich, aber entgegen- 
gesetzt zur Axe gerichtet sind, so dass die gebrochene Bahn 
eines im ersten Medium durch k, also im letzten durch k' ge- 
gehenden Strahles über AK‘ als Basis ein gleichschenkeliges. 
Dreieck bildet und dass für k und k' 


y=+F'; y'=+F; en 


39° 


612 J. Hirschberg: 


$15. Die Construction conjugirter Strahlen und 
Bilder 


für ein beliebiges System, dessen fundamentale Punkte bekannt 
sind, folgt aus den in $ 14 geschilderten Eigenschaften der 
letzteren. (S. Helmholtz, physiol. Opt. 41 und Töpler, 
Poggendorff’s Annalen u.s.w.Bd. 142, S. 234 ff.) Da fünf Paare 
fundamentaler Punkte existiren, so sind, wenn diese Paare zu 
je zweien als gegeben betrachtet werden, zehn verschiedene 
Constructionen ausführbar, von denen die folgenden die 
einfachsten sind: 

1) In Fig. 3 sei ae der einfallende Strahl. Man be- 
trachte die vier Hauptpunkte als gegeben, und mache Z'e'=He 
sowie —h'a' - ha: so ist e'a' der gesuchte austretende Strahl. 

2) In Fig. 4 sei a ein leuchtender Punkt. Man be- 
trachte die vier Knotenpunkte als gegeben, errichte im Halbi- 
rungspunkte von KK' ein Loth, und ziehe die Gerade ak, 
welche das Loth in m schneidet; verbinde m mit &' und ziehe 
von K' zu aK eine Parallele: wo diese mk schneidet, liegt der 
gesuchte Bildpunkt a. 

Fig. 5 giebt nach Töpler die zehn fundamentalen Punkte 
für das menschliche Auge. 


$ 16. Substitution eines zusammengesetzten Systems 
durch ein einfaches. 


Für jedes zusammengesetzte System wie für das einfache 
(se. die einzelne Kugelfläche) gelten die folgenden Relationen 


FE n' 
De ar 
f N a 
I) g'p"=F'E" oder — + — =1. 
) pp ar 
p' p' Fi 
Ih) — =-— =--—. 
) B“" F' po‘ 


Denken wir uns das einfache und ein zusammengesetztes 
‘System, für welche n‘, n‘ sowie F' und F“ identisch sind, so 
besteht der Unterschied, dass bei dem ersteren die beiden 
Hauptpunkte in den Scheitel zusammenfallen, bei dem letzteren. 


Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 613 


um die Strecke D von einander entfernt bleiben. Die Wirkung 
des zusammengesetzten Systems besteht in einer parallelen 
Verschiebung des einfallenden Strahles um die Strecke D’ 
und aus derjenigen Brechung, die dem homologen einfachen 
System zukommt. Ist D klein gegen die Grössen F, so kann 
man ohne erheblichen Fehler das zusammengesetzte System 
ersetzen durch das einfache, dessen Krümmungsradius 7"! - F", 
oder noch genauer durch dasjenige einfache System, dessen 
Krümmungsradius (F"+d')-(F'+d'), indem man D derart. 
theilt, dass 
D=d'+d'" 
diyduzına: ek 
also 
Firdi: Ri d!—n!'n!. 

Für das menschliche Auge ist ungefähr D=d'+d''=0'4 Mm,, 
dagegen F'=15, F"=-20 Mm., mithin die beschriebene Re- 
duction oder Substitution zulässig. 


Il. Zusammensetzung von zwei beliebigen Kugelflächen-Systemen 
mit gemeinschaftlicher Hauptaxe. 


817. Bedingungsgleichungen. 
Für das erste System gilt ($ 11,1) 


Pı [CPI ie am 
1 = s=- 18-7 
f Pa IN ’ı ; 
ebenso für das zweite 
a um LE Am, 
Ps JE Pa 


Der untere Index 1, 2 der Grössen g',, F bezieht sich auf die 
Ordnungszahl des Theilsystems, der obere Index ' auf das erste, ' 
auf das zweite Medium des bezüglichen Theilsystems; die ent- 
sprechenden Grössen ohne unteren Index (F", F'') beziehen sich 
auf das zusammengesetzte System und stellen die Unbekannten 
der Aufgabe dar. Durch B und HZ mit den entsprechenden 
Indices werden die Brenn- und Hauptpunkte bezeichnet. Die 
beiden Theilsysteme sind gegeben durch ihre Brenn- und 


614 J. Hirschberg: 


Hauptpunkte;!) deshalb ist auch gegeben d=B," B,' d. h. die 
Distanz zwischen dem zweiten Brennpunkt des ersten und dem 
ersten Brennpunkt des zweiten Theilsystems. Positiv ist d, 
wenn in Richtung der einfallenden Lichtstrahlen B,' hinter B,'' 
liegt. Das letzte Medium des ersten Theilsystems ist noth- 
wendig identisch mit dem ersten Medium des zweiten Theil- 
systems und nothwendig ist für jede Lage des Objectes ß, 
3) d=g9,"+@,' oder gy, =d-g,", 
Ist d=Q,.,2 solwird. 2440, 

d>gp,', so wird «,‘ positiv, 

d<y,', so wird @,' negativ. 

Sind die Constanten der beiden Theilsysteme (F\' F," 
Fy' F,'') gegeben und das Object nach Lage und Grösse be- 
stimmt, d. h. 8, und 4,‘ bestimmt, so ist durch die Doppel- 
gleichungen 1 und 2 und durch die Relation 3 jedes Mal das 
definitive Bild nach Lage und Grösse eindeutig bestimmt d. h. 
3‘ und ß, gefunden, folglich muss ein combinirtes System 
existiren, welches dasselbe leistet, als die beiden Einzelsysteme 
zusammen genommen. 


$S18. Die charakteristischen Punkte des combinirten 
Systems. 


A) Setzt man (in Gl. I, $ 17) gı'=+%, so giebt der durch 
(pa‘' charakterisirte Axenpunkt nothwendig den zweiten Haupt- 
brennpunkt des combinirten Systems durch seinen Ab- 
stand von dem gegebenen zweiten Brennpunkt des zweiten 
Theilsystems; y,'=+o giebt p,"=0, also (nach 3, $ 17) 9,'=d, 
folglich nach 2, $ 16) 
aa 
7 d 


19" ee 


B) Setzt man (in 2, $ 17) yx'=+®, so giebt nothwendig 
der durch p,' bestimmte Axenpunkt den ersten Hauptbrenn- 
punkt des combinirten Systems durch seinen Abstand 


1) Sind statt der Hauptpunkte der Theilsysteme ihre Knoten- 
punkte gegeben, so kann man entweder für diese eine durchaus ana- 
loge Rechnung durchführen oder aus den Brenn- und Knotenpunkten 
die Hauptpunkte construiren. ($ 14.) 


Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 615 


von dem a ersten Brennpunkt des ersten Theil- 


systems. ya" =+%» giebt 9,'=0, also (nach 3, $ 17) p,''=d, 
folglich e II, $16) 
I) > BB, 


C) Durch Multiplication der Doppelgleichungen 1, 2 $ 17 
anit einander erhält man 


Br. @1. Er) 
1) —- = 13 
IN an 
Bı Va RT AR 
9, Zı 
ar: Du Pa" 


In diesen Gleichungen muss nothwendig, wenn ß,=ß, ge- 
setzt wird, @,' den ersten Hauptpunkt des combinirten 
Systems bestimmen durch seinen Abstand von dem gegebenen 
ersten Brennpunkt des ersten Theilsystems; und ebenso 3’ 
den zweiten Hauptpunkt des combinirten Systems 
bestimmen durch seinen Abstand von dem gegebenen zweiten 
Brennpunkt des zweiten Theilsystems. 

Somit ae aus 1, C): 


F,' 
1= Fr he, oder, da p,'=d—p,"= ı_ (817; $11,M), 
Ayskzıg nd an Gy. also 
P, 
II) “m F, En LH -HB,' 


Ebenso folgt aus 2, C): 


FR," FF," 
1= der, da pı=d-py'=d-— 222.817; $1,D. 
m oder, da pu'=d- pa =d- 17; 1,0 
a (d- 2 det si ) -—F UNE SIKU also 
Pz2" 
m a, ma: 


ein Resultat, das man (mit Rücksicht auf die Gl. 1, 2, C un- 
seres $) auch durch cyclische u der Indices aus 
III erhalten konnte. 

_ ___D) Durch Subtraction der Gl. III von II folgt BB — 
H'B,'=B’H'=F' d. h. die erste Hauptbrennweite des zu- 
sammengesetzten Systems; und ebenso, durch Subtraction dex 


a li, 5 5 AR. 
RE Run IRRE! PAR 
NIE w 


616 J. Hirschberg: 


Gl. IV von D B" B',"—H" B,"=B"H"=F" d.h. die zweite Haupt- 
brennweite des zusammengesetzten System. Wir erhalten 


mo ut 
Ur m 


E) An Stelle von B,“B,'=d kann auch gegeben sein 
H,"B,'=D, d. h. die Distanz zwischen dem zweiten Haupt- 
punkt des ersten Theilsystems und zwischen dem ersten Haupt- 
punkt des zweiten Theilsystems. Da nothwenig D=F\''+d+F,' 
oder -d=F,'+Fy'—-D, so folgt aus Gl. I, und II, 


ie PR: 
h)F Fun: 

ZZ Hugh 
WI TRTER FD 


F) Da somit die Brenn- und Hauptpunkte des combi- 
nirten Systemes gefunden, sind dieKnotenpunkte bekannt ($ 13,4): 
BIRZRN, K'B'"=f", 


$19. Linsen, 


welche in Luft oder, wie die des menschlichen Auges, in eine 
optisch gleichförmige Flüssigkeit eingetaucht sind, haben zur 
Bedingungsgleichung (s. Helmholtz a. a. O.) 
les 
1 F=F" _ NıNaTıTa 

(n,—n, )[n,(r, 7 )+R2—-n1)d] 

Die Entfernungen der Hauptpunkte (welche hier mit den 
Knotenpunkten zusammenfallen, da (F'= F“), von den Linsen-. 
flächen sind 


n,dr 
2 h' > ı 1 
nz, #,-r,)+R,—n,)d 
3) A =— n,dr, 


n, W2-7,)+n,—n,)d 
Die Entfernung der Hauptpunkte von einander: 


(nz -n,)(d+r2,—r}) 
ed 
) N, ra —-r,)+(n, —n,)d 


Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 617 


Endlich ist 


5) r=(-n)E| ar Vi — . 
für symmetrische Linsen. 

Werden zwei gewöhnliche Glaslinsen, bei denen die Haupt- 
ebenen innerhalb der Linsensubstanz liegen, mit einander com- 
binirt, so bedeutet d=0 das Teleskop (F'=&-F") und zwar 

D=-F,''ıF,' das astronomische, 
D=F,“"_F,' das Galilei’sche Fernrohr. 

Ein negativer Werth von #" (I, , I, $ 17) bedeutet nur, 
dass im Gange der einfallenden Lichtstrahlen B’ hinter H' 
liegt, womit ein collectiver Charakter des combinirten Systems 
nicht unvereinbar ist.') 

Zwei dispansive Linsen vereinigt geben stets ein dispan- 
sives System. Zwei collective Linsen (oder Systeme) ein col- 
lectives, ausser wenn 

DER Rn. 
Dies. 

Für diese Grenzen von D wird ein parallel auf die erste 
Linse fallendes Strahlenbündel divergent aus der zweiten aus- 
treten. Hierdurch ist ein neues Optometer gegeben, das 
vor den Instrumenten von A. v. Graefe und Snellen durch 
Kürze und Handlichkeit sich auszeichnet. An den Enden eines 
ausschiebbaren Tubus befinden sich starke, aber verschiedene 
Convex-Gläser (z. B. von 1 und von !/, Zoll Brennweite oder 
von 1'!/, und 1 Zoll Brennweite). Der Untersuchte blickt durch 


1) Ein Beispiel wird dies klar machen: Zwei Glaslinsen von je 
1'' Brennweite stehen 10’ von einander. In der Mitte zwischen bei- 
den befinde sich das Object ?=+1. Die beiden Linsen entwerfen 
von £ die Bilder #, und £,, die gleich gross und gleich gerichtet 
sind; $, liegt 4'' vor dem ersten Brennpunkt, £, aber 4'' hinter dem 
zweiten Brennpunkt der zweiten Linse: folglich liegen hier die Haupt- 
punkte des combinirten Systems. Fällt ein paralleles Strahlenbündel 
ein in Richtung 1, 2; so wird es 4'' hinter dem zweiten Brennpunkt 
der zweiten Linse zu einem reellen Bildpunkt vereinigt. Fällt es in 
Richtung 2, 1 ein, so wird es #' vor dem ersten Brennpunkt der 
ersten Linse vereinigt. Das combinirte System ist collectiv, aber die 
Hauptpunkte liegen (um je #) vor den Brennpunkten. 


618 J. Hirschberg: 


den Tubus nach einer auf dem Kopf stehenden Schriftproben- 
tafel und bringt durch Schrauben die beiden Gläser in die für 
sein Auge passende Entfernung. Die intermediäre Hauptpunkt- 
distanz der beiden Gläser kann aussen am Tubus genau ab- 
gelesen werden und bestimmt durch den Grad der Convergenz 
des austretenden Strahlenbündels die Einstellung des unter- 
suchten Auges. Die erstgenannte Combination ergiebt ungefähr 


für Hypermetropie 1/3422... 2%... D=As y Mm, 

für dEimmetropie:! en. en RD A 

füröMyopie ll... Daun) So, DEBSDR NE 
die zweitgenannte Combination ergiebt 

TUE U Se ns ehe DD 

Ba BR LT ee a Re I 


für MR RS NER sm we a 
Das Instrument kann monocular und binocular und gleich- 
zeitig auch zur Bestimmung der Sehschärfe angewendet werden. 
D<F,'" charakterisirtt ein zusammengesetztes Objectiv 
eines einfachen Mikroskops, D>F,'+F,' aber giebt das ein- 
fache Schema eines zusammengesetzten Mikroskops. 


$ 20. Schluss. 


Zwar könnten wir die Untersuchung als beendigt ansehen, 
da die Formeln des $ 18 ausreichen, um nach einander beliebig 
viele Systeme zusammenzusetzen, aber wir wollen noch einige 
Schritte weiter gehen, weil wir dann zu einem höheren Stand- 
punkt gelangen, von dem wir unseren Ausgangspunkt und die 
durchlaufene Bahn überschauen. 

Wir nehmen eine Reihe von m beliebigen Kugelflächen- 
systemen auf derselben Axe an. 


Für das erste System gilt 1) 2 =— z =— = 
Vu bebirnzweibeit is 02) ß, =— = en ee 
N anke SUN 5 =— - =- Sn 
A EN AANLELLEN 225 SUR) nn us 


a nn ci, 


Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 619 


B,' bedeutet den ersten Brennpunkt, 7,‘ den ersten Haupt- 
punkt, F,' die erste Brennweite des ersten Systems u. s. £. 

Gegeben sind selbstverständlich auch die intermediären 
Distanzen: 

a) BiuERu d, 
b) BAIBS d: 
OL BENBRZ dureh 

Wir combiniren System 1 und 2 zu einem neuen System 
A, für dessen Constanten wir ohne unteren Index schreiben, 
also B', B"; F', F'; H', H''. Wir combiniren darauf System 
1, 2 und 3 zu einem neuen System B, dessen Constanten wir 
mit Bu BUS HN HN 2 Mel) bezeichnen. 

Wir combiniren System 1, 2, 3 und 4 zu einem neuen 
System C, dessen Constanten wir mit 5‘, DB; H', H"; F', F“ 
bezeichnen u. =. £. Mare We 

Um die Formeln des $ 18 direct anwenden zu können, 
berechnen wir aus den Brennweiten und Abständen der gege- 
benen Systeme (sc. aus der Grösse F mit 2 Indices und den 
Grössen d mit einem Index) die Abstände 

BB dh 
BUB. = d,usf. 
a) Nach $ 18 gilt für die Combination der beiden ersten 


‚Systeme 1 und 2 zu dem System 4. 
. En 


ID B7B2 = N 


1 


F'F)"+F,F, 


um DB, = 
Be a 
VE-BB-mB- Zr ine. 
1 1 
vn F"= BB —HB,"= A =Fi"F,". _ 


b) Um die Systeme 1, 2 und 3 zu dem einen System B 
zu combiniren, fügen wir nach den Formeln sub a) zu dem 
System A (sc. 1,2) das System 3, indem wir berücksichtigen, dass 


620 J. Hirschberg: 


d,=B" By =B,"B,—B"B,;" 
d PunBar 8 du d,F,F,' 
Te R dı d, \ 


EN Jan isn Rene Va 


DE aaa ee 
a 
a en Fury“ 
Pe RN De ı a ıF,' 1 IF Hp" 
m a pr 4 u 1 [X En u u u 
x) MB" =Fı = Di a 
Ma oe 
BEE oo, 
PUR," a U 
A a 
= ya) TR Ba x4+1 


dd, d, —Fı Fu") 

Hiermit wäre den practischen Anforderungen Genüge 
geleistet, welche die Dioptrik des Auges mit seinen drei 
brechenden Flächen an uns stellt. Sind für diese drei Flächen 
(Hornhaut, vordere und hintere Linsenoberfläche) die Brenn- 
weiten (F\' Fı" F,' F,' F,' F,'') und die intermediären Ab- 
stände (d,, d,) gegeben; so kann man nach den Formeln VII 
bis XII die optischen Constanten des Auges direct hinschreiben. 
Aber aus theoretischen Gründen, um das Bildungsgesetz 
zu erkennen, wollen wir noch ein Glied hinzufügen. 

c) Um die Systeme 1, 2, 3 und 4 zu einem neuen System 
C zu combiniren, fügen wir auch unseren Formeln sub a) zu 
dem System B (sc. 1, 2, 3) das System 4, indem wir berück- 
sichtigen, dass 

d,= BB =B,"BBUB,”, 

F3F,"d, Yn dd, d,—d; Der ek FE 


d,=d, -— — 1 _ = 
ur aa nn d,d,—Ly'F," 
F'F,' x(-1) 
IDez22 2 ee ıgı m ıpı 
x F d; F, F, Fa F, d,dad,—d, F,'F3"—d, F,'F," 
FF. x(-1) 
XIV, = _—= 0 _Fupupı a 
N d, a ah dı da, Fr Fra ED 


Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 621 


Dieselben Resultate I bis XIV erhält man auch direct aus 
den Bedingungsgleichungen 1—4 und a bis c dieses $$, nach 
Anleitung der Rechnungen in $ 18. 

Nunmehr haben wir eine werthvolle Bestätigung des 
Satzes gewonnen, dass, wenn auf derselben Axe m einzelne 
Kugelflächen gegeben sind, die erste Brennweite des aus den 
m Kugelflächen combinirten Systems gleich dem Product 

TE EN NE SENAT Fn'; 
multiplicirt mit einem constanten Factor; und die zweite Brenn- 
weite des combinirten Systems gleich dem Product 
ar DIET RS N 
multiplieirt mit demselben Factor. ($ 13.) Ja wir sehen, dass 
dieser Satz ganz allgemeine Gültigkeit besitzt für m beliebige 
gegebene Kugelflächensysteme. 

Die vordere Brennweite F'' eines Systemes geht, wenn 

ein zweites System hinzukommt über in 
ER RX = 5 
und wenn dazu ein drittes System hinzukommt, in 
xC-Dxe) 
OR PIE 2 Be 
und wenn dazu ein viertes System hinzukommt, in 


» i 1 ı x(-1) 
naar da 


FF xXF,' 


Es ist aber 


4 “u 
And, Rs Fy0=d, (d,- 27) 
1 
4 4 Ü N] N d F ıF u 
dd, dad; F,'F,'—d,F,'Fz'=(dıd,— F,'F,' AZ, Top Ä 


Also schreiten die Nenner der hinzukommenden Glieder 
fort nach dem Gesetz 
77 

ab—a' 

abe — ca— ab': 
dies ist, wie vorauszusehen war, ein Analogon des von Gauss 
benutzten Euler’schen Algorithmus. 

(Schluss des I. Th.) 


Optische Notizen. 


Von 


J. HIRSCHBERG. 


(Nach einem am 14. Juli 1876 in der Berliner physiologischen Gesell--. 


schaft gehaltenen Vertrage.) 


I. Binoculare Verschmelzung von zwei identischen 
Netzhautbildern, 


Dem Bildhauer erwächst öfters (so jetzt beim v. Graefe- 


Denkmal) die Aufgabe, nach einem Portrait eine naturgetreue- 
Büste zu bilden; aber nicht immer ist es leicht, die Schatti-. 


rungen einer ebenen Zeichnung plastisch zu deuten. Nimmt man 


zwei zwiefach spiegelnde Glasparallelepipeda (S. die Fig.), wie 
sie an dem binocularen Augenspiegel von Giraud-Teulon 


ne u 


Optische Notizen. 623 


angebracht sind, und betrachtet hierdurch binocular eine 
grössere Photographie, so erscheint diese zunächst in gleich- 
namigen Doppelbildern. Es gelingt aber sogleich durch pas- 
sende (parallele) Richtung der Sehlinien die beiden binocularen 
Doppelbilder zu einem überraschend plastischen Ganzbilde zu 
vereinigen, namentlich wenn man aus der Entfernung von 
einigen Fussen die Betrachtung des Portraits beginnt und all- 
mählich heranrückt. Ist die Verschmelzung erfolgt, so wird 
die Accommodation für ein näheres Object mit der Convergenz 
für ein ferneres verbunden, wodurch eine merkbare Vergrösse- 
rung des Ganzbildes gegenüber den noch nicht verschmolzenen. 
Halbbildern entsteht. Dass nur eine Scheinvergrösserung vor- 
liegt, ist nach den Gesetzen der Katoptrik anzunehmen und 
wird sofort deutlich, wenn man von seinen Fingern den einen 
durch den Apparat hindurch und central, den anderen neben 
dem Apparat vorbei und leicht excentrisch betrachtet: die Grösse 
der Netzhautbilder beider Finger erscheint hierbei. gleich. 
Sowie wir aber (mit convergirenden Gesichtslinien) zur Fixa- 
tion des anfangs excentrisch betrachteten Fingers übergehen, 
drängt sich uns der Eindruck auf, dass der letztere dem Auge 
bedeutend näher steht als der zuerst fixirtte. Dass eine Schein- 
vergrösserung vorliegt, erkennt man noch klarer, wenn man 
ein Blatt mit gleichförmigen grossen Druckproben erst bino- 
cular und einfach durch den Apparat hindurch anschaut, dann 
neben dem Apparat vorbei betrachtet; das Netzhautbild der 
Buchstaben ist in beiden Fällen gleich gross. 

Schiebt man, während das betrachtete Portrait in zwei 
Halbbildern erscheint, statt die Gesichtslinien parallel zu stellen, 
vor jedes Auge ein schwaches Prisma, die brechende Kante 
medianwärts gerichtet; so geschieht die Verschmelzung der 
Doppelbilder bei einem Convergenzgrade, welcher der accom- 
modativen Einstellung der Augen d. h. dem räumlichen Ab- 
stande des Gesichtsobjectes entspricht. Dann ist auch die 
scheinbare Grösse des Ganzbildes von der der Halbbilder nicht 
verschieden. In dieser Hinsicht ist der kleine Apparat von 
physiologischem Interesse, weil er in bequemer Weise die ex- 
perimentelle Erläuterung des Satzes giebt, dass bei gegebener 


624 J. Hirschberg: 


Grösse des Netzhautbildes eines binocular betrachteten Objectes 
die scheinbare Grösse und also auch die scheinbare Entfer- 
nung von dem Convergenzwinkel abhängt. Diese Abhängigkeit 
ist aber keine mathematisch strenge. Das bei parallelen 
Sehachsen gewonnene Ganzbild erscheint mir nicht unendlich 
gross im Verhältniss zu dem Halbbild, sondern etwa zwei Mal 
so gross; dem entsprechend wird es auch in eine Entfernung 
projieirt, welche etwa zwei Mal so gross ist als die wirkliche 
Entfernung des Portraits. 

Betrachtet man ein körperliches Object (z. B. einen Ofen) 
durch den Apparat, so erscheint dasselbe bekanntermaassen 
platter als bei freier Betrachtung wegen Verkleinerung der 
stereoskopischen Grundlinie; somit stellt der Apparat die Um- 
kehrung des Helmholtz’schen Telestereoskopes dar, welches 
durch Vergrösserung der Basallinie das Relief ferner körper- 
licher Objecte vergrössert. 

Kehren wir nunmehr zu unserem Ausgangspunkt zurück, 
so erscheint es schwierig, anzugeben, worauf der plastische 
Eindruck beruht, der sich bei Verschmelzung der binocularen 
Doppelbilder eines ebenen Portraits einem jeden Beobachter 
unwillkürlich aufdrängt. Soviel ist sicher, dass hierbei kein 
stereoskopisches Sehen stattfindet. Sollen zwei ebene Zeich- 
nungen zu einem stereoskopischen Eindruck verschmolzen wer- 
den, der identisch ist mit dem bei binocularer Betrachtung des 
entsprechenden körperlichen Gegenstandes gewonnenen Eindruck, 
so müssen jene beiden Zeichnungen gewisse Verschiedenheiten 
darbieten, wie wir sie bei einäugiger Betrachtung des körper- 
lichen Objectes von den beiden verschiedenen Standpunkten 
unserer beiden Augen aus gewinnen: die Mittelpunkte unserer 
beiden Augen, mit denen wir die körperliche Welt anschauen, 
sind eben um ungefähr 60 Mm. von einander entfernt. Aber 
absolut identisch sind, nach den Elementen der Katoptrik, die 
beiden Bilder, welche durch unseren Apparat zunächst auf 
verschiedenen Stellen der Projectionsebene entworfen werden. 
Aber die Lehre von der konischen oder perspectivischen 
Projection giebt uns vielleicht eine Hypothese zur Erklärung 
der Thatsache an die Hand. Wenn man von einem festen Punkt 


FEN DER NEE NN RR UROD EU  reTe 


Optische Notizen. 625 


im Raume nach allen Punkten der Oberfläche eines Körpers 
gerade Linien zieht und dieses konische Strahlenbündel durch 
eine Ebene schneidet, (welche in der Regel gegen den Axen- 
strahl senkrecht gestellt ist,) so entspricht jedem Punkt der 
Oberfläche des Körpers ein Punkt in der Projectionsebene; 
durch Verbindung aller Punkte der Projection gewinnen wir 
ein ebenes Bild, welches dem Körper vollkommen ähnlich ist, 
Damit es uns aber vollkommen ähnlich erscheine, müssen 
wir unser Auge an den Punkt stellen, welcher der Spitze des 
Projectionskegels entspricht. Die Maler pflegen ihre ebenen 
Gemälde nicht nach diesem strengen Gesetz der Perspective 
einzurichten, weil die Gemälde von mehreren Standpunkten 
aus gleichzeitig ähnlich erscheinen sollen. 

Betrachten wir binocular ein ebenes Gemälde, so muss es im 
Allgemeinen jedem unserer beiden Augen fehlerhaft erscheinen, 
im Vergleich zu dem Original; und der Fehler ist proportional 
unserer stereoskopischen Grundlinie: d. h. dasjenige körperliche 
Object, welches wir uns bei der binocularen Betrachtung des 
ebenen Portraits nothwendig vorstellen, muss von dem wirklichen 
körperlichen Original des Portraits verschieden sein. Durch 
unser Instrument wird die Basallinie bedeutend verkürzt, etwa 
im Verhältniss von 4:1; der Fehler verringert; das vorgestellte 
Object dem wirklichen ähnlicher. Die Täuschung wird ver- 
mehrt durcn Anschluss des Seitenlichtes und durch die Schein- 
vergrösserung. Etwas Aehnliches findet statt, wenn wir zwei 
"identische Photographien mit Hülfe eines gewöhnlichen Stereos- 

"kopes zu einem Ganzbilde vereinigen. 


ll. Naturgetreue Abbildung von Mikrotom-Präparaten. 


Durch Vervollkommnung der medicinischen Diagnostik 
sind die Ansprüche an die Anatomie erheblich gesteigert, aber 
in ausgiebiger Weise befriedigt durch Anwendung des Mikro- 
toms. Eine gewisse Schwierigkeit erwächst bei der natur- 
getreuen Abbildung grosser topographischer Schnittpräparate. 
Allerdings bietet die Photographie ein unübertreffliches Hülfs- 
mittel dar; aber nicht jeder Mediciner ist in der Lage, die 


photographische Technik zu diesem Behuf zu erlernen und 
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 40 


Erle, Saal N 


. 626 J. Hirschberg: 


auszuüben oder mit einem willigen und geübten Photographen 
zusammenzuarbeiten. Die Meisten bleiben auf das Abzeichnen 
der Präparate angewiesen. Hierbei sind zwei Fehlerquellen 

unvermeidlich: | 

Erstlich die Phantasie, welche namentlich an der Grenze 
des Sichtbaren geschäftig die vorhandenen Lücken der Natur- 
objecte ausfüllt; zweitens der Mangel an künstlerischer Aus- 
bildung, welcher wenigstens die Mehrzahl der Aerzte behindert, 
selbst richtig angeschaute Formen vollkommen naturgetreu dar- 
zustellen. Die gewöhnlich benutzten Vorrichtungen, welche 
das Abbilden zu einer mehr mechanischen, von gröberen Feh- 
lern freien Arbeit machen sollen und auf der Anwendung des 
Prisma beruhen, sind darum ziemlich unvollkommen, weil sie 
das virtuelle Bild benutzen, welches die kleinen unvermeid- 
lichen Bewegungen unseres Kopfes mitmacht, so dass bald die 
Contourlinien des Präparatbildes und unserer Bleistiftskizze 
sich nicht mehr decken. 

Unzweifelhaft ist es bequemer, über eine gute Lupe mit 
durchfallender Beleuchtung eine hölzerne Camera zu stülpen, 
welche vorn einen Ausschnitt als Lichtfenster und als Deckel 
eine im Rahmen gefasste Glasplatte besitzt, die durch eine 
Schraubenvorrichtung dem Öbjectiv genähert oder entfernt 
werden kann. Auf die Glasplatte wird feines Durchzeichen- 
papier aufgeklebt; das objective umgekehrte Bild des Präpa- 
rates malt sich in überraschender Schärfe auf der Ebene des 
Papiers und kann auf das bequemste mit dem Bleistift um- 
zogen werden. Das achromatische Objectiv meiner Zeiss’- 
schen Lupe, welche im virtuellen Bild eine fünfzehnfache Ver- 
grösserung giebt, gestattet bei gewöhnlicher Tagesbeleuchtung 
dem umgekehrten Bild der Camera eine sechs- bis zwanzigfache 
Vergrösserung, die natürlich bei Anwendung directen Sonnen- 
lichtes noch gesteigert werden kann. Das Princip des Appa- 
rates ist seit Porta (1583) bekannt, von Einzelnen angewendet, 
aber nicht nach Verdienst verbreitet. 

Will man den Kasten über ein gewöhnliches Mikroskop 
stülpen, so thut man gut, das Ocular zu entfernen und nur 
schwache Objective anzuwenden. Sehr einfach ist die Mikro- 


Optische Notizen. 627 


metrie. Man misst einen Hauptdurchmesser des Präparates, 
indem man dasselbe direct auf einen ausgespannten Bogen 
Millimeterpapier legt; man misst denselben Durchmesser in der 
Zeichnung und hat so die Vergrösserungszahl. Man überträgt 
die Zeichnung mechanisch auf das ausgespannte Millimeter- 
papier und hat sofort die Abmessungen aller einzelnen Theile 
des Präparates. 

Der Fabrikant,!) welcher den Kasten nach meinem Modell 
anfertigt, wird übrigens auch auf Verlangen einen einfachen 
und billigen Apparat zum Photographiren beilegen. 


Ill. Das schematische Auge. 


Porta, der Erfinder der Camera obscura, hat bereits das 
menschliche Auge mit seinem Instrument verglichen: mit dem- 
selben Vergleich beginnen seitdem fast alle anatomischen und 
physiologischen Betrachtungen des Auges; aber die allzustrenge 
Durchführung dieses Vergleiches hat die genauere Erkenntniss 
der Dioptrik des Auges gehindert, bis durch die bahnbrechenden 
dioptrischen Untersuchungen von Gauss der Unterschied klar 
wurde Gauss lehrte zuerst die allgemeinen Gesetze der 
Brechung paraxialer Strahlen an beliebig vielen Kugelflächen 
und zeigte, dass in einem beliebigen centrirten System von 
Kugelflächen die vordere Brennweite sich zu der hinteren ver- 
hält wie der Brechungsexponent des ersten Mediums zu dem 
des letzten. Bei einer Camera obscura wie bei allen unseren 
optischen Instrumenten, welche Glaslinsen in Luft eingetaucht 
darstellen, ist die erste Brennweite somit gleich der zweiten; 
beim menschlichen Auge aber verhält sich die erste Brennweite 
zur zweiten wie 3:4 d. h. wie der Brechungsindex der Luft, 
des ersten Mittels, zu dem des Glaskörpers, des letzten Mittels. 
Obwohl dieser wichtige Satz durch eine elementare und sogar 
ziemlich einfacheRechnung nachgewiesen werden kann, istes doch, 
bei der im Allgemeinen ablehnenden Haltung der Mediciner gegen 
alles Mathematische, vielleicht von einigem Interesse, denselben 
durch einen einfachen Apparat experimentell zu erläutern. Auf 


1) Hr. Romain Talbot in Berlin. 
40” 


a N 


628 J. Hirschberg: 


einem Stativ befindet sich eine horizontale eylindrische Messing- 
xöhre, deren vorderes Ende durch ein convex-planes Sammel- 
glas von 3'' (also etwa 80 Mm.) Brennweite geschlossen ist, 
während das hintere Ende durch eine plan-plane Glasplatte « 
geschlossen ist, welche auf der Mitte ihrer Hinterfläche einen 
kleinen mattgeschliffenen Kreis enthält. Der Messingtubus be- 
steht aus zwei in einander verschiebbaren Röhren, so dass die 
Entfernung der Glasplatte von dem Öbjectiv vergrössert und 
verkleinert und stets an einer seitlichen in Millimeter ge- 
theilten Stange genau abgelesen werden kann. Der Apparat 
muss einigermaassen wasserdicht sein. 

Leer d. h. nur mit Luft gefüllt wird der Apparat mit dem 
Objeetiv gegen eine etwa 20 Fuss entfernte Lichtlamme ge- 
richtet. Ein scharfes umgekehrtes Bild der Lichtflamme er- 
scheint auf der mattgeschliffenen Stelle der planen Glasplatte, 
wenn die Stelle um die hintere Brennweite d. h. um 3 Zoll 
oder 80 Mm. vom Objectiv entfernt ist. Genau eben so gross 
ist auch die vordere Brennweite, wie man sofort sieht, wenn 
man den Apparat umdreht und mit der Planglasplatte gegen 
das Licht kehrt. Um in dieser Stellung das Bild der Flamme 
auffangen zu können ist an dem Tubus eine vom Objectiv aus- 
gehende, freie, in Millimeter getheilte Stange befestigt, auf 
welche eine mattgeschliffene Planglasplatte 5 gebracht und mittelst 
eines Schiebers hin und her bewegt werden kann. Diese 
Platte muss 80 Mm. vom Objectiv entfernt sein, wenn sie bei 
der zweiten Stellung des Apparates ein scharfes Bild der 
20 Fuss entfernten Lichtflamme auffangen soll. 

Nunmehr wird die matte Glasplatte 5 wieder entfernt, der 
Apparat in seine ursprüngliche Lage zurückgedreht, so dass 
das Objectiv gegen die 20 Fuss entfernte Lichtflamme schaut, 
und Wasser in die Höhle des Tubus gegossen. Das vorher 
scharfe Bild auf dem matten Kreise der plan-planen Glasplatte 
a ist verwaschen. Verlängert man jetzt allmählich die Röhre 
durch Ausschrauben, während Wasser nachfliesst, bis das um- 
gekehrte Flammenbild auf der Glasplatte wieder scharf gewor- 
den ist; so findet man, dass jetzt der Tubus eine Länge von 
circa 100 Mm. besitzt. Durch diesen Wert wird jetzt die 


Archiv f. Anat.u.Phys.1870'. Taf. KIT. 


I 


| 
| 
| 


Hirschberg del. 2 W. Grohmannse. 


Optische Notizen. 629 


hintere Brennweite des combinirten Glas-Wasser-Systems aus- 
gedrückt. Ermittelt man aber nunmehr die vordere Brennweite 
desselben combinirten Systems durch einfaches Umdrehen des 
Apparates und Aufschieben der matten Glasplatte 5 auf die 
vordere graduirte Stange, so findet man dieselbe unverändert 
gleich 80 Mm. Uebrigens ist ja auch ohne jede Rechnung 
klar, dass ein von der fernen Lichtflamme ausgehendes und 
fast senkrecht einfallendes paralleles Strahlenbündel durch die 
plan-plane Glasplatte, welche den Tubus abschliesst und durch 
die von zwei senkrechten Ebenen begränzte Wasserschicht keine 
nennenswerthe Ablenkung erfahren kann, sondern fast ebenso 
auf die Convexlinse gelangt, als wenn nur Luft dazwischen 
läge. Man hat alsce für den Fall eines solchen Glas-Wasser- 
Systems empirisch ermittelt 
210, 
rn 13 m 

Macht man die Füllung nicht mit Wasser, sondern mit 
einer durchsichtigen Flüssigkeit von bekanntem Brechungs- 
verhältniss, so wächst die hintere Hauptbrennweite proportional 
dem Brechungsindex der Flüssigkeit, während die vordere un- 
verändert bleibt. Somit ist der behauptete Satz experimentell 
bewiesen. 

Dreht man den mit Wasser gefüllten und entsprechend 
d. h. auf 100 Mm. verlängerten Apparat mit dem Convexglas 
gegen die ferne Lichtflamme, so stellt derselbe ein künstliches 
Auge weit getreuer dar, als die seit Huyghens’ Zeiten üblichen 
zahlreichen, meist trockenen Modelle. Durch ein vor das Ob- 
jecetiv gesetztes Sammelglas von 8 Zoll Brennweite stellt man 
die Accommodation eines emmetropischen Auges für 8 Zoll An- 
näherung dar. Durch Vergrösserung oder Verkleinerung der 
Axenlänge kann man verschiedene Grade von Kurz- und Ueber- 
sichtigkeit hervorrufen, und durch passende Concay- und Con- 
vexgläser, welche dem Objectiv vorgehalten werden, auch neu- 
tralisiren. 


Zur Theorie des Sehens. Zweite Abhandlung.') 


Von 


Dr. EUGEN DREHER. 


Bei dem Eindruck, den ich vermittelst des Stereoskopes 
von der der ersten Abhandlung beigefügten (stereoskopischen) 
Aufnahme der Matrize (Form) des Basreliefs der Petrusbüste 
empfing, war es mir auffallend, dass derselbe mit dem seines 
Gypsoriginales nicht übereinstimmte, in sofern nämlich sich 
bei ihm eine verhältnissmässig übertriebene Tiefenwahr- 
nehmung geltend machte. Diese vom Originale stattfindende 
Abweichung glaubte ich von einem zu grossen gegenseitigen 
Abstande, in welchem die bei der Aufnahme wirksamen Brenn- 
linsen des Photographen gestanden hatten, herleiten zu können. 
Eine nachträgliche Messung der Linsenentfernung der Camera 
obscura ergab denn auch, dass dieselbe den denkbar grössten 
Abstand der Augen des Menschen übertraf. 

Um die getreue Wiedergabe der in Frage stehenden Ma- 
trize zu erlangen, liess ich bei abermaliger Aufnahme die 
Linsen bis auf (meine) Augenweite einander nähern, wodurch 
denn auch ein mit dem Originale vollkommen übereinstimmen- 
der Effect wachgerufen wurde. 

Es warf sich mir die Frage auf: Welche Abweichungen 
- von dem Originale: 

I. Durch sehr bedeutende gegenseitige Entfernung der 
Linsen, 

I. Durch eine sehr grosse gegenseitige Annäherung 
derselben zu erreichen sind. 


1) S. den vorigen Jahrgang dieses Archivs, S. 417. 


Eugen Dreher: Zur Theorie des Sehens. 631 


Bei einer neuen Aufnahme der Matrize war der Abstand 
der Linsen von einander circa 1 Meter; der parallaktische 
Winkel, (die Parallaxe) unter dem sich die auf das Original 
gerichteten Axen der Linsen schnitten, circa 40°. 

Bei einem zweiten Versuch wurden die Linsen bis auf 
circa 1 Centimeter einander genähert, wodurch denn, (bei Bei- 
behaltung der. Entfernung vom Modelle) der parallaktische 
Winkel selbstverständlich sehr klein wurde. 

Unter das Stereoskop gebracht, gestaltete sich die durch 
den ersten Versuch gewonnene Aufnahme zu einer deutlich 
vertieften Büste, die jedoch immer mehr und mehr noch ein- 
sank und erst dann am Endpunkte ihrer Gestaltung anlangte, 
als die Tiefendimension schon verhältnissmässig bei weitem 
Längen- und Breitenrichtung überwog, so dass eine vollkommene 
Verzerrung der Form in die Tiefe hinein eintrat. 

Die durch den zweiten Versuch gewonnene Aufnahme 
gestaltete sich beim Betrachten durch das Stereoskop ebenfalls 
zu einer deutlich vertieften Büste, die jedoch, gegen das 
Original gehalten, in Anbetracht der Tiefendimension eine 
Verkürzung erfahren hatte, wodurch denn ebenfalls eine 
Entstellung, diesmal jedoch ein Eingedrücktsein der 
Form in Erscheinung trat. 

Erwähnt sei, dass wenn man die Photographien zer- 
schneidet und alsdann die Bilder vertauscht in das 
Stereoskop legt, sich keine Vertiefungen, wohl aber die den 
Vertiefungen entsprechenden Reliefs gestalten. — (Vergl. die 
erste Abhandlung.) 

Anfangs war ich geneigt zu glauben, dass der Eindruck, 
den Matrizen (Formen) auf den Beschauer machen, je nach 
seinem gegenseitigen Augenabstand ein verschiedener sein 
müsse; und zwar bei weiter Augendistanz, (wo zwei stark 
von einander abweichende Bilder zur Deckung gebracht werden), 
hinsichtlich der Tiefendimension verhältnissmässigein erwei- 
terter, bei naher Augendistanz, (wo zweinur schwach diver- 
girende Bilder zur Verschmelzung gelangen), hingegen ein ver- 
kürzter; dass also beispielsweise ein Elephant, der das gedachte 
Gypsoriginal in einer seiner photographischen Aufnahme gleichen 


632 Eugen Dreher: 


Entfernung betrachtete, von ihm hinsichtlich der Tiefenwahr- 
. nehmung einen erweiterten, ein Kolibri dagegen einen 
verkürzten Eindruck empfangen müsste, 

Um dem Grunde der Erscheinungen näher zu kommen, 
liess ich von einem plastischen Werke, und zwar der Hebe von 
Canova beieiner sehr grossen Standlinie, unter einem grossen 
parallaktischen Winkel eine stereoskopische Aufnahme an- 
fertigen. 

Durch dieses Verfahren wurde selbstverständlich eine sehr 
bedeutende Divergenz der beiden Bilder herbeigeführt. 

Trotz langer Betrachtung unter dem Stereoskope konnte 
ich nur eine partielle Verschmelzung der beiden Bilder zu 
Stande bringen und zwar diese bei dem rechten Arme der 
Figur, welcher hierdurch in einer kaum zu erwartenden Weise 
in die Länge gezerrt wurde; sonst machte sich der Wett- 
streit der Sehfelder geltend, wodurch denn bald das eine, 
bald das andere Bild vorwiegend zur Perception gelangte. — 

Da nur von verhältnissmässig nahen Gegenständen wesent- 
lich verschiedene Bilder in unsere beiden Augen gelangen 
können, so glaubte Helmholtz für ferne Gegenstände dieser 
Unvollkommenheit dadurch abzuhelfen, dass er die Distanz der 
beiden Augen gleichsam künstlich erweiterte. 

Zu diesem Zwecke construirte er das sogenannte „Tele- 
stereoskop“, bei dessen Anwendung durch zwei weit von ein- 
ander aufgestellte Spiegel Lichtstrahlen von einem fern ge- 
legenen Gegenstande auf zwei rechtwinklich zu einander 
stehende Spiegel geworfen werden, hinten denen sich dann die 
Augen des Beobachters befinden, dessen Aufgabe es ist, die 
so in die Augen gelangenden, wesentlich von einander ab- 
weichenden Bilder auf correspondirende Theile der Netzhäute 
zu bringen und sie alsdann körperlich zu verschmelzen. 

Die von Helmholtz erstrebte künstliche Erweiterung der 
Augendistanz glaubte man gleichfalls dadurch zu erreichen, 
dass man bei einer grossen Standlinie, so unter einem grossen. 
parallaktischen Winkel, photographische Aufnahmen von fern 
gelegenen Objecten machte. 


Zur Theorie des Sehens. 633 


So benutzte Wheatstone die Libration des Mondes, durch 
welche dies Gestirn uns das eine Mal mehr von seiner rechten, 
das andere Mal mehr von seiner linken Halbkugel zuwendet, 
um bei der weiten Entfernung des Mondes zwei möglichst 
verschiedene Bilder von ihm zu erhalten, welche er alsdann 
durch das Stereoskop zur Deckung brachte. 

Der Mond gestaltete sich hierdurch zu einem deutlich 
eiförmigen Körper, dessen grosse Axe dem Beschauer (der 
Erde) zugekehrt war. Auf eine solche Gestalt des Mondes 
hatte man schon früher aus rein theoretischen Gründen ge- 
schlossen und zwar aus der grösseren Anziehungskraft, die 
die Erde auf die ihr stets zugekehrte Hälfte des einst feurig- 
flüssigen Mondes ausüben musste, als auf die ihr stets ab-. 
gewandte Halbkugel. 

So glaubte man denn durch das Stereoskop den ex- 
perimentellen Beleg für die theoretisch vorausgesagte Gestalt 
des Mondes geben zu können. 

Was jedoch den stereoskopischen Beweis für die Gestalt 
des Mondes anbelangt, so muss ich denselben für unzulässig 
erklären, da die durch das Stereoskop vermittelte Wahrnehmung, 
so wie alle durch das Helmholtz’sche „Telestereoskop“ wach- 
gerufenen Erscheinungen nur Zerrbilder ihrer Originale 
sind, vollkommen denen analog, die im Anfange dieser Ab- 
handlung besprochen wurden. 

Dass der -Reiz an den aufgenommenen ÖObjecten bisweilen 
durch einen nicht zu stark übertriebenen Abstand der Spiegel oder 
Linsen gesteigert werden kann, thut der gemachten Behauptung 
keinen Abbruch, da wir vom wissenschaftlichen Standpunkte aus 
von den so uns vermittelten Anschauungen Naturtreue bean- 
spruchen, welche sie jedoch, wie gezeigt, keineswegs gewähren. 

So habe ich bei einer Menge vorräthig gekaufter stere- 
oskopischer Aufnahmen von mir durch eigene Anschauung 
bekannten Gegenständen, wie von Sculpturen, Bauwerken, Ge- 
birgslandschaften u. s. w. eine übertriebene Perspective bei 
stereoskopischer Betrachtung wahrgenommen, welche unzweifel- 
haft durch einen zu grossen gegenseitigen Linsenabstand der 
Camera obscura veranlasst wurden. 


634 Eugen Dreher: 


Lange konnte ich keine Erklärung für diese bei zu gross 
oder zu klein gewählter Augendistanz unverkennbar auftreten- 
den Entstellungen finden. 

Die sich zuerst darbietende Annahme, dass bei ver- 
schiedenem gegenseitigem Augenabstande auch die Dinge 
verschieden gesehen werden, ergab sich nach einiger Ueber- 
legung als irrig, Denn denken wir uns ein Wesen mit einem 
grossen Augenabstande und ein anderes mit einem geringen in 
einer gleichen (senkrechten) Entfernung ein und denselben 
Gegenstand betrachtend, so sind in beiden Fällen durch die 
Netzhautbilder zwei Richtungen für einen jeden Punkt des 
Objectes gegeben, wodurch dann die geometrische Gestalt des 
Gegenstandes vollkommen bestimmt ist, woraus wir alsdann 
schliessen müssen, dass die von den beiden Wesen erlangten 
(geometrischen) Anschauungen des ÖObjectes auch dieselben 
sind, — mit dem alleinigen Unterschiede, dass bei einem nicht 
durchsichtigen Körper bei grösserem (gegenseitigem) Augen- 
abstande die Anschauung seiner Körperlichkeit umfassender 
ist als bei näherer Augendistanz, in welchem letzteren Falle 
die Augen nicht so weit um den Körper herumzugreifen ver- 
mögen. 

So werden wir durch natürliches Wachsthum der Augen- 
distanz bei den nicht durchsichtigen Körpern wohl zu einer 
umfassenderen körperlichen Wahrnehmung gelangen, niemals 
aber zu einer Verzerrung. 

Wenn wir jetzt die in der vorigen Abhandlung gegebene 
Theorie, der unbewussten psychischen Constructionen, die 
in alle Sehprocesse eingreifen, in Betracht ziehen, so ergeben 
sich die angeführten Entstellungen, gleichviel ob sie durch 
Spiegel oder Linsen herbeigeführt werden, sehr einfach als 
nothwendige Folgerungen aus derselben. 

Zwei für unsere Augendistanz widernatürliche Bilder 
ein und desselben Gegenstandes werden auf correspondi- 
rende Theile der Netzhäute geworfen und durch Nervenreize der 
Psychezur Auslegungübermittelt. Wasthutsie? Der Erfahrung 
Rechnung tragend, dass diese Bilder von einem wirklichen, 
in der Aussenwelt vorhandenen Gegenstand herrühren 


Zur Theorie des Sehens. 635 


müssen, construirt sie sich aus den ihr zur Deckung zu- 
geführten Bildern einen Körper zurecht, der, wenn er wirklich 
in der Aussenwelt vorhanden wäre, auf die entsprechenden 
Netzhäute Bilder werfen würde, die den durch die Spiegel 
oder Linsen vermittelten gleich sein würden. — (Vergl. die 
erste Abhandlung.) 

Dass ein solcher Körper, gegen sein Original gehalten, 
eine Verzerrung sein muss, ist selbstverständlich. Die Art und 
Weise der auftretenden Entstellung ist leicht durch mathe- 
matische Gesetze darzulegen. 

Tragen wir jetzt den entwickelten Gesetzen bei Anwendung 
des Stereoskopes Rechnung, so ergiebt sich, dass ein Kind 
(kleiner Augenabstand) die für einen Erwachsenen (grosser 
Augenabstand) bestimmten stereoskopischen Bilder in der 
Tiefendimension auseinandergezerrt sehen muss, während 
umgekehrt ein Erwachsener die für ein Kind bestimmten 
Aufnahmen in der Tiefendimension eingedrückt erblicken 
würde. 

So sieht denn ein jedes Wesen die Gegenstände nur für 
seine eigene Augendistanz naturgetreu. Die von Wheat- 
stone und Helmholtz erstrebte künstliche Erweiterung 
der Augendistanz erweist sich somit als eine Unmöglichkeit. 


Anm. Da sich durch die der vorigen Abhandlung bei- 
gefügten Lithographien herausgestellt hat, dass Lithographie, 
selbst bei der vollendetsten Ausführung, zur Anstellung ge- 
nannter Versuche keine hinreichende Schärfe gewährt, so sind 
dieser Abhandlung keine Tafeln beigegeben. 

Eine Hypothese psycho-physiologischer Natur über das 
Verhältniss des Unbewussten zum Bewussten in der Psyche 
habe ich in meinem soeben erschienenen Werke „Der Darwinis- 
mus und seine Stellung in der Philosophie“. (Berlin 1877. 
Verlag von Hermann Peters) auf Grund psychologischer wie 
anatomischer Erscheinungen zu geben versucht. 


Beiträge zur zoologischen und zootomischen 
Kenntniss der sogenannten anthropomorphen Affen. 


Von 
ROBERT HARTMANN. 


(Hierzu Taf. XIV. u. XV.) 


Fortsetzung. 


Das von mir im zuletzt veröffentlichten Abschnitte dieser 
meiner Arbeit!) erwähnte „Sesambein“ des Affencarpus 
wurde an drei Chimpanse- und drei Orang-Cadavern beiderlei 
Geschlechtes und verschiedenen Alters sowie an zahlreichen 
Skeleten untersucht.) Dasselbe artieulirt bei den genannten 
Thieren mit den Ossa naviculare und multangulum majus und 
es liegt an derjenigen Stelle, an welcher die Faserbündel der 
Ligamenta carpi dorsale und carpi volare in einander übergehen. 
Von dieser Stelle aus zieht ein Bandstreif an das Knöchelchen, 
dessen Faserrichtung nicht auf seine alleinige Zugehörigkeit 
etwa zum Ligamentum carpi dorsale schliessen lässt. Denn 
diese selbigen Faserbündel, welche schräg vom Processus 
styloideus ulnae über die Handwurzel führen, geben, um den 
Radius sich herumziehend, zugleich Fortsetzungen an das Ligam. 
carpi volare ab. (Taf. XV Fig. 5, 6“ beim Chimpanse). Beim 


1) Dies Archiv 1875, S. 743. 

2) Vergl. hier Taf. ı, 2, 3, 4. Vrolik bemerkt: „Le tendon de 
Vabducteur (A. magnus pollicis) s’attache en passant & un cartilage 
isole et lentieulaire, plac& entre l’os scaphoide et le trapeze, 
et que jai cite en parlant du carpe“ (V, p. 15). A.a. 0. S. 20. 
Vrolik’s Abbildungen der Handmusculatur des Chimpanse sind 
in Bezug auf diese Verhältnisse leider sehr undeutlich. 


Beiträge zur Kenntniss u. 8. w. 637 


Orang konnten auch dergleichen Bandstreifen präparirt werden, 
in ihnen mischten sich Faserbündel der Streck- und Beugeseite 
der Fascia antibrachii dergestalt (das. Fig. 7«), dass schon 
daraus ihre Gemeinsamkeit für die Ligam. carpi dorsalia und 
volaria ersichtlich wurde. Dann beim Chimpanse sah ich, wie 
die Sehne des Abductor pollicis longus einen Streifen zu dem 
Sesambeinchen sandte. Dagegen setzten sich die übrigen Streifen 
der sich hier zwei-, aber auch wohl drei- und noch mehrmal 
spaltenden Sehne des erwähnten Muskels an die Basis Ossis 
metacarpi I und an das Os multangulum majus an. Ueber das 
Verhalten dieses Muskels äussert sich Bischoff wie folgt: 
„Der Abductor pollicis longus verhält sich beim Orang, Cyno- 
cephalus, Pithecia und Gorilla wie beim Menschen. Beim 
Gorilla, Chimpanse, Hylobates, Cercopithecus und Macacus lässt 
sich dagegen die Sehne in zwei Theile theilen. Dabei gehört 
nicht etwa die eine Sehne wie beim Menschen einem Extensor 
pollieis brevis an, sondern dieser fehlt (wie angegeben) wirklich 
ganz und die Theilung der Sehne erscheint nur als eine weiter 
fortgesetzte Spaltung des Ansatzes an das Os multangulum 
majus und an den Mittelhandknochen des Daumens u. s. w.') 

Ich vermag dies nicht ganz zu bestätigen. Der Extensor 
pollieis brevis fehlt den Thieren nicht, aber der Abductor 
longus verhält sich, so wie Bischoff es angegeben hat, nur 
dass seiner Beziehung zum Sesambeinchen dabei nicht erwähnt 
worden ist.?2) Viel wichtiger erscheinen mir übrigens die Be- 
ziehungen des Abductor pollicis brevis zu dem Sesam- 
knochen, als sich diejenigen des langen Abductor zu dem- 


1) Beiträge zur Anatomie des Hylobates leueiscus u.s.w. Aus 
den Abhandlungen der k. bayer. Akadem. der W. II Kl. X. Bd. III. 
Abtheilung, München 1870, S. 17. 

2) Alix und Gratiolet sagen in Bezug auf diesen Muskel: „Le 
tendon qui s’attache au trapeze ne presentait pas d’os sesamoide. Il 
est probable que cela tient au jeune äge du sujet; car ce sesamoide 
(trapeze hors de rang) existe sur le Chimpanse adulte.* (Troglodytes 
Aubryi u. s. w. p. 103, vergl. auch daselbst p. 82). Ich freilich be- 
merke das Sesambein schon an ganz jungen (noch nicht einjährigen) 
Chimpanses, wenngleich auch erst noch im knorpligen Zustande. 


638 R. Hartmann: 


selben Gebilde herausgestellt haben. Ersterer entspringt nämlich 
beim Chimpanse mit einem radialen Bündel an dem Sesam- 
beine selbst. Ein anderes mittleres Bündel entspringt an dem 
zum genannten Knochen tretenden Bandstreifen. Der übrige 
mittlere Theil des Muskels nimmt am Ligamentum carpi volare 
seinen Ursprung. (Fig. 5s, 68)'). 

Beim Orang-Utan entspringt an dem Sesambeinchen eben-. 
falls ein radialer Fascikel des Abductor pollicis brevis, während 
die mittleren Bündel desselben wieder am Ligamentum carpi 
volare entspringen. Die manchmal vielspaltige Sehne des. 
Abductor pollieis longus — die Spaltung erstreckt sich noch 
oft bis tief in. die Muskelsubstanz hinein — giebt auch hier 
einen Streifen an jenen Knochen ab. Mittlere Sehnenstreifen 
desselben Muskels sah ich zum Ligament. carpi volare und 
starke dorsale zur Basis oss. metacarpi I ziehen. (Fig. 7*, 8°). 
Bei einem Orang-Präparate sendete der Musc. flexor pollieis 
longus einen sehr dünnen Sehnenfaden an den Knochen ab 
(Fig. 8**). Für den Gorilla fehlen mir zur Zeit, wo ich dies 
schreibe, noch die eigenen Erfahrungen. 

Am Hylobates (leuciscus, albimanus), an sonstigen Affen und 
an Halbaffen arbeite ich z. Z. noch und werde ich die Resulate 
der betreffenden Untersuchung bei Gelegenheit meiner Studien 
über die Myologie der ganzen Gruppe veröffentlichen, mich dort 


auch über die Beziehungen des Sesambeinchens zu seiner 


Umgebung noch näher auslassen.?) Sonderbarerweise 


1) Bischoff bemerkt: „Von den kurzen Muskeln des Daumens. 


zeigen der Abductor pollieis brevis und opponens in ihrer Anordnung bei. 


allen Aficn keins heimerkenswerthe Abweichung.“ A. 0.2.0.8. 19. 
Auch bei den englischen Autoren Humphrey, Wilder, Maca- 
lister, Champneys u.s. w. finde ich keine genügende Aufklärung 
über das Verhalten der Abductoren des Daumens zum Sesambein. 
2) Flower bemerkt über dies von ihm am Carpus von Üynoce- 
phalus Anubis Fig. 87 abgebildete Knöchelchen: „and there is usually 


a small rounded radial sesamoid articulating moveably to the border 


of the scaphoid and trapezium and connected with the tendon of the 
flexor carpi radialis (An introduction to the Osteology of the 
Mammalia. London 1870, p. 258). Lucae’s Angabe, der Knochen 
sei nichts Anderes als die von dem Os multangul. majus getrennte. 


Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 639 


erfahren wir in einer sonst so fleissigen Arbeit Duvernoy’s 
nichts über die Existenz dieses Knochens beim Gorilla. Zwar 
scheint mir ein radialerseits erkennbarer Vorsprung an Duver- 
noy’s Figur C der Vorderarmmuskeln des Gorilla (Pl. VII) 
zwischen den Buchstaben 21 und 22, 23 darauf hindeuten zu 
sollen, dass der Knochen zwar beobachtet, wenn auch nicht 
weiter beachtet worden sei. Im Texte geschieht des Gebildes 
keine Erwähnung. An den das Handskelet des Gorilla und 
Troglodytes Tchego Duvern. behandelnden Abbildungen (a. a. O. 
Pl. III) sieht man es gleichfalls nicht. Es ist hier sicherlich 
durch Unachtsamkeit des pariser Präparators verloren gegangen.!) 
Ueber die Existenz desselben beim Gorilla kann aber nicht der 
geringste Zweifel obwalten, denn jedes verständig präparirte 
Skelet muss dasselbe zeigen. (Vergl. Taf. XV. Fig. 1, 2*) 
Ich bin so häufig nach der beständigen Zahl der Hand- 
wurzelknochen des Chimpanse befragt worden, dass ich hier 
einige Worte darüber zu sagen mich veranlasst fühle. Beim 
Orang-Utan zeigt sich nämlich regelmässig ein neunter Hand- 
wurzelknochen, das seit Blainville sogenannte Os inter- 
medium. Vrolik bemerkt über dasselbe: „Dans le premier 
rang (c. &. d. des os du carpe de l’Orang) se trouve en commen- 


Eminentia carpi radialis.inferior des Menschen, finde ich ungenügend. 
(Die Hand und der Fuss. Aus den Abhandlungen der Senckenberg. 
naturforschenden Gesellschaft, V. Band, Frankfurt a. M. 1866, S. 33). 
Ich stehe vorläufig nicht an, diesem Knochen die Bedeutung eines 
Sesambeinchens an der Ansatz- und Ursprungsstelle von Fascien und 
Muskeln bei Thieren zuzusprechen, welche gerade diese Partie ihrer 
Hand so häufig beim Klettern und Gehen gebrauchen. Champneys 
beschreibt am Extensor ossis metacarpi pollieis des Oynocephalus 
Anubis: „a double insertion into the Trapezoid bone and the base 
of the metacarpal bone of the thumb, its tendon oontaining a sesamoid 
cartilage (replaced in man by a bursa mucosa) in relation with the 
quadrupedal habits of the animal (Journal of anatomy and physiology 
vol. VI. (sec. series vol. V.) p. 184. 

1) Archives du Museum d’histoire naturelle, T. VIII. Auch 
Rosenberg vermisst dies Knöchelchen beim Gorilla. Er sagt: 
„Beim Gorilla scheint es zu fehlen, da auch Duvernoy, der den 
Muskel (d.h. Abd. poll. long.) beschreibt, es nicht angiebt. Gegen- 
baur’s Morpholog. Jahrbuch, Heft. I, S. 187, 


640 R. Hartmann. 


cant par la cöte radial l’os naviculaire ou scaphoide a. qui 
ressemble a celui de l’homme, mais a une forme plus allongee. 
Sa partie superieure s’eleve vers le radius avec une surface 
articulaire convexe, couverte d’un cartilage, et se prolonge alors 
en arriere en un tubercule osseux, formant une eminence & la 
face palmaire du carpe, et s’articulant la avec un os sesamoide 
que d’autres observateurs ont d&ja reconnu, et qui semble servir 
pour le tendon du long abducteur du pouce. Vers le cöte cu- 
. bital, le scaphoide se reunit a l’os semi-lunaire et plus en bas 
a l’os intermediaire, et s’articule alors avec le trapeze. L’os 
semilunaire b. est relativement bien plus gros que chez l’homme, 
mais a les m&mes rapports que chez lui. Le triquetrum c. est 
tres-fort, ne s’articule pas avec le cubitus, mais se reunit avec 
lui par un ligament. L’os pisiforme, qui se reunit & la surface 
palmaire du carpe au triquetrum, est tres developpe et se 
termine en un tubercule arrondi, qui represente assez la forme 
d’un talon. Je n’ai pas remarque qu’il fut divise en deux, 
comme Owen l’assure. Ainsi le premier rang du carpe est 
dispose comme celui de’l’homme. Le second se compose en 
commencant par le cöte radial du trapeze d. (Os multangulum 
majus), du trapezoide (Os multangulum minus), du grand os f£. 
(Os capitatum) et de l’os unciforme g. En tout cela il ressemble 
au second rang du carpe de ’homme, et il s’articule de la 
meme maniere, avec les os du metacarpe; car l’os metacarpien 
du pouce se r&unit au trapeze, celui de l’index au trapezoide; 
celui du doigt du milieu au grand os; celui du quatrieme et 
cinquieme doigt a l’os unciforme. Mais en sus il y a un os 
surnumeraire, meconnu par tous mes devanciers, que jai designe 
par la lettre h., et qui se trouve entre les deux rangs, ayant 
Yair d’&tre un demembrement de l’os scaphoide, dont il a un 
peu la forme. J’ai retrouve le möme os intermediaire dans les 
Gibbons et d’apres les recherches de Blainville, il parait commun 
a tous les autres Quadrumanes. Son existence chez l’Orang- 
oetan et son absence chez le Chimpanse me paraissaient d’une 
certaine importance etc.“ !) 


1) A. a. 0. 8.13, Tab. VI, Fig. 2h. 


Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 641 


Owen bildet das Os intermedium des Orangs in derselben 
‚ Weise wie Vrolik ab.!) 

Lucae bemerkt: In dem Carpus (d. h. des Orang) findet sich 
nämlich zwischen Multangulum, Capitatum, Naviculare ein eigener 
Carpusknochen, welcher mit dem Multangulum minus, sowie 
mit dem Capitatum articulirt und die vordere Gelenkfäche des 
Os naviculare (für das Capitulum des Os capitat.) ergänzt und 
vergrössert.?) 

Während das Intermedium an der Streckseite des Orang- 
Carpus breit, mit leicht gewölbter Fläche sichtbar wird und, 
wenn man die Knochen etwas von einander biegt, auch seine 
Articulationslächen mit dem Multangulum minus und Capi- 
tatum zeigt (vergl. hier Taf. XV Fig. 3i), ist von demselben 
Knochen auf der Beugeseite selbst beim mässigen Auseinander- 
zerren der übrigen Ossa carpi nur sehr wenig zu sehen. 
(Tat. XV Fig. 4). 

Gegenbaur hat diesen Knochen mit seinem Os centrale 
des Carpus identificirt. Er will letzteres als ein aus einem 
früheren Zustande stammendes, echtes Carpuselement erkennen, 
vermag aber nicht zu ermitteln, wo es, bei seiner späteren 
Nichtexistenz, geblieben sei. Für die Annahme, es sei mit 
dem Capitatum (Cuvier) oder mit dem Scaphoideum (Owen) 
verbunden, bestehen für Gegenbaur keine Gründe.°) 

Rosenberg hat in einer sehr fleissigen Arbeit Gegen- 
baur’s Ideen weiter ausgeführt und den Nachweis zu führen 
gesucht, dass das Os centrale carpi (Os intermedium) auch 
beim Menschen vorkomme, hier aber vorzugsweise nur im 


1) Todd Cyclopaedia Vol.IV, Pt. I, p. 204, Fig. 124. On the 
anatomy of vertebrates Vol. Il, p. 544, Fig. 361. Diese Copien des 
Vrolik’schen Originales sind eben nicht gelungen. 

2) Die Hand und der Fuss, S. 32, Taf. XXXVII, Fig. 8a, 9a, 
Diesen Passus verstehe ich nich. An den von mir untersuchten 
Orang-Carpus artieulirt nämlich das Intermedium mit dem Navieu- 
lare, Multangulum majus, minus und Capitatum. Die gegenseitigen 
Gelenkfacetten sind an diesen Knochen deutlich zu erkennen. 

3) Carpus und Tarsus. Leipzig 1864, S. 50. 

Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 41 


642 R. Hartmann: 


embryonalen, seltener im entwickelten Zustande In Rosen- 
berg’s Arbeit wird übrigens auch der Arbeiten Gruber’s über 
denselben Gegenstand gedacht und dem Petersburger Forscher hin- 
sichtlich des Nachweises eines Centrale carpi beim (erwachsenen) 
Menschen die Priorität eingeräumt.!) Nach Rosenberg ist 
dieser Knochen nicht nur dem Centrale der Säugethiere, sondern 
sogar den beiden Centralia der Enaliosaurier homolog, er ist 
aber nach Massgabe der eingetretenen Reduction dort in- 
complet.?) 

In derHandwurzel des noch sehr jungen, (kaum einjährigen) 
Orang-Utan fand ich das Os intermedium oder centrale mit 
seinem von demjenigen des Os naviculare gänzlich gesonderten 
Knochenkerne versehen. Die Ossification zeigte sich hier der 
Reihenfolge nach am weitesten vorgeschritten: 1) am Os capi- 
tatum und Os hamatum. Dann folgten in der Knochenbildung 
2) Os naviculare, 3) Os multangulum majus, 4) Os lunatum, 
5) Os triquetrum, 6) Os intermedium (centrale), 7) Os multang. 
minus. 9) Os styliforme°) und das hier vielbesprochene Sesam- 
beinchen waren erst in der rein knorpligen Anlage vorhanden. 
Ein Bild der Verknöcherung der Ossa carpi an einem jungen 
Gibbon (Hylobates agilis) bietet unsere Taf. VIX, Fig. 12. Beim 
jungen (etwa einjährigen) Chimpanse war das äusserlich durch 
zwei tiefe Rinnen dreifach, aber nur oberflächlich segmentirte 
Os naviculare mit einem einzigen sich durch alle drei Segmente 
erstreckenden Knochenkerne versehen. (Taf. XIV, Fig.11*). Von 
einem Intermedium waren bei den mir zu Gebote stehenden 
Chimpansepräparaten keine Spuren mehr vorhanden. An Em- 
bryonen dieser Thiere fehlte es leider bis jetzt. Auch hin- 


1) Ueber ein dem Os intermedium s. centrale gewisser Säuge- 
thiere analoges neuntes Handwurzelknöchelchen beim Menschen. 
Dies Archiv 1869. Nachträge zur Osteologie der Hand und des 
Fusses II. Bullet. Acad. Imp. d. sc. d. St. Petersbourg. XV, 1870. 
Nachträge zu den supernumerären Handwurzelknochen d. Menschen. 
Das. Taf. XVII, 1872. Weitere Nachträge zum Vorkommen des Ossi- 
culum intermedium carpi beim Menschen. Dieses Archiv 1873. 

2) Gegenbaur’s morphologisches Jahrbuch, I, S. 172 £. 

3) Vergl. diese Zeitschrift 1875, S. 743. 


Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 643 


sichtlich des Gorilla gebrach es mir am nöthigen Materiale. So 
muss ich leider die Frage, wie es mit einer ursprünglichen An- 
lage des Knochen bei den genannten Affenformen steht, noch 
gänzlich in der Schwebe belassen. Gegen eine organologische 
Beziehung dieses Knochens zum Naviculare scheint mir übrigens 
der ganze anatomische Thatbestand zu sprechen.) 

Nach dieser, wie mir schien, ganz nützlichen Abschweifung 
kehre ich wieder zur Betrachtung der vorliegenden Extremitäten- 
knochen des Bam Chimpanse zurück, welche ich mit denen 
anderer Specimina verglichen habe. 

Die Mittelhandknochen des Bam sind im hinteren 
Theile?) ihrer Dorsalfläche etwas convex und platten sich nach 
vorn zu breit ab. Dasselbe ist bei dem Quillu-Chimpanse der 


1) St. George Mivart, vom Intermedium sprechend, bemerkt: 
„In one manus of a Chimpanzee (Plate XIV, Fig. 1), I have found 
the scaphoides develope a large process, embracing the magnum dor- 
sally, while at the same time the part passing beneath the trapezium 
is much developed, so that in this case it, I think, evidently and 
completely responds to both the scaphoides and the intermedium of 
the Orang (Plate XIV, Fig. 2). — On the appendicular skeleton of 
the Primates. Philosophic. Transaction 1867, p. 317. Bei 
Gratiolet und Alix heisst es: „Le scaphoide dessine une saillie 
assez forte a la face dorsale du poignet et de plus il est muni d’un 
crochet palmaire saillant et vigoureux.“ Ferner wird gesagt, man 
könne nicht durchaus behaupten, dass das Intermedium dem Chim- 
panse fehle. „Il est seulement soud& au scaphoide. D’autre part, on 
doit observer que la portion de ce scaphoide, qui correspondant a l’os 
intermediaire, par la maniere dont elle enveloppe la tete arrondie du 
grand os, dont elle s’insinue par un bord tranchant entre le grand os 
et le trapezoide et par la convexite de la face qui s’articule avec le 
trapezoide et le trapeze, rappelle tout & fait ce qu’on veit sur un 
Macaque ou sur un Papion.“ (A. a. O. p. 82). Ich selbst habe von 
dem angeführten Fortsatze des Os naviculare carpi an keinem der mir 
zu Gebote stehenden Chimpanse-Skelete auch nur eine Spur finden 
können. Ich fühle mich aus diesem Grunde und anderen Voraus- 
setzungen zufolge ausser Stande, den Erklärungen angeführter Forscher 
mich direct anzuschliessen, stelle vielmehr Alles auf die Probe derein- 
stiger Untersuchungen an foetalen Präparaten. 

2) Vergl. d. Archiv 1875, Taf. VII, VIII und Figurenerklärung 
das. S. 303, ferner d. Archiv 1875, S. 743. 

41* 


644 R. Hartmann: 


Fall, wogegen die Metacarpalknochen unseres Chimpanse 
Nr. 16111 vorn schmaler und weniger deutlich abgeplattet er- 
scheinen. An den Volarflächen derselben sind keine auffälligen 
Unterschiede wahrnehmbar. 

Die ersten Fingerglieder von Digit. II—IV sind digital- 
wärts beträchtlich gekrümmt und im zweiten wie letzten Drittel 
seitlich verbreitert (Dig. II = 10 Mm., Dig. II =12':5 Mm., 
Dig. IV=11Mm.) Dasselbe zeigt sich beim Quillu-Chimpanse, 
woselbst die Verbreiterung (Dig. II = 16 Mm., Dig. III = 13 Mm., 
Dig. IV = 11'5 Mm.) vom brachialen gegen das digitale Drittel 
nicht so schroff als bei jenem Bam ist. Bei unserem Tro- 
glodytes niger dagegen sind die entsprechenden Fingerglieder 
schmal (Dig. II=8 Mm, II= 10 Mm., IV=9 Mm.) Diese 
Knochen sind an ihrer Dorsalfläche beim letztgenannten Thiere 
und beim Quillu-Chimpanse gestreckter und convexer als 
beim Bam. 

Die Ossa metacarpi 1 und V, sowie die ersten Phalangen 
des Daumens und des kleinen Fingers sind bei allen diesen 
Thieren klein und gracil. 

Die zweite, stets sehr flache Phalanx des II., III. und IV. 
Fingers des Bam sind an ihrer Basis breit und verjüngen sich 
sehr allmählich nach vorn. Am Quillu-Chimpanse und am 
Präparat 16111 ist die entsprechende Phalanx des III. Fingers 
breit, die Phalangen der übrigen Finger dagegen sind sehr 
schmal. Die Nagelglieder des Bam zeichnen sich durch grosse 
Graceilität aus. Ihre Endverbreiterung ist sehr unbedeutend im 
Vergleiche zu derjenigen der übrigen Thiere, 

An den vorliegenden Knochen der oberen Extremität sind 
die untere Epiphyse der Ulna, die obere und untere des Radius 
mit den entsprechenden Diaphysen noch nicht verwachsen. Die 
Handwurzelknochen sind vollständig ausgebildet. Selbst das 
Sesambeinchen fehlt nicht. Am I. Mittelhandknochen zeigt sich 
die brachiale Epiphyse von der Diaphyse getrennt, bei den 
Mittelhandknochen 2—5 dagegen ist die digitale getrennt, die 
brachiale verwachsen. An den Fingergliedern ist immer die 
brachiale Epiphyse noch getrennt. Es entspricht dies bekannt- 
lich dem Gange der Verknöcherung dieser Theile auch bei den 


Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 645 


übrigen Affen!) Die obere Apophyse der Ulna ist am Bam 
rauher, schmaler und mehr zugeschrägt als bei Troglodytes 
niger, woselbst dieser Theil abgestumpfter erscheint.?) Die 
Epiphysen des ersteren Thieres sind noch zu wenig ausgebildet, 
zeigen noch nicht die energische Ausprägung der Höcker- 
Furchen und anderer Unebenheiten erwachsener Thiere, 
weshalb es auch schwer ist, in dieser Hinsicht jene Theile beim 
Bam und gemeinen Chimpanse in Vergleich zu ziehen. Sonst 
finde ich keine irgend wesentlichen Unterschiede in der Bildung 
der Vorderarmknochen beider Thiere, nur dass diese Theile 
beim Bam viel graciler, feiner, ich möchte sagen, eleganter 
gebaut sind, als beim Westafrikaner. Der Arm des von Dr. 
Pechuäl-Loesche erlegten, grossen, angeblich männlichen 
Chimpanse°) hat sehr kräftige Ossa antibrachii mit stark aus- 
geprägten Unebenheiten. Sonst entdecke ich in diesen Theilen 
keine beträchtlichen Unterschiede Nur ist das Spatium inter- 
osseum zwischen den sehr gebogenen Knochen dieses mächtigen 
& Thieres mit breiten, dicken Armen verhältnissmässig viel breiter 
als an unserem Q Troglodytes niger. Bei letzterem ist jenes 
Spatium aber auch schmaler als beim Bam. 

Das Os triquetrum des Bam zeist auf der Seite eine breitere, 
glattere Fläche als dasjenige desQ Troglodytes niger und jenes 
oben erwähnten 5. Bei beiden letzteren Individuen ist diese 
Fläche ulnar- und vorwärts gegen die Richtung auf die Finger- 
- spitzen zu mit einem Knochenkamm versehen, welcher radialwärts 
breit und convex ist, ulnarwärts aber schmaler und niedriger 
wird. 

Von der deutsch-afrikanischen Loango-Expedition war durch 
Hrn, Stabsarzt Dr. Falkenstein eine angebliche Gorillahaut und 
ein angeblich zu derselben gehörendes Skelet eingeliefert worden. 
Letzteres erwies sich nun nach meiner Untersuchung bald als 
dasjenige eines älteren kräftigen 5 Chimpanse, an dessen Schädel 
die Nähte meist noch nicht vollständig verwachsen sind.*) 


1) Vergl. diese Zeitschrift, Jahrgang 1875, Tat. VI. 
2) Vergl. das, Taf. VIII. 

3) Vergl. das. Taf. VII. 

4) Vergl. dies Archiv 1875, S. 739 ff. 


ee 2. 


646 R. Hartmann: 


Das Thier stammt von dem an Anthropomorphen so reichen 
Quillu-Flusse her. Dies etwa 1200 Mm. hohe Specimen hat 
230 Mm. lange Hände (Mittelfinger), ohne III Phalange, denn 
diese fehlten dem Skelet. Auch an ihm sind die oberen (proxi- 
malen, brachialen) Phalangen breit. So z.B. beträgt die Breite 
der ersten derselben am Zeigefinger = 10 Mm., am 3. Finger 
=12 M., die der zweiten am Zeigefinger = 11 Mm., am 3. Finger 
=12 Mm. Das ist eiue lange, breite Hand, deren kräftige 
Phalangen sehr gegen die zierlichen unseres Bam abstechen. 

Man hat bekanntlich seit Huxley die hintere Extre- 
mität des Affen für eine dem menschlichen Fusse homo- 
loge Bildung erklären wollen, wogegen in vergangener Zeit 
nach Tyson und Blumenbach jenes Gebilde für eine hin- 
tere Hand — daher die Ordnungsbezeichnung Quadrumana 
— gegolten hatte, 

Huxley, nachdem er die äusserlicheAehnlichkeit der hinteren 
Extremität des Gorilla mit einer Hand zugegehen hatte, bemerkt 
darüber Folgendes: „Aber die oberflächlichste anatomische 
Untersuchung weist sofort nach, dass die Aehnlichkeit der so- 
genannten „hinteren Hand“ mit einer wirklichen Hand nur bis 
auf die Haut geht, nicht tiefer und dass in allen wesentlichen 
Beziehungen die Hinterextremität des Gorilla so entschieden 
mit einem Fusse endigt wie ‘die des Menschen. Die Mittel- 
fussknochen und Finger sind andererseits relativ länger und 
schlanker, während die grosse Zehe nicht bloss relativ kürzer 
und schwächer, sondern durch ein beweglicheres Gelenk mit 
ihrem Metatarsalknochen an die Fusswurzel gelenkt ist. Gleich- 
zeitig steht der Fuss schräger am Unterschenkel als beim 
Menschen. „Die hintere Gliedmaasse des Gorilla endigt daher 
in einen wahren Fuss mit einer sehr beweglichen grossen Zehe. 
Es ist allerdings ein Greiffuss, aber in keiner Weise eine Hand: 
es ist ein Fuss, der in keinem wesentlichen Charakter, sondern 
in bloss relativen Verhältnissen im Grade der Beweglichkeit 
und der untergeordneten Anordnung seiner Theile von dem des 
Menschen abweicht.“ „Man darf nun indess nicht glauben, weil 
ich (Huxley) von diesen Differenzen als nicht fundamentalen 
spreche, dass ich ihren Werth zu unterschätzen suche. Sie sind 


Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 647 


in ihrer Art wichtig genug, da ja in jedem Falle der Bau des 
Fusses in strenger Beziehung zu den übrigen Theilen des Or- 
ganismus steht. Auch kann nicht bezweifelt werden, dass die 
weitergehende Theilung der physiologischen Arbeit beim 
Menschen, sodass die Function des Stützens gänzlich dem Bein 
und Fuss übergeben ist, für ihn ein Fortschritt im Baue von 
grosser Bedeutung ist; nach Allem aber sind anatomisch be- 
trachtet die Uebereinstimmungen zwischen dem Fusse des 
Menschen und dem Fusse des Gorilla viel auffallender und be- 
 deutungsvoller als die Verschiedenheiten.“ 

Huxley kommt fernerhin zu dem Schluss, dass „möchten 
die Differenzen zwischen der Hand und dem Fusse des Menschen 
und denen des Gorilla sein, welche sie wollten, — die Diffe- 
renzen zwischen denen des Gorilla und denen der niedrigeren 
Affen noch viel grösser seien.“ 

„Der Fuss des Orang weicht noch mehr ab; seine sehr 
langen Zehen und kurze Fusswurzel, kurze, grosse Zehe und in 
die Höhe gerichtete Ferse, die grosse Schiefe der Gelenk- 
verbindung mit dem Unterschenkel und der Mangel eines langen 
Beugemuskels für die grosse Zehe trennen denselben noch viel 
weiter vom Fusse des Gorilla, als der letztere vom Fusse des 
Menschen entfernt ist.“ Nachdem Huxley noch manches 
Bemerkenswerthe über die Muskelbildung der Menschen- und 
Affenhand, des Menschen- und Affenfusses angeführt, endigt der- 
selbe mit folgenden Worten: „So verschiedenartig die relativen 
Verhältnisse und die Erscheinung des Organes sein mögen, so 
bleibt die terminale Abtheilung der hinteren Extremität im 
Plan und Grundgedanken des Baues ein Fuss und kann in 
dieser Hinsicht nie mit einer Hand verwechselt werden.“!) 

Flower bemerkt, dass der Hauptunterschied zwischen 
Menschen- und Affenfuss darin besteht, dass letzterer zu einem 
Greiforgan modifieirt worden sei. Fusswurzel-, Mittelfussknochen 
und Zehenglieder zeigten sich bei beiden Ordnungen in gleicher 


1) Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur. Deutsche 
Ausgabe, S. 103 fl. Ders. in A Manual of the anatomy of verte- 
brated animals. London 1871, p. 481 ff. 


648 R. Hartmann: 


Zahl und in gleicher gegenseitiger Stellung, nur sei beim 
Affenfusse die Gelenkfläche des Cuneiforme I für die grosse 
Zehe sattelförmig und schief gegen die innere oder Tibialseite 
des Fusses gekehrt. Die grosse Zehe stehe deshalb getrennt 
von den übrigen und sei so angeordnet, dass, wenn sie gebeugt: 
werde, sie sich zur Sohle herabbiege und den anderen Zehen 
sich entgegensetze, weit mehr, als dies mit dem Daumen der 
Menschenhand geschehen könne u. s. w. 

Auch Owen spricht sich!) über die charakteristische Um- 
gestaltung des Affenfusses in „an opposable grasping"thumb* 
der grossen Zehe aus?) K. E. v. Bär vermag Huxley 
nicht zuzustimmen, wenn dieser behauptet, die Abweichung des 
Menschen von dem Gorilla sei geringer, als diejenige der 
verschiedenen Affen untereinander. Man könne Unterschiede 
verschiedener Art unter den Affen finden. Bei einigen sei der 
Daumen nur ein Stummel, bei den anderen, wie beim ÖOrang- 
Utan, seien die Finger der hinteren Extremität so lang und 
gekrümmt, dass sie auf ebenem Boden gar nicht ausgestreckt 
werden könnten; bei vielen kleineren Affen sehe die Hinter- 
hand noch mehr handähnlich aus, als bei den grossen schweren 
Affen, und die Finger könnten sehr gut auf dem Boden aus- 
gebreitet werden. Hier sei nämlich das Fussgelenk ein viel 


1) An introduction to the osteology of the Mammalia. London 
1870, p. 310. 

2) Z. B. On the anatomy of vertebrates. Vol. II, p. 551. Vergl. 
hierüber auch noch: G.M. Humphry: The human foot and the 
human hand, London 1861, p. 89. St. George Mivart: Man and 
Apes, London 1873, p. 88. Ferner: Burmeister: Geologische Bil- 
der zur Geschichte der Erde und ihrer Bewohner. Leipzig 1851, I, 
S. 101 fl. Letztere Abhandlung, welche übrigens vieles Vortreffliche 
enthält, ist leider zu einer Zeit geschrieben, in welcher es um die 
Kenntniss der Anthropomorphen, namentlich des Gorilla, noch ziem- 
tich dürftig stand. Lucae: Die Hand und der Fuss. Abgedruckt 
aus den Abhandlungen der Senckenberg. naturforsch. Gesellschaft, 
V Bd., 1865. Bischoff: Beiträge zur Anatomie des Hylobates leu- 
eiseus. München 1870, S. 68 ff. Brühl: Myologisches über die Ex- 
tremitäten des Schimpanse. (Aus der Wiener mediein. Wochenschrift 
1871, S. 4, 52, 78.) G. Seidlitz: Beiträge zur Descendenztheorie. 
1876, S. 148 f. Jaeger: Zoolog. Briefe, S. 438. 


Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 649 


weniger scharf ausgebildetes und es erlaube daher mannig- 
fache Beugungen, so dass auch die Sohlenfläche, welche eigert- 
lich nach innen gerichtet sei, auf dem Boden zu liegen komme. 
Je schwerer der Körper werde, desto schärfer müsse das Fuss- 
gelenk ausgebildet werden, und desto weniger könne es daher 
die freien Bewegungen gestatten, die dem Handgelenk zukom- 
men. Alle diese Modificationen seien aber nur Modificationen 
eines Kletterfusses oder eines greifenden Gliedes, d. h. einer 
Hand, nicht aber Modificationen eines festen, den ganzen Rumpf 
auf dem Boden tragenden Fusses. Die Zehen des Gorilla 
zeigten deutlich die Form einer Hand, indem die grosse Zehe 
wie ein Daumen abstehe, die übrigen Zehen aber nach der 
äusseren Seite gedacht seien. Die Fusswurzel sei beim Gorilla 
verkürzt, der Fersenhöcker nach innen gekrümmt. Die ein- 
zelnen Knochen des Fusses vom Menschen fänden sich aller- 
dings in der Hinterhand des Gorilla wieder, allein es sei ein 
ganz anderes Organ daraus geworden, ein Organ zum Greifen, 
d. h. eine Hand. Es sei diese letztere aus denselben Elemen- 
ten gebildet, wie der Fuss des Menschen, aber zu einem an- 
deren Organ. Das Verhältniss sei also dasselbe, wie in den 
Mundtheilen der Insecten, die bei einigen gegen einander be- 
wegliche Kiefer bildeten, bei anderen aber dünn und lang seien 
und einen Stachel formten. Wenn man behaupte, die Affen 
hätten keine hintere Hand, sondern einen Fuss, so sei das ganz 
ebenso, als wenn man sagte, die Mücke habe keinen Stachel, 
sondern verdünnte Kiefern u. s. w.!) 

Hier interessirt uns nun zunächst die hintere Extre- 
mität des Chimpanse. Ich habe schon früher Taf. VII, 
3, 4°), Jahrgang 1875 und VIII 3, 4 die ganze Extremität des 
Troglodytes niger (Nr. 16111) und des Bam, sowie jetzt Tafel XIV 
die Fusswurzelknochen des in diesem Archiv 1875, S. 733 ££. 
erwähnten Quillu-Chimpanse abbilden lassen. Ein selbst ober- 


1) Studien aus dem Gebiete der Naturwissenschaften. II. Theil 
1876, S. 315 ft. 

2) Das. steht im Text S. 303 Zeile 7 der Tafelerklärung fälsch- 
lich statt 4 in der Plantaransicht 5 u. s. w. 


650 R. Hartmann: 


flächlicher Blick auf diese Abbildungen muss jeden mit der 
Osteologie des Menschen und der Wirbelthiere nur einiger- 
maassen Vertraueten davon überzeugen, dass wir es im Tarsus 
dieser Thiere ganz mit denselben Elementen zu thun haben, 
welche den Tarsus des Menschen charakterisiren. Es sind 
hier der Astragalus, der Calcaneus, das Os naviculare, Cunei- 
forme I, I, IM und cuboideum vorhanden. Freilich zeigen 
diese Theile mancherlei von den menschlichen Verhältnissen 
abweichende Eigenthümlichkeiten. Das Os metatarsi I der 
grossen Zehe ist am Cuneiforme I mittelst eines von der Streck- 
zur Beugeseite verlängerten Freigelenkes eingesetzt. Dieses 
Fussglied spielt hier also durchaus eine ähnliche Rolle wie der 
Daumen der menschlichen Hand. 

Fig. 12 der oben citirten VII und VIII Tafel mögen hier 
sofort zu Vergleichen dienen. Die Basis des Os metac, I ist 
nur sehr wenig von derjenigen des Os metac. I] entfernt. Die 
übrigen Mittelhand- und Zehenglieder der hinteren Extremität 
des Chimpanse entfernen sich so wenig von denselben Theilen 
des Menschen, dass hier unsere Betrachtungsweise dadurch 
nicht weiter beeinflusst zu werden vermag. 

Es frägt sich meiner Ueberzeugung nach zunächst darum, 
wie die Affen, vorzüglich die anthropomorphen, ihre Hinter- 
extremität gebrauchen? Vor. Allem dient sie, da diese Thiere 
meistens ein Baumleben führen, zum Klettern, wozu die Affen 
sich aber auch der Hände bedienen. Der Gorilla setzt beim 
Gehen die eingesehlagenen Finger der Vorderextremität auf den 
Boden, selbst im beschleunigten Tempo. Die hintere Extre- 
mität, an welcher der längliche mehr frei hervorragende Tuber 
Calcanei schon mehr den Eindruck einer wirklichen plastisch 
hervortretenden Hacke macht, als bei Chimpanse, Orang und 
Gibbon, wird beim Gehen meist mit der Soble platt auf den 
Boden gesetzt. Zuweilen aber auch, namentlich auf der Flucht, 
dient selbst die Streckseite mit den eingeschlagenen Zehen zum 
Aufstützen auf die Unterlage. Aeltere Gorillas haben daher 
Gangschwielen an der Streckseite der Finger- und Zehenglieder, 
welche zuweilen knotig geschwollen und sehr hart erscheinen. 
Wenn Bär die hintere Extremität des Gorilla so darstellt, dass 


N 


Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 651 


die Zehen II—V nach der Aussen- oder Fibularseite gekrümmt 
erscheinen, so beruht das nur auf der Willkür seines Präpa- 
rators. Denn der Gorilla kann die Zehen sehr gut flach über 
den Boden strecken, so dass die Beugeseite der Phalangen in 
voller Breite die Unterlage berührt. Die ganze Fusssohle stützt 
sich dabei auf die Erde. Dergleichen kann man beim lebenden 
Gorilla des Berliner Aquariums tagtäglich beobachten. Der 
Chimpanse benutzt beim Gehen die eingeschlagenen Finger der 
vorderen und die eingeschlagenen Zehen der hinteren Extre- 
mität. Selbst laufend bewegt er sich so mit ziemlicher Schnellig- 
keit fort, häufig sieht man ihn aber auch die ganze Sohle der 
Hinterextremität auf die Erde stützen. Beim Orang-Utan zeigt 
sich dieselbe Gangart. Letzteres Thier setzt aber auch beim 
Gehen häufig den Aussenrand der Hinterextremität mit ein- 
geschlagenen oder wenigstens doch gegen die Sohle hin ge- 
krümmten Zehen auf die Erde. Dies konnte man sehr schön 
an dem unlängst gestorbenen grossen & Orang des Berliner 
Aquariums beobachten.!) Dies Thier stützt beim Gehen aber 
auch die ganze hintere Sohle platt auf. Den Aussenrand des 
letztgenannten Theiles scheinen dagegen Gorilla und Chim- 
panse seltener zu gebrauchen. Wenn sich dieselben und der 
Orang gerade emporrichten und in dieser Stellung eine kurze 
Strecke weit — lange halten sie es dabei nicht aus — vor- 
wärts bewegen, so gebrauchen sie die hintere Extremität häu- 
figer mit platt ausgestreckten, selten nur mit eingeschlagenen 
Zehen. Die Gibbon’s (Hylobates) gehen nicht, wie die ande- 
ren anthropomorphen Affen, auf allen Vieren, sondern sie gehen 
weit häufiger aufıscht, auf den mit platter Sohle gegen den 
Boden gestemmten Hinterextremitäten. Sie halten sich bei dieser 
Bewegung ziemlich gerade, setzen Knie und Füsse nach aussen, 
ziehen die Schultern zusammen und kehren die Arme in halb- 
gebeugter Stellung nach auswärts, wobei die Hände schlaff 
herunterhängen. Die oberen Gliedmaassen wie Balancirstangen 


1) Vergl. auch die Abbildung bei Schlegel und L. Müller im 
Atlas zu: Verhandelingen over de natuurlijke Geschiedenis der Neder- 
landsche overzeesche besittingen. Zool. 


652 R. Hartmann: 


leicht auf- und nieder-, hin- und herwiegend, laufen sie mehr 
als sie hüpfen, sobald sie sich nur auf platter Erde bewegen. 
Auf unregelmässigem Boden dagegen ergreifen sie mit weit 
ausgestrecktem Arm jeden nur irgend sich darbietenden An- 
haltpunkt und geben an ihm jedesmal dem Körper einen 
mächtigen Schwung nach vorwärts. Ist eine solche Unter- 
brechung in ihrem Laufe überwunden, so geht es desto besser 
auf den Füssen fort. Solche Hindernisse ermöglichen es ihnen, 
einen jedesmaligen neuen Anhub zu nehmen, und mit dessen 
Hülfe die Schwierigkeiten eines coupirten Terrains leichter zu 
bewältigen. Werden sie nun zufällig zu grösserer Eile ange- 
trieben, so laufen sie wohl auf allen Vieren, hüpfen und sprin- 
gen alsdann auch noch nebenbei. | 

Andere Affen, die Cynopitheken u. s. w., stützen beim 
Gehen öfters die ganzen Beugeseiten beider Extremitäten auf. 

Alle Affen, auch die anthropomorphen, bedienen sich der 
hinteren Extremität gelegentlich zum Ergreifen von Gegen- 
ständen. Ja beim flüchtigen Klettern, wenn sie z. B. eine er- 
griffene Frucht vor dem Futterneide ihres Gleichen sichern 
wollen, so nehmen sie letztere wohl zwischen die Zehen der 
Hinterextremität, seltener noch einer vorderen, und bedienen 
sich der übrigen Extremitäten mehr nur zur beschleunigten 
Locomotion. 

Werden anthropomorphe Affen angegriffen, setzen sie sich 
zur Wehre, so stellen sie sich wie kampfbereite Bären auf die 
Hinterextremitäten und gebrauchen die vorderen zum Schlagen, 
Kratzen, Festhalten u. s. w. Verfolgte Paviane ergreifen mit 
einer Vorderextremität Zweige, Früchte, Steine oder dergl. und 
werfen damit nach ihrem Gegner.') 

Fassen wir nun Dasjenige, was wir hier über Bau und 
Verrichtungen der Hinterextremität dieser Thiere kennen ge- 
lernt haben, zusammen, so müssen wir doch die Ueberzeugung 
gewinnen, dass wir es hier mit einem zum Gehen in man- 


1) Vergl. die hübschen Abbildungen G. Mützel’s über die Stel- 
lungen der anthropomorphen Affen in der Zeitschr. f. Ethnologie 1876, 
Taf. I, III und in Brehm’s Thierleben, II. Aufl.; Bd. I, S. 46 u. 79. 


EN 


Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 653 


‘ cherlei Form und zugleich auch zum Greifen geschickten Or- 
gane zu thun haben, für dessen Bezeichnung ich die, wie wir 
wissen, schon von Aelteren gebrauchte Benennung „Greiffuss“ 
von Neuem vorschlagen möchte. Ueber die Beziehungen dieses 
letzteren zum Menschenfusse werde ich an einer anderen Stelle 
berichten. Zu einer Hand gehört Rotationsfähigkeit. 

Die wenigen vorliegenden Unterschenkel- und Greiffuss- 
knochen des Bam-Chimpanse') zeigen sich in jeder Beziehung 
ungemein viel schlanker und feiner gebildet als diejenigen des 
vielbesprochenen Troglodytes Nr. 161112), als diejenige des 
Quillu-Chimpanse (S. 649) und des zuletzt erwähnten, von der 
deutschen Loango-Expedition herstammenden Exemplares (S. 645). 


Die Tibia des Bam hat eine Länge von 175 Mm. Die- 
jenige von Nr. 16111 225 Mm. Während die Fibula des Bam = 
17 Mm. Länge hat, beträgt diejenige jenes Chimpanse = 
21 Mm. Die Altersunterschiede machen sich natürlicherweise 
auch hier bemerkbar. 

Die sämmtlichen von mir in dieser Zeitschrift beschriebenen 
Bam-Schädel gehören jüngeren und älteren weiblichen Thie- 
ren an.’) Aelteren 5 Individuen entstammen überhaupt nur 
die hier 1875 T. XVII, Fig. 2 und S. 739 behandelten Schädel. 
Es bleibt ein nicht genug zu beklagender Uebelstand, dass uns 
keine Reste alter männlicher Bam vorlagen. Die Beschaffung 
‚derselben müsste eine Hauptaufgabe der von jetzt ab das Niam- 
Niam-Land bereisenden wissenschaftlichen Expeditionen werden. 

Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Bam-Schädel in 
ihrem ganzen Bau etwas Eigenthümliches zeigen. Die Pro- 
gnathie der meisten derselben ist beträchtlich. So beträgt der 
Abstand zwischen den Augenhöhlenbögen oberhalb der Sutura 
nasofrontalis und dem Alveolarrande (zwischen den inneren 
Ineisiy.): 


1) Vergl. diese Zeitschr. 1875, Jahrgang Taf. VII, Fig. 3, 4, 5, 6. 

2) Das. Taf. VIII, Fig. 3—6. 

3) Ueber die Verschiedenheiten des & und Q@ Chimpanse-Schädels 
vergleiche meine Angaben in diesem Archive 1872, S. 147 ff. 


654 R. Hartmann: 


Am Bam-Schädel Nr. 127-102 Mm. 


5 $ an 
& i 199 
& \ el. 
{ 5 go 
2 N sag 
5 5 „135 2100.% 
1 N se 


5 E „ 157=100 „ 

An den Schädeln Nr. 132 und 134 ist die Zahl gering ge 
rechnet, weil hier nämlich die Incisivalveolen bereits schad- 
haft, ausgebrochen erscheinen. Nr. 128, 129, 132, 134, 136, 
137 gehören sehr alten Individuen an. Nr. 133 war noch nicht 
alt. Dümichen’s Schädel Nr. 24182, bei welchen obige 
Distanz nur 78 Mm. ausmacht, entstammt einem noch jungen 
Thiere, dessen Epiphysen noch nicht verwachsen sind.!) Ich 
gebe zu bedenken, dass es sich oben um weibliche Individuen 
handelt. 

Dieselbe Distanz beträgt aber 
bei dem Chimpanse-Schädel 16111= 86 Mm. 

DUHSL 88°, 


n N N 

„n 7 D 152 (der Loango-Expedition) 
— 107 Mm., 

»n n Nr. 11 (vonLenz) = 95 Mm. 

7 13. nat, AO 


N n Rz] 

Die Schädel 13, D 152 und 16111 entstammen alten Indi- 
viduen. Der merkwürdig breite Lenz’sche Schädel Nr. 11 
ist ein noch jugendlicher. Nr. D 152 gehört ebenfalls einem 
jungen Thiere an. Wir sehen an diesen verschiedenen Ge_ 
bieten entnommenen Präparaten einen Ogöwe- und einen Lo- 
ango-Schädel von beträchtlicher Prognathie. Nr. 13 ähnelt in 
seiner Configuration den Bam-Schädeln. Dagegen zeichnen sich 
die Schädel D 151, D 152, 11 und 16111 in dieser Hinsicht 
durch Breite und Kürze aus. 

Die Messungen der Schädelcapacität ergaben man- 


1) Vergl. diese Zeitschr. Jahrgang 1872, S. 484. 


Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 695 


cherlei Differenzen. Dieselbe betrug 
beim Bam-Schädel Nr. 128= 350 Cbem. 


„ RN „. 136-370 „ 

5 5 „ 1897=3% „ 

a 5 „24182= 8309 „ 

beim Chimpanse-Schädel D 152=370 „ 
x 5 61117 3497, 

R D 151=3%0 „ 


N 
Nr. 24182 und 16111 gehören ungefähr gleichaltrigen Thieren 
an. Weitere Nummern der Sammlung waren für diese Mes- 
sungen nicht mehr brauchbar. 

Die Bam-Schädel sind durchschnittlich schmal, namentlich 
in ihrer Kieferparthie, die Knochentheile derselben erscheinen 
fein stulptirt, haben meist recht ausgeprägte Vertiefungen, Fort- 
sätze und Muskelleisten, sie sind leicht und spröde. Uebrigens 
varüiren sie in Einzelnheiten untereinander beträchtlich, wie sich 
das auch aus den früher von mir veröffentlichten Beschreibungen 
ergiebt. Bedenkt man nun, dass sich diese Thiere durch einen 
gewissen charakteristischen Gesammthabitus des Schädels, durch 
dunkle Gesichts- und Gliederfarbe, sowie durch den fuchsigen 
Schiller ihres langen, feinen, schwärzlichen Haarkleides auszeich- 
nen, so würde ich, nach meinen jetzigen Erfahrungen, gerade 
nichts Unzulässiges darin erblicken, wollte man wenigstens vor- 
läufignoch den Bam zueiner besonderen Varietät der Chimpanse’s 
erheben. Weniger würde ich auf Grösse und Form der Ohren 
geben, denn diese Theile verhalten sich bei allen Chimpanse’s 
individuell gar zu verschieden. In dem Zahnbaue aller dieser 
Thiere findet sich so wenig Abweichendes, dass derselbe hier 
nicht weiter in Betracht kommen darf. In den vorliegenden 
Extremitätenknochen lässt sich leider kein zur Charakterisirung 
der systematischen Beziehungen der Bam geeignetes Material 
aufinden. Denn obwohl sich an ihnen, wie oben $. 653 bereits 
dargethan worden, eine auffallende Schlankheit der einzelnen 
Knochen nicht verkennen lässt, so ist das Thier doch noch 
sehr jung gewesen, auch darf man das (9) Geschlecht desselben 
hierbei nicht ausser Acht lassen. Es erscheint daher bedenk- 
lich, auf die oben angedeuteten Charaktere hin weitere Schlüsse 


656 R. Hartmanu: 


zu bauen. Endlich fehlen uns bis jetzt zum Gesammtbilde des 
Bam das übrige Skelet des alten Weibchen und jeglicher 
Knochenrest vom älteren Männchen.') Will man aber doch 
den Bam, wie es mir ja selbst räthlich erscheint, vom eigent- 
lichen Troglodytes niger sondern, so mag man ihn Troglodytes 
niger var. Schweinfurthii (Giglioli)?) benennen. Da- 
gegen würde ich lebhaften Protest einlegen, wollte man noch 
fernerhin von einer besonderen Species: TroglodytesSchwein- 
furthii Gigl. reden. Denn der Artbegriff bedarf gerade 
im Hinblick auf die sogenannten Anthropomorphen einer ge- 
hörigen Erweiterung. Die Grenze der Species darf hier keines- 
wegs so knapp gezogen werden, als dies bisher im Sinne der 
alten engherzigen Doctrin geschehen ist. 

Es erscheint mir völlig unstatthaft, den Bam mit den an- 
geblichen von du Chaillu und seinen Vertretern geschaffenen 
Chimpanse-Species zu identifieiren. Denn du Chaillu’s An- 
gaben sind in dieser Hinsicht verworren, dürftig, die sogenannte 
Artcharakteristik ist so mangelhaft, dass die wissenschaftliche 
Untersuchung nichts damit zu thun haben darf. Du Chaillu’s 
biologische Phantastereien sind übrigens von Winwood Reade 
u. A. hinlänglich widerlegt worden. Du Chaillu’s Abbildun- 
gen vermeintlicher Chimpanse-Arten sind meist schlechte Fa- 
brikate aus unberufenen xylographischen Ateliers.”) Text und 
Bilder des amerikanischen Reisenden können überhaupt nur 
unwissende Literaten begeistern. Die Schädelabbildungen zu. 
seinem Werke taugen aber womöglich noch weniger als seine 
Habitusbilder. Wie ich schon oben (1875, S. 266) bemerkte, 


- 1) Giglioli besass einen jungen zweifelhaft männlichen 

Schädel (!) 

2) A.a. 0.—Hartmannim zoologischen Anhange zu Schwein- 
furth: Im Herzen von Afrika, II, S. 525. 

3) Du Chaillu’s Troglodytes calvus (Travels and adventures 
p. 359) ist die einzige, noch einigermaassen brauchbare Figur seines 
Werkes. Dagegen ist sein N’schiego Mbouve p. 232 nichts als eine 
schlechte Copie des von J. Geoffr. St. Hilaire abgebildeten jungen 
Chimpanse, sein Kooloo-Kamba S. 270, 360 ist ein schlecht ausgestopfter 
Chimpanse gewöhnlichen Schlages. 


Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 657 


sucht daher Giglioli aus den Schädelbefunden nachzuweisen, 
dass in Centralafrika neben dem Bam noch der wirkliche 
Chimpanse vorkomme. Unter den von mir beobachteten Bam- 
Schädeln zeigt zwar kein einziger volle Uebereinstimmung mit den 
von mir als typisch erklärten Schädeln des Trogledytes niger, 
z. B. mit Nr. 16111 des anatom. Museums zu Berlin ; indessen will 
ich doch selbst danach die Möglichkeit nicht in Abrede stellen, 
als könnten im Njam-Njam-Lande oder in irgend einem ande- 
ren Gebiete Afrikas nicht zwei Varietäten des Chimpanse neben- 
einander vorkommen. Eine etwaige Bastardirung derselben 
unter einander würde dann zu mancherlei Zwischenbildungen 
Veranlassung geben. 

Gewiss ist, dass auch die Varietät Troglodytes niger 
mannigfache individuelle Variation aufweist. Die Grösse der 
Ohren, sowie deren Bildung in Bezug auf Leisten, Gräben, 
Ecken, Gegenecken u. s, w. zeigten sich sehr verschiedenartig. 
Junge Troglodytes niger haben gewöhnlich ein schmutzig-Heisch- 
farbenes, in gelblich und bräunlich spielendes Gesicht. Das- 
selbe färbt sich mit zunehmender Entwickelung dunkler, indem 
sich schwärzliches Pigment flecken- und gebietsweise von der 
Stirn und Nase her ablagert, wodurch ein schwach russfarbenes 
Colorit entsteht. Nun finde ich in einer mir von dem bekann- 
ten F. Binder aus Alwinez-Borberek (Juli 1874) zugesandten 
Notiz, dass nach von ihm hervorgerufener Aussage der berbe- 
rinischen und Denka-Jäger bei dem Bam die Gesichtsfarbe 
bereits in frükester Jugend sehr dunkel, fast schwarz er- 
scheine. 

Auch unter den westafrikanischen Chimpanses kommen 
einzelne sehr prognathe Individuen vor. Bereits die S. 654 von 
mir publieirten Maasse lehren uns dies. Flach-prognathes Ant- 
litz zeigte z. B. ein sehr junger durch Prof. Bastian von der 
Loango-Küste mitgebrachter © Chimpanse mit kleinen Ohren, 
welchen ich auf Taf. IV, Fig. 2 habe abbilden lassen. Das. - 
findet sich Fig. 4 ein nach dem Leben gezeichneter Chim- 
panse, angeblich vom Gabun-Tl'erritorium, dessen Ohren recht 
gross sind. Sehr prognath ist der merkwürdige das. Fig. 1 von 
mir abgebildete Anthropomorphenkopf. Ich sah ihn am 7. Sept. 


Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 42 


a 


658 R. Hartmann: 


1873 bei einem herumziehenden Händler zu Nürnberg, der ihn 
in einem mit verdorbenem, fauligem Weingeist und mit Lumpen 
gefüllten Blechgefässe aufbewahrte und für denselben 200 Gul- 
den (eine verhältnissmässig ungeheuere Summe) verlangte. 


Der Kopf war, bis auf einige stark verletzte Stellen in der 


rechten Gesichtshälfte, noch ganz gut erhalten. Nur gegen 
Erlegung eines entsprechend hohen Douceur erlaubte mir der 
Mann, sogleich vor dem Thore eine Zeichnung von dem höchst 
auffallenden Specimen zu nehmen, dessen Fundort mir nicht 
angegeben werden konnte. Grösse und Zahnbildung liessen auf 
ein noch junges ® schliessen. Höchst sonderbar waren das 
kleine menschenähnliche Ohr, die vorstehenden Augenwülste, 
unter denen stark entwickelte Augenhöhlenbögen fühlbar wur- 
den, die breite Nase, die prognathe Kieferparthie und die 
lange, gewölbte, vorragende Oberlippe.!) 

Damals leider machten die Sorge um eine alte, schwer- 
kranke, von mir begleitete Verwandte und die in Folge des- 
sen beschleunigte Abreise weiteren Negotiationen um Erwerbung 
des höchst interessanten Specimens ein Ende. Nie habe ich 
von dem Verbleib desselben wieder gehört. Seine Weichtheile 
mögen vielleicht bald unter dem Einflusse der sich schon da- 
mals bemerkbar machenden Fäulniss und der Wärme verdorben 
sein, der Schädel kann ja in irgend ein Museum gewandert 
sein. Ich gab hier die Abbildung des Kopfes, entschlage mich 
aber vorläufig jedes weiteren Urtheiles über dies Präparat. 
Fig. 3 das. zeigt den Kopf eines 5 etwa dreijährigen Chim- 
panse und eine Profilbildung, wie sie bei jüngeren Exemplaren 
von Troglodytes niger (ungefähr desselben Alters) häufig be- 
obachtet wird. 

Man kann nicht behaupten , dass die Prognathie bei alten 
& Chimpanse’s durchaus grösser sei, als bei alteno. Bischoff’s 
Gypsmodell des alten & zeigt hinsichtlich der S. 654 erörterten 
Distance 105 Mm. Der 1875 S. 739 erwähnte, allerdings noch 


1) Ich habe bisher nie weiter ein Wort über dieses sonderbare 
Präparat verloren, weil ich dasselbe früher für die Missbildung eines 
Chimpanse gehalten hatte. Jetzt denke ich freilich anders darüber. 


Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 659 


nicht völlig erwachsene & Schädel lässt diese Distance auf 
100 Mm. abschätzen. Man vergl. damit die S. 654 angegebenen 
Zahlen bei © Schädeln. Jedenfalls zeigt sich die Prognathie 
bei verschiedenen Individuen von Chimpanses verschiedenartig 
ausgeprägt. Am Bam und ähnlichen Formen ist die Nasen- 
und Lippengegend bei starker Prognathie flach, bei anderen 
ist sie erhaben, gewölbt. Man vergl. über diese Contraste 
Fig. 1, 2, 4 der Taf. IV. 

Im Nachfolgenden soll uns nun zunächst die allge- 
meine Morphologie des Chimpanse-Schädels und 
Chimpanse-Skeletes beschäftigen. 


(Fortsetzung folgt.) 


Tafel-Erklärung. 


Taf. XIV. 


Fig. 1-10. Tarsalknochen des Jahrgang 1875 S. 733 erwähnten 
Quillu-Chimpanse. 

Fig. 11. Verknöcherung des Os navieulare bei einem jungen 
etwa & Jahr alten) Chimpanse. 

& Knochenkern. 

Fig. 12. Carpus der rechten Hand eines jungen Hylobates agilis. 
mit den Knochenkernen. 

on. Os naviculare. 


1 „ lunatum. 
t. „ triquetrum. 
st. „ styliforme. 
ma. „ multangulum majus. 
mil, 5 minus. 
c. „ eapitatum. 
h. „ hamatum. 
i. ,„ intermedium, 
Taf. XV. 


Fig. 1. Linker Carpus eines erwachsenen 9 Gorilla. Volarseite.. 
A. Ulna. B. Radius. C—G. Ossa metacarpi. 
42* 


660 


* Sesambein. 


H. Hartmann: 


Os naviculare. 

lunatum. 

triquetrum. 
styloideum. 
multangulum majus. 


n minus. 


capitatum. 
hamatum. 


Für Fig. 2—4 gelten dieselben Bezeichnungen. 


Fig. 2. Dasselbe. 


Dorsalseite, 


Fig. 3. Rechter Carpus eines erwachsenen Orang-Utan. Dorsal- 
seite. Die Ulna A ist der leichteren Uebersicht wegen zur Seite 


gezerrt worden. 


Fig. 4. Dasselbe. 


Volarseite. 


i. bedeutet das (in Fig. 3 dorsalseits, in Fig. 4 aber volarseits 
verdeckt liegende Os intermedium) (Os centrale carpi). 
Fig. 5. Theil der linken Hand eines 5 Chimpanse. 


ae 


1. 
2. 
6. 
3. 
4. 
4 

5. 
T. 
8. 


9. 
9a. 


Musculus extensor digitorum communis. 


3 carpi radialis brevis. 

% '» A longus. 

n pollieis longus und brevis. 
n carpi rad. brevis, 


abduetor pollicis longus. 
supinator longus. 

flexor carpi radialis. 
abductor pollicis brevis. 
interosseus dorsalis I. 
adduetor pollicis. 


ce. Ligamentum carpi commune. 


* Qs sesamoideum. 


Fig. 6. Theil der rechten Hand eines © Chimpanse. 
2,2a. Musculus extensor carpi radialis longus und brevis. 


” pollieis brevis. 
abductor pollieis longus. 
flexor digitorum communis sublimis. 
abductor pollicis brevis. 
interosseus dorsalis 1. 
extensor pollieis longus. 
5 digitorum communis. 


Fig. 7. Theil der linken Hand eines jungen Orang-Utan. 


1. Museulus 


extensor digitorum communis. 
£ pollieis longus. 


abductor y A 


6) 


I 
(eo) 
— 
Eu 
SS’ RS 
S S 
a 8) 
S N 
$) Er 
S an 
= g 
B> R 
I ' N 
S 
La 
= 


- 


Y 


7 


Archio 


Taf. XV 


) 


187 


Archiv f. AnatuPhyf. 


R_ Hartmann ad nat del 


Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 661 


4. Musculus extensor pollicis brevis. 


8 u abductor pollieis brevis. 

9. = interosseus dorsalis 1. 

13 5 flexor digitorum comm. sublim. 
14. & pronator quadratus. 

15. 5 supinator longus. 


16. 5 extens. carpi radialis longus et brevis. 
«. Ligament. carpi commune. 
* Sesambein. 
Fig. 8. Thenar-Theil der rechten Hand eines älteren Q Orang- 
Utan. 
3. Musculus extens. digitor. commun, 


4, 4a. - abductor pollieis longus. 
8. a extens. digitor. brevis. 
12. 5 flexor pollieis longus. 


** Sohnenfaden desselben, welcher sich an das Sesambein * an- 
heftet. 


Anatomische Untersuchung der Gefässnerven 
der Extremitäten. 
Von 


HERMANN FREY aus Zürich. 
Zweite Abhandlung. 


Hierzu Tafel XVI u. XVII. 


Die Beschreibung der makroskopisch erkennbaren Gefäss- 
nerven findet man in den Lehrbüchern der Anatomie unter der 
Rubrik Sympathicus, während deren mikroskopisches Verhalten 
an einer anderen Stelle erörtert oder ganz den Lehrbüchern 
der Histologie überlassen wird. Diese Trennung will ich auch 
der Uebersichtlichkeit halber in dieser kleinen Abhandlung 
durchführen. Der erste Abschnitt soll also die Literatur und 
meine eigenen Beobachtungen über die gröberen Verzweigungen 
der Nervi vasorum enthalten, der zweite einen Abriss dessen 
bringen, was bis jetzt mit dem Mikroskop darüber gefunden 
worden ist. 

Die Gefässnerven des menschlichen Körpers sind in ein- 
zelnen Theilen so genau erforscht worden, dass schwerlich mehr 
viel Neues darüber gefunden werden wird. Man erinnere sich 
nur an die Verfolgung des Plexus caroticus bis in den Plexus 
tympanicus, in’s Ganglion oticum, sphenopalatinum, an die ge- 
naue Bearbeitung der Aortenplexus u. s. w. Dagegen haben, 
sich nicht viele Anatomen gefunden, die auf den Verlauf der 
Nervi vasorum an den Extremitäten Rücksicht genommen haben, 
und es soll der Zweck der vorliegenden Arbeit sein, diese 
Lücke in der Literatur, so gut als ich es vermochte, auszufüllen, 


Anatomische Untersuchung u. s. w. 663 


Ein Theil der desceriptiven Anatomien geht über mein 
Thema stillschweigend hinweg oder begnügt sich mit der kur- 
zen Notiz, dass der Nervenplexus, der die Aorta umspinnt, 
sich auch auf die Gefässe des Armes und des Beines fortsetze. 
Führer in seiner topographischen Anatomie erwähnt peri- 
pherische Nervengeflechte, die sich an den grossen Gefäss- 
stämmen zunächst den Gelenken finden. Selbst Rüdinger in 
seinem ausgezeichneten Werke: „Die Anatomie der mensch- 
lichen Gehirnnerven“, spricht bei Behandlung des Sympathicus 
gar nicht von den Nervenplexus an der axillaris und femoralis. 
Dagegen findet sich in seiner Abhandlung über die Gelenk- 
nerven folgende Stelle: 

„Der Nervus tibialis gelangt in den oberen Theil der 
Fossa poplitea und schickt einen Nervenast von seiner vorderen 
Fläche ab,. der sich in schräger Richtung nach unten, vorn und 
etwas nach innen zieht. Nach einem Weg von 1—2 Zoll theilt 
er sich in zwei schwächere Aestchen, die beide in leicht ge- 
schlängelter Richtung die Theilungsstelle der Arteria poplitea 
erreichen und hier einen zweiten, tiefer unten vom Nervus 
tibialis weggehenden Zweig und einen später zu beschreibenden 
Nervus fibularis aufnehmen. Sie bilden um die Arteria und 
Vena poplitea ein reiches, viel verschlungenes Geflecht, einen 
wirklichen Plexus popliteus, wovon feine Fäden in die Scheide 
der Arteria und Vena poplitea eindringen, und in ihren Wänden 
Aufnahme finden. Die aus dem Geflecht hervorgehenden grossen 
Nervenzweige, theilweise Fortsetzung der Stämmchen, verhalten 
sich folgender Art: Das dünnere, obere, mehr nach innen ge- 
legene gelangt in seinem weiteren Verlauf in den Winkel 
zwischen Vena saphena parva und Vena popliteas, verbindet 
sich vor und etwas nach aussen von den Gefässen mit einem 
langen Ast vom Nervus übularis, um mit ihm ein gemeinsames 
Stämmchen zu bilden. Dies Stämmchen nun gelangt an der 
inneren Seite der Gefässe vorbei und nimmt seinen Weg durch 
das hier in Masse liegende Fett nach dem unteren Dreieck der 
Fossa poplitea, wo es sich in mehrere Fäden spaltet, die in 
der Umgebung des lig. popliteum in den fettigen Lücken ver- 
schwinden. Das dickere Stämmchen giebt dann, sobald es 


664 Hermann Frey: 


etwas tiefer in den oben genannten Winkel der beiden Venen 
gekommen ist, nochmals Fäden zum Plexus popliteus und einen 
Faden, der dem Verlauf der Art. articularis media folst und mit 
ihr sich in der hinteren Kapselfläche und den Ligg. eruciatis 
vertheilt. Der Endast schlingt sich nach vorn um die Arterie 
und Vene herum, gesellt sich zur Art. articul. genu super. int. 
begleitet dieselbe und vertheilt sich zuletzt unter dem Caput 
internum musc. gastrocnem. in und zwischen den Sehnenbün- 
deln der hinteren, inneren Kapselfläche. Ein zweites, kleineres 
Aestehen entspringt 1—1%' tiefer als das vorige, in der Regel 
von einem Muskelzweig des N. tibialis, das auf kürzerem Wege 
nach aussen das Fett in schräger Richtung durchbohrt und in 
der Umgebung der Gefässe sich mit dem oben beschriebenen 
verbindet. 

Vom Nervus fibularis erhält die Kapsel zwei ziemlich starke 
Nerven. Ein dünner langer Zweig entspringt hoch oben, einen 
Weg von 5—7 Zoll zurücklegend. Er läuft hinter dem Mus- 
culus biceps femoris nach innen gegen die Gefässe, und wendet 
sich hinter denselben nach aussen, um die oben beschriebene 
Verbindung mit dem ersten Ast vom Nervus tibialis einzugehen. 
Er nimmt somit an dem Plexus popliteus Antheil und nimmt 
sodann den oben angegebenen weiteren Ver.auf. 

Henle kommt in seiner allgemeinen Anatomie 8. 510, 
wo er über die Gefässe und deren Nerven handelt, auf die 
weiter unten zu erwähnende Arbeit Lucaes zu sprechen und 
sagt S. öll: „Indess will auch Pappenheim an vielen Ar- 
terien die Nerven bis in die mittlere Haut verfolgt haben“ und 
später: „Zweige der Cerebrospinalnerven zu den Arterien stellte 
auch Goering (de nervis vasa adeuntibus) dar“. 

Das Lehrbuch der Anatomie von Quain-Hoffmann enthält 
8. 738 folgende Stelle: „Die Arterien werden gewöhnlich von 
grösseren Nerven begleitet, allein ausserdem sind auch Nerven 
in ihren Wandungen verbreitet, welche wahrscheinlich deren 
Contractionen beeinflussen. Die Gefässnerven stammen vorzugs- 
weise aus dem sympathischen System, jedoch auch aus dem 
Gehirn und Rückenmark. Sie bilden um die grösseren Arterien 
Geflechte und verlaufen mit den kleineren Gefässen in Form 


Anatomische Untersuchung u. s. w. 665 


feiner Nervenfädchen. Von diesen dringen sie durch die 
Adventitia bis zur Media vor und lösen sich in ein feines Netz 
äusserst feiner, blasser Fasern auf“. Während die Verfasser 
auf S. 1314 von den Gefässplexus der Carotis, ja der Arteria 
maxillaris interna und Thyreoidea inferior, also relativ kleiner 
Gefässe, sprechen, erwähnen sie die der Axillaris und Femoralis 
gar nicht. S. 1314 bringen sie die Literatur des Sympathicus; 
es findet sich aber auch hier keine auf mein Thema bezügliche 
Angabe. Von anderen Lehrbüchern der Anatomie spricht nur 
W. Krause in seiner allgemeinen Anatomie eingehender über 
die Nervi vasorum 8. 532: 

„Die Aa. subelavia, axillaris, brachialis u. s. w. werden 
auf ihrem ganzen Verlauf von sehr feinen Nervenstämmchen 
begleitet, welche sie in Form eines weitmaschigen Plexus mit 
langsgestellten Maschen umspinnen“, und weiter unten: „So 
findet man an der Arteria axillaris feine Zweige vom Nervus 
musculo-cutaneus und von der Ansa, wolche die Nervi cervi- 
cales VIII und dorsalis I mit einander bilden. Diese Schlinge 
giebt einen stärkeren Zweig zum Bündel der übrigen, den 
Plexus cervicalis zusammensetzenden Rückenmarksnerven, wel- 
cher Zweig in den Nervus medianus übergeht. Von demselben 
trennt sich ein dünneres Nervenästchen ab, welches längs der 
Art. brachialis zu verfolgen ist. (Siehe Plexusbildung unten.) 
Das beschriebene Verhalten scheint nicht ganz constant zu sein. 
Auch die Aeste der subelavia sind von feinen Nervenzweigen 
begleitet“. Später folgt noch: „Im Allgemeinen gelangen die 
Gefässnerven unter spitzen Winkeln zu den betreffenden Blut- 
gefässen. Zuweilen kommen auch rückläufige, ehenfalls unter 
spitzen Winkeln herantretende Aestchen vor. Die Stämmchen 
der Gefässnerven führen neben vielen blassen, von kernhaltigem 
Neurilem umgebene einzelne doppelteontourirte Nervenfasern. 
Wie beide Faserarten enden, ist uicht ausgemacht. Man weiss, 
dass einige doppeltcontourirte an der Abgangsstelle der Arteria 
profunda femoris mit 2—3 Vater’schen Körperchen aufhören 
(siehe unten). Auch die grösseren Venen besitzen ähnliche 
aber sparsamere Gefässnerven“. 


666 Hermann Frey: 


Ausserdem citirt Krause noch eine von mir herrührende 
Arbeit: | 

„Gefässnerven des Arms“, die im Archiv für Anatomie und 
Physiologie von Reichert und du Bois-Reymond im Jahr- 
sang 1874 erschienen ist. 

Ein französisches Werk: nouveaux elements d’anatomie 
descriptive et d’embryologie par H. Beaunis et A. Bou- 
chard bringt folgende Daten: pag. 382. Quant aux 
nerfs des vaisseaux, ils constituent les nerfs vasomoteurs. 
Luschka pretend avoir vu leurs terminaisons arriver jusque dans 
la tunique interne. Jl nous semble plus probable, qu’ils | 
n’atteignent que la membrane contractile, avec laquelle il est 
evident, qu’ils doivent avoir des rapports, ce que demontre la 
figure 112 (aus dem Werk von Gimbert ausgezogen, worüber 
unten mehr). Pag. 685: A la suite d’experiences multiplies, 
Schiff a pu determiner l’origine des nerfs vasomoteurs dans 
la moölle, au moins de ceux qui se rendent aux extremites. 
I a vu que les nerfs vasomoteurs du pied et de la jambe 
naissent dans la region lombaire et qu’une grande partie d’entre 
eux se distribuent avec le crural et le sciatique, tandıs que 
d’autres se rendent directement sur les vaisseaux. Ceux de la 
cuisse, du bassin et de l’abdomen proviennent de la fin de la 
moölle dorsale. Ceux de la main et de l’extremite inferieure 
de l’avant-bras cheminent avec les branches du plexus brachial. 
Ceux du bras et de l’epaule gagnent l’aröere sousclaviere par 
le cordon du sympathique et tirent leur origine de la partie 
de la moelle, qui donne naissance au troisieme, quatrieme, 
cinquieme et sixieme nerfs dorsaux“. 

Ziehen wir endlich noch die umfangreiche Anatomie von 
Sappey zu Rathe, so finden wir in der zweiten Hälfte des 
ersten Bandes Pag. 384 folgende Angaben: 

„Des nerfs penetrent dans les parois des arteres sous la 
forme de filets extremement greles et fort difficiles a suivre 
dans le trajet, qu’ils parcourent. Cependant Wrisberg a suive 
dans les arteres de la face et du front des filaments nerveux, 
qui proviennent de la cinquieme paire. M. Ribes (konnte 
leider nicht nachgesehen werden, weil keine weitere Angabe 


Anatomische Untersuchung u. s. w. 667 


des betreffenden Werkes dabei stand) dit avoir suivi des 
rameaux du grand sympathique sur la carotide interne jusque 
dans la substance du cerveau, des branches du plexus brachial 
jJusqu’ a la partie inferieure de l’artere humerale et de ses 
divisions, des ramifications du systeme nerveux ganglionaire 
sur l’artere crurale jusqu’a l’artere popliteee Rudolphi,Lucae, 
Purkinje, Henle etc. rapportent des observations analogues. 
Il est presque impossible de suivre ces filaments nerveux au 
dela des couches superficielles de la tunique moyenne. Onde- 
mann, il est vrai, assure les avoir suivi jusque dans la mem- 
brane interne, mais cette assertion exigerait une demonstration“. 

Was nun die Specialarbeiten über Gefässnerven anbetrifft, 
so fand ich deren zwei. Frühere Bearbeitungen sind in der 
Einleitung zu Göring’s Abhandlung angegeben. Weitere 
Untersuchungen habe ich mit den mir zu Gebote stehenden 
Hülfsmitteln nicht auffinden können. 

Die erstere der beiden Specialuntersuchungen von D. Lucae 
erschien im Jahrgang 1809 von Reils Archiv für Physiologie 
und enthält die Angabe, dass sich kurze Aestehen, vom Haupt- 
nervenstamm abtretend, in die Arterien einsenkten, um sich 
strahlenförmig, ausgebreitet, in deren Adventitia zu verlieren. 

Die zweite viel eingehendere ist: 

Dissertatio inauguralis anatomico-physiologica de nervis 
vasa praecipue extremitatum adeuntibus, Auctore Gustavo 
Goering, Gothano. Jenae 1836. 

In der Vorrede giebt er an, dass Wrisberg, Lucae, 
Lobstein und andere darüber zu widersprechenden Resultaten 
gekommen seien. 

Wrisberg (in: de nervis arterias venasque comitantibus) 
dieit: Talium sane ansarum plures dietis (laqueis nempe circa 
arteriam thyreoideam inferiorem et subselaviam et nervo inter- 
costali) longe majores fortioresgque in chiasmate nervorum 
brachialium arteriam axillarem transmittente et nervo tibıali 
communi in poplite divisiones arteriae popliteae sustinente ani- 
madvertuntur. 

Klint (in: de nervis brachii Göttingae 1784) scribit: ner- 
vus medianus arteriae brachiali venisque profundis parallelus 


hi il 


668 Hermann Frey: 


descendit parvos tamen surculos manifeste tunicis vasorum 
subjacentium impertit. 

Item Lucae (Quaedam observationes anatomicae circa ner- 
vos arterias adeuntes et comitantes Francofurtii ad Moenum 
1810) surculos nervorum descripsit atque icone expressit plures 
pro tunica media arteriae brachialis. 

Lobstein (in: de nervi sympathici humani fabrica, usu 
et morbis Parisiis 1823) fand nie einen Nerven, der vom 
Sympathicus zu den Gefässen der Extremitäten direct hinge- 
gangen wäre, was Goering nach eigenen Erfahrungen bestätigt. 

Er praeparirte die Nervi vasorum auf einem Pechteller 
unter Weingeist, nach vorgängiger Härtung in Alcohol oder er 
tauchte sie für kurze Zeit in Salpetersäure. Mit diesen Me- 
thoden gelangte der Verfasser nun zu folgenden allgemeinen 
Sätzen: „Die Gefässnerven gehen in spitzem Winkel vom 
Hauptstamm ab und breiten sich in den Gefässhäuten aus. 
Besonders an den Stellen, wo die Arterien sich theilen, werden 
sie gefunden. Oft überschreiten sie Gefässe, ohne ihnen Aeste 
zu geben, um in benachbarten Theilen zu enden z. B. die 
Leber- und Magenäste, die aus dem Sympathicus stammen. 
Wie die Gefässe der Extremitäten, so haben auch deren Nerven 
einen gestreckteren und direkteren Verlauf als die Aeste des 
Sympathicus 

Goering fand an der Arteria brachialis nervi vasorum, die 
vom Nervus medianus herkommen, und zwar einen oder meh- 
rere Aeste, aber diese gehen nur ins umliegende Bindegewebe. 
Am Vorderarm bekommen die Gefässe von den begleitenden 
Nerven Zweige; also versorgt der Nervis ulnaris die Arteria 
ulnaris, der Ramus superficialis nervi radialis die Arteria 
radialis, der Medianus die Interosseas antica und zwar weit 
unten und auch mit solchen Aesten, die auf ihr enden. An 
der Arteria interossea postica fand er keinen Nerven. 

Schon Klint sah mit der Arteria nutriens humeri vom 
Nervus musculocutaneus herkommend einen Ast in den Knochen 
eintreten, was Goering bestätigt. Das gleiche Verhältniss 
findet sich am Bein. An die femoralis, sobald sie unter dem 
Ligamentum Pouparti hervorgetreten ist, sah Goering Nerven 


Anatomische Untersuchung u. s. w. 669 


vom cruralis gehen, und zwar in Form mehrerer kurzer 
Aestchen. 

Dann fährt er fort: 

„Et ex nervo proprio arteria femoralis nervos accipit, qui 
a tertio pari nervorum lumbalium enatus, nervo crurali modo 
longiori modo breviori spatio laxe tantum imcumbens, extra 
ligamentum Poupartii quam primum ad arteriam cruralem accedit 
et illam pluribus surculis amplectitur, (vide Joannes Adamus 
Schmidt in libro suo: Commentarius de nervis lumbalibus 
eorumque plexu anatomico-pathologicus cum quatuor tabulis 
aeneis Vindebonae 1794), quorum unus in posteriore arteriae 
cruralis parte ante musculum pectineum ad arteriam femoris 
profundam flectitur et divisa omnes huius arteriae ramulos 
comitatur. Surculi arteriae eruralis superficialis inter venam et 
arteriam cruralem descendentes ramulos huius arteriae tunieis 
admittunt, qui multimodo illam circumdantes, partim in tela 
cellulosa partim in tunieis arteriae ipsis evanescunt. Ad arte- 
rias femoris circumflexas nullos ex nostro nervo ramulos per- 
serutari valui. Ab nervo sapheno, qui in externa arteriae 
eruralis parte descendit, nervus arteriae crurali proprius non- 
nullorum surculorum augmentum capit. 

Tertia parte inferiori femoris, ubi arteria eruralis musculum 
adductorem magnum perforat, ramus ex nervo obturatorio, inter 
musculum adductorem brevem et magnum descendens vices 
nervi modo descripti suscipit. Hic nervus continuatione tenui 
neryi arteriae cruralis proprii auctus, totam arteriam popliteam 
comitans usque ad inferiorem popliteae partem decurrit, qua 
via non solum arteriam popliteam nonnullis sureulis compleecti- 
tur, qui instar manus, quae corpus quoddam rotundum com- 
prehendit, tunicae externae arteriae arctissime adhaerent, sed 
etiam arteriis articularibus cuique ramulum cum illa conjuncte 
decurrentem tribuit. Truncus nervi ipse arteriae popliteae 
adhaeret et quia arteriae, ceteris partibus exceptis, destinatus 
est, nervus arteriae popliteae proprius apte nominari potest. 

Hie nervus desinit illo loco, quo arteria poplitem relin- 
quens, in arteriam tibialem anticam et posticam discedit, quae 
propriis nervis utuntur. 


670 Hermann Frey: 


Arteria tibialis postica accipit a nervo tibiali sex ad octo 
ramulos, qui arteriae imcumbentes eam comitantur et singuli 
in eam evanescunt. 

Idem nervus tibialis ad arteriam peroneam duo vel tres 
ramulos admittit, qui huie arteriae plane distinati (muss wohl 
„destinati“ heissen) sunt. 

Arteria tibialis antica contra a nervo peroneo ramulis in- 
struitur; hie nervus enim fibulam ceircumgressus, arteriae 
tibiali anticae, ligamento interosseo egressae, impertit surculum, 
qui iterum in plures ramulos divisus, in tunicis arteriae ipsis 
‘ decurrens, omnes, qui ad musculos abeunt, nervulis consulit. 

Sie igitur nervus cruralis arteriam eruralem, nervus obtu- 
ratorius arteriam popliteam et nervus ischiadicus arterias eruris 
moderat, ita ut illi tres maximi pedis nervi cum omnibus fere 
pedis arteriis conjuncti sint. Im zweiten Theil seiner Arbeit 
behandelt Goering den physiologischen Theil seines Themas, 
was uns hier weiter kein Interesse bietet. 

Im Verlaufe meiner Auseinandersetzung werde ich auf die 
Punkte zu sprechen kommen, in denen die Resultate meiner 
Untersuchungen von meinen Vorgängern abweichen. 

Was die Art anbetrifft, wie ich präparirte, so geschah die 
erste Präparation in situ an der Leiche; auch die Zeichnungen 
1—20 in der vorher erwähnten Arbeit und 1—14 in dieser 
wurden auf dem Präparirtisch gemacht, um dann später noch 
genauer ausgeführt zu werden. Die feinere Verfolgung der 
Gefässnerven (Fig. 14—17) wurde auf einem Pechteller unter 
Wasser gemischt mit Weingeist vorgenommen. (Weiteres später.) 

Gehen wir zur Beschreibung der Bahnen über, die die 
vasomotorischen Nerven benutzen, so findet man, dass auch 
hier wie bei allen anderen Nerven der Grundsatz gilt, so schnell 
wie möglich zum Ziele zu gelangen. Dieser Weg ist aber den 
nervis vasorum schon durch die die Gefässe begleitenden sen- 
siblen und motorischen Nerven vorgezeichnet. 

Beaunis und Bouchard sprechen auch davon, dass sich 
die vasomotorischen Nerven direct ans Gefäss begeben könnten. 

Leider kann man aus dem wenigen, was sie anführen, 
nicht erkennen, ob sie die Stellen der Gefässe meinen, die 


Anatomische Untersuchung u. s. w. 671 


den Orten, wo die Gefässnerven entspringen, zunächst liegen 
oder weiter entfernte. Wäre das erstere der Fall, so wäre es 
natürlich, dass sie meinten, dass z. B. eine Stelle der Aorta 
von einem direct an sie tretenden Gefässnerven versorgt würde. 
Sonst liesse sich ihr Ausspruch schwierig erklären und noch 
schwieriger anatomisch begründen. 

Nach obigem Satze sieht man sehr selten eine Arterie 
ohne begleitenden Nerven und das geht, wie schon lange be- 
kannt, so weit, dass Arterie und Nerv an der Stelle eines 
Muskels eintreten, an dem die aus den Capillaren desselben 
gesammelte Vene austritt, wobei der Nerv, soweit ich es nach- 
weisen konnte, immer den Gefässen die Nervi vasorum lieferte. 
Auch die Hautvenen verlaufen selten ohne die Begleitung 
eines grösseren oder kleineren Nerven. 

Diese Regel gilt aber nicht nur von den grösseren Arte- 
rien und Venen, sondern selbst bei Nerven, die einen Durch- 
messer von 0'012 Mm. zeigen, wurden immer begleitende Ge- 
fässe gefunden. Dadurch ist den vasomotorischen Nerven nicht 
nur ihr Weg vorgezeichnet, sondern sie finden an den viel 
kräftigern sensiblen und motorischen Nerven auch eine Stütze. 

Der oben ausgesprochene allgemeine Satz, dass eine Ar- 
terie oder Vene vom begleitenden Nerven versorgt werde, muss 
aber nicht so verstanden werden, dass nur ein Nerv das be- 
treffende Gefäss versorge, sondern es können auch mehrere 
sein. So wird die Arteria brachialis in ihrem oberen Theil 
von kurzen Aesten versorgt, die aus dem Plexus brachialis 
hervorgehen, weiter unten aber von verschiedenen Aesten. 
Sehr schön zeigt dies ein Fall, wo der Nervus cutan. int. 
femoris und der Nervus cutan. medius ungefähr in gleicher 
Höhe Aeste an die Vena saphena magna abgaben. Auch kann 
ein Stämmchen bei den tiefliegenden Gefässen nur eines der- 
selben innerviren und anderen Nerven das zweite Gefäss über- 
lassen. Auch braucht es nicht der grösste, dem entsprechenden 
Gefäss zunächstliegende Nervenstamm zu sein, der dieses ver- 
sorgt, sondern irgend ein anderer, wobei sich aber der erstere 
noch an der Innervation betheiligen kann. Die Arteria colla- 
teralis ulnaris prima z. B. wird vom Ramus collateralis nervi 


672 Hermann Frey: 


radialis (Wenzel Gruber) versorgt und nicht vom ulnaris, an 
dessen Seite sie doch gegen das Ellenbogengelenk hinunter- 
läuft. Ebenso fand ich nie Aeste vom Nervus ischiadicus ab- 
gehen, um die Rami perforantes der Arteria profunda femoris 
zu versorgen. Nachdem ich nun den Verlauf der vasomoto- 
rischen Nerven ganz im Allgemeinen behandelt habe, welcher 
Verlauf sich übrigens schon aus physiologischen Daten ohne 
besondere Präparation erschliessen lässt, will ich nun die Haupt- 
resultate anführen, die ich in Folge meiner (10—12) Präpara- 
tionen gefunden habe, muss aber, um Missverständnisse zu ver- 
meiden, erklären, dass ich „primäres Aestchen“ ein solches 
nenne, das von irgend einem Nerven abgehend, meist ohne 
Theilung an das Gefäss tritt, wo es dann in die „secundä- 
ren“ Aeste ausläuft. 

Die primären Nervi vasorum treten fast immer unter einem 
spitzen Winkel an das zu innervirende Gefäss, wie auch Goe- 
ring und Lucae anführen. [Ueber eine Ausnahme siehe bei 
der Vena cephalica] Man findet ja auch bei den sensihlen 
und motorischen Nerven recurrirende Aeste sehr selten. Sollte 
eine oberhalb des Zutrittspunktes des Nervus vascularis gele- 
gene Stelle des Gefässes noch nicht innervirt sein, so findet 
sich immer bei der Vertheilung in secundäre Zweige ein sol- 
cher recurrirender, dem dann diese Aufgabe zufällt. Ueber- 
haupt sind bei den secundären Gefässnerven die recurrirenden 
Aeste sehr häufig und es möchte fast scheinen, dass ein solches 
einen kreisförmigen Bezirk versorge, wobei die Eintrittsstelle 
im Centrum liegen würde. Nie habe ich, wie O. Lucae es 
gefunden zu haben behauptet, ganz kleine kurze Aestchen ge- 
sehen, die sich ohne weitere Theilung strahlenförmig ausbrei- 
teten und so sich ins Gefäss einsenkten, sondern immer ist ein 
grösseres oder kleineres Stämmchen vorhanden, das, aus den 
motorischen oder sensiblen Nervenstämmen abtretend, sich in 
mehr oder weniger zahlreiche secundäre Aeste theilt. 

Manchmal kommt ein Aestchen vor (das man wohl am 
besten Nervus vasi proprius nennen würde) das sich durch 
diese Theilung nicht erschöpft, sondern eine kürzere oder län- 


Anatomische Untersuchung u. s. w. 673 


gere Strecke neben dem Gefässe hinläuft, wie auch Goering 
es zuweilen gefunden hat. 

Wenn Goering angiebt, dass einzelne seiner Gefässnerven 
nur im Bindegewebe endigten, und dadurch zwei Abtheilungen 
machen will, so glaube ich doch diesem Beispiel nicht folgen 
zu müssen. Ich habe mich immer bemüht, auch bei den Fig. 
1—14, natürlich noch mehr bei Nr. 14—17, die Nervi vasorum 
in die Gefässwand selbst hinein zu verfolgen. Allein bei den 
feinsten Verzweigungen ist mir das nicht immer gelungen; 
wenn ich einen Nerven in dem wenigen Bindegewebe, was ich 
um die Gefässe bestehen liess, verschwinden sah, glaube ich 
doch immer, fest versichern zu können, nur Gefässnerven be- 
schrieben zu haben. Wenn ich einen Nerven nur bis in die 
Adventitia im weiteren Sinne verfolgen konnte, habe ich nie 
daran gedacht, einen solchen als Nervus vasi anzusprechen, 
Es kommt aber, worauf ich noch besonders aufmerksam machen 
muss, vor, dass ein Nerv längere Zeit neben einem Gefäss 
herläuft, ohne ihm einen einzigen Gefässnerven zuzuschicken. 
Dieser Nerv kann dann in die Haut (wo sich dieses Verhalten 
besonders an den kleinen Venen sehr häufig findet) oder in 
einen Muskel gehen und so einen Nervus vasi vortäuschen. 

Bei den Hautvenen kommen, ihrem histologischen Bau 
entsprechend, nur ganz wenige und kurze Aestchen, fast nie 
ein Nervus vasi proprius vor. Es sind ja längere Zweige auch 
‘ schon deswegen unnöthig, weil sich ja, wie man bei genauer 
Präparation sieht, über beide Extremitäten ein dichtes, subeu- 
tanes Nervennetz ausbreitet, so dass jeder Punkt der Haut- 
venen mit Leichtigkeit innervirt werden kann. Zwischen den 
als typisch geschilderten Hautnerven finden sich noch sehr 
viele Verbindungen, was auch, wie man später sehen wird, auf 
die Innervation Einfluss hat. 

Die einzige Ausnahme von obigem Gesetz macht der obere 
Theil der V. cephalica, worüber noch weiter unten gesproch en 
werden wird. 

Bei den Arterien und tiefliegenden Venen finden sich theils 
kurze Aeste, theils längere, die dann auch als Nervi vasorum 
proprii auftreten können. (Vide art. ulnaris.) Es kann ein 

Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 43 


N N 


674 Hermann Frey: 


Gefässnerv mit seinen secundären Aesten Arterie oder Vene 
oder beide zugleich (was häufiger ist) innerviren. 

Die Vertheilung der Nervi vasorum geschieht bei kurzen 
Aesten meist in einer Ebene, d. h., liegt ein primäres Aest- 
chen auf dem Gefäss, so gehen seine secundären Verzwei- 
gungen nicht unter dieses hinunter (Ausnahme Fig. 8). Dies 
gilt natürlich nur für die letzten Verzweigungen, die man mit 
dem Scalpell präpariren konnte, und nicht für die mikrosko- 
‚pischen Endigungen, da, wie schon bemerkt, für diesen Theil 
meiner Arbeit nicht einmal eine Lupe benutzt wurde. Eine 
eigentliche, das Gefäss umspinnende Plexusbildung habe ich 
beim Präpariren am Cadaver an der Vena basilica in der Nähe 
der Ellenbogenbeuge und eine ähnliche Bildung an einem 
Muskelast der Arteria femoralis gefunden. 

Quain-Hoffmann gesteht nur den grösseren Arterien 
Plexus zu, während er mit den kleineren feine Nervenfädchen 
verlaufen lässt, sich also sehr reservirt ausdrückt. Denn ob 
er „gross“ relativ oder absolut nehmen will, sagt er nirgends, 
könnte also der brachialis einen Plexus eben so gut zu- wie 
aberkennen. | 

Aus den Angaben von W. Krause muss man entnehmen, 
das ser der A. brachialis, vielleicht auch der ulnaris und radialis 
einen Plexus zugesteht. Um so befremdender ist es, dass er 
oben sagt, dass ein dünnes Stämmchen die A. brachialis begleite 
und nicht, dass es sich in den die Arterie umspinnenden Plexus 
einsenke; diese Angabe ist nicht meinem Aufsatz in Rei- 
chert’s und du Bois-Reymond’s Archiv entnommen. 

Ausser der allgemeinen Annahme sprechen sich wie oben 
bemerkt, noch Führer und Rüdinger für die Existenz eines 
Plexus aus. 

Diesen Angaben muss ich meine Beobachtungen entgegen- - 
setzen, wobei ich allerdings gestehe, dass ich beim Präpariren 
am Cadaver, weil sich hier die Gefässe nicht drehen liessen, 
oft einige Gefässnerven und somit vielleicht den fraglichen 
Plexus zerschnitten habe, um einen besonders viel versprechen- 
den Nerven zu verfolgen. Ich sah die Nerven in die Gefässe 


Anatomische Untersuchung u. s. w. 675 


sich einsenken, ohne sich mit den naheliegenden zu verbinden. 
Uebrigens werde ich bei Besprechung der feineren Präparation 
noch einmal auf diesen Punkt zu sprechen kommen. 

Was die Beschaffenheit der Gefässnerven anbetrifft, so 
unterscheiden sie sich, wie zu erwarten ist, in nichts von an- 
deren, ebenso dünnen Nerven. Lucae hat behauptet, dass sie 
weicher und gallertartiger seien, als andere Nerven, obwohl 
seine Zeichnungen ergaben, dass er nicht von sympathischen 
Nerven redet. Allein das gleiche könnte man von anderen 
Nerven behaupten, die geschützt liegen, wie z. B. von den 
Nervenästen am Unterarm. 

Um nun auf die Dicke der Gefässnerven zu kommen, so 
fand ich solche von 1 Mm. Dicke, die 40—50 Primitivfasern 
zeigten bis zu solchen von 0'012 Mm. Dicke, die nur noch 
6—7 aber alles markhaltige Fasern führten. (Vergl. noch 
den Text zu den Figuren 13—17, der beweist, dass auch die 
dünnsten (0:012 Mm. Dicke) Nerven als solche sicher (durch’s 
Mikroskop) erkannt wurden.) 

Die Länge der Gefässnerven variirt ausserordentlich. Ich 
habe primäre Stämme bis zu 10 Ctm. lang gefunden, während 
die secundären Aeste, wie aus den Figuren ersichtlich ist, 
selten länger wie 4 Otm. sind. 

- Gegenüber den Vasa vasorum zeigen die Gefässnerven ein 
ähnliches Verhalten, wie die in ein Organ eintretenden Nerven 
und Gefässe. Nie Vasa vasorum treten auf dem kürzesten 
‘Wege, also an jeder Stelle der Oberfläche an’s Gefäss, während 
die einem Organ bestimmten Nerven meist eine gewisse Strecke 
neben demselben laufen. | 

In dem Lagenverhältnisse der Nervi vasorum zu den Ge- 
fässen findet keine solche Regelmässigkeit statt, dass man dar- 
über bestimmte Sätze aufstellen könnte. Oft treten sie von 
hinten, oft von vorn an die Gefässe, worüber in der Erklärung, 
zu den Figuren mehr gesagt werden wird. 

Die Nervi vasorum proprii wechseln oft ihre Stellung 
gegen die Gefässe, indem sie sich bald auf die vordere, bald 
auf die hintere Seite begeben, dabei oft zwischen Arterie und 
Vene durchtreten. Es ist geradezu auffallend, wie gegen den 

43* 


676 Hermann Frey: 


sonstigen Verlauf der Nerven man bei längeren Nervis pro- 
priis, deren Länge grade schon an und für sich vor Verwechs- 
lung mit den Vasa vasorum schützt, einen gewundenen Verlauf 
findet, wie aus den Figuren ersichtlich ist. 

Auch die Ernährungsgefässe der Nerven zeigten manchmal 
eine so gewundene Bahn, 

Doch kann man so viel sagen, dass bei den subeutanen 
Venen die Nervi vasorum nur von der Hautseite oder doch 
wenigstens nicht von unten an die Gefässe treten. (Eine Aus- 
nahme fand ich einmal am Rete nervosum dorsi pedis, wo ein 
Aestchen von unten her sich in eine Vene einsenkte). Dies 
geht soweit, dass in einem Fall an der Vena cephalica ein 
unter ihr liegender Nerv sie nicht von unten versorgte, sondern 
sich über das Gefäss hinüberbog, um an die der Haut nähere 
Oberfläche des Gefässes zu gelangen und sich dort zu theilen. 

Für die Arterien und tiefliegenden Venen lässt sich kein 
allgemeiner Satz aufstellen. 

Wenn nun für eine genauere Beschreibung der Gefässnerven 
das Verlangen gestellt werden muss, dass für ein jedes Gefäss 
und dessen Verzweigungen der Stammnerve angegeben werde, 
so muss doch in Betreff dieses Postulates bei den Hautvenen 
zweierlei bemerkt werden: Erstens findet man so genau 
gezeichnete Hautvenenstämme, wie sie die geläufige Beschrei- 
bung aufstellt, nicht immer, so dass es in einem speciellen 
Falle unmöglich sein kann, eine der Beschreibung entsprechende 
z. B. Saphena major (wie Fig. 24 zeigt) nachzuweisen. Die 
Hautvenen zeigen sich in der feineren Ausbreitung als ein Netz 
von Gefässen, in dem allerdings der Regel nach der V. cephalica 
oder basilica entsprechende grössere Aeste gefunden werden, 
aber die Gebiete der beiden Venen haben keine scharfe Grenze 
gegen einander. Zweitens sind, wie schon oben gesagt, die 
Hautnerven auch nicht so einfache Stämme, wie man den ge- 
wöhnlichen Beschreibungen nach glauben könnte und zwei 
oder mehrere von ihnen bilden ein solches Anastomosennetz, 
dass es ganz unmöglich sein kann, zu entscheiden, von welchen 
von beiden ein bestimmter Punkt der Vene innervirt wird, 
(Wie man es sehr schön an der Dorsalseite von Hand und 


2 a a ET Re EN 


Anatomische Untersuchung u. s. w. 677 


Fuss sehen kann.) Dass Nerven- und Gefässvarietäten hier 
noch in’s Spiel treten können, braucht kaum mehr erwähnt zu 
werden. 

Doch kann man so viel sagen, dass die subeutanen Venen 
von den Nerven versorgt werden, durch deren Gebiet sie ge- 
rade laufen. Laufen sie auf der Grenze zweier Nerven, so 
betheiligen sich bald nur einer, bald beide an der Innervation. 

Am Oberarm und der inneren Seite des Unterarms laufen 
die Hautnerven entweder unter den oberflächlichen Venen 
durch oder doch in einer Ebene mit denselben. Dort sieht 
man dann die Nervi vasculares sich in das Gefäss einsenken, 
nachdem sie kürzere oder längere Zeit neben diesem herge- 
laufen sind, während auf der dorsalen Seite des Unterarms 
und besonders der Hand die letzten Verzweigungen der sen- 
siblen Nerven über die subcutanen Venen hinlaufen. Bei 
dieser Anordnung werden die Gefässe dann von oben durch 
feine Nervenfädchen innervirt, die sich dann meist nicht oder 
doch wenig theilen. 

Auch verdient noch ein Verhältniss Berücksichtigung, das 
fast nur am Oberschenkel bei fetten Personen schön ausgeprägt 
gefunden wird. Die in den Lehrbüchern der Anatomie als 
typisch angeführten Hauptnervenstämme laufen gewöhnlich auf 
der Fascie unter dem Panniculus adiposus, während, wenn ein 
Panniculus gut entwickelt ist, die Venen auf einer ziemlich 
dicken Fettlage laufen. Es müssen also die Nerven, die zur 
Innervation neben den Gefässen laufen sollen, aus der tiefsten 
Schicht des Panniculus (Nervenschicht) gewissermaassen auf- 
steigen, um in die obere (Gefässschicht) zu gelangen. Nie sah 
ich, wie man etwa erwarten könnte, von den tiefgelegenen 
Nerven Aeste aufsteigen, um sich gleich in die Gefässe einzu- 
senken, sondern diese wurden immer von den aus der Nerven- 
schicht ausgetretenen Nerven versehen, die sich, nachdem sie 
einige Zeit neben den Gefässen hingelaufen waren, wieder von 
ihnen entfernten, um sich im Fett zu verlieren. 

Ich werde nun die Gefässe des Armes und des Beines zu- 
erst im Allgemeinen besprechen, hauptsächlich aber die Punkte 
andeuten, in denen meine Beobachtungen von denen früherer 


678 Hermann Frey: 


Untersucher differiren und dann bei Erklärung der Figuren 
die Innervirung jedes besonderen Gefässabschnittes der Extre- 
mitäten erläutern. 

Goering giebt an, dass er an der Arteria und Vena 
brachialis nur Aeste vom N. medianus gefunden habe, ohne 
anzudeuten, von wo aus die Gefässe oberhalb des Ursprunges 
des N. medianus aus dem Plexus brachialis innervirt würden. Ich 
fand oberhalb Aeste aus dem genannten Plexus, unterhalb ausser 
solchen vom N. medianus auch Aeste vom N. radialis und ulnaris; 
doch war das Verhalten sehr wechselnd. 

Im Betreff des die Arteria nutriens in den humerus be- 
gleitenden Nerven, siehe unter „femoralis“. Wenn Krause 
angiebt, dass an die A. axillaris Aeste vom N. musculocutaneus 
gehen, so kann ich diesem Forscher nicht beistimmen, 

Aus der oben erwähnten Arbeit Rüdinger’s entnehme 
ich allerdings nichts Besonderes für das Ellenbogengelenk, 
allein er giebt doch an, dass dessen Nerven vielfach mit der 
Arteria brachialis verlaufen, so dass vielleicht manche identisch 
sein können mit den von mir beschriebenen Nervi vasorum. 

Verfolgen wir die Arteria brachialis weiter nach unten, so 
finden wir, dass Arteria und Vena ulnaris vom Nerv gleichen 
Namens begleitet und versorgt werden, während der Arteria 
radialis eine Zeit lang kein Nerv zur Seite geht, der Ramus 
superficialis N. radialis aber erst später an sie herantritt. 
Um diese Lücke auszufüllen, begleitet ein vom Nervus medi- 
anus kommendes Aestchen die Arterie eine Zeit lang und en- 
dete endlich, nachdem es sich durch Innervirung des Gefässes 
erschöpft hat, auf diesem. Eines Falles von der Radialis muss 
seiner Eigenthümlichkeit wegen noch Erwähnung gethan wer- 
den. Bei einem Individuum nämlich begab sich der Stamm 
des R. superficialis N, radialis sehr früh an die dorsale Seite 
des Unterarms, um dort die Haut zu versorgen; das Stück der 
Arterie nun, das ohne begleitenden Nerv war, wurde nicht etwa 
durch einen längeren Ast innervirt, der dann dem Gefäss ent- 
lang hätte gegen die Handwurzel laufen müssen, sondern ein 
Zweig vom Hautnerven kommend, durchbohrte die Unterarm- 
fascie, um zur Arterie zu gelangen. 


Anatomische Untersuchung u. s. w. ...8%9 


-. Wenn Goering an der Interossea antica einen Ast vom 
N. medianus fand, so kann ich ihm für die von mir unter- 
suchten Fälle nicht Recht geben. Iınmer lieferte der N. inter- 
oSseus nervi vasorum, die zum Theil sicher auf der Arterie 
endigten. Dass ich auf der Arteria und Vena perforans tertia 
der Arteria und Vena interossea Nerven fand, beweist Fig. 20 
obigen Aufsatzes, während Goering Nichts gefunden zu haben 
angiebt. 

Gehen wir nun zur A, femoralis über, so muss ich Goering 
Recht geben, dass der N. cruralis die Arteria und Vena femoralis 
versorgt. Leider ist mir seine Abhandlung erst dann zu Ge- 
sicht gekommen, als ich meine Präparationen am Cadaver 
schon beendet hatte und nicht mehr Zeit fand, neue Unter- 
suchungen vorzunehmen, und bin ich also nicht in der Lage, 
dessen Angaben zu prüfen, dass ein vom dritten Lendennerven 
kommender Ast die Arteria profunda femoris innervire; welchen 
Zweig er meint, ist allerdings aus seiner Angabe nicht er- 
sichtlich. 

Einmal fand ich auch in Uebereinstimmung mit der An- 
gabe von Krause einen Nerven an der Abgangsstelle der 
A. profunda mit einem Vater’schen Körperchen enden, habe 
aber später nicht mehr darauf geachtet. 

Was nun den Nerven betrifft, der nach Goering mit der: 
Arteria nutriens ossis femoris in den Knochen hineingeht, so 
fand ich aus schon erwähntem Grunde dies nicht. Allein bei 
Sappey wird diese Angabe bestätigt, der noch hinzufügt, 
dass beim Pferde sich am Foramen nutritium ein Ganglion 
finde, aus dem dann Fäden sich in den Knochen begeben. 

Was Goering über die Versorgung der Arteria poplitea 
sagt, ist durch meine Erfahrungen nicht bestätigt worden. Nie 
fand ich vom N. obturatorius einen Zweig an dieser Stelle, 
sondern immer fiel die Innervirung dem N. ischiadieus zu. Auch 
habe ich in den nachgeschlagenen Büchern nie eine Angabe 
gefunden, dass der N. obturatorius ausser den Muskeln noch 
einem anderen Organ (natürlich der Ramus cutaneus ausge- 
nommen) Aeste zuschicke. Auch Rüdinger, der, wie man 
oben gesehen hat, den Plexus popliteus und dessen Bildung 


680 Hermann Frey: 


so genau beschreibt, giebt Nichts der Art an, was er doch ge- 
wiss gethan hätte, falls er es gefunden haben würde. Ich 
glaube mich also bestimmt gegen das regelmässige Vorkommen 
eines Nervus popliteus proprius (nach Goering) aussprechen 
zu müssen. Dagegen bestätigt Rüdinger, dass die Arteriae 
articulares genu Nerven — bei ihm allerdings vom Plexus 
popliteus stammend — führen, während Goering an alle 
Arteriae articulares aus seinem Nervus popliteus Zweige 
gehen sah. 

Dieser Nerv versorgt dann auch, wie ich aus Goering’s 
Worten schliessen zu müssen glaube, noch die Theilungsstelle 
der A. poplitea, während ich hier Nervenäste vom N. tibialis fand. 

Ebenso wie Goering fand ich auch an der Tibialis pos- 
tica und antica Nervi vasorum proprii (in meinem Sinne) aber 
nicht constant. Dagegen giebt Goering nicht an, dass er 
auch solche an der A. peronea fand, wie es bei mir in einzelnen 
Fällen geschah. 

Was die obere Extremität anbetrifft, so habe ich bereits 
in dieser Zeitschrift (siehe oben) eine genaue Detailangabe 
nebst entsprechenden Figuren veröffentlicht. Bezüglich der 
letzteren verweise ich auf die gegebenen Zeichnungen. Eine 
kurze Beschreibung der hierhergehörenden Thatsachen glaube 
ich aber im Interesse des Zusammenhanges und der Verglei- 
chung der beiden Extremitäten beifügen zu müssen. 

Die Vena cephalica wird den allgemeinen Gesetzen gemäss 
versorgt, nur an ihrem obersten Theile, wo sie zwischen dem 
Musc. pectoralis und deltoides liegt, weicht ihre Innervation 
von diesen Regeln ab. Ich fand nämlich nicht etwa Nervi 
vasorum von den Rami acromiales der oberflächlichen Hals- 
nerven; sondern ein Ast des Nerv. cutan. post. vom radialis 
durchbohrt die Fascie etwas oberhalb des Austrittes dieses 
Hautnerven und läuft neben der‘ Vene, ihr Aeste gebend, 
gegen die Clavicula hinauf. 

Die Vena basilica war je nach der Lage der einzelnen 
Abschnitte des Gefässes theils vom Nervus cutan. int. minor 
theils vom Nerv. cut. int. maior versorgt. 

Kurze Nerven, aus dem Plexus brachialis heraustretend, 


Anatomische Untersuchung u. s. w. 681 


versorgen den obersten Theil der Arteria und Vena brachialis, 
deren unterer Theil vom Nerv. medianus (ziemlich constant 
mit einem längeren Ast), seltener vom N. ulnaris oder radialis 
oder allen zusammen innervirt wird. 

Die Art. radialis gehört in ihrem obersten Theil dem 
Nervus medianus, im mittleren und unteren dem Ramus super- 
ficialis nerv. radialis an. Hier finden sich meist nur kurze 
Nervi vasorum. 

Dagegen fand sich häufiger vom Nerv. ulnaris herkommend 
an den gleichnamigen Gefässen ein reiner Gefässnerv. An der 
Hand liegt für den Arcus arteriosus superficialis die Grenze 
zwischen den Gebieten des Nerv. medianus und Nerv. ulnaris 
in der Mitte des vierten Fingers, während der Ramus profundus 
nervi ulnaris den Arcus arteriosus profundus versorgt. 

Gehen wir nun specieller zu den Gefässen der unteren Extre- 
mität, zunächst zu den Hautvenen des Oberschenkels über, so 
finden wir hier einen immer vorkommenden Stamm, die Saphena 
magna. Nach aussen von ihr geht nun der vom N. crur. kommende 
Nervus cutaneus medius in viele Aeste gespalten in die Haut, 
der schon unter dem Ligamentum Ponparti die Fascie durch- 
bohrt; weiter unten tritt der N. cutaneus internus seu saphenus 
minor in der Mitte des Oberschenkels etwa unter dem Muscu- 
lus sartorius hervor und durchbohrt hier die Fascia lata, wäh- 
rend der Ramus cutaneus nervi obturatorii unter dem Musculus 
gracilis hervortretend, ebenfalls an die innere Seite des Beines 
geht. Nach den allgemeinen Gesetzen könnten sich alle drei 
Nerven an der Versorgung der Vene betheiligen, allein obwohl 
der Hautast des Nervus obturatorius manchmal so stark werden 
kann, dass er den internus ganz ersetzt, habe ich doch nie ein 
Aestchen von ihm an die Vene treten sehen. Da ich auch vom 
N. ileo-inguinalis, ileo-hypogastricus, spermaticus ext. und ingui- 
nalis nie Nervi vasorum an die Saphena gehen sah, was aller- 
dings bei der Feinheit dieser Nerven hätte geschehen können, 
welches Aestchen mir dann entgangen sein mag, so bleiben 
uns noch für den oberen Theil des Gefässes der N. cutaneus 
medius, für den unteren bis zur Kniegegend hin der N. cuta- 
neus internus. Es zeigten sich nun meist längere Aeste, die, 


682 Hermann Frey: 


neben der Saphena hinlaufend, ihr die primären nervi vasorum 
abgaben, um nach einiger Zeit sich dann wieder von der Vene 
zu entfernen und sich im Fett des panniculus zu verlieren. Der 
neben ihr laufende Ast des Nervus cutaneus medius ging bald 
an ihrer äusseren, bald an ihrer inneren Seite nach unten, ein- 
mal sogar unter ihr und doch gingen auch in diesem Fall die 
Nervi vasorum in die Höhe, um sich seitlich oder von der 
Hautseite her in sie einzusenken. 

Einmal lieferte der Cutaneus medius einen Ast, der nach 
aussen von der Saphena ihr Aeste abgebend gegen das Knie 
hinunterlief, während auf der inneren Seite sich noch ein Zweig 
vom Cut. internus fand, der ihr ebenfalls Nervi vasorum zu- 
schickte. 

Man sieht daraus, dass die Grenzen zwischen den Inner- 
vationsgebieten des medius und internus nicht so streng ab- 
getheilt sind, wie auch ein Fall beweist, wo der Gefässnerv 
schon hoch oben in der Gegend der Symphysis pubis die Fascia 
lata durchbohrte, um dann an die Vene zu treten, während 
sich doch bei genauer Präparation zeigte, dass er aus dem 
Bündel des Cutaneus internus stammte. Auch kann der von 
diesem herkommende Zweig nach aussen von der Vene laufen, 
so dass auch in verticaler Richtung diese nicht etwa die Ge- 
biete beider Nerven trennt. 


Fig. 1. Vordere Seite des Oberschenkels. A Gegend der Crista 
ant. sup. ossis ilei, 3 Gegend der Symphysis pubis, c Patella, d Sa- 
phena magna, die sich hier in die Vena femoralis einsenkt, e Nerv, 
der aus dem Bündel des Nervus cutaneus medius femoris vom Nervus 
eruralis stammend in zwei Aeste getheilt das Gefäss versorgt. Der 
Hauptstamm geht unter dem Gefäss durch an dessen äussere Seite 
und verliert sich bei f und g im Fettgewebe. 

Fig. 2. Vordere Seite des Oberschenkels. a Gegend der Crista 
ant. sup. ossis ilei, 5 Gegend der Symphysis pubis, ce Patella, d Vena 
saphena magna, die sich bei e in die Vena femoralis ergiesst, f Ast 
vom N. eutan. medius, der sich bei g im Fette verliert, Ast vom 
cutaneus internus, der hier aus der Fascie hervorkommt, neben der 
Vene hinunterläuft, ihr Nervi vasorum gebend, und bei © im Fett 
verläuft. 

Fig. 3. Stück aus der Vena saphena magna in der Kniegegend, 
das sehr schön die Vertheilung zweier Nervi vasorum zeigt. a Vene 


Anatomische Untersuchung u. s. w. 683 


5 Nervenstamm (Theil des Cut. medius), ce Nervus yasi, der sich bei 
d ins Gefäss einseukt, bei e auf dem Gefäss abgeschnitten wurde, bei 
f in den panniculus geht, g zweiter Nervus vasi, der mit den Aesten 
hkoxins Fett geht, während der Zweig e sich theilt, mit dem 
Stämmchen m dem Gefäss folgt, (das leider wie die Hauptvene beim 
Herausnehmen abgeschnitten wurde, da dies Stück nicht am Cadaver 
präparirt worden ist) und mit dem Zweigchen n das Gefäss innervirt, 

Am Unterschenkel versorgt die Vena saphena magna der 
sie begleitende Nervus saphenus maior und zwar mit Aesten 
von verschiedener Länge, welcher Nerv allerdings gewöhnlich 
mit der Art. artieularis genu superficialis verlaufend in der 
Kniegegend an die Haut tritt, der aber auch wie Fig. 24 zeigt 
den Musculus vastus externus durchbohren kann. 


Fig. 4. Innere Seite des Unterschenkels. «a Patella, & Malleolus 
externus, c Musculus rectus femoris, d Musculus vastus internus, 
e Vena saphena magna, die sich in drei Zweige theilt, wovon der 
hinterste sich bei / in eine tiefere unter der Fascie gelegene Vene 
einsenkt, während die beiden anderen sich bei g wieder zu einem 
Stamm vereinigen, den man nach seinem Verhalten auf dem Fuss- 
rücken als Vena saphena magna bezeichnen muss, h Nervus cutaneus 
femoris internus, der bei ? die Vene innervirt, um sich bei & und Z 
im Fett zu verlieren, nachdem er unter dem vorderen der beiden 
Gefässe (von ihr durch Fettgewebe getrennt) hindurchgetreten ist, m 
Theil des Nervus saphenus maior, der bei n aus der Substanz des 
Musculus vastus internus hervortritt, um mit der vordersten Vene, 
sie innervirend, gegen den Fuss hinunter zu laufen und sich bei o im 
Fett zu verlieren, während dies der obere Ast schon bei s thut, 
p anderer Stamm des gleichen Nerven, der den gewöhnlichen Weg 
gemacht hat und hier, nachdem er früher direct auf der Fascie ver- 
laufen, aus dem Fett empor tritt und ohne dem mittleren Ast Nerven 
zu geben (vielleicht sind einige abgeschnitten worden) bei g sie inner- 
virt, nachdem er schon weiter oben unter sie getreten ist. Vom Punkt 
r bis f wurde kein begleitender Nerv an der Vene gefunden und 
äuch kein Nervus vasorum. 

Fig. 5. Ansicht des am Punkt g aus der obigen Vene ausge- 
schnittenen Stückes von der fascialen Seite her mit der ihr zugehö- 
rigen Nervenvertheilung. 

Die Vena saphena minor wird vom Nervus suralis magnus 
begleitet und im unteren Theil immer von ihm versorgt, wäh- 
rend der obere Theil, wenn dieser Nerv etwa sehr weit unten 
die Fascie durchbohrt, vom Nervus cutaneus posterior innervirt 


wird wie in Fig. 26. 


“> 


684 Hermann Frey: 


Fig. 6. Der Unterschenkel von hinten. a Vena saphena minor, 
5 Cutan. femoris post., der den oberen Theil des Gefässes innervirt 
und sich mit den Aesten ef im Fette verliert, ce Nervus suralis mag- 
nus, dem die Versorgung des unteren Theils der Vene zufällt. 


Die innige Verflechtung der drei es constituirenden Ner- 
ven erlaubt es beim Rete nervosum dorsi pedis nicht, die Ver- 
sorgung des Rete venosum genauer anzugeben. Der äussere 
Theil des Venennetzes gehört eben in’s Gebiet des N. suralis 
magnus, der innere in das des N. saphenus maior, während 
der obere und mittlere Theil der Endausbreitung des N. pero- 
neus superficialis zufällt. Einmal fand ich hier einen Nervus 
vasorum der von der fascialen Seite an seine Vene ging, wäh- 
rend alle andern (allerdings habe ich wenige gefunden) von 
der Hautseite her in die Gefässe eindrangen. 

Gehen wir nun zu den Arterien und tiefliegenden Venen 
des Beines über, so umspinnt die iliaca ein dichtes Nerven- 
geflecht, das mit dem Plexus aorticus abdominalis in engstem 
Zusammenhang steht. Ebenso besitzt die Arteria hypogastrica 
einen besonderen plexus, der sich wahrscheinlich auch auf 
deren dem Bein angehörige Aeste erstrecken wird. An den 
Artt. und Venae gluteae habe ich nie Nervi vasorum finden 
können (auch Goering erwähnt nichts darüber). Fbenso er- 
ging es mir mit der Art. obturatoria, die wohl in das Gebiet 
des Nervus obturatorius gehören wird. 

Die Arteria und Vena cruralis wird im oberen Theil, wie 
auch Goering angiebt, mit kurzen Aesten von hinten her ver- 
sorgt, die aus dem unter dem Ligamentum Pouparti schnell 
auseinanderfahrenden Nervus cruralis stammen. Ein Ast kann 
beide Gefässe innerviren oder er beschränkt sich auf das eine. 
Der untere Theil der Femoralis wird von Aesten innervirt, die 
theils aus den länger mit den Gefässen gehenden, den -Muskeln 
bestimmten Nerven stammten, theils aus dem Nervus saphenus 
major (wie auch Goering angiebt). Am Adductorenschlitz 
hörte manchmal das Innervationsgebiet des Nervus cruralis auf, 
manchmal gingen noch Aeste weiter hinunter bis in die Mitte 
der Kniekehle. Einige Male fand ich besondere Nervenstämm- 
chen, die neben oder unter den Gefässen liegend, zwischen 


Anatomische Untersuchung u. s. w. 685 


Arterie und Vene gegen den Adductorenschlitz hinunterliefen, 
indem sie ihnen reichlich Nervi vasorum zuschickten, sich dann 
aber meist dem Stamm des N. saphenus maior anschlossen, 
Bei diesen Aesten fand sich dann oft eine Lageveränderung 
den Gefässen gegenüber, wie ich schon oben angeführt habe. 

Die Arterien für die Muskeln werden ebenfalls vom cru- 
ralis versorgt. Besonders bei der Art. profunda femoris fand 
sich oft ein längerer Stamm, der dann, wie auch Goering an- 
giebt weiter: mit ihr verlief und ihr bald von hinten bald von 
vorn her Nervi vasorum zuschickte. Vom Nervus ischiadicus 
sah ich nie solche an die Rami perforantes der profunda gehen. 

An den Artt. circumflexae femoris konnte ich ebensowenig 
wie Goering Gefässnerven entdecken. 


Fig. 7. a Lendenwirbelsäule, 5 Crista superior anterior ossis 
ilei, e Symphysengegend, d Stück der Bauchhaut, e Musculus iliacus, 
f Musculus psoas, g Musculus sartorius, h oberer, unterer Theil des 
reetus, & Musculus tensor fasciae latae, / Vastus medius, m Vastus 
externus, 2 Vastus internus, o Musculus pectineus, p Musculus adduc- 
tor longus, g Musculus adductor magnus, r Musculus graeilis, s Ar- 
teria u. vena femoralis, ? Arteria profunda femoris, Nervus cruralis, 
der bei v Aeste in die A. femoralis von unten her schickt, w längerer Ast, 
der bei y abgeschnitten wurde, z Ast in die Art. und Vena profunda 
von oben her, 


Fig. 8. Stück aus der Vena femoralis von hinten her gesehen. 
a Vene, 5b Gefässnerv, der sich, nur die Vene innervirend, bei cdu.e 
in’s Gefäss von hinten her einsenkt, mit dem Zweige f sich nach vorn 
wendet, und endet, indem er sich um die Vene g, die aus einem 
Muskel kommt, herumdreht. 

Fig. 9. Muskeläste der Art. und Vena femoralis in den Vastus 
externus und rectus. a Arterie, 5 Vene, c Nerv, der sich bei d mit ei- 
nem anderen Nerven verbindet, der auch vom N. cruralis gekommen 
ist, aber aus einem anderen Bündel als c, der sich dann in die Aeste 
e f g theilt, die mit den Gefässen in die Muskeln eindringen. Hier- 
bei sah ich gar keine Nervi vasorum entstehen. 

Die Arteria poplites wird vom tibialis versorgt und zwar 
mit sehr vielen Aesten, die bald von hinten, bald von vorn 


an sie herantreten. 


Fig. 10. Vena und Arteria poplitea von hinten. a Arterie, 
5 Vene, c Nerv, der einen Ast abschickt, der sich theils bei d in’s 
Gefäss einsenkt, theils mit e u. f, der Art. und Vena articularis genu 


ARTEN RESET BEE SR 


686 Hermann Frey: 


‚media in's Gelenk geht, theils bei g sich auf dem Gefäss verlor und 
dessen Fortsetzung nicht mehr zu finden war. 


An der hinteren Seite des Unterschenkels findet sich für 
die beiden Arterien nur ein Nerv, der tibialis; für die Arteria 
und Vena tibialis finden sich meist kurze Nerven, die aus dem 
Hauptstamm oder aus Muskelästen entspringen und sich meist 
von hinten her in die Gefässe einsenken, oder es findet sich, 
wie Fig. 1 zeigt, ein längerer Nervus vasi proprius. Die 
A. peronea versorgt im oberen Drittheil der Nervus tibialis mit 
kurzen Zweigen; im unteren Theil fand ich zweimal einen 
eigenen Gefässnerven. Einmal begab sich ein Ast in halber 
Höhe des Unterschenkels an die Gefässe von aussen her kom- 
mend, trat dann zwischen Arterie und Vene durch auf ihre 
innere hintere Seite, und lief in dieser Stellung bis gegen die 
Malleolengegend hinunter, wobei er den Muskelästen Zweige 
abgab und endlich im Bindegewebe um die Gefässe sich verlor, 
so dass es nicht festzustellen war, ob er sich in die Gefässe 
direct einsenkte. 

Am Fusse habe ich sehr wenige Nervi vasorum gefunden. 
Am Arcus plantaris superficialis fand ich nie einen Gefäss- 
nerven, da er gewöhnlich sehr wenig entwickelt ist und das 
viele Fett in der Fusssohle die Präparation unmöglich macht. 

Am Arcus plantaris profundus fand ich auch nur wenige 
Nerven, die von der Hautseite her eintrafen, so dass ich aus 
ihrer Anordnung nur mit Wahrscheinlichkeit entnehmen 
konnte, dass die Verhältnisse denen an der Hand analog sind, 
d. b. soweit das Gebiet eines Nerven reicht, versorgt er auch 
die Gefässe, und es findet sich also die Grenze zwischen dem 
Plantaris externus und internus in der Mitte der vierten Zehe, 
Ich bin auch nicht im Stande, eine genügende Figur über die 
Innervationsverhältnisse zu liefern und muss auch in dieser 
Beziehung auf deren Beschreibung und Zeichnung an der Hand 
verweisen. | 


Fig. 11. Hintere Seite des Unterschenkels. a Condylus internus 
ossis femoris, 5 Condylus enternus ossis femoris, c Calx, d Musculus 
semimembranosus, e Musculus biceps femoris, f Caput inter. musculi 
gastrocnemii, g Caput exter. musculi gastrocnemii, A musculus popli- 
teus, © Portio tibialis museuli solei, k Portio fibularis musculi solei, 


Anatomische Untersuchung u. s. w. 687 


2 Musculus digitalis communis longus, m Musculus flexor hallucis 
longus, n Musculus peroneus brevis, o Musculus peroneus longus, 
p Musculus tibialis posticus, y Arteria poplitea, die sich bei r in die 
Tibialis postica und s peronea spaltet, £ Nervus tibialis, der oben die 
kurzen Nervi vasorum n u. u abgiebt unten, v, einen langen Ast, der 
'auf der hintern Seite der Arterie hinunterlaufend auf ihr endigt; 
‘w kurzer Nervus vasi vom N. tibialis an die A. peronea, x längerer Ast, 
der nach aussen an die Arterie geht, dann hinter beiden durch an 
ihre innere Seite tritt, um unter ihnen hergehend, zwischen Arterie 
und Vene durch, an die äussere hintere Seite zu gelangen. Bei y ist 
er durchgeschnitten worden, und seine Fortsetzung war nicht mehr 
‚aufzufinden. Die Aeste 2, «, ß, y, senken sich in die Gefässe ein. 

Die Arteria tibialis antica wird von vielen kleinen Aesten 
versorgt, zweimal fand ich auch einen längeren Nervenstamm 
vide Fig. 12 und 13, und zwar senkten sich die Nervi vasorum 
meist von vorn her ein. An der Arteria metatarsea fand ich 
einmal vom Nervus peroneus herkommend ein kurzes Aestchen 
von der Seite her in das Gefäss eindringend. Sonst ist es mir 
nicht gelungen, Nervi vasorum auf dem Fussrücken darzu- 
stellen. 


Fig. 12. Vordere Seite des Unterschenkels. a Patella mit dem 
Ligamentum patellae, 5 Fibula, ce äusserer Knöchel, d innerer Knöchel, 
e ein Schenkel des Ligamentum eruciatum, f Sehne des Musculus 
sartorius, g M. gemellus surae, A M. soleus, © M. peroneus longus, 
k M. peroneus brevis, Z M. extensor digitorum communis longus, m 
M. extensor hallueis longus, n M. tibialis anticus, o Arteria und 
Vena tibialis antica, 9 Nervus peroneus, der mit dem Zweige g theils 
in’s Gefäss, theils in den Musculus tibialis anticus geht, mit dem 
Zweig r in’s Gefäss und mit dem Zweig s aufihnen nach unten läuft, 
indem er theils den Muskel versorgt, theils bei ? auf der tibialis endet, 
d. h. in ihrer Wandung. 

Fig. 13. Unterer Theil der Arteria und Vena tibialis antica von 
vorn: @ Arterie, 5 Vene, c Gefässnerv, der mit dem Zweige d sich 
von oben in’s Gefäss einsenkt, dann unter die Gefässe tritt, diese von 
unten versorgt und endlich in ihren Wandungen endet. 


Nachdem ich die Bahnen und das Verhalten der Gefäss- 
nerven am Cadaver studirt hatte, versuchte ich auch ihre En- 
digung mit dem Mikroskop ausfindig zu machen, Zu diesem 
Behufe präparirte ich nun solche Gefässstücke auf dem Pech- 
teller, an denen ich schon makroskopisch Gefässnerven nach- 
gewiesen hatte. Um nun aber sicher zu sein, nur solche Stücke 


er ENT aan Aal NP 


688 Hermann Frey: 


aus der Arterienwand herauszuschneiden, in die sich makros- 
kopisch erwiesene Nervi vasorum einsenkten, schnitt ich aus 
deren Continuität Stücke aus, die ich nach Färbung in am- 
moniakalischem Karmin und Aufhellung in Essigsäure (oder 
in salzsaurem Glycerin) unter dem Mikroskop untersuchte. 
Denn bei so feinen Nervenfädchen muss ich nach meinen Er- 
fahrungen gestehen, ist die sichere Diagnose ohne das Mikros- 
kop unmöglich und ich muss zugeben, dass ich mich auch 
einige Male getäuscht habe. Gerade bei diesen feineren Nerven 
fand ich immer im Bindegewebe neben ihnen Gefässe ver- 
laufen, was die sichere Diagnose natürlich noch erschwerte. 

Bei diesen Untersuchungen nun wäre es zu erwarten ge- 
wesen, dass ich einen Plexus um die Gefässe finden würde, 
will es aber dem Leser überlassen, die Fig. 14—16 zu deuten. 
Auch habe ich einige Messungen über die Dicke der Nervi 
vasorum angestellt, wie aus dem Text zu obigen Figuren zu 
ersehen ist. 

Es muss noch bemerkt werden, dass ich auch in den 
dünnsten Stämmchen nur markhaltige Fasern fand, die sich 
manchmal durch die Dicke ihrer Scheide auszeichneten. An 
einzelnen Stämmen habe ich auch die Zahl der Primitivfasern 
gezählt. (Siehe im Text zu den Figuren.) Bei den Figuren 
wird man Stellen angegeben finden mit der Bemerkung „siche- 
rer Nerv“. 

Diese Stellen sind unter dem Mikroskop untersucht worden 
und mikroskopisch sicher als Nerven erkannt worden. Wo 
angegeben ist, dass sich die Nerven in’s Gefäss einsenken, ist 
das Stück aus der Wandung herausgeschnitten worden, um 
nach später auzugebenden Methoden auf die Endigung der 
Nervi vasorum untersucht zu werden. 

Fig. 14. Stück aus der Arteria und Vena tibialis postica, « Ar- 
terie, 5 Vene, c Nerv, der nach unten über das Gefäss hinläuft und 
einen Nervus vasorum abgiebt. Stück a—Ö sicherer Nerv, Stück c—d 
sicherer Nerv, Stück e—f zweifelhaftes Bündel, das sich bei e in’s 
Gefäss einsenkt, Stück g—h sicherer Nerv, der sich bei n in’s Gefäss 


einsenkte, Stück «—%k sicherer Nerv, der abgeschnitten wurde als ich 
das Gefässbündel aus dem Cadaver entfernte. 


Fig. 15. Stück aus den gleichen Gefässen; a—b sicherer Nerv, 
der sich weiter unten spaltet, ein recurrirendes Aestchen abgiebt und 


Anatomische Untersuchung u. s. w. 689 


mit seinem Ende unter das kleinere Gefäss (Muskelast) geht, um sich 
auf ihm zu verlieren. Stück a—b sicherer Nerv, Stück e—f sicherer 
Nerv, 16 markhaltige Primitivfasern enthaltend, Dicke = 0:03 Mm. Stück 
c—-d sicherer Nerv, der sich in die Gefässwand einsenkt, 6 markhaltige 
Primitivfasern enthaltend, Dicke=0'012 Mm. Stück g-h sicherer 
Nerv, der sich im Gefäss verliert. 


Fig. 16. Arteria und Vena femoralis. Die Vene lag auf der 
Arterie und ist so herumgeklappt worden, dass man ihre hintere Seite 
sieht, und so weit von der Arterie entfernt festgesteckt worden, dass 
das zwischen beiden Gefässen sich findende Bindegewebe stark ge- 
spannt ist. Stück a—-5 sicherer Nerv, dreizehn Primitivfasern ent- 
haltend, Stück c-d sicherer Nerv mit sieben Primitivfasern (Dicke 
0:012 Mm.), der sich mehrfach tkeilt, bei e im Bindegewebe abge- 
schnitten wurde. Stück e—f sicherer Nerv, Stück g—h ebenso bei m 
sich in’s Gefäss einsenkend, Stück @-% nicht sicher ob Nerv oder 
nicht, beı n sich in’s Gefäss einsenkend, Stück o—p sicherer Nerv, 
der bei g im Bindegewebe endet (abgeschnitten). 

Fig. 17. a Arteria femoralis, 5 Vena femoralis, e Nervus saphe- 
nus maior, neben den Gefässen laufend. Beide Enden sind mit Haken 
stark abgezogen. Ein Gefässnerv theilt sich in zwei Partien, wovon 
die obere von d—e und f—g als sicherer Nerv erkannt sich bei h 
in's Gefäss einsenkt; das untere Aestchen verlor sich im Adventitial- 
gewebe, Stück ©—% sicherer Nerv, Stück n—o ebenso. Aus der plexus- 
artigen Anordnung ergiebt sich ein Nerv, der bei g mit dem Gefäss 
abgeschnitten worden war, Z-m sicherer Nerv, n—o ebenso, Bei p 
und s senken sich zwei Stämme in’s Gefäss ein, r verliert sich im 
Adventitialgewebe. 


Wenn ich nun in Kürze auch noch auf die histologischen 
Verhältnisse der Gefässnerven eingehe, so geschieht das nur, 
um einmal alles über dieselben’ in anatomischer Hinsicht Be- 
kannte zusammenzufassen. 

Während Kölliker in seiner Gewebelehre S. 584 nur 
berichtet, dass beim Frosche die Gefässnerven, marklose, blasse 
Fasern, an gewissen Stellen in der Gefässwand Netze bilden, 
führt Arnold in Stricker’s Gewebelehre (Bd. I S. 142) 
drei Netze von Gefässnerven an, In der Adventitia findet sich 
der Grundplexus, der stellenweise Ganglienzellen führt; das 
intermediäre Netz liegt den Muskelschichten direct auf oder 
zwischen solchen, und zwischen den contractilen Faserzellen 
findet sich der feinste Plexus, der intramusculäre, aus dem dann 


feine Fädchen in die Kerne der Zellenkörper treten sollen. 
Reichert’s du Bois- u. Reymond’s Archiv 1376. 44 


690 Hermann Frey: 


Dieser Auffassung tritt Frey in seiner Histologie S. 335 ent- 
gegen, der nur ein feines Nervennetz in der Gefässwan- 
dung sah. 

Zu gleichen Resultaten gelangte Klein. (Quart. Journ. 
of mikrosc. science 1872 pag. 123. Auch His (Virchow’s 
Archiv Band XXVII S. 427) sah nur ein Netzwerk von Nerven 
an den Mesenterialgefässen in den tiefsten Schichten der Ad- 
ventitia und der Muscularis. 

Vergleiche noch Beale: the nerves of capillary vessels 
and their probable action in health and disease. Monthly 
microscop. journal VII pag. 4=-9 und Part II Volum VIII 
pag. 95—66. 

Beale: Philosophical Transactions for the year 1363 Part II 
pag. 562. 

Lavdowski: Medicinisches Centralblatt Nr. 17 S. 259. 

W. Tomsa: Centralblatt 69 S. 562, sowie dessen Beiträge 
zur Anatomie und Physiologie der menschlichen Haut. Prag 
1873. S. 55. 

J. Kessel: Stricker’s Histologie S. 853. 

Gimbert: Memoire sur la structure et la texture des 
arteres im: Journal de l’anatomie et de la physiologie normales 
et pathologiques de Charles Robin 1865, November- und 
Decembernummern; — der Nerven an menschlichen Gefässen 
beobachtete. | 

Wenn ich nun auch noch einzelne mikroskopischen Schnitte 


habe abzeichnen lassen, obgleich sie keine neuen Thatsachen 
liefern, so war der wesentliche Zweck der Mittheilung, zu be-. 


weisen, dass die makroskopisch verfolgten Nerven auch mikros- 
kopisch als solche nachzuweisen waren. Die angewendeten 
Methoden waren folgende: Ich legte die herausgeschnittenen 
Stücke der Gefässwandung in Goldchloridlösung [1 : 1000] und 
stellte sie, bis sie strohgelb geworden waren, in’s Dunkle 3 — 
24 Stunden]. Dann brachte ich sie in destillirtes Wasser, dem 
ein Tropfen Essigsäure zugesetzt war, und setzte sie dem 
Lichte aus, bis sie sich violett gefärbt hatten, was ein bis 
mehrere Tage dauerte. 


Taf. VI, 


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Anatomische Untersuchung u. S. w. 691 


Fig. 18. Stück aus einer Vene. [Combinationspräparat. Je ein 
Dritttheil gehört einem anderen Präparate an.] Es fanden sich von 
der gleichen Vene noch mehrere Schnitte, die aber den Verlauf der 
Nerven nicht so gut zeigten. Die Adventitia geht von a—Öb, die 
Museularis geht von 5—c. Die Nerven d und e laufen nur in der 
Adventitia, ohne sich in die Muscularis einzusenken. d verzweigt sich 
in der Adventitia noch. Die Nerven //f gehen von der Grenze zwischen 
Adventitia und Museularis in schräger Richtung in der letzteren gegen 
die Intima hin und endigen scheinbar ungefähr in der Mitte der Media, 
und zwar werden sie auf diesem Wege nicht etwa immer dünner, 
sondern zeigen in Mitte der Muscularis die gleiche Dicke wie an der 
Grenze dieser und der Adventitia. 

Fig. 19. Stück aus einer Arterie. Auch bei diesem Präparate 
wurden noch mehrere ähnliche gefunden, die die gleichen Verhältnisse 
wie Fig. 19 zeigen. Die Adventitia geht von a—Ö, die Muscularis 
geht von &—c. Die Intima war in diesem Präparate nicht erhalten. 
In der Adventitia zeigen sich nun Nerven d und e, die untereinander 
Anastomosen eingehen. Während aber der Verbreitungsbezirk von 
d auf die Adventitia beschränkt ist, schickt e einen Nerv gegen die 
Muscularis hin, der bei / zwischen zwei Muskelbündel eindringt. Nerv 
g tritt in unveränderter Dicke durch die Adventitia hindurch und 
überschreitet ebenfalls die Grenze zwischen Adventitia und Media, 
während Ak an ihr endet und nicht mehr in die Muscularis zu ver- 
folgen ist. 

Fig. 20. Schnitt parallel der Oberfläche einer Arterie. a Ad- 
ventitia; 5 Grenze zwischen Adventitia und Media, zwischen .den 
Muskelbündeln der Media sieht man nur e und d Nerven in gestreck- 
tem Verlauf, die sich untereinander nicht verbinden. 


Ich kann also mit meinen Präparaten erweisen, dass Ner- 
ven in unveränderter Dicke in der Muscularis verlaufen, 
habe aber keine solchen Schnitte erhalten, die mir die Plexus- 
bildung und das Ende der Nerven gezeigt hätten. 

Endlich habe ich immer nur markhaltige Fasern, keine 
marklosen mikroskopisch in der Gefässwand verlaufen sehen, 
kann also anderen Angaben darüber nicht zustimmen. 

Zum Schluss bleibt mir noch übrig, meinen Dank Hrn. 
Prof. Dr. Waldeyer auszusprechen, für die vielfältige Unter- 
stützung, die er mir sowohl beim Durchsuchen der Literatur 
als auch bei meinen Arbeiten hat zu Theil werden lassen. 


44* 


ee 


Untersuchungen über das Gehirn. 
Neue Folge. 
Von 


Dr. EpuArD Hiırzıs, 
Professor in Zürich. 


IV: 


Ueber die Einwände des Hrn. Professor &oltz in Strassburg. 


Exstirpationsversuche am Grosshirn des Hundes liefer- 
ten das thatsächliche Material zu einer Arbeit '), mit der Goltz 
die von mir geäusserten Anschauungen über die Functionen 
dieses Organes widerlegt zu haben glaubt. Analoge Versuche, 
den von mir sogenannten Gyrus e betreffend, hatte ich selbst 
bereits im Verein mit Hrn. Fritsch?) in geringer Zahl ange- 
stellt, später aber in systematischer Weise auf die ganze Con- 
vexität des Grosshirns auszudehnen begonnen. Aus der letzteren 
Versuchsreihe sind Beobachtungen °), durch die ich „den letzten 
und nicht mehr anzufechtenden Beweis für die Localisation im 
Grosshirn gegeben“ zu haben glaubte, publieirt worden. Leider 
haben mir äussere Verhältnisse nicht gestattet, diese Versuche 
derart zu fördern, dass ich aus ihrer immerhin grossen Zahl 


1) Ueber die Verrichtungen des Grosshirns. Pflüger’s Archiv 
u.s. w. Bd. XII. 

2) Untersuchungen über das Gehirn. Berlin 1874. S. 28 fi. — 
Alle Citate, bei denen nicht ausdrücklich Anderes gesagt ist, sind 
nach diesem Buche. 

3) Untersuchungen u. s. w. S. 271. — Untersuchungen u. s. w. Neue 
Folge II. Dies Archiv 1874. 


Hitzig: Untersuchungen über das Gehirn. 693 


schon jetzt dem Leser ein weiterreichendes, abgeschlossenes 
und mit der erforderlichen Beweiskraft ausgerüstetes Ganze 
vorzulegen vermöchte. 

Aehnliche Versuche sind ferner von Nothnagel'), 
Carville und Duret’), Schiff’), L. Hermann‘) und 
endlich von Soltmann°) ausgeführt worden‘). 

Die Resultate meiner eigenen Untersuchungen haben durch 
die Arbeiten der genannten Forscher unter gelegentlicher Anwen- 
dung anderer Methoden manche Erweiterung erfahren. Ich 
muss mir nun vorbehalten, den mannichfachen hier ange- 
regten Fragen dann in extenso näher zu treten, wenn 
ich das erforderliche Material beisammen haben werde, 


1) Virchow’s Archiv Ba. 57. 

2) Archives de physiol. 1875. 

3) Archiv für exp. Path. Bd. 3. 

4) Pflügers Archiv Bd. X. 

5) Jahrb. für Kinderheilk. N. F. Bd. IX. 

6) Goltzeitirt ferner einen Aufsatz vonBouillaudinMagendie’s 
Journal T. X. sowie einige Beobachtungen von Vulpian in seinen 
Lecgons sur la physiol. etc. Paris 1866. Ich habe diese beiden Arbei- 
ten bei Abfassung meiner bezüglichen Abhandlungen nicht gekannt. 
Hätte ich sie jedoch gekannt, so weiss ich nicht, ob ich sie angeführt 
haben würde; denn sie stehen mit dem, was ich beweisen wollte, 
kaum in Connex. Bouillaud stiess ein Glüheisen von der Seite her 
durch Trepanlöcher in jede der beiden Hemisphären. Welche Zer- 
störungen es anrichtete, giebt er nicht an. Vulpian legte bei zwei 
Hunden Frontalschnitte durch die Hemisphäre und zwar möglichst 
vor dem Corp. striat., einem dritten Hunde nahm er ca. 1 Ce. Hirn- 
masse, und einem vierten durchwühlte er das Hirn mit einer Klinge. 
Beide Forscher sahen nachher die vielbesprochenen Motilitätsstörungen 
eintreten. 

Goltz hat von seinem Standpunkte des Nicht localisirens frei- 
lich ganz recht, wenn er sich auf diese Arbeiten bezieht. Da ich hin. 
gegen lediglich auf das Localisiren ausging, Lähmungserscheinungen 
nach Hirnverletzung sonst ja weder beim Menschen noch beim Thiere 
(vgl. z. B. Schiff) etwas Neues waren, und da von Localisation in den 
angeführten Arbeiten sogut wie gar nicht die Rede war, so sehe ich 
nicht recht, in welche Beziehung ich dieselben zu meinen Bestrebun- 
gen hätte bringen können. Das Auftreten mit dem Fussrücken 
an und für sich ist ja etwas ganz Nebensächliches. 


694 Eduard Hitzig: 


und insbesondere auch zu zeigen, in wie weit das rein That- 
sächliche meiner. eigenen Erfahrungen die Angaben anderer 
Autoren deckt. Für den Augenblick beschränke ich meine 
Aufgabe auf die Erörterung der Frage, ob Goltz durch 
die angeführte Arbeit wirklich den Nachweis ge- 
führt hat, dass die von mir ausgesprochenen An- 
sichten über die Functionen der Grosshirnrinde 
irrig sind, und bei dieser Erörterung werde ich 
vorzugsweise dieStörungen derBewegungberück- 
sichtigen. 

Meine Ansicht über das, was durch meine und andere 
Versuche am Grosshirn bewiesen ist, habe ich sehr oft in 
einer, wie ich glaube, ganz klaren und nicht misszuverstehenden 
Form ausgesprochen. Es soll mich aber nicht verdriessen, eine 
oft eitirte Stelle heut noch einmal anzuführen: 

„Wir hatten nicht ohne Absicht gerade an den Schluss 
unserer Arbeit folgenden Satz gestellt: 

„„Es geht ferner aus der Summe aller unserer Versuche 
hervor, dass keineswegs, wie Flourens und die Meisten nach 
ihm meinten, die Seele eine Art Gesammtfenction der Ge- 
sammtheit des Grosshirns ist, deren Ausdruck man wohl im 
Ganzen, aber nicht in seinen einzelnen Theilen durch mecha- 
nische Mittel aufzuheben vermag, sonderndass vielmehr 
sicher einzelneseelischeFunctionen,wahrschein- 
lichalle, zuihrem Eintritt in die Materie oder zur 
Entstehung aus derselben auf circumscripte 
Centra der Grosshirnrinde angewiesen sind.““ 

Denn in der That folgt die Wahrheit dieses Satzes mit 
aller wünschenswerthen logischen Schärfe aus unseren Ver- 
suchen, und wir betrachten diese Wahrheit als die werth- 
vollste Errungenschaft unserer Arbeit. 

Wenn Reizung bestimmter Stellen bestimmte Muskeln in 
Bewegung setzt, und Zerstörung dieser Stellen die Innervation 
derselben Muskeln alterirt, wenn Reizung und Zerstörung 
anderer Stellen ganz und gar keinen Einfluss auf die Muskel- 
innervation ausübt, so scheint mir das hinreichend beweisend 
zu sein für den Satz, dass die einzelnen Theile des Gross- 


Untersuchungen über das Gehirn. 695 


hirns nicht gleichwerthig sind; und diesen Satz wollten wir 
beweisen ')“. 

Goltz ist zunächst bei seinen Versuchen und sodann fol- 
gerecht bei seinen Schlüssen zu anderen Resultaten gelangt. 
Es liegt mir vor allem ob, die Ursachen der Meinungsver- 
schiedenheit, was die Thatsachen angeht, in unzweideutiger 
Weise aufzuklären. Vielleicht wäre es sogar richtiger gewesen, 
wenn schon Goltz selbst diese Aufklärung beizubringen ver- 
sucht hätte. 

Im Gegensatz zu dem Inhalte der soeben aus meinem 
Buche eitirten Stelle schreibt Goltz: „Wir werden sehen, dass 
der Grad der Störungen im Allgemeinen gleichen Schritt 
hält mit der Grösse des Substanzverlustes. Dagegen ist der 
Ort des Substanzverlustes, soweit bis jetzt meine Unter- 
suchungen gediehen sind, von keinem entschei- 
denden Einfluss, d. h. der Charakter der Störungen ist 
derselbe, ob nun das Trepanloch weiter nach vorn z. B. am 
vorderen Rande der sogenannten erregbaren Zone von Hitzig 
angebracht ist, oder ob dasseibe weit hinten im Bereich des 
Hinterlappens angelegt wird“ ?). 

Die Fassung dieses Satzes könnte zu Missverständnissen 
Veranlassung geben, denn während in seinem ersten Theile 
Grad und Ort verglichen werden, treten sich in seinem zweiten, 
den ersten erklärenden Theile Art (Charakter) und Ort gegen- 
über. Immerhin kann man den Inhalt auffassen wie man will, 
er ist höchstens in einer ganz bedingten Weise richtig, nämlich 
dann, wenn man wieGoltz„beijederÖperationeineerhebliche 
Ausrottung von Hirnmasse beabsichtigt und erreicht.“ Ich zweifle 
nicht an derRichtigkeitdervon Goltzpublieirten Resultate, aber 
er hat eben ganz andere Versuche angestellt als ich, und 
unterlassen hierauf die erforderliche Rücksicht zu nehmen; da- 
her stammt die Differenz in den thatsächlichen Angaben. 

Wenn man kleine, jaselbst minimale Theile Hirn 
ausschaltet, wie ich dies bei den beweisenden Versuchen that, 
so ist der Ort der Operation einzig und allein von ent- 


}) S. 56. 
DE Aa: 0.,.9231,,82,,38. 


696 Eduard Hitzig: 


scheidendem Einfluss dafür, ob Motilitätsstörungen ein- 
treten werden oder nicht. Öperirt man in dem von mir 
sogenannten Gyrus e, so sind die Beine afficirt, operirt man an 
einer anderen Stelle, insbesondere hinten, so sind die Beine 
nicht afficirt. Ja wenn man an anderen Stellen sogar sehr viel 
mehr Hirnmasse herausnimmt, alsim Gyruse zur Hervorbringung 
deutlicher Störungen genügen würde, so sieht man immer noch 
nichts. Das ist eine Thatsache, an der noch Niemand, auch 
Goltz nicht zu rütteln versucht hat, und an der auch nicht zu 
rütteln ist. Wenn dem aber so ist, so sehe ich auch nicht, wie 
man den Schluss angreifen will, „dass die einzelnen Theile. des 
Grosshirns nicht gleichwerthig sind.“ 

Sobald bewiesen sein wird, dass ein Stich in jeden belie- 
bigen Theil des Hirns, oder die Herausnahme eines linsen- 
grossen Stückchens grauer Substanz aus jeder beliebigen Stelle 
des Hirns dieselben Motilitätsstörungen hervorbringt wie das 
bei identischen Läsionen des Gyrus e der Fall ist, werde ich 
zugeben, dass ich mich geirrt habe, und dass die einzelnen 
Theile des Grosshirns gleichwerthig sind; vorher aber nicht. 
Goltz führt unter Anderem gegen meine Auffassung an, dass 
ich selbst den von mir anlässlich der Verletzungen des Gyrus d 
zuerst beschriebenen „Defect der Willensenergie* gleichzeitig 
auch als Folge grösserer Verletzungen des Hinterhirns con- 
statirt habe, und ist geneigt jenes Symptom als eine geringere 
Stufe dessen, was ich Störung des Muskelbewusstseins nenne, 
aufzufassen. Ich will jetzt von allen Deutungen absehen, 
hingegen noch einmal hervorheben, dass auch dieses Symptom 
eben nur bei grossen Ausschaltungen grauer Substanz des 
Hinterhirns zur Beobachtung kommt, bei kleinen aber nicht, 

Um nun dem Leser einen Begriff von der verschiedenen 
Wirkung verschieden localisirter Eingriffe zu geben, führe 
ich folgenden Doppelversuch an. 

In den ersten Tagen des Mai 1876 wurde einem kleinen 
Pinscher der Schädel links neben Gyrus sigmoides (d e) mit 
einer Trephine von 14 Mm Durchmesser eröffnet und eine an- 
nähernd der Oeffnung entsprechende Menge Hirnsubstanz auf 
ca. 4 Mm Tiefe entfernt. Demselben Hunde wurden sodann 


Untersuchungen über das Gehirn. 697 


am 19. September 1876 zwei Kronen von Il Mm mit einer 
stehenbleibenden intermediären Knochenbrücke über Hinter- 
und Schläfenlappen rechterseits aufgesetzt, und sowohl die frei- 
liegende Substanz, als die unter der Brücke liegenden Partien 
auf mindestens 4 Mm Tiefe gänzlich entfernt. Der lange Durch- 
messer der Hirnwunde betrug ca. 30 Mm also mehr als das 
Doppelte der linksseitigen. Beide Exstirpationen nahm ich mit 
dem Löffel vor. 

In Folge der linkseitigen Operation erschienen nun rechter- 
seits sehr erhebliche Störungen des Muskelbewustseins, die in 
der gewöhnlichen Weise verliefen, und noch heute spurweise 
aber deutlich in der Art nachweisbar sind, dass der Hund bei 
Beobachtung gewisser Cautelen die Vorderpfote mit dem Dor- 
sum oder in Fuss- und Zehengelenken eingeknickt aufsetzen 
lässt und diese Extremität sogar gelegentlich activ in charak- 
teristischer Weise nach innen und hinten oder nach innen und 
vorn setzt. 

Hebt man ihn mit zwei Händen an der Rückenhaut auf und 
lässt ihn dann herab, so stehen die Zehen der rechten Vorder- 
pfote eigenthümlich krallenartig und der Fuss gelangt mehr 
mit der Spitze der Zehen als mit der Planta auf den Tisch. 

In Folge der rechtsseitigen Operation wurde der Hund 
auf dem linken Auge blind, zeigte aber keinerlei Störungen 
des Muskelbewustseins, wenn man nicht den Umstand dafür 
gelten lassen will, dass er in den zwei ersten Tagen nach der 
Operation zitternd und heulend vor Furcht die Pfoten manch- 
mal, bei Weitem nicht immer, auf 2—3 Sec. mit dem Dorsum 
aufsetzen liess. Auch das war ungeachtet aller Vorsicht nach 
Ablaufdieser zwei Tage nicht mehr möglich, während alle anderen, 
bei analogen Läsionen des Gyrus e unausbleiblichen Störungen, 
das Ausrutschen, das active Aufsetzen mit dem Dorsum, das 
Einknicken, die Deviationen absolut und vom ersten Augen- 
blicke an fehlten. 

Recapituliren wir also diese Erfahrungen mit einem 
Worte, so ergiebt sich, dass eine kleine Verletzung im 
GyruseSymptome inden Bewegungsapparaten setzt, die noch 


EN RE ' 


698 Eduard Hitzig: 


nach ca. 5 Monaten ') wahrzunehmen und aller Wahrscheinlich- 
keit nach permanent sind, während eine grosse Zerstörung 
des Hinterhirns zu keinen oder höchstens sehr gering- 
fügigen und vorübergehenden Störungen analoger Verrich- 
tungen führt. 

Endlich besteht noch eine thatsächliche Differenz zwischen 
den Goltz’schen Beobachtungen und den meinigen, sie betriftt 
die Reitbahnbewegungen, welche Goltz anführt, während ich 
ihrer nicht erwähnte. Auch ich habe anlässlich einiger im 
Jahre 1874 ausgeführter Operationen Reitbahnbewegungen oder 
eorrecter ausgedrückt Voltelaufen beobachtet, indessen habe 
ich das Symptom bisher nicht angeführt,‘ einmal weil es nur 
ganz ausnahmsweise und dann auch bei ausnahmsweisen Be- 
dingungen auftrat, und zweitens weil es bei den bisher von mir 
in extenso publieirten Experimenten überhaupt nicht vorkam. 
Soviel steht fest, dass es keine regelmässige Begleiterschei- 
nung von Läsionen ist, die erhebliche Störungen des Muskel- 
bewusstseins auslösen. 

Alles in Allem liegt die Streitfrage mit Rücksicht auf 
das Thatsächliche jetzt so, dass Goltz nur grosse Aus- 
schaltungen vornahm und deshalb die gleichen Erscheinungen 
von allen Regionen des Grosshirns aus hervorbringen konnte, 
welche ich bei kleinen lediglich von bestimmten Bezirken 
aus zu erzeugen vermochte. Wir werden später sehen, dass ein 
derartiges Verhalten meinen Anschauungen nicht nur nicht 
widerspricht, sondern dass ich dessen Möglichkeit ausdrücklich 
zugelassen habe. 

Welchen Antheil nebenher etwa die von Goltz angewen- 
dete Methode des Ausspülens an den erzielten Resultaten ge- 
habt hat, das vermag ich vor der Hand nicht zu beurtheilen. 
Immerhin steht für mich soviel fest, dass der Hund recht grosse 
Abtragungen des Hinterlappens mit dem Löffel erträgt, ohne 
nachher Störungen des Muskelbewusstseins zu zeigen, und dass 
ich eine Methode, welche Symptome von Druck auf die Medulla 
oblongata (Stillstand der Respiration nnd Herzaction bei 


1) Jetzt über 7 Monaten. 


Uutersuchungen über das Esithn. 699 


Goltz’s Versuchsthieren) involvirt, nur mit einem gewissen 
Misstrauen anwenden würde. 

Wenden wir uns nunmehr zu den Deutungen. Auch 
hier wird mir wieder die Pflicht erwachsen, thatsächliche Irr- 
thümer richtig zu stellen. 

Goltz glaubt, dasses von höchster theoretischer Bedeutung 
sei, zwischen vorübergehenden und dauernden Störungen zu 
unterscheiden, indem er die ersteren als Hemmungs-Reizungs- 
erscheinungen gedeutet wissen will, und nur den letzteren den 
Werth von wirklichen Functionsschädigungen des Grosshirns 
zugesteht. Er meint, ich habe die hierher gehörigen Bemer- 
kungen von Lussana und Lemoigne nicht gekannt, ohne 
dass dies zuträfe. Das Werk dieser Autoren ist .mir sehr wohl 
bekannt gewesen, aber ich glaubte weder früher, noch glaube 
ich jetzt, dass ihre von G oltz angezogenen Ansichten irgend eine 
Bedeutung für die hier in Frage kommenden Versuche bean- 
spruchen dürfen. 

Wenn die Eintheilung in vorübergehende und dauernde 
Störungen einen Werth haben soll, so ist vor allen Dingen 
erforderlich, dass genau definirt wird, welche Störungen vor- 
übergekend und welche dauernd sind. Ich sehe nicht, dass 
Goltz diese Aufgabe gelöst hat. 

Er bezeichnet als dauernde Störungen die Neigung mit 
den Pfoten auszugleiten und zweitens die Vernachlässigung 
der affieirten Pfote, wenn es gilt, dieselbe als Hand zu benut- 
zen. Gleich darauf gesteht er aber zu, dass auch diese Stö- 
rungen möglicher Weise vergänglich sein könnten. Dann gäbe 
es also überhaupt keine merklichen Functionsschädigungen 
des Grosshirns nach Ausrottung von Hirnsubstanz. 

In der That sagt nun Goltz selbst, dass einige von seinen 
Hunden die Fähigkeit, die Pfote zu reichen, wiedergewannen, 
andere aber nicht. Man kann diese Störung also doch nicht 
wohl mit mehr Recht zu den dauernden zählen, als jene von 
mir in dem oben mitgetheilten Doppelversuch angeführten. Was 
aber das Ausgleiten mit den Pfoten angeht, so sehe ich nicht 
ein 


‚ in wiefern ıman dasselbe von den übrigen, von mir be- 


schriebenen Motilitätsstörungen trennen kann. Es zeigt eine 


700 Eduard Hitzig: 


Unsicherheit, eine Schwäche des Beines, vielleicht eine mangel- 
hafte Orientirung über dessen Zustände an. Dieselben be- 
dingenden Momente werden aber auch dann vorauszusetzen 
sein, wenn der Hund die Pfote mit dem Dorsum aufsetzen 
lässt, ohne sie zu reponiren, wenn er sie in falsche Stellungen 
bringt, wenn er in ihren Gelenken einknickt. Es kommt dazu, 
dass die zuletzt angeführten Symptome ebensowohl zu der 
gleichen Periode der theilweisen Restitution in den Vorder- 
grund treten können, als das Ausgleiten. Während wir dem- 
nach die von Goltz für so wichtig gehaltene Trennung in vor- 
übergehende und dauernde Störungen, was die Bewegung an- 
geht, als undurchführbar, jedenfalls aber als bisher noch nicht 
durchgeführt erachten, kann man allerdings die Frage auf- 
werfen, ob diese Störungen und die Alterationen der Bewegung 
überhaupt direete Motilitätsstörungen sind, oder ob 
sie einer Beeinflussung der Sensibilität ihren Ursprung ver- 
danken. 

Wenn man diese Frage erörtern will, so muss man in 
jedem Falle zwischen der Hautsensibilität und den sensibeln 
Eigenschaften des Bewegungsapparates unterscheiden. Goltz 
hat schon mit Recht darauf hingewiesen, dass man den Ver- 
lust der Fähigkeit, die Pfote zu geben, nicht wohl durch eine 
Sensibilitätsstörung erklären könne. Man kann aber noch auf 
andere Art nachweisen, dass der Bewegungsapparat direct von 
einer Störung getroffen ist, die ihre Wirkungen ohne Da- 
zwischenkunft der Hautsensibilität zur Geltung bringt. 

Ich habe darauf aufmerksam gemacht, dass operirte Hunde, 
welche an der Rückenhaut schwebend gehalten, oder unter 
dem Kinn gefasst, nur mit den Vorderfüssen vom Tisch ent- 
fernt werden, eine merkwürdige Deviation der Extremitäten 
und auch der Wirbelsäule (Goltz) zeigen. Diese Deviation 
kann mit der Hautsensibilität nichts zu thun haben. Ebenso- 
wenig kann das sonderbare Einknicken in den Gelenken auf 
einen Ausfall innerhalb dieses Gebietes von Wahrnehmungen 
bezogen werden. Ferner, wartet man bis der grössere Theil 
der initialen Störungen sich ausgeglichen hat, so lässt sich 
nachweisen, dass die Hautsensibilität zu einer Zeit intact ist, 


Untersuchungen über das Gehirn. 701 


zu der doch noch das oben beschriebene charakteristische Bild 
der Störung des Muskelbewusstseins von dem Kundigen und 
Geduldigen zur Anschauung gebracht werden kann. Setzt man 
nämlich dem Hunde die Spitze einer Nadel auf die Pfote, so 
sieht er hin, sticht man zu, so zieht er die Pfote fort. Hebt 
man ihn dann mit zwei Händen an der Rückenhaut auf, und 
berührt leise eine Pfote nach der andern mit der Hand, so 
entzieht er sie sämmtlich und gleichmässig der Berührung, eine 
Bewegung, die er nach entsprechenden Eingriffen in das Gross- 
hirn mit den kranken Pfoten unter Umständen anfänglich nicht 
ausführt. 

Wenn der Hund nun nicht nur die Fähigkeit Schmerz zu 
empfinden besitzt, sondern wenn er auch durch so überaus 
geringfügige Tastreize zu Aenderungen in der Stellung seiner 
Glieder veranlasst wird, warum sollten so viel gröbere Be- 
rührungen, wie das Aufsetzen des Dorsum der Zehen auf den 
Tisch nicht die gleichen Centralapparate zur Bethätigung 
bringen, vorausgesetzt dass wirklich die Hautsensibilität hier 
die entscheidende Rolle spielte. 

Giebt man zu, dass die von mir sogenannten Störungen 
des Muskelbewusstseins in einer späteren Periode nicht von 
Störungen der Hautsensibilität herrühren, so kann man un- 
möglich annehmen, dass sie während einer früheren Periode 
diesen Ursprung hatten, wenn sie auch zu der Zeit vielleicht 
mit solchen Symptomen vergesellschaftet waren. 

Bevor wir uns nun näher auf die Erörterung des wahr- 
scheinlichen Grundes aller der sonderbaren Bewegungs- 
störungen einlassen, wollen wir noch einige andere, nach 
Exstirpationen im Gyrus e beobachtete Erscheinungen zu- 
sammenstellen. 

Ich hatte bereits früher') angeführt, dass Hunde mit 
Störung des Muskelbewusstseins blindlings mit der kranken 
Pfote über den Tischrand in’s Leere treten, so dass sie vom 
Tische fallen, gerade als wenn sie blind wären, obwohl sie 
nachweislich auch auf dem Auge der affieirten Seite nicht 


1) Untersuchungen. Neue Folge. Dies Archiv 1874. S. 440. 


a en. ut) oe 


702 Eduard Hitzig: 


blind sind und sich selbstverständlich der vollen Integrität 
des andern Auges erfreuen. Diesen Zustand hatte ich dahin 
charakterisirt, „dass die Hunde sich mit der kranken Vorder- 
„pfote so benehmen, als ob für dieses Glied die Gesichtsein- 
„drücke nicht existiren, oder als ob die Gesichtseindrücke nicht 
„zur Bildung von Vorstellungen für dasselbe verwerthet wür- 
„den.* Andere Erklärungen und Hypothesen hatte ich meinem 
Principe der Zurückhaltung gemäss nicht hieran geknüpft, aber 
doch ist Goltz gar schnell bereit gewesen, meine „Erklärung“ 
ohne weitere Discussion als unrichtig zu bezeichnen. Seiner 
Meinung nach tritt der Hund wegen mangelnder Sensibilität 
in’s Leere. 

Etwas dem geschilderten Verhalten ganz Aehnliches kann 
man nun beobachten, wenn operirte Hunde sich an einem 
Tische bewegen, dessen Füsse nahe dem Boden mit einer hori- 
zontalen Leiste versehen sind, oder wenn man ihnen auch ein 
Seil dorthin spannt. Sie stossen sich dann mit dem kranken 
Vorderbeine an der Leiste oder dem Seile. Hat man aber beide 
Seiten operirt, so stossen sie sich mit beiden Vorderbeinen, 
wodurch übrigens die Beobachtung wesentlich erleichtert wird. 
Hingegen stossen sie niemals mit dem Kopfe oder gesun- 
den Extremitäten an, sondern bewegen sich in dieser Be- 
ziehung mit vollkommener Sicherheit zwischen einem Walde 
von Stuhlbeinen dahin. Sie sehen also und doch stossen sie 
mit den afficirten Beinen an. Hunde, die in Folge einer 
grossen Laesion des Hinterlappens blind geworden sind, ver- 
halten sich ganz anders. Sie stossen mit der Schnauze statt 
mit der Pfote an diejenigen Dinge an, welche sie nicht sehen, 
und treten nicht in’s Leere, sondern orientiren sich mit dem 
gesunden Auge. 

Auch jenes Anstossen mit den Pfoten würde Goltz wahr- 
scheinlich durch eine Sensibilitätsstörung erklärt wissen wollen, 
ohne dass ich ihm bei dieser, wie bei der schon früher er- 
wähnten Beobachtung über das in’s Leere Treten beipflichten 
könnte. Denn wenn der Mangel an Tastsinn Veranlassung 
zu den abnormen Bewegungen sein sollte, so müsste voraus- 
gesetzt werden, dass der unverstümmelte Hund jene Fehler in 


Untersuchungen über das Gehirn. 103 


der Norm mit Zuhülfenahme des Tastsinns vermiede, dass 
er dabei taste, was nachweislich nicht der Fall ist und auch 
gar nicht der Fall sein kann. 

Nehmen wir nämlich an, dass das gesunde Thier nicht 
durch die aus den Gesichtsbildern sich entwickelnden Vor- 
stellungen an dem unzweckmässigen Ueberschreiten des Tisch- 
randes gehindert würde, sondern dass es hierzu tasten müsse, 
so ist nicht ersichtlich, welches Tastobject bei dem Hinaus- 
treten in die Luft etwa zur Regulirung dienen könne, weil 
keines vorhanden ist. Niemand, der einen gesunden Hund auf 
einem Tische laufen sieht, dürfte wohl auch den Eindruck er- 
halten, dass derselbe an den Rändern taste, ob jenseits eine 
Stütze für den Fuss vorhanden sei, sondern er wird finden, 
dass sich das T'hier mit den Augen orientirt. Das von Goltz 
bei dem Gesunden vorausgesetzte Verhalten würde nicht dem- 
jenigen eines gesunden, sondern demjenigen eines seit längerer 
Zeit blinden Hundes entsprechen, welcher erst tasten muss, 
bevor er die intendirte Bewegung ausführt; der gesunde Hund 
intendirt die unzweckmässige Bewegung aber gar nicht, er 
tritt nicht über den Tischrand, um vielleicht dann erst die Pfote 
zurückzuziehen und er bringt sein Bein gar nicht in die Gefahr, 
an die Leiste zu stossen, um es vielleicht erst nach Beginn der 
Berührung zurückzuziehen. Der Verstümmelte hingegen stösst 
plump an die Leiste, als wenn sie nicht da wäre, und schreitet 
besinnungslos in’s Leere, als wenn die Tischplatte sich dort- 
hin fortsetzte. H 

Wir finden also, dass hier eine Anomalie scheinbar im 
Gebiete der Sehorgane vorhanden ist, welche mit dem was 
man Blindheit nennt, insofern nichts zu thun hat, als die auf 
die Ausbreitung des Sehnerven wirkenden Reize nach dem 
Gehirn fortgeleitet und für eine Anzahl von Körpertheilen 
in der normalen Weise, für andere aber gar nicht verwerthet 
werden. 

Ich bedauere, dass ich der mir auferlegten Beschränkung 
gemäss an dieser Stelle nicht auf gewisse überaus interessante 
Beobachtungen, welche Goltz über Störungen des Sehver- 
mögens und der Empfindung nach grossen Exstirpationen 


- { e 


704 Eduard Hitzig: 


machte, eingehen kann. Die Lücke, welche hierdurch in meiner 
Beweisführung und in dem Bilde, welches ich nun zu zeichnen 
gedenke, entsteht, entgeht mir nicht, aber ich hoffe doch, dass 
das für jetzt benutzbare Material dem Leser meine Ansicht 
hinreichend begründen wird. Die Zeit wird dann mehr bringen. 

Beginnen wir mit der schönen Beobachtung von Goltz, 
dass der verstümmelte Hund, welcher ziemlich ordentlich gehen 
kann, nicht im Stande ist, die Pfote zu geben, obwohl er gern 
möchte. Goltz sagt hierüber: „Zwischen dem Organ des 
„Willens und den Nerven, die den Willen ausführen, hat sich 
„irgendwo ein unbesiegbarer Widerstand aufgebaut. — — 
„Nur wenn der Willensimpuls zum Gehen und Laufen gegeben 
„wird, spielt die rechte Vorderpfote in dem regelmässigen 
„Maschinengetriebe mit.“ 

Ich stimme dieser Ausführung zu, aber ich gehe weiter, 
indem ich den fraglichen Widerstand seinem Wesen nach zu 
erklären suche. Meiner Ansicht nach reicht der Hund die 
Pfote darum nicht, weil er sich keine oder nur unvollkommene 
Vorstellungen von dem Zustande der Bewegungsorgane dieses 
Gliedes bilden kann. Denn wenn er die Zustände seiner 
Bewegungsorgane auf Grund eines Willensactes isolirt und 
in zweckmässiger Weise ändern soll, so ist erforderlich, dass 
sein Sensorium von diesen Zuständen, wenn auch nur in der 
hier die Regel bildenden unklaren Weise Kenntniss hat. Ein 
Organ, durch welches diese Kenntniss vermittelt wird, muss 
im Gehirn nothwendiger Weise existiren, und ich glaube, dass 
der Gyrus e, ich will nicht grade sagen, dieses Organ ist, 
aber doch etwas damit zu thun hat. 

Zur Auslösung von Bewegungen ganz allgemein ge- 
sprochen, also z. B. von Ortsbewegungen, ist die Gesammt- 
summe dieser Kenntniss, welche sich nämlich aus den einzel- 
nen Factoren der die einzelnen Glieder betreffenden Bewusst- 
seins-Vorgänge zusammensetzt, nicht erforderlich. Es genügt 
hier, dass der Bewegungsimpuls überhaupt von der Grosshirn- 
rinde zu den niederen Bewegungscentren gelange, um ihre 
Maschinerie in Thätigkeit zu setzen. Die kranken Glieder 
spielen dann so gut es ohne dasihnen zugehörende Theil 


Untersuchungen über das Gehirn. 705 


Grosshirn eben gehen will mitte Sofort macht sich 
aber der Defect im Grosshirn bei der Bewegung bemerklich 
dadurch, dass der Hund die Pfote in den einzelnen Ge- 
lenken ungeschickt bewegt, sie nach Innen oder Aussen 
setzt, sie mit dem Dorsum aufsetzt u. s. w. Nähme er 
wahr, dass die Pfote sich in diesen abnormen Stel- 
lungen befindet, so würde er dieselben aufgeben, oder 
vielmehr, hätte er vollkommene Kenntniss von dem Zustande 
seiner Bewegungsorgane, so würde er diese abnormen Stellungen 
überhaupt nicht einnehmen, denn die Beobachtung lehrt, dass 
eine absolute Unmöglichkeit normale Stellungen und Be- 
wegungen einzunehmen durchaus nicht vorliegt. Es ist aber 
nur ein Zufall, wenn die Pfote solche normale Bewegungen 
macht, in der Regel fällt die der Norm adaequate Begrenzung 
der einzelnen Bewegungsglieder, die nur aus der unaufhör- 
lichen Kenntnissnahme jeder einzelnen Bewegungsphase re- 
sultiren kann, dahin. 

Auf dieselbe Linie stelle ich endlich die Erscheinung, dass 
der Hund sich mit den affıcirten Pfoten stösst und sie in’s 
Leere setzt. Auch hier entstehen unzweckmässige Bewegungen, 
weil das Sensorium nicht über die Zustände des Gliedes orien- 
tirt ist. Die Bewegungsmaschinerie ist einmal in Thätigkeit 
gesetzt, ihre Verrichtungen spielen sich annähernd in der ge- 
wöhnlichen Weise ab, aber deren Einzelheiten werden nicht 
in der normalen Weise durch die vermöge des Gesichtssinnes 
im Sensorium hervorgebrachten Aenderungen regnlirt, mit 
anderen Worten: „die Gesichtseindrücke werden nicht zur 
Bildung von Vorstellungen für das fragliche Glied verwerthet.® 

Alle diese Phaenomene besitzen also das Gemeinschaft- 
liche, dass äusserliche Zustände — einmal die der 
Muskeln, das andere Mal die der Objecte des Raumes vom 
Sensorium für die Bewegungen des kranken 
Gliedes, aber nur für diese nichtin Rechnung ge- 
stellt werden. 

In dieser Weise erkläre ich mir die verschiedenen, nach 
Laesionen des Gyrus e auftretenden Functionsstörungen, ihre 

Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 45 


706 Eduard Hitzig: 


Verknüpfung mit einander und ihre Localisation auf eine 
kleine cerebrale Stelle. So weit ich die Sache übersehen 
kann, dürften auch die Sensibilitätsstörungen einer analogen 
Deutung unterliegen. Ich bin wenigstens nicht im Stande eine 
andere Auffassung ausfindig zu machen, welche die Summe 
dessen, was wir bis jetzt sicher wissen, in befriedigender Weise 
zu erklären vermöchte. — 

Goltz schreibt mir über die Thatsache der Restitution 
verloren gegangener cerebraler Functionen Ansichten zu, 
welche ich mit der von ihm vorausgesetzten Bestimmtheit 
nicht ausgesprochen, ja sogar solche, von denen ich das Ge- 
gentheil gesagt habe. Nach Goltz würde ich diese Restitution 
lediglich als Folge unvollkommener Zerstörung dieses oder 
jenes Centrums auffassen und anderen Deutungen, insbeson- 
dere derjenigen, dass die gesunde Hirnhälfte für die verletzte 
einträte, keinen Raum gelassen haben. Die von mir gebrauch- 
ten Worte lauten folgendermaassen: 

„Daraus (Restitution) lässt sich aber nicht das Geringste 
„schliessen, denn der sich eröffnenden Möglichkeiten sind zu viele. 
„Eine sehr einfache Annahme ist z. B. die, dass man nicht 


„das ganze Centrum zerstört hat u. s. w. ') — — — Dennoch 
„bin ich weit entfernt, ihn (diesen Gedanken) für den ein- 
„zig richtigen auszugeben, — — Wir haben nicht daran ge- 


„dacht in dieser Beziehung irgend welche Grenzen für irgend 
„ein Centrum anzugeben, noch die Möglichkeit zu behaupten 
„oder auszuschliessen, dass ein solches doppelt vorkäme, 
„sondern wir haben nur den Satz aufstellen wollen und wir 
„erhalten ihn aufrecht, dass die einzelnen in Frage stehenden 
„Hirnfunctionen sich bestimmter, irgendwo aber wohl begrenz- 
„ter Hirnorgane bedienen u, s. w.“?) 

Wenn ich also die unvollkommene Zerstörung eines Cen- 
trums nur als eine von vielen Möglichkeiten aufzählte, so- 
habe ich, weit entfernt davon, die Möglichkeit des Eintretens 


1) S. 57. 
2) S. 58. 


DREI A DIN w, RT A oc nie N 
;y ARRTAR NS } N s 


Untersuchungen über das Gehirn. 707 


der anderen Hemisphäre zu bestreiten, sogar Beweise dafür 
beigebracht, dass dieselbe schon in der Norm durch ihren 
Linsenkern zu den Bewegungen der ihr gleichnamigen Seite 
mitwirkt. !) 

Ich bin vielfach durch allerlei Angriffe und Deutungen 
Anderer gezwnngen worden, auf Möglichkeiten hinzuweisen, 
die von anderer Seite nicht berücksichtigt waren, mich in 
psychologische Erörterungen einzulassen, die mir unerwünscht 
kamen. Aber doch bin ich mir bewusst, überall mit der nöthi- 
gen Vorsicht verfahren zu sein, und namentlich wohl unter- 
schieden zn haben, was eine nothwendige Folgerung aus den 
vorhandenen Thatsachen und was eine subjective Meinung; des 
Autors war. Wir werden im Folgenden noch sehen, wem 
von Beiden, ob Goltz oder mir mitgrösserem Recht der Vor- 
wurf der Unvorsichtigkeit in den Schlüssen gemacht wer- 
den kann. 

Ich hatte oben den Nachweis versprochen, dass das 
Auftreten von Bewegungsstörungen nach Verletzungen anderer 
als der in der erregbaren Zone gelegenen Hirntheile meinen 
früher geäusserten Anschauungen keineswegs widerspräche. 
In der That fand ich mich anlässlich des von mir selbst bei- 
gebrachten Nachweises eines auf Zerstörungen anderer Hirn- 
partien folgenden „Defeetes der Willensenergie“* bereits be- 
wogen, an folgenden im Jahre 1870 geschriebenen Pässus zu 
erinnern: 

„Es ist nicht undenkbar, — dass der Hirntheil, wel- 
„cher die Geburtsstätte des Wollens der Bewegung 
„einschliesst, noch ein anderer oder vielleicht ein vielfacher 
„ist; dass die von uns ÜÖentra genannten Gebiete nur Ver- 
„mittler abgeben, Sammelplätze u. s. w.“ 

Es ist ja einerseits klar, dass die Zerstörung von „Sammel- 
plätzen“ bei Weitem stärkere und mehr Symptome zur Folge 
haben muss, als die Zerstörung eines Theiles der Plätze auf: 
deren Summe alles das entsteht, was nachher gesammelt wird.?) 


1) S. 48. 49. 
2) Vgl. hierzu auch Untersuchungen S. XII u. XII. 
45* 


708 Eduard Hitzig: 


Aber dass Eingriffe und noch dazu sehr grosse Eingriffe in 
die letzteren überhaupt nichts der Art nach Aehnliches her- 
vorbringen sollten, davon ist nicht nur nichts gesagt, sondern 
es ist das Gegentheil gesagt. 

Was hat nun Goltz an die Stelle der von mir mit aller 
Vorsicht und Zurückhaltung ausgesprochenen Anschauungen 
zu setzen versucht? Einen Satz, den er für ebenso sicherge- 
stellt hält, als ich ihn für unrichtig halte. Er erklärt die von 
mir und Anderen beschriebenen „groben Störungen der Be- 
wegung nach Verletzung des Grosshirns durch einen Hemmungs- 
vorgang, welcher sich von der Hirnwunde aus nach hinten 
fortpflanzt. Vermöge dieser Hemmung werden eine sehr grosse 
Zahl von Centren, die selbst durch die Operation nicht im 
Geringsten geschädigt werden, für kürzere oder längere Zeit 
gelähmt.* Diese Centren sollen ihren Sitz im Kleinhirn 
haben. 

Vergegenwärtigen wir uns die Thatsachen. Wenn ich 
im Gyruse eine kleine Verletzung anbringe, sehe ich, kurz 
gesagt, Lähmungserscheinungen, Wenn ich aber dieselbe Ver- 
letzung hinten oder ganz vorn anbringe, so sehe ich keine 
Lähmungserscheinungen. Setze ich nun mit G oltz voraus, dass 
die Lähmungserscheinungen, wenn sie entstehen, durch Fort- 
pflanzung eines Reizes nach dem Kleinhirn bedingt werden, 
so folgt, dass der Reiz an denjenigen Stellen, wo Lähmungs- 
erscheinungen zu erzeugen sind, zunächst einmal Bahnen findet, 
auf denen er sich nach dem Kleinhirn fortpflanzen kann, und 
dass er an den anderen Stellen keine solche Bahnen findet. Die 
in den Windungen des Grosshirns vorkommenden Nerven 
münden aber in graue Massen der Rinde, sind also nicht 
einfache Bahnen, sondern gehören zu Oentren. Beide wirken 
selbstverständlich zu derselben Function mit, also haben diese 
Centren jedenfalls wie die Bahnen etwas mit der Bewegung zu 
schaffen, magihr Weg nun durch das Kleinhirn gehen oder nicht. 

Wenn aber hier mit solchen specifischen Eigenschaften 
begabte Centren liegen, so bedarf man der Annahme einer- 
Passage durch das Kleinhirn gar nicht. Sie erscheint über- 


Untersuchungen über das Gehirn. 709 


flüssig, und darum künstlich. Das Wenige, was wir bis jetzt 
über die Restitution wissen, ist an und für sich nicht geeignet, 
eine derartige Annahme zu rechtfertigen, und was von der an- 
geblichen Vollständigkeit der Restitution zu halten ist, das 
lehrt der oben angeführte Doppelversuch, 

Etwas Anderes wäre es, wenn alle gleichartigen. also 
auch die kleinen Verletzungen an allen Stellen des Gehirns 
den gleichen Effect hätten. Dann wäre von Localisation keine 
Rede, dann könnte man auch die Hemmungstheorie verfechten 
Aberdassdem nicht so ist, das habe ich durch meine im Jahr- 
gang 1874 dieses Archivs mitgetheilten localisirten Exstirpations- 
versuche bewiesen, und ich kann mich durch Versuche, bei 
denen von Localisation gar keine Rede ist, von meinen 
Ueberzeugungen nicht abbringen lassen. 

Goltz befindet sich ferner im Irrthum, wenn er meint, es 
seien gerade die Organe der groben maschinenmässigen Be- 
wegungen, wie Gehen, Laufen u. s, w., welche geschädigt wer- 
den. Meine Hunde liefen und gingen vielmehr gleich nach 
der Operation gelegentlich ganz vortrefflich, zeigten aber Stö- 
rungen in den feineren Details der Anordnung und der Con- 
trolle ihrer Bewegungen, wie ich das eben geschildert habe. 
Mir wird es nun ganz unmöglich zu verstehen, wie diese Stö- 
rungen, wenn sie wirklich auf Hemmungsvorgängen beruhten, 
nach Massgabe der Grösse der Exstirpation an Umfang zu- 
nehmen, anhalten und verschwinden sollen. 

Kennt man irgend einen pathologischen Nervenreiz, der 
wie dieser Monate lang continuirlich anhaltende Wirkungen 
produeirt? Wie ist der Umstand zu erklären, dass der elek- 
trische Reiz Bewegungen und, nach seiner Unterbrechung, Nach- 
bewegungen, nicht aber Hemmungen setzt? Wie gedenkt 
Goltz mit den Erfahrungen am Menschen, mit den dauernden 
Hemiplegien nach Läsionen des vorwärts vom Kleinhirn ge- 
legenen Linsenkerns fertig zu werden, wie mit den anatomi- 
schen Daten? Alles das sind Fragen, die sich durch eine 
einfache Uebertragung von am Rückenmark und am Frosche 
gemachten Beobachtungen auf das Gehirn höherer Thiere 
keineswegs erledigen lassen. 


710 Eduard Hitzig: 


Endlich kommen neben den Bewegungsstörungen auch 
die Störungen der Empfindung und des Sehvermögens in Be- 
tracht. Ich kann ungeachtet der für weitergehende Schlüsse 
nicht zureichenden Zahl meiner Beobachtungen doch versichern, 
dass nach vielen Verletzungen des Gehirns nichts davon wahr- 
nehmbar ist, und dass nach anderen Verletzungen die Symptome 
gerade wie bei den Bewegungsorganen wieder verschwinden. 
In den von Goltz mitgetheilten Beobachtungen finden sich 
gleichfalls Beispiele von schneller Restitution dieser Functionen 
dort nämlich wo die vorgenommene Ausschaltung nicht allzu 
massenhaft war. Sollen nun auch die wesentlichen. Centra 
für die Sensibilität und das Sehvermögen ihren Sitz im Klein- 
hirn haben, und durch Hämmungsvorgänge temporär ausser 
Thätigkeit gesetzt werden können? Hypothesen, welche alle 
modernen Anschauungen so gründlich erschüttern, sollten, wie 
ich meine, nur mit grösster Vorsicht und nicht ohne eine 
sehr weitreichende Begründung ausgesprochen werden. 

Resumiren wir den Inhalt dieses Aufsatzes, so finden wir 

1) dass durch die Summe der vorhandenen Thatsachen 
die Annahme von Hemmungsvorgänge nicht erfordert wird, 
sondern dass man mit der einfacheren Annahme von Ausfalls- 
vorgängen auskommt. 

2) Dass, wenn dies nicht der Fall wäre, und man dem- 
nach einige Berechtigung zur Annahme von Hemmungsvor- 
gängen hätte, inzwischen noch jede klare Definition dessen 
fehlt, was man als Product der Reizung — Hemmung auffassen 
soll und was nicht. 

3) Dass Goltz zu ganz irrthümlichen Ansichten um des- 
willen gelangte, weil er den in der Localisirung liegenden 
Fortschritt verkennend, wieder zu den früher üblichen grossen 
Ausschaltungen zurückkehrte, ohne den neuen Methoden die 
ihnen gebührende Berücksichtigung zu schenken. 

Wenn ich also auch die zahlreichen neuen von Goltz bei- 
gebrachten Thatsachen und ihre anmuthige Darstellung wie 
wohl jeder Forscher mit wahrem Vergnügen begrüsst habe, 
so kann ich doch nicht umhin, den von Goltz eingeschlagenen 


en Ei ei 


Untersuchungen über das Gehirn. 11 


Weg als einen solchen zu bezeichnen, der nicht gerade zum 
Ziele führt, mit einem Worte als einen Umweg. — 

Möge mir endlich G oltz die Bitte verzeihen, dass er sich 
durch diese Vertheidigung meiner Arbeiten und meines Stand- 
punktes nicht zu noch grösserer Herbe fortreissen lasse, als 
ich schon einmal ganz ahnungslos bei ihm erregen musste, 


Zürich im October 1876. 


Versuche über dipolar-elektrische Ladung 
materieller in Wasser suspendirter Theilchen. 


Von 
Ta. Weyt, Cand. med. in Strassburg. 


(Aus dem physiologischen Laboratorium der Universität zu Berlin.) 


$1. Das Phaenomen. 


Wenn man grob zerkleinerte Parä-Nüsse, die Samen der 
Bertholletia excelsiorr Humb. et Bonpl., mit Aether einige 
Zeit schüttelt, so fällt aus denselben ein weisses Pulver heraus, 
welches sich leicht mit dem Aether abgiessen lässt, indem man 
es zu diesem Zwecke durch Schütteln des Gefässes im Aether 
suspendirt. Dasselbe setzt sich schnell am Boden ab und kann 
dann durch Abgiessen des Aethers isolirt werden. Es zeigt, 
nachdem es wiederholt mit destillirtem Wasser gewaschen ist, 
unter dem Mikroskop bei circa 250facher Vergrösserung eine 
deutlich krystallinische Structur. 

Bei einer chemischen Untersuchung dieser von Hartig!) 
entdeckten und seit Naegeli?) als Krystalloide bezeichneten 
Gebilde, über welche ich an einem anderen Orte zu berichten 
gedenke, unterwarf ich dieselben unter dem Mikroskope der 
Einwirkung des elektrischen Stroms. 

Zu diesem Zwecke diente mir ein einfacher Apparat, wel- 
chen ich im folgenden als Reizplatte bezeichne Er stimmt 


1) Hartig, Botanische Zeitung 1855, S. 881; — 1856 8. 257; — 
Entwickelungsgeschichte des Pflanzenkeims, 1858, S. 108 ff. 

2) Naegeli, Sitzungsberichte der Münchener Akademie. 1862. 
Bd. 1], S. 121. 


Versuche über dipolar-elektrische Ladung u. s. w. 7113 


im Wesentlichen mit einer von E. H. und Ed. Weber wohl 
zuerst ausdrücklich beschriebenen, seitdem von den Physiologen 
bei der elektrischen Reizung von Muskel und Nerv unter dem 
Mikroskope häufig benutzten Vorrichtung überein. 

Auf eine rechteckige Glasplatte von 145 Mm. Länge und 
40 Mm. Breite klebte ich mit alkoholischer Schellacklösung 
zwei gleichschenklige Dreiecke von Stanniol, so dass deren 
Basis der kürzeren Seite der Platte parallel stand. Die Ränder, 
welche den Schenkeln der Dreiecke entsprachen, übeızog ich 
mit Schellacklösung. Frei blieben nur die Spitzen der Drei- 
ecke, welche von einander 2 Mm. entfernt waren. Zwischen 
denselben befanden sich die in einem Tropfen Wasser suspen- 
dirten Krystalloide. Ein Deckgläschen, wie man es bei mikros- 
kopischen Untersuchungen anwendet, schützte das Präpa- 
rat vor Verdunstung. Die Reizplatte klemmte ich zwischen 
die Schlitze zweier Klemmschrauben, an welchen die stromzu- 
führenden Drähte befestigt waren. Um die Glasplatte beim 
Anziehen der Schrauben vor Zerbrechen zu schützen und um 
leitende Verbindung der Stanniolbelegungen mit dem Mikroskop 
zu vermeiden, schob ich zwischen Klemmschrauben und Glas- 
platte ein Guttapercha-Scheibchen. 

Diese Reizplatte befand sich im secundären Kreise eines 
du Bois’schen Schlitteninductoriums, dessen primäre Rolle 
eirca 136, dessen secundäre Rolle 5826 Wendungen hatte. Es 
wurde durch fünf kleine Grove in Bewegung gesetzt. Die 
Reizplatte war mittels des du Bois’schen Schlüssels als Neben- 
schliessung eingeschaltet, um die unipolaren Wirkungen auszu- 
schliessen, welche ich befürchten musste, da alle Versuche mit 
übereinandergeschobenen Rollen angestellt wurden. Die Feder 
des Apparates war so gestellt, dass die Anzahl der Unter- 
brechungen möglichst gross wurde. 

Sobald nun nach Hinwegräumung der Nebenschliessung 
dem Strome der Zutritt zur Reizplatte gestattet wird, ordnen 
sic“ die Krystalloide, welche bis dahin regellos zer- 
streut im Wassertropfen suspendirt waren, in voll- 
kommen regelmässigen Ourven an, welche guirlan- 
denartig nach oben und nach unten die beiden Stan- 


714 Th. Weyl: 


niol-Pole mit einander verbinden. Ist genügend Mate- 
rial vorhanden, so beobachtet man häufig 6—8 solcher Curven 
hinter einander fa“t concentrisch geschichtet. Diese Anordnung 
geht beinahe momentan vor sich, wenn der Wassertropfen nicht 
zu gross ist und die Krystalloide in demselben mit der Nadel 
möglichst fein vertheilt waren. 

Ist die Anordnung einmal hergestellt, so bleiben 
die Theichen in Ruhe auf dem eingenommenen Platze 
stehen, ohne dass sich irgend eine weitere Einwir- 
kung des Stromes auf die Stellung der Theilchen 
bemerkbar machte.') 

Wird der Strom durch Schluss des Schlüssels vom Präpa- 
rate abgeblendet, so bleibt die Anordnung erhalten, da keine 
Kraft vorhanden ist, welche sie zerstören könnte. 

Aber auch die Lage des einzelnen Krystalloides in der 
durch den Strom hervorgebrachten Anordnung ist beachtens- 
werth. 

Durch die Wechselströme des Schlitteninduc- 
toriums werden die Krystalloide so gerichtet, dass 
sich ihre Längsaxe in die Richtung der Curven stellt, 
in welchen die Theilchen sich anordnen. 

Leider gelingt es auch noch nach so häufigem Schlämmen 
mit destillirtem Wasser nur schwierig die Krystalloide der 
Parä-Nuss rein und isolirt von anderen Bestandtheilen darzu- 
stellen. Sie zeigen sich unter dem Mikroskop beinahe stets 
untermischt mit gewissen Gebilden, welche Hartig?) als 
Weisskerne, Pfeffer?) als Globoide bezeichnet. Es sind dies 
grau-weisse Körperchen von rundlicher, fast kugeliger Gestalt, 


1) Allmälig werden die in der Nähe der Pole befindlichen Kry- 
stalloide durch den Strom verflüssigt. Ob dies auf einem elektrolytischen 
Processe beruht, oder ob die Krystalloide von dem durch Elektrolyse 
aus dem suspendirenden Wasser entwickelten Sauerstoff oder Wasser- 
stoff gelöst werden, sollen weitere Versuche entscheiden. 

2) Bot. Zeitung 1856, S. 262. 

3) Untersuchungen über die Proteinkörner und die Bedeutung 
des Asparagins beim Keimen der Samen: Pringsheim's Jahrbücher 
für wissenschaftliche Botanik. Bd. VIII, S. 430 (1872). 


a u 


Versuche über dipolar-elektrische Ladung u. s. w. 715 


von denen häufig mehrere zusammentreten, um dann ein trauben- 
förmiges oder drusenförmiges Gebilde darzustellen. Sind sie 
in zu grosser Menge vorhanden, so können sie die oben be- 
schriebene Anordnung und Richtung der Krystalloide stören. 
Im Grossen und Ganzen aber kommt das Phänomen trotz ihrer 
Anwesenheit zu Stande. 

Bereits im April dieses Jahres durfte ich die geschilderten 
Erscheinungen meinem verehrten Lehrer Hrn. Prof. E. du Bois- 
Reymond demonstriren. Ich bin demselben für die Freund- 
lichkeit, mit welcher er mir die Räume und Hülfsmittel seines 
Laboratoriums auch während der Ferien zur Verfügung stellte, 
und für das Interesse, mit welchem derselbe diese Untersuchung 
begleitete, zu wärmstem Danke verpflichtet. Auch Hrn. Prof. 
H. Munk bin ich in gleicher Weise Dank schuldig. 

Es stellte sich bald genug heraus, dass das Zustande- 
kommen des Phänomens keineswegs an die Krystalloide der 
Parä-Nuss gebunden sei. 

Es gelang mir dasselbe mit folgenden Körpern, welche 
fein zerrieben in Wasser vertheilt wurden, hervorzurufen. 

Kupferoxyd. 

Chromoxyd. 

Schwefeleisen. 

Zinnober. 

Smalte. 

Glaspulver. 

Fluorcaleium. 

schwarze Tusche. 

Carmin. 

Kohle (Herkunft?). 

Sauerstoff. : 

Wasserstoff } Siehe S. 720 Anmerkung 2. 

Lykopodium. Streupulver, wie man es in jeder 
Apotheke erhält, wurde nach der Angabe von G. Quincke!) 


1)G.Quincke, Ueber die Fortführung materieller Theilchen durch 
strömende Elektricität. Poggendorff’s Annalen. Bd. CXIII, S. 579. 
(1861.) 


716 Th. Weyl: 


längere Zeit mit destillirtem Wasser gekocht, um die an den 
Sporen haftende Luft zu entfernen. Ohne diese Procedur 
bildet das Streupulver bei Berührung mit Wasser Klumpen, 
durch welche sich der elektrische Strom nur mit Mühe einen 
Weg bahnt. Das Material ist zur Darstellung des Phaenomens 
selbst bei Anwendung dieser Vorsichtsmassregel sehr wenig 
geeignet, weil die Grösse und Schwere, welche allmählich noch 
durch Wasser-Imbibition zunimmt, sehr starke Ströme verlangt, 
deren Anwendung, wie unten gezeigt werden wird, andere: 
Nachtheile mit sich bringt. 

Kupfer (elektrolytisch abgeschieden aus CuSO,). 

Platin. 

Zink. 

Messing. 

Alle Metalle wurden auf einem Schleifsteine oder auf einer 
rauh geschliffenen Glasplatte fein zerrieben. 

Nächst den Krystallen der Para-Nuss, deren Reindarstel- 
lung leider etwas zeitraubend ist, eignet sich das zu einem 
feinen Mehle zerriebene Glas ganz besonders für diese Versuche. 
Wenn man ein paar Stäubchen davon mit einer durch Wasser: 
benetzten Nadel im Wassertropfen zwischen den Polen der 
Reizplatte durch schnelles Rühren vertheilt, findet man immer: 
Theilchen genug, welche nach der Längsrichtung besonders 
ausgebildet sind und daher die Richtung durch den Strom sehr 
gut zeigen. 

Das Verhalten der Leiter (Platin, Kupfer, Zink, 
Messing) unter dem Einflusse der Wechselströme des Schlitten- 
inductoriums muss genauer besprochen werden. Ein scheinbar 
viel verwickelteres Phaenomen als das, welches wir bisher be- 
obachteten, bietet sich uns dar. 

Die Metalltheilchen wechseln unter rotirenden und wir- 
belnden Bewegungen äusserst schnell ihren Ort. Dabei schie- 
nen sich bisweilen zwei Theilchen wie durch Anziehung ein- 
ander zu nähern um sich mit grosser Intensität von einander 
zu entfernen, sobald sie sich bis auf eine gewisse Strecke 
nahe gekommen waren. 


Versuche über dipolar-elektrische Ladung u. s. w. 117 


Zugleich kommt aber noch eine andere auffallende 
Erscheinung zur Beobachtung. Es schiessen nämlich von den 
sehr zahlreichen, spitzen Vorsprüngen des Theilchens, dessen 
Peripherie unter dem Mikroskope wie angefressen erscheint, 
zahlreiche kleine Gasbläschen in die Flüssigkeit hinein, in 
welcher sich die Theilchen befinden. Mit dem Aufhören des 
Stromes verschwindet diese Gasentwicklung, welche nichts 
zu thun hat mit einem ähnlichen Vorgange an den Stanniol- 
Polen. Von letzterem wird unten die Rede sein. 

G. Quincke!) scheint bereits Aehnliches beobachtet zu 
haben, als er auf Blattgoldstückchen, welche durch Schütteln 
mit Wasser in demselben fein vertheilt worden waren, in sei- 
nem Ueberführungsapparate den Entladungsstrom einer Leydener 
Batterie wirken liess. Quincke meint, dass es sich hierbei 
um Luftbläschen gehandelt habe, welche an der Oberfläche der 
Metallstückchen hingen und durch den elektrischen Strom von 
derselben losgelöst worden wären. 

Auch in meinen Versuchen ist die der Oberfläche des 
Metalltheilchens adhaerirende Luft vielleicht eine Quelle der 
Gasentwicklung gewesen. Dass sie aber die einzige Quelle 
des beschriebenen Phaenomens gewesen sei, ist mir zweifelhaft. 

Ich nehme vielmehr an, dass die Metalltheilchen 
durch die kurz dauernden Ströme dielektrisch po- 
larisirt worden sind, dass sie folglich bei genügen- 
der Stärke dieser Polarisation das Wasser, in welchem 
sie sich befanden, zersetzten. 

Für diese Annahme scheint mir zu sprechen, dass ich eine 
derartige Gasentwicklung auschliesslich bei den Metallen 
(Platin, Kupfer, Zink, Messing), niemals bei Nichtleitern (Glas 
u. Ss. w.) beobachtete, obgleich sich beide unter denselben 
Bedingungen befanden. Meine Annahme von der dipolar-elek- 
trischen Ladung der Metalltheilchen würde hinfällig, wenn be- 
wiesen wäre, dass die Luft an Glas schlechter adhaerirt als 
an Metall. Doch dies ist bisher meines Wissens nicht ge- 
schehen. 


1) A. a. 0. 8. 574. 


718 Th. Weyl: 


Diese Gasentwicklung durch die Metalltheilchen macht 
nun die rotirenden Bewegungen der Theilchen verständlich. 

Das Theilchen gleicht einem elektrischen Rade, welches 
die Lufttheilchen nach einer gewissen Richtung hin abstösst, 
um dann selbst in entgegengesetzter Richtung zu rotiren. 

Aber alle diese soeben beschriebenen Erscheinungen an 
Leitern (Metallen) zeigen sich nur, wenn die Wechselströme 
eine gewisse Zeit lang auf das Präparat wirken. 

Gestattet man dem Strome nur so lange Zeit Zutritt 
zur Reizplatte, als zwischen einer » möglichst schnellen 
Schliessung und Oeffnung des Schlüssels durch die Hand ver- 
geht, so überzeugt man sich ganz deutlich, dass diese Rotations- 
und Wirbel-Bewegungen nur secundäre, durch die Gasent- 
wicklung an den Spitzen der Metalltheilchen hervorgebrachte 
Phaenomene sind. | 

In diesem Falle bilden die Metalltheilchen Curven von 
derselben Form wie die Nichtleiter; nur sind sie meistens 
weniger zahlreich, und ihre concentrische „Schichtung“* ist 
weniger regelmässig als bei Anwendung von Glas u. s. w. 

Die Richtung der Metalltheilchen in diesen Curven geht 
mit derselben Regelmässigkeit bei den Leitern und bei den 
Nichtleitern vor sich. Ein Stillstand des Systems, wie ich ihn 
oben bei Anwendung von Glaspulver u. s. w. beschrieb, tritt 
eben wegen dieser Gasentwicklung nicht ein. 

Die guten Leiter (Platin, Kupfer, Messing, Zink) 
unterscheiden sich also dadurch von den übrigen 
untersuchten Körpern (Glaspulver, Kupfer-Oxyd u. s. w.), 
dass sie die durch die Wechselströme erlangte Stel- 
lung wegen einer von den Metalltheilchen ausgehen- 
den Gasentwicklung, welche auf einer dielektrischen La- 
dung der Theilchen beruht, sehr schnell wechseln, und 
dass ein Stillstand des Systems wie bei den Nicht- 
leitern und Halbleitern aus demselben Grunde nicht 


zu Stande kommt. 


he ER NT ana EL EN! 


Versuche über dipolar-elektrische Ladung u. s. w. 719 


$2. Störungen durch fehlerhafte Beschaffenheit der 
Reizplatte. 


Häufig gerathen die in Wasser vertheilten Körperchen in 
wirbelnde Bewegung, ohne dass irgend welche Richtung oder 
Anordnung erreicht würde, während die Wechselströme das 
Präparat treffen, 

Dies findet statt bei fehlerhafter Beschaffenheit der Stan- 
niol-Pole. 

Man hat nämlich bei Anfertigung der Reizplatten mit 
peinlichster Sorgfalt darauf zu achten, dass von aer Schellack- 
lösung nichts über die Stanniolspitzen in den Raum gelangt, 
welcher den Wassertropfen mit den Theilchen aufnehmen soll. 

In diesem Falle löst der Strom allmählich die Schellack- 
Stückchen von der Glasplatte los und schleudert sie in das 
Gesichtsfeld. Man erhält dann ganz unregelmässige Erschei- 
nungen. 

Deutliche Flüssigkeitswirbel, in welche die Theilchen mit 
hineingerissen wurden, traten auf, wenn zufällig nur ein Pol 
wirksam, der andere mit Schellacklösung verunreinigt war. 
Ich kann vorläufig nicht mit Sicherheit angeben, ob es sich 
bei dieser Erscheinung um unipolare Wirkungen gehandelt 
habe. 

Aehnliche Störungen, wie diejenigen, welche wir soeben 
auf eine Verunreinigung der Pole mit Schellack bezogen, beob- 
achtet man auch, wenn ein oder beide Pole nicht vollkommen 
fest auf dem Glase haften. Hierdurch wird die metallische 
Oberfläche, welche mit der suspendirenden Flüssigkeit in Be- 
zührung kommt, vergrössert und Gelegenheit für eine reichlichere 
Gasentwicklung an den Polen gegeben. Eine zu grosse Menge 
von Gasblasen verhindert aber die Theilchen sich anzuordnen. 

In jedem Falle muss ich vor einer zu häufigen Benutzung 
derselben Reizplatte warnen. 

Bei Anwendung stärkerer Ströme wird man kaum mehr 
als 30 Versuche mit demselben Exemplare vornehmen können. 


720 Th. Weyl: 


83. Störungen durch die Gasentwicklung an den 
Polen. 


Aber selbst bei gutem Zustande der Reizplatte sieht man, 
wenn sehr starke Ströme benutzt werden, die in Wasser ver- 
theilten Körperchen wirbelnde Bewegungen ausführen. Ein 
Blick auf die Stanniol-Pole lehrt uns, dass die Bewegung der 
Theilchen von ihnen ausgeht und dass sie von einer mehr oder 
minder reichlichen Gasabscheidung durch die Elektrolyse des 
Wassers abhängt. 

Es soll hier zu zeigen versucht werden, dass die Gasent- 
wicklung an den Polen nur ein störender, nicht ein bestim- 
mender Factor des beschriebenen Phaenomens ist. 

Bei Anwendung der bisher!) benutzten Ströme tritt das 
Phaenomen ($ I) viel früher ein als die Gasentwicklung an 
den Polen. 

Die Theilchen sind längst gerichtet und angeordnet: dann 
erst sehen wir einzelne Gasbläschen an den Polen auftauchen.?) 

Aber selbst bei Anwendung bedeutend stärkerer Ströme 
(kleinen Ruhmkorff mit vier Deleuil)°) lässt sich das Phaenomen 
demonstriren, ohne dass eine irgendwie namhafte Gasentwick- 
lung zu Stande käme. Ich erreichte dies, indem ich die 
Körperchen in einer Mischung von 20 Vol. absoluten Alkohols 
mit 80 Vol. destillirten Wassers der Einwirkung des Stromes 
unterwarf. 

Wäre endlich das Phaenomen durch die Gasentwicklung 
bedingt, so müsste es bei stärkerer Gasentwicklung besonders 


1) S. oben S. 713. 

2) Um mir eine ungefähre Anschauung davon zu verschaffen, 
wie viel Gasblasen während einer bestimmten Zeit durch die Wechsel- 
ströme des Schlitteninductoriums bei bestimmter Stromstärke ent- 
wickelt würden, liess ich dieselben auf einen Wassertropfen wirken, 
in welchem keine Theilchen suspendirt waren. Ich beobachtete hier- 
bei, dass sich die Gasblasen in denselben regelmässigen Curven an- 
ordneten wie die in Wasser vertheilten Körperchen. — Hierauf bezieht 
sich die Angabe S. 715, dass es mir gelungen sei, das Phaenomen 
mit Sauerstoff und Wasserstoff hervorzurufen. 

3) Sie unterscheiden sich kaum von Bunsen’schen Elementen. 


Versuche über dipolar-elektrische Ladung u. s. w. 721 


deutlich hervortreten. Das gerade Gegentheil davon tritt ein. 
Je stärker die Gasentwicklung um so undeutlicher das Phae- 
nomen. 

Wir haben jetzt, wie ich meine, bewiesen, dass die be- 
schriebenen Erscheinungen durch die Gasentwicklung an den 
Polen nicht veranlasst werden, da sie um so deutlicher hervor- 
treten, je geringer die Gasentwicklung ist, 

Ich fasse die bisher geschilderten Erscheinungen noch ein- 
mal zusammen. 

Werden Nichtleiter oder Halbleiter in destillir- 
tem oderalkoholhaltigem Wasser vertheilt von kurz- 
dauernden (Inductions-) Wechselströmen getroffen, so 
ordnen sie sich zwischen den Polen der den Strom 
zuleitenden Vorrichtung in regelmässigen, von Pol 
zu Pol sich erstreckenden Ourven an. Dabei werden 
die Theilchen so gerichtet, dass sich ihre längste 
Axe in Richtuug der Curven stellte Für runde Kör- 
perchen fällt diese Richtung weg. Ist die Anord- 
nung der Theilchen einmal hergestellt, so bleibt das 
ganze Curvensystem in Ruhe, ohne dass der Strom 
eine weitere Veränderung in dessen Form hervor- 
ruft.!) 

Die Leiter geben ähnliche Phaenomene, Sie 
werden durch die Wechselströme elektrisch geladen 
und elektrolytisch wirksam. In Folge dessen wechseln 
sie die unter dem Einflusse des Stromes erlangte 
Stellug äusserst schnell. 


$4. Einfluss des Leitungswiderstandes der suspen- 
direnden Flüssigkeit. 


Es muss jetzt versucht werden, ob wir durch Modification 
der Bedingungen, unter welchen wir die beschriebenen Phae- 
nomene auftreten sahen, zu ihrem Verständnisse gelangen 
können. 


1) Ueber gewisse secundäre Wirkungen des Stromes auf die 
Krystalloide, s. S. 714 Anm. 1. 
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 46 


723 Th. Weyl: 


Zunächst soll vom Einflusse des Leitungswiderstandes der 
suspendirenden Flüssigkeit die Rede sein. 

Verringert man den Leitungswiderstand des 
destillirten Wassers, in welchem die Theilchen sus- 
pendirt sind, durch Hinzufügung von Kochsalz oder 
von ein paar Tropfen Schwefelsäure, so bleiben die 
Phaenomene der Richtung und der Anordnung aus.) 


$5. Wirkung constanter Kettenströme. 


Lässt man auf die in Wasser vertheilten Körperchen (Lei- 
ter, Halbleiter und Nichtleiter) den Strom einer Kette von 
siebzehn kleinen Grove, wie sie seit du Bois-Reymond in 
der Elektrophysiologie gebräuchlich sind, wirken, so beobachtet 
man die zuerst von Jürgensen?) beschriebenen, später von 
G. Quincke?) eingehend studirten anaphorischen Phaenomene. 
Die Theilchen wandern bei einer gewissen Stromstärke‘) dem 
positiven Pole zu. Häufig aber constatirte auch ich, ganz wie es _ 
Quincke?°) angiebt, bei geringerer Stromintensität unter dem 
Mikroskope gleichzeitig eine doppelte Bewegung der Theilchen 
„im Sinne und im entgegengesetzten Sinne der positiven Elek- 
trieitätsströmung“. ©) 

Bei Anwendung des alkoholhaltigen Wassers war eine 
Gasentwicklung an den Stanniolpolen kaum bemerkbar. Eine 
Gasentwicklung in der Nähe der metallischen Theilchen (s. oben 


1) Die Krystalloide der Parä-Nüsse eignen sich für diese Ver- 
suche nicht, da sie in verdünnter Salzlösung und in verdünnter 
Schwefelsäure löslich sind. 

2) Jürgensen in diesem Archiv, 1860. S. 673 fi. 

3) G. Quincke in Poggendorff’s Annalen u. s. w. 1861. 
Bd. CXIIL, S. 565 £. 

4) Dieselbe wurde durch ein als Nebenschliessung eingeschaltetes 
Rheochord nach du Bois’ Construction varlrt. 

Ha (0 a 

6) Leider habe ich zu notiren vergessen, ob sich die Theilchen- 
auch unter dem Einflusse des constanten Stromes mit ihrer Längsaxe 
in die Stromrichtung stellen — was nach später (S. 725) zu ee 
dernden Versuchen wahrscheinlich ist. 


Versuche über dipolar-elektrische Ladung u. s. w. 123 


S. 717) konnte ich selbst bei voller Stromstärke (siebzehn kl. 
Grove ohne Rheochord) nicht constatiren. 

Bei Hinzufügung geringer Mengen NaC] oder H,SO, zum 
"Wasser hörten die Fortführungserscheinungen auf. 

Die constanten Kettenströme haben also nur wenige Er- 
scheinungen geliefert, welche an das in $ 1 beschriebene Phae- 
-nomen erinnern. Uebereinstimmend mit demselben hörten bei 
gut leitender Flüssigkeit die Fortführungserscheinungen auf. 
Von einem Stillstande des Curvensystems dagegen wurde nichts 
‚beobachtet. 


$6. Wirkung intermittirender, gleichgerichteter 
Kettenströme. 


Intermittirende, gleichgerichtete Kettenströme rufen die 
bereits von Jürgensen!) geschilderten Erscheinungen hervor. 

Den Strom einer Kette von siebzehn kleinen Grove unter- 
brach ein Neef’sches Blitzrad, welches mit der Hand schnell 
gedreht wurde. 

In einer zweiten Versuchsreihe war am Hebel des Halske’- 
schen Unterbrechers ein Stück starken und dicken Kupfer- 
drahtes, durch Kautschuk gegen die Unterlage isolirt, befestigt. 
An denselben löthete ich einen Draht, der mit dem einen Pole 
der Grove’schen Kette in Verbindung stand. Den anderen 
Pol nahm ein Quecksilber-Näpfchen auf, das sich dicht unter 
dem Ende des am Hebel befestigten Kupferdrahtes befand. 
So oft nun der Anker des Hebels vom Elektromagnet ange- 
zogen wurde, tauchte der Kupferdraht in das Näpfchen und 
schloss den Kreis, in welchem sich die Reizplatte befand. 
 Verlor der Elektromagnet seinen Magnetismus, so liess er 
den Anker los. Hierdurch wurde der Kupferdraht aus dem 
Quecksilber-Näpfehen emporgehoben und der Kreis der Reiz- 
platte geöffnet. Der Kupferdraht war zugespitzt und amalgamirt. 
Den Halske’schen Unterbrecher setzten zwei Daniell in 
Bewegung. Die Unterbrechungsanzahl war eine möglichst 
grosse, 


DEAL ONTESE6S0- 
46* 


et 


I 


24-7 Th. Weyl: 


Dass durch den eben geschilderten einfachen !) Mechanismus 
der Kreis der Reizplatte wirklich häufig unterbrochen wurde, 
zeigte der Funke, welcher zwischen der Kuppe des Quecksilber- 
Näpfchens und der Spitze des Kupferdrahtes übersprang, so 
oft derselbe aus dem Näpfchen emporgehoben wurde. Dieser 
Funke konnte aber nicht durch den im Hammer kreisenden 
Strom hervorgerufen sein, weil ein zwischen Quecksilbernäpf- 
chen und Kupferdraht eingeschaltetes Galvanometer keinen 
Strom anzeigte, während der Hammer in Thätigkeit war. 

Nach beiden Methoden wurden identische Resultate erzielt. 

Die Theilchen (Leiter, Halbleiter, Nichtleiter), bewegten 
sich unbekümmert um die Anzahl der Unterbrechungen dem 
positiven Pole zu. Die Fortbewegung ist für das Auge eine 
stetige, keine sprungweise, wenn die Anzahl der Unterbrech- 
ungen nicht allzu gering ist. 

Wird die Leitungsfähigkeit des Wassers durch Zusatz von 
Kochsalz oder Schwefelsäure erhöht, so bleiben die beschrie- 
benen Erscheinungen aus. Die Intensität der benutzten Ströme 
— stärkere standen mir nicht zu Gebote — war nicht genügend, 
um grössere Glastheilchen fortzuführen. Aus diesem Grunde 
wurde wahrscheinlich auch die Richtung der Theilchen nicht 
beobachtet. 

So hätten denn also auch die Wirkungen der intermit- 
tirenden constanten. Kettenströme das Verständniss des Phae- 
nomens nicht wesentlich fördern können.?) 


1) Noch einfacher wäre es gewesen, den Kreis der Reizplatte 


‘durch den direct eingeschalteten Halske’schen Hammer unterbrechen 


zu lassen. Ich unterliess dies, weil ich fürchtete, durch die starken 
Ströme die Gontacte des Apparates zu zerstören. 

2) Dass Jürgensen (a. a. 0. S. 687) bei Anwendung gleich- 
gerichteter Inductionsströme keine Fortführung der Theilchen beob- 
achtete, kann ich mir nur so erklären, dass die Stärke der von ihm 
benutzten Ströme, über welche er keine Angaben macht, zu gering 
war. Mir fehlten die experimentellen Hülfsmittel, um dies zu ent- 
scheiden. 


Versuche über dipolar-elektrische Ladung u. s. w. 7125 


87. Wirkung von Oeffnungsinductionsschlägen, 


Quincke!) erzielte bereits eine Fortführung der Theilchen 
als er durch seinen Ueberführungsapparat die Oeffnungsschläge 
eines Inductionsapparates kindurchleitete. 

Meine Versuchsanordnung war die folgende. 

Im primären Kreise eines kleinen Ruhmkorff befanden sich 
vier Deleuil.) Der Hammer der Unterbrechungsvorrichtung 
war gegen den Eisenkern vermittels einer Schraube gepresst. 
Der Kreis konnte durch einen Pohl’schen Gyrotropen mit 
herausgenommenem Kreuz geöffnet und geschlossen werden. 
Im secundären Kreise war durch einen du Bois’schen 
Schlüssel die Reizplatte als Nebenschliessung eingeschaltet. 

Es wurden einzelne Oeffnungsinductionsschläge durch das 
Präparat geleitet, die Schliessungsschläge durch den im secun- 
dären Kreis befindlichen Schlüssel abgeblendet. 

Es befinde sich im Wassertropfen zwischen den Stanniol- 
elektroden fein zerriebenes Glaspulver. Wir benutzen eine 
250-fache Vergrösserung. 

Nehmen wir wiederum an, die Stromrichtung im Wasser- 
tropfen sei durch die kürzeste Verbindungslinie zwischen den 
Spitzen der Stanniolpole gegeben. Wir stellen das Mikro- 
skop auf ein Theilchen ein, welches mit der gedach- 
ten Linie ungefähr einen rechten Winkel bildet.°) 
Der erste Oeffnungs -Inductionsschlag verwandelt 
diese Richtung in eine parallele. 

Durchmustern wir jetzt das Präparat, so werden wir schon 
nach diesem einen Stromstosse,, jedenfalls aber nach mehreren 
die meisten Theilchen parallel der Stromrichtung gerichtet 
finden.) Einige Theilchen scheinen jedech den Oeffnungs- 


EA 2.0.88 369: 

2) S. oben S. 120. 

3) Indem man mit einer Nadel auf das Deckgläschen einen 
Druck ausübt, gelingt es bei einiger Uebung leicht ein oder mehrere 
Theilchen in diese Lage zu bringen. 

4) Diese Erscheinung gestattet den Schluss, dass auch bei An- 
wendung starker constanter Ströme erst eine Richtung der Theilchen, 


726 Th. Weyl: 


schlägen Trotz bieten zu wollen. Es sind die grössten Glas- 
theilchen, wie wir bald bemerken. Ein Druck mit einer Nadel 
auf das Deckglas überzeugt uns, dass die Reibung der Theil- 
chen gegen das Deckgläschen und den Objectträger eine Be- 
wegung überhaupt nur schwierig gestattet. Glas, Fluorcaleium, 
Smalte, Quarzstückchen, CuO, FeS, Cu, Pt, Zn, Messing ver- 
hielten sich vollkommen gleichmässig. Nur schien es mir — 
worüber messende Versuche allein Auskunft geben können —, 
dass die Einstellung der Metallstückchen schneller und lebhafter 
erfolgte als die der anderen Substanzen. 

Dies die erste Wirkung der Oeffnungsschläge auf das 
Präparat. 

Fassen wir jetzt ein durch den ersten Oeffnungsschlag 
gerichtetes Theilchen in’s Auge. 

Ein zweiter Oeffnungsschlag treibt es um ein bedeutendes 
Stück vorwärts dem positiven Pole zu. Jeder folgende Strom- 
stoss wirkt in gleicher Weise. Ich konnte häufig durch drei 
oder vier Schläge ein Theilchen durch die ganze Breite des 
Gesichtsfeldes treiben. 

Als ich einmal Kupferpulver, das durch Reiben an einem 
Schleifsteine gewonnen war und in Folge dessen nicht unbe- 
deutende Mengen von Quarzsplittern enthielt, in destillirtem 
Wasser vertheilt den Oeffnungsschlägen aussetzte, kam die 
Richtung der Theilchen ganz wie gewöhnlich zu Stande. Als 
nun ein weiterer Oeffnungsschlag die Theilchen dem positiven 
Pole zutreiben sollte, sah ich zu meinem Erstaunen das 
Kupfer dem positiven, die Quarztheilchen dem negativen Pole 
zu wandern. 

Eine Täuschung ist wegen der verschiedenen Farbe der 
Theilchen — das Kupfer erschien schwarz, die Quarztheilchen 
weiss — ausgeschlossen. Verständlich wird diese Erscheinung, 
wenn wir mit Quincke!) annehmen, dass die leichteren Quarz- 


dann deren Fortführung eintritt. Der Oefinungsschlag einer constan- 
ten Kette unterscheidet sich ja nur durch seinen Verlauf und durch 
seine Intensität von einem Inductions-Oefinungsschlage. 

1) A. a. 0. S. 582 ff. Quincke erklärt auf diese Weise die 
Fortführung von Stärkekörnchen in verschiedener Richtung. Die 


Versuche über dipolar-elektrische Ladung u. s. w. LIT 


theilchen durch das vom Strom zum negativen Pole fortgeführte 
Wasser mit fortgerissen wurden, während die Kupfertheilchen 
zum positiven Pole geführt wurden, da sie durch ihre Schwere 
der Wasserströmung widerstehen konnten. 

Aber noch eine dritte Erscheinung kommt zur Beobachtung, 
welche unsere Aufmerksamkeit in vielleicht noch höherem 
Grade verdient als die Richtung und Fortführung der Theilchen. 

Wir schicken 20—30 Oeffnungsschläge kurz hinter einander 
durch das Präparat, indem wir alle Schliessungsschläge durch 
den Schlüssel im secundären Kreise abblenden. Wir benutzen 
‚eine 60-fache Vergrösserung. Die Theilchen stehen mit ihrer 
Längsaxe in der Stromrichtung. Sie sind aber auch in 
denselben Curven angeordnet, welche wir in $ | be- 
schrieben haben. 

Jeder neue Oeffnungsschlag bringt eine Veränderung des 
Bildes in sofern hervor, als die Theilchen durch denselben 
dem positiven Pole genähert werden. Diese Bewegung ist 
natürlich bei 60-facher Vergrösserung betrachtet eine minimale. 
Sie wird erst bei 250-facher Vergrösserung deutlich wahr- 
nehmbar. 

Bei Zusatz von Kochsalz oder Schwefelsäure zum 
destillirten Wasser hören alle in diesem $ beschrie- 
benen Erscheinungen auf. 

Feste, in Wasser suspendirte Theilchen (Leiter, 
Halbleiter, Nichtleiter) werden also durch starke 
Inductions-Oeffnungsschläge so gerichtet, dass sich 
ihre Längsaxe in die Stromrichtung!) derselben 
stellt. Dabei werden sie dem negativen Pole zu- 
getrieben und zwar, wie wirschliessen, auf dem Wege, 
welchen uns die unter dem Einflusse mehrerer Oeff- 
nungsschläge auftretenden Ourven andeuten. 


Quincke’sche Erklärung gilt selbstverständlich ebenso für einzelne 
Inductionsschläge, wie für constante Ströme. 

1) Wir werden später erkennen, dass auch die Theilchen, deren 
Längsaxe nicht in der kürzesten Verbindungslinie zwischen den 
Spitzen der Stanniolpole liegt, in der Stromrichtung stehen. 


7128 Th. Weyl: 


Die eben geschilderten Wirkungen der Oeffnungsschläge 
geben uns wichtige Fingerzeige für das Verständniss unseres 
Grundphaenomens ($ 1) an die Hand. 

Wir sehen durch eine Reihe starker Inductions-Oeffnungs- 
schläge!) alle die Erscheinungen auftreten, welche wir bei An- 
wendung von Inductions-Wechselströmen beobachteten. Der 
„Stillstand des Curvensystems“ allein fehlte. Wir werden schon 
jetzt gewillt sein, diesen auf Rechnung der Wechselströme zu 
setzen. Für die Richtigkeit dieser Annahme wird der nächste 
$ die Beweise bringen. 


$8. Wirkung von Wechselströmen einer constanten. 


Kette. 


Ein Poggendorff’scher Inversor, welcher mit der Hand 
möglichst schnell gedreht wurde, unterbrach den Strom einer 
Kette von 17 kleinen Grove. 

Wirkte dieser auf Glaspulver, Kohle, Tusche und 
Carmin, welche in Wasser vertheilt waren, so be- 
hielt jedes Theilchen denselben Platz, welchen es 
vor der Einwirkung des Stromes inne gehabt hatte, 
auch während der Zeit, in welcher der Strom das 
Präparat durchfloss. 

Es zeigte sich ferner, dass die Theilchen zwischen 
den Stanniolpolen in den schon oft beschriebenen, 
regelmässigen Curven angeordnet waren, als ich 
durch Anwendung einer 60-fachen Vergrösserung einen grös- 
seren Theil des Präparates mit einem Male zu überblicken im 
Stande war. 

Dabei richteten sich die Theilchen so, dass ihre 
Längsaxe in der Richtung der gebildeten Curven lag. 

Durch die in diesem Paragraphen geschilderten Versuche 
hat sich also gezeigt, dass die Wirkung der Inductionswechsel- 
ströome ($ 1) und der Wechselströme einer constanten Kette 
die gleichen sind. Sie zeigen aber vor allem anderen, 


1) Inductions-Schliessungsschläge von genügender Stärke werden 
dieselben Erscheinungen hervorrufen. 


Versuche über dipolar-elektrische Ladung u. s. w. 129 


dass der Stillstand des Curvensystemsals eineFunc- 
tion der Wechselströme betrachtet werden darf. 


$9. Wirkung von Inductions-Wechselströmen mit 
Helmholtz’scher Anordnung. 


Bei Anwendung von Inductions-Wechselströmen, deren 
Schliessungs- und Oeffnungsstrom in Verlauf und Intensität 
nahezu gleich waren, ') erhielt ich weder Richtung noch An- 
ordnung noch Stillstand der Theilchen. 

Die grossen Theilchen blieben trotz der Einwirkung des 
Stromes unbeweglich auf ihrem Platze liegen.?) Die kleinen 
Theilchen pendelten mit sehr geringer Amplitude um eine 
Gleichgewichtslage hin und her. Sie hatten ihren Ort, der 
durch ein Hartnack’sches Ocularmikrometer markirt wurde, 
beim Aufhören des Stromes nicht merkbar gewechselt. Für 
diese Versuche benutzte ich dasselbe Schlitteninductorium, 
welches mir die in $ 1 beschriebenen Erscheinungen finden half. 

Die Phaenomene änderten sich nicht, als ich statt fünf klei- 
ner Grove deren zehn anwandte. Ohne die secundäre Spirale 
des Apparates zu gefährden konnte ich den Strom im primären 
Kreise nicht weiter verstärken. Ein grösseres ‚Inductorium 
stand mir nicht zur Verfügung. 

Die benutzten Ströme waren wahrscheinlich mich stark 
genug um die Phaenomene der Richtung u. s. w. hervorzurufen.?) 


$ 10. Erklärungsversuche. 


Die geschilderten Erscheinungen der Richtung und des 
Stillstandes des Theilchen*) werden verständlich, wenn wir mit 


1) Vergl. E. du Bois-Reymond, Monatsberichte der Berliner 
Akademie. 1862. S. 372 fi. 

2) Ein Druck mit einer Nadel auf das Deckgläschen überzeugte 
mich, dass sie leicht beweglich waren. 

3) Siehe E. du Bois-Reymond, a.a. 0. S. 402, letzter heat, 

4) Ich bemerke ausdrücklich, dass die durch constante und inter- 
mittirende Kettenströme, ferner durch die Oeffnungsschläge auftreten- 
den Fortführungserscheinungen (anaphorischen Wirkungen) durch die 
folgende Annahme nicht erklärt werden. Sie haben auch wahrscheinlich 
mit den Phaenomenen der Richtung u. s. w. wenig zu schaffen. 


730 Th. Weyl: 


Faraday annehmen, dass jedes vom Strome getroffene Theil- 
chen (Leiter, Halbleiter, Nichtleiter) durch denselben dipolar- 
elektrisch geladen wird. 

In dem Wassertropfen, welcher von einem Inductions- 
Oeffnungsschlage oder von den Wechselströmen einer con- 
stanten Kette oder von den Wechselströmen des Schlitten- 
induetoriums durchflossen wird, befinde sich ein einzelnes 
Theilchen. Dasselbe (Glassplitter, Metalltheilchen) sei in einer 
Richtung des Raumes (in der Längsrichtung) vorwiegend aus- 
gebildet. Die durch Vertheilung (Faraday) getrennten Elek- 
tricitäten häufen sich an seinen beiden Polen an. Bildet nun 
das Theilcben mit der Richtung des Stromes einen Winkel, 
welcher kleiner!) als 2 R ist, so muss es sich „richten“. Es 
muss sich so lange drehen, bis sein positiver Pol dem negativ 
geladenen Stanniolpole gegenüber steht, sein negativ geladener 
Pol dem positiv geladenen. Die Drehung wird aber veranlasst 
durch die Anziehung, welche die Pole ungleichen Vorzeichens 
auf einander ausüben. 

Diese Richtung fällt für Körper von ee) (Lyko- 
podium, Gasblasen) natürlich weg. 

Befinden sich nun mehrere Theilchen in dem vom Strom- 
stosse getroffenen Wassertropfen, so wird ein. Theilchen das 
andere anziehen müssen. Hierdurch wird eine Kette von 
Theilchen entstehen, deren entgegengesetzt geladene Pole ein- 
ander zugekehrt sind, welche selbst aber wiederum von den 
entgegengesetzt geladenen Stanniolpolen angezogen worden sind. 

Dies alles gilt für den Fall, dass ein einzelner kurzdau- 
ernder Stromstoss die in Wasser suspendirten Theilchen ge- 
troffen hat, auf dessen Richtung es selbstverständlich nicht 
ankommt. 

Wechselt nun die Richtung der auf das Präparat wirkenden 
kurzdauernden Ströme in jedem Augenblick, so wird die durch 
den ersten Stromstoss bewirkte Anziehung und Richtung der 
Theilchen durch den zweiten, dem ersten entgegengesetzt ge- 


1) Der Fall, dass der Winkel >2R ist, kommt für die mitge- 
theilten Versuche nicht in Betracht. Natürlich gelten dieselben Ge- 
setze auch für ihn. 


Versuche über dipolar-elektrische Ladung u. s. w. 731 


zichteten Stromstoss keine Aenderung erfahren können, da der 
zweite Stromstoss nur das Vorzeichen der Pole umdreht. Die 
Theilchen brauchen aber unter dem Einflusse des zweiten 
Stromstosses ihren Ort nicht mehr zu verändern, da sie sich 
durch den ersten Stromstoss bereits an dem Orte befinden, an 
welchen sie die anziehenden oder abstossenden Kräfte je zweier 
Nachbar-Pole von entgegengesetztem Vorzeichen geführt haben. 
Alle folgenden Stromstösse wirken in gleicher Weise.!) 

So wäre also mit Hülfe unserer Annahme die Richtung 
der Theilchen und ihr Stillstand erklärt. 

Was bedeuten ferner die Curven, in welchen sich die 
Theilchen anordnen? Sie sind, wie ich meine, die Stromcurven. 
Sie geben an, auf welchem Wege der Strom das Präparat dureh- 
fliesst, dessen in Wasser suspendirte Theilchen in unseren 
Versuchen die Stromvertheilung in gleicher Weise sichtbar 
machen wie die durch den Strom fortgeführten und glühend 
gemachten Partikelchen der Elektroden im elektrischen Ei.?) 

Dass endlich die beschriebenen Erscheinungen ausbleiben, 
sobald der Leitungswiderstand der Flüssigkeit durch Hinzufü- 
sung von NaCl oder H,SO, verringert wird, verträgt sich auf’s 
Beste mit unserer Annahme. In diesem Falle wird der Strom 
an den Theilchen vorbeigehen ohne sie zu laden, da er sich 
leichter (schneller?) in der Flüssigkeit ausbreiten kann als in 
den Theilchen, welche ihm einen grösseren Widerstand ent- 
gegensetzen als die Flüssigkeit. Diese‘ bildet gewissermaassen 
eine gut leitende Nebenschliessung zu den Theilchen. 


$& 11. Schluss. 


Die vorstehende Arbeit ergiebt die folgenden Resultate: 
1) Materielle, in Wasser oder alkoholhaltigem Wasser be- 


1) Die wirbelnden Bewegungen der Metalltheilchen unter dem 
Einflusse der Wechselströme habe ich schon oben durch die von 
ihnen ausgehende Gasentwickelung zu erklären versucht. 

2) Ob die von Holtz (Poggendorff’s Annalen u. s. w. Ergän- 
zungsband VII, S.492) beschriebenen Curven mit den meinigen iden- 
tisch sind, kann ich aus der kurzen Beschreibung nicht mit Sicherheit 
ersehen. 


132 Th. Weyl: Versuche u. s. w. 


findliche Theilchen, welche in Wasser unlöslich sind, werden: 


durch kurzdauernde, elektrische Ströme dipolar-elektrisch ge- 
laden. 

2) Es existirt eine dielektrische Polarisation (Faraday).!) 

3) Durch diese dipolar-elektrische Ladung, welche mit dem 
Verschwinden des vertheilenden Stromes aufhört, werden feine 
Metallsplitterchen befähigt, das Wasser in ihrer Umgebung zu 
zersetzen. 

4) Die dipolar-elektrische Ladung bewirkt, dass sich 
Theilchen von länglicher Gestalt mit ihrer längsten Axe in die 
Richtung des Stromes stellen. Runde Theilchen richten sich 
nicht. 

5) Die geladenen Theilchen ordnen sich bei Wirkung ein- 
zelner Inductions-Oeffnungsschläge erst allmählich, schneller 
bei Wirkung von Inductions-Wechselströmen und von Wechsel- 
strömen einer constanten Kette in den Stromcurven an. Hierbei 


stellt sich die längste Axe des Theilchens in die Richtung der 


Stromeurven. 

6) Kurzdauernde Wechselströme bewirken einen Stillstand 
des Curvensystems, in welchem sich die gerichteten Nichtleiter 
und Halbleiter angeordnet hatten. Die Leiter gerathen unter 
dem Einflusse derselben Ströme in wirbelnde Bewegung. 


7) Alle in Nr. 1) bis Nr. 6) beschriebenen Erscheinungen 


bleiben aus, sobald der Leitungswiderstand der Flüssigkeit, in 
welchem sich die Theilchen befanden, durch Zusatz von Koch- 
salz oder von Schwefelsäure verringert wird. 


Strassburg i. E., November 1876. 


1) Zu demselben Resultate kommt auch E. Root (Poggendorffs 
Annalen u. s. w. 1876) von dessen Arbeit ich leider erst Kenntniss 
erhielt, als mich äussere Gründe zwangen, meine Versuche vorläufig 
abzubrechen. 


Ueber den Musculus atlantico-mastoideus. 


Von 


Dr. WENZEL GRUBER, 
Professor der Anatomie in St. Petersburg. 


Hierzu Taf. XVII. A. 


J. B. Winslow!) erwähnt unter: „Les muscles, qui 
meuvent particulierement la teste sur le tronc“ auch „Les 
petits accessoires ou surnumeraires*. Von diesen beschreibt 
er einen nach ihm „quelquefois* vorkommenden Muskel, 
welcher mit dem einen Ende an die Spitze des Processus 
transversus des Atlas mit dem anderen Einde hinter (derriere) 
dem Processus mastoideus sich befestigt. J. Bankart, P. H. 
Pye-Smith a. J. J. Phillips?) erwähnen eines Beispieles des- 
selben Muskels. Sie lassen den kleinen Muskel vom Processus 
transversus des Atlas aufwärts zum Processus mastoideus 
zwischen den Musculus digastricus maxillae inferioris und M. 
obliquus capites superior (upwards to the mastoid process 
between the digastricus and obliquus superior) gehen. 

Die Muskeln von Winslow und Bankart u. s. w. sind 
unser M. atlantico-mastoideus. Die von Winslow angegebene 
Ansatzart des Muskels ist die Ausnahme und von der Ansatz- 
art, welche Bankart u. s. w. angegeben hatten, ist entweder 
das Erstere (an den Processus mastoideus) oder das Letztere 
(zwischen dem Digastricus und Obliquus superior) unrichtig, 
weil der Muskel, wenn er an den Processus mastoideus sich 
inserirt, sich nicht zwischen dem Digastricus und Obliquus 
superior ansetzen kann und umgekehrt. 


1) Exposition anat. de la structure du corps humain, Paris 1732 
4° p. 245. $ 735. 

2) „Notes of abnormalities observed in the disseeting room during 
the Winter-Sessions of 1866—1867 and 1867—1868. — Guy’s Hos- 
pital Reports Ser. III Vol. XIV. London 1869. 8°. p. 438. — 


734 Wenzel Gruber: 


Der Muskel gehört aber zu den häufiger vorkommenden 
anomalen Muskeln, ist deshalb werth, genauer gekannt zu 
sein. Ich habe deshalb über ihn Untersuchungen geflissentlich 
vorgenommen, deren Resultate ich im Folgenden vorlege: 


Vorkommen. 


Zur Bestimmung der Häufigkeit des Austretens des Mus- 
kels hatte ich 50 Cadaver (45 männl. u. 5 weibl.) untersucht, 
Der Muskel war an elf, und zwar an vier beiderseitig und an 
sieben nur linksseitig zugegen. — Darnach ist der Muskel etwa 
unter je 5 Cadavern an einem beiderseitig oder und fast noch 
einmal so oft einseitig, namentlich überwiegend häufiger links- 
seitig als rechtseitig, zu erwarten und zu den häufiger vor- 
kommenden anomalen Muskeln zu zählen. — 


Gestalt. 


Der Muskel (a, a‘) tritt meistens schmal oder breit-band- 
förmig oder strangförmig; aber auch spindelförmig oder läng- 
lich-dreiseitig auf. Im ersteren Falle verbreitet er sich gegen 
das obere Ende (häufiger) oder gegen das untere, oder gegen 
beide (bisquitförmig); in den letzteren Fällen verschmälert er 
sich gegen das untere Ende. Er ist von aussen nach innen 
und vorn (gewöhnlich) aber auch von hinten nach vorn, also in 
sagittaler Richtung (ausnahmsweise), comprimirt. Er ist an 
einem oder an beiden Enden sehnig-fleischig, an einem oder 
an beiden Enden mit einer kürzeren oder längeren, platt- 
rundlichen oder bandförmigen Sehne, oder kürzeren oder län- 
geren Aponeurose, die am oberen stark ist, versehen. Er kann 
am Ansatzende fast ganz fleischig sein und am Ursprungsende 
Fleischbündel der am Processus transversus des Atlas sich in- 
serirenden oder von da entspringenden Zacken der Cervical- 
muskeln, namentlich vom M. transversalis cervicis aufnehmen. 
(Fig. 1, 2, 5.) Die Länge seiner Endsehnen oder Endaponeu- 
rosen, namentlich am Ansatze, kann bis auf '/)—!/; der Länge 
des Muskels steigen. | 


Lage. 


In der Tiefe der hinteren Partie der Regio-mastoidea am 
oder selbst in dem Dreiecke, welches aussen und vorn vom 
hinteren Rande des Processus mastoideus und einer von dessen 
Spitze zum Processus transversus des Atlas vertical abwärts 
gezogen gedachten Linie und hinten vom M. obliquus capitis 
superior begrenzt wird. Ueber ihm liegen drei Muskelschichten, 
d. i. Mm. sterno-cleidomastoideus, splenius capitis und trachelo- 
mastoideus. Der M. trachelo-mastoideus immer und der M. 
splenius capitis bisweilen (oben) sind es, welche ihn zunächst 
bedecken. 


Ueber den Musculus u. s. w. 735 


Ursprung. 


Von dem Endrande des Processus transversus des Atlas, 
abwärts vom Ursprunge des M. obliquus capitis superior 
zwischen ihm und dem M. rectus capitis lateralis Heischig-sehnig, 
oder mit einer verschieden starken und langen oder kurzen 
bandförmigen Sehne, oder mit einer gewöhnlich dünnen Apo- 
neurose von verschiedener Höhe und Breite, welche durch 
ihren Zusammenhang mit einer oder mehreren oder allen hier 
inserirten Zacken der Mm. scalenus medius, levator anguli 
scapulae, splenius capitis et transversalis cervicis, bei vor- und 
rückwärts gerichteten Flächen, auf- und abwärts gekehrten 
Rändern gegen die Mittellinie und abwärts gespannt erhalten 
wird; ausnahmsweise vom Tuberculum posterius superius und 
dem hinteren oberen Rande des Processus transversus zwischen 
dem M. obliquus capitis superior und dem M. rectus capitis 
lateralis. (Fig. 4.) 


Verlauf. 


Vom Processus transversus fast gerade rück- oder schräg 
rück- und auf- und wenig auswärts, entweder das beschriebene 
Dreieck seiner Lagerung schräg kreuzend (gewöhnlich) oder 
durch dessen Mitte (Fig. 3) und selbst in seiner Tiefe (Fig. 4) 
zur Pars mastoidea in verschiedene Höhe der letzteren, selbst 
bis über das hintere obere Ende der Incisura mastoidea und 
bis zum Foramen mastoideum (davon aussen und vorn) und in 
verschiedene Höhe zum Ansatzende des M. obliquus capitis 
superior (bis 8 Mm. unter letzterem) aufwärts, bei sehr vari- 
irender Divergenz vom letzteren Muskel, die nur 2—3 Mm. 
aber auch 17 Ctm. betragen kann. 


Ansatz. 


Fast ganz fleischig, oder sehnig-fleischig, oder mit einer 
platt-rundlichen Sehne oder mit einer starken, verschieden 
langen und breiten Aponeurose immer nur an die Pars mas- 
toidea des Temporale, und zwar: entweder an den hinteren 
Rand des Processus mastoideus oder an den äusseren Rand der 
Incisura mastoidea (Fig. 1, 5, 6), also auswärts vom Digas- 
trieus maxillae inferioris (meistens); oder an diesen und zu- 
gleich an den Umfang des hinteren oberen Endes der Incisura 
mastoidea (Fig. 2); oder an letzteren Umfang allein (Fig. 3) 
also über dem Ende des Digastricus; oder an die Crista mas- 
toidea, zwischen der Incisura mastoidea und dem Sulcus arteriae 
occipitalis (Fig. 4), also einwärts von der Incisura mastoidea 
und dem Digastricus und auswärts von der Art. oceipitalis. 
Der Ansatz geht in verschiedener Höhe über der Spitze des 
Processus mastoideus vor sich, kann schon 2—3 Mm. aber auch 
erst 1’7 Ctm. darüber beginnen. Die Länge der Ansatzlinie 
ist gleichfalls sehr variabel. Diese kann 3—18 Mm. betragen. 


736 Wenzel Gruber: 


Grösse. 


Die Länge variirt: von 20 oder 2:2 Ctm. bis 5'0 oder 
5'5 Otm.; die Breite: an der Mitte von 0'2—1'0 Ctm., am 
oberen Ende von 0:3—1'8 Ctm., am unteren Ende von 0'2— 
24 Ctm.; die Dicke: am Fleischbauche von 1—4 Mm., an der 
Sehne bis 1 Mm. 

Der kleinste Muskel war 2'0—2'2 Ctm. lang, 2—3 Mm, 
breit und 1—1'5 Mm. dick. Ein Beispiel des grössten Muskels 
war 5'°5 Otm. lang; in der Mitte 1 Ctm., am Ursprunge 0'8, 
am Ansatze 1’3 Ctm. breit und bis 4 Mm. dick; ein anderes 
Beispiel war 3°8 Ctm. lang, in der Mitte 1'0 Ctm., am Ursprunge 
2:0 Ctm., am Ansatze 1'6 Ctm. breit; 2—3 Mm. dick u. s. w. 


Bedeutung. 


Der Musculus rectus capitis lateralis inserirt sich an den 
Processus jugularis des Occipitale, der beschriebene Muskel an 
die Pars mastoidea des Temporale — ersterer ist somit ein 
M. atlantico-oceipitalis, letzterer der M. atlantico-mastoideus. 
Der Processus jugularis des Oceipitale und die Pars mastoidea 
des Temporale sind aber nach Rich. Owen!) der Parapo- 
physe (=Processus transversus) eines Wirbels homolog, also ist 
ersterer der Processus transversus des Oceipitalwirbels, letztere 
der des Parietalwirbels des Schädels. 

Ist dem so, so ist der M. atlantico-mastoideus auch ein 
M. rectus capitis lateralis, hat, wie der gewöhnliche, die Be- 
deutung eines M. intertransversarius, ist aber ein M. intertrans- 
versarius zwischen dem Atlas und dem Parietalwirbel, während 
der gewöhnliche M. rectus capitis lateralis einen M. intertrans- 
versarius zwischen dem Atlas und dem Occipitalwirbel des 
Schädels darstellt. Beim Vorkommen des M. atlantico-mas- 
toideus handelt es sich daher nicht blos um Duplicität des M. 
rectus capitis lateralis der Norm, sondern um einen davon 
verschiedenen supernumerären Muskel, welchen ich zugleich 
mit der wahren Duplicität des ersteren auftreten gesehen 
habe. — 


Besonderheiten. 


In einem Falle linkseitigen Vorkommens des Muskels war 
beiderseitig der M. rectus capitis anticus medius, in einem 
anderen Falle linkseitigen Vorkommens desselben war an der- 
selben Seite Duplicität des M. rectus capitis lateralis (mit 
supernumerärem, innerem Muskel); in einem dritten Falle bei 
beiderseitigem Vorkommen desselben (Fig. 5) war ein sehr 
kleiner M. rectus capitis minor der rechten Seite (/); in einem 
vierten Falle beiderseitigen Vorkommens desselben (Fig. 6) 


1) Prineipes d’osteologie compar&ee ou Recherches sur l’archetype 
et les homologies du squelette vertebre. Paris 1855. 8°. p. 284. 


Ueber den Musculus u. s. w. 7137 


waren die Ansätze der Mm. obliquus capitis superiores (e e‘) 
‘6 Ctm. weit von einander abgestanden, die Mm. recti capitis 
postici minores (/, f') sehr breit (3°8 Ctm.) und jederseits seit- 
lich ein schmaler supernumerärer M. rectus capitis minor (9, 9‘) 
vorgekommen, wie ich schon Fälle mitgetheilt habe.) Jeder 
Muskel war in einem Falle 4 Otm. lang, am Ursprunge 3:5 Mm., 
am Ende 6—8 Mm. breit. Er hatte eine länglich-dreiseitige 
‚oder platt-spindelförmige Gestalt, wies an jedem Ende eine 
starke Sehne und einen fleischig-sehnigen Bauch auf. Er hatte 
seinen Ansatz neben dem Rectus capitis posticus minor unter 
dem äusseren Theile des Rectus major und mittelbar unter und 
vor dem Öbligquus superior. In einem fünften Falle des Vor- 
kommens desselben hatte der M. rectus capitis posticus minor 
der rechten Seite mit dem innersten, isolirten Bündel durch 
eine rundliche Sehne von dem Processus spinosus des Epistro- 
pheus seinen Ursprung genommen. Unter den zur Unter- 
suchung des Atlantico-mastoideus verwendeten Cadavern war 
an drei (beiderseitig oder einseitig) das innerste, einfache oder 
wieder getheilte Fleischbündel des Rectus major fast ganz 
separirt. 


Erklärung der Abbildungen. 


Fig. 1—4. 
Regio mastoidea der linken Seite mit nächster Umgebung. 
Fig. 5—6. 


Regio oceipitalis mit der beiderseitigen Regio mastoidea und der 
obersten Partie der Regio cervicalis. 


Bezeichnung für alle Figuren. 


1. Pars mastoidea des Os temporale. 
2. Os oceipitale. _ 

3. Theile des Atlas. 

4. Theile des Epistropheus. 

«@. Christa mastoidea. 


‘a. a‘. Musculus atlantico-mastoideus. 

bb. > digastricus maxillae inferioris. 
GC n obliquus capitis superior. 

d. d'. 2 obliquus capitis inferior. 

e. e'. > rectus capitis posticus major. 
Pal. = rectus capitis posticus minor. 


4) W. Gruber: Abhandlungen a. d. menschl. und vergleich. 
Anatomie. St. Petersburg, 1852. 4°. S. 125. 


Reickert’s u, du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 47 


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Br; 738 Wenzel Gruber: Ueber den Musculus u. 
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9. 9’. Musculus reetus capitis postieus minor 
a numerarius. jr 
ER ’ h. »  rectus capitis lateralis. 
ae % Zacke des M. scalenus medius. 
BR » » levator anguli scapulae. 


Y 


& A 8 LuT. a » » splenius colli. 

Te3 nam N > „» transversalis cervicis. 
A eR * Institut für die practische Anatomie. 

5 St. Petersburg i. Juni 1876. 


Archiv f.Anat: u Eiyf. 1876 Tap XVII 
3 ayı A, " 


MW firehmann $c. 


Ein Musculus cleido-epistrophicus bei Existenz des 
Musculus cleido-mastoideus der Norm. 


Von 


Dr. WENZEL GRUBER, 
Professor der Anatomie in St. Petersburg. 


(Hierzu Taf. XVII. B.) 


Ueber zwei von mir schon vor 1847 beobachtete Fälle 
dieser Species der supernumerären Museuli cleido-cervicales s. 
trachelo-claviculares hatte ich schon vor 29 Jahren in Kürze 
berichtet und daselbst auch angegeben, dass an der Stelle der 
Insertion dieses Muskels an die Clavicula, an letzterer ein 
Höcker vorkommen könne.!) 

Trotzdem seit jener Zeit eine Reihe Fälle der Mm. cleido- 
cervicales zur Beobachtung gekommen waren, so hat man, so 
viel ich weiss, diese von mir zuerst angegebene Species denn 
doch nicht wieder gesehen. ?) 

Dies und die Behauptung mancher Anatomen, namentlich 
von J. Wood: „dass auch dieser Cleido-cervicalis s. Trachelo- 
elavicularis beim Menschen — Leyator claviculae Wood, dem 
Levator elaviculae Tyson, s. Acromio-trachelien Cuvier, s. 
Clavio-trachelien Duvernoy, bei den Säugethieren, welcher von 
dem Querfortsatze des Atlas und bisweilen von den Querfort- 
sätzen der beiden folgenden Halswirbel entspringt, und an das 
Acnomion oder an dieses und die Clavicula, oder an die 
Acromialportion der letzteren, sich inserirt, analog, also eine 


1) W. Gruber. Vier Abhandlungen a. d. Gebiete d. medic.-chir. 
Anatomie. Berlin 1847. 8°. S. 22. 

2) Sieh: J. Wood. On a group of varieties of the muscles of 
the human neck, shoulder and chest, with their transitional forms and 
homologies in the mammalia. — Philos. Transact. of the roy. soc. of 
London. Vol. 160. Part 1. London 1870. 4°. Art.: „Levator claviculae“ 
p- 88. A. Macalister: A descriptive Catalogue of muscular ano- 
malies in human anatomy. Dublin 1872. 4°. p. 21. 

47* 


740 Wenzel Gruber: 


Thierbildung sei“, veranlasst mich folgenden neuen von mir 
beobachteten und in meiner Sammlung aufbewahrten Fall zu 
veröffentlichen: 

Vorgekommen am 28. April 1376 an der Leiche eines 
jungen Mannes an der rechten Seite. 

Ein sehr langer, ziemlich breiter und starker, bandförmiger 
Muskel (a), welcher seinen Nerven vom Nervus cervicalis III. 
erhalten hatte. 

Lage. Oben hinter dem cleido-mastoideus von der Vena 
jugularis interna bedeckt, weiter abwärts neben dem Cleido-mas- 
toideus im Trigonum omotrapezoideum, hier vorn von der Vena 
jugularis externa posterior, noch weiter abwärts vor dem 
hinteren Bauche des Omohyoideus und abwärts davon über 
dem Trigonum omo-claviculare, auswärts und in Distanz vom 
Cleido-mastoideus, an seiner Insertion von dem bogenförmig 
gekrümmten Endstücke der zur Vena subelavia tretenden Vena 
jugularis externa posterior seitwärts umgeben. 

Ursprung. Mit einer bandförmigen, 6 Mm. breiten, am 
inneren Rande 1'4 Ctm. und am äusseren Rande 3 Ctm. langen 
Sehne von der vorderen Seite der vorderen Wurzel des Pro- 
cessus transversus des Epistropheus (3) zwischen der Sehne 
‘des Intertransversarius anticus I. (%), die sich einwärts von der 
unseres Muskels am oberen Rande dieses Processus ansetzt, 
und zwischen der Ursprungssehne des Scalenus medius (m) von 
diesem Wirbel, am unteren Rande rückwärts und auswärts 
davon, welche sie von der Ursprungssehne des Bündels des 
Levator anguli scapulae (0) von diesem Wirbel scheidet. An 
der vorderen und äusseren Partie der vorderen Fläche dieser 
Sehne etwa in der Mitte ihrer Länge endet ein Fleischbündel 
(«) von dem vom Querfortsatze des Atlas entspringenden 
Bündels des Scalenus medius (m). 

Verlauf. Vom Querfortsatze des Epistropheus vor dem 
unteren Bauche des Omo-hyoideus (c), diesen kreuzend, fast 
gerader zur Clavicula (4), neben der Insertion des Cleido- 
mastoideus (b) abwärts; oben zwischen dem Rectus capitis 
anticus major (d) und dem Scalenus medius (m) unten: vor 
dem äusseren Theile des Scalenus anticus in grosser Distanz 
(l), und auswärts vom Cleido-mastoideus (5), aber tiefer als 
letzterer gelagert. 

Ansatz. Mit einer 1'5 Ctm. breiten und kurzen Sehne am 
hinteren oberen Rande der Clavicula, 1'1 Ctm. auswärts von 
dem Ursprunge des Cleido-mastoideus an ihrer oberen Fläche, 
und 5 Ctm. auswärts von dem Sternalende der Clavicula, die 
nach dem Abstande ihrer Enden gemessen 15 Ctm., nach ihrer 
Krümmung gemessen 16 Ctm. lang ist, also neben innerem 
Drittel der Länge der Clavicula und um die Breite der oberen 
Fläche der letzteren mehr rückwärts, als der Cleido-mastoideus. 

Grösse. Seine Länge beträgt 14 Ctm., wovon 14 Ctm. 
auf die Ursprungssehne kommen; seine Breite beträgt am, 


"Ein Museulus cleido-epistrophicus u.s. w. 741 


Ursprunge: 0:6 Ctm., an der Mitte: 1'’4 Ctm., über der Juser- 
tion: 1 Ctm., an der Insertion: 1’5 Otm.; seine Dicke: bis 
ö Mm. 

Bedeutung. Einen Fall von Cleido-cervicalis s. Trachelo- 
clavieularis imus, welcher an der rechten Seite eines männlichen 
Körpers bei Mangel beider ÖOmohyoidei vorgekommen war, 
hatte W. G. Kelch!) beobachtet. Der % Zoll breite Muskel 
war von dem unteren Rande des Processus transversus des 
sechsten Halswirbele, nahe an der Spitze des ersteren, ent- 
sprungen und hatte sich an die untere Fläche des Schulter- 
endes der Clavicula inserirt. Einen ähnlichen Fall hatte auch 
ich ?) angetroffen. Einen Fall von Cleido-cervicalis s. Trachelo- 
clavicularis inferior hatte Fr. W. Theile?) an der rechten 
Seite eines Mannes, von seinem Entdecker als Verdoppelung 
des Scalenus anticus gedeutete Muskel war von den Querfort- 
sätzen des vierten und fünften Halswirbels fleischig-sehnig ent- 
sprungen, war nach unten und aussen verlaufen, vor dem 
unteren Bauche des Omohyoideus hinweggegangen und hatte 
sich zollbreit an der Mitte des oberen Randes des Schlüssel- 
beiness, nach aussen von den Kopfnickern, angesetzt. 
M.Whinnie*) hatte in einem Falle die erste vom Atlas kom- 
mende Portion des Levator scapulae als besonderen Muskel- 
Cleido-atlanticus (Cleido-cerviculis s. Trachelo-clavicularis supre- 
mus) — auftreten und an die Clavicula mit dem vorderen 
Rande des Cucullaris ansetzen gesehen, und ich’) habe einen 
Cieido-atlanticus am inneren Drittel der Clavicula inserirt an- 
getroffen. M.’Whinnie°) hatte in einem anderen Falle eine 
wirklich beträchtliche Portion — Cleido-cervicalis s. Trachelo- 
clavicularis — mit dem (with it) Levator scapulae von den 
Querfortsätzen der Halswirbel (welchen?) entstanden und an- 
die Mitte der Clavicula, dicht an der äusseren Seite des Sterno- 
cleido-mastoideus, inserirt angetroffen. J. Wood’) hat den 


1) Beiträge zur pathologischen Anatomie. Berlin 1813. 8° min. 
8. 32. Nr. XXIV. 

2) Dies Archiv: „Museulus cleido-cervicalis imus“. 

3) Lehre von den Muskeln. Leipzig 1841. S. 170. 

4) „On the anomalies in the muscular system of the human 
body“ — The London medical Gazette. New-Series. Vol. II. London 
1846. p. 194. Art. „Levator claviculae“. 

5) Dies Archiv. 


6) A. a. 0. 
7) a. Op. cit. 1870, p. 88. Art.: „Levator claviculae muscle“. 
b. „On some varieties in human myology* — Proceed. of the 


roy. soc. of. London. Vol. XIII. London 1864, p. 300 — (Bei zwei 
Subjecten beiderseitig von den Processus transversus des dritten und 
vierten Halswirbels (arising with the levator anguli scapulae) zum 
äusseren Drittel der Clavicula unter dem Cucullaris). 

c. „Additional varieties in human myology“. — Daselbst Vol. XIV. 
1865, p. 379—370, Fig. 1a. (Bei einem Subjecte beiderseitig von 
dem Tuberculum posterius des dritten und vierten Halswirbels, ver- 


2 bahn er = r 7 
Beh) or 0 = BR SL 


742 Wenzel Gruber: 


Cleido-cervicalis s. Trachelo clavicularis superior, welchen er 
beim Menschen, wie Tyson bei den Affen: „Levator claviculae* 
nennt, unter 202 Subjecten (131 männl. und 72 weibl.) an 
sechs (5 männl. und 1 weibl.) angetroffen. Bei 3 Subjeeten 
war der Muskel beiderseitig, bei zwei nur linkseitig und noch 
an einem männlichen Individuum an der linken Seite, wo er 
vom Processus transversus des dritten Halswirbels kam und in 
der Fascie, hinter der Clavicula endete, zugegen. Der Muskel 
war gewöhnlich 1—1% Zoll breit, entsprang mit zwei oder 
mehreren Digitationen von den Querfortsätzen des ersten und 
zweiten, zweiten und dritten, dritten und vierten Halswirbels, 
gemeinschaftlich mit dem Ursprung des Levator anguli scapulae, 
oder vor diesem Ursprunge (in common with and in front of 
the origin of the levator anguli scapulae). Er kreuzte das 
Trigonum colli posterius schief und inserirte sich fleischig-sehnig 
am mittleren oder äusseren Drittel der Clavicula an der medianen 
Seite oder hinter den Fasern des Cueullaris. A. Macalister‘) 
hatte bei einem weiblichen, mageren Subjecte auch einen Cleido- 
cervicalis superior angetroffen, welcher von den oberen Hals- 
wirbeln seinen Ursprung und am äusseren Drittel der Clavicula, 
hinter dem Cucullaris seinen Ansatz genommen hatte. 
Vergleicht man die angegebenen Fälle mit einander und 
mit dem "Cleido-epistrophieus (mihi), so ergiebt sich Folgendes: 
l. Der Musculus cleido-cervicalis s. trachelo-elavieularis 
war ın den zwei Fällen seines Vorkommens als Gleido-atlan- 
ticus entweder durch die oberste Zacke des Leevator scapulae, 
welche sich mit dem Cucullaris an die Acromialportion der 
Clavieula inserirte, repräsentirt (M’Whinnie erster Fall) oder 
ein Muskel, welcher vor und neben der Zacke des Scalenus 
medius entstanden war und an die Sternalportion der Clavicula 
neben dem Cleido-mastoideus sich inserirt hatte. (Gruber.) 
2. Derselbe stand in den drei Fällen seines Vorkommens 
als: Cleido-epistrophicus (Gruber) mit dem Levator scapulae 
in keiner Beziehung, entstand vor der Zacke des Scalenus 
medius und inserirte sich neben dem Cleido-mastoideus. 
3. Derselbe war, wenn er von einem oder mehreren 


einiget mit den Bündeln des Levator scapulae (arising with the fibres 
‚of the levator scapulae, zum äusseren Drittel der Clavicula, hinter 
dem Cueullaris). 

d. „Variations in human myology“. — _Daselbst. Vol. XV. 1867, 
p. 230. — (Bei zwei Subjecten linkseitig, bei einem von den drei 
oberen Halswirbeln vor dem (in front) Levator scapulae zur äusseren 
Hälfte der Clavicula, hinter den vorderen Bündeln des Cucullaris. 

e. „On a group of a varieties of the muscles ete. — Daselbst. 
Vol. XVII. 1870. — (Wiederholung des früher Angegebenen.) — 

1) Op. eit. p. 21 (dann) „Notes on museular anomalies in human 
anatomy“. — Proceed. of the roy. Jrisch-Academie 1866, p. 7. (Steht 
mir nicht zur Verfügung aber bei Wood, Philosoph. Transact. Vol. 
CLX. London 1870. p. 89. 


Ein Musculus eleido-epistrophicus u. s. w. 743 


oberen Halswirbeln (erster — vierter) seinen Ursprung genom-: 
men hatte, mit dem Levator scapulae verwachsen oder doch. 
vor diesem und wenigstens am dritten und vierten Halswirbel 
vom Tuberculum posterius der Querfortsätze abgegangen und 
gewiss in der Regel an das äussere Drittel. oder Hälfte der: 
Clavicula neben und hinter dem Cucullaris inserirt (Wood ’s 
Fälle, Macalister’s Fall, M’Whinnie’s zweiter Fall?) 

4. Derselbe war, wenn er vom vierten und fünften Hals- 
wirbel seinen Ursprung genommen hatte, immer von dem 
Tuberculum anterius der Querfortsätze abgegangen, konnte in. 
keiner Beziehung zum Levator scapulae stehen, wenn er sich 
auch an verschiedenen Stellen der Clavicula und selbst an 
deren Schulterende inserirt hatte. 

Ist dem nun so, so folgt, dass M’Whinnie’s Cleido- 
atlanticus, vielleicht auch sein anderer Fall von Oleido-cervicalis; 
Wood’s Fälle und Macalister’s Fall von Levator claviculae 
beim Menschen analog sind dem Cleido-cervicalis s. Trachelo- 
clavicularis, (Clavio-trachelien) mancher Säugethiere z. B. dem 
beim Gorilla, Chimpanse, der wieder homoiog ist dem Clavio- 
acromio-trachelien anderer Säugethiere, z. B. dem beim Orang- 
Utang (Duvernoy) und Acromio-trachelien noch anderer der- 
selben; dass aber mein Fall von Gleido-atlanticus, meine 
Fälle von Cleido-epistrophicus, Theile’s Fall von 
Cleido-cervicalis inferior und Kelch’s und mein Fall 
von Cleido-cervicalis imus mit dem Cleido-cervicalis 
(Clavio-trachelien) der Säugethiere nichts zu thun haben. 

Dass der Oleido-cervicalis (Clavio-trachelien u. s. w.) bei 
den Säugethieren, wie M’Whiennie’s, Wood’s und Maca- 
lister’s Levator claviculae beim Menschen zum Levator sca- 
pulae in Beziehung steht, kann nicht bestritten werden. Der 
Acromio-trachelien der Säugethiere wurde ja von G. Cuvier‘) 
früher dahin gerechnet und der Acromio-trachelien, welchen 
Cuvier et Laurillard?) beim Neger, sowohl als mit drei 
Zacken von den Querfortsätzen der drei oberen Halswirbel ent- 
sprungen, und an der Scapula inserirt, abgebildet haben, ist 
weiter nichts als die äusserste und vorderste, selbständig. ge- 
wordene Portion des Levator scapulae — Omo-trachelien ou 
Trachelo-seapulien, — auch ist M’Whinnie’s Oleido-atlantieus 
beim Menschen die ein selbständiger Muskel gewordene, aber 
an die Clavicula inserirte oberste Zacke des Levator scapulae. 

Dass Kelch’s, Theile’s und meine Fälle von Cleido- 
cervicales ihrem Ursprunge nach wohl mit den Scaleni, aber 
nicht mit dem Levator scapulae, in Beziehung gestanden haben 
und daher keine Analoga des Cleido-cervicalis (Clavio- 
trachelien) der Säugethiere sein können, ergiebt sich aus den 


1) Lee. d’anat. comp. 2. Edit. Tom. I. Paris 1835. p. 371. 
2) Anat. comp. recueil de Planches de Myologie. Paris 1849. 
Pl. VIE Rio. Vet 2,.d. 


7144 Wenzel Gruber: 


obigen Angaben. Dass Kelch’s und mein Fall von Cleido- 
cervicalis imus und Theile’s Fall von Cleido-cervicalis inferior 
wohl nur verirrte supernumeräre Scaleni waren, ist mit 
Wahrscheinlichkeit anzunehmen, und dass mein Fall von Qleido- 
atlanticus und meine Fälle von Cleido-epistrophicus nur die 
Bedeutung von selbständigen Muskeln gewordene supernume- 
rären Bündeln des Cleido-mastoideus haben, die statt 
des Processus mastoideus den Atlas oder Epistropheus zum 
Ursprunge wählten, wird durch die von mir gemachte Beob- 
achtung des Auftretens den ganzen Üleido-mastoideus beim: 
Menschen als Cleido-epistrophicus gestützt.!) 2 

— Es giebt somit Mm. cleido-cervicales s. trachelo-clavi-. 
culares beim Menschen, welche als Thierbildungen gedeutet 
werden können, und andere Mm. cleido-cervicales, worunter 
auch der von mir nachgewiesene Cleido-epistrophicus gehört, 
die bestimmt keine Thierbildungen und nur dem Men- 
schen eigen sind. Ob beide Arten der supernumerären Mm. 
cleido-cervicales beim Menschen gleich interessant oder nur die 
nach der modernen Anschauung von Interesse sind, welche 
auch beim lieben Vieh vertreten sind, ist Geschmackssache. — 

Besonderheiten. An der Leiche mit dem beschriebenen 
M. cleido-epistrophicus war beiderseitig der M. rectus capitis 
anticus medius und rechtseitig auch der supernumeräre M. 
transversalis cervicis anticus (X) zugegen, welcher schon von 
S. Th. Sömmering?) erwähnt, von Retzius°) als ein Muskel 
angegeben worden war, der, verborgen mit dem Longus colli 
verbunden, vom Processus obliquus des sechsten, fünften und 
vierten Halswirbels entspringt und am dritten, zweiten und 
ersten Halswirbel sich inserirt, 21 Jahre später von Luschka®) 
fälschlich wie ein Muskel der Norm beschrieben worden war, 
welcher von der Spitze der vorderen Spange der Querfortsätze: 
der vier unteren Halswirbel mit dünnen, sehnigen Bündeln 
entspringt und mit zwei sehnig-fleischigen Zipfeln unter der: 
oberen Gelenkfläche des Epistropheus und gegen die Basis vom 
Querfortsatze des Atlas sich inserirt. 

Ueber den Rectus capitis anticus medius werde ich’) be-. 
sonders handeln. Was den Transversalis cervicis anticus an- 
belangt, so war dieser vom Tuberculum anterius des Querfort- 
satzes des sechsten und fünften Halswirbels entsprungen und 
hatte sich an das Tuberculum anterius des Querfortsatzes des 


1) Dies Archiv. 

2) Vergl. Baue des menschl. Körpers. Th. III. Frankfurt a. M. 
1800. S. 229. 

3) Forhandlinger, ved de Scandinavisk Naturforsk. 1841. p. 767. 
(Bei Macalister. — A descriptive Catalogue etc. p. 44. —) 

4) Die Anatomie d. menschl. Körpers. Bd. I. Abth. I. Tübingen 
1862. S. 76, 

ö) Dies Archiv. 


Ba 


ERNEST UN 


Ein Musculus cleido-epistrophicus u. s. w. 745 


dritten Halswirbels und vereiniget mit der Zacke des Scalenus 
medius auch an den Querfortsatz des Epistropheus inserirt. — 


Erklärung der Abbildung. 


Hinterer Abschnitt der Schädelbasis mit dem Halse und dem 
Schultergürtel der rechten Seite. 
1. Schädelbasis. 
2. Atlas. 
3. Epistropheus. 
4. Claviecula. 


5. Scapula. 
Musculus cleido-epistrophicus. 
n cleido-mastoideus. 


omo-hyoideus. 


Q. 
b. 
@ 5 
d. > rectus capitis anticus major. 
e. 5 5 n 3 medius. 
‘f: g x x 5 minor. 
g- 2 »„  lateralis. 
h. iS intertransversarius anticus 1. 
i. 5 SS 
R. = transversalis cervieis anticus anomalus. 
l. = scalenus antieus. 
mM. 5 S medius. 
N. 2 5 posticus. 
0. & levator anguli scapulae. 

gl » splenius colli. 
7. > ” capitis. 

2 eueullaris. 


&. Fleischbündel der Zacke des M. scalenus medius vom Atlas 
zur vorderen Fläche der Ursprungssehne des Cleido-epistrophieus vom 
Epistropheus. 


£. Ein isolirtes, mit dem Splenius capitis verwachsenes Bündel 
vom Processus mastoideus zur obersten Zacke des Splenius colli. 
Institut für die practische Anatomie. 
St. Petersburg i. Juni 1876. 


Ueber den Musculus rectus capitis anticus medius 
s. minimus. 
Von 


Dr. WENZEL GRUBER, 


Professor der Anatomie in St. Petersburg. 


(Hierzu Taf. XIX. A.) 


Es giebt drei Musculi recti capitis antiei d. i. ausser dem 
M. major et minor auct. noch einen M. medius s. minimus. 

Der M. major ist constant; der M. minor kann fehlen und 
zwar, wie ich nach Untersuchungen an 50 Cadavern gefunden 
hatte, in !/,, d. F. nach Cadaver- und Seitenzahl: der M. me- 
dius s. minimus kann aber öfters vorkommen. Ueber den 
anomalen Musculus rectus capitis anticus medius =. 
minimus (Fig. 1. c, c') lege ich nachstehende Beschreibung vor: 

Vorkommen. Unter 50 Cadavern (45 männl. u. 5 weibl.) 
an neun und zwar beiderseitig an fünf, rechtseitig an zwei, 


linkseitig an zwei, d. i. in !/,—!/, d. F. nach Cadavern und‘ 


in !/,—!/, nach Seiten, etwas häufiger beiderseitig als nur ein- 
seitig. 

an einem Falle an der rechten Seite also in !/, d. F. nach 
Cadavern und in !/,, d. F. nach Seiten war das Muskelchen 
doppelt, ein inneres und ein äusseres, zugegen. 

Gestalt. Eines platt-spindelförmigen oder bandförmigen 
-Muskelchens, bald mit Sehnen an beiden Enden oder nur mit 
einer Sehne an einem der Enden, namentlich an dem oberen 
derselben. 

Lage. Oben zwischen der äusseren Portion des M. rectus 
capitis anticus major (vorn) und der inneren Portion des M. 
rectus capitis anticus minor (hinten), von beiden, namentlich 
vom letzteren, durch eine stärkere Membran oder selbst apo- 
neurotisches Blatt geschieden; unter frei auf der Massa late- 
rales des Atlas zwischen dem M. rectus capitis anticus major 
einwärts, dem M. reetus capitis anticus minor und dem M. 


a 


Ueber den Musculus rectus capitis u. s. w. 747 


intertransversarius anticus I auswärts. Die Muskelchen beider 
Seiten stehen bis 1'8 Mm. von einander ab. 

In dem Falle seiner Duplicität hatte das äussere Muskel- 
chen (c') dieselbe Lage, das innere Muskelchen (c) aber lag 
vom inneren Rande des M. rectus capitis anticus major bedeckt 
auf dem Arcus anterior des Atlas neben dessen Tuberculum 
und vor der Membrana obtur atoria anterior atlantis, neben 
und am Lacertus medius — Weitbrecht — 5. Lig. atlantico- 
oceipitale anticum superficiale — Barkow — (x) derselben, 
am Ursprunge 1 Ctm. an der Insertion 4—5 Mm. einwärts vom 
äusseren Muskelchen. 

Ursprung. Gewöhnlich kurzsehnig von der Vorderseite 
der Massa lateralis des Atlas, abwärts vom äusseren Pole der 
Grube an der Vorderseite des Arcus anterior und der Massa 
lateralis des Atlas, über dem Rande des Processus obliquus 
inferior desselben und knapp über der Anheftung der Capsula 
articularis atlantico-epistrophica, einwärts neben dem Ursprunge 
des M. intertransversarius anticus 1. 

In dem Falle seiner Duplieität entsprang das äussere 
Muskelchen, wie angegeben, das innere Muskelchen aber mit 
einer bandförmigen Sehne von dem Tuberculum atlantis arte- 
rius (*). 

Verlauf. Mässig schräg ein- und aufwärts zur Pars basi- 
laris des Occeipitale. 

In dem Falle mit Duplicität verlief das äussere Muskelchen 
so, das innere aber stieg, gerade aufwärts. 

Insertion. Gewöhnlich mit einer bandförmigen Sehne, die 
immer von dem M, rectus capitis anticus minor geschieden ist, 
bisweilen mit dem M. rectus capitis anticus major zusammen- 
hängt, hinter dem Ansatze des letzteren und in Distanz vor 
dem Ansatze der inneren Portion des ersteren. 

In dem Falle mit Duplicität ging die Insertion des äus- 
seren Muskelchens auf dieselbe Weise, die des inneren Muskel- 
chens aber hinter dem M. rectus capitis anticus major, neben 
dem Ansatze des Lig. occipito-atlanticum anticum, 5 Mm. ein- 
wärts vom äusseren Muskelchen und 2 Mm. ein- und vorwärts 
vom M. rectus capitis anticus minor, kurzsehnig an der Pars 
basilaris des Oceipitale vor sich. 

Grösse. Länge gewöhnlich 3'0—3'2 Ctm., ausnahmsweise 
4—5 Ctm., wovon auf die Insertionssehne bis % oder sogar % 
kommen kann; Breite am Fleischbauche 3—6 Mm., an der 
Insertionssehne 2—3 Mm.; Dieke am Fleischtheile 1 3 Mm. 

In dem Falle mit Duplieität an der einen Seite war das 
innere Muskelchen 2'2 Ctm. lang, wovon auf die bandförmige 
Ursprungssehne % der Länge kam; am Fleischbauche 3 Mm. 
in transversaler Richtung und 2 Mm. in sagittaler dick und 
an der Ursprungssehne 2°5 Mm. breit. 

Verschiedenheit von anderen in der Gegend seiner Lage- 
zung vorkommenden ungewöhnlichen Muskelbündeln. 


748 Wenzel Gruber: 


1. Das Muskelchen ist nicht zu verwechseln mit dem 
Muskelchen, welches die selbständig gewordene, anomaler 
Weise vorkommende Zacke des M. rectus capitis anticus major 
vom Processus transversus des Atlas repräsentirt.!) Ich traf 
diese Art supernumerärer Muskelchen unter 50 Cadavern an: 
zwei an einem beiderseitig und an einem rechtseitig. Das 
Muskelchen (Fig. 2, c) hatte an der Spitze des Querfortsatzes 
des Atlas mit seiner 1-09—1'5 Ctm. langen, 1—2 Mm. breiten 
Sehne, welche durch ihre Vereinigung mit den hier entsprin- 
genden Zacken anderer Halsmuskeln (e. f.) bogenförmig gekrümmt 
war, seinen Ursprung genommen, war schräg von dem M. rectus 
capitis anticus minor, unten: aussen vom M. rectus capıtis an- 
ticus major, oben: hinter diesem aufwärts gestiegen und hatte 
sich sehnig hinter diesem, nahe dem Seitenrande der unteren 
Fläche der Pars basilarıs des Oceipitale, 4 Mm. vor und unter 
dem M. rectus capitis anticus minor, inserirt. Dieses Muskel- 
chen war 4 Ctm. lang, 4—5 Mm. am Fleischkörper breit und 
2 Mm. dick. 

2. Dasselbe hat nichts gemein mit dem Verstärkungs- 
bündel zu seinem medialen Rande, welches, wie Henle?) und 
nach ihm Macalister?) unvollkommen entwickelt beobach- 
teten, vom Epistropheus mit dem obersten Intertransversarius 
anticus entspringt. Ich habe ein derartiges Bündel und auch 
ein anderes mit dem Intertransversarius I verschmolzenes Bün- 
del vom Querfortsatze des zweiten und dritten Halswirbels ent- 
springen gesehen. 

3. Dasselbe ist auch nicht gleich bedeutend mit einem 
des doppelten Muskelchens, welches Macalister‘) mit dem 
M. rectus capitis anticus major verbunden oder zum Lig. atlan- 
tico-oceipitale anticum laufen (running into the anterioo occipito- 
atlantoid ligament) gesehen hat und nicht analog jenen etlichen 
Fasern (some fibres) des M. rectus capitis anticus minor, welche 
Macalister®) von der vorderen Hälfte des Bogens des Atlas 
entspringen und sich von dem Rest des Muskels separiren 
können. 


1) Von ungewöhnlichen Zacken des M. rectus capitis anticus. 
major, welche von „einigen der obersten Halswirbel“, oder von „dem 
Querfortsatze des ersten und zweiten Halswirbels“ entstehen, erwähnen 
S. Th. v. Sömmering. — Vergl. Baue d. menschl. Körpers. Frank- 
furt a. M. 1800. S. 229. J. Fr. Meckel: Handb. d. menschl. Anat. 
Bad. II. Halle u. Berlin 1816. S. 476. $ 1091. — Fr. W. Theile: 
Muskellehre, Leipzig 1841. S. 176. — Auch ich hatte diese Abwei- 
chung mehrere Male angetroffen. 

2) Handb. d. Muskellehre d. Menschen. Braunschweig 1871. 
8. 137. Fig. 61. 

3) A deseriptive Catalogue of muscular anomalies in human ana- 
tomy. Dublin 1872. 4°. p. 44. 

4) A. a. 0. 

5),A.a.:0: 


EN ER ER R 


Ueber den Musculus rectus capitis u. s. w. 749 


Besonderheiten. Mit dem beiderseitig vorkommenden 
Muskelchen war in einem der Fälle an der rechten Seite der 
M. cleido-epistrophicus, in einem anderen der Fälle der M. 
atlantico-mastoideus an der linken Seite zugegen. 


Erklärung der Abbildungen. 


Fig. 1. 


Rechte und mittlere Partie des hinteren Abschnittes der Schädel- 
basis mit den entsprechenden Theilen des Atlas und der Epistropheus 
(Ansicht von vorn bei entferntem M. rectus capitis anticus major 


u.s. w.) 
1. Schädelbasis. 
2. Atlas. 
3. Epistropheus. 
Ligamentum atlantico-oceipitale anticum. 
Lig. colummae vertebralis anticum. 
Musculus reetus capitis anticus minor. 
Musculus rectus capitis lateralis. 
Museulus rectus capitis antieus medius internus. 
‘'.M. rectus capitis anticus medius externus. 
d.d'.Mm. longi colli (der linke weit am Lig. atlantico-occipitale 
anticum hinaufreichend). 
e. M. intertransversarius anticus I. 
(*) Tubereulum atlantis anterius. 


Fig. 2. 


Partie der rechten Hälfte des hinteren Abschnittes der Schädel- 
basis mit der entsprechenden Hälfte des Atlas und des Epistropheus. 

1. Schädelbasis. 
2. Atlas. 
3. Epistropheus. 

a. Musculus rectus capitis anticus minor. 

b. M. rectus capitis lateralis. 

c. Anomale vom Querfortsatz des Atlas entsprungene Zacke des 

M. rectus capitis anticus major als selbständiger Muskel. 

d. M. intertransversarius 1. 

e. Zacke des M. scalenus medius. 

f. Zacke des M. levator anguli scapulae. 


ASFSTR 


Institut f. d. practische Anatomie. 
St. Petersburg i. Juni 1876. 


Ein neuer Fall von 
Musculus extensor hallucis longus tricaudatus. 
Von 


Dr. WENZEL GRUBER, 
Professor der Anatomie in St. Petersburg. 


Hierzu Taf. XIX. B. 


Ich kenne diese Varietät des Musculus extensor hallueis 
longus seit mehr als 25 Jahren. Dieselbe war mir bis 1876 
in vier Fällen zur Beobachtung gekommen und zwar beider- 
seitig 1 Mal; rechtseitig 2 Mal.) 

Diesen Fällen kann ich einen neuen (5) Fall (Fig.) hin- 
zufügen, welcher mir an der linken Seite eines Erwachsenen 
am 12. März 1876 zur Beobachtung gekommen war. Das 
Präparat ist in meiner Sammlung aufbewahrt. 

Ursprung. Der Muskel entspringt von der Fibula, bis zu 
dessen Oapitulum (bis 2—3 Ctm. von der Spitze seiner höchsten 
Zacke entfernt) auf- und bis 8 Ctm. über der Spitze des 
Malleolus externus abwärts, und theilweise vom Ligamentum 
interosseum. 

Theilung in Bäuche (Schwänze). Der Muskel (a) theilt 
sich 6°5—10°5 Ctm. vom Ursprunge entfernt in drei platte, 
dreiseitige, halbgefiederte Fleischbäuche, einen oberen, mittleren 
und unteren, deren Bündel in dem Anfangsstücke ihrer Sehnen 
am vorderen Rande enden. 

Der obere kleinste Fleischbauch (x), welcher der oberen 
6°5 Ctm. breit entspringenden Portion des Muskels angehört, 
trennt sich 10:5 Ctm. vom Ursprunge des Muskels entfernt, 


vom mittleren Bauche, ist 4 Ctm. lang und am Anfange 12 Ctm. 


1) W. Gruber: a) Abhandlungen a. d. menschl. u. vergleich, 
Anatomie. St. Petersburg 1852. 4° VIII. Abh. S. 123. b) „Ueber die 
Varietäten des M. extensor hallueis longus.“ — Dies Archiv. 1875. 
S. 568 u. 581. 


Wenzel Gruber: Ein neuer Fall u. s. w. 751 


breit; der mittlere grösste Fleischbauch (ß), welcher der mitt- 
leren 14°5 Ctm. breiten Portion entspricht, ist am oberen, vor- 
deren Rande 150 Ctm., am unteren, hinteren Rande 5'0 Ctm. 
lang und am Anfange 105 Ctm. breit; der untere Fleischbauch 
(y), welcher der unteren, 4 Ctm. breiten Portion des Muskels 
zukommt, trennt sich 6°5 Ctm. vom Ursprunge des Muskels 
entfernt vom mittleren Bauche, ist 8:5 Otm. lang und am An- 
fange 2 Ctm. breit. 

Ueber der Trennung des oberen Fleischbauches vom mitt- 
leren begaben sich vom letzteren zur inneren Seite des ersteren 
ein starkes und zur äusseren Seite ein Paar schwache Fleisch- 
bündel zur inneren Seite desselben und über der Trennung des 
mittleren Fleischbauches vom unteren auch ein starkes 
Bündel vom letzteren zur inneren Seite des ersteren. 

Lage. Wie beim Muskel der Norm. 

Verlauf. Wie gewöhnlich und mit allen drei, neben ein- 
ander liegenden Sehnen durch die mittlere Synovialscheide 
des Lig. lambdoideum der Fascia eruro-pedica. 

Ansatz. Der obere Fleischbauch' inserirt sich mit seiner 
platt-rundlichen Sehne von 2:5 Mm. Breite, welche 1'4 Ctm. 
lang die Fleischbündel aufnimmt und 26 Ctm. lang von Fleisch- 
bündel-Aufnahme frei ist, an die Tibialseite der Basis der 
ersten Phalanz der grossen Zehe; der mittlere Fleischbauch 
inserirt sich mit seiner starken, platt-rundlichen, 5 Mm. breiten 
Sehne, welche in einer Strecke von 12:5 Ctm. die Fleischbündel 
aufnimmt und 17 Ctm. lang frei ist, an die Nagelphalanz der 
grossen Zehe. Der untere Fleischbauch endlich inserirt sich 
mit seiner platt-rundlichen 2'0—2°5 Ctm. breiten Sehne, welche 
in einer Strecke von 4:5 Ctm. Fleischbündel aufnimmt und 
11:5 Ctm. lang frei ist, mit dem 10 Ctm. langen Endstücke 
der Sehne des Extensor hallucis brevis (d) verwachsenen an 
die Fibularseite der Basis der ersten Phalanz der grossen Zehe. 

Der Nervus peroneus profundus, nachdem er den Extensor 
digitorum longus durchbohrt hatte, trat vor dem oberen Ende 
des Extensor hallucis longus tricaudatus zu den Vasa tibialia 
antica.. Der Musculus extensor digitorum brevis (e) hatte nur 
3 Bäuche, sein vierter Bauch wurde vom M. peroneus brevis 
(f) ersetzt, der eine Sehne (d) zur fünften Zehe sendete. 

In den vier früheren Fällen löste sich der obere Fleisch- 
bauch von der inneren oder oberen und inneren Seite des 
Fleischkörpers des Muskels, in dem neuen Falle begriff er die 
ganze Portion des Fleischkörpers in sich; in drei früheren Fällen 
löste sich der untere Fleischbauch von der äusseren oder äusseren 
und unteren Seite des Fleischkörpers desMuskels ab, in dem neuen 
Falle begriff er, wie in dem Falle von 1875, die ganze untere 
Portion in sich; in zwei früheren Fällen inserirte sich die Sehne 
des unteren äusseren Bauches für sich an die erste Phalanz 
der grossen Zehe, im neuen Falle ging die Insertion der star- 
ken Sehne dieses Bauches vereinigt mit der Sehne des Extensor 
hallueis brevis, wie dieselbe der schwachen Sehne desselben 


752 Wenzel Gruber: Ein neuer Fall u. s. w. 


Bauches in zwei anderen früheren Fällen, vor sich. — Der 
Muskel im neuen Falle hatte daher nebst Gleichem manches 
von den früheren Fällen Abweichendes an sich, — 


Erklärung der Abbildung. 


Linker Unterschenkel mit dem Fusse (bei Erhaltung nur einiger 
(Muskeln). 
a. Musculus extensor hallueis longus tricaudatus. 
&. Oberer Bauch. 
ß. Mittlerer Bauch. 
y. Unterer Bauch. 
b. M. extensor digitorum pedis longus. 
c. M. peroneus tertius. 
d. M. extensor hallucis brevis. 
e. M. extensor digitorum pedis brevis. 
J. Sehne des M. peroneus brevis. 
g. Sehne des M. peroneus longus. 
d. Sehne des M. peroneus brevis zur fünften Zehe. 


Institut f. d. practische Anatomie. 
St. Petersburg i. Juni 1876. 


Arche Anat:u Ühyf. 1810. 


| 
Kamowier dd, i = = ” s > = = 2 e| 
e Dannenberg del, W. Grehmann se. 


Ueber eine 
congenitale Articulatio hyo-thyreoidea anomala. 
Von 


Dr. WENZEL GRUBER, 


Professor der Anatomie in St. Petersburg. 


(Hierzu Taf. XIX. C.) 


Vorgekommen an der Leiche eines Weibes in den hohen 
Zwanzigern am 19. April 1876. (Fig. 1, 2.) 

Os hyoideum. Dieses ist theilweise missgebildet. Seine 
Cornua minora sind noch gelenkig vereiniget, seine Cornua 
majora aber mit dem Corpus vollständig knöchern verwachsen. 
Am Corpus und an der Cornua minora ist nichts Ungewöhn- 
liches zu bemerken, wohl aber an den Cornua majora. Das 
Cornua majus der linken Seite ist zwar wie gewöhnlich be- 
schaffen und sein Capitulum in verticaler Richtung comprimirt, 
in dieser 3:5 Mm. dick und in transversaler Richtung 6 Mm. 
breit, aber sein äusserer Rand liegt gegen die Norm etwas 
höher als der unsere. Das Cornu majus der rechten Seite (A), 
sieht wie geknickt und O-förmig gekrümmt aus, ist mit der 
6 Mm. tiefen Concavität aufwärts gerichtet und an seiner 
unteren Seite mit einem Tuberculum anomalum versehen. 

Die vordere Portion, welche */, seiner Länge entspricht, 
liegt horizontal, die hintere Portion, welche °/, seiner Länge 
einnimmt, steigt schräg auf- und rückwärts. Die horizontale 
Portion (a) stellt eine länglich-vierseitige, etwas gekrümmte 
Platte dar, mit einer oberen und unteren Fläche, mit einem 
äusseren und inneren Rand. Die obere Fläche ist concav in 
sagittaler und convex in transversaler Richtung und nach aussen 
abhängig; die untere Fläche ist an der vorderen, grösseren 
Partie concav und weiset am hinteren Endtheile das genannte 
Tubereulum anomalum (e), welches an der unteren Seite eine 
überknorpelte Fläche, also Gelenkfläche (x) besitzt, die sattel- 
förmig und zwar convex in transversaler und concav in sagit- 
taler Richtung gestaltet ist. 

Reichert’s u, du Bois-Reymond’s Archiv 1876, 48 


754 Wenzel Gruber: 


Von den Rändern ist gegen die Norm der innere der 
dickere; das hintere Ende des äusseren Randes ist entsprechend 
dem Tuberculum an der unteren Fläche in eine stumpfe Zacke 
(d) ausgezogen. Die aufsteigende Portion (b) stellt einen drei- 
seitigen Stiel dar, mit einer vorderen äusseren sehr convexen, 
hinteren äusseren und inneren fast planen Fläche, welcher an 
seinem freien Ende in ein ovales Capitulum (c) angeschwollen 
ist. Die horizontale Portion nimmt in sagittaler Richtung an 
Breite (von 7’zu 8 Mm.) zu und in transversaler Richtung von 
innen nach aussen (von 3—5 Mm. zu 1—2 Mm.) an Dicke ab. 
Die stumpfe Zacke am äusseren Rande ist 2:5 Mm., das Tuber- 
culum an der unteren Fläche ist 6 Mm. in sagittaler und 8 Mm. 
in transversaler Richtung dick. Die aufsteigende Portion nimmt 
gegen das Capitulum bis 3 Mm. an Dicke ab, ist am 5—6 Mm. 
langen Capitulum aber wieder bis 4 Mm. dick. Der Abstand 
der Enden des rechten Cornu majus ist um : Mm. kürzer als 
derselbe des linken Cornu. 

Larynx. Die Cartilago thyreoidea ist deform. Ihr oberer 
Rand weiset gegen die Norm zwischen der Incisura media und 
den Incisurae laterales an jeder Lamina einen fast geradlinigen, 
schwach schräg aus- und rückwärts aufsteigenden Abschnitt 
auf. An der Grenze zwischen diesem Rande und der Incisura 
media findet sich ein stumpfer Winkel; an der Grenze aber 
zwischen demselben Rande und den Incisurae laterales, schräg 
vorwärts über dem Tuberculum laminae an der linken Lamina 
eine kurze dreiseitige Zacke, an der rechten Lamina sogar ein 
starker Processus vor. Auch ist die Stellung des rechten 
Cornu majus eine abnorme. 

Der Processus anomalus der rechten Lamina (f) erhebt 
sich wie die angegebene kleine Zacke an der linken Lamina, 
zwischen dem fast geradlinigen Abschnitte des oberen Randes 
und der Ineisura lateralis, schräg vor und über dem Tuberculum 
Jaminae, mit einer dreiseitig-prismatischen Basis, die eine vor- 
dere äussere, hintere äussere und innere Seite aufweiset,. Er 
steigt etwas schräg rückwärts zum Tuberculum anomalum des 
Cornu majus des Os hyoideum aufwärts, ist an seiner Mitte 
fast cylindrisch und wie eingeschnürt und endet etwas ange- 
schwollen und abgestutzt. An diesem Ende hat er eine sattel- 
förmige in transversaler Richtung concaye und in sagittaler- 
Richtung convexe Gelenkfläche (8) zur Articulation mit dem 
genannten Tuberculum anomalum am Os hyoideum. 

Dieser Processus hat folgende Durchmesser: Höhe 8 Mm. 
Dicke an der Basis in sagittaler Richtung 9-10 Mm., Dicke an 
der Basis in transversaler Richtung vorn 2 Mm., hinten 5 Mm., 
Dicke am Ende in sagittaler und transversaler Richtung je 8 Mm. 

Der Processus anomalus ist mit dem Tuberculum anomalum 
des Cornu majus des Os hyoideum durch eine starke aber 
straffe Gelenkkapsel (y) vereiniget, die eine vollständige Be- 
wegung des Os hyoideum auf dem genannten Processus ano- 


Ueber eine congenitale Artieulatio u. s. w. 755 


malus oder dieses am Os hyoideum in sagittaler Richtung, aber 
nur eine geringe Bewegung in transversaler Richtung gestattet. 
Das supernumeräre Gelenk — Articulatio hyo-thyreoidea — 
(e, /, &, 8, y) ist daher ein Ginglymus. 

Das linke Cornu majus hat die gewöhnliche schräge Rich- 
tung, das rechte (9) aber hat eine verticale Richtung. Ersteres 
ist 11—12 Mm., letzteres 9—10 Mm. lang, jenes auch etwas 
stärker als dieses. 

Das Ligamentum hyo-thyreoideum medum verhält sich 
wie gewöhnlich; das Lig. hyo-thyreoideum laterale der rechten 
Seite ist 1’6 Ctm., das der linken Seite 1'8 Ctm. lang. Die 
Ligamenta hyo-thyreoidea lateralia enthalten kein Corpuseulum 
triticeum. 

Die rechte Hälfte des Spatium hyo-thyreoideum, seitwärts 
vom Lig. hyo-thyreoideum medium, ist durch den Processus 
anomalus der Cartilago thyreoidea in eine vordere und hintere 
Lücke geschieden. Die medianwärts vom Lig. hyo-thyreoideum 
medium seitwärts vom Processus anomalus u. s. w. begrenzte 
vordere Lücke ist abgerundet-dreiseitig; die vorn vom Processus 
anomalus der Cartilago thyreoidea, hinten von dem Cornu majus 
derselben und dem Lig. hyo-thyreoideum laterale, oben von der 
aufsteigenden Portion des rechten Cornu majus des Os hyoideum 
und unten von der Incisura lateralis der rechten Lamina der 
Cartilago thyreoidea begrenzte hintere Lücke ist elliptisch, in 
verticaler Richtung 2'4 Otm. und in sagittaler Richtung bis 
2 Mm. weit. 

Das Tubereulum und die Linea obliqua sind an beiden 
Laminae der Cartilago thyreoidea gut ausgesprochen. Die linke 
Lamina weiset unter und hinter dem Tuberculum und 8 Mm. 
abwärts von der Ineisura lateralis superior das bekannte Loch 
für die Arteria laryngea superior auf; die rechte Lamina besitzt 
deren zwei für Aeste derselben Arterie, wovon eines vor dem 
Tubereulum in fast gleicher Höhe mit der Incisura lateralis 
superior, das andere 7—8 Mm. tiefer hinter der Linea obligqua 
und an der Mitte zwischen dem Cornu majus und minus sitzt. 

Der‘ Angulus, die Processus und Incisurae am unteren 
Rande und die hinteren Ränder der Cartilago thyreoidea ver- 
halten sich wie gewöhnlich. 

Messungen der Cartilago thyreoidea ergeben folgende 
Durchmesser: Höhe an Angulus 1’5 Ctm., Höhe der Laminae 
im Bereiche des grössten Vorsprunges des oberen Randes in 
einer vor dem Tuberculum und hinter dem Processus des un- 
teren Randes gezogen gedachten Linie an der rechten Lamina 
3-2 Ctm., Höhe an der linken Lamina 25 Ctm., Höhe zwischen 
dem Ende des Processus anomalus am oberen Rande und der 
Spitze des Processus des unteren Randes an der rechten La- 
mina 3'3 Ctm., Höhe zwischen der Zacke am oberen Rande 
und dem Processus am unteren Rande an der linken Lamina 


48” 


756 Wenzel Gruber: 


2-5 Ctm., Höhe zwischen den Spitzen der Cornua jeder Lamina 
2:5 Otm. 

‘ Die Cartilago thyreoidea ist frühzeitig ossifieirt: am Pro- 
cessus anomalus, an einem Punkte unterhalb des Cornu majus 
der rechten Lamina, an einer kleinen Stelle des hinteren Randes 
jeder Lamina, längs beiden Incisurae laterales inferiores an den 
Processus des unteren Randes und an den Cornua inferiora. 

Die übrigen Cartilagines und die Musculatur zeigen nichts 
Ungewöhnliches. Die Insertion des Musculus hyo-thyreoideus 
der rechten Seite war am Os hyoideum, vorwärts von der 
Artieulatio hyo-thyreoidea anomala vor sich gegangen. Die 
Arteria lingualis dextra hatte wie gewöhnlich über dem Cornu 
majus hinter dem M. hyo-glossus ihren Verlauf genommen. 
Der Nervus laryngeus superior dextra war hinter dem Pro- 
cessus anomalus in den Kehlkopf gedrungen. 

Einen diesem Falle ähnlichen Fall hat Luschka!) er- 
wähnt und abgebildet. Die anomale Articulation war an einem 
männlichen Kehlkopfe der linken Seite vorgekommen. Das 
Cornu superius der Lamina dieser Seite fehlte. Im langen 
Lig. hyo-thyreoideum laterale, nicht weit abwärts vom Capitu- 
lum des Os hyoideum, war ein Corpusculum triticeum, welches 
Luschka für das abgelöste Cornu superius der Cartilago thy- 
reoidea deutete, eingeschlossen. 


Erklärung der Abbildungen. 
Kie.T.0® 
Weiblicher Larynx mit dem Os hyoideum (Ansicht von vorn bei 
aufgehobenem Os hyoideum). N 
ie. 2 


g- 2. 
Dasselbe Präparat. (Ansicht von der rechten Seite.) Bezeichnung 
für beide Figuren: 
. Cornu majus der rechten Seite des Os hyoideum, 
Horizontale Portion. 
Schräg rückwärts aufsteigende Portion. 
Ovales Capitulum. 
Stumpfe Zacke am äusseren Rande. 
Tuberculum anomalem an der unteren Fläche. 
Processus anomalus des oberen Randes der rechten La- 
mina der Cartilago thyreoidea. 
Cornu majus der rechten Lamina der Cartilago thyreoidea. 
Sattelförmige Gelenkfl. am Tubereulum des Os hyoideum, 
Sattelförmige Gelenkfläche am Ende des Processus ano- 
malus der Cartilago thyreoidea. 
y. Capsula hyo-thyreoidea anomala. (Vorn geöffnet.) 


Institut £. d. practische Anatomie. 
St. Petersburg i. Juni 1876. 


BR mrÄaSTsh 


5 1) Der Kehlkopf d. Menschen. Tübingen 1871. S. 69. Tab, V. 
ig. 14. 


Ein Musculus 
cleido-cervicalis s. trachelo-clavicularıs imus. 
Von 


Dr. WENZEL GRURER, 
Professor der Anatomie in St. Petersburg. 


Zur Beobachtung gekommen am 9. Januar 1869 an der 
rechten Seite der Leiche eines Jünglings. 

Ein schmaler, dünner, an beiden Enden kurzsehniger, 
bandförmiger Muskel. 

Ursprung. Vom Höcker des vorderen Querfortsatzes des 
sechsten Halswirbels-Tuberculum caroticum Chassaignac. — 

Verlauf. Schräg ab-, aus- und vorwärts, zuerst hinter 
dem Cleido-mastoideus, dann 4 Mm. aus- und rückwärts von 
demselben; dann vor der Zwischensehne des Omohyoideus und 
vor den Gefässen des Trigonum omo-claviculare zur Clavicula. 

Ansatz. Am hinteren oberen Rande der Clavicula, 4 Ctm. 
von der Articulatio sterno-clavicularis auswärts, neben dem 
Cleido-mastoideus, also noch am inneren Drittel der Länge der 
Clavicula, oder an der Verbindung des inneren mit dem mitt- 
leren Drittel. 

Grösse. Seine Länge betrug 5°5 Ctm.; seine Breite 4 Mm.; 
seine Dicke 1—2 Mm. 

Bedeutung. Einen gleichen, davon nur durch seine Länge 
und etwas grössere Stärke verschiedenen Muskel hatte meines 
Wissens nur noch W. G. Kelch!) an der rechten Seite eines 
männlichen Körpers, dem beide Omo-hyoidei fehlten, beobachtet. 
Der Muskel dieses Falles war 6 Mm. breit und hatte sich an 
der unteren Fläche des Schulterendes der Clavicula befestiget. 
Der Muskel beider Fälle ist als ein auf die Olavicula verirrter 
supernumerärer Scalenus zu nehmen. Weil er in Kelch’s 
Falle an das Arcomialende der Olavicula sich inserirte, ist 


1) Beiträge zur pathologischen Anatomie. Berlin 1813. 8° min 
S. 32. Nr. XXIV. 


Ei ) "le 
in Musculus 


man noch nicht Becher ihn als Analogen des von den < Ale 
Halswirbeln kommenden und an die Extremitas acromialis nn F 


thiere, der zum Levator ne in cha steht, zu er 
klären. A 


Institut f. d. practische Anatomie. 
. St. Petersburg i. Juni 1876. 


Vorkommen des Musculus cleido-mastoideus als 
Musculus cleido-epistrophicus. 
Von 


Dr. WENZEL GRUBER, 


Professor der Anatomie in St. Petersburg. 


Mir ist dieser Fall im Januar 1855 an der Leiche eines 
Mannes zur Beobachtung gekommen. 
Der Musculus sterno-cleido-mastoideus war an beiden Seiten 


in die gewöhnlichen Portionen: Sternalportion — M. sterno- 
mastoideus — und QClavicularportion — M. cleido-mastoideus — 
geschieden. 


Der M. cleido-mastoideus inserirte sich wie der Muskel 
der Norm an der Clavicula, aber er entsprang nicht vom 
Processus mastoideus, sondern mit einer platt-rundlichen, 
schmalen Sehne vom Querfortsatze des Epistropheus. 

Ob diese Abweichung beiderseitig oder nur einseitig exi- 
stirt hatte, weiss ich, nach 21 Jahren, nicht mehr mit voller 
Sicherheit anzugeben, da in der Notiz über diese Beobachtung 
in dem XVII. Hefte meiner Jahresbücher darüber nichts ver- 
zeichnet ist. Jedenfalls muss der Cleido-mastoideus, abgesehen 
von seinem Ursprunge, sich ähnlich wie der Muskel der Norm 
verhalten haben, weil, wenn dieses nicht der Fall gewesen wäre, 
sicher eine Angabe darüber gemacht worden wäre. 

In diesem Falle ist somit der Cleido-mastoideus mit ge- 
wöhnlicher Insertion selbst als Cleido-epistrophicus auf- 
getreten. Ich erwähne dieser Beobachtung jetzt, weil seine 
Kenntniss für die Deutung des supernumerären Oleido-epistro- 
phieus, welchen ich in einem anderen Artikel abhandele, von 
Wichtigkeit ist. 

R. Owen!) giebt an, dass er bei einem Orang-Utang den 
Cleidaltheil des Sterno-cleido-mastoideus an den Querfortsatz des 
Epistropheus ansetzen gesehen hatte. Owen scheint mit die- 
sem Qleidialtheil beim Orang-Utan wohl nicht den Olavio- 


1) On the anatomy of Vertebrates. Vol. III. London 1868. p. 53. 


760 Wenzel Gruber: 


trachelien — Duvernoy — gemeint zu haben wie. wirklich 
W. Vrolik) in Betreff des Muskel vom Querfortsatze 
des zweiten Halswirbels zur Clavicula neben dem Acromion, 
weil G. Cuvier et Laurillard?) beim Orang-Utan nebst dem 
Sterno-cleido-mastoideus mit einer Sternal- und Clavicular- 
portion auch den Acromio-trachelien abgebildet haben und 
Duvernoy°) bei demselben Thiere nebst einem Sterno-cleido- 
mastoideus mit einer Sternal- und doppelten Clavicularportion 
auch einen Ülavio-trachelien unterscheidet, der sich an die 
Extremitas acromialis der Olavicula und etwas an das Acromion 
befestiget, und nach ihm, wie beim Gorilla, wohl vom Tuber- 
culum anterius des Atlas entspringt. 

Hätte Owen unter dem Cleidaltheil des Sterno- cleido- 
mastoideus beim Orang-Utan den Cleido-mastoideus wie z. B. 
Cuvier und Duvernoy verstanden, so würde beim ÖOrang- 
Utan der gewöhnliche Cleido-mastoideus auch, und wohl aus- 
nahmsweise, als Cleido-epistrophicus, wie in meinem Falle beim 
Menschen vorkommen können. Dieser Cleido-epistrophicus 
beim ÖOrang-Utan würde ganz verschieden sein von Vrolik’s 
Cleido-epistrophicus dieses Thieres, welcher analog dem Cleido- 
cervicalis (Levator claviculae Tyson, Acromio-trachelien Cuvier, 
Olavio-trachelien Duvernoy) bei den Affen und anderen Säuge- 
thieren. 


Institut f. d. practische Anatomie. 
St. Petersburg i. Juni 1876. 


1) Recherches d’anat. comp. sur le Chimpanse. Amsterdam 1841. 
Fol. p. 25. 

2) Anat. comparee recueil de planches de myologie. Paris 1849. 
Fol. Pl. XV. Fig. 2. bb‘, d. 

3) Des characteres anatomiques des grands singes pseudoanthro- 
pomorphes Mem. III. — Arch. du Museum d’hist. nat. Tom. VIII. 4°, 
Paris 1855—1856, p. 175—176. — 


Ein Musculus cleido-atlantieus. 


Von 


Dr. WENZEL GRUBER, 


Professor der Anatomie in St. Petersburg. 


Zur Beobachtung gekommen an der linken Seite eines 
Mannes im November 1862. 

Ein sehr langer und schmaler Muskel. 

Ursprung. Vom Processus transversus des Atlas, ueben 
der Zacke des Scalenus medius medianwärts, mit einer 1-2— 
15 Otm. langen, strangförmigen Sehne. 

Verlauf. Fast gerade abwärts zur Clavicula, zuerst hinter 
dem Cleido-mastoideus, dann neben diesem im vorderen Winkel 
des Trigonum omo-trapezoideum und, nach Kreuzung des un- 
teren Bauches des Omo-hyoideus, über dem Trigonum omo- 
claviculare in abwärts allmählich zunehmender Distanz vom 
Cleidomastoideus, zur Clavicula. 

Ansatz. An die Clavicula 1:3—2 Ctm. auswärts vom An- 
satze des Cleido-mastoideus, mit einer membranartigen Sehne. 

Bedeutung. Der Muskel ist verschieden von dem von 
M.’Whinnie!) erwähnten Cleido-atlanticus. Letzterer wird durch 
die erste vom Atlas entspringende, anomaler Weise mit dem 
vorderen Rande des Cucullaris an die Clavicula inserirte und 
als ein. besonderer Muskel abgelöste Portion des Levator anguli 
scapulae repräsentirt; er wird auch vom Verfasser als Analogon 
des Levator claviculae — Tyson — beim Örang-Utang und 
anderen Thieren gedeutet. M.’Whinnie’s Üleido-atlanticus 
ist also eine selbstständig gewordene Zacke des Levator 
anguli scapulae und eine Thierbildung; unser Cleido- 
atlanticus aber ist ein abirrendes und selbstständig gewordenes 
Bündel des Oleido-mastoideus und keine Thierbildung. 


Institut f. d. practische Anatomie. 
St. Petersburg i. Juni 1876. 


1) The London medical Gazette. New-Series. Vol. II. London 
1846. p. 194. 


Beiträge zur Lehre von der Leukämie. 


Von 


Dr. GEORG SALOMON, 


erstem Assistenten an der medicinischen Universitätsklinik zu Berlin. 


Unter den zahlreichen Publicationen über Leukämie, welche 
uns die letzten Jahre gebracht haben, befindet sich nur eine 
einzige, die sich mit chemischen Fragen beschäftigt. Die 
Gründe dieser Erscheinung treten bald zu Tage, wenn man die 
Literatur bis zum Jahre 1870 einer Durchsicht unterzieht. 
£ine Zeit lang war durch Mosler’s zahlreiche Mittbeilungen 
ein gewisses Interesse für das Hypoxanthin, als einen für die 
lienale Leukämie charakteristischen Harnbestandtheil, wach 
erhalten worden. Durch Salkowski’s eingehende Unter- 
suchungen!) büssten nun Mosler’s und seiner Schüler Befunde 
ihre Stütze ein und das Interesse für die Xanthinkörper nahm 
ab, um so mehr, als ihr spärliches Vorkommen sie zu einem 
ziemlich undankbaren Untersuchungsobject machte. Der Haupt- 
repräsentant dieser Gruppe, nämlich die Harnsäure, war zur 
Genüge studirt, und ihr vermehrtes Auftreten im Harn von 
verschiedenen Forschern constatirt worden, ohne dass damit 
ein sicherer Gewinn für das Verständniss des Krankheits- 
processes erzielt worden wäre. Die Resultate schienen eben 
der angewandten Mühe nicht zu entsprechen und naturgemässer 
Weise trat die aussichtsreichere mikroskopische Forschung in 
den Vordergrund. 

Was bis zum Jahre 1870 über die chemische Zusammen- 
setzung des leukämischen Blutes und Harnes bekannt geworden 
war, findet man bei Salkowski?) zusammengestellt, und be- 
gnügen wir uns auf seine Abhandlung zu verweisen. In der 
leukämischen Milz hatte Scherer schon vor geraumer Zeit 
Glutin, Hypoxanthin, Milchsäure und Harnsäure nachgewiesen. 


1) Virchow’s Archiv. Bd. L. 
2) A.a. OÖ 


dan art 


u a. = mg 


Beiträge zur Lehre u. s. w. 163 


Salkowski selbst fand im leukämischen Blut Milchsäure, 
Hypoxanthin, Xanthin, Ameisensäure, Essigsäure und eine 
phosphorhaltige organische Säure (vielleicht Glycerinphosphor- 
säure); ausserdem einen Körper von den physikalischen Eigen- 
schaften des Glutins, der aber beim Zersetzen mit Schwefel- 
säure kein Glycocoll lieferte. lm Harn constatirte er neben 
Vermehrung der Harnsäure das Vorkommen eines dem Hypo- 
xanthin nahestehenden Körpers, den er aber cebensowohl aus 
normalem Harn darstellen konnte. Reichardt!) bestätigte 
‚den Befund für das Blut, vermisste jedoch die Milelısäure; 
nebenbei fand er einen bisher noch unbeschriebenen Körper, 
das „Albukalin“. Im Harn sah er die Menge der Harnsäure 
‚ebenfalls gesteigert; Hypoxanthin fand er nicht. — Die Arbeit 
von Gorup-Besanez, welche erst drei Jahre später erschie- 
nen ist,?2) beschäftigt sich nur mit dem leukämischen Blut. 
G. untersuchte mit positivem Erfolge anf Glutin und Hypo- 
xanthin, mit negativem auf Milchsäure. Um gewöhnliches 
Glutin konnte es sich übrigens auch in seinem Falle nicht 
handeln, da bei der Untersuchung im Polarisationsapparat eine 
Linksdrehung nicht nachzuweisen war. 

Die nachfolgenden Untersuchungen schliessen sich denen 
‚der oben genannten Autoren an und liefern weitere Beiträge 
zu der noch allzu spärlichen Casuistik. Sie beschäftigen sich mit 
dem Nachweis des Glutins, der Milchsäure und des Hypoxanthins 
in. Milz, Blut und Harn leukämischer Individuen und bringen 
eine kleine -Anzahl quantitativer Bestimmungen dieser Körper, 
so genau ausgeführt, wie es das complicirte Darstellungsver- 
fahren eben zuliess. Das Material und zugleich auch die An- 
regung zu diesen Studien boten zwei Fälle von lienaler Leu- 
kämie, die im Lauf der Jahre 1875 und 1876 im städtischen 
allgemeinen Krankenhause behandelt wurden und beide im 
Frühjahr 1876 zur Obduction kamen. Meinem damaligen 
Chef, dem ärztlichen Director der inneren Abtlıieilung Hrn. 
Dr. Riess, bin ich für die liberale Ueberlassung der Kranken- 
geschichten, sowie für manchen freundlichen Rath zu grossem 
Dank verpflichtet. 

Objecte der chemischen Analyse waren in dem einen von 
mir selbst klinisch beobachteten Falle Harn, Milz und Blut, in 
dem anderen ausschliesslich das Blut. Letzteres war in beiden 
Fällen der Leiche entnommen. Während des Lebens eine 
Blutentziehung vorzunehmen, erschien aus ärztlichen Rücksichten 
unzulässig, um so mehr, weil die Blutmenge, die man aus 
einigen Schröpfköpfen oder durch einen gewöhnlichen Aderlass 
erhält, für unsere Zwecke doch nicht genügt haben würde. 
Zur Controle der am leukämischen Blut gewonnenen Resultate 
diente eine grosse Quantität Blut, die. aus der Pleurahöhle 


1) Jenaische Zeitschr. Bd. V. S. 389. 
2) Sitzungsber. der phys. med. Soc. zu Erlangen. 1873, 


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764 G. Salomon: 


eines nicht leukämischen, an carcinomatöser Pleuritis leidenden 
Individuums durch Thoracocentese entleert worden war. 

Die Methoden zur Trennung, Reindarstellung und Prüfung 
der einzelnen Substanzen sind die von Salkowski angewandten. 
Ich kann hinsichtlich ihrer Begründung auf seine oben eitirte 
Abhandlung verweisen und beschränke mich hier auf eine 
kurze Skizze des Untersuchungsganges. 

I. Prüfung auf Glutin, vorgenommen am wässrigen 
Auszug der Milz und am Blut. — Die in bekannter Weise 
enteiweissten Flüssigkeiten wurden eingedampft, mit Alkohol 
gefällt, der Niederschlag mit Alkohol gewaschen, zwischen 
Fliesspapier abgepresst und zur Prüfung der Quellungsfähigkeit 
mit kaltem Wasser übergossen; dann wurde das Product durch 
Anwärmen gelöst, mit Bleiessig von Farbstoffen und Eiweiss- 
resten befreit, das Filtrat vom Bleiniederschlag entbleit, die 


Reaction gegen Tannin geprüft. In einem Falle wurde zur . 


Darstellung von Glycocoll eine Zersetzung mit Schwefelsäure 
vorgenommen. Auf optische Untersuchungen musste wegen 
allzu dunkler Färbung der Lösungen Verzicht geleistet werden. 

Il. Prüfung auf Harnsäure, Hypoxanthin und 
Xanthin, vorgenommen am wässrigen Auszuge der Milz, am 
Blut und am Harn. — Die alkoholischen Extracte (vgl. oben) 
wurden eingedampft, die Rückstände in H,O gelöst, zur Aus- 
fällung der Phosphate mit ammoniakalischer Magnesiamischung, 
seltener mit Ammoniak versetzt,!) das Filtrat mit ammonia- 
kalischer Silberlösung gefällt, der flockige, die Xanthinkörper 
enthaltende Niederschlag auf dem Filter bis zum Verschwinden 
der Chlorreaction gewaschen, in Wasser fein vertheilt, mit H,S 
zerlegt, heiss filtrirt.°) Das Filtrat vom Schwefelsilber zur 
Trockne gedampft, mit SO, (1:30) in der Wärme extrahirt, 
der ungelöste Rückstand (Harnsäure) der Murexidprobe unter- 
worfen. Das Filtrat ammoniakalisch gemacht, auf’s Neue mit 
AsNO, gefällt, der Niederschlag bis zum Verschwinden der 
SO,-Reaction gewaschen, in einen Kolben gebracht und nach 
Neubauer’s Verfahren) in heisser Salpetersäure gelöst; beim 
Erkalten fiel etwa vorhandenes Hypoxanthin als salpetersaures 
Silber-Hypoxanthin in mikroskopischen Krystallen (Büscheln 


1) Beim Harn bildete die Ausfällung der Phospbate den Anfang 
des ganzen Verfahrens; es folgte darauf, wie beim Blut, die Fällung 
der Filtrate mit ammoniakalischer Silberlösung u. s. w. 

2) Hierbei geht fast immer Schwefelsilber durch’s Filter. Im 
späteren Verlauf meiner Arbeiten habe ich daher stets nach Sal- 
kowski’s Rath mit dem Schwefelsilber zur Trockne gedampft und 
den Rückstand mit heissem Wasser behandelt. In einzelnen Fällen 
habe ich dieses Verfahren mehrmals wiederholen müssen, ehe es ge- 
lang alles Silber zu entfernen. 

3) Neubauer und Vogel, Anleitung zur Analyse des Harns. 
6. Aufl. S. 24. 


en ne I 


Beiträge zur Lehre u. s. w. 765 


langgestreckter, zuweilen fast nadelähnlich schmaler rhombischer 
Prismen) aus, meist verunreinigt mit etwas Xanthin. Nach 
Feststellung der Krystallform wurde mit H,S zerlegt, heiss 
filtrirt, unter Zusatz von NH, eingedampft, mit heissem Wasser 
aufgenommen; beim Erkalten fiel Hypoxanthin in mikro- 
skopischen Krystallen aus. — Das Filtrat vom salpetersauren 
Silber-Hypoxanthin wurde mit NH, übersättist, ein etwa ent- 
standener flockiger Niederschlag (Xanthinsilber) mit H,S zer- 
legt, heiss filtrirt, eingedampft, mit NH, aufgenommen; beim 
Verdunsten schied sich Xanthin in gelblichen Blättern ab. 

Es folgten nun die von Salkowski eingehend besprochenen 
Reactionen zur Feststellung der Identität des Xanthins resp. 
des Hypoxanthins. Wie schon oben erwähnt, wurden auch 
quantitative Bestimmungen des Hypoxanthins ausgeführt, deren 
Resultate aber natürlich durch die Zersetzlichkeit der feuchten 
Silberniederschläge häufig beeinträchtigt wurden. Während der 
zeitraubenden Procedur des Auswaschens tritt fast regelmässig 
eine leichte Bräunung ein, und ganz besonders neigen zu einer 
raschen Zersetzung solche Niederschläge, die aus nicht ganz 
frischem Material stammen. Dagegen hält sich salpetersaures 
Silber-Hypoxanthin, das bei gewöhnlicher Zimmertemperatur 
auf dem Filter eingetrocknet ist, wochenlang unverändert. — 

Ill. Prüfung auf Milchsäure, vorgenommen an Milz, 
Blut und Harn. — Das ammoniakalische Filtrat vom ersten 
Silberniederschlage (vgl. oben) wurde mit SO, neutralisirt, vom 
ausgeschiedenen AgCl abfiltrirt, das Filtrat mässig eingedampft, 
stark mit SO, angesäuert, mit viel Aether ausgeschüttelt; der 
Rückstand vom Aether mit kaltem Wasser behandelt, filtrirt, 
das Filtrat durch Eindampfen bis zur Syrupsdicke von flüch- 
tigen Säuren befreit, der Rückstand in Wasser gelöst, mit ZnCO, 
gekocht, wieder filtrirt und zur Krystallisation. stehen gelassen. 
Was nach einigen Tagen ausgeschieden war, wurde mikro- 
skopisch untersucht, endlich der Gehalt an Krystallwasser und 
an Zink festgestellt. Das Zink wurde als kohlensaures Zink 
bestimmt. 

Einige Male wurde die Prüfung auf Milchsäure der auf 
die Xanthinkörper vorangeschickt. Die wässrige Lösung des 
Rückstandes vom alkoholischen Auszuge wurde in diesen Fällen 
sofort mit SO, angesäuert und mit Aether ausgeschüttelt, die 
nach der Aetherbehandlung restirende saure Flüssigkeit mit 
NH, übersättigt, filtrirt, das Filtrat mit AgNO, gefällt u. s. w. 
Die Modification ist für den Erfolg der Untersuchung ohne 
besondere Bedeutung, da die Gegenwart des schwefelsauren 
Ammoniaks bei der Darstellung der Xanthinkörper keinen stö- 
renden Einfluss übt, 

Im Harn wurde theils nach dem oben gegebenen Schema, 
theils direct und ausschliesslich auf Milchsäure gearbeitet. Zur 
Entfernung störender Bestandttheile, wie z. B. der Farbstoffe, 
der Hippursäure, dienten dabei Fällungen mit Bleizucker und 


766 G. Salomon: 


Bleiessig, die theils im Harn selbst, theils in den wässrigen 
Lösungen der Aetherrückstände ausgefübrt wurden. Die ent- 
bleiten Filtrate wurden in der bereits beschriebenen Weise 
weiter behandelt. 


Ich gehe nun zur Mittheilung meiner ersten Kranken- 
geschichte über. 

Anamnese. H. H., ein 27jähriger Cigarrenarbeiter, vom 
18. bis zum 21. Jahre viel mit Geschwüren behaftet, sonst 
gesund, erkrankt im Juni 1874 mit profusen blutigen Diar- 
rhöen, Schmerzen im Leibe, Beklemmungen, allgemeiner Mat- 
tigkeit. Im Winter 74—75 vorübergehende Besserung; Ende 
Januar 75 jedoch bereits Wiederkehr der Beschwerden. Auf- 
nahme ins Krankenhaus am 16. Februar 1875. 

Stat. praes. Kräftig gebauter, jedoch sehr blasser und 
abgemagerter Mann. Enormer, die Linea alba nach rechts um 
6 Ctm. überschreitender, indolenter Milztumor. Maximale Ver- 
mehrung der weissen Blutkörperchen (Verhältniss zu den rothen 
etwa wie 1:2). Drüsen und Knochengerüst ohne wahrnehmbare 
Veränderung. — Häufige blutig-wässrige Stühle; Mattigkeit, 
Schlaflosigkeit, kein Fieber. Ord. Opium, warme Bäder. — 
Rasche Besserung aller Beschwerden; Entlassung am 8. April. 
Beschaffenheit des Blutes und der Milz wie bei der Aufnahme. 

Mehrere Monate vergehen ohne wesentliche Störung. Im 
August plötzliche Verschlimmerung (zunehmende Anschwellung 
des Leibes und der Füsse, Schlaflosigkeit, Mattigkeit). Ende 
September bildet sich unter bedeutenden Schmerzen ein Abscess 
am rechten Kieferwinkel, der den Patienten am 11. October 
zum zweiten Mal der Anstalt zuführt. 

Stat. praes. Abmagerung weiter vorgeschritten; Oedeme 
der Beine, besonders links stark ausgesprochen. Milz noch 
grösser als früher, über die convexe Fläche gemessen 55 Ctm. 
lang. Apfelgrosser Abscess am rechten Kieferwinkel. Blut 
unverändert; systolisches Geräusch am Herzen. — Heftige 
Schmerzen, Schlaf gänzlich fehlend. 

Ineision des Abscesses, von schwer stillbarer Nachblutung 
gefolgt. Einige Tage später Erysipel des Gesichts und des 
Kopfes mit 6tägigem hohen Fieber. Während der Dauer des 
letzteren verkleinert sich die Milz in allen Dimensionen, die 
Länge von 55 auf 39, die Höhe in der Linea alba von 22 auf 
16 Ctm. Das früher starre Organ ist in Folge der Dicken- 
abnahme biegsam geworden. 

Von Ende November bis Ende Januar leidliches Befinden, 
nur grosse Neigung zu Abscessbildungen (im Velum palatinum, 
am Öberkiefer, hinter dem linken Ohr); die Milz wieder grösser. 
Im Februar nimmt die Schwäche des Patienten allmählich zu, 
so dass er das Bett hüten muss. Es stellen sich Athemnoth 
und Stiche in der rechten Seite ein. Am 10, Februar wird 
eine rechtsseitige Bronchopneumonie constatirt. Patient ver- 
fällt rasch und stirbt am 15. Februar Morgens 8 Uhr. 


Beiträge zur Lehre u. s. w. 767 


Section 8 Stunden nach dem Tode. Obd. Dr. Kühne- 
mann. Anatomische Diagnose: Leucaemia lienalis. Tumor 
lienis (Länge 41, Breite 23:5, Dicke 9-5 Ctm.; Gewicht 4390 
Grm.). Tumor hepatis. Endocarditis aortica. Pneumonia catar- 
rhalis lobi inferioris pulmonis dextri. Pleuritis fibrinosa recens 
dextra. Oedema pulmonum. Hydropericardium. 

Das Knochenmark der Claviceula, das Sternum und der 
Rückenwirbel zeigte keine pathologische Veränderung. 

Zur chemischen Untersuchung wurden die Milz, die 
Pericardialflüssigkeit und das Blut gewählt. Letzteres wurde 
mit grosser Sorgfalt gesammelt und zwar in zwei Portionen, 
deren eine (A) den reinen Inhalt des Herzens und der grossen 
Gefässe darstellte, während die andere (B) geringe Beimen- 
gungen von peritonäalem Transsudat enthielt. 


I. Milz. 


. Das blaurothe, sehr derbe Organ wurde unmittelbar nach 
Beendigung der Section in Streifen zerschnitten, fein zerhackt 
und in einem grossen Küchenreibenapf mit einer hölzernen 
Keule portionsweise zu Brei verrieben, eine Operation, die 
nahezu 3 Stunden in Anspruch nahm. Die Masse blieb, mit 
8 Litern Wasser übergossen, an einem kühlen Ort über Nacht 
stehen. Am nächsten Tage wurde durch Leinwand colirt, der 
ausgepresste Rückstand mit Wasser soweit erschöpft, dass nur 
eine faserige, ziemlich zähe Masse zurückblieb. Die vereinigten 
Filtrate wurden, in mehrere Portionen vertheilt, unter Zusatz 
von Essigsäure coagulirt und weiter behandelt, wie oben 
(S. 763) beschrieben. 

Nach dem Eindampfen bis zur dünnen Syrupconsistenz 
erstarrte das enteiweisste Filtrat zu einer festen durchschei- 
nenden Gallerte, deren Oberfläche von einer Krystallhaut über- 
zogen war. Sie wurde durch Anwärmen gelöst und mit starkem 
Alkohol gefällt. Der noch mässig eiweisshaltige Niederschlag 
wurde in Wasser gelöst, mit Bleiessig gefällt; das entbleite 
Filtrat lieferte, vorsichtig eingedampft, eine sehr schöne klare 
gelbliche Gallerte. Letztere wurde von Neuem gelöst, mit 
Alkohol in der Wärme gefällt, nach 24stündigem Stehen der 
Niederschlag gesammelt, gewaschen und abgepresst. Beim 
Uebergiessen mit kaltem Wasser entstand allmählich eine be- 
trächtliche Quellung, und nur ein geringer Theil des Nieder- 
schlages ging mit bräunlicher Farbe in Lösung. 

Da der gequollene Niederschlag noch etwas durch Bleiessig 
fällbare Substanz enthielt, so wurde er noch einmal gelöst 
und mit dem genannten Reagens behandelt. Das entbleite 
Filtrat schien hinreichend rein, um auf Glycocoll verarbeitet 
zu werden. Es wurde 3 Stunden mit Schwefelsäure am Rück- 
Ausskühler gekocht, mit BaCO, neutralisirt, das Filtrat vom 
schwefelsauren Baryt verdünnt, noch einmal mit Bleiessig ge- 
fällt, filtrirt, H,S eingeleitet, das Filtrat vom Schwefelblei zur 


768 G. Salomon: 


Syrupdicke eingeengt. Im Verlauf von 14 Tagen schied sich 
eine geringe Menge sehr harter mikroskopischer Krystalle aus. 
Die Mutterlauge wurde abgegossen, die Krystalle zwischen 
Fliesspapier abgepresst, in heissem Wasser gelöst, mit CuO 
gekocht, filtrirt, die dunkelblaue Lösung eingedampft. Es bil- 
deten sich im Verlauf einiger Tage mikroskopische Krystalle 
von der Form langgestreckter rhombischer Prismen. (Glycocoll- 
Kupferoxyd.) Hiernach konnte der Nachweis des Glycocolls 


als erbracht angesehen werden. Von einer optischen Unter- 


suchung hatten wir, wie bereits oben erwähnt, Abstand nehmen 
müssen. 

Die vom Glutin abfiltrirte alkoholische Lösung hinterliess 
beim Verdunsten einen reichlichen braunen Rückstand, der in 
Wasser gelöst und zunächst durch Fällen mit Bleizucker, 
Filtriren, Entbleien und nochmaliges Filtriren gereinigt wurde. 
Im Filtrat wurden nach dem oben geschilderten Verfahren 
Xanthinkörper und Milchsäure aufgesucht. Es ergab sich, dass 
bei der Behandlung mit dreiprocentiger Schwefelsäure Nichts 
ungelöst blieb, Harnsäure also nicht vorhanden war. 
Die Thatsache war um so auffallender, als ein ungewöhnlich 
grosses Material in Arbeit genommen war. In dem Bleizucker- 
niederschlag konnte die Harnsäure nicht wohl vermuthet werden, 
da sie nur nach langem Stehen in diesen überzugehen pflegt. 
Eine Untersuchung des Niederschlages fiel denn auch, wie zu 
erwarten war, negativ aus. Dem Darstellungsverfahren eine 
Schuld beizumessen lag natürlich noch weniger Grund vor, da 
die Methode der Silberfällung an Feinheit sicher von keiner 
Art des U-Nachweises übertroffen wird. Dass bei der gewöhn- 
lichen Methode der Harnsäurebestimmung mittelst Zusatz von 


Salzsäure nicht unerhebliche Mengen von U gelöst bleiben, die 
durch ammoniakalische Silberlösung leicht gefällt werden, ist 
durch Salkowski’s Untersuchungen hinlänglich bekannt ge- 
worden. Ich kann aber ausserdem noch einen directen Beweis 
für die Genauigkeit der Silbermethode beibringen. Es gelang 
mir mit ihrer Hülfe eine kleine Menge sehr schöner Harnsäure- 
krystalle aus dem Blute eines durch Halsschnitt getödteten 
Hahnes darzustellen, während Meissner!) zu dem gleichen 
Zwecke das Blut von 10—18 Exemplaren verwenden musste 
und Pawlinoff?) bei der Untersuchung des Blutes von 13, 
resp. 20 und 41 Hühnern nur in dem ersten Falle ein positives 
Resultat erhielt. Die Harnsäure war allerdings, wie dies bei 
kleinen Mengen nicht selten vorkommt, mit in die schwefelsaure 
Lösung übergegangen, hatte sich aber nach 24stündigem Auf- 
bewahren in der Kälte ausgeschieden. Es erhellt daraus, dass 
die letztgenannte Vorsichtsmaassregel sorgfältige Berücksichti- 
gung verdient. Sie ist für alle zweifelhaften Fälle unerlässlich 


1) Henle’s und Pfeufer’s Zeitschr. (3) XXXI, 144—223, 
2) Centralbl. f. d. med. Wissensch. 1873. Nr. 16. 


a ac 


Beiträge zur Lehre u. s. w. 769 


und wurde auch bei der Untersuchung der Milz nicht ausser 
Acht gelassen. 

Keine Schwierigkeiten bereitete dagegen der Nachweis des 
Hypoxanthins. Es wurde eine beträchtliche Menge der salpeter- 
sauren Silberverbindung dargestellt und zunächst. die characte- 
ristische Beschaffenheit der mikroskopischen Krystallform con- 
statirt; darauf wurde durch Zerlegen des Doppelsalzes mit H,S 
das Hypoxanthin für sich gewonnen. Es stellte ein hellgelb- 
liches, aus sehr kleinen mikroskopischen Krystallbüscheln zu- 
sammengesetztes Pulver dar, das sich leicht in Salpetersäure, 
ziemlich leicht auch in NH, löste. Beim vorsichtigen Ein- 
dampfen mit Salpetersäure entstand eine blassgelbe Färbung; 
der Rückstand zeigte die Krystallformen des salpetersauren 
Hypoxanthins.') Beim Eintragen in ein Gemisch von Chlor- 
kalk und Natronlauge trat keine Grünfärbung auf. — Die 
Menge des Hypoxanthins wurde zu 0'238 Grm. bestimmt. 

Xanthin erhielt ich durch Zerlegung des Silbersalzes in 
geringer Menge als gelbe Krystallhaut. Die Gelbfärbung rührte 
jedenfalls von zu starker Einwirkung der Salpetersäure und 
dadurch bedingter Bildung eines Nitrokörpers her; ich habe 
sie niemals ganz vermeiden können. 

Das Filtrat vom ersten Silberniederschlag der Xanthin- 
körper wurde nicht dem Schema entsprechend sofort auf Milch- 
säure geprüft, sondern erst eine andere Untersuchung voran- 
geschickt. Nach dem Entsilbern setzte nämlich die mässig 
eingedampfte Flüssigkeit im Verlauf einiger Tage eine dunkel- 
gefärbte Krystallmasse ab. Diese wurde von der Mutterlauge 
getrennt, gut abgepresst und unter Zufügen von Thierkohle mit 
heissem Alkohol behandelt. Das Filtrat hinterliess beim Ver- 
dunsten eine blättrige Masse, mikroskopisch zusammengesetzt 
aus blassen fetttropfenähnlichen Kugeln, allem Anschein nach 
Leuein. — Der Rückstand von der Alkoholbehandlung löste 
sich leicht in NH,. Die Lösung lieferte beim Verdunsten eine 
fast weisse, aus feinen mikroskopischen Nadelbüscheln zusammen- 
gesetzte Krystallmasse, deren Lösung beim Kochen mit saurem 
salpetersaurem Quecksilberoyxd einen rothen Niederschlag gab. 
Die Piria’sche Tyrosinprobe (Bildung von Tyrosinschwefelsäure) 
misslang zwar; indessen glaubte ich mit Rücksicht darauf, dass 
schon von anderer Seite gelegentlich ein Fehlschlagen dieser 
Reaction beobachtet worden ist, den Nachweis von Tyrosin auch 
ohne sie für genügend erachten zu dürfen. Das Gewicht des 
trocknen Tyrosins betrug 0808 Grm. 

Die vom Leuein und Tyrosin abgegossene Mutterlauge 
wurde äusserer Umstände halber erst mehrere Monate später 
auf Milchsäure verarbeitet und zwar mit negativem Erfolg. 


1) Vgl. dieAbbildung bei Frey. (Das Mikroskop, Leipzig 1873, 
S. 280. 


Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 49 


TO G. Salomon: 


Der Grund lag möglicherweise in einer Zersetzung des in 
relativ starker Verdünnung aufbewahrten Präparats. 


Il. Blut. 


A. Reines Blut aus dem Herzen und den Ge- 
fässen (1555 Cetm.) Die schmutzig himbeerrothe mit zahl- 
reichen gelben wurstartigen Gerinnseln untermischte klumpige 
Masse wird 24 Stunden p. m. im Reibenapf zerquetscht und 
unter Zusatz von Essigsäure in siedendes Wasser eingetragen. 
Weitere Bearbeitung nach S. 763 ff. 

Glutin wurde nicht gefunden, ebensowenig Harnsäure. 

Die Menge des Hypoxanthins (aus dem Gewicht der schön 
krystallisirten salpetersauren Silberverbindung berechnet) betrug 
0'116 Grm. Eine Zerlegung der letzteren zur Darstellung des 
Hypoxanthins wurde nicht vorgenommen. 

Das Filtrat vom salpetersauren Silber-Hypoxanthin gab, 
mit NH, übersättigt, einen flockigen Niederschlag, vermuthlich 
Xanthinsilber. 


Sehr reich war die Ausbeute an Milchsäure. Das nach 


S. 764 dargestellte milchsaure Zink, ein schneeweisses Pulver, 
wog 1'5 Grm., woraus sich ein Procentgehalt an Milchsäure 
von 0'064 ergiebt. Die mikroskopische Krystallform entsprach 
der von Hoppe-Seyler') gegebenen Beschreibung; es waren 
wohlgebildete mitunter etwas bauchige vierkantige Säulen, 
theils isolirt, theils in Drusen angeordnet. Dazwischen kamen 
vereinzelte radiär angeordnete Nadelbüschel vor, von denen ich 
nicht zu entscheiden wage, ob sie die Zinkverbindung der von 
Salkowski erwähnten phosphorhaltigen Säure oder einfach 
eine andere Krystallform des milchsauren Zinks darstellten. 
Wahrscheinlicher ist mir letztere Annahme, da man bei 


‘schnellem Verdunsten das milchsaure Zink gar nicht selten: 


in ähnlicher Form sich abscheiden sieht. 

Um die Identität der Milchsäure sicher zu stellen, nahm 
ich eine Bestimmung des Krystallwassers und des Zinkgehaltes 
vor. Hierbei musste sich zugleich ergeben, ob es sich um 
Gährungs- oder Fleischmilchsäure handelte, da das Zinksalz 
der ersteren mit 3 Mol., das der letzteren mit 2 Mol. Kırystall- 
wasser krystallisirt. 
ZnO. Krystallwasser. 
‘Gefunden: 33°3 pCt. des wasserfreien Salzes 131 pCt. 


Berechnet: 33°4 pCt. des wasserfreien Salzes 12'3 pCt. (F.) 
15:2 pCt.(G.) 


Hiernach war die Gegenwart von Milchsäure und zwar 
von Fleischmilchsäure im Blut mit hinreichender Sicherheit 
bewiesen. 

B. Blut mit Transsudatflüssigkeit vermengt. (1000 
‘Cetm.) Gleichmässig graurothe gut coagulirte Masse. Beginn der 


1) Handb. d. physiol.-chem. Analyse. 3. Aufl. S. 89. 


Beiträge zur Lehre u. s. w. 1 


Untersuchung 24 Stunden p. m.; Gang derselben wie oben. 
Gefunden wurden: Hypoxanthin in beträchtlicher Menge als 
salpetersaure Silberverbindung von der gewöhnlichen Krystall- 
form; Xanthin in geringer Menge als gelbliche Krystallhaut. 

Nicht gefunden wurden Glutin und Harnsäure. Auf Milch- 
säure wurde nicht untersucht. 


IN. Pericardialflüssigkeit. (210 Octm.) 


Helles, vollkommen klares Fluidum. Beginn der Unter- 
suchung 10 Stunden p. m. 

Von dem gewöhnlichen Gange wurde hier insofern ab- 
gewichen, als die ziemlich aussichtslose Untersuchung auf 
Harnsäure unterblieb. Der erste Silberniederschlag wurde des- 
wegen nicht noch einmal mit H,S zerlegt, sondern sofort in 
heisser Salpetersäure gelöst, natürlich nach sorgfältigem Aus- 
waschen. Letztere Procedur machte übrigens wegen der 
schleimigen Beschaffenheit des Niederschlages grosse Schwierig- 
keiten; die Filtration stockte gleich zu Anfang. Ich setzte 
deswegen das nasse Filter in eine vielfache Schicht etwas 
grösserer Filter ein und liess, indem ich die äusseren Lagen 
des Filtrirpapiers jedesmal, wenn sie durchfeuchtet waren, 
durch neue ersetzte, eine ziemliche Menge Waschwasser hin- 
durchsaugen. 

Aus der heissen Salpetersäure krystallisirte das salpeter- 
saure Silberhypoxanthin hier in makroskopischen Krystallen 
aus. Es waren wie gewöhnlich langgestreckte rhombische 
Prismen, die aber nicht zu Drusen, sondern nur zu kleineren 
Gruppen von 3—4 vereinigt waren. Die Zerlegung mit H,S 
unterblieb der zu geringen Menge wegen. 

Glutin wurde nicht aufgesucht, Milchsäure trotz vielfacher 
Bemühungen nicht gefunden. 


IV. Urin. 


Die Diurese des Pat. H. war meist etwas reichlicher als 
in der Norm, der Urin stets sauer, vom specifischen Gewicht 
1014—1020, frei von Eiweiss. Häufig kamen reichliche Sedi- 
mente von reiner Harnsäure, untermischt mit harnsäuren Salzen 
zur Beobachtung, 

Noch bei Lebzeiten des Kranken wurde der Harn zweimal 
auf Hypoxanthin resp. Milchsäure verarbeitet. Zuerst ergab 
die Untersuchung einer 5tägigen Quantität nach beiden Rich- 
tungen ein negatives Resultat. Bei der zweiten an einer 
gleichen Harnmenge vorgenommenen Untersuchung erhielt ich 
im Filtrat von der Harnsäure mit ammoniakalischer Silber- 
lösung einen geringen Niederschlag, der sich in heisser HNO, 
löste und beim Erkalten ausfiel, jedoch nicht in Krystallen, 
sondern völlig amorph; einige äusserst spärliche Krystalle von 
dem Aussehen des salpetersauren Silber-Hypoxanthins waren 
beigemengt. Milchsäure fehlte auch diesmal vollständig. 

49* 


772 6. Salomon: 


Eine dritte nur auf das Hypoxanthin gerichtete Unter- 
suchung wurde endlich post mortem an 9650 Cctm. in den 
letzten Lebenstagen gesammelten Urins ausgeführt. Auch hier 
trat an Stelle des krystallisirten salpetersauren Silber-Hypo- 
xanthins ein amorpber mit vereinzelten Krystallen untermischter 
Körper auf. Er wurde mit H,S zerlegt. Die schliesslich er- 
haltene Lösung des Xanthinkörpers trübte sich bald durch Aus- 
scheidung makroskopisch leicht sichtbarer Nadeln. 

Es unterliegt keinem Zweifel, dass es sich hier um den 
von Salkowski beschriebenen hypoxanthinähnlichen Körper 
handelte. Die beiden Hauptkriterien, die amorphe Beschaffen- 
heit der salpetersauren Silberverbindung und die makroskopische 
Krystallform des daraus dargestellten Xanthinkörpers, treffen 
zu. Leider gestattete, wie so oft bei Untersuchungen auf die- 
sem Gebiet, die geringe Ausbeute keine regelrechte Prüfung. 

Ebenso wie Salkowski haben wir eine hypoxanthin- 
ähnliche Substanz auch im nicht leukämischen Harn gefunden, 
die sich indessen von der seinigen wieder etwas unterscheidet. 
Wir werden darüber unten zu berichten haben. 

Die Notizen über den zweiten Krankheitsfall verdanke ich 
der Güte meines Collegen am Krankenhause Hrn. Dr. Schlötke, 
in dessen Behandlung sich der Patient befand. Ich gebe hier 
einen kurzen Auszug des Journals. 

Anamnese. H.F., ein 32jähriger früher gesunder Kellner, 
hat im Herbst 1874 an einem hartnäckigen Wechselfieber ge- 
litten. Im Winter 74—75 bildet sich unter heftigen Schmerz- 
anfällen eine Geschwulst hinter dem linken Rippenbogen, es 
treten Oedeme der Beine auf. Ailmählich stellen sich Mattig- 
keit, Beklemmungen, Schwindel ein; der Tumor wächst rasch 
bei fortschreitender Abmagerung. Kurz vor der am 10. No- 
vember 1875 erfolgten Aufnahme ins Krankenhaus öfters pro- 
fuses Nasenbluten, 

Stat. praes. Mittelgrosser Mann von bleicher Gesichts- 
farbe; an den Beinen leichte Oedeme. Sehr bedeutende Ver- 
grösserung der Milz und der Leber; erstere überschreitet nach 
rechts hin die Mittellinie. Keine Drüsenanschwellungen. 
Weisse Blutkörperchen enorm vermehrt. Urin trübe, sauer, 
1025, kein Eiweiss. 

In den nächsten Tagen bildet sich unter lebhaften Schmerzen 
ein Abscess an der Wade. Öefters mässiges Nasenbluten. 

Am 20. November Abends erbricht Pat. plötzlich ca. 500 
Cetm. dunkler blutiger Flüssigkeit, eine halbe Stunde später 
die gleiche Menge. Während der Nacht mehrere theerartige 
Stühle. Morgens 5 Uhr ergiesst sich aus dem Munde des Pat. 
plötzlich ein dicker Strahl hellrothen Blutes; Patient wird blass, 
‚pulslos und stirbt nach wenigen Minuten. Die Gesammtmenge 
der seit dem 20. Abends ausgeworfenen grossentheils rein blu- 
tigen Massen betrug ca. 5000 Cetm. 

Section am 22. November 75. Obd. Dr. Kühnemann. 


Beiträge zur Lehre u. s. w. ie 


Anatomische Diagnose: Leucaemia lienalis. Hyperplasia 
permagna lienis et hepatis. Infaretus lienis. Gastritis chro- 
nica. Uleus ventriculi cum arrosione arteriae permagnae. Oe- 
dema pulmonum. Anaemia cordis, renum, pulmonum ..... 
Sanguis in ventriculo ..... 

In Arbeit wurden genommen: 1,560 Cetm. graurothen dick- 
flüssigen Blutes aus dem Herzen und den grossen Gefässen. 
2,1485 Cetm. coagulirten, schmutzig-rothen, geruchlosen Blutes 
ohne jede Beimengung von Speiseresten, welche den Inhalt des 
strotzend gefüllten Magens gebildet hatten. 

I. Blut aus den Gefässen (560 Cetm.) Glutin und 
Harnsäure wurden, wie in dem ersten Falle, nicht gefunden; 
dagegen konnte eine ziemliche Menge salpetersauren Silber- 
Hypoxanthins dargestellt werden. Die Ausbeute an Hypoxan- 
thin, aus dem Trockengewicht des letzteren berechnet, belief 
sich auf 0:07 Grm. Bei der mikroskopischen Untersuchung 
fanden sich zwischen den regelmässig gebildeten Krystall- 
büscheln des salpetersauren Silber-Hypoxanthins Spuren einer 
amorphen gelblich gefärbten Substanz. Xanthin wurde in ge- 
ringer Menge erhalten. 

Aus dem Filtrat vom Silberniederschlage der Xanthin- 
körper gewann ich milchsaures Zink als schneeweisses, schön- 
krystallisirtes Pulver. Die Menge betrug 0'238 Grm. Es wurde 
eine Krystallwasserbestimmung vorgenommen, welche bewies, 
dass es sich auch hier um Fleischmilchsäure handelte (gefunden 
12:3 pCt., gefordert 12:8 pCt... Die Zinkbestimmung verun- 
glückte zu meinem grossen Bedauern. 

H. Blut aus dem Magen. (1485 Cetm.) Glutin wurde 
nicht gefunden, ebensowenig Harnsäure. Die Menge des Hypo- 
xanthins betrug nur 0:05 Grm., was auf eine ziemlich starke 
Verdünnung des in den Magen ergossenen Blutes schliessen 
lässt. Das mikroskopische Verhalten der salpetersauren Silber- 
verbindung stimmte mit dem für das reine Blut beschriebenen 
überein. 

Auf Milchsäure wurde nicht untersucht, weil der Nachweis 
dieser Substanz in einer aus dem Magen stammenden Flüssig- 
keit doch nur von sehr zweifelhaftem Werth gewesen sein 
würde. 


Eine vergleichende Zusammenstellung unserer Blutanalysen 
zeigt eine im Ganzen befriedigende Uebereinstimmung in den 
Resultaten. In beiden Fällen war mit Sicherheit Hypoxanthin 
nachgewiesen, in beiden Fällen die gleiche Modification der 
Milchsäure aufgefunden worden. Es erschien mir deswegen 
interessant, in einem Controlversuche am nicht leukämischen 
Blute zu prüfen, ob Hypoxanthin und Fleischmilchsäure als 
specifische Bestandtheile des leukämischen Blutes zu betrachten 
wären oder nicht. Abgesehen von einer älteren Angabe von 
Scherer ist über das Vorkommen von Hypoxanthin im nor- 


774 G. Salomon: 


malen resp. nicht leukämischen Blute bisher Nichts berichtet. 
Salkowski!) konnte aus Rinderblut nur „geradezu verschwin- 
dend kleine Mengen eines in Ammoniak unlöslichen (Silber)- 
Niederschlages* darstellen und ist deswegen geneigt, bis auf’ 
Weiteres dem von ihm im leukämischen Blut nachgewiesenen 
Hypoxanthin eine gewisse Bedeutung beizumessen. Was die 
Milchsäure betrifft, so war zwar ihr gelegentliches Auftreten 
in normalem Blut und Transsudaten ziemlich sichergestellt, 
jedoch der specielle Nachweis von Gährungs- resp. Fleisch- 
milchsäure hier ebensowenig wie am leukämiscnen Blut geführt 
worden. 

Ein günstiger Zufall führte mir ein für diese Fragen sehr- 
werthvolles Untersuchungsmaterial zu. Am 20. Februar 1876 
wurde im städtischen Krankenhause bei dem an carcinomatöser- 
Pleuritis leidenden Patienten B. wegen bedrohlicher Athemnoth 
die Thoracocentese vorgenommen. Es wurden etwa 3000 Cctm. 
einer Flüssigkeit gewonnen, die sich dem äussern Ansehen: 
nach in Nichts von reinem Blut unterschied, unter dem Mikro- 
skop nur dichtgedrängte rothe Blutkörperchen zeigte und von 
flockigen Beimengungen gänzlich frei war. Mein College am: 
Krankenhause, Herr Dr. Fleischer, hatte die Güte, mir das 
von ihm nach andern Richtungen untersuchte Object zur wei- 
teren Verwerthung zu überlassen, und fand ich so die Gelegen- 
heit, an einer aus dem lebenden Körper stammenden, von 
reinem Blute wenig verschiedenen Flüssigkeit die mich inter- 
essirenden Fragen zu studiren. 

Die Flüssigkeit war gleich nach der Punction ohne Zeit- 
verlust enteiweisst, eingedampft und mit Alkohol extrahirt 
worden. Der nach dem Verdunsten des Alkohols gebliebene 
Rückstand wurde nun nach dem bereits mehrfach geschilderten 
Verfahren auf Hypoxanthin und Milchsäure untersucht. 

Ich erhielt einen ziemlich reichlichen Niederschlag mit 
ammoniakalischer Silberlösung, der mit H,S zerlegt wurde. 
Hierbei gingen leider durch einen unglücklichen Zufall fast */, 
des Präparats verloren. Der Rest, welcher keine Harnsäure 
enthielt, lieferte einen zweiten Silberniederschlag, der in heisser 
Salpetersäure gelöst beim Erkalten in mikroskopischen Kry- 
stallen sich ausschied. Die Krystallform glich anfangs nicht 
ganz der des salpetersauren Silber-Hypoxanthins; es kamen 
abnorm gestaltete, an den Enden umgebogene oder unter wel- 
ligen Biegungen in eine feine Spitze auslaufende Exemplare 
vor. Einige Wochen später waren jedoch diese eigenthümlichen 
Formen verschwunden und an ihre Stelle die gewöhnlichen 
Krystallbüschel des salpetersauren Silber-Hypoxanthins getreten. 
Die quantitative Bestimmung der Substanz wurde durch den 
unvorhergesehenen Verlust vereitelt; die schliesslich erübrigte 


1). A. a..0. 8. 37. 


Beiträge zur Lehre u. s. w. 775 


Menge war zu gering, um eine weitere Zerlegung mit H,S 
rathsam erscheinen zu lassen. 

Die Untersuchung auf Milchsäure lieferte ein weisses Zink- 
salz von der bekannten, auch hier’ wieder sehr wohl ausgeprägten 
Krystallform. Die Menge des Salzes betrug 0'35 Grm., der 
Krystallwassergehalt 11'8 pCt., das Gewicht des Zinkoxyds 
342 pCt. (letztere Zahl auf das Gewicht des bei 120° getrock- 
neten Salzes bezogen). Ein Vergleich mit den durch die 
Rechnung geforderten Procentsätzen (s. oben) lehrt, dass es 
sich hier ebenso wie beim leukämischen Blut um Fleischmilch- 
säure handelte. 

Anhangsweise sei hier noch erwähnt, dass auch unser mit 
Salkowski’s Angaben übereinstimmender Befund am Harn 
des Leukämikers einer Controlprobe am nicht leukämischen 
Harn unterworfen wurde. Wir fanden in 6000 Cetm. nicht 
leukämischen Harns ebenfalls einen hypoxanthinähnlichen Kör- 
per, der hinsichtlich der amorphen Form seiner salpetersauren 
Silberverbindung mit Salkowski’s Substanz übereinstimmte. 
Ein Unterschied bestand dagegen insofern, als der rein dar- 
gestellte Körper nicht in makroskopischen Krystallen, vielmehr 
völlig amorph aus seiner Lösung ausfiel und durch kein Mittel 
zum Krystallisiren zu bringen war. Wir müssen es dahin- 
gestellt sein lassen, ob dieser Differenz im Befunde ein beson- 
derer Werth beizulegen ist. 


Das Gesammtresultat der obigen Untersuchungen ist für 
die Annahme von specifischen Bestandtheilen im leukämischen 
Blut und Harn entschieden ein ungünstiges. Sowohl die Milch- 
säure als auch besonders das Hypoxanthin haben im nicht leu- 
kämischen Blut ihre Analoga gefunden. Für den Harn konnten 
Salkowski’s gegen die Specificität sprechende Befunde be- 
stätigt werden, wenn auch nicht mit Gewissheit, so doch mit 
grosser Wahrscheinlicheit. Weitere Untersuchungen müssen 
lehren, ob das Glutin des leukämischen Blutes, welches wir 
freilich in unsern beiden Fällen vermissten, mit grösserem 
Recht den Namen eines specifischen Bestandtheils beanspruchen 
darf. Neben dem Glutin verdienen die zuerst von Charcot 
im leukämischen Blute gefundenen, von Zenker!) kürzlich 
ausführlich besprochenen Krystalle, sowie das Reichardt’- 
sche „Albukalin“ die Aufmerksamkeit künftiger Forscher. 

Deutlich genug sind die quantitativen Unterschiede im 
Milchsäure- und Hypoxauthingehalt des leukämischen und nicht 
leukämischen Blutes hervorgetreten. Das leukämische Blut 
enthielt an Milchsäure 0'064 resp. 0'050 pCt., das des Carcinom- 
kranken nur 0'007. Was den Hypoxanthingehalt betrifft, so 
vermag ich denselben zwar für das nicht leukämische Blut mit 
Zahlen nicht zu belegen. Indessen war der Mehrgehalt des 


1) Archiv f. klin. Med. Bd. XVII. H. ı. 


1776 G. Salomon: 


leukämischen Blutes zweifellos ein sehr bedeutender, meiner 
Schätzung nach der 5—10fache. 

Von den Detailergebnissen möchte ich die wichtigeren 
noch einmal kurz berühren. Zunächst gehört hierher der Nach- 
weis, dass aus dem Glutin der leukämischen Milz durch Kochen 
mit Schwefelsäure Glycocoll sich bildet. Es wird dadurch seine 
nahe Verwandtschaft mit dem gewöhnlichen Glutin bewiesen. 
Bemerkenswerth ist, dass das Glutin des leukämischen Blutes 
sich anders verhielt. Salkowski konnte aus ihm kein Gly- 
cocoll gewinnen und nahm, gleichzeitig gestützt auf den von 
Gorup-Besanez!) constatirten Mangel der optischen Wirk- 
samkeit, an, dass es sich um einen eigenthümlichen, vom ge- 
wöhnlichen Glutin verschiedenen Körper handeln müsse. 

Nächstdem ist der Nachweis von Hypoxanthin im nicht 
leukämischen Blute zu erwähnen, der früher noch nicht mit 
genügender Schärfe geführt worden war, jetzt aber durch die 
Krystallform und die Löslichkeitsverhältnisse der salpetersauren 
Silberverbindung wohl gesichert erscheint. Freilich besteht ein 
Bedenken gegen die Verallgemeinerung meiner Beobachtung. 
Es ist die Frage, ob man berechtigt ist, einen rein blutigen 
Pleuraerguss von einem unter dem Einfluss heftiger Dyspnöe 
stehenden Individuum in chemischer Beziehung normalem Blut 
gleichzusetzen. Was mich bestimmte, trotz dieser Bedenken die 
Flüssigkeit für meine Untersuchungen zu verwenden, war die 
Erwägung, dass ich auf andere Weise schwerlich jemals in den 
Besitz einer so grossen Menge Blut vom lebenden Individuum 
gelangen würde. Für eine Wiederholung der Untersuchung 
würde ich indess selbst gesammeltes Aderlassblut von gesunden 
Personen vorziehen. 

Von allgemeinerem Interesse ist endlich der durch Krystall- 
wasserbestimmung und Analyse der Zinksalze geführte Nach- 
weis von Fleischmilchsäure im Blut. Es ist zu vermuthen, dass 
sie aus den Muskeln, ihrer seit langer Zeit bekannten Bildungs- 
stätte ausgewaschen und im Blute bis auf geringe Reste rasch 
zerstört werde, dagegen unter pathologischen Verhältnissen, 
besonders bei gehemmter Oxydation zu relativ grossen Mengen 
sich ansammeln könne. Etwas auffallend erscheint unserem 
Befunde gegenüber eine Beobachtung von Gscheidlen,?) nach 
welcher die saure Reaction der Grosshirnrinde nicht durch 
Fleischmilchsäure, sondern durch Gährungsmilchsäure bedingt ist. 

Für den speciellen Zweck dieser Untersuchungen war es 
von Belang, dass die Identität der im nicht leukämischen Blute 
vorkommenden Milchsäure mit der des leukämischen Blutes 
festgestellt werden konnte. 

Schliesslich hebe ich als Bestätigung eines bisher wenig 
beachteten interessanten Befundes den Nachweis des hypo- 


1). A. a. 0. 
2) Pflüger’s Archiv. Bd. VIII. 1873. 


xanthinähnlichen Körpers im leukämischen Harn hervor. Ich 
zweifle nicht, dass man bei Verarbeitung sehr grosser Urin- 
mengen zu einer genaueren Kenntniss dieses, vielleicht sogar 
noch anderer unbekannter Xanthinkörper gelangen werde. 
Unter allen Umständen kann demjenigen, der sich dieser frei- 
lich etwas mühseligen Aufgabe unterziehen will, die Silber- 
methode als sehr brauchbar empfohlen werden. 


Die vorstehenden Untersuchungen sind theils im städtischen 
Krankenhause, theils im chemischen Laboratorium des Anatomie- 
gebäudes ausgeführt worden. 


Einige Bemerkungen 


über die Injection von Leichen. 


Von 
Dr. L. STIEDA, 


o. Professor der Anatomie in Dorpat. 


Bekanntlich injieirt man zum Zweck des Studiums und 
des Unterrichts die Blutgefässe von Leichen oder Leichen- 
theilen mit farbigen Massen. Kaltflüssige Mischungen, wie z. 
B. die von Shaw, von Weber und anderen Anatomen angege- 
benen werden verhältnissmässig selten gebraucht, obgleich zu 
ihrer Anwendung die Leiche oder die Leichentheile nicht be- 
sonders vorbereitet werden müssen. — Gewöhnlich wird seit 
Swammerdamm eine erwärmte und in der Kälte erstarrende 
Wachsmischung in Gebrauch gezogen. Es verlangt aber die 
Wachsmischung eine gehörige Durchwärmung der Leiche oder . 
der Leichentheile, wenn die Injection in gehöriger Weise ge- 
lingen soll (Hyrtl, Handbuch der practischen Zergliederungs- 
kunst, Wien 1860, S. 617), Das Erwärmen geschieht durch 
Eintauchen der betreffenden Leichen oder Leichentheile in 
heisses Wasser. Diese Anwendung der feuchten Wärme hat 
grosse Nachtheile: die zeitweilige Erhitzung befördert die 
Fäulniss der Leichentheile in bedeutendem Grade; zugleich 
findet eine Durchtränkung der Oberhaut mit Wasser statt und 
in Folge davon eine solche vollständige Maceration, dass die 
Epidermis sich in grossen Fetzen ablöst, die entblösste Cutis 
aber eintrocknet und der Präparation grosse Schwierigkeiten 
bereitet. 

Um die hervorgehobenen Nachtheile der Anwendung der 
feuchten Wärme zu vermeiden, habe ich seit Jahren die 
trockene Wärme mit Erfolg benutzt. Das dabei anzuwen- 
dende Verfahren habe ich bereits im Jahre 1870 in diesem 
Archiv mitgetheilt. (Eine Notiz über die Injection von Leichen 
S. 753 u. 754.) So weit es mir bekannt geworden, hat die 
empfohlene Methode keine Nachahmung gefunden, — aus dem 
einfachen Grunde, weil derartige kolossale Oefen mit Nischen, 


A a IE A ERDE N EN AU AURREN ER ME a IS En ha Pau 1 


L. Stieda: Einige Bemerkungen u. s. w. 1779 


dass sie sich zur Erwärmung von Leichen eigneten, nur hier 
im Norden zu finden sind und weil man keine Lust hatte, be- 
sondere Heizapparate, welche die Anwendung der trocknen 
Wärme erlaubte, zu bauen. — 

Allein auch bei der von mir empfohlenen Anwendung der 
trocknen Wärme bleibt der durch die Erwärmung bedingte 
Nachtheil der Beschleunigung der Fäulniss. Ich suchte daher 
nach einer Methode, welche den Gebrauch der üblichen Wachs- 
masse ohne vorhergegangene Erwärmung der Leiche zulässt. 

Eine solche Methode besteht in Folgendem: 

In die Gefässe der Leiche oder der Leichentheile wird zu- 
erst ein Gemisch von Carbolsäure, Spiritus, Glycerin und Wasser 
gespritzt. Ich nehme 1 Pfund Carbolsäure, 1 Pfund Spiritus, 
1 Pfund Glycerin und 17 Pfund Wasser; zur Injection einer 
ganzen unversehrten Leiche gebrauche ich bis 15 Pfund der 
Mischung, zur Injection einer Leiche, deren Eingeweide entfernt 
sind, 10 Pfund, zur Injection einzelner Theile entsprechend 
weniger Flüssigkeit. Die so injicirte Leiche lasse ich 24 Stun- 
den in gewöhnlicher Zimmertemperatur und dann injieire ich 
in gewöhnlicher Weise die übliche Wachsmischung (Wachs, 
Talg, Oel und Terpenthin, gefärbt durch Zinnober). Ich achte 
dabei insbesondere darauf, dass die Mischung recht heiss und 
Hüssig ist, und die Injection möglichst schnell ausgeführt wird. ° 

Die Injection gelingt sehr leicht, und man erhält für den 
Präparirsaal völlig ausreichende Resultate: es füllen sich sehr 
kleine Hautäste und die kleinen Arterien der Finger und der 
Zehen. Ich erkläre mir das leichte Zustandekommen der In- 
jeetion dadurch, dass die vorausgeschickte Carbolsäurelösung 
die Arterien dilatirt und daher für die nachfolgende Wachs- 
mischung leichter durchgängig macht. Dass man dazu aus- 
schliesslich Carbolsäure und zwar in dem oben angegebenen 
Verhältniss gebrauchen muss, ist keineswegs meine Ansicht. 
Jede beliebige Flüssigkeit wird dieselbe Aufgabe erfüllen. Ich 
benutze seit Jahren die Carbolsäure in der angezeigten Lösung, 
um die Leichen vor zu schneller Fäulniss zu bewahren, nach 
mancherlei Experimenten bin ich bei jenem oben angegebenen 
Verhältniss stehen geblieben. Es liessen sich gewiss auch an- 
dere fäulnisswidrige Stoffe in ähnlicher Weise benutzen. (Sali- 
cylsäure, Thymolsäure.) 

Da die hiermit beschriebene Methode der Injection einer 
erwärmten Wachsmischung ohne vorhergehende Erwärmung der 
Leichen gar keine Schwierigkeiten macht, so empfehle ich sie 
allen Fachgenossen zur Nachahmung. 


Dorpat, den 17. bis 29. October 1876. 


Druck von Gebr. Unger (Th. Grimm) in Berlin, Schönebeı 


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