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ARCHIV
FÜR
BAR \
ANATOMIE, PHYSIOLOGIE
WISSENSCHAFTLICHE MEDICIN.
Dr. CARL BOGISLAUS REICHERT
PROFESSOR DER ANATOMIE UND VERGLEICHENDEN ANATOMIE, DIRECTOR DES KÖNIGLICHEN
ANATOMISCHEN MUSEUMS UND ANATOMISCHEN THEATERS, MITGLIED DER KÖNIGLICHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
UND
D®. EMIL DU BOIS-REYMOND
PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE, DIRECTOR DES KÖNIGLICHEN PHYSIOLOGISCHEN LABORA-
TORIUMS, MITGLIED DER KÖNIGLICHEN AKADENIE DER WISSENSCHAFTEN
ZU BERLIN.
FORTSETZUNG VON REIL’S, REIL’S UND AUTENRIETH’S,
J. F. MECKEL’S UND JOH. MÜLLER’S ARCHIV.
JAHRGANG 1876.
Mit neunzehn Kupfertafeln.
15 1,P, 21.6:
VERLAG vos VEIT ET COMP.
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EL EROIREN AO
Inhalts-Verzeichniss.
Seite
Adamkiewicz, Dr. Albert. Mechanische Prineipien der Homöo-
thermie bei höheren Thieren und das Newton’sche Gesetz
bei der Wärmeabgabe derselben. Studien über thierische
Wärme. Dritte Abhandlung. (Hierzu Taf. VIIA.). . . 248
Babuchin, A. Uebersicht der neuen Untersuchungen über Ent-
wickelung, Bau und physiologische Verhältnisse der elek-
trischen und Be Organe. (Hierzu Taf. XI
BERN. . 501
du Bois-Reymond, E. Ueber die negative Schwankung des
Muskelstromes bei der Zusammenziehung. Dritte und letzte
Abtheilung . . . 123 u. 342
Boll, Prof. Franz. Neue Untersuchungen über die Structur der
elektrischen Platten von Torpedo. Aus dem Laboratorium
für vergleichende Anatomie und Physiologie in Rom.
Vierte Mittheilung. (Hierzu Taf. VII). . . . . 462
Colasanti, Dr. Giuseppe Anatomische und Physiologische
Untersuchungen über den Arm der Kephalopoden. Aus
dem Laboratorium für vergleichende Anatomie und Phy-
siologie in Rom. Fünfte Mittheilung. a Taf. IX u. X.) 480
Dönhoff, Dr. Beiträge zur Physiologie . . . . 236 u. 455
Dreher, "Dr. Eugen. Zur Theorie des Sehens. . - . 630
Erler, Dr. Hugo. Ueber das Verhältniss der Kohlensäure-Abgabe
zum Wechsel der Körperwärme . . . 556
Ewald, Dr. C. Anton, I. Assistenten der medieinischen Klinik
und Docenten zu Berlin. Untersuchungen zur Gasometrie
der Transsudate des Menschen. Zweite Abtheillung . . 422
Frey, Hermann, aus Zürich. Anatomische Untersuchungen der
Gefässnerven der Extremitäten. (Hierzu Taf. XVI u. XVII) 662
Gruber, Dr. Wenzel, Professor der Anatomie in St. Petersburg.
Ueber die Glandula thyreoidea ohne Isthmus beim Men-
schen. (Hierzu Taf. IV). . . . 208
— — Ueber ein aus der Epiphyse eines durch einen fortsatz-
artigen Anhang vergrösserten Multangulum minus ent-
wickeltes, articulirendes neuntes Ossiculum carpi. (Hierzu
BABY) . 221
— — Ein Nachtrag zum Vorkommen des zweitgetheilten " Joch-
beines — Os zygomaticum bipartitum —, bei Anwesenheit
des Kiefer-Schläfenbogens — Arcus maxillo-temporalis
intra jugalis — Gruber. (Hierzu Taf. VL.) . . . . .230
— — Ueber den Musculus atlantico-mastoideus. (Hierzu Taf.
KVARNER A
IV Inhalts-Verzeichniss.
Seite
Gruber, Dr. Wenzel, Professor der Anatomie in St. Petersburg.
Ein Musculus cleido-epistrophiecus ‘bei Existenz des Mus-
culus eleido-mastoideus der Norm. (Hierzu Taf. XVII. B.) 739
— — Ueber den Musculus recetus capitis anticus medius s. mini-
mus. (Hierzu Taf. XIX.A.).. . . 746
— — Ein neuer Fall von Musculus extensor hallueis longus
ei tricaudatus. (Hierzu Taf. XIX.B) . . . 750
A — — Ueber eine congenitale Articulatio hyo- thyreoidea® anomala
(EierzuDatı RIRIC)7E 2322 . 7583
— — Ein Museulus eleido-cervicalis s. Arachee elavieulans imus 757
— — Vorkommen des Musculus cleido-mastoideus als Musculus
h cleido-epistrophicus . . een ee
— — Ein Museulus cleido-articularis , . in.
a Hällsten, Konrad, Professor in Helsingfors. "Studien über die
i Physiologie der Gewebselemente . . . 242 -
Hartmann, Robert. Beiträge zur zoologischen und zootomischen
Kenntniss der sogenannten anthropomorphen Affen. Fort-
setzung. (Hierzu Taf. XIV. u. XV.) . « 636
Hirschberg, J, M.D. Dioptrik der Kugeiflächen ı und des os Auges
A I. Theil. (Hierzu Tal RII)RERIERE cell
2 — — Optische Notizen . . BR .7 7
Hitzig, Dr. Eduard, Professor in Zürich. Untersuchungen über
y das Gehirn. Neue Folge . . . 692
Bi Krause, Dr. W., Professor in Göttingen. "Ueber die Allantois
| des Menschen . . . 204
Kurtz, F. Zur Anatomie “des Blattes der Dionaea museipula
(Hierzu Tall. u. Sl) 1
Lotze, Dr. Ludwig, aus Göttingen. "Beitrag zur Lehre vom
Knochenwachsthum. (Hierzu Taf. VILB.) . . . . 301
Munk, Hermann. Die elektrischen und Bewegungs- -Erschei-
nungen am Blatte der Dionaea museipula. (Hierzu Taf. I.
En USD), ... 30 u. 167
ER Pansch, Ad. in Kiel. Ueber die Lage der Nieren mit beson-
h derer Beziehung auf ihre Percussion . . . 327
Bi. Salomon, Dr. Georg, erster Assistent in der medieinischen
u, Universitätsklinik zu Berlin. Beiträge zur Leukämie . . 762
an. Steiner, Dr. I., Assistent am physiologischen Institut in
HN Halle. Untersuchungen über den Einfluss der ISRREERE
\ auf den Nerven- und Muskelstrom. . . . 382
es Stieda, Dr. L., o. Professor an der Universität zu Dorpat.
“ Einige Bemerkungen über die Injection von Leichen . . 778
I Weyl, Th., Cand. med. in Strassburg. Ein Beitrag zur Kennt-
Bar niss des vermehrten menschlichen Fruchtwassers (Hydram-
nIon)In. . 543
— — Versuche über dipolar-elektrische Ladung "materieller in
Wasser suspendirter Theilchen . . . ..% ....72
a
Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipula.
Von
F. Kurrtz.
Hierzu Taf. I. und Taf. II.
Historisches.!)
Die Venusfliegenfalle wurde in Europa zuerst durch ge-
trocknete Exemplare bekannt, welche John Bartram,
Königlicher Botaniker zu Philadelphia, 1764—65 an den Lon-
doner Kaufmann und Pflanzenkundigen Peter Collinson
schickte. Dieser theilte ein Exemplar der Pflanze an John
Ellis mit, der dasselbe in Gemeinschaft mit Dr. Solander
untersuchte und darin eine dem Sonnenthau (Drosera) nahe-
stehende Gattung erkannte, die er Dionaea muscipula
nannte. 1769 brachte William Young aus Philadelphia die
sonderbare Pflanze lebend nach England. Ellis sandte nun
einen Brief, der eine Abbildung, eine Beschreibung des eigen-
thümlichen Verhaltens der Blätter und eine Aufzählung der
systematischen Charaktere der Dionaea enthielt, an Linne,
Dieser Brief wurde jedoch erst 1775 publieirt (4), und Ellis
gab inzwischen eine englische Beschreibung heraus, die diesel-
ben Thatsachen wie der Brief an Linn£, aber in ausgeführterer
1) Die Geschichte der Dionaea ist von J. D. Hooker in der Rede
(1), die er am 21. August 1874 zu Belfast vor der British Association
hielt, gegeben worden. Da jedoch weder die Reports of the British
Association, noch die Zeitschriften „Nature“ (2) nnd „Gardener’s
Chronicele“ (3) in Deutschland allgemeiner verbreitet sind, so komme
ich dem mir ausgesprochenen Wunsche, eine kurze historische Ueber-
sicht des Erwerbs unserer Kenntnisse von der Dionaea zu geben, um
so lieber nach, als Hooker’s Bericht nicht ganz vollständig ist.
Beichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376, ı
2 F, Kurtz:
Weise enthält (5), und von derselben, hier colorirten Tafel be-
gleitet ist, die dem Briefe an Linne schwarz beigegeben ist.
Diese ausführlichere Beschreibung übersetzte Schreber in’s
Lateinische und Deutsche (6), und ausserdem erschien 1777
eine ziemlich genaue französische Uebertragung, die vermuth-
lich nach der Schreber’schen gemacht ist (7) Auch die
Uebersetzungen sind von der Ellis’schen Abbildung begleitet,
Der Hauptinhalt des Ellis’schen Aufsatzes ist: „dass
die Natur vielleicht einiges Absehen auf ihre (der Dionaea)
Ernährung, bei der Bildung ihrer Blätter, gehabt haben möge.
Das obere Theil derselben stellet ein Werkzeug zum Fange
einer Art Nahrungsmittel vor; auf dessen Mitte die Lock-
speise für das unglückliche zum Raube ausersehene Insect,
lieget. Viele kleine rothe Drüsen, die die obere Fläche des
Blattes bedecken, und einen vielleicht süssen Saft ausschwitzen,
locken das Thierchen an denselben zu kosten; in dem Augen-
blicke, da dessen Füsse diese zarte Theile berühren, werden
die zween Lappen des Blattes durch den Reiz in Bewegung
gesetzt, schlagen einwärts zusammen, fassen das Thierchen,
legen die Stacheln am Rande in einander und drücken das
Thierchen tod. Damit aber nicht die Bemühungen des
Thierchens, sein Leben zu erhalten, zu seiner Befreiung ge-
reichen können; so befinden sich drei kleine Stacheln in der
Mitte jedes Lappens zwischen den Drüsen aufgerichtet, welche
allem seinem Bestreben ein Ende machen.“ Ellis bemerkt
ferner, dass die Pflanze keinen Unterschied zwischen einem
Thier und einer vegetabilischen oder anorganischen Substanz
macht, und dass die Drüsen der Blattoberseite an Pflanzen, die
in der Sonne gewachsen, schön hellroth sind. Er kannte
auch bereits die Sprödigkeit und Zerbrechlichkeit der Blatt-
spreite, und hatte schon beobachtet, dass die Empfindlichkeit
der Dionaea vom Wetter beeinflusst wird.
Schreber stellt in der Vorrede zu seiner Uebersetzung
(1771) die Bewegungen der Dionaea zu den schon längst be-
kannten Bewegungserscheinungen der Mimosen, Oxalis u.s.w.
und sagt gegen das Ende der Vorrede: „Unglaublich aber
scheint, was darin gemuthmaasset wird, dass die Pflanze
Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipula. 3
von den zwischen ihren Blättern zerdrückten Insecten einige
Nahrung ziehe.“
Dieselbe Ansicht über die Natur der Bewegungen der
Fliegenfalle äussert Linne (8): „Sensibilia sunt folia, ut dum
inseetum irrepat aut insideat folio, se claudant conduplicatis
lateribus et decussatis ciliis marginalibus, detinentia etiam in-
sectum aculeis paginae superioris, usquedum lassum quiescat,
tumgue dimittunt.“
Broussonet (9) stellte die Ansicht auf, dass das Zu-
sammenklappen des Blattes dadurch hervorgebracht würde, dass
durch die Berührung desselben eine Flüssigkeit, die das Blatt
jn Spannung hielt, veranlasst wird, aus demselben herauszuströ-
men: „la piquüre paroit determiner un degagement de fluide
qui retenoit la feuille ouverte en remplissant ses vaisseaux*
(l. e. p. 614).
E. Darwin (10) meinte, die Dionaea umgebe sich mit
Insectenfallen, um Zerstörungen ihrer Blüthen zu verhindern.
Ungefähr zu Anfang unseres Jahrhunderts entdeckte der
Pflanzenzeichner Sydenham Edwards, dass „the small
spines, mentioned and figured by Ellis, are the only irritable
points, and that any other part of the leaf may be touched
with impunity“* (11).
Die erste gute Beschreibung der Lebensweise der Venus-
fliegenfalle gab Rev. W. Curtis (12) 1834 in einer Aufzählung
der um Wilmington in Nord- Carolina — dem einzigen Ort
wo, soweit bis jetzt mit Sicherheit bekannt, die Dionaea wild
vorkommt — wildwachsenden Pflanzen. Er fand, ohne Ed-
wards’ Entdeckung zu kennen, dass die drei Härchen auf
jeder Blatthälfte der alleinige Sitz der Reizbarkeit seien; dann
berichtigte er die Behauptung Ellis’, dass die Blätter beim
Zusammenklappen die gefangenen Inseeten zerquetschen. Er
beobachtete zuerst, dass die Thierchen in den geschlossenen
Blättern häufig von einer schleimigen Flüssigkeit umgeben sind:
„at other times I have found them (the insects) enveloped in
a fluid of a mucilaginous consistence, which seems to act as
a solvent, the insects being more or less consumed in it,*
Diese Beobachtung machte es ihm wahrscheinlich, dass die
1%
4 F. Kurtz:
Insecten der Pflanze mit zum Unterhalt dienten, doch hielt er
diese thierische Nahrung für die Existenz der Pflanze nicht
für nothwendig,
Charles Morren (13), der Verfasser zahlreicher Auf-
sätze über Bewegungserscheinungen an den Pflanzen, machte
die ersten Beobachtungen über die Entwickelungsgeschichte
der Blätter der Dionaea, die bis dahin von den Autoren gänz-
lich unberücksichtigt geblieben war. Er constatirte, dass der
Blattstiel bereits seine volle Grösse zu einer Zeit erreicht,
zu der die Lamina noch sehr klein und unentwickelt ist, und
dass die Reizbarkeit der Blätter sich erst zeigt, wenn die bei-
den Hälften der Lamina sich ausbreiten. Dann fügt er aber
irrthümlich hinzu: „Remarquons maintenant que lorsque les
bords des lobes sont encore enroules sur eux-memes, la partie
externe de l’enroulement forme un bourrelet longitudinal, se-
pare de la nervure mediane par une foule de stries perpendi-
culaires & cette nervure, et que c’est ce bourrelet qui plus
tard deviendra le siöge de V’irritabilite. C’est &videmment dans
la Dionee l’analogue du coussinet ou pulvinus des feuilles de
la sensitive').“
Die ersten anatomischen Kentnisse des Dionaeablattes ver-
danken wir F..J. F. Meyen (14). Er beschreibt ganz rich-
tig den Bau (soweit seine Instrumente dies ermöglichten) und
die Vertheilung der Sternhaare, nur giebt er fälschlich an, dass
auf den Randborsten sich dieselben Drüsen, wie auf der Blatt-
oberseite, befinden; er bemerkt auch, dass die Spaltöffnungen
reichlich auf beiden Seiten des Blattstiels, weniger häufig auf
der Unterseite und sehr selten auf der Oberseite der Lamina
vorkommen. Von den Drüsen der Blattoberseite sagt er, dass
sie zu den Scheibendrüsen wie die des Hopfens und der Ribes
1) Der II. Band des „Hortieulteur Belge,“ einer auch in Belgien
ziemlich seltenen Zeitschrift, stand mir nicht zur Verfügung. Herr
Prof. E. Morren in Lüttich war indess so gütig, mir einen Auszug
der Arbeit seines Vaters zu schicken, und diesen Auszug habe: ich
hier eitirt. Ich ergreife diese Gelegenheit, Herrn Prof. E. Morren
für die grosse Liebenswürdigkeit meinen herzlichsten Dank auszu-
‚sprechen. ei
Zur Anatomie des Blattes der Dionaea museipula. 5
nigrum gehören, und da er nie ein Secret an ihnen wahrge-
nommen, spricht er die — irrige — Meinung aus, dass sie in
eine innere Höhle secerniren. Die auffallende Structur der
Lamina, ihre eigenthümliche Nervatur schildert er zutreffend,
auch die Tendenz des Fibrovasalstrangs der Blattspreiten-
Mittelrippe, sich zu theilen, hat er beobachtet. Indess ent-
halten seine Mittheilungen auch viel Irrthümliches, was zum
Theil darin seine Erklärung findet, dass die von ihm unter-
suchten Pflanzen in schlechtem Zustande gewesen sind, wie
man aus verschiedenen seiner Angaben folgern kann').
Der Sitz der Reizbarkeit ist nach Meyen die Mittelrippe ; die
sensiblen Härchen der Blattoberseite und ihre Function, die
er aus Ellis’ und Curtis’ Mittheilungen kannte, erwähnt
er in seiner Arbeit gar nicht. Ferner sollen die jungen Blät-
ter Schlafbewegungen zeigen; weder Hr. Prof. Munk, noch
Hr. Universitätsgärtner Barleben, der die Dionaea schon
seit Jahren beobachtet, noch ich haben Schlafbewegungen an
ihr wahrgenommen. Wegen der vom Typus des Dicotylen-
blatts etwas abweichenden Nervatur hielt Meyen die Lamina
für ein Anhangsgebilde, wie die Becher von Nepenthes, den
Petiolus dagegen für das eigentliche Blatt. Die von Dassen
(15) aufgestellte Ansicht, dass jede Blattspreitenhälfte der
Dionaea eigentlich ein Blatt, Dionaea mithin eine Pflanze mit
gefiederten Blättern (wie die Mimosen) sei, widerlegt Meyen
durch Hinweis auf die Vertheilung der Gefässstränge. Als
reizbares Gewebe betrachtet er die Epidermis der Oberseite
der Blattmittelrippe; der Reiz wird dann durch die unter der
Epidermis gelegenen Zellen auf das Gefässbündel übertragen,
von dem aus „durch Zusammenziehung der Seitennerven das
Zusammenfalten der beiden Lappen erfolgt, wobei sich aber
auch das, in dem Grunde der Falte liegende Zellengewebe zu-
sammenzieht und nicht etwa mechanisch zusammengequetscht
ı) Z. B. daraus, dass bei uns die Blätter der Dionaea sich zu
langsam schliessen sollen, als dass sie Insecten fangen könnten; und
dass nur junge Blätter reizbar seien, erwachsene dagegen unter einem
- Winkel von 45—60° geöffnet verharren sollen.
6 ) F. Kurtz:
wird“ (a. a. O. S. 550). Dass die gefangenen Insecten der
Pflanze irgendwie zur Nahrung dienen sollen, ist Meyen sehr
unwahrscheinlich.
Nach einer Pause von 30 Jahren erschien ein Aufsatz von
W. M. Canby (16), in dem die Vermuthungen Ellis’ und
Curtis’, dass die Fliegenfalle gefangene Thiere verdaue, zu-
erst experimentell bestätigt wurden. Canby fand, dass „das
Blatt, wenn es gesund und seine Beute eine angemessene, eine
vielleicht dem Magensaft der Thiere vergleichbare Flüssigkeit
abscheide, die das Insect auflöst und zur Aufsaugung durch
das Blatt zubereitet.“ Er machte im Juni und Juli 1368 Ver-
suche mit Stückchen von rohem Fleisch und von Käse, die er
auf die Blätter brachte, so dass sie sich schlossen, und beob-
achtete, dass von der Oberseite der Blätter reichlich ein Saft
secernirt wurde, der das Fleisch löste, und dann vom Blatt
resorbirt wurde. Er bemerkte dabei, dass die Blatthälften
sich so fest an einander schlossen, dass man die Gestalt des
innen befindlichen Fleischstücks schon von aussen erkennen
konnte. Er fand ferner, dass Käse eine verderbliche Wirkung
auf die Blätter ausübt, indem er sie erst schwarz färbt und
dann tödtet. Auch die Thatsache, dass mit jedem Fange von
Insecten die Reizbarkeit der Blätter abnimmt, und dass die-
selben zuletzt sich gar nicht mehr schliessen, wenn ein
Thierchen über sie hinkriecht, wurde schon von Canby con-
statirt.
Ein neues Kapitel in der Kenntniss der Dionaea wurde
durch die Untersuchungen Burdon Sanderson’s (17) be-
gonnen, der das Vorhandensein eines elektrischen Stromes in
der Blattspreite von der Basis zur Spitze nachwies und ferner
zeigte, dass, wenn das Blatt gereizt wird und sich in Folge
dessen schliesst, eine negative Schwankung auftritt, analog der
negativen Schwankung beim Zucken eines Muskels.')
Die beiden Veröffentlichungen,, welche noch zwischen die
ebenerwähnte Arbeit und Darwin’s umfassendes Werk
1) Da an diese Arbeit die Untersuchungen des Hrn. Prof.
Munk sich anschliessen, so ist es nicht nöthig, hier genauer auf die-
selbe einzugehen.
Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipula. 7
fallen, sind eigentlich nur Vorläufer des letzteren. Es sind
dies die Rede Burdon Sanderson’s (18) vom Juni und
die Rede Hooker’s (1) zu Belfast vom August 1974. Erstere
enthält einige der von Darwin über die Verdauung von
Dionaea erlangten Resultate, die dieser Burdon Sander-
son mitgetheilt hatte. Hooker’s Rede ist vorwiegend
historisch; sie theilt die Geschichte der auf den Fang und die
Verdauung von Insecten bezüglichen Beobachtungen an Dro-
sera, Dionaea, Sarracenia, Darlingtonia und Nepenthes mit
und giebt von den letzten drei Pflanzengattungen auch Beschrei-
bungen der die Fangapparate bildenden Gewebe. An Nepen-
thes hat Hooker Verdauungsversuche angestellt und gefun-
den, dass die Secretion bei Gegenwart von Fleisch, Eiweiss
u. dergl. zunimmt, und dass der abgeschiedene Saft stark
verdauende Eigenschaften besitzt.
In Darwin’s Buch (19) ist der Dionaea das 13. Kapitel
gewidmet. Darwin bemerkt zunächst, dass die Venusfliegen-
falle nur wenige und verhältnissmässig kleine Wurzeln besitze,
die jedenfalls, wie die der Drosera, nur zur Aufnahme von
Wasser dienen (S. 286)'). Von den Drüsen der Blattspreiten-
Oberseite, deren Vertheilung und Färbung er richtig angiebt,
sagt er, dass sie aus 20—30 Zellen bestehen, und dass ihre
Oberfläche convex sei (von der Seite gesehen gewähren sie
auch diesen Anschein). Darwin stellt zuerst fest, dass die
Drüsen absorptionsfähigsind undnur nach einem vorangegange-
nen Reiz secerniren, und dass als Reiz nur die Absorption stick-
stoffhaltiger Substanzen wirkt (S. 295 —%). Von den acht-
strahligen Sternhaaren wird ein sparsames Vorkommen auch
auf der Oberseite der Lamina angegeben (S. 288) (ich habe
dort nie welche gesehen). Der Bau der sensiblen Haare wird
ganz zutreffend geschildert, die Abwesenheit jedes Gefässbün-
dels in denselben zuerst constatirt und schliesslich die Meinung
aufgestellt, dass die Gliederung der Haare nahe ihrer Basis
das Abbrechen derselben beim Zuklappen des Blatts verhindere
(S. 288). (Als „Gelenk“ ist die erwähnte Gliederung nicht auf
1) Hierauf wird noch Bezug genommen werden.
8 F. Kurtz:
zufassen, und dann kreuzen sich die: sensiblen Haare beim
Schliessen eines Blatts höchstens mit ihren Spitzen, berühren
aber wohl nie die gegenüberliegende Blatthälfte.e In den
Zellen der sensiblen Haare hat Darwin einen Rotations-
strom, wie in den Tentakelzellen von Drosera, beobachtet (S. 291).
(Mir ist diese Erscheinung entgangen.) Die Eigenthümlichkeit
des zelligen Aufbaues der Lamina — ihre Zusammensetzung
aus Schichten länglicher Zellen, deren Längsaxen senkrecht
zur Blattmittelrippe stehen, und die von den beiden Epidermis-
schichten aus nach innen zu an Grösse zunehmen, während
zugleich ihre Wandungen dünner werden — hebt Darwin
richtig hervor (S. 316)'). Besonders erwähnt er noch die dicke
Masse von Zellgewebe, welche den Raum zwischen dem Fibro-
vasalstrang .und der Oberseite der Blattmittelrippe ausfüllt.
Auch die Vertheilung der Gefässbündel, die Schleifenbildung
derselben am Blattrande, das Abgehen dünner Stränge in die
Randstacheln hat Darwin beobachtet (S. 313—14). Zur Fort-
leitung eines Reizes, der auf ein sensibles Haar ausgeübt
worden, fand er das Fibrovasalsystem nicht nöthig (S. 314—15).
Die Medien und die äusseren Eindrücke, welche auf die
sensiblen Haare als Reiz wirken, werden ausführlich be-
sprochen; ebenso die Unterschiede zwischen den Veränderun-
gen, welche die sensiblen Haare der Dionaea einerseits, die
Drüsen der Drosera andererseits nach einem Reiz zeigen
(S. 288—294). Die Oberfläche der Blätter ist kaum reizbar;
nur das zwischen den sensiblen Haaren gelegene Dreieck
scheint empfindlicher zu sein. Einschneiden oder tief eindrin-
gendes Kratzen der Blatthälften oder der Mittelrippe bringt
Schliessung hervor (S. 294).
Die Secretion fand Darwin farblos, etwas schleimig und
anscheinend saurer als die der Drosera (S. 296).
Ausser der schnellen Bewegung, welche die Blatthälften
nach Berührung eines sensiblen Haares ausführen, wird durch die
Absorption löslicher stickstoffhaltiger Substanzen (die man,
entfernt von den sensiblen Haaren, auf die Oberseite der La-
E}
1) Meyen’s Arbeit war Darwin nicht bekannt.
Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipula. 9
mina gebracht hat) noch ein sehr langsames Zusammenklappen
des Blatts bewirkt (S. 296—298). Eine dieser ganz analoge
und auf dieselbe Ursache — die Absorption stickstoffhaltiger
Substanz — zurückzuführende Bewegung tritt auf, wenn ein
Blatt ein Insect gefangen hat, oder wenn man, mit Berührung
der sensiblen Haare, ein Stückchen Fleisch oder dergl. in das
Blatt gebracht hat. Nach einiger Zeit fangen alsdann die bei-
den Hälften des geschlossenen Blattes an sich fest aneinander
zu pressen, so dass auf ihrer Aussenseite die Umrisse des ein-
geschlossenen Körpers hervortreten (S. 307—308), wie letzteres
schon Canby beobachtet hat.
Wenn die Drüsen absorbirt haben, zeigt sich in ihren
Zellen die von Darwin „Aggregation“ (S. 38) genannte Er-
scheinung. Die sensiblen Haare zeigen die Aggregation nicht
(S. 299—300; 290).
Die zuerst von Canby angestellten Verdauungsversuche
hat Darwin in ausgedehnter Weise wiederholt (S. 301—304)
und constatirt, dass hartgekochtes Eiweiss, halbgebratenes
Fleisch und Gelatine von dem Secret der Dionaea verdaut
werden. Das Secret mit den darin gelösten Bestandtheilen
wird darauf von den Drüsen resorbirt. Fett- und Bindegewebe
werden vom Secret nicht angegriffen, ebenso Käse und rein
dargestelltes Casäin; die beiden letztgenannten Substanzen
rufen eine sehr reichliche Secretion hervor.
Chloroform, Schwefeläther und Cyanwasserstoffsäure
wirken mehr oder weniger verderblich auf die Pflanze
(S. 304—305).
Hat sich ein Blatt nach Berührung eines sensiblen Haares
oder über einem anorganischen Körper geschlossen, so ist es
nach durchschnittlich zwei Tagen wieder vollkommen geöffnet
und ist, noch ehe es seine ursprüngliche Stellung wieder ein-
genommen hat, fähig, sich nach erneutem Reiz wieder zu
schliessen (S. 306 — 307). Hat sich dagegen ein Blatt über
einem Insect, einem Stückchen Fleisch, Eiweiss oder dergl.
geschlossen, so öffnet es sich erst nach mehr als einer Woche
wieder, ist dann mehr oder weniger „torpid“, für Reize un-
empfänglich, und überhaupt nicht mehr oder erst nach längerer
10 F. Kurtz:
Zeit wieder fähig, einen neuen Fang zu thun. Nicht gerade
selten bleiben die Blätter über ihrer ersten Beute für immer
geschlossen und welken nach längerer Zeit (S. 309—310). Im
Vaterlande der Dionaea scheinen die Folgen eines Fanges
weniger angreifend zu sein ($. 311; vergl. Canby a. a. O.).
Der Hauptsitz der Bewegung ist nach Darwin die
Zellmasse, welche oberhalb des Gefässbündels der Blattmittel-
rippe sich befindet (S. 305—306; S. 317); doch ist die Bewe-
gung nicht auf sie beschränkt, sondern auch die beiden Blatt-
flügel haben Theil an derselben (S. 305—306). Und zwar be-
merkt Darwin, dass die unteren Schichten der Blattspreite
stets in einem Spannungszustande zu sein scheinen, und „that
it is owing to this mechanical state, aided probably by fresh
fluid being attracted into the cells, that the lobes begin to se-
parate or expand as soon as the contraction of the upper sur-
face diminishes* (S. 319).
Literatur.
. Report of the Meeting of the British Association at Belfast, 1874.
. Nature, Vol. X. 1874. No. 253, p. 366.
. Gardener’s Chronicle, 1874, Aug. 29, p. 260—61.
. Nova Acta Regiae Societatis Scientiarum Upsaliensis. Vol. I.
Upsaliae 1773, p. 98—101.
5. John Ellis, Direetions for bringing over seeds and plants from
the East Indies etc. to which is added the figure and botanical
description of Dionaea museipula. London 1770.
6. Joh. Ellis De Dionaea muscipula planta irritabili nuper detecta
etc. Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von D.
J. C. D. Schreber. Erlangen 1771. — Zweite Auflage 1780
(Erlangen).
7. Observations sur la Physique, sur l’histoire naturelle et sur les
arts etc. par Mr. Yabbe Rozier. Tome X. Paris 1777, p.
18—21.
8. Car. a. Linne. Mantissa plantarum alter. Holmiae 1771.
p- 238.
9. Histoire de l’Academie royale des sciences. Annee 1784. Paris
1787, p. 601—821.
10. Botanie Garden, Part II. p. 15.
11. Curtis’ Botanical Magazine, Vol. XX. 1804, p. 785.
12. Boston Journal of Natural History, Vol. I. 1834, p. 123—125.
KO m
Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipula. 11
Auszüge hieraus in: W. J. Hooker, Companion to the Botanical
Magazine etc. Vol. II. London 1836, p. 5. — F.J.F. Meyen,
Jahresbericht über die Resultate der Arbeiten im Felde der phy-
siologischen Botanik von dem J. 1837, Berlin 1838, S. 158. —
Wörtlich angeführt ist die ganze das Blatt und seine Fangart
schildernde Beschreibung von Curtis in: Gray and Sprague,
Genera florae Americae boreali - orientalis illustrata, Vol. I.
Boston 1848, p. 195.
13. Horticulteur Belge, T. II. 1834, p. 71.
14. F. J. F. Meyen, Neues System der Pflanzenphysiologie, Band
II. Berlin 1839, S. 543—550.
15. Natuurkundige Verhandelingen van de Hollandsche Maatschappij
der Wetenschappen te Harlem, 22. Deel, Harlem 1835, p. 283.
16. Meehan’s Gardener’s Monthly, 1868, p. 229—31. Oester-
reichische Botanische Zeitung, 1869, S. 77—81.
17. Report of the British Association, 1873, p. 133. Proceedings of
the Royal Society, Vol. XXI. No. 147, p. 495. Letztere Publi-
eation ist unverkürzt wiedergegeben im Centralblatt für die me-
dieinischen Wissenschaften, 1873, No. 53, und daraus abgedruckt
in der Botanischen Zeitung 1874 (XXXIl. Jahrg.), S. 6—8.
18. Nature, Vol. X. No. 241, June 1874, p. 105 etc.
19. Ch. Darwin, Insectivorous Plants, London 1875. p. 286—320.
Untersuchung.
Die Venusfliegenfalle ist eine perennirende Pflanze. Sie
besitzt einen kriechenden Stengel, dessen Vegetationsspitze
die Tendenz hat, nach unten zu wachsen, wie dies in Fig. 1
angedeutet ist. Man kann aus dieser Art des Wachsthums
schliessen, dass Dionaea im wilden Zustande an abhängigen
Stellen vorkommt, an denen sie im Laufe der Vegetations-
perioden schrittweise von ihrem ursprünglichen Standorte nach
unten fortrückt. Diese Ansicht wird durch die Angabe
Canby’s (Oesterr. bot. Zeitschr. 1869, S. 78), dass sie in ihrer
Heimath (der Umgegend von Wilmington, Nord-Carolina) in
feuchtem, fettem Boden am Rande der Brüche und Moor-
gründe wachse, bestätigt; eine Sumpfpflanze, wie Drosera
rotundifo/ia, ist Dionaea nicht.
An der Axe stehen nach Hrn. Prof. A. Braun’s Beob-
achtungen die Blätter ungefähr in °/, Stellung. Die Spirale
wird nämlich dadurch, dass der Stengel mit seiner Unterseite
123 F. Kurtz:
dem Boden dicht anliegt, und die Blätter sich einseitig nach
oben krümmen, etwas unregelmässig. — Die Blätter sind an
ihrer Insertionsstelle öhrchenartig erweitert, und zwar je nach
ihrer Einfügungsstelle am Stengel verschieden. Die, welche
auf der Mittellinie der eylindrischen Axe stehen, haben Oehr-
chen, welche beiderseits symmetrisch, gleich gross entwickelt
sind (Fig. 1A, a); je weiter aber die Insertionsstellen sich von
der Mittellinie entfernen und eine seitliche Stellung einnehmen,
desto einseitiger entwickeln sich die Oehrchen (Fig. 1A, b).
Unmittelbar hinter jedem Blatt entspringt eine Wurzel,
die eine Länge von 10—15 Cm, erreicht, unverzweigt und et-
was fleischig ist. Nur hinter den Blättern, die auf der Mediane
des Stengels inserirt sind, entspringt keine Wurzel.
Während einer Vegetationsperiode, die bei den Pflanzen
des Berliner Universitätsgartens Ende Februar oder Anfang
März beginnt, und bis Ende October dauert, scheint ein kräf-
tiges Individuum 20—25 Blätter zu entwickeln.
Die Internodien sind äusserst kurz, so dass die Oehrchen,
welche der Axe dicht anliegen und etwas übereinandergreifen,
derselben eine flüchtige Aehnlichkeit mit einer schuppigen
Zwiebel, aus der unten zahlreiche Wurzeln entspringen, ver-
leihen. In der Schreber’schen Uebersetzung des Briefes
von Ellis an Linne heisst es S. 14: „Die Wurzeln sind
schuppig, und haben nur wenige Zasern, wie an einigen
Zwiebelgewächsen.“ Ch. Morren nennt in seinem Aufsatz
über die Dionaea die „Wurzel“ „Eecailleuse comme le bulbe d’un
lis“, und Darwin spricht von einem „bulbous enlargement“
(p- 286).
Der schon sehr frühzeitig angelegte Blüthenschaft (er war
bei Exemplaren, die am 15. Mai 1875 blühten, am 17. März
schon 2—2'5 Cm. lang) scheint terminal zu sein, und der die
Hauptaxe fortsetzende Spross scheint aus der Achsel des
obersten Laubblattes zu entspringen. Axillarknospen sind
überhaupt an der Dionaea, wie an Drosera, nichts Seltenes.
Nach der Blüthe stirbt die Hauptaxe an ihrem hinteren
Ende allmählich mehr und mehr ab, so dass zu Anfang des
Winters nur noch die Spitze der Vegetationsaxe — ganz ana-
Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipula. 13
log dem Verhalten von Drosera — vorhanden ist. . Im Berliner
Universitätsgarten tritt jedoch keine eigentliche Winterruhe
ein; die im Hause stehenden Pflanzen entwickeln auch wäh-
rend des Winters’ Blätter, die indess sehr klein bleiben.
Wie Drosera bildet auch Dionaea leicht Adventivknospen.
‚Eine eigenthümliche, den Gärtnern schon lange bekannte
Vermehrungsart der Venusfliegenfalle besteht darin, dass man
den Blüthenschaft vor Beginn des Aufblühens abschneidet und
einpflanzt; es bilden sich dann dicht unter den untersten Trag-
blättern der Blüthen Wurzeln, und eine neue Pflanze wächst
empor.
Das Blatt der Dionaea musecipula zerfällt seinen äusseren
Umrissen nach in drei Abschnitte: den geflügelten Blattstiel, _
den ungeflügelten Theil desselben, welcher als Zwischenglied
bezeichnet werden soll, und die Blattspreite.
Die Länge der erwachsenen Blätter, den Blattstiel mit
eingeschlossen, schwankt zwischen 2'2—12'0 Cm. und beträgt
meist 51—7'0 Cm. Die auffallende Länge von 12 Cm. wurde
nur an einigen Stöcken beobachtet, die Hr. Prof. Munk im
Frühjahr 1375 aus dem Institut von Veitch u. Co. in Lon-
don jung bezogen hatte. Diese Exemplare wichen schon im
Habitus wesentlich von den sonst in unseren Gärten sich fin-
denden Pflanzen und auch von allen mir bekannt gewordenen
Abbildungen ab, indem die Blattstiele, statt dem Substrat mehr
oder weniger anzuliegen, sich in ziemlich spitzen Winkeln (von
ungefähr 70—75°) von demselben erhoben (Fig. 1, a, b) und
die Lamina frei in der Luft trugen. Die Blattspreite dieser
Pflanzen zeigte in der Grösse keine Besonderheiten, wohl aber
in der Gestalt (s. u.). Der Blattstiel dagegen zeigte in Länge
und Breite bedeutende Abweichungen der Art, dass gegenüber
der sonstigen Länge von 1'2—3'72 Cm. und der sonstigen
Breite von 0'4—1'5 Om. die Blattstiele der V eitch’schen Pflan-
zen 6'75—9 Cm. lang und 0'75—1'2 Cm. breit waren. Ausser
diesen Pflanzen ist mir nur noch ein getrocknetes Exemplar
vorgekommen, welches die eben erwähnten Eigenthümlich-
keiten des Blattstiels und der Lamina zeigt. Dasselbe be-
findet sich im Generalherbar des Kgl. botanischen Museums
14 F. Kurtz:
zu Berlin und stammt ebenfalls aus einem englischen Garten,
wie die Etiquette „Dionaea muscipula L, Hort. Kennedyan.
1816, Herb. Willdenow“ angiebt.
Der Blattstiel ist geflügelt, von eiförmigem bis lang-
keilförmigem Umriss. Seine breiteste Stelle liegt im obersten
Viertel seiner Länge, wenig unterhalb des Zwischenglieds.
Die Flügel sind meist ganzrandig; mitunter treten an der -
breitesten Stelle des Stiels 3—6 kleine Zähne auf, oder der
ganze Blattrand der oberen Hälfte ist feingezähnelt (Fig. 1, c,e).
Der Petiolus wird seiner ganzen Länge nach von einer star-
ken Mittelrippe durchzogen, die auf der Unterseite sich bedeu-
tend über die Blattstielfläche hervorwölbt. Ungefähr im Cen-
trum der Mittelrippe, etwas nach oben gerückt, liegt das
grosse Gefässbündel, das Stengel und Blatt durchläuft. Der
Querschnitt desselben ist fast kreisrund. Es wird von einer
Strangscheide umgeben, welche an der Ober- und der Unter-
seite des Fibrovasalstrangs 3—4, an den Seiten 1, höchstens
2 Zellen stark ist. Dieselbe besteht aus länglichen, eylindri-
schen Zellen mit gelblichen, stark verdickten Wänden; ihre
Zellen enthalten, besonders in jüngeren Blättern, zahlreiche
Stärkekörner, die genau die Gestalt der in der Epidermis der
Blattoberseite sich findenden Stärkekörner zeigen.
Der von der Strangscheide gebildete Hohlceylinder wird
ungefähr zur Hälfte vom Xylem, zur Hälfte vom Phlo@m ein-
genommen. Letzteres ist der Unterseite, ersteres der Ober-
seite des Stengels zu gelegen. Das Xylem zeigt an der
Stelle seiner stärksten Entwickelung auf dem Querschnitt
ungefähr 40—45, meist sehr weite Spiral- und Tüpfelgefässe
mit stark verdickten Wandungen, und zwischen diesen in ge-
ringerer Anzahl bedeutend engere Zellenzüge verlaufend.
Man kann an den Xylemzellwänden hauptsächlich zwei Ver-
dickungsformen unterscheiden: Spiral- und Tüpfelverdickung,
Die der Oberseite zunächst liegenden Theile des Xylems be-
stehen aus Spiralgefässen, von denen die engeren eine ein-
fache, abrollbare, die weiteren eine doppelte Verdickungsspi-
rale zeigen. Einzelne enge Gefässe mit sehr lockerer Spirale
treten auch an der Grenze des Xylems gegen das Phlo&m hin
Zur Anatomie des Blattes der Dionaea museipula. 15
auf. Einige der weitesten Gefässe, in der Mitte des Xylems
gelegen, zeigen eine Form der Verdickung, die den Ueber-
gang von der spiraligen zur gitter- oder netzförmigen Ver-
diekung macht, d. h. an ihnen finden sich schon Strecken der
Zellwand, die ringsum von Verdickungsleisten umgeben sind,
Die meisten Zellen des Xylems zeigen Tüpfelverdickung. Man
findet zunächst gestreckte Zellen mit mehreren parallel ihren
Längsaxen verlaufenden Reihen kleiner Tüpfel; diese Zellen
(Trachäiden) greifen mit allmählich sich verjüngenden Spitzen
prosenchymatisch in einander. Dann kommen ähnliche Zellen
vor, die länger und weiter sind, und deren meist schief ge-
stellte Querwände durch ein grosses rundes oder ovales Loch
durchbohrtsind. Noch andere, sehr langeZellen haben grössere,
strichförmige Tüpfel, die eine mehr oder weniger spiralige
Anordnung erkennen lassen. Uebrigens verlaufen zwischen
den verschiedenartig verdickten Zellen noch einzelne lange,
schmale Zellenzüge ohne jede Verdickung. Das Phlo&m be-
steht aus langen, weiteren oder engeren Siebröhren, zwischen
denen zahlreiche, oft bündelartig zusammengehäufte, an beiden
Enden sich zuspitzende Bastzellen verlaufen. Beide Zellfor-
men haben verdickte Wände. In den Verzweigungen des
Blattnervensystems verschwinden immer mehr und mehr von
den beschriebenen Elementen des Fibrovasalstrangs, bis
schliesslich in den letzten Ausläufern, z. B. in den Randborsten
der Lamina, nur noch 2—3 Spiralgefässe, umgeben von lan-
gen, schmalen, dünnwandigen Zellen, übrig bleiben.
Was das Gewebe des Blattstiels betrifft, so kann
als allgemeingültig vorausgeschickt werden, dass alle Zellen
desselben länglich, meist sogar langgestreckt sind, und dass
die längere Axe der Zellen der Mittelrippe des Blattstiels pa-
rallel läuft.
Die Epidermis der Oberseite besteht aus langge-
streckten, cylindrischen Zellen mit etwas verdickten Wandun-
gen und sehr kleinem Lumen, Die Längswände der Zellen
sind auf den Blattstielflügeln meist wellig gebogen, während
sie auf der Blattstielmittelrippe mehr geradlinig verlaufen,
Die Querwände dagegen greifen tief buchtig in einander, so
16 F. Kurtz:
dass zickzackförmige Linien entstehen,. die quer über das
Blatt verlaufen. Die Zellen enthalten reichlich Chlorophyll.
Zwischen ihnen entspringen, sowohl auf den Flügeln
als auf der Mittelrippe, Sternhaare, die meist achtstrahlig
sind. Die Stomata, welche sich auf der Oberseite ziemlich
zahlreich finden, zeigen einen ovalen Umriss ; ihre Spalte liegt
in der Längsrichtung des Blattstiels.
Die Epidermis der Blattstiel-Unterseite (Fig. 2)
zeigt im Allgemeinen dieselbe Beschaffenheit wie die der
Oberseite; nur sind ihre Zellen schmaler, gestreckter und die
Längswände derselben nicht so wellig. Besonders tritt dies
auf der gewölbten Mittelrippe hervor, wo sogar die Spalt-
öffnungen häufig eine auffallend schmale, gestreckte Gestalt
annehmen; ausserdem sind auf der Rippe die Wände der Epi-
. dermiszellen stärker verdickt als auf den Flügeln, und die
Zellen selbst enthalten sehr wenig oder gar kein Chlorophyll.
Die Mittelrippe erscheint auch heller gefärbt als die daran-
stossenden Flügel.
Auf die Epidermis folgen nach innen auf der Oberseite
3—4, auf der Unterseite 2—3 Schichten länglicher, eylindri-
scher Zellen, deren Lumen im Querschnitt ungefähr zwei- bis
dreimal so gross wie das der Epidermiszellen erscheint. In
den Blattstielflügeln enthalten diese Zellen, sowohl die der
Unter- als der Oberseite, reichlich Chlorophyll, in der Mittel-
rippe dagegen findet man nur auf der Oberseite in allen Chlo-
rophyli, während auf der Unterseite nur die der Epidermis
benachbarte Zellschicht Chlorophylikörner besitzt. Von diesen
grünen Schichten aus erstrecken sich hier und da kleine Grup-
pen chlorophyllhaltiger Zellen nach dem Innern zu, besonders
in der Nachbarschaft der Gefässbündel.e. Den noch übrigen
Raum zwischen den beiderseitigen subepidermalen Schichten
nehmen grosse, cylindrische bis prismatische, dünnwandige
Zellen ein, die meist jedes geformten Inhalts entbehren oder
nur wenige Stärkekörner enthalten. In der Blattstielmittel-
rippe bilden dieselben um den Fibrovasalstrang herum ein
lockeres, in der Längsrichtung von vielen Intercellulargängen
durchsetztes Gewebe; in den Blattstielflügeln sind die Zellen
Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipula. 17
etwas kleiner, nach dem Rande zu nimmt ihre Zahl ab, bis
sie in der Nähe desselben ganz verschwinden und der Quer-
schnitt nur noch die kleinen, dicht mit Chlorophylikörnern ge-
füllten Zellen zeigt. Auch in den Blattstielllügeln findet man
zwischen den grossen Zellen zahlreiche Intercellulargänge.
Wie schon erwähnt, verläuft ungefähr im Centrum der
Blattstielmittelrippe das Hauptgefässbündel. Neben ihm ver-
läuft rechts und links je ein dünnerer Fibrovasalstrang (Fig. 3),
ähnlich wie dies Nitschke') für Drosera rotundifolia be-
schrieben und abgebildet hat (Dr. intermedia und anglica
zeigen dasselbe). Während indess bei Drosera die drei Ge-
fässbündel sich unterhalb der Mitte des Blattstiels vereinigen,
verlaufen sie bei Dionaea durch den ganzen Blattstiel im We-
sentlichen getrennt; nur communiciren die beiden lateralen
Fibrovasalstränge durch 3—5 kurze Verbindungsstränge mit dem
centralen Hauptbündel. Von jedem der lateralen Stränge geht
eine Anzahl Gefässbündelschleifen aus, die, dem Umriss des
Blattstiels folgend, von unten nach oben an Grösse zunehmen ;
die Scheitel der Schlingen sind nach oben gerichtet. An die
erste Reihe der Schlingen setzt sich eine zweite und stellen-
weise eine dritte Reihe an; die äussersten, dem Rande am
nächsten gelegenen Schlingen folgen dem Contour desselben
ziemlich genau. Von diesem geschlossenen Maschenwerk, das
etwas an die Nervatur der Lamina von Drosera erinnert, ge-
hen indess nicht, wie bei letzterer, viele freie Nerven gegen
den Rand hin ab; sondern höchstens tritt in die schon
erwähnten Zähnchen je ein kleiner, frei endigender Nerv.
Auch die meisten der feineren Nerven, welche sich innerhalb
der grossen Maschen finden, laufen in die Fibrovasalstränge
aus, welche die Maschen bilden.
Die drei centralen Gefässbündel durchlaufen noch ge-
trennt das Zwischenglied und vereinigen sich im Blattgrund zu
einem Strang. Das Zwischenglied weist genau den-
1) Bot. Zeit. 1861, S. 233, Tab. IX. Fig. 1. Auch in Dar-
win’s Inseetivorous Plants, London 1875, ist S. 247 die Nervatur
des Blattes der Drosera rotundifolia abgebildet.
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 2
18 F. Kurtz:
selben Bau auf, wie die Mittelrippe des Blattstiels, deren di-
recte Fortsetzung es ist. Seine Epidermiszellen zeigen nur
' etwas verdicktere Wände als die der Blattstiel-Mittelrippe.
Die Blattspreite zeigt im Umriss einen Kreis, aus dem
an zwei gegenüberliegenden Stellen je ein Sector entfernt ist.
Beide Seetoren werden durch die Blattmittelrippe, als Durch-
messer, halbirt; die Spitzen der Kreisausschnitte liegen also
auf dem Durchmesser, ungefähr um '/),—'/, der Radiuslänge
von der Peripherie entfernt. Die Lamina zerfällt in zwei
scharf getrennte Hälften, die sich, wie die Flügel des Blatt-
stiels, an die auch hier stark nach unten hervorgewölbte
Mittelrippe (Fig. 4) anschliessen.
Am Rande verlängert sich die Blattspreite in ziemlich
gleichmässigen Zwischenräumen in borstenartige Fortsätze,
deren Länge ungefähr '/,—'/, von der Breite der Lamina be-
trägt. Am Ursprunge jedes Fortsatzes zeigt der Blattrand
auf der Unterseite eine Anschwellung. Bei flüchtiger Betrach-
tung entsteht hierdurch der Anschein, als sei das Blatt am
Rande von Ausschnitt zu Ausschnitt wulstig verdickt, während
in Wirklichkeit die erwähnten Anschwellungen mit Thälern,
die den Zwischenräumen zwischen je zwei Borsten entsprechen,
abwechseln. Die Zahl der Randborsten beträgt an jeder
Hälfte des Blatts 13—18. Beim Zuklappen des Blatts greifen
die Randborsten alternirend in einander, wie die Finger beim
Händefalten. Auf der Oberfläche jeder Blatthälfte bemerkt
man meist 3 kleine Haare, von denen eins nahe der Mittel-
rippe, die beiden andern etwas mehr nach aussen stehen. Es
kommen auch 4 und 2 Haare vor; letzterer Fall ist einmal
von Darwin (Ins. Pl. p. 287) beobachtet. Sind vier
Haare vorhanden, so stehen zwei der Mittelrippe näher. Diese
Härchen, die eine Länge von 2—2'5 Mm. erreichen, sind der
Hauptsitz der Reizbarkeit. Schon mit blossem Auge bemerkt
man, dass die Oberseite der Lamina sehr viele erhabene
Pünktchen aufweist. Mit dem Mikroskop erkennt man in
ihnen kreisrunde, vielzellige Gebilde — Scheibendrüsen.
Gegen den Blattrand hin werden sie seltener und fehlen schliess-
lich fast ganz. Auch auf der Mittelrippe stehen sie weniger
Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipula. 19
dicht als auf den Blattflügeln. Die Mittelrippe der Blattspreite
setzt nicht die Stielmittelrippe in derselben Ebene geradlinig
fort, sondern setzt sich von dem Zwischenglied in einem Win-
kel von ungefähr 90° scharf ab. Sie bildet einen Bogen, dessen
Scheitel ungefähr im Mittelpunkt des Blattes liegt; die gerade
Verbindungslinie zwischen Blattgrund und Blattspitze ist die
Sehne dieses Bogens. Die schon erwähnten aus Veitch’s
Institut stammenden Pflanzen wichen in der Beschaffenheit
ihrer Lamina von den eben angegebenen Verhältnissen etwas
ab; ihre Mittelrippe ist nicht so stark gewölbt, und die Aus-
schnitte an Blattgrund nnd Blattspitze sind flacher, so dass die
Blatthälften einen mehr viereckigen Umriss zeigen.
Während die Flügel des Blattstiels aus einem weichen,
schnell welkenden Gewebe bestehen, zeigen die Blattflügel
eine knorpelartig spröde, saftige, resistente Beschaffenheit.
Ober- und Unterseite der Blätter sind an jüngeren Exempla-
ren hellgrasgrün gefärbt. Erwachsene Blätter zeigen dagegen
auf der Oberfläche ihrer Lamina eine tiefpurpurne Färbung,
die nur die Mittelrippe und den Blattrand, aus dem die Rand-
borsten entspringen, freilässt. Diese Färbung rührt von einem
rothen Farbstoff her, der sich im Zellsaft der Epidermiszellen,
der Scheibendrüsen und der sensiblen Haare bildet. Die
Scheibendrüsen und die sensiblen Haare zeigen die rothe Fär-
bung früher als die Epidermis und oft nur allein. Das Roth-
werden der Blattoberseite scheint nur bei besonders günstigen
Witterungsverhältnissen einzutreten; die Dionaeapflanzen des
Berliner Universitätsgartens zeigten es im September und Octo-
ber 1874 in vollkommenster Weise; 1875 trat die rothe Fär-
bung weniger allgemein und nur unvollkommen sich ent-
wickelnd auf. Von den älteren Autoren werden blos die
Drüsen als roth oder röthlich angegeben; nur die, sonst
nicht fehlerlose Abbildung Hill’s'), die schon erwähnte Ab-
bildung von Ellis und die Abbildung von Curtis (s. o.).
zeigen die Lamina purpurn gefärbt.
1) Hill, A decade of curious and elegant trees and plants, etc.
London, 1773,
9
20 F. Kurtz:
Während das Gewebe des Blattstiels im Allgemeinen aus
Zellen besteht, deren Längsaxen parallel der Blattstielmittel-
rippe verlaufen, zeichnet sich das Gewebe der Lamina dadurch
aus, dass die Längsaxen seiner Zellen senkrecht zur Mittel-
xippe stehen.
Die Mittelrippe selbst zeigt einen Bau, der von dem
des entsprechenden Stengeltheils etwas abweicht, was beson-
ders auf Längsschnitten hervortritt. Im Blattgrunde verläuft
das Hauptgefässbündel ungefähr im Centrum der Mittelrippe,
gegen die Blattspitze zu nähert es sich mehr und mehr der
Unterseite, der es schliesslich bis auf '/, des gesammten
Dickendurchmessers nahekommt. An der Basis des Blatts
zeigt der Fibrovasalstrang einen halbmond- oder nierenförmi-
gen Querschnitt, gegen die Spitze des Blatts hin hat er die
Tendenz, sich zu gabeln, doch tritt keine vollständige Tren-
nung in zwei Stränge ein‘). Von ihm laufen in ziemlich gleich-
mässigen Intervallen die Seitennerven aus, deren Zahl mit der
der Randborsten ungefähr correspondirt. Die Seitennerven
verlaufen etwas divergent bis in die Nähe des Blattrandes,
wo sie ein zierliches Bogensystem, das ungefähr dem Blatt-
umkreis folgt, bilden (Fig. 3). Die Zeichnung legt die Eigen-
thümlichkeiten der Blattnervatur ausreichend klar dar und
macht eine weitere Beschreibung derselben überflüssig.
Den Raum zwischen dem Gefässbündel der Mittelrippe
und der Blattoberseite, der seitlich durch die in die Blattflügel
gehenden Nerven begrenzt wird, nehmen zwei ziemlich scharf
unterschiedene Gewebeschichten ein, Zunächst der Mittelrippe
finden sich rundliche Zellen, fast ohne jeden körnigen Inhalt;
nur in der Nähe der Nerven enthalten sie etwas Chlorophyll,
und die unmittelbar an das Gefässbündel stossenden zeigen
sich mit Stärkekörnchen gefüllt. An der Basis des Blatts sind
diese Zellen nur wenig entwickelt, nach der Spitze zu nehmen
sie dagegen fast ein Drittel der Dicke der Rippe ein. Sie bil-
den ein lockeres, von Intercellularräumen durchzogenes Ge-
1) Meyen, Neues System der Pflanzenphysiologie, Bd. III.
8. 543,
Zur Anatomie des Blattes der Dionaea museipula., 91
webe. Den übrigen Raum nimmt ein Zellenzug ein, dessen
längliche Zellen senkrecht zur Oberfläche der Mittelrippe
stehen, diese mit den erwähnten rundlichen Zellen verbindend.
Auch diese Zellen, die im Querschnitt rundlich-polygonal er-
scheinen, sind fast ohne jeden geformten Inhalt; nur die in
der Nähe der Seitennerven gelegenen und die unmittelbar an
die Epidermis anstossenden Zellen enthalten Chlorophyll und
Stärkekörnchen. Der übrige Theil der Mittelrippe, d. h. also
die nach unten gelegene Partie, besteht, wie der entsprechende
Theil im Blattstiel, aus langen, parallel dem Hauptgefässbün-
del verlaufenden Zellen, die gegen die Epidermis zu bedeutend
kleiner werden. Es ist jedoch zu bemerken, dass am Scheitel
des Bogens, den die Mittelrippe bildet, auch diese Zellen
streckenweis eine zum Verlauf der Mittelrippe senkrechte
Stellung annehmen. In den zwei bis drei zunächst unter
der Epidermis gelegenen Zellschichten findet sich wiederum
Chlorophyll, während die grossen, das Gefässbündel umge-
benden Zellen frei davon sind.
Die Epidermis, welche die Unterseite der Blatt-
mittelrippe bekleidet, ist die directe Fortsetzung der Zwischen-
glieds-Epidermis. Sie geht indess nicht bis zu den Ursprungs-
stellen der beiden Blattflügel heran, sondern sie reicht beider-
seits nur bis zu dem Punkte, der ungefähr der Austrittsstelle
der Seitennerven aus dem Hauptgefässbündel gegenüberliegt
(Fig. 4, a). Hier trifft sie mit der Epidermis der Blattunter-
seite, deren lange schmale Zellen senkrecht zu der Mittelrippe
stehen, zusammen (Fig. 4). Die Oberseite der Mittelrippe
zeigt keine eigene Epidermis, sondern wird von der Epider-
mis der Blattoberseite bedeckt, welche hier einen beiderseits
ziemlich scharf begrenzten, 6—8 Zellen breiten Streifen etwas
verkürzter, breiterer Zellen bildet (Fig. 5, a, a).
Einen eigenthümlichen Bau besitzen die Blatt flügel.
Sie bestehen durchweg aus länglichen oder langgestreckten
Zellen, deren Längsaxen parallel den Hauptsträngen der
Seitennerven, und senkrecht zur Mittelrippe verlaufen.
Die Epidermis der Oberseite (Fig. 7) besteht aus Zel-
len, deren Grundform ein langgezogenes Sechseck ist, die je-
Bee
Pe F. Kurtz:
doch durch gegenseitigen Druck häufig in verschiedener Weise
zugerundet oder abgestumpft sind. Die Membran der Epider-
miszellen ist stark verdickt, ganz besonders die der Ober-
fläche zugekehrte Partie; die Zellen enthalten viele Stärke-
körner (Fig. 7 a), deren Gestalt und Gruppirung an die
Stärkekörner von Smilax Sassaparilla erinnern. An ganz ent-
wickelten Blättern ist ihr Zellsaft intensiv purpurn gefärbt.
Zwischen den Epidermiszellen liegen etwas vertieft die Basal-
zellen der Scheibendrüsen, die, wenn die Scheibe entfernt ist,
das Ansehen einer geschlossenen Spaltöffnung darbieten, deren
Spalte parallel zu den Seitennerven liegt. Jeder zwischen
zwei Randborsten liegende Theil der Epidermis theilt sich in
geringer Entfernung vom Rande in zwei Partien, von denen
jede sich auf die benachbarte Randborste fortsetzt; dort wer-
den ihre Zellen noch länger und schmaler, zeigen viel weniger
verdickte Wände und nehmen überhaupt fast ganz den Cha-
rakter der Epidermis der Blattunterseite an, mit der sie auf
den Borsten zusammentreffen. Die Räume zwischen den Rand-
borsten, wo die Epidermis der Blattoberseite mit der der
Unterseite zusammentreffen müsste, werden von länglichen,
parallel dem Blattrand verlaufenden, unregelmässig buchtigen
Zellen bedeckt; zwischen ihnen liegen ziemlich zahlreiche Sto-
mata (zwischen je zwei Borsten wurden auf der Oberseite
5—8 gezählt). Diese Spaltöffnungen sind von mehr rundlicher
Gestalt als die der Blattunterseite; ihre Spalten liegen meist
parallel der Mittelrippe. Diese Inseln abweichend gestalteter
Epidermiszellen sind die einzigen Stellen, wo man auf der
Blattoberseite Spaltöffnungen findet. Die Scheibendrüsen feh-
len auf den Borsten ganz; dagegen finden sich sehr schön aus-
gebildet die schon bei der Beschreibung des Stengels erwähn-
ten achttheiligen Sternhaare, die sonst nur auf der Unterseite
der Blattspreite vorkommen.
Unter der Epidermis der Blattoberseite liegt eine Schicht
etwas kürzerer Zellen (Fig. 6 und 9), die dünnwandig sind
und sehr reichlich Chlorophyll enthalten. Es folgen dann un-
gefähr 2—3 Lagen grösserer, langer, cylindrischer Zellen, die
ebenfalls dünnwandig, aber fast ganz ohne geformten Inhalt
% Karen
BETT. v
Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipula. 23
sind. Die innerste Schicht dieser Zellen stösst an die langen,
schmalen Zellen, welche die Fibrovasalstränge in den Blatt-
flügeln begleiten. Unterhalb des Gefässbündels liegen 2—3
Reihen Zellen von derselben Beschaffenheit wie die eben be-
schriebenen, dann 3—4 Schichten bedeutend schmalerer, klei-
nerer, chlorophyllreicher Zellen, und auf diese folgt schliess-
lich die Epidermis der Blattunterseite.
Diese untere Epidermis wird von sehr langen,
schmalen, eylindrischen Zellen mit etwas verdickten Wandun-
gen gebildet, die zwischen sich die ziemlich zahlreichen Spalt-
öffnungen und die Stielzellen der ungefähr in gleicher Anzahl
wie die Stomata vorhandenen Sternhaare einschliessen. Die
Spaltöffnungen sind etwas in die Länge gezogen ; ihre Spalte
liegt parallel den Seitennerven. Die Stielzellen der Stern-
haare bieten meist das Ansehen eines rundlichen geschlossenen
Stoma’s dar, wie die der Scheibendrüsen, doch kommen auch,
wenngleich nur selten, Sternhaare mit nur einer Stiel-
zelle vor.
Alle Zellen der Blattspreite sind im Längsschnitt kreis-
förmig oder fast kreisförmig (Fig. 9) und lassen grosse, drei-
oder viereckige Intercellularlücken zwischen sich, die, wie die
Zellen selbst, parallel den Seitennerven verlaufen.
Die Anschwellungen an der Basis der Randstacheln sind
durch stärkere Entwicklung der unteren Hälfte des Blattpar-
enchyms gebildet. Letzteres besteht an diesen Stellen (Fig. 4)
zunächst aus rundlichen Zellen, die unmittelbar an die Epi-
dermis der Blattunterseite angrenzen. Von diesen Zellen er-
heben sich grössere, längliche Zellen, die in schräger Rich-
tung von unten nach oben aufsteigen, parallel dem Fibro-
vasalstrang verlaufen, und immer schmaler und länger wer-
dend, die Randborste bilden. In den Anschwellungen sind
die grossen, inhaltslosen Zellen, welche im Blatt den
Fibrovasalstrang umgeben, verschwunden; alle Zellen ent-
halten hier mehr oder weniger Chlorophyll. In den
Räumen zwischen je zwei Borsten hören die langen
chlorophyllosen Zellen ebenfalls in einiger Entfernung vom
94 F. Kurtz:
Rande auf, statt ihrer finden sich rundliche, chlorophylK
haltige Zellen, die nicht mehr in Reihen geordnet sind und
bis zum Rande den Raum ausfüllen. Die Epidermis’ der
Ober- und die der Unterseite gehen nicht ganz an den’Rand
heran, zeigen aber bis zu ihrem Ende die charakteristischen
Triehome (Scheibendrüsen oben, Sternhaare unten). Die Epi-
dermis des Randes selbst, sowie je einer kleinen Strecke der
Ober- und Unterseite wird durch die schon erwähnten buch-
tigen Zellen gebildet.
Die Randborsten bestehen aus sehr schmalen langen
Zellen, deren Längsaxe die beiden andern um das 10—1löfache
übertrifft. Wie schon bemerkt, setzt sich die Epidermis des
Blatts direct auf die Borsten fort; je weiter nach der Spitze
der Borsten zu, desto mehr verschwindet jeder Unterschied
zwischen Epidermis und Parenchym. Die Borsten besitzen
weder Scheibendrüsen noch Stomata, wohl aber schön ausge-
bildete Sternhaare. In jeden Randfortsatz tritt ein stärkeres,
aus 5—6 Spiralgefässen bestehendes Gefässbündel, das fast
immer aus dem Bogen, der je zwei Seitennerven verbindet,
entspringt (Fig. 3); es durchläuft die Borste fast bis zur
Spitze, wo es, noch aus zwei Spiralgefässen bestehend, endet.
Ausser diesem Fibrovasalstrang treten fast regelmässig noch
aus dem feinen Nervennetz, welches seinen Ursprung aus den
Verbindungsbögen der Seitennerven nimmt, zwei oder ein zar-
ter Nerv in die Borsten; diese feinen Stränge verlieren sich
indess bald.
An der Stelle, wo ein sensibles Haar entspringt,
durchbricht das Blattparenchym die Epidermis der Blatt-
oberseite (Fig. 4). Die der Epidermis zunächst liegenden
Parenchymzellen sind hier kleiner, und bilden einen, aus
4—5 Etagen von polygonalen Zellen bestehenden, im Quer-
schnitt kreisrunden Cylinder (Fig. 10 a), der sich über die
Blattoberfläche erhebt und ungefähr '/,, der Gesammtlänge
des Haares beträgt. Die Epidermis der Oberseite, welche in
der Umgebung des sensiblen Haares aus kürzeren Zellen be-
steht, setzt sich auch auf die Basis desselben fort; ihre
Zellen sind hier von gedrungenerer Gestalt und haben nur
Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipula. 25
wenig verdickte Membranen. Auf den Oylinder ist ein schlan-
ker, sich schnell verjüngender Kegel aufgesetzt, der in stark
verkleinertem Maassstabe ganz das Aussehen einer Randborste
darbietet, nur zeigt er keine Sternhaare und kein Gefäss-
bündel. Die Basis dieses Kegels bildet einen ringförmigen
Wulst, der etwas über den Basalcylinder hervorragt; die
Zellen desselben färben sich zuerst und am intensivsten roth,
so dass an einem ganz entwickelten Blatt die drei sensiblen
Haare, von oben betrachtet, als drei dunkelpurpurne Punkte
auf heller purpurnem Grunde erscheinen. Der Kegel besteht,
wie die Randborsten, aus langen, schmalen, cylindrischen, nur
wenige Körnchen enthaltenden Zellen, deren Protoplasma
nach Darwin’s Beobachtungen (Ins. Pl. p. 291) die Er-
scheinung der Rotation zeigt. Derselbe Forscher giebt an,
dass die Spitze der sensiblen Haare mitunter zwei- oder sogar
dreitheilig sei; diese Erscheinung, die auch an Pflanzen des
Berliner Universitätsgartens gesehen wurde, kann durch
grösseres oder geringeres Auseinanderweichen der sie bilden-
den Zellen (Fig. 10 b) leicht hervorgebracht sein.
Das Blatt der Dionaea besitzt, ausser den sensiblen
Haaren, zweierlei Trichomgebilde: Sternhaare und Schei-
bendrüsen. Darwin giebt noch eine dritte Haarform an;
er sagt (Ins. Pl. p. 288): „there are also a few very minute,
simple, pointed hairs, about 15455 (0'0148 Mm.) of an inch
in length on the backs of the leaves“; allein es war mir nicht
möglich, diese Gebilde aufzufinden,
Die Sternhaare finden sich auf beiden Seiten des
Blattstiels, auf dem Zwischengliede, auf der Unterseite der
Lamina und an den Randborsten. Auf der Oberseite der La-
mina, wo Darwin einige wenige angiebt (Ins. Pl. p. 288),
habe ich nie welche gesehen. Die Sternhaare bestehen zu-
nächst aus zwei Stielzellen — sehr selten findet man nur eine
— die etwas vertieft zwischen den umgebenden Epidermis-
zellen liegen. Von ihnen strahlen meist 8 (es wurden auch 4,
6, 7, 9 gezählt) längliche, platte, an den Spitzen stumpfliche
Zellen aus (Fig. 11). Nicht immer treffen die Theilungs-
wände derselben in einem Punkt zusammen, es kommen
96 F. Kurtz:
nicht allzu selten Fälle wie der in Fig. 11 a abgebildete vor.
Die Sternhaare sind schon an sehr jungen Blättern, deren
Lamina noch ganz eingerollt ist und noch keine Spur von
Scheibendrüsen oder Randstacheln zeigt, zu vollkommener
Grösse entwickelt. Zu dieser Zeit sind sie ganz farblos, und
die mit Protoplasma gefüllten acht Zellen haben ein pralles,
turgescentes Ansehen. An erwachsenen Blättern dagegen sind
die Sternzellen mehr oder weniger gebräunt und sehen ver-
welkt aus, während die Scheibendrüsen dann sich am schönsten
entwickelt zeigen. Die Sternhaare der Dionaea zeigen mit
denen der Aldrovandia!) und der Drosera rotundifolia?)
grosse Aehnlichkeit. Ob die Oberhautzelle, aus der das
Sternhaar hervorgeht, auch so mannigfache Theilungen er-
fährt, wie Caspary dies für die Aldrovandia -Sternhaare
beschrieben und abgebildet hat (a. a. O. Tab. IV, Fig. 17, 18,
19), konnte leider nicht festgestellt werden.
Die Scheibendrüsen (Fig. 12) finden sich nur auf,
der Oberfläche der Blattspreite, dort aber in sehr grosser
Menge; nur der äusserste Blattrand ist frei von ihnen. Mit
geringen Abweichungen sind die Scheibendrüsen der Dionaea
genau so gebaut wie die Lupulindrüsen des Hopfens’). Im
fertigen Zustande bestehen sie aus zwei kleinen Basalzellen
(nach Rauter’s Terminologie) ; diese (Fig. 12g, I) tragen zwei
längere Stielzellen (Fig. 12g, 2), welche, von oben gesehen,
das Bild einer ovalen geschlossenen Spaltöffnung darbieten,
deren Spalte parallel den Seitennerven liegt. Die Basalzellen
liegen zwischen der subepidermalen, chlorophyllreichen Zell-
schicht (Fig. 9); die Stielzellen erreichen die Oberfläche des
Blatts, ihre Oberfläche liegt aber in einer, von den sich wöl-
benden Epidermiszellen gebildeten Vertiefung. Den Stielzellen
sitzt eine Scheibe auf, die, wenn die successiven Theilungen
ihrer Mutterzelle ganz regelmässig erfolgt sind, aus 23 Zellen
1) Caspary in Bot. Zeit. 1859, S. 117 ff. Taf. IV, V.
2) Nitschke a. a. ©.
3) Rauter, Zur Entwickelungsgeschichte einiger Trichomgebilde,
Wien, 1871. Abgedr. aus d. XXXI. Bd. d. Denkschr. d. math.
naturw. Kl. d. K. Akad. d. Wiss. S. 25, 26; Taf. VIII. Fig. 2—11.
Zur Anatomie des Blattes der Dionaea museipula. 27
besteht (Fig. 12 f). Sie bildet, wie die Zellscheibe der Lupu-
lindrüsen, einen seichten Napf. Ein Secret findet man in den
Drüsennäpfen nicht, dieselben secerniren nur, wenn sie mit
löslichen stiekstoffhaltigen Substanzen, Insectenleichen, Ei-
weiss, Gelatine oder dergl. in Berührung sind (Darwin). Die
successiven Theilungen der Scheibenmutterzelle werden durch
die Fig. 12 a—g dargestellt. Aber nicht immer theilen sich
die acht zuerst gebildeten Randzellen in je zwei, wie es Fig,
12 e zeigt; zuweilen unterbleibt die Theilung in einer oder in
mehreren Zellen (Fig. 12 h, i). In den zuletzt eintretenden
Theilungen lässt sich keine bestimmte Regel mehr erkennen;
die Zahl der Scheibenzellen beträgt höchstens 34—36.
Die Entwickelungsgeschichte der Blätter konnte der Kost-
barkeit des Materials wegen nicht verfolgt werden. Eigen-
thümlich ist das Grössenverhältniss zwischen Petiolus und
Lamina an den zuerst entstandenen und an den späteren
Blättern eines Jahres. Die ersten Blätter zeigen nämlich
einen Blattstiel, der schon seine vollkommene Grösse erreicht
hat, wenn die Lamina noch auf einer sehr niedrigen Ent-
wickelungsstufe sich befindet (Fig 1, d, e). Der Petiolus der
ersten Blätter bleibt während der ganzen Lebensdauer dersel-
ben breiter als die Blattspreite, während bei allen späteren
Blättern die Spreite den Blattstiel an Breite übertrifft. Dieser
Unterschied zwischen den ersten und den späteren Blättern
ist besonders an der gewöhnlichen Form der Dionaea hervor-
tretend; die von Veitch stammenden Pflanzen haben da-
gegen erste Blätter, die den späteren Blättern der gewöhn-
lichen Form ähnlich sind. Die Blätter der Dionaea zeigen die
Ptyxis involuta, wie Drosera. Die eingerollte Lamina ist
gegen den ebenfalls eingekrümmten Blattstiel zurückgeschla-
gen wie die Klinge eines geschlossenen Taschenmessers (Fig.
1, g). Dann richtet die Blattspreite sich auf und nimmt, noch
nicht sehr entwickelt, ihre definitive Stellung ein.
Das jüngste Blatt, welches untersucht wurde, besass eine
Lamina von 1 Mm. Länge. Die Sternhaare waren an dem-
selben bereits vollkommen entwickelt, die sensiblen Haare
und die Scheibendrüsen fehlten noch. Das Blatt war sehr
98 F. Kurtz:
reich an Stärkekörnern. Ein Blatt, dessen Lamina 2 Mm,
lang war, zeigte die sensiblen Haare schon als unverhältniss-
mässig grosse, stumpfwalzliche Kegel, an denen jedoch die
Gliederung in der Nähe der Basis noch nicht zu erkennen
war. Die Scheibendrüsen waren bereits als einfache Ausstül-
pungen der Epidermis vorhanden. An diesem Blatt wurden
auch vollkommen entwickelte Stomata beobachtet, deren
Schliesszellen reichlich Stärkekörner enthielten, wodurch sie
sich von den stärkefreien Stielzellen der Sternhaare sofort
unterschieden. Ein etwas älteres Blatt, dessen Blattspreite
eine Länge von 4 Mm. besass, zeigte die Scheibendrüsen
schon als mehrzellige Körper.
Zum Schluss habe ich meinen hochverehrten Lehrern Hrn.
Prof. A. Braun und Hrn. Prof. L. Kny für die gütige Un-
terstützung, die sie mir bei dieser Arbeit zu Theil werden
liessen, meinen herzlichsten Dank auszusprechen.
Erklärung der Abbildungen.
Fig. 1. Zeigt die Art des Einpflanzens, welche Hr. Prof. Munk an-
wenden liess, um die Blätter für physiologische Versuche zu-
gänglicher zu machen. Die Abbildung zeigt Blftter verschie-
dener Stöcke und verschiedenen Alters. Die Blätter a und b
gehören der mehrfach erwähnten Form, welche Veitch schickte,
an, die übrigen (c—g) der gewöhnlichen Form. Die Blattflügel
von a sind flach auseinandergelegt, um den Umriss der Lamina
zu zeigen. % natürlicher Grösse.
Fig. 1 A. Schematische Darstellung der ungleichmässigen Ausbil-
dung der Blattstielöhrchen.
Fig. 2. Epidermis der Unterseite des Blattstiels. Die Chlorophyll-
körner in den Epidermiszellen sind nur zum Theil ausgeführt.
Vergr. 240.
Fig. 3. Nervatur des Dionaeablattes, nach einem in Kalilauge ge-
kochten Blatt gezeichnet. Die — halbe — Lamina ist flach
zur Seite gelegt.
Fig. 4. Querschnitt durch die Mittelrippe und eine Hälfte der La-
mina; schematisch.
Arch Zu v2 Inat.u. Ph ystol. 1816:
#iy.12a. Pig 12h, Fig 1Rc FIRRA:
98%
Fig ICh.
RN
[AS
haue lith.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Zur Anatomie des Blattes der Dionaea muscipulla. ° 29
5. Epidermis der Oberseite der Blattmittelrippe (die zwischen
a, a, a, a befindliche Strecke). Vergr. 80.
6. Querschnitt durch die Lamina. Vergr. 160.
7. Epidermis der Oberseite der Lamina; s, s die Stielzellen
einer Scheibendrüse. Vergr. 240.
7a. Stärkekörner aus denselben Epidermiszellen, stärker ver-
grössert.
8. Epidermis der Unterseite der Lamina. Vergr. 240.
9. Längsschnitt durch die Lamina. Vergr. 160.
10a, Ansicht der Basis eines sensiblen Haars; bei W der her-
vortretende Wulst. Vergr. 240,
10b. Spitze eines sensiblen Haars. Vergr. 240.
11 und 11a. Sternhaare des Dionaeablatts. Vergr. 240 resp. 120.
12 a—k. Scheibendrüsen des Dionaeablatts. a—g schematische
Zeichnungen, die die successiven Theilungen, durch welche
die Drüsenscheibe gebildet wird, veranschaulichen. g ist die
Seitenansicht von e; 1, 1 sind die Basal-, 2, 2 die Stiel-
zellen. h, i und k sind mit dem Prisma bei 240maliger Ver-
grösserung gezeichnet.
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen
am Blatte der Dionaea musecipula.
Von
HERMANN MunRKk.
Hierzu Taf. I. und Taf. III.
$. 1. Einleitung. Allgemeines über die Untersuchung.
Wenn Hrn. Dar win’s Untersuchungen über die Inseeten-
fressenden Pflanzen, sobald nur vor Jahren Einzelnes über
sie verlautete, naturgemäss das allgemeine Interesse erregten,
so musste für den engeren Kreis der Physiologen nicht minder
anziehend sein die wundervolle Entdeckung, wie Hr. Dar-
win sie nennt, welche sich von Seiten des Hrn. Burdon
Sanderson an jene Untersuchungen knüpfte. Die Dionaea
muscipula, zu den Insectenfressenden Pflanzen gehörig, hat
ein zweiflügeliges Blatt, das auf Reizung sich schliesst, in-
dem die etwa halbkreisförmigen Flügel mit ihren Rändern
sich an einander legen. Dieses Blatt fand Hr. Sanderson
mit einer elektromotorischen Wirksamkeit ausgestattet, wie
den Muskel; und wie bei der Contraction des Muskels dessen
Strom die negative Schwankung erfährt, so sah Hr. Sander-
son auch eine negative Schwankung des Stromes des
Dionaea-Blattes eintreten, sobald das Blatt sich contrahirte. Ja
sogar die Periode der latenten: Reizung des Muskels und den
Elektrotonus des Nerven gelang es Hrn. Sanderson am
Dionaea-Blatte wiederzufinden, den letzteren, wenn der Blatt-
stiel, der selbst umgekehrt elektromotorisch wirksam sich er-
H. Munk: Die elektrischen u. Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 31
gab wie das Blatt, von einem constanten Strome durchflossen
oder gar nur einfach vom Blatte abgetrennt wurde').
Mit Recht konnten Hr. Darwin?) und Hr. Hooker’)
Hrn. Sanderson’s Untersuchungen preisen, weil dieselben
für die Thierähnlichkeit der ausgezeichneten Pflanzengruppe,
kaum dass noch die Verdauungsfähigkeit erwiesen war, schon
als neues Moment auch die Contractilität hinzufügten. Aber
selbst aus jeder Verbindung mit der Verdauungsfähigkeit der
Pflanzen gelöst, behielten Hrn. Sanderson’s Erfahrungen
des Bedeutungsvollen genug. Die Muskeln und die Nerven
und allenfalls die Drüsen waren nun nicht mehr die einzigen
Organismen, welche bei der Thätigkeit die negative Schwan-
kung ihres Eigenstromes darboten, der Nerv stand nicht mehr
allein da ausgezeichnet durch den Elektrotonus, sondern an
diese thierischen Organismen reihte sich mit den gleichen elek-
trischen Veränderungen ein pflanzlicher Organismus an, dessen
Bau, Ernährung und Function ganz anders geartet waren.
Dieselben elektrischen Vorgänge liessen sich daher fortan
unter weit differenten Verhältnissen studiren, und somit war
eine neue Aussicht eröffnet für die Förderung bisher hart-
näckig widerstrebender Probleme, der Fragen nach Wesen
und Bedeutung der elektrischen Erscheinungen an Nerv und
Muskel. Nicht mindere Hoffnungen knüpften sich in anderer
Hinsicht an. Das Vorkommen von Contractilität bei den
1) Hr. Sanderson hat seine Untersuchungen an folgenden Stellen
veröffentlicht:
1. Report of the XLIII. Meeting of the British Association at
Bradford in September 1873. London 1874. Tr. of the Sect. p. 133;
2. Proceedings of the Royal Society. Vol. XXI. No. 147. Novem-
ber 20, 1873. p. 495—6;
3. Centralblatt für die medicin. Wissensch. 1873, No. 53 (23.
November), S. 833—5;
4. Nature, Vol. 10, No. 241 and 242, p. 105—7 and 127—8;
June 11 and 18, 1874.
Die drei ersten Mittheilungen geben eine kurze Uebersicht der
Untersuchung; die letzte Mittheilung ist die ausführlichste und die
Wiedergabe eines am 5. Juni 1874 in der Royal Institution gehal-
tenen Vortrages.
2) Insectivorous Plants. London 1875. p. 318,
3) Nature, Vol. 10, No. 253, p. 367; 3. Sept. 1874.
32 H. Munk:
Pflanzen, so lange eifrig und mit Erfolg bestritten, war nun-
mehr unverkennbar mit gewichtigen Gründen gestützt. Auch
für das Studium der Contraction bot sich also neben dem
Muskel ein zweiter, ganz anders beschaffener Organismus dar,
und wesentliche Fortschritte auch auf diesem dunkeln Gebiete
liessen sich erwarten.
Diese Erwägungen und andere, welche die Präexistenz
der elektrischen Erscheinungen an den Organismen betrafen,
wandten meine Aufmerksamkeit sogleich im November 1873
dem Dionaea-Blatte zu; und Dank der Unterstützung, welche
ich fand, konnte ich in den beiden letzten Jahren die Unter-
suchungen ausführen, deren Ergebnisse ich im Folgenden
mittheile. Das Material für die Untersuchungen verschaffte mir
die Güte des Hrn. Prof. A. Braun und die grosse Freund-
lichkeit unseres Universitätsgärtners, Hrn. Barleben, der
mit einer nicht genug anzuerkennenden Bereitwilligkeit auf
alle meine Intentionen einging. Der bei vielen Versuchen un-
umgänglichen Assistenz unterzog sich Hr. F, Kurtz mit aus-
nehmender Liebenswürdigkeit.e. Auch war Hr. Kurtz so
freundlich, auf meinen Wunsch die anatomische Untersuchung
des Blattes zu übernehmen, über welche derselbe im vorher-
gehenden Aufsatze berichtet hat. Ich fühle mich allen den
genannten Herren zu ganz besonderem Danke verpflichtet.
Die Dionaeen, welche ich untersuchte, waren sämmtlich
von Hrn. Barleben in Töpfen cultivirt, die verrottete
Sphagnum-Erde, etwa zur Hälfte mit Sphagnum gemischt,
enthielten. Vor dem Besuche von Insecten waren sie durch
Glaskästen durchaus geschützt. Trotzdem gediehen sie präch-
tig und besonders im Jahre 1374 so vortrefflich, dass die
Blätter in Grösse und Ausbildung keiner der vorhandenen
Beschreibungen und Abbildungen nachstanden, ja manchmal
dieselben noch übertrafen. Ihre Wurzeln waren recht gross
und zahlreich: ich fand bei einer löblätterigen Pflanze 15, bei
einer Sblätterigen 8 ansehnliche, meist über 100 Mm. lange
Wurzelfäden.
Im Jahre 1874 hatte Hr. Barleben aus den anfänglich
vorhandenen 2 Dionaeen des hiesigen Universitätsgartens mit
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u. s. w. 33
vielem Glücke 6 Pflanzen aufgezogen, so dass ich ca. 40 grosse
und zum Theil ausgezeichnete Blätter für die Untersuchung
verwenden konnte. Im Jahre 1875 standen mir, nachdem ich
noch im Frühjahre aus England und aus Amerika Dionaeen
erhalten hatte, 10 brauchbare Töpfe mit ca. 60 grossen Blättern
zur Verfügung. Die amerikanischen Pflanzen waren von den
hiesigen gar nicht zu unterscheiden, die englischen Exemplare
aber boten Abweichungen nicht nur in der Gestalt des Blatt-
stieles und des Blattes selbst, sondern auch durch das Auf-
steigen des Blattstieles dar, wie es Hr. Kurtz bereits be-
schrieben hat. Soweit die folgenden Untersuchungen sich er-
streekten, haben alle Pflanzen die gleichen Ergebnisse ge-
liefert.
Hr. Sanderson hat die Blätter (mit ihren Stielen) im-
mer abgeschnitten benutzt, und dies Verfahren bringt mehr-
fache Nachtheile mit sich. Das abgeschnittene Blatt ist doch
immer nur ein überlebender, in seiner Ernährung gehemm-
ter Organismus, dessen Beziehung zum normalen, unversehr-
ten Blatte, dem eigentlichen Gegenstande der Untersuchung,
erst einer besonderen Ermittelung bedarf. Jedermann weiss
ferner, wie oft und immer wieder - gerade die elektromoto-
rischen Erscheinungen an den Organismen auf Grund der
Schnittflächen der Organismen, ja selbst schon der schnittfreien
Lostrennung derselben vom Gesammtorganismus verdächtigt
worden sind. Dazu kommt, dass der Ausdehnung und der
Wiederholung von Versuchsreihen an einem und demselben
Blatte, sobald dasselbe abgetrennt, sehr enge Grenzen gesteckt
sind. Endlich und vor Allem ist mit dem Abschneiden jedes
Blattes das kostbare Versuchsmaterial verkürzt, das sich
schwer oder gar nicht wiederersetzen lässt. Aller dieser
Nachtheile wegen habe ich es als ein erstes Erforderniss an-
sehen müssen, das Abschneiden der Blätter entbehrlich zu
machen, und es ist mir gelungen, die Forderung zu erfüllen.
Der Untersuchung der unversehrten Blätter am Topfe
steht nur im Wege, dass die Blätter und besonders ihre blatt-
artigen Stiele dicht bei einander mit ihren unteren Flächen
der Topferde resp. dem Topfe- selbst unmittelbar aufliegen,
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 3
34 H. Munk:
so dass die für die Untersuchung erforderliche Isolation und
Zugänglichkeit des Blattes ohne Verletzung des Topfes nicht
zu erreichen sind. Ich liess deshalb durch Hrn. Barleben
das junge Pflänzchen jedesmal in einen kleinen Topf mit aus-
geschlagenem Boden, den Bodenrand nach oben gerichtet, ein-
setzen, dann den kleinen Topf auf einen gleichfalls mit Spha-
gnum und verrotteter Sphagnum-Erde gefüllten grösseren
Topf stellen und schliesslich die Füllung des letzteren Topfes
bis zum oberen Rande des kleinen Topfes erhöhen (s. Fig. 1).
Nun breiteten sich. die Blattstiele und Blätter bei ihrer Ent-
wickelung auf der den kleinen Topf umkleidenden Sphagnum-
Hülle aus; und es war nur nöthig, an der Stelle des für’ die
Untersuchung ausgewählten Blattes die Sphagnum-Hülle in
einiger Ausdehnung zu entfernen, um das Blatt in der erfor-
derlichen Weise isoliren und die Apparate bequem heranbrin-
gen zu können. Höchstens war noch durch passend in die
Sphagnum-Hülle eingestossene Glasstäbe die Isolirung des
Blattes von den Nachbarblättern zu unterstützen. Nach Ab-
schluss der Prüfung des Blattes wurde das vorher entfernte
Sphagnum wieder untergelegt, und der Topf stand später,
unversehrt wie zuerst, für die weitere Untersuchung zur Ver-
fügung.
Bei den hiesigen wie bei den amerikanischen Dionaeen
habe ich das angezeigte Hülfsmittel unentbehrlich gefunden.
Bei den englischen Exemplaren dürfte es nur nützlich sein,
weil die mehr vom Boden sich abhebenden Blattstiele wohl
auch ohnedies, wenngleich schwieriger, die Untersuchung der
Blätter am Topfe zulassen würden. Die Möglichkeit der
wiederholten Prüfung der unversehrten Blätter am unversehr-
ten Topfe gewährt eine hohe Befriedigung, und ich habe dieses
Verfahren vorzugsweise geübt. Das Abschneiden der Blätter
lässt sich dann für die Versuche aufsparen, für welche es un-
umgänglich ist, und für den Spätherbst, wo die weitere Scho-
nung der Blätter doch zwecklos wäre. Die mit dem Stiele
abgeschnittenen Blätter habe ich nicht länger als während 30
Minuten zur Untersuchung brauchbar gefunden; aber inner-
halb der ersten 15—20 Minuten unterschieden sie sich auch
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u. s. w. 35
gar nicht merklich von den unversehrten Blättern am Topfe.
Diese letzteren habe ich bis 30 Minuten lang frei an der Luft
untersuchen können, ohne dass der Topf darunter Schaden
nahm. Selbstverständlich musste durch ausgebreitetes feuchtes
Fliesspapier, Alcarazza’s u. dergl. für eine feuchte Atmosphäre
in der Umgebung der geprüften Blätter gesorgt sein.
Zur Fixirung der abgeschnittenen Blätter habe ich mich
mit Vortheil der kleinen Blattzwinge bedient, welche Fig. 13
zeigt. Die schräg schraffirten Theile sind von Hartgummi,
die anderen von Messing hergestellt. Die Vorrichtung war
am du Bois’schen allgemeinen Träger befestigt, und zwischen
die verstellbaren schmalen Hartgummi-Platten wurde ohne
Pressung das Zwischenglied (zwischen Blattstiel und Blatt)
gebracht. Natürlich lässt sich die Vorrichtung auch zur
Fixirung der Blätter am Topfe benutzen, man kommt dort
aber in der Regel gut ohne dieselbe aus.
Nach diesen Vorbemerkungen kann ich zur Darlegung der
Untersuchung übergehen. Ich schliesse mich bei derselben
hinsichts der Bezeichnung der Blatt-Theile, -Seiten, -Ränder
u. s. w. dem vorhergehenden Aufsatze des Hrn. Kurtz an,
der überall den nöthigen Aufschluss gewähren wird. Nur
zweierlei Bezeichnungen treten hinzu und bitte ich besonders
beachten zu wollen. Ich nenne das Stielende des Blattes das
vordere, das entgegengesetzte freie Ende (die Blattspitze)
das hintere Ende des Blattes und spreche demgemäss von
„vorn“ und „hinten“, „vorderem“ und „hinterem“ Blattrande
u. s. w. Ferner nenne ich einen Strom oder eine Kraft, wenn
sie im Blatte von vorn nach hinten gerichtet ist, aufstei-
gend, wenn sie die umgekehrte Richtung hat, absteigend.
Ich verkenne nicht, dass gegen diese Bezeichnungen, besonders
die letzteren, Manches einzuwenden ist; allein sie können
nach der gegebenen Definition Dunkelheiten nicht mehr ver-
anlassen, und sie werden mir zu häufig die wünschenswerthe
Kürze des Ausdrucks gestatten, als dass ich sie sollte entbeh-
ren mögen.
3+
a0 H. Munk:
$. 2. Von der Vertheilung der Spannungen an der Oberfläche
des Dionaea-Blattes.
Hrn. Sanderson’s Bemerkungen über die elektromoto-
rische Wirkung des Dionaea-Blattes beschränken sich auf die
folgende Angabe'): „Wenn die entgegengesetzten Enden eines
lebenden Blattes von Dionaea mittelst nicht polarisirbarer
Elektroden in metallische Verbindung gebracht werden und
ein Thomson’sches Spiegelgalvanometer mit hohem Wider-
stande in den so gebildeten Kreis eingeschaltet wird, so ist
eine Ablenkung bemerkbar, die einen von dem Stielende zu
dem dem Stiele abgewendeten Ende des Blattes gerichteten
Strom angiebt. Diesen Strom nenne ich den normalen Blatt-
strom?). .. Um (ihn) zu demonstriren, hat man nicht nöthig,
irgend eine Schnittfläche den Elektroden auszusetzen.* Und
immer ist es sodann dieser selbe Strom, an welchem Hr.
Sanderson die elektrotonischen Veränderungen und die ne-
gative Schwankung constatirt.
Die Richtung des Stromes im Blatte, nicht im Galvano-
meterdrahte, ist in den angeführten Worten gemeint, und Hrn.
Sanderson’s Angabe ist leicht zu bestätigen: man findet in
der That regelmässig zwischen jenen Blattenden, nach unserer
Bezeichnungsweise, einen aufsteigenden Strom. Aber damit
ist nur ein erster Schritt zur Kenntniss der elektromotorischen
Wirkungen des Dionaea-Blattes gethan, und wir wollen diese
Wirkungen jetzt genauer verfolgen.
Meine Versuchsweise bot nichts Besonderes. Die Elek-
troden bildeten du Bois’sche Zuleitungsröhren mit Thon-
spitzen, deren Thon mit dreiviertelprocentiger Kochsalzlösung
angeknetet und deren Gestalt dem jedesmaligen Bedürfnisse an-
gepasst war?). Der Wiedemann’schen Bussole mit aperiodisch
1) Centralbl. S. 8833—4; Proceed. p. 495; Nat. p. 128.
2) Diesen im Centralbl. ausgefallenen kurzen Satz („Diesen —
Blattstrom“) ergänze ich nach dem sonst gleichen Texte der Proceed.
3) Hrn. Sanderson’s Elektroden (Nat. p. 128) haben eine zu
plumpe Form, als dass sie für die feinere Untersuchung des Blattes
brauchbar wären; nach der Fig. 2 a. a. O. zu schliessen, war sogar
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s. w. 37
gemachtem') Magnete war eine angemessene Empfindlichkeit er-
theilt. Zur Messung der elektromotorischen Kraft diente die
von du Bois-Reymond modifieirte Poggendorff’sche
Compensationsmethode.
Die Elektroden berühren zuerst immer und ausschliesslich
die untere Blattfläche.
Gleich gelegene Punkte der beiden Blattflügel erweisen
sich als gleichartig. Wirkliche Stromlosigkeit kommt aller-
dings nur selten vor; aber der zur Beobachtung kommende
Strom ist immer nur sehr schwach, die Kraft nur sehr klein,
und die Richtung ist eine ganz regellose, bei erneuter Anlage-
rung der einen Thonspitze häufig die umgekehrte wie zuvor.
Da ferner schon ganz geringe Verschiebungen der einen oder
der anderen Elektrode die vorhandene Richtung oft in die ent-
gegengesetzte umschlagen machen, und da der Einfluss solcher
Verschiebungen auf die Richtung nach den später zu ent-
wickelnden Gesetzen sich gut vorhersagen lässt, so kann kein
Zweifel sein, dass wir es mit einer unwirksamen Anordnung
zu thun haben, die nur, wegen der Schwierigkeit der gleichen
Einstellung an beiden Flügeln, selten sich streng herstellen
lässt. Es ist also zu beiden Seiten der Mittelrippe
Alles symmetrisch, und nur Ein Blattflügel mit der Mit-
telrippe bleibt weiter zu betrachten.
Denkt man sich die Mittelrippe der Länge nach in zwei
ungleiche Theile zerfällt, einen kürzeren hinteren und einen
längeren vorderen Theil, so ist in jedem dieser Theile jeder
dem inneren Ende nähere Punkt positiv gegen jeden entfern-
teren Punkt. Der positivste Punkt der Mittelrippe liegt etwa
am vorderen Ende ihres hintersten Drittels, und mit dem
Wachsen des Abstandes von diesem Punkte nimmt die Positi-
vität nach beiden Enden hin ab, so jedoch, dass sie bis zum
vorderen Ende wesentlich weiter abnimmt, als bis zum hinte-
schon die Ableitung von den Blattenden eine recht grobe, viel zu
ausgedehnte,
ı)E. du Bois-Reymond, Monatsber. der Berl. Akad. 1873.
S. 761 ff.
38 H. Munk:
ren Ende. Bleibt die eine Thonspitze am vorderen Ende der
Mittelrippe stehen, und verschiebt man die andere Thonspitze
an der Mittelrippe nach hinten, so findet man immer eine auf-
steigende Kraft: ihre Grösse wächst zuerst an und erreicht,
wenn die wandernde Thonspitze am vorderen Ende des hin-
tersten Drittels angelangt ist, ein Maximum, nimmt dann aber
wieder ab, so dass sie nur noch ohngefähr die Hälfte des
Maximums beträgt, wenn die wandernde Thonspitze an das
hintere Ende der Mittelrippe gekommen ist. Hält man um-
gekehrt die eine Elektrode am hinteren Ende der Mittelrippe
fest und verschiebt die andere Elektrode an der Mittelrippe
nach vorn, so zeigt sich zuerst, eine absteigende Kraft, welche,
bis das vordere Ende des hintersten Drittels erreicht ist,
wächst und darauf, bis das vordere Ende des zweiten Drittels
erreicht ist, auf Null abnimmt; schliesslich aber tritt eine auf-
steigende Kraft auf, die allmählich ohngefähr dieselbe Grösse
gewinnt, welche vorher das Maximum der absteigenden Kraft
besass. (1.—6. Fig. 14; 7. und 8. Fig. 15.)
Linien, welche man sich in der Fläche eines Blattflügels
senkrecht auf die Mittelrippe gezogen denkt, wollen wir
Querlinien des Blattes nennen. Jeder Punkt einer solchen
Querlinie erweist sich negativ gegen den zugehörigen Punkt
der Mittelrippe; und regelmässig nimmt die Negativität der
Blatt-Punkte mit dem Wachsen des Abstandes von der Mittel-
rippe zuerst bis zu einem Maximum zu und dann bis zum
äusseren Blattrande hin wieder ab. Der negativste Punkt der
Querlinie fällt nie mit der Mitte der Linie zusammen, sondern
befindet sich immer dem äusseren Blattrande näher als der
Mittelrippe. An der mittelsten Querlinie ist der negativste
Punkt nur wenig von der Mitte der Linie entfernt; aber diese
Entfernung und die Annäherung an den äusseren Blattrand
werden verhältnissmässig immer grösser, je mehr die Quer-
linie dem vorderen oder dem hinteren Blattrande nahekommt.
Punkte derselben Querlinie, welche zu beiden Seiten des ne-
gativsten Punktes gelegen sind, erweisen sich bei gleichem
Abstande von diesem Punkte ohngefähr gleichartig; bei un-
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 39
gleichem Abstande ist der vom negativsten Punkte entferntere
Punkt positiv gegen den näheren Punkt. (9.—23. Fig. 14.)
Durch die Verbindung der negativsten Punkte aller Quer-
linien erhält man die (punktirte) Curve aa Fig. 15, welche
der Mittelrippe nahezu parallel verläuft und die Haupt-
Längslinie des Blattflügels heissen mag. Alle dieser Linie
angehörigen Punkte ergeben sich als gleichartig: immer nur
sehr schwache Ströme von unbestimmter Richtung kommen
hier zur Beobachtung, gleichviel ob die beiden geprüften
Punkte in der vorderen oder in der hinteren oder in beiden
Hälften des Blattflügels sich befinden. Dasselbe Verhalten
stellt sich dann auch für Punkte heraus, welche anderen der
Mittelrippe parallelen Längslinien nach innen von der
Haupt-Längslinie angehören (24.—27. Fig, 15). Nur in den
der Mittelrippe nahen Längslinien scheint zwischen Punkten
der hinteren Blattflügel-Hälfte eine schwache absteigende,
zwischen Punkten der vorderen Blattflügel-Hälfte eine
schwache aufsteigende Kraft zu bestehen; doch hat es mir
hier nicht gelingen wollen, eine einfache Gesetzmässigkeit in
den Spannungen regelmässig wiederzufinden.
Von den Mitten zweier Querlinien, welche beide in der
vorderen oder beide in der hinteren Blattflügel-Hälfte sich be-
finden, ist regelmässig die dem vorderen resp. hinteren Blatt-
rande nähere Mitte positiv gegen die entferntere Mitte; und
es wächst die im ersteren Falle absteigende, im letzteren Falle
aufsteigende Kraft mit der Spannweite des Bogens. Dasselbe
ergiebt sich, wenn an die Stelle der Mitten der Querlinien
solche Punkte der Querlinien treten, welche etwa um ein
Drittel der Länge dieser Linien von der Mittelrippe entfernt
sind. Beträgt aber der Abstand der geprüften Punkte der
Querlinien von der Mittelrippe etwa drei Viertel oder mehr
der Länge dieser Linien, oder sind die geprüften Punkte am
äusseren Rande des Blattflügels gelegen, so ist umgekehrt
immer der vom vorderen resp. hinteren Blattrande entferntere
Punkt positiv gegen den näheren Punkt; die hier somit in
der vorderen Blattflügel-Hälfte aufsteigende, in der hinteren
absteigende Kraft wächst übrigens gleichfalls mit der Spann-
40 H. Munk:
weite des Bogens. Gehören endlich solche Punkte, wie wir
sie eben betrachteten, Querlinien an, welche die eine in der
vorderen, die andere in der hinteren Blattflügel-Hälfte sich be-
finden, so stellt sich, bei gleichem Abstande der Querlinien
von der mittelsten Querlinie des Blattflügels, bald dieser bald.
jener Punkt als positiv resp. negativ dar, und der Spannungs-
unterschied der beiden Punkte ist nur gering; dagegen ist bei
wesentlich ungleichem Abstande der beiden Querlinien von
der mittelsten Querlinie regelmässig der der letzteren Linie
nähere Punkt in den inneren drei Vierteln des Blattflügels
ansehnlich negativ, im äusseren Viertel des Blattflügels an-
sehnlich positiv gegen den entfernteren Punkt. (32.—37. Fig.
14; 28.—31. und 38.—44, Fig. 15.)
Man übersieht, die Haupt-Längslinie ist der Inbegriff der
negativsten Punkte jedes Blattflügels, welchen als positivster
Punkt des Blattes das vordere Ende des hintersten Drittels
der Mittelrippe gegenübersteht. Und wie am ganzen Blatte
zu beiden Seiten der Mittelrippe, so ist wiederum an jedem
Blattflügel zu beiden Seiten der mittelsten Querlinie Alles
symmetrisch. Die volle Symmetrie des Blattes in elektromo-
torischer Beziehung erscheint nur dadurch gestört, dass der
positivste Punkt an der Mittelrippe über die Mitte derselben
hinaus nach hinten gerückt ist.
Ich habe noch eine ganze Reihe anderer Prüfungen vor- _
genommen, indem ich immer einen einzelnen Punkt der Mit-
telrippe oder des Blattflügels nach einander mit den verschie-
densten anderen Blatt-Punkten verband. Die Ergebnisse dieser
Prüfungen boten aber nichts Bemerkenswerthes weiter dar,
sondern bestätigten nur die angeführten Ermittelungen, nach
welchen sie vorherzusagen gewesen wären. Ich darf mich
deshalb auch damit begnügen, einige solche Prüfungen in den
Figg. 14 und 15 vorzuführen (45.—48.).
Wir kennen also jetzt die Vertheilung der Spannungen
an der unteren Blattfläche; denn ausschliesslich dieser
Fläche waren, wie ich oben hervorhob, bisher die Elektroden
angelegt. Ob die untersuchten Blätter offen waren oder ge-
schlossen, darüber habe ich absichtlich noch Nichts gesagt,
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 41
weil es sich als gleichgültig erwies. Aus leicht erklärlichen
Gründen begann ich mit der Prüfung weit offener Blätter, an
welchen die Blattflügel etwa einen rechten Winkel mit ein-
ander bildeten. Indem ich jedoch bald, in Rücksicht auf die
Ausnutzung des Materials, mit der Bestimmung der elektro-
motorischen Oberfläche Reizversuche verband, musste ich
öfters neben ganz geöffneten Blättern andere untersuchen,
welche sich nach der Schliessung noch nicht völlig oder sogar
erst zu einem kleinen Theile wieder geöffnet hatten; und
auch an diesen Blättern fand ich die gleiche Vertheilung der
Spannungen. Dieselbe Wahrnehmung machte ich weiter, als
ich in den Kreis der Untersuchung auch kleine Blätter zog,
welche überhaupt erst sich zu öffnen begonnen hatten, so dass
der Winkel zwischen den Blattflügeln nur 20—30° betrug.
Endlich prüfte ich noch ganz ausgewachsene, weit geöffnete
Blätter ein erstes Mal vor der Reizung und ein zweites Mal,
nachdem sie in Folge der Reizung sich geschlossen hatten:
auch hier stellte sich die Vertheilung der Spannungen beide
Male als die gleiche heraus. Es ist also die Verthei-
lung der Spannungen an der unteren Blattfläche
unabhängig von dem Winkel, welchen die Blatt-
flügel mit einander bilden.
Der Prüfung der oberen Blattfläche setzt deren Em-
pfindlichkeit!) Schwierigkeiten in den Weg, jedoch nicht un-
überwindliche. Natürlich benutzt man hier mit Vorliebe
solche Blätter, welche recht weit offen sind. Auf die Muste-
rung der Oberseite der Mittelrippe und der anstossenden Par-
tien der Blattflügel muss man freilich auch dann verzichten,
ebenso auf die Untersuchung der Stellen, an welchen sich die
sensiblen Haare befinden; im Uebrigen aber gelingen die
Prüfungen ganz gut, wenn man nur vorsichtig jede Bewegung!)
der Haare vermeidet und die lang ausgezogenen, passend ge-
krümmten Thonspitzen recht behutsam, ja nicht rasch drückend
aufsetzt. Man findet auf diese Weise, man mag zwei Punkte
derselben Querlinie oder auch zwei Punkte verschiedener
1) S. unten $. 5.
42 H. Munk:
Querlinien in demselben Blattflügel oder endlich zwei gleich
gelegene Punkte der beiden Blattflügel verknüpfen, an der
oberen Blattfläche Alles gerade so wieder, wie wir es an der
unteren Blattfläche kennen gelernt haben: dieselben Richtun-
gen der Kraft, dieselben relativen Grössen und Umkehrun-
gen derselben, dieselbe Symmetrie, u. s. w. Und indem man
bei dieser Sachlage gewiss berechtigt ist, von dem zugäng-
lichen grösseren Theile der oberen Blattfläche auf den unzu-
gänglichen kleineren Theil derselben zu schliessen, ergiebt
sich also, dass an der oberen Blattfläche die gleiche
Vertheilung der Spannungen herrscht, wie an der
unteren Blattfläche.
Aber noch mehr. Setzt man die beiden Elektroden an
derselben Stelle des Blattflügels oben und unten auf, berührt
man also zwei gleich gelegene Punkte der beiden Blattflächen,
so beobachtet man in den bestgelungenen Versuchen zwischen
den beiden Punkten nur einen sehr schwachen Strom und
eine nicht der Rede werthe Kraft, deren Richtung zudem das
eine Mal den oberen, das andere Mal den unteren Punkt ne-
gativ gegen den zweiten Punkt erscheinen lässt. Sonst tritt
in der Regel eine etwas grössere, aber immerhin nur unbe-
deutende Kraft auf, gleichfalls von wechselnder Richtung;
und hier kann man in vielen Fällen sich durch den Augen-
schein davon überzeugen, dass die beiden Thonspitzen ein
wenig gegen einander verschoben sind. Der Art der Verschie-
bung scheint dabei die bestehende Richtung der Kraft, gemäss
unseren früheren Ermittelungen, zu entsprechen, wenn man
sich die beiden Thonspitzen an derselben Blattfläche befindlich
denkt; und manchmal gelingt es sogar, durch eine geringe
Verrückung der einen Elektrode, so dass die entgegengesetzte
Verschiebung eintritt, die vorhandene Richtung der Kraft in
die umgekehrte umschlagen zu machen. Welche Stelle des
Blattflügels man für den Versuch wählt, ist durchaus gleich-
gültig: überall findet sich der gleich gute Erfolg bei richtiger
Einstellung der Elektroden. Man kann aber auch dem Ver-
suche mit Hülfe einer dritten Elektrode noch eine eclatantere
und übersichtlichere Gestalt geben. Zwei Elektroden werden
‘Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 43
oben und unten, so wie bisher, einander gerade gegenüber
angelegt, irgendwo an dem Blattflügel, wir wählen die Punkte
O und U in der Gegend der Haupt-Längslinie; mit der dritten
Elektrode wird die untere Seite der Mittelrippe, am besten ein
Punkt M hinter der Mitte derselben, berührt: alsdann werden
nach einander immer je zwei der drei Elektroden verbunden —
in beliebiger Reihenfolge. Es zeigt sich zwischen O und M
stets eine beträchtliche Kraft von O nach M; zwischen U und
M stets eine ebenso beträchtliche Kraft von U nach M, uur
wenig grösser oder kleiner als die erste Kraft; endlich zwi-
schen O und U stets eine unbedeutende Kraft, die nur einen
kleinen Bruchtheil der vorigen beiden Kräfte ausmacht, ge-
richtet in den einen Versuchen von O nach U, in den anderen
Versuchen von U nach OÖ, nicht selten in Richtung und Grösse
sehr gut entsprechend dem Unterschiede der beiden ersteren
Kräfte. Es unterliegt also keinem Zweifel, dass, wenn zwi-
schen gleich gelegenen Punkten der beiden Blattflächen über-
haupt ein Spannungsunterschied besteht, derselbe jedenfalls
nur höchst gering ist; so dass wir festhalten dürfen, dass
auch die absolute Grösse der Spannungen an der
oberen Sund. ant,der unteren Blattfläche: die
gleiche ist.
$. 3. Von der Grösse der elektromotorischen Wirkungen
des Dionaea-Blattes und von ihrer Abhängigkeit
von verschiedenen Umständen.
Alle die vorgeschilderten elektromotorischen Wirkungen
des Dionaea -Blattes sind aber an eine wesentliche Bedingung
geknüpft, an das Leben des Blattes. Schon die S. 36 angeführ-
ten Worte von Hrn. Sanderson deuten an, dass der dort
angezeigte Strom ausschliesslich dem lebenden Blatte zukommt:
und dem jst nur beizustimmen. Bewahrt man abgeschnittene
vollentwickelte Blätter in der feuchten Kammer bei einer Zim-
mertemperatur von ca. 25° C. auf, so sieht man deren elektro-
motorische Wirkungen mit der Zeit abnehmen, bis sie nach
mehreren Stunden ganz verschwunden sind. Setzt man solche
Blätter überdies der direeten Einwirkung der Sonne aus, so
44 H. Munk:
dass sie rascher verwelken, so lassen dieselben schon nach
kürzerer Zeit keine Spur mehr von Strömen wahrnehmen.
Blätter, welche 1—2 Minuten lang in kochendem Wasser oder
10—15 Minuten lang in Wasserdämpfen von 70° C. verweilt
haben, werden danach gänz stromlos gefunden. Auch ge-
bräunte, am Topfe selbst abgestorbene Blätter erweisen sich
durchaus unwirksam. Die elektromotorischen Wirkungen des
Dionaea-Blattes sind also eine Lebenseigenschaft desselben
und nehmen bei seinem allmählichen Absterben allmählich ab').
Die Reizbarkeit des Blattes überdauern sie einige Zeit; denn
an den im feuchten Raume bei 25° C. aufbewahrten Blättern
findet man die Reizbarkeit etwa nach 2 Stunden erloschen, so
dass keinerlei Zerrung der sensiblen Haare, keinerlei Angriff
des Blattes überhaupt die Schliessung des Blattes mehr her-
beiführt: während Reste der ursprünglichen Ströme dann
noch durch Stunden fortbestehen.
Wie nach den Erscheinungen am abgestorbenen Blatte
zu erwarten, sind die elektromotorischen Wirkungen weiter
abhängig von dem Ernährungszustande des Blattes, seiner
Lebensfülle oder Lebensfähigkeit. Ich habe im Herbste 1874
dieselben prächtig ausgewachsenen Blätter an den Töpfen
wiederholt der Prüfung unterzogen. Dabei ergaben sich zu-
erst im October sehr ansehnliche Wirkungen, und ich fand
der Zeit die grössten Kräfte, welche mir überhaupt vorgekom-
men sind. Als aber Ende October und Anfangs November
die Töpfe sichtlich zurückgegangen und die Blätter schlaffer
1) Ich habe öfters an Blättern, die abgeschnitten oder am Topfe
dem Tode nahe waren, die Kräfte umgekehrt gerichtet gefunden, in-
dem zwischen den beiden Enden der Mittelrippe eine absteigende
Kraft bestand, Punkte der Haupt-Längslinie positiv waren gegen die
zugehörigen Mittelrippen-Punkte u.s.w. Q@b solche Umkehr der
Kräfte vor dem Tode regelmässig eintritt, muss ich dahingestellt
sein lassen, da ich die Frage nicht weiter verfolgt habe. Die in
Rede stehenden Versuche über das Absterben ausgenommen, sind
alle Erfahrungen, welche ich mittheile, an frischen und gesunden
Blättern, weiche die im $.2 angegebene Vertheilung der Spannungen
an der Oberfläche zeigten, gemacht.
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 45
geworden waren, hatten auch die Kräfte auffallend abge-
nommen.
Hierher gehören wohl auch noch zwei andere Erfahrun-
gen, welche ich gemacht habe. Die Blätter unserer Pflanze
entwickeln sich eines nach dem anderen und sind, bis die
Pflanze gegen den Winter hin zurückgeht, ausgewachsen desto
grösser, je später sie sich entwickelt haben. Ich habe nun
an den kleineren Blättern, welche bereits im Juli ausgewach-
sen waren, ceteris paribus die Kraft durchweg geringer gefun-
den, als an den erst im October vollentwickelten Blättern,
Andererseits haben mir zu jeder Zeit an einem und demselben
Topfe die grösseren Blätter eine grössere Kraft geliefert als
die kleineren Blätter, auch dann, wenn die ersteren bereits
ausgewachsen und die letzteren noch im Wachsen begriffen
waren. Ich meine, dass auch für diese Fälle die grössere
Kraft der grösseren Lebensfülle entsprechen dürfte, da sicht-
lich die Blätter, je grösser, desto strotzender und üppiger ent-
wickelt sind. Es bleibt jedoch zu bedenken, dass die elektro-
motorischen Wirkungen, ausser mit der Lebensfähigkeit, auch
mit der Grösse des Blattes wachsen könnten.
Die absolute Grösse der Kräfte, welche am Dionaea-
Blatte zur Beobachtung kommen, ist eine recht beträchtliche.
Den Spannungsunterschied zwischen einem Punkte in der Ge-
gend der Haupt-Längslinie und einem Punkte in der hinteren
Hälfte der Mittelrippe = 0:04—0:05 Daniell zu finden, ist
nichts Ungewöhnliches, und ich habe ihn mehrmals sogar
0:07 D. erreichen sehen. Zwischen anderen Punkten des
Blattes ergaben sich kleinere Werthe, entsprechend der oben
dargelegten Vertheilung der Spannungen. Bei der Ableitung
von beiden Enden der Mittelrippe betrug die Kraft im Mittel
0:015 D.
$. 4 Von dem Sitze und der Anordnung der elektro-
motorischen Kräfte im Inneren des Dionaea-Blattes.
Woher stammen nun die elektromotorischen Wirkungen
unseres Blattes?
Aeussere chemische Ungleichartigkeiten sind ihre Quelle
46 H. Munk:
sicherlich nicht. Allenfalls nach Hrn. Sanderson’s Mit-
theilungen, die blos den Strom zwischen den Blattenden kann-
ten, hätte eine solche Vermuthung bestehen können; denn
auch die Veränderungen, welche dieser Strom bei der Reizung
des Blattes, bei dem Abschneiden des Blattstieles u. s. w.
zeigte, wären noch mit ungleichartigen Secreten und ungleich-
zeitigen Secretionen, freilich willkürlich, zu erklären gewesen.
Jetzt aber, nachdem wir die elektromotorische Oberfläche des
Blattes kennen gelernt haben, kann von der Vermuthung
nicht mehr die Rede sein. Schon die Spannungen einer ein-
zelnen Blattfläche von äusseren Ungleichartigkeiten abzuleiten,
könnte nur mittelst Häufung der abenteuerlichsten Hypothesen
‚gelingen; und setzte man sich auch darüber hinweg, man
scheiterte unbedingt bei der Vergleichung der oberen und der
unteren Blattfläche. Nirgends eher war man berechtigt,
äussere Ungleichartigkeiten im Spiele zu erwarten, als bei
der Verknüpfung dieser beiden Flächen, die schon durch ihre
Farbe und ihren Drüsen-Gehalt sich so auffällig unterscheiden;
und doch hat sich nicht nur die Vertheilung der Spannungen,
sondern auch deren absolute Grösse an beiden Flächen im
Wesentlichen gleich herausgestellt. Mit aller nur wünschens-
werthen Klarheit zeigt gerade dieses Ergebniss, dass, wenn
äussere Ungleichartigkeiten am Blatte vorkommen, dieselben
doch nicht weiter von Bedeutung sind und unsere Bestim-
mungen der elektromotorischen Oberfläche nicht merklich be-
einflusst haben.
Die Ursache der elektromotorischen Wirkungen unseres
Blattes müssen also elektromotorische Kräfte sein, welche im
Inneren des Blattes ihren Sitz haben. Aber das Blatt ist ein
recht zusammengesetztes Gebilde, und unter seinen verschie-
denen anatomischen Bestandtheilen gilt es die wirksamen aus-
findig zu machen und die Art ihrer Wirksamkeit kennen zu
lernen. Was für den Zweck am nächsten liegt, das Blatt zu
zerstückeln, das verspricht keinen Erfolg; denn einerseits
würde die Isolirung der Theile zu unvollkommen ausfallen
und würden die isolirten Theile die nöthige Prüfung kaum
zulassen, andererseits würde auch der gewaltige Eingriff an
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 47
sich Fehler setzen, welche schwerlich zu beherrschen wären.
Es bleibt somit nur ein zweiter, viel umständlicherer Weg
übrig, und diesen Weg wollen wir einschlagen. Bei einem
elektromotorisch wirksamen Organismus ist die Voraussetzung
berechtigt, dass, soweit die gleiche Organisation, soweit die
gleiche Anordnung der elektromotorischen Kräfte besteht.
Danach bietet sich der Möglichkeiten, wie die Kräfte in un-
serem Blatte vertheilt sein können, eine zwar grosse, doch
begrenzte Anzahl dar, und die verschiedenen Vertheilungsweisen
lassen sich durchgehen mit der Prüfung, ob sie die uns be-
kannte elektromotorische Oberfläche des Blattes liefern wür-
den oder nicht. Sind die Dinge nicht zu verwickelt, ist die
Sachlage nicht gar zu ungünstig, so kann es auf diese Weise
gelingen, dem erstrebten Ziele nahe zu kommen.
(1.) Vorermittelungen.
Wir beginnen vortheilhaft mit einigen Voruntersuchungen,
Drei gleich grosse, rechteckige, mit den Flächen zusammen-
gelöthete Platten, die beiden äusseren von Zink, die mittlere
von Kupfer, seien in einem Troge überall gleichmässig von
einer gleichartigen Flüssigkeit umgeben. Die Polarisation
ausser Acht gelassen, stimmt diese schematische Vorrichtung
hinsichts der elektromotorischen Oberfläche mehrfach mit un-
serem Blatte überein. Vergl. Fig. 16, welche die Vorrichtung
bei a von der Fläche, bei 5 vom äusseren Rande gesehen dar-
stellt‘). Wir finden wieder die Symmetrie der oberen und der un-
teren Fläche, der vorderen und der hinteren Hälfte”), der rech-
ten und der linken Hälfte; ferner in der Längsmittellinie (der
Mittelrippe entsprechend) und an den seitlichen Rändern die Ne-
gativität der vorderen und der hinteren Punkte gegen die mitt-
leren Punkte; endlich in den Querlinien die Positivität der Punkte
in oder an der Längsmittellinie gegen die weiter nach aussen gele-
genen Punkte. Aber daneben stossen wir doch auch sogleich auf
1) Bei dieser und allen folgenden Ansichten vom Rande ist das
Zink durch Schraffirung ausgezeichnet.
2) Von der Unvollkommenheit der Symmetrie an der Mittelrippe
des Blattes sehen wir vorläufig ab.
48 H. Munk:
wesentliche Verschiedenheiten. Denn an der seitlichen Hälfte
der Vorrichtung begegnen wir nicht auf dem Wege von innen
nach: aussen der Umkehr der Kraft, die wir am Blatte beob-
achteten, noch auch zeigt sich dort die Gleichartigkeit der
einer mittleren Längslinie angehörigen Punkte oder die vorn
absteigende, hinten aufsteigende Kraft zwischen den Mitten
der Querlinien, wie wir sie am Blatte constatirten.
Ein Theil der Verschiedenheiten fällt fort, wenn zwei
gleiche rechteckige Platten-Combinationen, deren äussere
Platten von Kupfer, die mittlere von Zink, neben einander mit
einer Lücke zwischen sich, sonst wie vorhin, in den Trog
versenkt sind. Fig. 17 zeigt die neue Vorrichtung, bei @
wiederum von der Fläche, bei 5 vom äusseren Rande gesehen.
In der That, neben derselben Symmetrie wie zuvor, haben wir
jetzt sowohl in den Querlinien selbst wie zwischen den Mitten
dieser Linien dieselben Richtungen der Kraft, wie am Blatte.
Aber dafür hat sich auch eine neue Abweichung eingefunden:
in der Längsmittellinie und an den seitlichen Rändern sind die
Endpunkte jetzt positiv gegen die mittleren Punkte, statt dass
sie negativ sein sollten, wie bei der ersten Vorrichtung und
wie am Blatte.
Bringen wir die beiden Vorrichtungen in ihrer Form dem
Blatte näher, indem wir den Blechen wie den Trögen die Ge-
stalt ertheilen, welche Fig. 16 c und Fig. 17 c vorführen, so
bleibt Alles ebenso. Nur tritt jetzt, indem die Verbindungs-
linie der Mitten der Querlinien sich abgehoben hat von den
mittleren Länglinien der seitlichen Hälfte, besonders deutlich
die Verschiedenheit hervor, welche das Verhalten der letzteren
Linien an beiden Vorrichtungen dem Blatte gegenüber dar-
bietet.
Auch mannigfache weitere Modificationen der Vorrichtun-
gen Fig. 16 ce und Fig. 17c ändern Nichts an den Ergebnissen.
Die Bleche dürfen schrumpfen, so dass die von der Flüssig-
keit erfüllten Räume an ihren Rändern gleichmässig wachsen.
Statt jeder einzelnen Platten-Combination lassen sich mehrere
gleiche Platten-Combinationen, mit Zwischenräumen, in der
Höhe des Troges über einander symmetrisch anbringen. Man
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 49
kann die grossen Bleche durch eine Anzahl sehr kleiner —
gegen die Berührungsflächen des zur Prüfung angelegten
unwirksamen Bogens verschwindender —, sonst den bisherigen
gleicher Bleche von gleicher Grösse ersetzen, die man regel-
mässig, mit gleichen kleinen Zwischenräumen, in derselben
Ebene neben einander anordnet; wo dann natürlich für die
Vorrichtung Fig. 17 ce die Lücke zwischen den beiderseitigen
Gruppen von Blechen die übrigen Lücken an Grösse über-
treffen muss. Man kann ferner in den Vorrichtungen Fig. 16 c
und Fig. 17 ce an die Stelle der dortigen Platten-Combinatio-
nen je zwei Plattenpaare von Kupfer und Zink treten lassen,
bei der ersten Vorrichtung mit ihren Kupferseiten, bei der
zweiten mit ihren Zinkseiten einander zugekehrt, in beliebigem
Abstande über einander, nur symmetrisch angeordnet. Statt
je zweier solcher Plattenpaare lassen sich auch gleichgliederige
Säulen in der Höhe des Troges einander entgegenwirkend
anbringen, und jede solche grosse Säule lässt sich wieder
durch eine Anzahl sehr kleiner, regelmässig neben einander
angeordneter Säulen ersetzen. Ja, man kann dann sogar die
Säulenpaare, welche sich in der Breite der Vorrichtung neben
einander befinden, von der Mitte nach den Seiten hin an
Zahl der Glieder gleichmässig abnehmen lassen. Alles dies,
wie gesagt, thut Nichts zur Sache: wenn auch die elektromo-
torische Oberfläche der Vorrichtungen mancherlei Veränderun-
gen erfährt, die Eigenschaften der Oberfläche, welche uns
interessirten, bleiben immer dieselben, und die angegebenen
Abweichungen vom Dionaea-Blatte bestehen fort.
Wir beseitigen nunmehr die Zinkkupfergrenzen längs dem
vorderen und dem hinteren Rande unserer Bleche. Zu dem
Ende werden auf diese Ränder passende Streifen aufgelöthet
von demselben Metalle, von welchem die äusseren Glieder
unserer Platten-Combinationen gebildet sind. Aus den Vor-
richtungen Fig. 16 (a, 5) und Fig. 17 (a, b) gehen so die Vor-
richtungen Fig. 13 (a, db) und Fig. 19 (a, 5) hervor, von
welchen wir unseren neuen Ausgang nehmen. An beiden
Vorrichtungen kehrt die geforderte Symmetrie wieder der
oberen und der unteren Fläche, der vorderen und der hinteren
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 4
50 H. Munk:
Hälfte, der rechten und der linken Hälfte. Auch finden sich
wieder in den Querlinien bei der Vorrichtung Fig. 19 a die-
selben Richtungen der Kraft, wie am Blatte, während bei der
Vorrichtung Fig. 18 « die Umkehr der Kraft auf dem Wege
von innen nach aussen sich vermissen lässt. Neu hinzutritt
dann aber, bei beiden Vorrichtungen übereinstimmend, die
Gleichartigkeit aller derselben Längslinie angehörigen Punkte,
gleichviel um welche Längslinie es sich handelt, so dass die
Längsmittellinie und die seitlichen Ränder nicht ausgenom-
men sind. Die neuen Vorrichtungen bieten danach sichtlich
nicht minder wesentliche Abweichungen vom Blatte dar, als
unsere früheren Vorrichtungen.
Wiederum ohne dass an den Ergebnissen sich etwas än-
dert, lassen die Vorrichtungen Fig. 13 a und Fig. 19 @ mehr-
fache Modificationen zu. Wir heften uns für’s Erste aus-
schliesslich an die Vorrichtung Fig. 19 «.. Wie diese Vor-
richtung uns vor den Augen steht, können wir ihre beiden
metallischen Theile als sehr platte gerade Zinkeylinder mit
verkupfertem Mantel ansehen, die ihre Grundflächen einander
zukehren. An die Stelle dieser Zinkeylinder dürfen dann
ohne Weiteres ebenso platte gerade Kupfercylinder mit ver-
zinkten Grundflächen treten. Weiter lassen sich statt jedes
einzelnen derartigen Zink- oder Kupfereylinders mehrere
gleiche Zink- resp. Kupfereylinder, mit Zwischenräumen, in
der Höhe des Troges über einander symmetrisch anbringen.
Man kann ferner jeden der bisherigen hohen und breiten Cy-
linder durch eine Anzahl gleicher und zwar entweder sehr
schmaler Cylinder von unveränderter Höhe oder sehr niedri-
ger Cylinder von unveränderter Breite ersetzen, die wie die
früheren Cylinder zusammengesetzt sind, und die man regel-
mässig, mit gleichen kleinen Zwischenräumen, in derselben
Ebene in der Breite resp. Länge des Troges neben einander
so anordnet, dass ihre Grundflächen alle nach innen und nach
aussen sehen. Endlich lässt sich der Ersatz der hohen und
breiten Cylinder auch so bewerkstelligen, dass man viele gleiche
und zwar zugleich sehr schmale und sehr niedrige Cylinder,
die wie die grossen Oylinder beschaffen sind, aber nicht platt.
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 51
zu sein brauchen, in derselben, eben angegebenen Weise nach
der Länge und der Breite des Troges an einander reiht. Alle
diese‘ verschiedenen Vorrichtungen finden wir gleichwerthig
der Vorrichtung Fig. 19 a: in allen Fällen bietet die elektro-
motorische Oberfläche der Vorrichtung in gleicher Weise die
Eigenschaften dar, welche wir von der Vorrichtung Fig. 19 a
oben anführten.
Jetzt ertheilen wir unserer Vorrichtung Fig. 19 @ ange-
nähert die Gestalt des Blattes, wie es Fig. 19 ce zeigt: jeder
der beiden platten Zinkeylinder mit verkupfertem Mantel ist
von der Mitte der äusseren Grundfläche aus nach vorn und
nach hinten hin gleich schräg abgeschnitten, und die Flüssig-
keit im Troge ist so eingeengt, dass sie auch ferner die Bleche
überall gleichmässig umgiebt. Daneben ziehen wir sogleich
noch eine einzelne der gleichwerthig erfundenen Vorrichtungen
in Betracht, und zwar, mit Uebergehung aller Zwischenstufen,
die. letzterwähnte Vorrichtung mit den. vielen niedrigen und
schmalen Cylindern, die jetzt entsprechend die Gestalt gewinnt,
welche Fig. 20 (für die Anordnung der metallischen Theile
Fig. 20 4') vorführt. Der Untersuchung dieser beiden Vor-
richtungen ist aber Einiges vorauszuschicken.
Unvermerkt sind wir mit der Vorrichtung Fig. 19 « in
ein weit ausgebautes Gebiet eingetreten, in die Lehre von
dem Muskelstrome. Der kupferne, am Mantel verzinkte,
überall mit einer gleich dieken Schicht eines feuchten Leiters
überzogene Cylinder hat sich als erstes Schema des Muskels
in elektromotorischer Beziehung dargeboten; und wir prüften,
könnte man sagen, in dem platten Zinkeylinder mit verkupfer-
tem Mantel, den gleichmässig eine gleichartige Flüssigkeit
umgab, ein erstes Schema unseres Blattflügels. Wenn wir
wollten, konnten wir dort in Rücksicht auf die elektromoto-
rische Oberfläche, ohne übrigens das Dionaea-Blatt irgend
weiter in Verbindung mit dem thierischen Muskel zu bringen,
1) In den Figg. 20 A, B und GC, den Figg. 21 A, B und C
und den Figg. 24 A, B und C ist überall das Zink dunkel, das
Kupfer hell angegeben.
25
52 H. Munk:
zum Vergleiche mit unserem Blatte heranziehen zwei mit den
-Grundflächen (künstlichen Querschnitten) an einander gelegte
Muskeln, deren Spannungen verkehrt, an den Grundflächen
positiv und am Mantel negativ wären. Aber mit solcher ver-
gleichenden Betrachtung an sich wäre wenig gethan gewesen.
Wichtig und von wirklicher Bedeutung war, dass von daan
die reichen Ermittelungen Hrn. E. du Bois-Reymond’s
zur Theorie des Muskelstromes uns ausgezeichnete Anhalts-
punkte boten, in dem Studium der Blattströme vorzuschreiten.
An der Hand dieser Ermittelungen konnten wir unsere. Vor-
richtung Fig. 19 «a modifieiren; und sie sind es auch, welche
uns augenblicklich zu Hülfe kommen.
Neben dem Strome zwischen Längs- und Querschnitt und
neben den schwachen Strömen am Längsschnitte und am Quer-
schnitte des senkrecht durchschnittenen Muskels hat Hr. du
Bois-Reymond an dem schräg durchschnittenen Muskel
noch die Neigungsströme aufgefunden'): Ströme, gerichtet
im Bogen von der stumpfen zur spitzen Ecke, die sich zu den
erstgenannten Strömen algebraisch summiren, und deren
Stärke mit der Neigung des Querschnittes zuerst zunimmt
und später wieder sinkt. Hr. du Bois-Reymond hat diese
Neigungsströme aus seiner Molekularhypothese abzuleiten
vermocht unter der wahrscheinlich gemachten Annahme, dass
am schrägen Querschnitte die Längsreihen der peripolaren
-Gruppen dipolarer Molekeln mit ihren Enden einander stufen-
‚artig überragen. Alsdann bleibt nämlich nicht der Strömungs-
vorgang jeder Molekel auf ihren Hof beschränkt; und die
letzten dipolaren Molekeln aller jener Längsreihen für sich
betrachtet, ebenso die vorletzten, drittletzten u. s. w. Molekeln
‚derselben Längsreihen bilden dem schrägen Querschnitte par-
allele Reihen dipolarer Molekeln in unvollkommener säulen-
‚artiger Anordnung: Schrägreihen, deren Molekeln in der 1.,3.
und allen ferneren ungeraden Reihen ihre positiven Pole mehr
der stumpfen, ihre negativen Pole mehr der spitzen Ecke des
1) Dies Archiv 1863. S. 521 f. — Monatsber. der Berliner
Akad. 1866. S. 387 ft.
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 53
Querschnittes zukehren, während in der 2., 4. und allen ande-.
ren geraden Reihen umgekehrt die positiven Pole der Mole-
keln mehr der spitzen, die negativen Pole mehr der stumpfen.
Ecke zugewandt sind. Dje dem Querschnitte näheren ungera-
den Schrägreihen überwiegen aber an Einfluss die entfernteren
geraden Schrägreihen; ja, es käme sogar die erste Schräg-
reihe allein in Betracht, wenn, was anzunehmen Nichts hin-
dert, der Abstand zweier dipolaren Molekeln, die zwei in
einer Längsreihe benachbarten peripolaren Gruppen angehören,
zurückträte gegen den Abstand zweier eine Gruppe bildenden
Molekeln. Daraus resultirt, dass die elektromotorisch wirk-
samen Theile einen Strom durch sich selber senden in der
Richtung von der spitzen zur stumpfen Ecke, in umgekehrter
Richtung durch den umhüllenden feuchten Leiter; so dass für
den Erfolg am angelegten Bogen ohne wesentlichen Fehler die
stumpfe Ecke des schrägen Querschnittes als positive, die
spitze Ecke als negative Einströmungsstelle sich ansehen
lässt. Diese für den Fall peripolarer Gruppen dipolarer Mo-
lekeln gemachte Ableitung der Nejgungsströme hat natürlich
ebenso für den Fall peripolarer Molekeln Gültigkeit, da es
ja im Wesentlichen nur auf die Lage der elektromotorischen
Flächen ankommt. Hr. du Bois-Reymond hat auch die
Neigungsströme des Muskelrhombus an den rhombischen
Muskelmodellen wiedergefunden, die mit peripolaren Molekel-
modellen oder mit peripolaren Gruppen dipolarer Molekel-
modelle hergestellt waren. Ein einfacher schiefer Kupfercy-
linder mit verzinktem Mantel, überall gleichmässig von gleich-
artiger Flüssigkeit umgeben, liefert dagegen die Neigungs-
ströme nicht, und er kann sie nicht liefern: zu ihrem Auf-
treten ist es unbedingt erforderlich, dass die Negativität des
Querschnittes durch die Einmischung des positiven Längs-
schnittes gestört ist, wie es beim schrägen Muskel-Querschnitte
nicht nur sich von vorne herein versteht, sondern auch direet
dadurch bewiesen wird, dass der schräge Querschnitt immer
weniger negativ ist als der senkrechte Querschnitt.
Mit diesen Kenntnissen ausgerüstet, vermögen wir die
beiden Vorrichtungen Fig. 19 c und Fig. 20 (A) zu beurtheilen.
54 H. Munk:
Bei der Vorrichtung Fig. 19 c haben wir am inneren und am
äusseren Rande der seitlichen Hälfte die gleiche Positivität;
bei der Vorrichtung Fig. 20 (A) ist die Positivität am äusseren
Rande kleiner als am inneren Rande, und dazu kommen noch
die Neigungsströme, für welche die Mitte des äusseren Ran-
des als positive, die vordere und die hintere Ecke des äusse-
ren Randes als negative Einströmungsstellen aufzufassen sind.
Construiren wir also mittelst des Prineips der Superposition
der Ströme die elektromotorischen Oberflächen der Vorrich-
tungen Fig. 19 ce und Fig. 20 (A), so ergiebt sich Folgendes.
Bei beiden Vorrichtungen findet sich, in Uebereinstim-
mung mit dem Blatte: 1. die Symmetrie der oberen und der
unteren Fläche, der vorderen und der hinteren Hälfte, der
rechten und der linken Hälfte; 2. in den Querlinien die Um-
kehr der Kraft, die in der Nähe der Längsmittellinie nach
innen, nächst dem äusseren Rande nach aussen gerichtet ist;
3. zwischen den Mitten zweier Querlinien oder zwischen sol-
chen Punkten derselben Linien, die um '/, oder '/, der Länge
der Linien von der Längsmittellinie entfernt sind, in der vor-
deren Hälfte eine absteigende, in der hinteren Hälfte eine auf-
steigende Kraft. Aber im Weiteren gehen beide Vorrichtun-
gen aus einander. In der Längsmittellinie und in den anderen
Längslinien der Vorrichtung Fig. 19 ce ist die Gleichartigkeit
aller Punkte derselben Linie, welche die Vorrichtung Fig.
19 a darbot, verloren gegangen, und es sind in jeder Längs-
linie die der Mitte näheren Punkte negativ gegen die entfern-
teren Punkte. In den Querlinien der Vorrichtung Fig. 19 c
ist ferner der negativste Punkt überall ohngefähr in der Mitte
der Linie gelegen, so dass die Verbindungslinie der negativsten
Punkte aller Querlinien nahezu mit der Verbindungslinie der
Mitten derselben Linien zusammenfällt und mit ihrer Krüm-
mung ähnlich dem äusseren Rande der betreffenden seitlichen
Hälfte der Vorrichtung verläuft. Nach dem vorhin Gesagten
versteht es sich dann auch, dass eine Gleichartigkeit der ne-
gativsten Punkte aller Querlinien nicht besteht, vielmehr
immer der negativste Punkt einer dem vorderen resp. hinteren
Rande näheren Querlinie positiv ist, gegen den negativsten
ee:
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 55
Punkt einer entfernteren Querlinie. Endlich tritt in derselben
Vorrichtung. Fig. 19 ce sowohl an den äusseren Rändern der
Vorrichtung, wie auch zwischen solchen Punkten zweier Quer-
linien, die um °/, oder mehr der Länge der Linien von der
Längsmittellinie entfernt sind, nicht die umgekehrte Kraft auf,
wie zwischen den Mitten der Querlinien, sondern die gleich-
gerichtete Kraft, in der vorderen Hälfte der Vorrichtung eine
absteigende, in der hinteren Hälfte eine aufsteigende Kraft.
Die Vorrichtung Fig. 19 ce weicht also in vielen Stücken ecla-
tant vom Blatte ab. Ganz anders verhält sich die Vorrichtung
Fig. 20 (4). Bei dieser sind in den mittleren Längslinien der
seitlichen Hälfte der Vorrichtung alle Punkte derselben
Linie nach wie vor gleichartig. Bei dieser sind ferner die
negativsten Punkte der Querlinien desto weiter von der Mitte
dieser Linien entfernt, desto näher an den äusseren Rand ge-
rückt, je näher die Querlinien dem vorderen resp. hinteren
Rande der Vorrichtung gelegen sind; und die Spannung der
negativsten Punkte aller Querlinien ist dieselbe. Die Verbin-
dungslinie der negativsten Punkte aller Querlinien ist von der
Verbindungslinie der Mitten aller Querlinien losgelöst und ver-
läuft ohngefähr parallel der Längsmittellinie. Bei dieser Vor-
richtung endlich ist in der Längsmittellinie sowohl wie am
äusseren Rande, wie auch zwischen solchen Punkten der
Querlinien, die um °/, oder mehr der Länge dieser Linien von
der Längsmittellinie entfernt sind, die umgekehrte Kraft vor-
handen, wie zwischen den Mitten der Querlinien, eine aufstei-
gende Kraft in der vorderen, eine absteigende Kraft in der
hinteren Hälfte der Vorrichtung. So sehr also die Vorrich-
tung Fig. 19 c von unserem Blatte abweicht, gerade so sehr
stimmt die Vorrichtung Fig. 20 (A) mit dem Blatte überein.
Vielleicht ist es nicht überflüssig zu bemerken, dass wir,
unbekannt mit der Grösse des Unterschiedes in der Positivi-
tät zwischen dem inneren und dem äusseren Rande der seit-
lichen Hälfte der Vorrichtung und ebenso in Unwissenheit
darüber, wie die Spannungen der Neigungsströme verhältniss-
mässig sich gestalten, begreiflich nicht für jede Vorrichtung
von der durch Fig. 20 (A) repräsentirten Art behaupten kön-
56 H. Munk:
nen, dass die Haupt-Längslinie des Blattflügels mit ihrer Lage
und der gleichen Spannung aller ihrer Punkte an der Vor-
richtung sich wiederfindet. Vielmehr lässt sich im Allgemei-
nen nur aussagen, dass an der Vorrichtung Fig. 20 (4A) die
Verbindungslinie der negativsten Punkte aller Querlinien zur
Seite der Verbindungslinie der Mitten der Querlinien nach
aussen gerückt sein und mehr parallel der Längsmittellinie-
verlaufen, auch die absteigende Kraft in ihrer vorderen, die-
aufsteigende Kraft in ihrer hinteren Hälfte, der Verbindungs-.
linie der Mitten der Querlinien gegenüber, geringer sein muss.
Aber zugleich lässt sich übersehen, dass im speciellen Falle,
wenn gewisse, für uns augenblicklich untergeordnete Bedin-.
gungen, welche die Neigung des äusseren Randes, die geringere.
Positivität desselben u. s. w. betreffen, von der Vorrichtung,
erfüllt sind, die Verbindungslinie der negativsten Punkte aller
Querlinien an der Vorrichtung alle Eigenschaften der Haupt-
Längslinie unseres Blattflügels darbieten wird. Und diesen.
speciellen Fall bei unserer Vorrichtung Fig. 20 (A) verwirk-
licht anzunehmen, dem steht für unsere Zwecke Nichts im
Wege. :
Hervorgehoben zu werden verdient dann noch ein weite-
rer Punkt, in welchem unsere Vorrichtung Fig. 20 (A) sehr
schön mit dem Blatte übereinstimmt. In allen Querlinien
unseres Blattes ergab sich auch der äusserste Punkt der Quer-
linie negativ gegen den zugehörigen Punkt der Mittelrippe:
der Spannungsunterschied zwischen diesen beiden Punkten
war in den dem vorderen resp. hinteren Rande nahen Quer-
linien grösser als in den mittleren Querlinien, aber auch in
der mittelsten Querlinie noch ansehnlich. Dieses Verhalten
der äussersten Querlinien- Punkte treffen wir nun gerade
ebenso bei unserer Vorrichtung Fig. 20 (A) wieder an, und
zwar bedingt nicht durch die Neigungsströme allein, die es
nur in den dem vorderen resp. hinteren Rande nahen Quer-
linien herbeiführen können, sondern wesentlich auch durch die
geringere Positivität des äusseren Randes.
Nach alledem liegt, wenn wir von der Unvollkommen-
heit der Symmetrie an der Mittelrippe absehen, mit der es
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 57
eine eigene Bewandtniss haben muss, keine Erfahrung am
Blatte vor, die nicht an unserer Vorrichtung Fig. 20 (A) sich
wiederholt hätte. Diese Vorrichtung können wir also in
elektromotorischer Beziehung ein zutreffendes Schema unseres
Blattes nennen. Worunter wir aber natürlich nichts Anderes
verstehen, als dass eine solche Vertheilung der Kräfte im
Blatte, wie sie die Vorrichtung Fig. 20 (A) zeigt, die elektro-
motorische Oberfläche des Blattes liefern würde; denn es ist
ja nicht ausgeschlossen, dass auch noch andere Vertheilungen
der Kräfte von gleichem Werthe sich finden lassen.
Wir setzen deshalb auch unsere Prüfungen fort und haben
in erster Linie noch diejenigen Moditicationen der Vorrichtung
Fig. 19 a zu betrachten, welche wir als Zwischenstufen vor-
ber übergingen. Sie erhalten jetzt gleichfalls angenähert die
Gestalt des Blattes. Die Vorrichtung, bei welcher statt des
einen hohen und breiten Metalleylinders mehrere solche Cylin-
der in der Höhe des Troges über einander sich befinden, gleicht
dann in ihrer elektromotorischen Oberfläche, soweit dieselbe
Gegenstand unserer Untersuchung ist, ganz und gar der Vor-
richtung Fig. 19 ce. Dagegen stimmen in derselben Hinsicht
mit der Vorrichtung Fig. 20 (A) überein die beiden anderen
Vorrichtungen, bei welchen der jederseitige hohe und breite
Metalleylinder das eine Mal durch sehr schmale Cylinder von
unveränderter Höhe, das andere Mal durch sehr niedrige Cy-
linder von unveränderter Breite ersetzt ist, und die in ihrer
jetzigen Gestalt wiederum Fig. 20 vorführt, mit Fig. 20 B
resp. Fig. 20 C für die Anordnung der metallischen Theile.
Allerdings hat Hr. du Bois-Reymond an rhombischen
Modellen mit Rechtecken, deren lange Seiten aus Zink, deren
kurze Seiten aus Kupfer bestanden, und die wie die Oylinder
der Fig. 20 B angeordnet waren, die Neigungsströme nicht
aufgefunden. Aber die Theorie verlangt, dass bei den Vor-
richtungen Fig. 20 (B) und Fig. 20 (C) die geringere Positivi-
tät des äusseren Randes und die Neigungsströme desselben
im Wesentlichen ebenso bestehen, wie bei der Vorrichtung
Fig. 20 (A); und es ist sehr wohl denkbar, wie schon Hr.
58 H. Munk:
du Bois-Reymond selber bemerkt hat'!), dass an den Mo-
dellen nur besondere, dem Wesen der Frage eigentlich fremde
Verwickelungen die Neigungsströme nicht haben zur Beob-
achtung kommen lassen. Wir verfahren deshalb vorsichtig
und der Sachlage angemessen, indem wir neben der Vorrich-
tung Fig. 20 (A) auch die Vorrichtungen Fig. 20 (B) und Fig.
20 (C) als zutreffende Schemen des Blattes festhalten.
Sodann wenden wir uns zu der Vorrichtung Fig. 18 a zu-
rück, welche durch die Verfolgung der Vorrichtung Fig. 19 a
so lange vernachlässigt blieb. Wir lassen jetzt die Vorrich-
tung Fig. 18 @ in ihren metallischen Theilen die analogen
Veränderungen durchlaufen, wie vorher die Vorrichtung Fig.
19 a, und stellen überall in der gewohnten Weise die Form
des Blattes her. Doch nichts Wesentliches finden wir damit
gewonnen. Denn nirgends tritt in den Querlinien auf dem
Wege von innen nach aussen die geforderte Umkehr der
Kraft auf, noch bleibt es in den mittleren Längslinien bei der
Gleichartigkeit der derselben Linie angehörigen Punkte. Und
wenn bei denjenigen Modiäicationen der Vorrichtung Fig. 18 a,
bei welchen viele kleinere Metallceylinder in derselben Ebene
neben einander gelagert sind, in Folge der Neigungsströme,
die hier im Bogen von der vorderen und der hinteren Ecke des
äusseren Randes zur Mitte desselben verlaufen, die Gleichar-
tigkeit der in der Längsmittellinie wie der am äusseren Rande
befindlichen Punkte verloren gegangen ist, so wird selbst
diese Annäherung an das Blatt noch dadurch entwerthet, dass
dann zwischen diesen Punkten immer dieselbe Richtung der
Kraft besteht, wie zwischen den Mitten der Querlinien. Vgl.
Fig. 21, für welche die Figg. 21 A, 21 B und 21 C die An-
ordnung der metallischen Theile darstellen.
Endlich beseitigen wir an den Vorrichtungen Fig. 16 (a, b)
und Fig. 17 (a, 5) die Zinkkupfergrenzen, wie vorher (S. 49)
längs dem vorderen und dem hinteren Rande, jetzt längs dem
rechten und dem linken Rande der Bleche. Es entstehen die
1) Dies Archiv 1863, S. 579—80; 600—1.
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 59
Vorrichtungen Fig. 22 und Fig. 23 (bei @ von der Fläche, bei
b vom vorderen Rande gesehen), deren metallische Theile sich
wiederum auffassen lassen als gebildet von einem sehr platten
geraden Zinkeylinder mit verkupferten Grundflächen resp. von
zwei sehr platten geraden Kupfereylindern mit verzinkten
Grundflächen, die aber gegenüber den Vorrichtungen Fig. 18
(a, 6) und Fig. 19 (a, b) dadurch charakterisirt sind, dass die
Grundflächen der Cylinder nach vorn und nach hinten sehen. Wir
modifieiren dann die metallischen Theile der. Vorrichtungen
Fig. 22 und Fig. 23 in derselben Weise, wie wir bei den Vor-
richtungen Fig. 18 a und Fig. 19 a verfuhren; so dass wir eine
analoge Reihe von Vorrichtungen, wie dort, erhalten, nur dass,
während dort die Grundflächen der Metalleylinder immer nach
rechts und nach links gerichtet waren, dieselben bei den neuen
Vorrichtungen überall nach vorn und nach hinten gewandt
sind. Schliesslich ertheilen wir wiederum allen Vorrichtungen
angenähert die Gestalt des Blattes. Untersuchen wir nun die
neuen Vorrichtungen auf ihre elektromotorischen Oberflächen,
so ergiebt sich, ausser der Symmetrie der Flächen und Hälf-
ten, Folgendes. Wo durch die Länge und Breite der Vor-
richtung resp. ibrer seitlichen Hälfte nur ein einziger Metall-
eylinder sich erstreckt, sind alle Punkte derselben Querlinie
unter einander gleichartig; und zwischen den Punkten zweier
Querlinien, die beide entweder der vorderen oder der hinteren
Hälfte der Vorrichtung angehören, besteht immer dieselbe
Richtung der Kraft, gleichviel ob die Punkte in einer mittle-
ren Längslinie der seitlichen Hälfte oder in der Längsmittel-
linie, gleichviel ob sie in der Verbindungslinie der Mitten der
Querlinien oder am äusseren Rande gelegen sind. Bei den
anderen Vorrichtungen, deren metallische Theile von den klei-
neren Cylindern gebildet sind, gestalten sich die Dinge aller-
dings etwas anders durch das Hinzutreten der Spannungen,
welche die geringere Positivität resp. Negativität des äusseren
Randes, der oberen wie der unteren Fläche gegenüber, und
die Neigungsströme desselben Randes setzen: die derselben
Querlinie angehörigen Punkte sind hier nämlich unter einander
ungleichartig. Aber eine Umkehr der Kraft in den Querlinien
60 H. Munk:
auf dem Wege von innen nach aussen findet auch hier nicht
statt; höchstens in der mittelsten Querlinie und den dieser
ganz nahen Querlinien könnte es unter Umständen zu einer
solchen Umkehr kommen. Und weiter zeigt sich die Kraft
zwischen den vorhin bezeichneten Punkten verschiedener Quer-
linien nicht nur nirgends in ihrer Richtung geändert, sondern
sogar .in ihrer alten Richtung noch überall verstärkt. Vgl.
Fig. 24, für welche wiederum die Figg. 24 A, B und © die
Anordnung der metallischen Theile vorführen. Die elektro-
motorische Oberfläche weicht also bei allen diesen Vorrich-
tungen ganz auffällig von der des Blattes ab.
Damit sind unsere Voruntersuchungen zum Abschlusse ge-
langt. Wir haben ihnen zu Grunde gelegt, was die constatirte
elektrische Symmetrie der oberen und der unteren Fläche,
der rechten und der linken Hälfte, der vorderen und der hin-
teren Hälfte des Blattes verlangt, dass der mit elektromoto-
rischen Kräften ausgestattete anatomische Bestandtheil des
Blattes eine symmetrische Lage besitzt zu den beiden Blatt-
flächen, zu der Mittelrippen-Axe und zu einer senkrecht auf
der Mitte der Mittelrippen-Axe stehenden, quer durch das
Blatt gehenden Linie. Dazu haben wir noch stillschweigend
die beiden Annahmen gemacht: 1. der betreffende Bestandtheil
gebe in seiner Begrenzung ohngefähr die Form des Blattes
oder der Blattflügel wieder; 2. derselbe bilde im Blatte resp.
Blattflügel ein zusammenhängendes Ganzes oder halte dort
mit seinen Theilen eine constante Lage in Bezug auf die
Blattflächen und auf die Mittelrippe ein, so dass seine Kräfte
in dem gleichen Bezuge nirgends eine Veränderung der Rich-
tung erfahren. Für diese Annahmen haben wir an schema-
tischen Vorrichtungen von der angenäherten Gestalt des Blat-
tes nach einander die drei möglichen Fälle betrachtet, dass
die elektromotorischen Flächen 1. parallel den Blattflächen,
2. senkrecht zu den Blattflächen und parallel der Mittelrippe,
3. senkrecht zu den Blattflächen und senkrecht zu der Mittel-
rippe gelegen sind. Im ersten und im dritten Falle hat keiner-
lei Modification der Vorrichtung eine elektromotorische Ober-
fläche ergeben ähnlich der des Blattes. Im zweiten Falle
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 61
wurden, wenn in gleicher Höhe neben einander nur zwei elek-
tromotorische Flächen ununterbrochen durch die Vorrichtung
oder durch jede seitliche Hälfte derselben sich erstreckten,
oder wenn in gleicher Höhe neben einander zahlreichere elek-
tromotorische Flächen gleichmässig über die Vorrichtung ver-
theilt waren, so dass an der Längsmittellinie der Vorrichtung
keine Unterbrechung der Anordnung bestand, gleichfalls elek-
tromotorische Oberflächen gefunden, welche wesentlich vom
Blatte abwichen. Dagegen haben in demselben Falle solche
Anordnungen der elektromotorischen Flächen, wie sie die
Vorrichtungen Figg. 20 A, B und C darboten, die gleiche
elektromotorische Oberfläche geliefert, wie sie das Blatt zeigt.
Wenn unsere Annahmen zutreffen, müssen also die elektro-
motorischen Kräfte im Inneren des Dionaea-Blattes ähnlich
angeordnet sein, wie die Kräfte in einer der Vorrichtungen
Fig. 20 A, Fig. 20 B, Fig. 20 C.
(2.) Untersuchung der anatomischen Bestandtheile ausser dem
Parenchyme.
Unmittelbar führen diese Vorermittelungen zur gewünsch-
ten Kenntniss freilich nicht, aber sie erleichtern wesentlich
unsere Aufgabe, wenn wir nunmehr daran gehen, die ver-
schiedenen Bestandtheile des Blattes der Reihe nach auf ihre
elektromotorische Wirksamkeit zu untersuchen.
Sogleich finden wir von der Concurrenz um den Sitz der
elektromotorischen Kräfte auszuschliessen die Scheibendrüsen!').
Indem diese Gebilde blos an der oberen Blattfläche vorkom-
‚men, erfüllen sie schon nicht die erste Anforderung, welche
auf Grund der Symmetrie der elektromotorischen Oberfläche
an die elektromotorische Substanz zu stellen ist, die symme-
trische Lage zu beiden Blattflächen. Doch wollen wir dabei
nicht stehen bleiben. Man könnte meinen, bei der Genauig-
1) Für die anatomischen Daten, welche ich in der Folge benutze,
stütze ich mich auf die Erfahrungen, welche ich durch die von Hrn,
Kurtz angefertisten Präparate und durch eigene Untersuchungen
an frischen Blättern gewonnen habe.
62 H. Munk:
keit, mit welcher wir die Gleichheit der absoluten Grösse der
Spannungen an beiden Blattflächen nur haben constatiren
können, sei mit unserer Beweisführung die elektromotorische
Wirksamkeit der Scheibendrüsen deshalb noch nicht genügend
ausgeschlossen, weil der Abstand der Blattflächen so gering
sei. Hier kommen uns nun unsere Vorermittelungen zu Stat-
ten. Den dort gemachten Annahmen würde die Gesammtheit
der Scheibendrüsen gut entsprechen. Damit unsere elektro-
motorische Oberfläche erhalten würde, müssten also die Schei-
bendrüsen den Blattflächen parallele, senkrecht gegen die
Mittelrippe gerichtete Kräfte. besitzen; und dagegen spricht
entschieden der radiäre zellige Aufbau der Scheibendrüsen, in-
dem die zur Mittelrippe senkrechte Richtung der Kräfte nicht
vor der der Mittelrippe parallelen Richtung bevorzugt sein
könnte, da doch den im Kreise angeordneten gleichen Zellen
gleiche Kräfte zukommen müssten. Auch müsste die Anord-
nung der Scheibendrüsen an der Mittelrippe unterbrochen
sein, und das ist nicht der Fall. Dass die Drüsen über die
obere Seite der Mittelrippe, wie über die Blattflügel, sich hin-
ziehen, ist an jedem Blatte mit gerötheten Drüsen im Groben
ohne Weiteres zu beobachten; aber ich habe auch bei sorg-
samer Musterung die Anordnung der Drüsen an beiden Orten
nicht wesentlich verschieden gefunden, besonders die Drüsen
auf der Mittelrippe nicht in viel grösseren Abständen gelagert,
was für die volle Unterbrechung der Anordnung hätte einen
gewissen Ersatz bieten können. Endlich lassen sich, durch
Hinüberstreichen mit der Thonspitze der Elektrode oder mit
dem Skalpellstiele über die obere Blattfläche, die Drüsen
streckenweise zu einem grossen Theile entfernen, und ich
habe danach weder am geschlossenen noch an dem wieder ge-
öffneten Blatte die elektromotorische Oberfläche merklich ver-
ändert gefunden. Mit aller Bestimmtheit ist daher zu sagen,
dass die Scheibendrüsen nicht die gesuchte elektromotorische
Substanz sind.
Ebensowenig können der Sitz der elektromotorischen
Kräfte die Sternhaare sein, welche die untere Seite der Blatt-
flügel wie der Mittelrippe und die Randstacheln bedecken:
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 63
es sprechen dagegen dieselben Gründe, welche sich gegen die
Scheibendrüsen geltend machen liessen, so dass wir deren
Wiederholung und die Anführung weiterer Gründe uns er-
sparen können. Auch wird es der Ausführung nicht bedürfen,
dass, wenn man die Ungeheuerlichkeit wagen wollte, Schei-
bendrüsen und Sternhaare in elektromotorischer Hinsicht zu-
sammenzufassen, Nichts damit gewonnen sein würde.
Einen dritten Bestandtheil des Blattes bilden die Fibro-
vasalstränge. Ihre Lage im Blatte ist eine so symmetrische,
wie es die Symmetrie der elektromotorischen Oberfläche ver-
langt. Aber den bei unseren Vorermittelungen gemachten An-
nahmen entsprechen sie nicht. Die Form des Blattes und der
Blattflügel kann man von ihnen wiedergegeben finden, auch
ziehen sie überall den Blattflächen parallel dahin, aber eine
eonstante Lage zur Mittelrippe halten sie nicht ein; vielmehr
verlaufen sie in der Mittelrippe selbst dieser parallel, stehen
dann als stärkste Seitennerven und als Nerven der Rand-
stacheln senkrecht auf der Mittelrippe und bilden in den
schwächeren Seitennerven und in den bogenförmigen Anasto-
mosen alle möglichen Winkel mit der Mittelrippe. Für diese
Fibrovasalstränge passen demnach unsere Vorermittelungen
nicht, und besondere Prüfungen sind für sie erforderlich.
Scheidet man im Verhalten der Fibrovasalstränge das in-
dividuell Verschiedene aus, das eben seiner Natur nach nicht
von Bedeutung sein kann für die uns bekannte elektromoto-
rische Oberfläche des Blattes, welche wir immer in gleicher
Weise wiederfanden, so lässt sich die regelmässige Anordnung
der Stränge so schematisiren, wie es die schraffirten Streifen
der Fig. 25 (Taf. I) zeigen. Der lange Zug der Stränge in
der Mittelrippe von vorn nach hinten bildet den Boden zweier
in den Blattflügeln befindlichen Arcaden, eigenthümlicher Ar-
caden der Art, dass die senkrechten Pfeiler von der Mitte aus
nach vorn wie nach hinten zu an Länge abnehmen und nahe
dem äusseren Rande des Blattflügels Spitzbögen tragen,
welche durch ähnliche kleinere Zwischenbögen verbunden sind
und von ihren Spitzen aus geradlinige Ausläufer in die Rand-
stacheln senden. Entsprechend dieser Formation sei nun die
64 H. Munk:
Plattencombination der Vorrichtung Fig. 16 @ (drei mit den
Flächen zusammengelöthete Platten, die beiden äusseren von
Zink, die mittlere von Kupfer) durchbrochen resp. zugeschnit-
ten und in einen ähnlich begrenzten flachen, mit einer gleich-
artigen Flüssigkeit erfüllten Trog versenkt, so dass die Flüs-
sigkeit oben, unten und an den Seiten das Metall ein wenig
überragt. Wir erhalten die Vorrichtung Fig. 25; und deren
elektromotorische Oberfläche zeigt in der Längsmittellinie und
an den äusseren Rändern, ferner zwischen den Mitten der
Querlinien und in dem grössten Theile der Querlinien selbst
dieselben Richtungen der Kraft, welche wir am Blatte consta-
tirten. Aber nicht findet sich wieder, dass der negativste
Punkt jeder Querlinie wesentlich nach aussen verschoben ist
und desto mehr, je näher dem vorderen oder dem hinteren
Rande die Querlinie sich befindet; noch sind die negativsten
Punkte aller Querlinien einander gleichartig. Vielmehr fällt
die Verbindungslinie der negativsten Punkte aller Querlinien
ohngefähr mit der Verbindungslinie der Mitten der Querlinien
zusammen, und es besteht in ihrer vorderen Hälfte eine ab-
steigende, in ihrer hinteren Hälfte eine aufsteigende Kraft.
Die mittleren Längslinien der seitlichen Hälfte der Vorrich-
tung lassen auch die Gleichartigkeit sämmtlicher derselben
Längslinie angehörigen Punkte vermissen, und es trifft eine
solche Gleichartigkeit höchstens zu für einzelne Längslinien,
welche zwischen der Verbindungslinie der Mitten der Quer-
linien und der Längsmittellinie der Vorrichtung gelegen sind,
Dazu kommt noch, dass in den Querlinien der Vorrichtung
Fig. 25 nahe dem äusseren Rande die Positivität jedes äusse-
ren Punktes gegen jeden inneren Punkt nicht wiederkehrt,
sondern sogar eine nochmalige Umkehr der Kraft sich ein-
stellt. Die elektromotorische Oberfläche der Vorrichtung
Fig. 25 ist also bei mancher Uebereinstimmung doch wesent-
lich verschieden von der des Blattes. Und darin wird auch
Nichts geändert, wenn wir statt der zusammenhängenden
Bleche entsprechend gruppirte kleinere Bleche oder Säulen-
paare nehmen, wenn wir überhaupt die metallischen Theile
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 65
unserer Vorrichtung Fig. 25 ebenso modifieiren, wie es oben
S. 48 mit der Vorrichtung Fig. 16 c geschah.
Erwägt man nun, dass selbst diejenigen Aehnlichkeiten,
welche wir hinsichts der elektromotorischen Oberfläche
zwischen der Vorrichtung Fig. 25 und dem Blatte fanden,
noch wesentlich getrübt werden müssen durch die individuell
verschiedenen, aber regelmässig vorhandenen schwächeren
Seitennerven, welche Anastomosen der starken pfeilerartigen
Seitennerven vorstellen, so kann kein Zweifel sein, dass
Kräfte in den Fibrovasalsträngen senkrecht zu deren Längs-
axe und senkrecht zu den Blattflächen die elektromotorische
Oberfläche nicht liefern, welche wir am Blatte constatirten.
Dasselbe gilt dann aber auch sogleich für Kräfte, welche
senkrecht zur Längsaxe der Stränge und parallel den Blatt-
flächen gerichtet sind, da solche Kräfte nur zu der gleichen
elektromotorischen Oberfläche führen könnten, wie die erste-
ren Kräfte. Und nicht besser steht es endlich mit Kräften,
welche parallel der Längsaxe der Stränge und damit parallel
den Blattflächen gerichtet sind. Denn hier würden die Span-
nungsunterschiede an den Blattflächen nur durch die elektri-
schen Differenzen gesetzt sein zwischen der Oberfläche der
Stränge einerseits und ihren freien Enden an den Rand-
stacheln und an den Mittelrippen-Enden andererseits; und
dass daraus nicht eine elektromotorische Oberfläche resultiren
könnte, wie wir sie am Blatte vorfanden, liegt zu sehr auf
der Hand, als dass wir dabei verweilen sollten. Mithin ist es
ausgemacht, dass auch die Fibrovasalstränge nicht die elektro-
motorische Substanz sind, welche wir suchen.
Wir kommen zum vierten Bestandtheile des Blattes, der
Epidermis. Diese überzieht als eine einfache Schicht eng ver-
bundener langgestreckter, ohngefähr eylindrischer Zellen un-
unterbrochen das ganze Blatt, nur dass an der oberen Seite
die Basalzellen der Scheibendrüsen, an der unteren Seite wie
auch am äusseren Rande und an den Randstacheln die Basal-
zellen der Sternhaare und die Schliesszellen der Spaltöffnun-
gen eingelagert sind. Die lange Axe der Epidermiszellen
liegt immer den Blattflächen parallel; und sie steht überall ohn-
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 5
6 H. Munk:
gefähr senkrecht auf der Mittelrippen- Axe, ausser an der un-
teren Seite der Mittelrippe und in den isolirten kurzen und
schmalen Zwischenräumen der Randstacheln hart an den
äusseren Rändern, wo sie der Mittelrippen-Axe etwa parallel
verläuft. Von der letzteren Abweichung abgesehen, sind also
die Bedingungen unserer Vorermittelungen erfüllt, wenn wir
jetzt die Epidermis und damit die sie constituirenden Zellen
als elektromotorisch wirksam betrachten wollen, und die Ab-
weichung ist zu klein, als dass es ganz besonderer neuer Prü-
fungen bedürfte; vielmehr geben hier unsere Vorermittelungen
eine gute Grundlage ab, auf der wir weiterbauen können.
Nehmen wir die Epidermiszellen zuerst mit Kräften aus-
gestattet an senkrecht zu ihrer langen Axe und senkrecht zu
den Blattflächen, so ist die stellenweise Veränderung der Lage
der Zellen für die elektromotorische Oberfläche selbstverständ-
lich ohne Bedeutung, wenn auf die einzelne Zelle zahlreiche
elektromotorische Flächen entfallen. Für den anderen extremen
Fall, dass jeder Zelle nur zwei elektromotorische Flächen
entsprechen, greifen wir auf die Betrachtung derjenigen Modi-
fication der Vorrichtung Fig. 16 c zurück, bei welcher die
metallischen Theile von sehr kleinen gleichen Blechen gebil-
det waren. Auf die Form der Bleche hatten wir oben kein
Gewicht zu legen gebraucht: sie mögen Rechtecke gewesen
sein, deren längere Seiten senkrecht zur Mittelrippe standen.
Denken wir nun in der unteren Hälfte unserer Vorrichtung
in und an der Längsmittellinie und ferner stellenweise
an den äusseren Rändern der Vorrichtung die Rechtecke
um 90° gedreht, so dass ihre längeren Seiten der Mittel-
rippe parallel sind, so muss, in Folge der Ungleich-
heit der Strömungsvorgänge an den Grenzen, an welchen die
verschieden gelagerten Rechtecke zusammenstossen, allerdings.
die Vertheilung der Spannungen an der Oberfläche sich ändern;
aber die Veränderung wird nur die Querlinien, in erster Reihe
die der unteren Fläche, betreffen, indem die Spannungen die-
ser Linien mehr ähnlich werden den entsprechenden Spannun-
gen des Falles, dass eine Lücke an der Längsmittellinie die
Anordnung der metallischen Theile unterbricht. Die Ungleich-
heit der Spannungen an der oberen und der unteren Fläche,
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 67
welche dadurch herbeigeführt wird, wollen wir gar nicht wei-
ter betonen. Jedenfalls bleibt es in allen Längslinien, in den
Verbindungslinien der Mitten der Querlinien und an den
äusseren Rändern bei der Gleichheit der Richtung der Kraft
nach wie vor. Und damit ist es festgestellt, dass die in den
Epidermiszellen eben angenommenen Kräfte unfähig sind, die
elektromotorische Oberfläche des Blattes zu liefern.
Nicht minder leicht lässt sich übersehen, dass auch die
Annahme solcher Kräfte in den Epidermiszellen, welche senk-
recht zu der langen Axe der Zellen und parallel der Mittel-
rippe gerichtet sind, zur elektromotorischen Oberfläche des
Blattes nicht führt. Wir greifen zur Vorrichtung Fig. 24 A
zurück und denken uns zunächst die mittlere Lücke von eben-
solehen Cylindern in gleicher Anordnung, ‘wie sie die seit-
lichen Hälften zeigen, erfüllt — was hier für die elektromo-
torische Oberfläche ohne Folgen ist —, dann in der unteren
Hälfte der Vorrichtung entlang der Längsmittellinie und
stellenweise an den äusseren Rändern der Vorrichtung die
Cylinder um 90° gedreht, so dass ihre Grundflächen nach
rechts und nach links gewandt sind, Nun wird die elektro-
motorische Oberfläche der Vorrichtung wesentlich verändert
sein, indem es zu einer Umkehr der Kraft in den Querlinien
kommt. Aber zugleich wird nicht blos eine Asymmetrie der
oberen und der unteren Fläche vorhanden sein, sondern es
wird auch hier wiederum die gleiche Richtung der Kraft in
allen Längslinien, in den Verbindungslinien der Mitten der
Querlinien und an den äusseren Rändern fortbestehen. Legen
wir nun auch nur auf das Letztere Gewicht, so sind offenbar
der Abweichungen genug vom Blatte gegeben, um von den in
Rede stehenden Kräften absehen zu lassen.
Etwas umständlicher gestaltet sich die Erwägung der drit-
ten Möglichkeit, dass die Kräfte der Epidermiszellen parallel
der langen Axe der Zellen, also parallel den Blattflächen und
senkrecht zu der Mittelrippe gerichtet sind.
Nehmen wir zunächst die Epidermis an der Längsmittel-
linie oben und unten von gleicher Beschaffenheit und zwar
von der Beschaffenheit der unteren Seite an, so können wir
r
SE
683 H. Munk:
an die Vorrichtung Fig. 20 A anknüpfen, deren elektromoto-
rische Oberfläche wir der des Blattes entsprechen sahen.
Denken wir uns die vom unwirksamen Leiter erfüllte Lücke
an der Längsmittellinie dieser Vorrichtung mit ebensolchen
Cylindern in der gleichen Anordnung erfüllt, "wie sie sonst
die Vorrichtung darbietet, doch so, dass die verzinkten Grund-
flächen der neuen Cylinder alle nach vorn und nach hinten
sehen, so treten damit für die Oberfläche zu den bisher be-
trachteten Spannungen neue hinzu, welche unwesentlicher das
Verhalten der Querlinien, wesentlich aber das der Längslinien
beeinflussen. Die Gleichartigkeit der mittleren Längslinien
der seitlichen Hälfte und die verhältnissmässig schwachen,
vorn auf-, hinten absteigenden Kräfte in der Längsmittellinie
scheinen in der vorderen Hälfte der Vorrichtung absteigenden,
in der hinteren Hälfte aufsteigenden Kräften Platz machen zu
müssen: wodurch die Vorrichtung wieder ihre Aehnlichkeit
mit dem Blatte verliert. Indess steht Nichts dem im Wege,
dass wir die Neigungsströme des äusseren Randes stärker als
bisher annehmen, so dass sie auch die neu hinzugekommenen
Kräfte überwinden. Nur das könnte einem berechtigten Be-
denken unterliegen, ob, wenn die Gleichartigkeit der mittleren
Längslinien der seitlichen Hälfte wieder besteht, zugleich auch
in der Längsmittellinie wieder die alten Richtungen der Kräfte
vorhanden sind; und auf die Erörterung dieser Frage mögen
wir uns nicht einlassen, von anderen Gründen abgesehen,
schon deshalb nicht, weil die Frage bald gegenstandslos er-
scheinen wird. Wir setzen die alten Kräfte in der Längsmit-
tellinie auch ferner vorhanden, was wir um so eher dürfen,
als es den Interessen unserer weiteren Ausführung wider-
spricht; und wir haben also nach unserer Ausfüllung der mitt-
leren Lücke dieselbe elektromotorische Oberfläche an der Vor-
richtung wie zuvor.‘
Jetzt passen wir auch die äusseren Ränder unserer Vor-
richtung Fig. 20 A dem Verhalten der Epidermis an. Was
bei den vorhergehenden Prüfungen entbehrlich war, ist jetzt
wesentlich, dass wir uns den gegebenen Verhältnissen eng an-
schliessen. An der oberen wie an der unteren Seite des Blatt-
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 69
flügels setzen sich alle Querreihen der Epidermiszellen, sich
verschmälernd, auf die Randstacheln fort und enden an deren
Spitze oder in der Nähe derselben. Dabei gehen die auf den
Stachel stossenden Querreihen geradlinig auf denselben über;
die anderen Querreihen, welche in den Zwischenraum zweier
Stacheln fallen würden, spalten sich sehr nahe dem äusseren
Rande des Blattflügels in zwei gleiche Gruppen, welche diver-
giren und die eine auf die hintere Seite des vorderen, die an-
dere auf die vordere Seite des hinteren Stachels sich begeben.
In den Scheiteln der hohen Bögen, mit welchen so die mit
der langen Axe ohngefähr senkrecht zur Mittelrippe gestellten
Epidermiszellen sich nach aussen abgrenzen, sind dann in ge-
ringer Ausdehnung diejenigen Epidermiszellen gelagert, deren
lange Axe etwa parallel der Mittelrippe verläuft, und die, von
oben und von unten zusammen ausgebreitet betrachtet, ge-
wissermassen kreisrunde Inseln zwischen den Randstacheln
bilden‘), Diesem Verhalten der Epidermis entsprechend den-
ken wir uns nun unsere Vorrichtung Fig. 20 A an ihren äusse-
ren Rändern hergerichtet, die langen Querreihen der Oylinder
alle in die spitzen Fortsätze der Vorrichtung verlängert und
da, wo die Querreihen auseinanderweichen, einige neue kurze
Reihen von ebensolchen Cylindern in gleicher Anordnung hin-
zugefügt, so jedoch, dass diese Cylinder ihre verzinkten Grund-
flächen alle nach vorn und nach hinten kehren. Sofort über-
sehen wir, welch grosse Veränderung für unsere elektromoto-
rische Oberfläche herbeigeführt ist. Das äussere Ende unserer
Cylinder-Querreihen, das von solcher Bedeutung für die Vor-
richtung Fig. 20 A war, ist jetzt an die Spitze der Fortsätze
gerückt, und von der geringeren Positivität des äusseren Ran-
des der Vorrichtung und von den Neigungsströmen desselben
kann keine Rede mehr sein. Selbst wenn die langen Cylinder-
Querreihen nicht alle auf die Fortsätze übergingen, sondern
immer geradlinig bis zu ihrem Ende verliefen und so zum
Theil in dem Zwischenraume zweier Fortsätze stufenartig
1) Fig. 26 (Taf. I.) veranschaulicht das Verhalten der Epider-
ınis-Zellenreihen am äusseren Rande. Die lange Axe der Zellen ist
immer den die Zellenreihen repräsentirenden Linien parallel.
70 H. Munk:
an die kurzen Cylinder-Längsreihen sich ansetzten, würden
nur partiale Neigungsströme des zwischen je zwei Fortsätzen
gelegenen äusseren Randes bestehen, welche die Spannungen
der Oberfläche im Grossen und Ganzen nicht beeinflussen
könnten. Damit ist dann aber die Aehnlichkeit der elektro-
motorischen Oberfläche der Vorrichtung mit der des Blattes
ganz fortgefallen, und die neuen, der Mittelrippe parallelen
Cylinder-Reihen vermögen natürlich nicht dieselbe wiederher-
zustellen.
Noch ein anderes, freilich weniger gewichtiges Moment
erhebt sich gegen die in Frage stehende Möglichkeit, wenn
wir von unserer Annahme, dass die Epidermis an der Längs-
mittellinie oben so sich verhalte wie unten, zur Berücksichti-
gung des wirklichen Verhaltens fortschreiten. Indem nämlich
die Querreihen der Epidermiszellen an der oberen Seite ohne
Unterbrechung über die Mittelrippe hinwegziehen, könnten
wir uns auch für die elektromotorische Oberfläche auf die
Vorrichtung Fig. 21 A verwiesen sehen, deren Oberfläche sich
sehr wesentlich verschieden ergeben hat von der des Blattes;
und wiederum muss eine Asymmetrie der oberen und der un-
teren Fläche resultiren. So vereinigen sich die eigenthümliche
Endigung der Querreihen der Epidermiszellen am äusseren
Rande einerseits und der Mangel der Unterbrechung derselben
Reihen an der Längsmittellinie der oberen Seite andererseits,
um auch das ganz unmöglich erscheinen zu lassen, dass Kräfte
in den -Epidermiszellen, die parallel der langen Axe der Zellen
gerichtet sind, die elektromotorische Oberfläche des Blattes
liefern.
Zu bemerken bleibt nur noch, dass die Verschiedenheiten,
welche die Epidermiszellen an verschiedenen Stellen des Blat-
tes darbieten, unsere Ausführungen hinsichts dieser Zellen
nicht beeinträchtigen können. Wollte man die oberen Epider-
miszellen von den unteren sondern und nur die einen oder
die anderen als elektromotorisch wirksam auffassen, es würde
sichtlich zu Nichts helfen, und man wäre auch gar nicht dazu
berechtigt. Wenn die oberen Epidermiszellen in ihren Dimen-
sionen regelmässig etwas abweichen von den unteren Zellen,
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w 71
so lässt sich dem keine Bedeutung beimessen, weil beiderlei
Zellen nach dem äusseren Rande hin gleichmässig in die sehr
langen und sehr schmalen Epidermiszellen der Randstacheln
übergehen, und weil eine Scheidung jener von diesen Zellen
des ganz allmählichen Ueberganges wegen nicht möglich ist.
Erst recht bedeutungslos muss aber für unsere Interessen die
verschiedene Färbung der Zellen. erscheinen. Denn während
alle Blätter in elektrischer Beziehung, soweit meine Unter-
suchung reichte, sich gleich verhielten, waren in vielen die
oberen Epidermiszellen ebenso grün wie die unteren, in an-
deren Blättern waren bald nur die mittelsten Epidermiszellen
an der oberen Seite des Blattflügels, bald eine ausgedehntere
Partie der Zellen um die Mitte herum, bald alle Zellen bis
zur Mittelrippe und zu den Rändern, bald endlich ausserdem
noch die Epidermiszellen der Randstacheln geröthet; ja, in
zwei Fällen habe ich sogar nur die mittelsten Zellen des
Blattflügels und zugleich die Zellen der Randstacheln in deren
ganzem Umfange roth gefunden. Es kann demnach auch
Nichts zu besagen haben, wenn die Epidermiszellen an der
oberen Seite der Mittelrippe etwas kürzer, als die benachbar-
ten Zellen des Blattflügels, und bisher nie roth gefunden sind.
Und überhaupt kann bei dieser Sachlage das Verfahren allein
richtig sein, welches wir oben einschlugen, dass man in elek-
trischer Hinsicht alle Epidermiszellen zusammenfasst.
Auf dem Wege der Ausschliessung sind wir also dahin
gelangt, die gesuchte elektromotorische Substanz in dem ein-
zigen noch übrigen Bestandtheile des Blattes zu erkennen, —
im Parenchyme, d.h. in der grossen Masse meist langgestreck-
ter und etwa cylindrischer, selten kugeliger Zellen, welche zu-
sammen mit den Fibrovasalsträngen den Raum zwischen der
oberen und der unteren Epidermis erfüllen. Die Art der
Wirksamkeit dieser Zellenmasse würde nunmehr noch zu be-
stimmen sein, damit unsere Aufgabe vollkommen gelöst wäre,
(3.) Untersuchung des Parenchyms.
Nach der Form und der Lage der Zellen lassen sich fünf
Partieen am Parenchyme unterscheiden: 1. das Blattflügel-Par-
12 H. Murk:
enchym, 2. das Parenchym des äusseren Randes, 3. das Rand-
stachel-Parenchym, 4. das obere und 5. das untere Mittelrippen-
Parenchym'). Das Blattflügel-Parenchym besteht aus
lauter Zellen von etwa cylindrischer Gestalt, deren lange Axe
parallel den Blattflächen und senkrecht zur Mittelrippe gelegen
ist. Den ganzen Blattflügel mit Ausnahme der äussersten
Partie erfüllend, grenzt es unmittelbar einerseits an das obere
und das untere Mittelrippen-Parenchym, ändererseits an
das Parenchym des äusseren Randes und das Randstachel-
Parenchym und weist Querreihen regelmässig mit den Polen
aneinanderstossender Zellen auf, Reihen also, welche den Blatt-
flächen parallel sind und senkrecht auf der Mittelrippe stehen.
Von der Blattflügel-Nervatur wird es ohngefähr gerade in der
Mitte seiner Dicke durchsetzt, so dass sich mit der Nervatur
als Grenze eine obere und eine untere Hälfte an ihm unter-
scheiden lassen. Seine äussere Grenze verläuft sehr nahe dem
äusseren Rande des Blattflügels, noch etwas nach aussen von
den Spitzen der Zwischenbögen, welche die grossen Bögen der
Seitennerven verbinden, und zwar parallel dem äusseren Rande
des Blattflügels, ohne jedoch den Vorsprüngen desselben,
welche die Randstacheln entlassen, zu folgen. Nach innen
vom Blattflügel-Parenchyme und zwar jederseits von der oberen
Hälfte desselben begrenzt, liegt das obere Mittelrippen-
Parenchym und erfüllt den Raum zwischen der oberen Epi-
dermis der Mittelrippe und der oberen Fläche des Mittelrippen-
Nerven. Es ist gleichfalls von etwa eylindrischen Zellen ge-
bildet; aber deren lange Axe ist ohngefähr senkrecht zur Mittel-
rippen-Axe und senkrecht zur oberen Fläche der Mittelrippe
gestellt, und in Folge der regelmässigen Aneinanderlagerung
der Zellen mit ihren Polen lassen sich hier auf den Blattflächen
senkrechte Reihen der Zellen, Verticalreihen, erkennen. Den
1) Vgl. Fig. 4 und Figg. 27 a und d. Die letzteren Figuren
zeigen schematisch @ einen Querschnitt, 5 einen Längsschnitt durch
das offene Blatt. Die inneren Linien repräsentiren die Parenchym-
Zellenreihen, so dass überall den Linien parallel die langen Axen der
Zellen gelegen sind. Wo der Schnitt senkrecht zu diesen Axen ge-
fallen ist, erscheinen die Zellenreihen demgemäss als Punkte.
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 73
noch übrigen Raum der Mittelrippe unterhalb und zu den
Seiten des Mittelrippen-Nerven nimmt das untere Mittel-
rippen-Parenchym ein und stösst jederseits unmittelbar
mit der unteren Hälfte des Blattflügel-Parenchyms zusammen.
Auch dieses Parenchym ist aus lauter etwa cylindrischen Zel-
len zusammengesetzt; aber die Zellen sind hier mit ihrer
langen Axe den Blattflächen und der Mittelrippe parallel und
bilden durch die Regelmässigkeit ihrer Anordnung den Blatt-
flächen und der Mittelrippe parallele Längsreihen. Nach
aussen vom Blattflügel-Parenchyme und zwar überall da, wo
der äussere Rand des Blattflügels keinen Stachel entlässt, liegt
in dem ganz schmalen Saume das Parenchym des äusse-
ren Randes, das aus lauter kugeligen Zellen besteht. End-
lich erstreckt sich immer da, wo ein Randstachel abgeht, von
der äusseren Grenze des Blattflügel-Parenchyms aus bis tief in
den Randstachel hinein das Randstachel-Parenchym,
das wiederum eigenartig beschaffen ist, dessen Schilderung ich
mir aber für eine spätere Stelle vorbehalte.
Nur der ausgedehnten Vorbereitung für unsere Aufgabe
haben wir es zu verdanken, wenn wir in diesem scheinbaren
Wirrwarr von Zellen und Axen uns zurechtfinden. Wir über-
sehen sogleich, dass das Blattflügel-Parenchym, das an Aus-
dehnung alle anderen Parenchyme insgesammt viele Male
übertrifft, die Bedingungen unserer Vorermittelungen erfüllt,
und dass unsere Aufgabe somit ohne Weiteres gelöst wäre,
wenn von den anderen Parenchymen sich absehen liesse.
Solches Absehen geht nun allerdings nicht an; im Gegentheil,
wir dürfen den leitenden Faden unserer Untersuchung, den
wir in der berechtigten Voraussetzung besitzen, dass der
gleichen Organisation die gleiche Anordnung der elektrischen
Kräfte entspricht, nicht aufgeben und müssen den anderen
Parenchymen dieselben Kräfte, wie dem Blattflügel-Paren-
chyme, zuerkennen, so lange nicht besondere Gründe dagegen
sprechen. Aber immerhin finden wir wiederum durch unsere
Vorermittelungen einen guten Grund gelegt, da wir nur noch
zu untersuchen brauchen, ob und wie die elektromotorische
Oberfläche, welche das Blattflügel- Parenchym für sich allein
74 H. Munk:
liefern würde, durch die Anwesenheit der anderen Parenchyme
verändert wird. In diese Untersuchung treten wir ein; und
um dieselbe zu vereinfachen, vernachlässigen wir vorläufig das
Parenchym des äusseren Randes und das Randstachel-Paren-
chym, indem wir an deren Stelle nur unwirksame feuchte
Leiter an der Aussenseite des Blattflügel-Parenchyms befind-
lich annehmen.
Wir beginnen wiederum damit, dass wir die Zellen des
Blattflügel-Parenchyms mit Kräften ausgestattet sein lassen
senkrecht zur langen Axe der Zellen und senkrecht zu den
Blattflächen. Enthielte die Mittelrippe nur unwirksamen Lei-
ter, so würden diese Kräfte die elektromotorische Oberfläche
liefern, welche Fig. 17 ce zeigt, und welche wesentlich von der
des Blattes abweicht. Nun setzen wir die Mittelrippe mit
ebensolchen Zellen, wie die Blattflügel, erfüllt, alle Zellen
dort aber um ihre verticale Axe so gedreht, dass ihre Pole
nach vorn und nach hinten sehen. Es wird die elektromoto-
rische Oberfläche der Vorrichtung Fig. 16 c, mit überall um-
gekehrter Richtung der Kräfte, erhalten, wenn auf die einzelne
Zelle zahlreiche elektromotorische Flächen entfallen. Anderer-
seits, wenn der einzelnen Zelle nur zwei solche Flächen zu-
kommen, stellt sich die elektromotorische Oberfläche der Vor-
richtung Fig. 17 c blos so verändert dar, dass in den Quer-
linien die negativsten Punkte nach innen gerückt erscheinen;
in allen Längslinien, in den Verbindungslinien der Mitten
der Querlinien und an den äusseren Rändern bestehen
die alten Richtungen der Kräfte fort. Wir nehmen zweitens
die Mittelrippe wiederum von ebensolchen Zellen, wie die
Blattflügel, erfüllt an, alle Zellen dort aber aufgestellt, ihre
Pole nach oben und nach unten gekehrt, so dass die Kräfte
dieser Zellen parallel den Blattflächen und senkrecht zur
Mittelrippe gerichtet sind. Dadurch wird an der elektromo-
torischen Oberfläche der Vorrichtung Fig. 17 ce nicht mehr
verändert, als dass die negativsten Punkte der Querlinien nach
aussen gerückt erscheinen; alle Linien von vorn nach hinten
behalten auch hier die alten Richtungen der Kräfte bei. Es
ist also klar, dass, wenn wir beicerlei Einfügungen zugleich
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 75
vornehmen, indem wir die Zellen mit den nach oben und un-
ten gekehrten Polen den oberen Theil, die Zellen mit den
nach vorn und hinten gekehrten Polen den unteren Theil der
Mittelrippe erfüllen lassen, gleichfalls und erst recht nicht die
elektromotorische Oberfläche des Blattes gewonnen wird.
Lassen wir weiter die Zellen des Blattflügels-Parenchyms
mit Kräften ausgestattet sein senkrecht zur langen Axe der
Zellen und parallel den Blattflächen, so würden wir, bei un-
wirksamem Leiter in der Mittelrippe, die elektromotorische
Oberfläche erhalten, welche die Vorrichtung Fig. 24 A zeigt.
Denken wir nun die Mittelrippe mit ebensolchen Zellen, wie
die Blattflügel, erfüllt, alle Zellen dort aber um ihre verticale
Axe so gedreht, dass ihre Pole nach vorn und nach hinten
sehen, so tritt gar keine Veränderung der Richtungen der
Kräfte weder in den Quer- noch in den Längslinien ein. Eben-
sowenig ist dies der Fall, wenn wir alle Zellen in der Mittel-
rippe aufgestellt, mit den Polen nach oben und nach unten
gekehrt setzen, so dass die Kräfte der Zellen parallel den
Blattflächen und parallel der Mittelrippe gerichtet sind. Es
führt also auch wiederum nicht zur elektromotorischen Ober-
fläche des Blattes, wenn wir die Zellen in beiderlei Lagen zu-
gleich, wie vorher, die Mittelrippe erfüllen lassen.
Die Annahmen, welche wir bei diesen Ueberlegungen hin-
sichts der Kräfte in den Zellen der Mittelrippe gemacht haben,
sind sichtlich die natürlichsten. Wollte man sich aber auch
zu unnatürlicheren Annahmen verstehen, wollte man die Kräfte
der Zellen, deren Pole nach vorn und nach hinten sehen, im
ersten Falle parallel den Blattflächen und senkrecht zur Mittel-
rippe, im zweiten Falle senkrecht zur Mittelrippe und senk-
recht zu den Blattflächen, und wiederum die Kräfte der ande-
ren Zellen, deren Pole nach oben und nach unten gekehrt sind,
im ersten Falle parallel der Mittelrippe und parallel den Blatt-
flächen, im zweiten Falle parallel den Blattflächen und senk-
recht zur Mittelrippe setzen, man würde doch, wie der weite-
ren Ausführung nicht bedarf, die elektromotorische Oberfläche
des Blattes nie erhalten.
Die dritte und letzte Möglichkeit, welche zu betrachten
76 H. Munk:
ist, geht dahin, dass die Zellen des Blattflügel-Parenchyms
ihrer langen Axe parallele Kräfte besitzen, also Kräfte, welche
den Blattflächen parallel und zur Mittelrippe senkrecht sind.
Für solche Kräfte würde, bei unwirksamem Leiter in der Mit-
telrippe, unsere Vorrichtung Fig. 20 A ohne Weiteres ange-
zeigt haben, wie wir zur elektromotorischen Oberfläche des
Blattes gelangten. Aber den gegenwärtigen Anforderungen
entspricht die Vorrichtung nicht, und es ist nothwendig, dass
wir sie modificiren.
Wir setzen die vom unwirksamen Leiter eingenommene
mittlere Lücke der Vorrichtung Fig. 20 A von ebensolchen
Cylindern in der gleichen Anordnung erfüllt, wie sie die seit-
lichen Hälften der Vorrichtung darbieten, nur dass die Cylin-
der dort anders gelagert sind. Sehen die Pole aller Cylinder
in der mittleren Lücke nach oben und nach unten, so ist die
vorn auf-, hinten absteigende Kraft in der Längsmittellinie
verstärkt, die negativsten Punkte der Querlinien sind nach
aussen gerückt und zwar desto weiter, je näher die betrachtete
Querlinie der mittelsten Querlinie gelegen ist, endlich die
Gleichartigkeit der mittleren Längslinien der seitlichen Hälf-
ten ist verschwunden, indem vorn auf-, hinten absteigende
Kräfte in den Linien bestehen. Sind hinwiederum die Pole
aller Cylinder in der mittleren Lücke nach vorn und nach hin-
ten gerichtet, so sind in der Längsmittellinie, in den Verbin-
dungslinien der Mitten der Querlinien, in allen mittleren Längs-
linien der seitlichen Hälften und endlich an den äusseren Rän-
dern vorn ab-, hinten aufsteigende Kräfte hinzugetreten; und
die negativsten Punkte der Querlinien sind im vordersten und
im hintersten Viertel der seitlichen Hälften nach aussen, in
den beiden mittleren Vierteln nach innen gerückt, überall
desto weiter, je näher die betrachtete Querlinie dort dem vor-
deren resp. hinteren Rande, hier der mittelsten Querlinie sich
befindet. Nehmen wir nun die Cylinder der mittleren Lücke
in beiderlei Lagerung zugleich an, die Pole nach oben und
nach unten gerichtet in dem oberen Theile, die Pole nach
vorn und nach hinten gewandt in dem unteren Theile der mitt-
leren Lücke, so lässt sich die elektromotorische Oberfläche
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u. s. w. IT
der so gearteten Vorrichtung natürlich allgemeingültig nicht
genauer bestimmen. Aber wenn es auf der einen Seite un-
mittelbar klar ist, dass diese Oberfläche von derjenigen der
Vorrichtung Fig. 20 A wesentlich verschieden sein und die
Uebereinstimmung mit der des Blattes ganz verloren haben
kann, so ergiebt es sich doch auf der anderen Seite, dass
auch jetzt noch an der Vorrichtung die Oberfläche bestehen
kann, welche Fig. 20 zeigt.
Zuvörderst bemerken wir, dass die beiderlei Einfügungen
in die mittlere Lücke für die von uns betrachteten Linien der
Oberfläche, mit wenigen Ausnahmen, überall gerade entgegen-
gesetzte Kräfte neu hinzutreten machen, so dass ihre Wirkun-
gen mehr oder weniger vollständig einander compensiren kön-
nen. Sodann müssen wir uns erinnern, dass bei unserer Be-
trachtung der Vorrichtung Fig. 20 A, wie S. 55 noch beson-
ders angemerkt wurde, der Unterschied in der Positivität
zwischen dem inneren und dem äusseren Rande der seitlichen
Hälfte der Vorrichtung und die Neigungsströme des äusseren
Randes in ihrer Grösse haben durchaus unbestimmt bleiben
müssen. Wir haben deshalb dort nur sagen können, dass sich
übersehen liesse, dass unter gewissen Bedingungen, bei einer
gewissen Neigung des äusseren Randes u. s. w., die elektro-
motorische Oberfläche Fig. 20 sich darbieten würde. Nunmehr
lässt sich ebenso weiter übersehen, dass unter veränderten
Bedingungen, bei einer gewissen anderen Neigung des äusseren
Randes u. s. w., unter Bedingungen mithin, welche ohne Er-
füllung der mittleren Lücke der Vorrichtung Fig. 20 A die
elektromotorische Oberfläche Fig. 20 nicht geliefert haben
würden, gerade nach der nunmehrigen Erfüllung der Lücke
eben diese Oberfläche hergestellt sein kann. Wenn z. B. ohne
Erfüllung der mittleren Lücke die mittleren Längslinien der
seitlichen Hälften noch vorn ab-, hinten aufsteigende Kräfte
besassen, können diese Kräfte nach der Erfüllung der Lücke
durch die mit derselben neu hinzugetretenen Kräfte beseitigt
sein. Oder es kann auch, wenn vorher in denselben Linien,
in Folge des Uebergewichtes der Neigungsströme, vorn auf-,
hinten absteigende Kräfte bestanden, nachher zur Gleichartig-
NOTE EEE N *
DR
78 H. Munk:
keit der Linien gekommen sein, in Folge der Verschiebung
der negativsten Punkte in den Querlinien, wie sie die Erfül-
lung der Lücke mit sich bringt. Lässt es sich also auch
durchaus nicht erweisen, so ist doch sehr wohl die Möglichkeit
einzusehen, dass die elektromotorische Oberfläche Fig. 20
auch dann sich darbietet, wenn in die mittlere Lücke der
Vorrichtung Fig. 20 A wirksame Theile in der bezeichneten
Weise eingefügt sind.
Damit von der Vorrichtung zum Blatte übergehend, sehen
‘wir bei diesem die Sachlage sich noch wesentlich günstiger
gestalten. Da die durch die Mittelrippen-Parenchyme in den
Linien der Oberfläche gesetzten Spannungsdifferenzen mit der
Entfernung von der Mittelrippe rasch abnehmen müssen,
werden die Mittelrippen-Parenchyme in ihrer Bedeutung für
die elektromotorische Oberfläche desto mehr gegenüber dem
Blattflügel-Parenchyme zurücktreten, je grösser der Abstand
von der Mittelrippe ist; bis endlich von einem gewissen Ab-
stande an das Blattflügel-Parenchym allein zur Geltung kom-
men, d. h. die Oberfläche gerade so sich verhalten wird, wie
wenn ausschliesslich dieses Parenchym wirksam wäre und nur
unwirksamer feuchter Leiter in der Mittelrippe sich befände.
Nun müssen die Wirkungen der Mittelrippen-Parenchyme in
der Nähe der Mittelrippe besonders im Verhalten der Längs-
linien zur Wahrnehmung kommen und daneben etwa noch in
der Asymmetrie der oberen und der unteren Fläche. Gerade
aber hinsichts der somit fraglichen Linien und Flächenstücke
ist unsere Kenntniss der elektromotorischen Oberfläche des
Blattes lückenhaft geblieben. Denn gerade in der Nähe der
Mittelrippe haben sich die vergleichenden Bestimmungen an
der oberen und der unteren Fläche nicht ausführen lassen
(s. 0. 5. 41), und gerade dort auch ist es, was jetzt alle Beach-
tung verdient, uns nicht gelungen (s. o. S. 39), eine einfache
Gesetzmässigkeit in den Spannungen der Längslinien zu er-
kennen, die Längsmittellinie ausgenommen, bei welcher die
Richtungen der Kräfte jedoch hier gar nicht in Frage zu kom-
men brauchen. Wenn also die Wirkungen der Mittelrippen-
Parenchyme, wie es sehr gut möglich ist, nur bis zu einer
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 79
mässigen Entfernung von der Mittelrippe eine solche Grösse
besitzen, dass sie bei der Feinheit unserer Bestimmungen sich
bemerklich machen, so ist Nichts natürlicher, als dass die
Wirkungen an unserer elektromotorischen Oberfläche des Blat-
tes vollständig sich vermissen lassen. Und darum stellt sich
offenbar noch viel mehr, als dass die metallischen Theile der
vorhin modifieirten Vorrichtung Fig. 20 A die elektromoto-
rische Oberfläche Fig. 20 liefern, das Andere als wahrschein-
lich heraus, um das es uns ja im Grunde nur zu thun ist, dass
die elektromotorische Oberfläche des Blattes aus den Kräften
des Parenchyms resultirt, wenn ebensolche Kräfte in eben-
soleher Anordnung dem Blattflügel - Parenchyme zukommen,
wie den Cylindermassen in den seitlichen Hälften der Vor-
richtung Fig. 20 A.
Doch, nicht zu vergessen, wir haben soweit die beiden
Aussenparenchyme vernachlässigt und müssen auch diese Par-
enchyme noch in den Kreis der Untersuchung ziehen.
Das Rändstachel-Parenchym erfüllt nicht blos den eigent-
lichen Randstachel, sondern auch den Wulst, der an dem Ur-
sprunge jedes Stachels liegt und der Ausbuchtung der unteren
Blattfläche nach unten seine Entstehung verdankt. Es ist von
Reihen etwa cylindrischer Zellen, deren lange Axe ohngefähr
parallel der Axe des Stachels verläuft, gebildet, und nur zu
unterst im Wulste finden sich kugelige Zellen, auf welche
sich jene Zellenreihen gewissermassen aufsetzen. Von den
am weitesten nach innen reichenden Zellenreihen stossen die
untersten Zellen mit ihren Mänteln unmittelbar an die Pole
der letzten Zellen des Blattflügel-Parenchyms an und zwar so,
dass die Querreihen des Blattflügel-Parenchyms mit den
Schrägreihen des Randstachel-Parenchyms einen nach oben
concaven Winkel bilden, der nahe an 180° herankommt!).
Dass das Parenchym des äusseren Randes aus lauter kugeligen
Zellen besteht und nur einen ganz schmalen Saum an der
Aussenseite des Blattflügel-Parenchyms in den Zwischenräu-
men der Randstacheln oder Randstachel-Parenchyme bildet,
ist uns schon von früher her bekannt.
1) Vergl. Fig. 4 und Fig. 27 a.
80 H. Munk:
Wir gehen nun nochmals die drei möglichen Fälle hin-
sichts der Kräfte des Blattflügel-Parenchyms durch und lassen,
wie wir vorher das Blattflügel-Parenchym zusammen mit dem
Mittelrippen-Parenchyme betrachteten, jetzt ausserdem auch
noch die Aussenparenchyme wirksam sein. Ueber die Kräfte,
welche dabei die Zellen des Randstachel-Parenchyms erhalten,
kann kein Zweifel herrschen, da immer dieselben Richtungen
zur langen Axe und zur oberen und unteren resp. vorderen
und hinteren Wand der Zellen anzunehmen sind, wie bei den
Zellen des Blattflügel-Parenchyms. Dagegen sind wir bei den
kugeligen Zellen des Parenchyms des äusseren Randes in Ver-
legenheit, welche Kräfte wir ihnen in Bezug auf die Kräfte
des Blattflügel-Pargnchyms zuertheilen sollen; und es bleibt
Nichts übrig, als dass wir in jedem Falle die Kräfte der ku-
geligen Zellen gerichtet setzen ein Mal wie die der Zellen des
Blattflügel-Parenchyms, ein zweites Mal wie die der Zellen
des oberen und ein drittes Mal wie die der Zellen des unteren
Mittelrippen-Parenchyms. Führen wir so die Prüfungen durch,
so finden wir, dass überall da, wo eine elektromotorische
Oberfläche sonst sich ergab, die von der des Blattes wesent-
lich abwich, auch durch das Hinzutreten der Aussenpar-
enchyme darin Nichts geändert wird, und dass andererseits,
wo vorher die Möglichkeit sich herausstellte, dass die elektro-
motorische Oberfläche des Blattes erhalten wurde, diese Mög-
lichkeit auch jetzt noch fortbesteht. Im Uebrigen treten weder
neue bemerkenswerthe Momente noch neue Schwierigkeiten
bei den Prüfungen auf, und die ausgedehntere Behandlung
derselben darf um so eher unterbleiben, als die weitere Ent-
wickelung der Dinge bald sogar diese ganzen Prüfungen über-
flüssig erscheinen lassen wird. Nur das mag erwähnt sein,
dass, wenn man das Blattflügel-Parenchym mit solchen Kräf-
ten in solcher Anordnung ausgestattet setzt wie die Cylinder-
massen in den seitlichen Hälften der Vorrichtung Fig. 20 A,
durch die Aussenparenchyme im ungünstigsten Falle an der
elektromotorischen Oberfläche Fig. 20 doch nicht mehr ver-
ändert wird, als dass die negativsten Punkte der Querlinien
sich ein wenig verschieben; und dass, wenn damit auch in der
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 81
Gleichartigkeit der mittleren Längslinien der seitlichen Hälfte
eine Störung eintritt, dieselbe doch nur unbedeutend ist, so
dass sie am Blatte innerhalb der Fehlergrenzen der Bestim-
mungen bleiben könnte.
Die Aussenparenchyme ändern also Nichts, und es bleibt
bei dem, was wir vorher ermittelt haben. Wir sahen zuerst,
dass, mit welchen Kräften man auch die anatomischen Bestand-
theile des Blattes ausser dem Parenchyme mag ausgestattet
sein lassen, nie die Kräfte die eonstatirte elektromotorische
Oberfläche des Blattes liefern. Ebensowenig, stellte sich wei-
ter heraus, führt es zu dieser Oberfläche, wenn man das Par-
enchym als wirksam annimmt und die Zellen des Blattflügel-
Parenchyms Kräfte besitzen lässt, die senkrecht zur langen
Axe der Zellen und senkrecht zu den Blattflächen oder die
senkrecht zur langen Axe der Zellen und parallel den Blatt-
flächen gerichtet sind. Ertheilt man aber, wiederum .das Par-
enchym als wirksam vorausgesetzt, den Zellen des Blattflügel-
Parenehyms der langen Axe der Zellen parallele Kräfte und
zwar in solcher Anordnung, wie sie die Cylindermassen in
den seitlichen Hälften der Vorrichtung Fig. 20 A zeigen, so
lässt sich, wie wir schliesslich fanden, die elektromotorische
Oberfläche des Blattes zwar nicht mit Sicherheit aus den
Kräften des Parenchyms ableiten — dazu gebricht es an der
unentbehrlichen Kenntniss verschiedener Grössenverhältnisse,
und daran verhindern die durch die Mittelrippen-Parenchyme
eingeführten Verwickelungen —, aber es ergiebt sich hier eine
sehr hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass aus den Kräften des
Parenchyms die elektromotorische Oberfläche des Blattes re-
sultirt. Damit sind wir offenbar zu Erfolgen gelangt, so gut
sie sich nur erwarten liessen ; und bei den Grenzen, welche
solehen Untersuchungen, wie wir sie eben führen, heutzutage
gesteckt sind, wird man nicht im Zweifel darüber sein können,
dass die letztbezeichneten Kräfte in der Wirklichkeit dem
Blattflügel-Parenchyme zukommen.
Weitere Erfahrungen am Blatte verbürgen denn auch noch
die Zuverlässigkeit dieses Ergebnisses.
Nach unseren Ermittelungen ist die elektromotorische
Beichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 6
3 H. Munk:
Oberfläche des Blattes, so genau wir sie kennen lernten, aus-
schliesslich oder fast ausschliesslich durch die Kräfte des
Blattflügel-Parenchyms bedingt, und die anderen Parenchyme
sind für dieselbe ohne Bedeutung oder beeinflussen sie doch
blos unwesentlich. Nur wenn dies richtig, ist es denkbar,
dass die Winkel, welche die Zellenreihen der verschiedenen
Parenchyme mit einander bilden, grösser oder kleiner werden
können, ohne dass die elektromotorische Oberfläche des Blat-
tes Veränderungen erfährt. Das ist es aber, was sich in der
That ergiebt. Wenn das offene Blatt, das wir unseren bishe-
rigen Ueberlegungen zu Grunde legten, sich schliesst oder
wenn das geschlossene Blatt sich wieder öffnet, ändern sich
die Winkel, welche die Zellenreihen des Blattflügel-Paren-
chyms mit den Zellenreihen der Mittelrippen-Parenchyme einer-
seits und mit den Zellenreihen des Randstachel-Parenchyms
andererseits bilden, um 30—60° (s. u. 8.5); und doch wird die
gleiche Vertheilung der Spannungen an der Oberfläche des
Blattes gefunden, mag das Blatt mehr oder weniger offen’ oder
geschlossen sein (s. o. S. 41).
Die Bedeutungslosigkeit der Aussenparenchyme für die
elektromotorische Oberfläche des Blattes lässt sich ferner auf
folgende Weise erhärten. Schneidet man an einem äusseren
Rande des Blattes oder auch an beiden äusseren Rändern die
Randstacheln mit ihren Wülsten und dem schmalen Saume
des freien Randes zwischen den Stacheln so ab, dass nur Reste
vom Randstachel-Parenchyme und vom Parenchyme des äusse-
ren Randes dort stehen bleiben, so kommt an der elektromotori-
schen Oberfläche des Blattes keine Veränderung zur Beobachtung.
Da eine Reizbewegung nicht eintritt (s. u. $. 5),lässt sich der Ver-
such auch am offenen Blatte anstellen, während zweien Punk-
ten der unteren Blattfläche die Elektroden angelagert sind;
und wenn keine Verrückung der Elektroden erfolgt, sieht man
die vor dem Abschneiden vorhandene Kraft ebenso nach dem
Abschneiden fortbestehen, gleichviel wo die geprüften Punkte
gelegen sind.
Unter dem Eindrucke dieser Erfahrungen drängt sich die
Frage auf, ob denn überhaupt den Aussenparenchymen solche
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s. w. 83
elektrischen Kräfte zukommen, wie dem Blattflügel-Parenchyme.
Wir gewahren, indem wir uns umschauen, dass, wenn wir so-
weit die Aussenparenchyme mit dem Blattflügel-Parenchyme in
elektromotorischer Beziehung in Zusammenhang gebracht ha-
ben, wir dazu nur durch den im Grunde bedeutungslosen Um-
stand veranlasst worden sind, dass die grobe Anatomie beider-
lei Bestandtheile des Blattes mit dem Collectivbegriffe „Par-
enchym“ umfasst. Selbst eine morphologische Uebereinstim-
mung der Aussenparenchyme mit dem Blattflügel-Parenchyme
lässt sich nicht vertreten, zumal wenn man vom Randstachel-
Parenchyme die tief im Stachel selbst gelegenen Zellen mit
in’s Auge fasst. Andererseits, wie sich bisher jede Spur
einer elektromotorischen Wirksamkeit der Aussenparenchyme
vermissen liess, so kann man auch die beim letzten Versuche
abgeschnittenen Randtheile des Blattes ableiten wie man
wolle, es gelingt nicht, elektrische Wirkungen ihnen zu ent-
locken; während sonst alle ausgeschnittenen Tkeile des Blattes
mehr oder weniger grosse, oft recht beträchtliche Spannungs-
differenzen zwischen den Schnittflächen oder zwischen der
Schnittfläche und der Oberfläche ergeben. Da somit nicht das
Mindeste für jenen bisher festgehaltenen Zusammenhang, wohl
aber Manches gewichtig dagegen spricht, müssen wir jetzt die
Aussenparenchyme ganz von dem Blattflügel- Parenchyme
scheiden und ebensogut, wie z. B. die Epidermis, den unwirk-
samen Bestandtheilen des Blattes zurechnen.
Anders steht es, wenn sich die gleiche Frage für die
Mittelrippen-Parenchyme erhebt. Schon die morphologische
Uebereinstimmung dieser Parenchyme mit dem Blattflügel-
Parenchyme ist gar nicht zu verkennen, und sogar noch engere
Beziehungen werden für das obere Mittelrippen-Parenchym
offenbar, sobald man einen (Querschnitt des geschlossenen
Blattes betrachtet. Denn hier, wo unsere Verticalreihen der
Zellen des oberen Mittelrippen-Parenchyms fast parallel unse-
ren Querreihen der Zellen des Blattflügel-Parenchyms laufen,
lehrt der erste Blick, dass die beiderlei Zellenreihen ein von
Natur zusammengehöriges Ganzes sind, von dem nur die eine
Partie, je mehr das Blatt sich öffnet, desto mehr sich um die
6:
84 H. Munk:
Mittelrippenaxe dreht, während die andere Partie ihre Lage
zur selben Axe unverändert beibehält. Ausserdem aber erweist
sich nicht blos jedes isolirte Stück der Mittelrippe elektromo-
torisch wirksam, sondern es macht sich sogar die Wirksam-
keit der Mittelrippen-Parenchyme auch schon an der elektro-
motorischen Oberfläche des unversehrten Blattes deutlich be-
merklich in einem Verhalten, das wir nur so lange absicht-
lich ausser Acht gelassen haben, in der Asymmetrie der Mit-
telrippe.
Als wir oben S. 76 unsere Vorrichtung Fig. 20 A modi-
ficirten, fügten wir die Cylinder mit ihren Polen nach oben
und nach unten gerichtet in den oberen Theil, nach vorn und
nach hinten gewandt in den unteren Theil der mittleren Lücke
ein. Auch umgekehrt hätten die letzteren Cylinder oben, die
ersteren unten in der Lücke sich annehmen lassen, ohne dass
dadurch die Erfolge im Mindesten beeinträchtigt wurden.
Aber, was ohnedies am natürlichsten erschien, das ist jetzt
durch die Zusammengehörigkeit des oberen Mittelrippen-Par-
enchyms mit dem Blattflügel-Parenchyme geradezu zweifellos,
dass auch die Kräfte der Mittelrippen-Parenchyme der langen
Axe der Zellen parallel zu setzen sind. Nun resultirten an
unserer Vorrichtung aus den das untere Mittelrippen-Paren-
chym repräsentirenden Cylindern für die Längsmittellinie in
der vorderen Hälfte absteigende, in der hinteren Hälfte auf-
steigende und zwar in beiden Hälften symmetrische Kräfte.
Das trifft aber für das Blatt, das wir immer in seinem natür-
lichen Zusammenhange mit dem Blattstiele untersuchten, des-
halb nicht zu, weil, wie jetzt an der Zeit ist zu bemerken,
das untere Mittelrippen-Parenchym des Blattes ohne jede Un-
terbrechung sich fortsetzt in ein gleiches und gleich gelagertes
Parenchym, das über den ganzen Blattstiel (mit dem Zwischen-
gliede) sich erstreckt. Da demgemäss auch dem letzteren
Parenchyme die elektrischen Kräfte unseres unteren Mittel-
rippen-Parenchyms zuzusprechen sind, so muss der elektromo-
torische Aequator der ein Ganzes bildenden unteren Mittel-
rippen- Parenchyme des Blattes und des Blattstieles vor der
Mittelrippe des Blattes gelegen sein. Durch das untere Mittel-
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 85
rippen-Parenchym werden sich also an der‘Mittelrippe des
Blattes zu den dort sonst schon vorhandenen, in der vorderen
Hälfte auf- und in der hinteren Hälfte absteigenden Kräften
überall nur aufsteigende Kräfte algebraisch summiren; und
daher kommt es, dass der positivste Punkt an der Mittelrippe
über die Mitte derselben hinaus nach hinten verschoben ist.
Ist mit dieser Herleitung der Asymmetrie der Mittelrippe
das Rechte getroffen, so müssen mit der Verkürzung des
Blattstieles, unter Verschiebung des vorhin bezeichneten
Aequators, die Kräfte an der Mittelrippe des Blattes Verän-
derungen erfahren: und das ist wirklich der Fall. Schon Hr.
Sanderson hat seinen „normalen Blattstrom“ (zwischen den
Blattenden) ansehnlich wachsen sehen, wenn er den mit dem
Blatte verbundenen Blattstiel im Ganzen oder stückweise ab-
trug"). Dass Hr. Sanderson, vor diese Erfahrung blos mit
seiner Kenntniss des „normalen Blattstromes* und des (ent-
gegengesetzt gerichteten) „Blattstielstromes“ gestellt, dieselbe
nicht zu erklären vermochte, ist nur natürlich; unverständlich
ist mir aber, wie er sie hat in Beziehung zum Elektrotonus
des Nerven bringen können‘), und eine Widerlegung wird
nicht nöthig sein. Ich habe die aufsteigende Kraft zwischen
den Enden der Mittelrippe nach der Verkürzung des Blatt-
stieles meist gleichfalls gewachsen, doch auch wiederholt,
wenn der Schnitt nahe dem hinteren Ende des Blattstieles ge-
führt war, verringert gefunden; ausserdem habe ich die ab-
1) Proceed. p. 495; Centralbl. S. 834; Nat. p. 128.
2) Ich setze die Stelle (Nat. p. 128) hierher: „The leaf-stalk
was cut off, the leaf remaining as before on the electrodes. The de-
fleetion was increased (more than doubled). It was then explained
that when the leaf-stalk is itself placed on the electrodes, the gal-
vanometer indicates the existence of a eurrent opposed in direction
to that of the leaf, showing that the electrical conditions on opposite
sides of the joint between stalk and leaf are antagonistic to each
other. Consequently, so long as leaf and stalk are united, each pre-
vents or diminishes the manifestation of electromotive force by the
other. This is completely in accordance with what is observed with
reference to nerve, andis known as „electrotonic variation of the nerve
“a current“.“
36 H. Munk:
steigende Kraft in der hinteren und vornehmlich die aufstei-
gende Kraft in der vorderen Hälfte der Mittelrippe abnehmen
sehen. Und das genügt für den angetretenen Beweis. Im
Uebrigen habe ich ein volles Verständniss der hier eintreten-
den Veränderungen noch nicht zu gewinnen vermocht, weil,
als ich mich zu den vorerst wenig wesentlichen und dabei die
Töpfe entblätternden Versuchen im letzten Spätherbste ent-
schloss, das Material mir nicht mehr in ausreichender Menge
zu Gebote stand und besonders auch nicht in der erforderlichen
Güte, da die Kräfte öfters schon umgekehrt waren (s. o. S. 44).
Erst mit einer grösseren Summe von Versuchen werden die
mehrfachen Verwickelungen, welche hier durch die von vorn
nach hinten abnehmende Dicke der Blatt-Mittelrippe, durch
das Vorhandensein gleicher Zellenreihen auch an der oberen
Seite des Zwischengliedes und des Blattstieles, durch die von
den Blattflügeln und den Blattstielflügeln gebildeten Neben-
schliessungen u. s. w. gesetzt sind, sich befriedigend überwin-
den lassen. Erst dann werden auch, beiläufig bemerkt, die
Veränderungen von Hrn. Sanderson’s „normalem Blatt-
strome“, welche das Hindurchleiten eines constanten Stromes
durch den Blattstiel herbeiführt'), sich mit Erfolg studiren
lassen: Veränderungen, welche nach meinen Wahrnehmungen
durch ihre unbedeutende Grösse und durch die Inconstanz der
Richtung, in welcher sie erfolgen, sich sehr wesentlich von
den elektrotonischen Veränderungen des Nerven unter-
scheiden.
Fassen wir nun alle die dargelegten neuen Erfahrungen
zusammen, so haben sich alle anderen Parenchyme ausser dem
Blattflügel-Parenchyme in der That von nur so geringer Be-
deutung für unsere elektromotorische Oberfläche des Blattes
ergeben, wie wir es vorgesehen hatten, und zwar die Aussen-
parenchyme aus dem Grunde, weil sie überhaupt unwirksam .
sind, die Mittelrippen-Parenchyme deshalb, weil sie blos in
1) Sanderson, Proceed. p. 495--6; Centralbl. S. 834. Die
Richtungen der Zuwachsströme sind an der einen dieser beiden Stel-
len gerade entgegengesetzt angegeben, wie an der anderen.
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s. w. 87
der Asymmetrie der Mittelrippe sich zur Geltung bringen.
Andererseits aber hat es sich auch in Folge der Zusammen-
gehörigkeit des oberen Mittelrippen -Parenchyms mit dem
Blattflügel-Parenchyme und in Folge der Asymmetrie der
Mittelrippe als unzweifelhaft herausgestellt, dass die Mittel-
rippen-Farenchyme mit ebensolchen Kräften wie das Blatt-
fügel-Parenchym ausgestattet sind. Mit noch grösserer
Sicherheit und Genauigkeit, als vorher, können wir also jetzt
die elektromotorische Oberfläche des Blattes daher ableiten,
dass die Zellen des Blattflügel-Parenchyms und der beiden
Mittelrippen-Parenchyme der langen Axe der Zellen parallele
Kräfte besitzen in solcher Anordnung, wie sie die Oylinder-
massen in den seitlichen Hälften der Vorrichtung Fig. 20 A
darbieten.
Ueberhaupt kann dieses Ergebniss nunmehr höchstens
noch Bedenken unterliegen auf Grund der Abweichungen,
welche die dem Blatte angenäherte Gestalt unserer Vorrichtun-
gen von der wirklichen Gestalt des Blattes darbot; und auch
jedes derartige Bedenken wird durch die Untersuchung besei-
tigt. Es würde zu weit geführt haben und wäre auch zweck-
los gewesen, hätten wir oben in ausgedehnter Entwickelung
unsere Vorrichtungen noch mehr der Blattform nähern wollen:
es genügt, wenn wir jetzt die Abweichungen von dem Ge-
sichtspunkte aus betrachten, ob durch ihre Vernachlässigung
unser Vergleich der elektromotorischen Oberflächen der Vor-
richtungen mit der des Blattes ist mit wesentlichen Fehlern
belastet worden. So dürfen wir nun rasch darüber hinweg-
gehen, dass wir als äusseren Rand immer die beiden gleichen
Sehnen genommen haben an Stelle der, übrigens oft nur we-
nig grösseren Bögen, und dass unsere Vorrichtungen die Wöl-
bungen haben vermissen lassen, welche das ganze Blatt in der
Richtung von vorn nach hinten und jeder Blattflügel überdies
zwischen dem inneren und dem äusseren Rande zeigt; denn
die Beseitigung dieser Abweichungen an unseren Vorrichtun-
gen hätte offenbar nur unbedeutende und, bei der Genauig-
keit unserer Bestimmungen, nicht der Rede werthe Verzerrun-
gen der elektromotorischen Oberflächen zur Folge gehabt.
88 H. Munk:
Und auch nicht viel länger brauchen wir zu verweilen bei den
anderen Abweichungen, welche in der eigenthümlichen Ver-
bindung der Blattflügel mit der Mittelrippe begründet sind.
Die Mittelrippe unseres Blattes verläuft in einem nach
unten concaven Bogen, und nicht an ihren Seiten, sondern an
ihrer oberen Convexität inseriren sich, etwa rechtwinkelig zu
einander, die beiden Blattflügel, so dass der innere Rand je-
des Blattflügels einen nach aussen convexen Bogen bildet,
ähnlich wie der äussere Rand, der jedoch stärker gekrümmt
ist. Dies haben unsere flach ausgebreiteten Vorrichtungen
nicht wiedergeben können, die nur berücksichtigten, was nicht
minder charakteristisch für das Blatt ist, dass der vordere und,
der hintere Rand des Blattflügels unter rechten Winkeln von
der Mittelrippe abgehen und beträchtlich kürzer sind als die
mittelste Querlinie des Blattflügels, und bei welchen weiter,
da der innere Rand des Seitentheiles der Vorrichtung gerad-
linig angenommen wurde, für die seitliche Begrenzung die
Krümmung des inneren Randes des Blattflügels von der Krüm-
mung seines äusseren Randes in Abzug gebracht war. Da-
durch ist die Lage der Seitentheile gegen die sie verbindende
Mitte an der Vorrichtung eine andere gewesen als am Blatte;
dadurch sind zweitens an der Vorrichtung alle Längslinien
zwischen den äusseren Enden der vorderen und der hinteren
Ränder von gleicher Länge gewesen und die Querlinien ein-
ander parallel verlaufen, während am Blatte die dem inneren
Rande des Blattflügels parallelen Längslinien nach aussen hin
an Länge wachsen und die Querlinien nach aussen hin diver-
giren; dadurch endlich ist es gekommen, dass die Höhe oder
Dicke unserer Vorrichtungen in deren ganzer Ausdehnung die
gleiche war, während jeder Blattflügel von der Mitte seines
inneren Randes aus nach vorn und nach hinten, wie auch
besonders nach aussen hin an Dieke abnimmt. Hervorzuheben
ist aber, dass mit diesen Abweichungen nicht die mindeste
Verschiedenheit in der Lage aller Stränge, Zellen, Axen u.s. w.
zu den Blattflächen und zu der Mittelrippen-Axe, wie wir sie
vorher unseren Untersuchungen zu Grunde legten, verknüpft
ist. Sondern es divergiren nur die pfeilerartigen Seitennerven,
die Reihen der Epidermiszellen und die Querreihen der Zellen
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 89
des Blattflügel-Parenchyms in der Wirklichkeit nach aussen
hin, statt einander parallel zu verlaufen, wie wir es vorher
annahmen; und die so entstehenden Zwischenräume werden
bei der Epidermis durch neu hinzutretende Zellenreihen, beim
Parenchyme dadurch ausgefüllt, dass die dicht an der Mittel-
rippe über einander gelagerten Zellenreihen sich nach aussen
hin zum Theil neben einander schieben').
Wenn wir diese Abweichungen an unseren Vorrichtungen,
der Natur derselben angemessen, beseitigen, wenn wir die
Bleche passend biegen und zuschneiden, die Cylinder und Cy-
linderreihen nach Bedürfniss nach aussen convex krümmen
oder nach aussen hin divergiren lassen und im letzteren Falle
die Zwischenräume mit unwirksamem feuchten Leiter oder mit
neuen Cylindern und Cylinderreihen erfüllen, wenn wir die
Höhe in der erforderlichen Weise wachsen lassen durch die
Zunahme der unwirksamen Flüssigkeit allein oder auch durch
die Vermehrung der über einander befindlichen metallischen
Theile u. s. w., so führen uns die mühsamen Prüfungen, die
genauer durchzugehen nicht lohnt, zu dem einfachen Resultate,
dass Alles beim Alten bleibt. Weder erweisen sich die vor-
her unzutreffend befundenen Vorrichtungen jetzt zutreffend für
das Blatt hinsichts der elektromotorischen Oberfläche, noch
stellt sich die Aehnlichkeit, welche die Oberflächen der Vor-
richtungen Figg. 20 A, B und C mit der des Blattes darboten,
jetzt irgend wesentlich gegen früher verringert heraus. Und
das Letztere, das eigentlich allein sich ernstlich hätte bezwei-
feln lassen, stimmt denn auch durchaus mit der Einsicht über-
ein, die auf einem anderen, viel bequemeren Wege sich ge-
winnen lässt. Da die elektromotorische Oberfläche, so genau
wir dieselbe kennen lernten, am geschlossenen Blatte die
gleiche ist wie am mehr oder weniger offenen Blatte, also un-
verändert bleibt, während der Winkel, den die Blattflügel mit
einander bilden, von c. 30° auf ec. 90° wächst, so kann es für
dieselbe auch Nichts ausmachen, wenn wir jenen Winkel in
1) Die Zahl der über einander gelagerten „inhaltlosen“ Zellen,
wie Hr. Kurtz sie nennt, des Blattflügel-Parenchyms nimmt von der
Mittelrippe zum äusseren Rande hin von 6—7 auf 3—4 ab.
90 HA. Munk:
Gedanken weiter von 90° auf 130° wachsen lassen, so dass
das Blatt ebenso flach ausgebreitet wäre wie unsere Vorrich-
tung. Wir finden ferner an jungen Blättern, die eben sich zu
öffnen begonnen haben, die Mittelrippe noch gerade und den
Blattflügel von überall gleicher Dicke; und erst mit dem wei-
teren Wachsen der Blätter bilden sich die Krümmung der
Mittelrippe und der Dickenunterschied am Blattflügel mehr
und mehr aus, bis beide endlich am vollentwickelten grossen
Blatte eine ansehnliche Grösse erlangt haben. Doch ist es so
nur bei den hiesigen und den amerikanischen Dionaeen; bei
den englischen Dionaeen ist die Mittelrippe immer viel weniger
und auch an den grössten Blättern nur mässig gekrümmt, und
der Diekenunterschied am Blattflügel ist selbst an den letzte-
ren Blättern nur schwer zu constatiren. Dem entsprechend
zeigt sich auch an unseren und den amerikanischen Dionaeen
die Verlängerung des Blattflügels nach aussen hin, wenn das
Blatt nicht noch sehr klein ist, regelmässig sehr deutlich und
oft sogar in beträchtlicher Grösse, während bei den englischen
Dionaeen nicht selten selbst das grosse Blatt mehr viereckig,
an Gestalt wirklich unseren Vorrichtungen ähnlich sich dar-
stellt"). Allen diesen Verschiedenheiten gegenüber ist aber
unsere elektromotorische Oberfläche des Blattes an alten wie
an jungen Blättern, bei hiesigen und amerikanischen wie bei
englischen Dionaeen immer in gleicher Weise anzutrefien, und
es können daher jene wechselnden Verhältnisse nicht von Ein-
fluss auf die Oberfläche sein.
Die Abweichungen, welche die Gestalt unserer Vorrich-
tungen von der des Blattes darbot, hatten mithin allesammt
Nichts zu besagen. Doch ist die Verfolgung derselben nicht
so ganz unfruchtbar gewesen, wie es im Augenblicke scheinen
kann, da sie uns in einem wesentlichen Punkte zu einer Be-
richtigung unserer Anschauungen verhilft. Wir haben uns bei
der Betrachtung unserer Vorrichtungen immer an die obere
und die untere Fläche bis zu deren Rändern gehalten und
1) S. Fig. 1, a und 5, ce und d. Vergl. auch Darwin, Ins.
Pl. Fig. 12 p. 287.
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u,s.w. 91
sind nie auf die Schmalseiten, die Querschnitte, wie sie
heissen mögen, übergegangen, unter der stillschweigenden
Voraussetzung, dass wir auch bei unseren Bestimmungen am
Blatte immer auf den grossen Flächen der elektromotorisch
wirksamen Partieen uns bewegt hatten und nie vor deren Quer-
schnitte gekommen waren. Traf die Voraussetzung nicht zu,
kam etwa der unwirksamen Schicht an den Rändern des Blattes
eine solche Breite zu, dass wir bei gewissen äussersten Bestim-
mungen am Blatte uns bereits vor den Querschnitten be-
funden hatten, so konnte doch dadurch kein Fehler in
unseren Ueberlegungen bedingt sein. Denn wie die
Durchmusterung unserer Vorrichtungen lehrt, wären
dadurch nur neue Richtungen der Kräfte in den Längs-
linien vor den äusseren Querschnitten der Vorrich-
tungen Figg. 18 und 19, in den Querlinien vor den vorderen und
hinteren Querschnitten der Vorrichtungen Figg. 22, 23 und 24
anzumerken gewesen; und alle diese Vorrichtungen stellten sich
doch schon aus anderen Gründen sehr bald als unbrauchbar
für unsere Zwecke heraus. Indem so nicht einmal in der ver-
gleichenden Betrachtung der Flächen und der Querschnitte
ein Hülfsmittel sich uns darbot, die Breite der unwirksamen
Schicht au den Rändern des Blattes zu ermitteln, durften wir
am so eher es uns ersparen, mit solcher Betrachtung die ohne-
“ dies schwierige Darlegung noch unnütz zu erschweren. Jetzt
ist es auch auf das Bestimmteste zu sagen, dass wir an den
Rändern des Blattes nie vor die Querschnitte der elektromo-
torisch wirksamen Partieen gekommen sind, da das Blattflügel-
Parenchym an dem vorderen und dem hinteren Rande des
Blattflügels bis an die Epidermis reicht, und da andererseits
unsere Elektroden nie über dem Parenchyme des äusseren
Randes allein oder auf den Randstacheln aufgesetzt waren.
Aber, was nicht an den Rändern, das ist, wo man es von
vorne herein am wenigsten erwarten mochte, gerade in der
Mitte des Blattes der Fall. In Folge der eigenthümlichen In-
sertion der Blattflügel an der Mittelrippe sind unsere Bestim-
mungen an dieser, wie ohne Weiteres erhellt, da die Elektro-
den immer die Mitte der unteren Fläche der Mittelrippe be-
9 H. Munk:
rührten, nicht an den inneren Rändern der Flächen der Blatt-
flügel-Parenchyme oder doch dicht bei denselben, sondern ge-
radezu vor den Querschnitten der Blattflügel-Parenchyme ge-
macht‘). Dass somit unsere Betrachtung der Längsmittellinie
an den Vorrichtungen für die Mittelrippe nicht zutrifft, ist
nicht weiter von Belang. Denn wenn wir uns auch die Längs-
mittellinien aller unserer Vorrichtungen, welche die unwirk- .
same mittlere Lücke zeigten, vor den Querschnitten der me-
tallischen Theile gelegen denken, so wird doch dadurch nir-
gends eine Uebereinstimmung der elektromotorischen Ober-
fläche der ‘Vorrichtung mit der des Blattes erzielt, wo wir die
Uebereinstimmung sonst vermissten; und bei den Vorrichtun-
gen Figg. 20 A, 5 und (' sehen wir dann nur in der Längs-
mittellinie zu den vorn auf-, hinten absteigenden schwächeren
Kräften, welche durch die Neigungsströme bedingt sind, mit
gleichen Richtungen die stärkeren Kräfte des Querschnittes
hinzutreten. Aber es ist doch eine besonders für die Folge
werthvolle Einsicht, welche wir gewonnen haben, dass un-
sere Bestimmungen an der Mittelrippe die Quer-
schnitte, alle unsere anderen Bestimmungen die
Flächen derBlattflügel-Parenchyme betreffen.
Es ist also jetzt nach allen Seiten gesichert, dass die elek-
tromotorische Oberfläche des Blattes aus den Kräften des Blatt-
flügel-Parenchyms und der beiden Mittelrippen-Parenchyme re-
1) Ohne die genauere Untersuchung des Blattes kann man sich
von den in Betracht kommenden Verhältnissen auf folgende Weise
eine richtige Vorstellung verschaffen. Man lege die beiden Hände
mit gestreckten und adducirten Fingern,so an einander, dass die Ra-
dialränder der Daumen sich berühren, ferner die Radialränder der
Zeigefinger nach deren Spitzen hin einander immer näher kommen,
aber nicht bis zur Berührung, endlich die Volarflächen der Hände
etwa einen rechten Winkel mit einander bilden. Es sind dann die
beiden Blattflügel durch die Hände ohne die Daumen repräsentirt
und die Mittelrippe durch die beiden Daumen, die man nur noch
unten verdickt sich zu denken hat und nach oben hin unter Ver-
jüngung so verlängert, dass der Zwischenraum der Zeigefinger ver-
deckt ist. Wo die Dorsalflächen beider Daumen zusammenstossen,
würden unsere Elektroden die Mittelrippe. berührt haben.
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 93
sultirt, aus Kräften, welche immer der langen Axe der Zellen
parällel und gerade so angeordnet sind, wie die Kräfte der
Cylindermassen in den seitlichen Hälften der Vorrichtung
Fig. 204. Ob dabei auf die einzelne Parenchymzelle immer
nur zwei elektromotorische Flächen entfallen oder mehr solche
Flächen — natürlich in gerader Anzahl, mit anderen Worten,
ob die einzelne Parenchymzelle hinsichts ihrer Kräfte einem
einzigen Metalleylinder der Vorrichtung oder einer ganzen
Gruppe solcher Cylinder entspricht, das hat sich nicht aus-
machen lassen. Da die einzelnen Zellen klein genug sind gegen
die Berührungsflächen des unwirksamen leitenden Bogens, um
auch an die letztere Möglichkeit denken zu lassen, haben wir
von Anfang an bei unserer Untersuchung beide Möglichkeiten
im Auge behalten, und überall haben sich beide Möglichkeiten
als gleich zulässig herausgestellt. Aber wir haben bisher
immer einen Umstand vernachlässigt, der hier gerade eine be-
sondere Beachtung verdient. Während nämlich die Cylinder
der Vorrichtung Fig. 20 A sämmtlich von gleicher Grösse sind
und nach allen Dimensionen der Vorrichtung regelmässig in
Reihen geordnet sind, sehen wir die Zellen des Blattflügel-
Parenchyms, an das wir uns zunächst allein halten wollen, von
ungleicher Grösse und nur zu Querreihen regelmässig angeord-
net, nach der Länge und der Dicke des Blattes aber mehr oder
weniger unregelmässig aneinandergelagert. Tragen wir diesem
Verhalten Rechnung und setzen wir jede einzelne Zelle mit
denselben Kräften ausgestattet wie deneinzelnen Metallcylinder,
so können sich die elektrischen Wirkungen zweier benachbar-
ter Zellen, die verschiedenen Querreihen angehören, dort wo
die Zellen aneinanderstossen, nicht so vollkommen aufheben,
wie es bei den Cylindern unserer Vorrichtung der Fall ist;
und deshalb kann auch, im Gegensatze zu dem, was für unsere
Vorrichtung gültig ist, die elektromotorische Oberfläche der
ganzen Zellenmasse nicht ausschliesslich aus den Spannungs-
differenzen einerseits der freien Pole, andererseits der freien
Mantelflächen der äussersten, an der Grenze der Zellenmasse ge.
legenen Zellen resultiren. Da aber demnach, wenn nur zwei
elektromotorische Flächen auf jede Zelle entfielen, die Ueber-
94 H. Munk:
legung und die Beobachtung verschiedene elektromotorische
Oberflächen für das Blatt ergäben, so scheint es gar nicht an-
ders sein zu können, als dass zahlreiche Metalleylinder der
einzelnen Zelle entsprechen, für welchen Fall die unregelmäs-
sige Anordnung der Zellen ohne jede Bedeutung ist.
Indess bei näherer Betrachtung gestalten sich die Dinge
anders. Denken wir uns in der 1., 3., 5. u.s. f. in jeder un-
geraden Querreihe der Metalleylinder der Vorrichtung Fig. 20 A,
- durch die Verlängerung des einen und die entsprechende Ver-
kürzung des anderen Schlusscylinders, die Cylinder alle um
!/, oder '/s oder !/, u.s.w. der Cylinder-Länge gegen die
Cylinder der geraden Reihen verschoben, so werden dadurch
allerdings neue und zwar je nach der Grösse der Verschiebung
verschiedene Spannungen an der Oberfläche der Vorrichtung
hinzutreten; aber diese Spannungen werden, weildie elektrischen
Wirkungen der Cylinder je zweier benachbarter gerader resp.
ungerader Reihen immer inmitten ihres Abstandes sich voll-
kommen aufheben müssen, für die elektromotorische Oberfläche
doch nicht mehr leisten, als dass in der Richtung von vorn
nach hinten in regelmässiger Wiederkehr ein ganz kurzes,
immer über die Breite zweier Querreihen ausgedehntes Schwan-
ken oder Wogen der Spannungen, ein An- und Absteigen der-
selben, neu auftritt. Ebenso wird es sein, wenn wir die Ver-
schiebung, mit Uebergehung einer grösseren Anzahl von Quer-
reihen, blos die 1., 4., 7. oder die 1., 5., 9. Querreihe u.s.w.
betreffen lassen, nur dass dann das Wogen der Spannungen
auch über die Breite von 3 resp. 4 und überhaupt entsprechend
mehr Querreihen sich erstrecken wird. Und wenn wir die 1,
Querreihe gegen die 2., die 2. gegen die 3. Querreihe u.s.f. in
der Weise verschoben setzen, dass die Verschiebung jedesmal
einen anderen Bruchtheil der Cylinder-Länge beträgt, bis dann
die 4. oder die 5. oder eine spätere Querreihe wieder der 1.
Querreihe entspricht und nunmehr Alles wie vorhin sich wie-
derholt, u.s.w., so wird auch dadurch nur ein regelmässig
wiederkehrendes Wogen der Spannungen der Oberfläche in
einer Ausdehnung, welche dem Abstande der einander ent-
sprechenden Querreihen gleichkommt, bewirkt sein. Daraus
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 95
folgt dann, dass bei unseren Bestimmungen der elektromoto-
rischen Oberfläche, wenn die Berührungsflächen des unwirksamen
Bogens den Abstand der einander entsprechenden Querreihen
an Grösse übertreffen, von allem jenen Wogen ebensowenig
etwas zur Beobachtung kommen wird, wie sich an der Vor-
richtung Fig. 20 A das Wogen der Spannungen über jedem ein-
zelnen Cylinder bemerklich macht: die mittlere Spannung,
welche durch die Verschiebung der Querreihen bedingt ist,
wird an beiden Berührungsflächen dieselbe sein, und hervor-
treten wird deshalb nur, gerade so wie bei der Vorrichtung
Fig. 20 A, die Spannungsdifferenz, welche für die abgeleiteten
Stellen durch den Strom gesetzt ist, der durch den umhüllenden
feuchten Leiter von den freien Grundflächen zu den freien
Mantelflächen der Cylinder fliesst). Nun wird freilich bei un-
seren Zellen des Blattflügel-Parenchyms eine solche Regelmäs-
sigkeit in der Verschiebung der Querreihen gegen einander,
wie wir sie eben bei den Metallcylindern voraussetzten, nicht
gefunden, und wir sehen sogar öfters schon innerhalb zweier
benachbarter Querreihen, in Folge der ungleichen Länge der
Zellen, die Verschiebungen mehrfach an Grösse wechseln; aber
in dem Wechsel der Verschiebungen besteht doch auch eine
Regelmässigkeit, da derselbe überall in ohngefähr gleicher
Weise sich wiederholt. Daher ist, wenn die grossen, viele
Querreihen umfassenden Berührungsflächen unseres unwirksa-
men Bogens an zwei Stellen A und 2 des Blattes sich befinden,
hinsichts der durch die Verschiebungen der Zellen bedingten
mittleren Spannung eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit dafür
vorhanden, dass dieselbe bei A ebensogross ist wie bei 5,
oder dass sie doch bei A nur so wenig grösser oder kleiner
ist als bei B, dass die dadurch bewirkte Spannungsdifferenz
in die Fehlergrenzen unserer Bestimmungen fällt oder gar nicht
in Betracht kommt gegenüber der anderen Spannungsdifferenz
zwischen A und B, welche durch den Strom gesetzt ist, der
1) Vergl. für diese Betrachtungen: Helmholtz, Pogg. Annal.
Bd. 89. 1853. S. 371 f. — E. du Bois-Reymond, dies Archiv,
1863, S. 581 ff.
96 H. Munk:
durch den die Zellenmasse umgebenden Leiter von den freien
Polen zu den freien Mantelflächen der Zellen fliesst. Es schlies-
sen somit die Verschiebungen der Zellen -Querreihen es gar
nicht aus, dass nur zwei elektromotorische Flächen der einzel-
nen Parenchymzelle zukommen, da auch für diesen Fall die
elektromotorische Oberfläche unseres Blattes, so genau sie uns
bekannt geworden ist, in der dargelegten Weise sich ableiten
lässt.
Was ich eben für die neben einander gelegenen Querreihen
der Zellen des Blattflügel-Parenchyms entwickelt babe, das
gilt natürlich dann erst recht für die in der Dicke des Blattes
unter einander befindlichen Querreihen, da hier die durch die
Zellen-Verschiebungen bedingten mittleren Spannungen an
den Berührungsflächen, in Folge des wachsenden Abstandes
der Querreihen von diesen Flächen, überhaupt kleiner als im
ersten Falle sein müssen. Und dieselben Betrachtungen lassen
sich endlich auch auf diejenigen Verschiebungen übertragen,
welche sich an den Vertical- resp. Längsreihen der Zellen in
den beiden Mittelrippen-Parenchymen zeigen, wenn esüberhaupt
der Mühe werth erscheint, von diesen Verschiebungen Notiz
zu nehmen. So dass es, Alles zusammengenommen, sich her-
ausstellt, dass es trotz der Verschiedenheiten, welche die Oy-
linderreihen der Vorrichtung und die Zellenreihen des Blattes
in ihrer Anordnung darbieten, doch sehr wohl mit unserer Ab-
leitung der elektromotorischen Oberfläche des Blattes sich ver-
einen lässt, dass die einzelne Parenchymzelle hinsichts ihrer
Kräfte dem einzelnen Metalleylinder entspricht.
Wenn danach aber den beiden Möglichkeiten, welche in
Frage stehen, auf Grund der vorliegenden Erfahrungen die
gleiche Berechtigung zusteht, so können wir keinen Augenblick
im Zweifel darüber sein, für welche Möglichkeit wir uns zu
entscheiden haben. Eine zahlreiche Gruppe von elektromo-
torischen Flächen-Paaren für die einzelne Zelle angenommen,
würden die elektrischen Kräfte an gleichartige kleine Theile
des Zelleninhaltes geknüpft sein, an Theile, von welchen wir
noch gar Nichts wissen, und deren weitere physiologische Un-
tersuchung Schwierigkeiten begegnen müsste, die vorläufig ganz
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 97
unabsehbar sind. Dagegen haben wir an der Zelle selber einen
morphologisch wohldefinirten Organismus, dessen Physiologie
bereits in mancher Hinsicht uns bekannt ist, der der ferneren
physiologischen Prüfung zugänglich ist, und an dem sich sogar
die Frage nach der Quelle der elektrischen Kräfte auf begrün-
dete Voraussetzungen hin sogleich weiter in Angriff nehmen
liesse. Unter diesen Umständen müssen wir offenbar, jede
unnöthige Hypothese vermeidend, der näher liegenden Mög-
lichkeit den Vorzug geben und, so lange nicht Thatsachen da-
gegen sprechen, die einzelne Parenchymzelle dem einzelnen
Metalleylinder entsprechen lassen.
Sosind wirzum natürlichen Abschlusse derlang ausgedehnten
Untersuchung, deren Ergebniss jetzt mit zwei Worten zu sagen
ist, gelangt und können die Frage, woher die elektromotorischen
Wirkungen unseres Blattes stammen, einfach dahin beantworten:
Die ohngefähr cylindrischen Zellen des Blattflügel-Parenchyms und
der beiden Mittelrippen-Parenchyme sind mit Kräften ausgestattet der
Art, dass die positive Elektricität von der Mitte der Zelle nach
jedem der beiden Pole hingetrieben wird, die Pole positiv sind gegen
die Mitte.
Mit diesem Erfolge verlassen wir das ruhende Blatt
und wenden uns dem Studium zunächst der Bewegungen des
Blattes zu.
$.5. Von der Mechanik der Reizbewegung des
Dionaea-Blattes.
Die Bewegungen unseres Blattes sind von zweierlei Art:
Reizbewegungen und Resorptionsbewegungen. Die
letzteren sind die selteneren und kommen für sich allein blos
dann zur Beobachtung, wenn man irgendwo auf die obere
Blattfläche, die sensiblen Haare ausgenommen, recht behutsam
ein Stückchen Fleisch, Eiweiss u. dgl. auflegt. Alle sonstigen
Bewegungen des Blattes sind Reizbewegungen. Ist nach der
Reizbewegung ein Insekt, ein Stück Fleisch u. dgl. im Blatte
verblieben, so schliesst sich an die Reizbewegung, doch deut-
lich von derselben geschieden, die Resorptionsbewegung an.
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376, 7
zum PETER VRNTERT, u,
Ri, A
98 ; H. Munk:
Bei der Reizbewegung vollzieht sich die Schliessung des
Blattes sehr rasch nach der Reizung, längstens etwa in einer
Minute, und zwar so, dass — für die Beobachtung ohne be-
sondere Hülfsmittel — die beiden Blattflügel gleichmässig und
überhaupt alle Theile des Blattes gleichzeitig sich bewegen.
Das geschlossene Blatt hat, gleichviel wo die Reizung erfolst
ist, immer dieselbe bohnenartige Gestalt, indem die Blattflügel
regelmässig nach aussen convex sind, und behält diese Form
vom Momente der Schliessung an unverändert bei, bis es sich
wieder öffnet. Die Oeffnung beginnt nach einigen Stunden und
ist nach 24—36 Stunden vollendet: auch bei ihr bewegen sich
die beiden Blattflügel gleichmässig und überhaupt alle Theile
des Blattes gleichzeitig. Sobald die Oeffinung des Blattes be-
gonnen hat, ist das Blatt 'wieder so, wie vorher, der Reizbe-
wegung fähig, und selbst eine grosse Zahl von Reizbewegungen
ist ohne merklichen Nachtheil für das Leben des Blattes').
Bei der Resorptionsbewegung erfolgt die Schliessung des
Blattes sehr langsam: sie beginnt sichtlich erst einige Stunden,
nachdem die Ursache gesetzt ist, und schreitet ganz allmählich
vor, so dass sie erst nach 1—2 Tagen vollendet ist. Dabei be-
wegen sich die beiden Blattflügel ungleichmässig und überhaupt
alle Theile des Blattes ungleichzeitig, in Abhängigkeit von dem
Orte des Angriffes, an welchem die Bewegung anhebt, und von
welchem aus sie sich verbreitet. Die Gestalt des geschlossenen
Blattes ist eine unregelmässige und vielfach verschiedene; je-
denfalls wird stellenweise die Convexität der Blattflügel ver-
misst, die dort abgeflacht oder sogar concav erscheinen. Erst
nach mehreren Tagen beginnt die Oeffnung des Blattes, und sie
bedarf wiederum mehrerer Tage zu ihrer Vollendung; auch
hier erfolgen die Bewegungen der verschiedenen Theile des
Blattes ungleichzeitig, indem die bei der Schliessung vorange-
eilten Theile bei der Oefinung nachfolgen. Während das
Blatt sich öffnet, ist dasselbe gar nicht oder nur sehr schwach
der Reizbewegung wie der Resorptionsbewegung fähig. Oft
1) Ich habe die für meine Versuche am besten geeigneten Blätter
wohl 30 Male und öfter zur Schliessung gebracht und sich wieder
öffnen sehen.
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 99
schon mit der ersten, regelmässig aber mit der zweiten oder
dritten Resorptionsbewegung geht das Blatt zu Grunde, indem
es sich gar nicht mehr öffnet und abstirbt.
Schliesst sich an die Reizbewegung die Resorptionsbewe-
gung an, so verliert das Blatt einige Stunden nach der Schlies-
sung die Bohnenform, indem die convexen Blattflügel stellen-
weise sich abflachen oder sogar concav werden, und es nimmt
so allmählich eine unregelmässige Gestalt an, besonders ab-
weichend da, wo der Fremdkörper im Blatte gelegen ist. Tritt
andererseits, nachdem die Resorptionsbewegung begonnen hat
und eine Weile fortgeschritten ist, ein Anlass zur Reizbewe-
gung hinzu, so vollführen diese Bewegung die bis dahin der
Resorptionsbewegung fern gebliebenen Theile des Blattes so
wie sonst, die vorher bewegten Theile aber nur unvollkommen;
und indem später auch hier streckenweise die Convexität der
Blattflügel sich verliert, wird die Gestalt des Blattes eine ebenso
unregelmässige, wie beim vorigen Blatte. Beide Male verhält
sich dann übrigens in der Folge das Blatt nicht anders, als
wenn allein die Resorptionsbewegung vorläge.
Hrn. Darwin verdanken wir die Kenntniss der beiden
Bewegungsarten des Blattes, die vorher confundirt worden
waren. Fast Alles, was ich anführte, hat schon Hr. Dar win
hier und da zerstreut angemerkt, und er hat besonders auch
die Verschiedenheit der Ursachen und der Geschwindigkeit von
beiderlei Bewegungen betont‘). ‘Trotzdem hat Hr. Darwin
wie mir scheinen will, die beiden Bewegungsarten noch nicht
genügend auseinandergehalten. In nichts Anderem stimmen die-
selben mit einander überein, als dass es zu einer Schliessung
und Oeffnung des Blattes kommt, in einer Aehnlichkeit also, die
in der beschränkten Bewegungssphäre des Blattes ihre aus-
reichende Erklärung findet. Dagegen erweisen sie sich, wie ich
sie eben zusammenhielt, in ihrem Auftreten ganz unabhängig
von einander und durchaus verschieden in ihren Ursachen, ihrem
Ablaufe, ihren Folgen für das Blatt. Man denke sich den Mus-
kel eines lebenden Thieres ein Mal von einem Inductionsstrome
1) Ins. Pl. p. 294—5; 298; 308—9; 365.
77
KUN W. his
100 H. Munk:
durchsetzt, ein anderes Mal mit einer die Muskelsubstanz an-
greifenden Flüssigkeit bepinselt, und man hat in der Verschie-
denheit der Muskelbewegungen ein Analogon für die Verschie-
denheit der Blattbewegungen. Beide Male verkürzt sich der
Muskel, denn seiner Constitution gemäss vermag er nur auf
diese Weise den Angriif zu beantworten; aber, wie die Ur-
sachen, so sind auch die Verkürzungen und die Folgen für den
Muskelsehr verschiedene. Eine gewisse Aehnlichkeit werden die
inneren Vorgänge im Muskel allerdings beide Male haben, weil
eben dieselbe contractile Substanz mit ihren bestimmten Eigen-
schaften beide Male angegriffen ist, aber bei dieser Aehnlich-
keit werden doch die inneren Vorgänge noch weit auseinander-
gehen. Ebenso werden die Vorgänge im Blatte bei beiderlei
Bewegungen, soweit es sich um die betroffenen Gewebe, ge-
wisse Veränderungen derselben und die Ausbreitung der Ver-
änderungen handelt, dieselben sein können; im Uebrigen aber
werden sie weit auseinanderfallen müssen, und zwar nicht etwa
blos quantitativ, sondern auch qualitativ. Offenbar kommen bei
der Reizbewegung nur die inneren Kräfte des Blattes zur Ent-
wickelung, während bei der Resorptionsbewegung noch durch
die Einwirkung von aussen chemische Veränderungen im Blatte
gesetzt sind. Das geht schon zur Genüge aus der gegebenen
Charakteristik der Bewegungen hervor, es ergiebt sich aber
auch ausserdem noch daraus, dass Hr. Darwin bei der Re-
sorptionsbewegung, nicht bei der Reizbewegung, an den Zellen
der Scheibendrüsen die „Aggregation“ des Protoplasma’s gefun-
den hat!). Und dasselbe lehren die eiektrischen Erscheinungen
am Blatte: im Gegensatze zu dem, was wir oben (S. 41) für den
Fall der Reizbewegung an dem geschlossenen und sich wieder
öffnenden Blatte fanden, zeigt das mittelst der Resorptionsbe-
wegung in der Schliessung begriffene, geschlossene oder sich
wieder öffnende Blatt die elektromotorische Oberfläche ganz
anders beschaffen als das normale offene Blatt, in unregelmäs-
siger, vielfach wechselnder Weise abweichend, den Strom zwi-
schen den Mittelrippen-Enden häufig umgekehrt.
1) Ins. Pl. p. 299— 300.
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen.u.s.w. 101
Nach Meyen!') und Hrn. Asa Gray’) sollen sich die
Blattflügel unseres Dionaea-Blattes des Abends wie nach einer
Reizung zusammenlegen und des Morgens wieder ausbreiten.
Derartige Bewegungen habe ich nicht bemerkt, und ich möchte
glauben, dass höchstens solche Lageveränderungen der Blatt-
flügel statthaben, welche ohne feinere Hülfsmittel der Be-
obachtung leicht übersehen werden. Sind solche periodischen
oder Variations-Bewegungen wirklich vorhanden, so geben sie
eine dritte Art der Bewegungen des Dionaea-Blattes ab, die
der Reizbewegung näher steht als die Resorptionsbewegung.
Die gesonderte Untersuchung, deren nach dem Gesagten
die Resorptionsbewegung bedarf, habe ich nicht ausgeführt, und
es ist in der vorliegenden Mittheilung überall, wo eine Bewe-
gung des Blattes in Frage kommt, die Reizbewegung zu ver-
stehen. Es ist demgemäss auch allein diese Bewegung, welche
wir jetzt noch eingehender verfolgen wollen.
Als reizbare Theile des Blattes sind allgemein bekannt die
Haare der oberen Blattseite, welche in der Regel zu dreien auf
jedem Blattflügel sich finden. Ihnen sollte auch nach Edwards
und Curtis (s. o. S. 3; 10) ausschliesslich die Reizbarkeit zu-
kommen, und Berührung oder Pressung des Blattes an jeder
anderen Stelle sollte wirkungslos sein. Dagegen schreibt schon
Hr. Asa Gray nur hauptsächlich den Haaren und daneben
noch der Mittelrippe die Reizbarkeit zu’), und deutlich weist
Hr. Darwin auf die Existenz noch anderer reizbarer Theile
hin. „The surface of the blade,“ sagtHr. Darwin’), „is very
slightly sensitive ; it may be freely and roughly handled, without
any mouvement being caused. A leaf was scratched rather hard
with a needle, but did not close; but when the triangular space
between the three filaments on another leaf was similarly scrat-
ched, the lobes closed. Theyalways closed when the blade or
midrib was deeply pricked or cut.... The footstalk is not
1) Neues System der Pflanzen-Physiologie. Bd. III. Berlin 1839.
S.545.
2) The Genera of the Plants of the United States. Vol. I. Boston
1848. p. 196.
3) Ins. Pl. p. 294—5.
102 H. Munk:
in the least sensitive; a pin may be driven through it, or it
may be cut off, and no movement follows.“ In der That ist
die Reizbarkeit sehr weit über das Blatt verbreitet, und ihr Sitz
lässt sich folgendermassen genauer bestimmen.
Abschneiden des Blattstieles führt, entsprechend Hrn. Dar-
win’s letzten Worten, keine Bewegung am Blatte herbei.
Ebenso erweist sich wirkungslos Durchschneiden des Zwischen-
gliedes zwischen Blatt und Stiel, so lange nicht der eine Schee-
renarm die untere Grenze der Blatt-Mittelrippe erreicht, wo
unter der Epidermis der Oberseite die Verticalreihen der Par-
enchymzellen auftreten. Es bleibt ferner die Bewegung des
Blattes aus, wenn man die Randstacheln abträgt, oder wenn
man zugleich mit diesen den grösseren Theil der Wülste, welche
die Stacheln entlassen, und zwischen den Randstächeln einen
ganz schmalen Saum des freien äusseren Randes des Blattes
abschneidet. Sonst aber bringt jeder Schnitt durch die Dicke
des Blattes, gleichviel wie lang und wo, das Blatt zur Schlies-
sung.
Leichter Druck auf das Blatt, wie er z. B. mit dem vor-
sichtigen Anlegen der Thonspitzen verknüpft ist, führt nirgends
die Reizbewegung herbei. Dagegen genügt an der oberen Seite
der Mittelrippe und, in der Ausdehnung des Blattflügel-Par-
enchyms, an der oberen Seite des Blattflügels überall schon
ein etwas stärkerer Druck, um die Reizbewegung zu veran-
lassen. An der übrigen Blatt-Oberfläche ist selbst ein viel
stärkerer Druck ganz wirkungslos, und nur wenn der Druck
so wenig localisirt bleibt, dass die Blattflügel sichtlich einan-
der genähert oder von einander entfernt werden, kommt es
dann zur Schliessung. Ritzt man mit der sehr spitzen Nadel
oderdem sehr scharfen Messer die obere Blattflächeinnerhalb der
angegebenen Grenzen, so geht das Blatt sofort zu; dagegen tritt
keine Bewegungein, wenn man ebenso an derübrigen Blatt-Ober-
fläche verfährt. Man muss von der unteren Seite des Blattflügels aus
erst ziemlich tief und noch tiefer von der unteren Seite der
Mittelrippe aus einstechen oder einschneiden, um Bewegung zu
erzielen. Am äusseren Rande des Blattes und an den Rand-
stacheln hat, wie gesagt, selbst Durchschneiden keinen Erfolg.
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 103
Aus diesen Erfahrungen geht klar hervor, dass die obere
Partie des Blattflügel-Parenchyms und das obere Mittelrippen-
Parenchym oder wenigstens dessen obere Partie die reizbaren
Theile des Blattes sind. Und damit lässt sich die Reizbarkeit
der Haare in innige Verbindung bringen. Das Haar zeigt auf
einem kurzen knopfförmigen Vorsprunge des oberen Blattflügel-
Parenchyms, der die Basis abgiebt, einen ca. 1Omal längeren
eonischen Aufsatz, der bis auf das Fehlen des Gefässbündels
einem dünnen Randstachel gleicht. Das Gelenk an der ver-
engten Stelle der Basis, von welchem Hr. Darwin spricht,
und welches das Haar vor dem Abbrechen bei der Schliessung
des Blattes schützen sollte'), existirt in der Wirklichkeit nicht;
vielmehr ist nur am offenen Blatte die Basis des Haares steif,
und sie erschlafft bei der Reizbewegung, so dass die vermin-
derte Biegungsfestigkeit derselben dann das Umlegen des Haares
gestattet. Man kann nun vom Haare mit einer feinen scharfen
Scheere von der Spitze nach der Basis hin Stücke abschneiden,
ohne die Reizbewegung hervorzurufen, bis man in die Nähe
des knopfförmigen Vorsprunges des Blattflügel-Parenchyms ge-
langt, dessen Berührung sofort das Blatt zum Schliessen bringt.
Auch gelingt es sehr gut, die oberen Partieen des Haares für
sich allein zu biegen, ohne dass das Blatt sich bewegt; wäh-
rend jede ähnliche Biegung, jeder Zug, jede Zerrung des Haa-
res, die einige Dehnung der Basis mit sich bringen, gleich-
viel ob der Angriffspunkt an der Spitze oder tiefer gelegen ist,
zur Schliessung des Blattes führen. Von einer Reizbarkeit des
ganzen Haares und von einer Leitung der Reizung von seiner
Spitze aus”) kann sonach nicht die Rede sein. Sondern zweifel-
los ist allein reizbar auch am Haare, gerade so wie sonst, das
obere Blattflügel-Parenchym, und esist nur dieReizung am Haare
dadurch erleichtert, dass man auf die betreffende Partie des
reizbaren Parenchyms mittelst eines langen, freilich biegsamen
Hebelarmes zu wirken im Stande ist.
Liess Hr. Dar win Wasser oder Zuckerlösung in Tropfen
aus einiger Höhe auf die Haare fallen, so schlossen sich die
1) Ins. Pl. p. 288. 2) Darwin, Ins. Pl. p. 288; 314.
104 H. Munk.:
Blätter nicht; und ebenso blieb die Bewegung aus, wenn er
mit möglichst grosser Kraft durch eine feine spitze Röhre auf
die Haare blies. In dieser Wirkungslosigkeit der Flüssigkeiten,
wie Luft und Wasser, gegenüber den festen Körpern ist nach
Hrn. Darwin eine Eigenartigkeit der Reizbarkeit der Haare
zu erkennen, der gemäss die Pflanze auch nicht zwecklos von
Regenschauern und Windstössen affieirt werde'). Ich kann Hrn.
Dar win aber hier nicht beistimmen. Bei meinen zahlreichen
Bespritzungen der Töpfe habe ich es wiederholt gesehen, dass
ein Wassertropfen, der an einem noch nicht benetzten Blatte
gerade auf ein Haar fiel, das Blatt sofort zum Schlusse brachte.
Ebenso ist es mir beim Anlegen der Elektroden öfters vorge-
kommen, dass ich, mit dem Munde dicht am Blatte, durch die
lange zurückgehaltene und endlich kräftige Exspiration die
Schliessung des Blattes herbeiführte. Freilich mag ich wohl
andere Male ähnlich gespritzt und ähnlich exspirirt haben, ohne
dass die Reizbewegung am Blatte eintrat. Aber das beweist
eben nur, was wir schon vorher fanden, dass nicht jede Be-
wegung des Haares gleichwerthig ist. Einmal, als das Blatt
nach dem Auffallen des Tropfens sich schloss, habe ich es ge-
radezu beobachtet, wie das Haar unter dem Tropfen sich bis
zur Basis hin beträchtlich bog; und nur eine unbedeutendere
Biegung, die nicht solche Dehnung an der Basis des Haares
herbeiführte, wird in den Fällen stattgehabt haben, in welchen
das Blatt in Ruhe blieb. Es stimmt damit sehr gut, was Hr.
Darwin fand?) und ich bestätigen kann, dass Eintauchen des
Blattes in Wasser von ca. 20° C. das eine Mal die Reizbewe-
gung veranlasst, das andere Mal nicht. Wo die Reizbewegung
eintritt, folgt sie unmittelbar auf das Eintauchen, und die wech-
selnden Erfolge lassen sich ungezwungen damit erklären, dass
die Biegungen der Haare beim Eintauchen bald grösser bald
kleiner sind.
Neben Zug und Druck giebt noch einen weiteren Reiz für
das reizbare Parenchym die Wasserentziehung ab. Wenn Hr.
Darwin Blätter in eine concentrirte Zuckerlösung brachte,
1) Ins. Pl. p. 291—2; 365. 2) Ins. Pl. p. 292.
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 105
so schlossen sich dieselben rasch; und zwar ergab sich als
Angriffspunkt der Lösung das Haar, da der gleiche Erfolg nur
zur Beobachtung kam, wenn es gelang, einen Tropfen behut-
sam an das Haar zu bringen, nicht aber, wenn sonst die obere
Blattfläche mit der Lösung bedeckt wurde'). Hr. Barleben
und ich sahen regelmässig, mit nur zwei Ausnahmen unter zahl-
reichen Fällen, die Blätter sich schliessen, wenn wir sie in
Alkohol versenkten ; und ebenso kam es die beiden Male, dass
ich den Versuch anstellte, bald zur Schliessung, wenn ich einen
Tropfen eoncentrirter Kochsalzlösung von der Seite her an die
Basis des Haares hatte heranfliessen lassen. Dass der Reiz an
der Basis des Haares wirksamer sich darstellt, als anderswo,
bietet für das Verständniss keine Schwierigkeiten, da die Par-
enchymzellen an der ersteren Stelle, in Folge der geringeren
Dicke der Epidermis, dem Angriffe zugänglicher sind. Aber
nach dem Vorausgeschickten könnten die Versuche überhaupt
nicht eindeutig genug erscheinen. Ich will mich deshalb hier
besonders auf die folgenden Erfahrungen stützen. Als ich im
sehr trockenen Hochsommer v. J. nach einer kurzen Unter-
brechung die Versuche wieder aufnahm, schlossen sich regel-
mässig in meinem Arbeitszimmer alle Blätter meiner Töpfe,
sobald ich von den grossen, mit feuchtem Moose gefüllten Ge-
ässen, in welchen die Töpfe zu mir geschafft waren, die über-
u
gestülpten Glasglocken entfernte. Die Erwägung des Uebel-
standes, der die beabsichtigte Untersuchung geradezu verhin-
derte, ergab, dass nur die zur Zeit sehr grosse Verdunstung die
Ursache der Erscheinung sein konnte: und in der That blieb
die Erscheinung aus, nachdem ich durch Begiessen des Fuss-
bodens den Gehalt der Zimmerluft an Wasserdampf wesentlich
vergrössert hatte. Als ich später zur Controle das Begiessen
des Fussbodens ausgesetzt hatte, trat die Erscheinung sogleich
wieder ein.
Ich fand bei der Gelegenheit noch ein zweites Hülfsmittel,
dem Uebelstande zu begegnen. Wenn ich nämlich die Glas-
glocke nicht auf ein Mal entfernte, sondern nach und nach in
1)& Ins. ‚P1.p. 298;
106 H. Munk:
Absätzen von der Unterlage abhob, so dass erst etwa nach 30
Minuten der Topf frei an der Luft stand, so kam es gleichfalls
nicht zur Schliessung der Blätter. Für die Reizung ist danach
offenbar nicht blos die absolute Grösse des reizenden Eingriffes
von Bedeutung, sondern auch die Geschwindigkeit, mit welcher
der Eingriff in der gegebenen Grösse erfolgt. Und dafür hatte
ich auch schon andere Belege in Händen. Wenn man für die
elektrische Prüfung der oberen Blattfläche die Thonspitze eini-
germassen rasch auf diese Fläche aufsetzt, so geht das Blatt
in der Regel zu, noch ehe es zu einer guten Anlagerung der
Thonspitze gekommen ist. Dagegen lässt sich, wenn man recht
behutsam die Thonspitze heranbringt, nicht blos die gute An-
lagerung erzielen, sondern auch ganz allmählich der Druck mit-
telst der Thonspitze noch ansehnlich steigern, ohne dass eine
Bewegung des Blattes hervorgerufen wird. Wiederum hat eine
verhältnissmässig rasche Verschiebung der Thonspitze auf der
oberen Blattfläche, selbst bei nur eben genügender Anlagerung,
stets die Reizbewegung zur Folge, während die langsame Ver-
schiebung, selbst wenn sie ausgedehnter ist, das Blatt in Ruhe
lässt. Endlich kann man mit sicherer Hand ein Haar, das man
etwa in der Mitte seiner Länge berührt, ganz allmählich sehr
beträchtlich biegen, ohne dass eine Spur von Bewegung am
Blatte eintritt, während die rasche Biegung des Haares, auch
bei geringerer Grösse, unfehlbar die Schliessung des Blattes
erzielt.
Nach alledem sind die oberen Partieen des Blatt-
flügel-Parenchyms und das obere Mittelrippen-
Parenchym oder wenigstens dessen obere Partie
die reizbaren Theile des Blattes und werden ge-
reizt, wenn ein mechanischer Angriff oder eine
Wasserentziehung von gewisser Grösse und ge-
wisser Geschwindigkeit dieselben trifft. Ihre Reiz-
barkeit habe ich abhängig gefunden von der Lebensfülle des
Blattes, von der Temperatur und von der Belichtung. Die im
Frühjahre und gegen Anfang des Winters ausgebildeten kleinen
Blätter bedurften eines grösseren Reizes, um zur Schliessung
veranlasst zu werden, als die vollentwickelten Blätter des
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u. s. w. 107
Sommers und des Herbstes; und die letzteren waren wiederum,
wenn sie einige Zeit einer niederen Temperatur ausgesetzt oder
nahezu im Dunkeln gehalten waren, auffällig weniger reizbar
als bei höherer Temperatur resp. guter Belichtung. Nach Hrn.
Darwin’s Erfahrungen würde die Reizbarkeit auch gesteigert
sein durch die Resorption thierischer Substanz!) und herabge-
setzt durch die Einwirkung von Schwefeläther - Dämpfen?).
Nach andauernder Erschütterung der Töpfe, wie sie der Trans-
port derselben (zu Fuss oder zu Wagen) vom Warmbause in
meine ziemlich weit entfernte Wohnung mitsich brachte, habe ich
die Reizbarkeit nicht merklich verändert gesehen. Dass am ab-
geschnittenen Blatte bei 25° C. die Reizbarkeit in etwa 2 Stun-
den erloschen ist, habe ich schon oben erwähnt; versenkt man
das Blatt in kochendes Wasser, so ist sie innerhalb weniger
Secunden vernichtet.
Im Falle niederer Reizbarkeit des Blattes, besonders an
Blättern, welcheniederen Temperaturen ausgesetzt oder schlecht
entwickelt resp. heruntergekommen waren, habe ich übrigens
auch eine Reizbewegung beobachtet, welche nicht zur völligen
Schliessung des Blattes führt: die Blattflügel bleiben dann auf
halbem Wege stehen, die Schliessungsbewegung erlischt, nachdem
die Blattflügel um eine kleinere oder grössere Strecke einander
näher gekommensind. Solche unvollkommenen Schlies-
sungen sind mir, wenn auch an sich öfters, doch im Verhält-
niss zu den völligen Schliessungen im Ganzen nur selten vor-
gekommen’). Es versteht sich, dass sie durch eine, bei der be-
stehenden Reizbarkeit zu schwache Reizung bedingt sind, und
es ist nur eine Wiederholung der Reizung erforderlich, damit
die völlige Schliessung eintritt. Von diesen Ausnahmefällen
1) Ins. Pl. p. 297—8; 364. Indess ist der Versuch S. 297—8
durchaus nicht beweisend, da bei der Entfernung des Eiweissstückchens
aus dem unvollkommen geschlossenen Blattende sehr wohl eine me-
chanische Reizung der oberen Blattfläche stattgehabt haben kann.
2) Ins. Pl. p. 304—5.
3) Auch Hr. Sanderson hat, wie es scheint, unvollkommene
Schliessungen gesehen und hält sie irrthümlich für den normalen
Vorgang (Nat. p. 106. — Vgl. dazu Darwin, Ins. Pl. p. 311—2.).
108 H. Munk:
sehen wir für gewöhnlich ab und lassen, wo Nichts besonders
bemerkt ist, unsere Reizbewegung auch ferner mit der völligen
Schliessung verbunden sein.
Wir gehen nunmehr an die genauere Betrachtung der Reiz-
bewegung selbst.
Nach Hrn. Darwin erfolgt die Schliessung des Blattes
in der Weise, dass die fast einen rechten Winkel mit einander
bildenden Blattflügel sich einander nähern, indem sie sich zu-
gleich in ihrer ganzen Breite etwas einwärts krümmen, und sich
endlich mit ihren Rändern an einander legen; die Randstacheln
kreuzen sich dabei in Folge der Einwärtskrümmung der Blatt-
flügel, ohne dass sie selber gekrümmt werden, und der Winkel
zwischen Blatt und Blattstiel bleibt unverändert'!). Diese im
Ganzen zutreffende Schilderung der Reizbewegung bedarf je-
doch noch der Ergänzung.?’) Am ganz offenen Blatte ist der
Blattflügel, ohne die Randstacheln betrachtet, nach Art einer
flachen Schale nach unten concav, und die Randstacheln stellen
von der Mitte ihrer wulstigen Basis an steife gerade Verlän-
gerungen seines äusseren Randes vor, derart dass gar nicht
von einer Auswärtskrümmung und höchstens von einer spur-
weisen Einwärtskrümmung der Randstacheln die Rede sein
kann. Denkt man sich vom Blattflügel einen Querschnitt her-
gestellt, der einen Randstachel unversehrt enthielte, so würde
die lange Axe des Querschnittes im Randstachel-Wulste ihre
Krümmung verlieren und weiter geradlinig als Axe des Rand-
stachels sich fortsetzen, oder es würde wenigstens das äussereEnde
der Axe des Blattflügel-Querschnittes mit der Randstachel-Axe
einen nach oben concaven Winkel bilden, der nur wenig kleiner
als 180° wäre. Bei der Schliessung gleicht sich nun, ohne dass
eine merkliche Veränderung der Dimensionen des Blattflügels
eintritt, die Concavität des Blattflügels mehr und mehr ab und
1) Ins. Pl. p. 305-6; 311; 313; 317; 356.
2) Vel. Figg. 27 und 28 (Taf. 1). In Fig. 27 vom offenen, in
Fig. 28 vom geschlossenen Blatte ist jedes Mal unter a ein Quer-
schnitt, etwa in der Mitte der Länge des Blattes geführt, unter 5 ein
Längsschnitt schematisch dargestellt. Ueber die inneren Linien und
Punkte s. 0. S. 72 Anm.
r
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 109
geht dann in eine zunehmende und schliesslich die an-
fängliche Concavität übertreffende Convexität nach unten
über, so dass die Blattflügel des geschlossenen Blattes
wiederum sich vergleichen lassen flachen Schalen, die
jedoch jetzt etwas weniger flach sind und ihre Höhlung
einander zukehren. Zugleich aber legen sich die Rand-
stacheln an ihrer wulstigen Basis mehr und mehr nach der
oberen Blattflügel-Fläche hin um, so dass sie am geschlossenen
Blatte beträchtlich dieser Fläche zugeneigt erscheinen und ihre
nunmehrige Lage, ausser der neuen Form der Blattflügel, auch
noch ihrer eigenen Neigung verdanken. Denkt man sich am
geschlossenen Blatte wiederum einen solchen Querschnitt, wie
vorhin, vom Blattflügel hergestellt, so bildet jetzt das äussere
Ende der gekrümmten Axe des Blattflügel- Querschnittes mit
der geradlinigen Randstachel-Axe einen nach oben concaven
Winkel, der nur etwa 120° beträgt. Hinzukommt dann noch
als weitere Veränderung bei der Schliessung, dass die inneren
Blattflügel-Enden sich einander nähern, so dass der Winkel,
welchen dieselben mit einander bilden, von ca. 90° auf ca. 30°
sich verkleinert. Sonach treten für die Schliessung des Blattes
dreierlei Einzelbewegungen zusammen: 1. die Annäherung der
inneren Blattflügel-Enden, 2. die Formveränderung der Blatt-
flügel, 3. die Neigung der Randstacheln.
Wenn das geschlossene Blatt sich wieder öffnet, erfolgen
dieselben Einzelbewegungen, wie bei der Schliessung des Blat-
tes, nur in umgekehrter Richtung und mit ausnehmender Lang-
samkeit. Eben dieser Langsamkeit wegen thut man gut daran,
die Einzelbewegungen zuerst am sich öffnenden Blatte zu ver-
folgen; ist man hier über sie in’s Klare gekommen, so findet
man sie bei der unvollkommenen wie bei der vollkommenen
Schliessung des Blattes regelmässig wieder, In allen Fällen
zeigt sich dabei, dass die dreierlei Einzelbewegungen durchaus
gleichzeitig statthaben und hinsichts ihrer Grösse in einer con-
stanten Beziehung zu einander stehen, indem einem gegebenen
Oeffnungswinkel des Blattes immer eine bestimmte Form der
Blattflügel und eine bestimmte Neigung der Randstacheln zu-
gehört.
110 H. Munk:
Der Hauptsitz der so gearteten Reizbewegung ist nach
Hrn. Dar win die Mittelrippe (Ins. Pl. p. 293) oder nahe der
Mittelrippe (p. 305; 356); aber er ist nicht auf diesen Theil be-
schränkt. Da die ziemlich dicken Blattflügel sich in ihrer gan-
zen Breite einwärts krümmen ohne Spur von Runzelung an
ihrer oberen Fläche, scheinen die oberflächlichen Zellschichten
an der ganzen oberen Fläche sich contrahiren zu müssen (p.305;
316—7; 317). Doch ist der Hauptsitz der Bewegung offenbar
die dicke Zellenmasse, welche über dem centralen Gefässbün-
del in der Mittelrippe liest (p. 317; 356). Sobald die Contra-
etion der oberen Fläche abnimmt, beginnen die Blattflügel sich
zu trennen oder auszubreiten in Folge einer mechanischen
Wirkung, welche die stets in einem Spannungszustande befind-
lichen mehrfachen Zellschichten an der unteren Blattfläche aus-
üben, wahrscheinlich mit Hülfe frischer Flüssigkeit, die in die
Zellen hinein angezogen wird (p. 319—20). Die Contraction
an der oberen Blattfläche hat Hr. Darwin an passend vor-
gerichteten Blättern unmittelbar constatirt: der Abstand zweier
Punkte, welche in einer zur Mittelrippen-Axe senkrechten
Linie gelegen waren, verringerte sich bei der Schliessung,
wenn die Punkte an der Mittelrippe und zwar etwas zur Seite
ihrer Axe gelegen waren, von 0'431 Mm. auf 0'3810 Mm., und
wenn die Punkte am Blattflügel sich befanden, von 2'032 Mm.
auf ca. 1'905 Mm. (p. 317—8).
Wie man aus dieser Zusammenstellung aller hierhergehö-
rigen Angaben von Hrn. Darwin ersieht, würde nach ihm die
Contraction der oberen Zellschichten des Blattes die Schlies-
sung, die Fortdauer der Contraction — man kann sagen, der
Tetanus!) — derselben Zellschichten das Geschlossenbleiben,
endlich die Streckung der unteren Zellschichten die Oeffnung
1) Hr. Darwin bemerkt auch (Ins. Pl.p.319) in Bezug darauf, dass
nach Reizung der Haare mittelst Zuckerlösung die Blätter länger ge-
schlossen bleiben, als nach mechanischer Reizung: „this, I presume,
is due to their having been strongly affected through exosmose, so that
they continue for some time to transmit a motor impulse
to the upper surface of the leaf.*
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 111
des Blattes bedingen. Aber diese Vorstellungen lassen sich
insgesammt nicht halten.
Was zunächst die Oefinung des Blattes betrifft, so können
bei ihr unmöglich die unteren Zellschichten sich so activ und
die oberen Zellschichten sich passiv verhalten, schon deshalb
nicht, weil dann die Einwärtskrümmung der Blattflügel gar
nicht verringert und aufgehoben werden würde; dafür muss ja
die Ausdehnung der oberen Blattfläche mehr sich vergrössern
als die der unteren Blattfläche, und das kann die Dehnung der
oberen Zellschichten durch die unteren nicht leisten. Die Er-
fahrung, auf welche Hr. Dar win sich hier stützt, dass durch
rasches Eintauchen offener Blätter in kochendes Wasser die
Divergenz der Blattflügel etwas zunimmt, der Oeffnungswinkel
des Blattes z. B. von S0° auf 90° wächst!), ist denn auch an-
ders, als er will, zu deuten: es wirkt dabei nicht mechanisch
der Spannungszustand der unteren Zellen, sobald die oberen
Zellen getödtet sind und ihre Oontractilität verloren haben'),
sondern die unteren wie die oberen Zellen werden beide ge-
tödtet und verlieren ihre Turgescenz, und die neue Stellung
der Blattflügel entspricht nur der Erschlaffung aller Gewebe.
Auch offene Blätter, die am Topfe abgestorben sind oder aus
unbekannten Gründen ihre Reizbarkeit und ihre Turgescenz
verloren haben, bieten einen grösseren Oeffnungswinkel der
Blattflügel dar, als die reizbaren, turgescenten Blätter. Ge-
schlossene oder halbgeschlossene Blätter behalten beim Ab-
sterben, am Topfe wie im kochenden Wasser, die Einwärts-
krümmung der Blattflügel bei, doch wird auch bei ihnen der
Oeffnungswinkel der Blattflügel etwas vergrössert. Nur sehr
selten habe ich bei Blättern, die geschlossen abgestorben wa-
ren, die Blattflügel nicht ein wenig divergiren sehen, aber auch
da war die Biegungsfestigkeit der Mittelrippen -Gelenke deut-
lich verringert.
Ebensowenig kann die Schliessung auf einer Contraction
und das Geschlossenbleiben auf einem Tetanus der oberen Zell-
schichten beruhen. Weshalb die constatirte Verkürzung gerade
1) Ins. Pl. p. 319—20.
112 H. Munk:
eine Contraction sei, darüber hat sich Hr. Darwin selber gar
nicht geäussert, und er stützt sich hier vermuthlich auf Hrn.
Sanderson, der sich ausgedehnt darüber verbreitet hat. „I
shall be able to show“, sagt Hr. Sanderson in seinem Vor-
trage in der R. Inst., „that the resemblance between
the contraction of muscle and that of the leafis
so wonderfully complete that the further we pursue the
inquiry the more striking does it appear. Whether we bring the
microscope to bear on the structural changes which accompany
contraction, or employ still more delicate instruments of re-
search ...., in order to determine and measure the electrical
changes which take place in connection with it, we find that
the two proce®es correspond in every essential
particular so closely, that we can have no doubt
oftheir identity.“') So bestimmt aber dieser Ausspruch
lautet, so sicher ist er unrichtig.
Hr. Sanderson legt besonderes Gewicht auf die Ueber-
einstimmung der elektrischen Erscheinungen am Muskel und
am Blatte, vor Allem darauf, dass beide Male die negative
Schwankung des Ruhestromes bei der Verkürzung auftritt. Ich
werde dem entgegen nachher darthun, dass bei der Schliessung
des Blattes andere Veränderungen des Ruhestromes sich zeigen,
als bei der Verkürzung des Muskels?). Aber selbst wenn dem
nicht so wäre, könnte man Hrn. Sanderson nicht Recht ge-
ben; denn Nerv und Muskel stimmen in ihren elektrischen
Erscheinungen noch viel mehr überein, als Muskel und Blatt,
und doch wird Niemand auf Grund dieser Uebereinstimmung die
beiden Vorgänge der Nerven-und der Muskelthätigkeit für iden-
tisch ausgeben mögen. Was weiter das Mikroskop Correspondi-
rendes am Muskel und am Blatte aufdecken soll, beschränkt sich
nach Hrn. Sanderson’s Ausführung darauf, dass, wie bei
der Verkürzung des Muskels jede kleinste Faser an der Form-
veränderung participirt, dasselbe bei der Verkürzung des Blat-
tes vom Protoplasma der Zellen der contractilen Organe gel-
ten soll. Dabei beruft sich Hr. Sanderson auf die Aggre-
1) Nat. p. 127. 2) S. unten $. 6.
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 113
gation, welche Hr. Darwin unter Umständen an Zellen der
"Drosera beobachtet hat, und eine solche Aggregation tritt an
den Dionaea-Zellen, nach Hrn. Darwin’s und meinen Er-
fahrungen, bei der Reizbewegung sicher gar nicht ein. Träte
sie aber auch ein, die Uebereinstimmung zwischen Muskel und
Blatt liesse sich dann doch im günstigsten Falle blos darin
finden, dass die Veränderung des Ganzen resultirt aus der
gleichartigen Veränderung aller das Ganze constituirenden
gleichwerthigen Theile, und darum würden die Muskel- und
die Blatt-Verkürzung nicht mehr identisch sein, als z. B. die
Muskel- und die Kautschuk-Verkürzung. Was Hr. Sander-
son für die Identität von Muskel- und Blatt-Verkürzung bei-
gebracht hat, ist demnach Alles einfach zurückzuweisen.
Andererseits, wenn der Muskel sich verkürzt, nimmt er
an Breite und Dicke zu: die sich verkürzenden Theile des
Blattes dagegen verlieren zugleich an Länge und Breite, wie
es die Schalenform der Flügel des geschlossenen Blattes er-
weist; und dass auch ihre dritte Dimension sich verkleinert,
ist von vorne herein mindestens ebenso wahrscheinlich, wie
dass dieselbe sich vergrössert. Der verkürzte Muskel besitzt
ferner eine geringere Rlastieität als der unverkürzte: versucht
man dagegen am geschlossenen Blatte, durch Zug an den
Randstacheln, die Blattflügel von einander zu entfernen oder
ihre Krümmung aufzuheben, so brechen") dieselben eher wie
Glas, als dass sie der Rede werth nachgeben. Nach kurzem
mechanischen Angriffe tritt wohl unter Umständen eine län-
gere Zeit währende Verkürzung des Muskels ein, aber deren
Dauer zählt doch nach Minuten: das Blatt bleibt nach dem
gleichen Angriffe Stunden hindurch geschlossen. Selbst bei an-
dauernder Reizung des Muskels lässt die Verkürzung desselben
in Folge der Ermüdung nach: von. solcher Ermüdung zeigt
das Blatt in vielen Stunden keine Spur. Endlich, lässt die
Verkürzung des Muskels nach, so vollzieht sich seine Ver-
längerung sehr bald bis zu der der Belastung entsprechenden
Grösse: am Blatte erfordert die Oeffnung 24 Stunden und
1) Vgl. Darwin, Ins. Pl. p. 307-8.
Beichert's u. u Bois-Reymond’s Archiv 1376. 8
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Sr a
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114 H. Munk:
mehr, und nicht nur das Gewicht der Blattflügel, sondern auch
weitere Belastung ist ohne sichtlichen Einfluss auf ihren
Verlauf. Soweit also zur Zeit die Muskel- und die Blatt-Ver-
kürzung sich überhaupt vergleichen lassen, soweit weichen sie
in allen Stücken von einander ab.
Bei der Reizbewegung des Dionaea-Blattes hat sich nur
dasselbe wiederholt, was vorher die Reizbewegungen mehr zu-
gänglicher Pflanzen betraf, dass man zunächst auf die Annahme
einer Contraction nach Art derjenigen des thierischen Muskels
verfiel; und die Verführung war allerdings bei der Dionaea
um so grösser, als zugleich elektrische Erscheinungen wie am
Muskel zur Beobachtung kamen und die Bewegung an einem
Organe sich vollzog, dem überdies die thierische Verdauungs-
fähigkeit zuerkannt war. Aber, wie wir besonders durch Hrn.
Brücke’s') und Hrn. Pfeffer’s?) Untersuchungen wissen,
sind es Vorgänge eigener Art, die mit der Muskelbewegung
Nichts gemein haben, welche den Reizbewegungen der Blatt-
stiele der Mimosa und der Staubfäden der Cynareen zu Grunde
liegen ; und nur dieselben Vorgänge sind es, welche an unse-
rem Dionaea-Blatte wiederkehren. Setzt man den Gelenkwulst
des primären Blattstieles der Mimosa nach Art unseres Blatt-
flügels flächenhaft ausgebreitet und mit dessen eigenthümlicher
Nervatur an der Stelle seines Holzkörpers ausgestattet, so er-
hält man in physiologischer Hinsicht unseren Blattflügel, nur
mit der reizbaren Seite nach unten gekehrt. Und man gewinnt
weiter im Wesentlichen unser Blatt, wenn man zwei derartig
veränderte Gelenkwülste unter rechtem Winkel mit einander
so verbunden denkt, dass das reizbare Parenchym der Wülste
ununterbrochen über das Verbindungsstück hinwegzieht.
Trägt man an unserem offenen oder geschlossenen Blatte
mit raschem Scheerenschnitte einen Blattflügel nahe der Mittel-
rippe ab, so schlägt der andere Blattflügel beträchtlich über
die Stellung hinaus?), welche er am unversehrten geschlossenen
Blatte zeigt, so dass der Winkel, welchen die inneren Blatt-
1) Dies Archiv, 1848, S. 434 ff.
2) Physiologische Untersuchungen. Leipzig 1873.
3) Vgl. Darwin, Ins. Pl. p. 306.
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 115
flügel-Enden mit einander bilden, kleiner als sonst wird, und
nimmt zugleich eine wesentlich grössere Concavität nach oben
an oder rollt sich sogar von den Rändern her etwas spiralig ein;
auch die Neigung der Randstacheln gegen die obere Blattfläche
wird grösser, als am normalen geschlossenen Blatte.e Manch-
mal geht das so verstümmelte Blatt zu Grunde; wenn nicht,
so macht der erhaltene Blattflügel dann ebensolche Verände-
rungen langsam durch, wie wenn das Blatt unversehrt sich
öffnete, und hat nach 1—2 Tagen wieder die Stellung und
Form, welche man sonst am nicht ganz offenen Blatte findet.
Wird jetzt ein Haar des Blattflügels gezerrt, so tritt die näm-
liche Bewegung des Blattflügels ein, wie zuerst, als der andere
Blattflügel abgetragen wurde. Schneidet man, statt eines gan-
zen, nur einen halber Blattflügel ab, so macht man dieselben
Erfahrungen hinsichts des Ueberschlagens, desAufrollens u. s. w.
des unversehrten Blattflügels, aber natürlich nur in der Gegend,
wo der zweite Blattflügel fehlt. Auch wenn man blos an einem
unversehrten Blatte den einen Blattflügel zur Zeit der Reizung
fixirt, so dass nur der andere Blattflügel sich bewegen kann,
macht der letztere die in Rede stehenden Veränderungen durch
und rollt sich dabei gewissermassen in die Höhlung des Blat-
tes hinein. Ja, man findet die über das normale Mass hinaus-
gehenden Schliessungsbewegungen des einen oder des anderen
Blattflügels, wenigstens in den Anfängen, schon dann immer
wieder, wenn man das zur mechanischen Reizung verwandte
Instrument nicht rasch genug entfernt, so dass die regelmässi-
gen Bewegungen der Blattflügel gestört sind. Dass der abge-
schnittene ganze oder halbe Blattflügel und überhaupt jedes aus-
geschnittene Stück des Blattflügels gleichfalls übermässig verän-
dert erscheinen, verstehtsich nunmehr von selbst: sie zeigen eine
grössere Concavität nach oben und, wenn die Randstacheln
erhalten sind, eine grössere Neigung der Randstacheln, als sie
den betreffenden Bruchstücken am unversehrten geschlossenen
Blatte zugekommen wären. Durch neue und nach beliebigen
Pausen wiederholte Reizung tritt keine weitere Veränderung
der Bruchstücke ein. Aber besonders bemerkenswerth ist, dass
an diesen Bruchstücken, wie überhaupt überall, wo eine über-
8*
116 H. Munk:
mässige Schliessungsbewegung erfolgt ist, das Uebermass der
Veränderung des Blattflügels oder Blattflügelstückes sich me-
chanisch gut ausgleichen lässt: unter langsamer Dehnung der
oberen Fläche lassen sich die Theile immer ganz leicht bis nahe
zu der Form zurückführen, die ihnen am normal geschlossenen
Blatte zustehen würde, und schwerer bis etwasüber diese Form
hinaus dem offenen Blatte nähern; dann erst brechen sie gerade
so, wie die Blattflügel des normal geschlossenen Blattes (s.
oben S. 113). Es geht aus diesen Erfahrungen klar hervor, dass
die Reizung für das Blatt einen neuen Gleichgewichtszustand
herbeiführt, der durch eine wesentliche Erschlaffung und Ver-
kürzung der oberen Schichten charakterisirt ist, und dass das
Blatt auf dem Uebergange zu seiner neuen, dem neuen Gleich-
gewichtszustande entsprechenden Form durch das Zusammen-
treffen der Blattflügelränder etwa halbweges gehemmt wird; so
dass die Schliessung des Blattes auf Reizung durch eine Er-
schlaffung und Verkürzung der oberen Schichten des Blattes
zu Stande kommt, aber eben diese Schichten am geschlossenen
Blatte doch für den nunmehrigen Gleichgewichtszustand des
Blattes passiv verlängert, stark gedehnt und damit gespannt
sich darstellen.
Mit der Verkürzung der oberen Schichten bei der Schlies-
sung geht eine Verlängerung der unteren Schichten einher.
Daraus, dass die Concavität des Blattflügels nach unten in eine
Concavität nach oben übergeht, folgt allerdings nur, wie ich
schon einmal andeutete, dass das Verhältniss der Ausdehnung
der oberen und der unteren Fläche zu Gunsten der letzteren
Fläche eine Veränderung erfährt: womit die absolute Ver-
grösserung oder Verkleinerung beider Flächen nicht ausge-
schlossen ist. Aber der angegebene Sachverhalt ist schon Hrn.
Darwin’s Ermittelungen zu entnehmen. Denn Hr. Darwin
hat nicht blos die absolute Verkürzung der oberen Fläche bei
der Schliessung constatirt, sondern dieselbe auch so klein ge-
funden, dass sie an einem Blattflügel von 10 Mm. Breite nur
eine Verschmälerung um ca. 0:6 Mm. bedingen würde‘); und
1) Ins. Pl. p. 318. — S. oben $. 110.
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 117
danach kann, in Anbetracht der Dicke des Blattflügels und
der Grösse seiner Formyeränderung, von einer Verkürzung
auch der unteren Fläche nicht die Rede sein, vielmehr ist für
diese Fläche nur anzunehmen, dass sie um etwa ebensoviel sich
vergrössert, wie die obere sich verkleinert. Dies lässt sich
denn auch direet beobachten. Hat man an der unteren Fläche
eines ganz geöfineten Blattes, etwa in der Mitte seiner Länge,
mit Thon zwei Punkte markirt, welche in einer zur Mittel-
rippen-Axe senkrechten Linie gelegen und 3—4 Mm. von ein-
ander entfernt sind, so sieht man bei der Schliessung des Blat-
tes ganz deutlich, dass die Punkte sich ein wenig von einander
entfernen. Besonders schön aber und, ich möchte sagen, auf-
fallend gestaltet sich die Wahrnehmung an solchen Blättern,
die durch die Abtragung eines Blattflügels verstümmelt worden
sind und sich wieder geöffnet haben. Markirt man hier ebenso
zwei Punkte, das eine Mal an der oberen, das andere Mal an
der unteren Fläche des erhaltenen Blattflügels, so kann es
der aufmerksamen Beobachtung gar nicht entgehen, dass mit
der Schliessungsbewegung der Abstand der Punkte im ersteren
Falle sich verkleinert, im letzteren Falle sich vergrössert; ja,
diese Veränderungen lassen sich in den meisten Fällen sogar
durch Anlegen des Zirkels gut feststellen. In der Richtung von
vorn nach hinten habe ich mir die Verkürzung der oberen und
die Verlängerung der unteren Fläche nicht so sicher zur An-
schauung bringen können, aber dieselben sind nach dem Vor-
ermittelten schon dadurch ausreichend erwiesen, dass auch in
dieser Richtung die Concavität des Blattflügels bei der Schlies-
sung sich umkehrt.
Da die oberen Schichten bei der Verkürzung erschlaffen,
kann die Verlängerung der unteren Schichten aller Wahrschein-
lichkeit nach nur eine active sein; und das lehrt auch geradezu
der Versuch. Hälftet man ein ausgeschnittenes, etwa recht-
eckiges Blattflügelstück seiner Dicke nach, wobei, wie die mi-
kroskopische Untersuchung lehrt, die Nervatur in kurze Stücke
zerfällt wird, die theils diesseits theils jenseits des schneiden-
den Messers liegen bleiben, so wird die obere Hälfte, indem
die Schnittfläche sich ein wenig verlängert, noch etwas stärker
118 H. Munk:
als vorher nach oben concav; die untere Hälfte aber giebt,
unter ansehnlicher Verlängerung der Schnittfläche, die bis-
herige Krümmung ganz auf und streckt sich gerade oder wird
sogar noch spurweise nach oben convex. Das Parenchym des
Blattflügels ist also positiv gespannt gegen seine zu kurze Ner-
vatur, es ist durch dieselbe comprimirt, und es verlängert sich,
sobald es von dem Zwange befreit ist. Da nun am offenen
Blatte die oberen Schichten des Parenchyms wohl noch mehr,
wenigstens aber doch ebensosehr durch die Nervatur compri-
mirt sein müssen, wie die unteren Schichten, so versteht es
sich, dass, sobald auf Reizung die oberen Schichten des Par-
enchyms erschlaffen, die unteren in Folge ihres Spannungszu-
standes sich soweit als jetzt möglich ausdehnen und desto mehr
sich verlängern, je weiter sie von der Nervatur entfernt sind.
Wenn ich eben nur von den Parenchym-Schichten sprach
und die Epidermis vernachlässigte, so hatte das seine guten
Gründe. Legt man ein ausgeschnittenes Blattflügelstück in
Wasser, so wird seine untere Fläche ein wenig länger, und
seine Ooncavität nach oben nimmt etwas zu. Hälftet man ein
Blattflügelstück der Dicke nach und bringt an jede Hälfte ein
Tröpfchen Wasser, so sieht man beide Male eine rasche Auf-
saugung des Wassers erfolgen und die Schnittfläche sich be-
trächtlich verlängern; die Concavität der oberen Hälfte nach
oben wird dabei noch ansehnlich vergrössert, und die untere
Hälfte nimmt eine deutliche Concavität nach unten an, die je-
doch nie die Grösse erreicht, welche am frischen Blattflügel-
stücke die Concavität nach oben besass. Eine Runzelung der
oberen oder der unteren Epidermis kommt in keinem der bis-
her besprochenen Fälle zur Beobachtung. Zieht man von einem
frischen Blattflügelstücke auf eine längere Strecke die Epider-
mis ab, was ziemlich schwer an der oberen, leichter an der
unteren Seite gelingt, so verkürzt sich die obere Epidermis
sehr deutlich und ansehnlich, die untere nur undeutlich und
spurweise; durch Wasser-Zusatz erfahren beide keine Verän-
derung. Trägt man, wiederum vom frischen Blattflügelstücke,
die Epidermis zusammen mit einer dünnen Lage des benach-
barten Parenchyms ab, so verhalten sich die Stücke, je nach-
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 119
dem sie der oberen oder der unteren Seite entnommen sind,
sowohl frisch wie bei Wasser-Zusatz im Wesentlichen ebenso,
wie entsprechend die isolirten Hälften des Blattflügelstückes,
welche wir vorher betrachteten. Das Blattflügelstück selbst,
welchem auf der einen oder der anderen Seite die Epidermis
allein oder dieselbe mit dernächstenParenchym-Lage entnommen
worden ist, bietet inKrümmung und sonstigem Verhalten keine
merkliche Abweichung von dem unversehrten Blattflügelstücke
dar. Es ist also ganz klar, dass die Epidermis nur von unter-
geordneter Bedeutung bei der Schliessung sein kann. Wie
das grosse "Wasser-Ansaugungsvermögen, welches das Paren-
chym auszeichnet, der Epidermis abgeht, so fehlt ihr auch ganz
das Ausdehnungsbestreben. Vielmehr erweist sich die Epider-
mis immer negativ gespannt gegen das Parenchym, und zwar
ist die untere Epidermis selbst nach übermässiger Schliessungs-
bewegung nur schwach, die obere Epidermis dagegen schon
am normal geschlossenen Blatte ziemlich stark passiv gedehnt.
Demzufolge kann die Epidermis auch nicht mehr leisten, als
dass sie die anderweitig veranlasste Formveränderung bei der
Schliessung mit ihrer oberen Partie begünstigt, mit ihrer unte-
ren Partie ein wenig erschwert. |
Mit diesen Ausführungen ist es genügend begründet, wie
ich oben S. 114 unseren Blattflügel mit dem Gelenkwulste der
Mimosa verglich. Hier wie dort ist ein durch grosses Wasser-
Ansaugungsvermögen und grosses Ausdehnungsbestreben aus-
gezeichnetes Parenchym positiv gespannt einerseits gegen die
Nervatur in seiner Mitte, andererseits gegen die es umschlies-
sende Epidermis. Beide Male ist nur Eine Seite des Paren-
chyms reizbar, ohne dass im Baue des reizbaren und des nicht
reizbaren Parenchyms ein wesentlicher Unterschied bemerklich
ist, und die Bewegung erfolgt nach der reizbaren Seite hin, so
dass eine nach dieser Seite concave Krümmung entsteht. Beide
Male kommt die Bewegung dadurch zu Stande, dass das reiz-
bare Parenchym erschlafft und kürzer wird, das nicht reizbare
Parenchym sich activ verlängert. Und bei dieser Ueberein.
stimmung kann es keinem Zweifel unterliegen, dass auch die
120 H. Munk:
inneren Vorgänge bei der Erschlaffung und der Ausdehnung:
des Parenchyms beide Male dieselben sind.
Wie von verschiedenen Forschern schon vorher vermuthet
worden ist und Hr. Pfeffer (a. a. O.) dargethan hat, tritt
bei der Reizbewegung der Mimosa Flüssigkeit aus dem Inneren
.der.reizbaren Parenchymzellen aus, wodurch der Turgor der
Zellen, d.h, der hydrostatische Druck des Zellinhalts gegen
die Zellmembran, und damit die Steifheit der Zellen sinkt;
und ein guter Theil der ausgetretenen Flüssigkeit geht in das
Parenchym der nicht reizbaren Wulsthälfte über. Diese Vor-
gänge werden also auch für den Blattflügel unserer Dionaea
anzunehmen sein. Nur ein Uebertritt von Flüssigkeit auch in
das Gefässbündel, wie er bei der Mimosa festgestellt ist‘),
scheint bei der Dionaea nicht zu erfolgen. Ich schliesse dies
aus dem vollen Gegensatze, in welchem es zu den Erscheinun-
gen bei der Mimosa steht, dass bei der Dionaea Durchschnei-
dung des Zwischengliedes selbst ganz nahe der Blattbasis die
Reizbewegung nicht herbeiführt, dass hier ferner an den so
durchschnittenen Gefässen, auch wenn man dann durch Be-
rührung eines Haares das Blatt zur Schliessung bringt, Kein
Flüssigkeitstropfen auftritt und dass hier endlich, wie schon
Hr. Darwin ermittelt hat ?), die Nervatur bei der Fortleitung
der Reizung ganz unbetheiligt ist. Doch dies mehr beiläufig:
die Wasserbewegung im Dionaea-Blatte verlangt eine eigene
Untersuchung, welche ich nicht ausgeführt habe, und mit
einer unvollkommenen Analyse auf Grund gelegentlicher Er-
fahrungen mag ich mich nicht aufhalten. Für unsere Zwecke
genügt es zu wissen, worüber nach dem Vorausgeschickten kein
Zweifel sein kann, dass auch bei der Dionaea die Erschlaffung;
des reizbaren Parenchyms durch einen Wasseraustritt aus den
betreffenden Zellen zu Stande kommt. Wenn demgemäss diese
Zellen nicht blos in Länge und Breite, wie es schon die Form-
veränderung des Blattflügels ergiebt, sondern, wie es auch Hr.
Pfeffer an den gleichfalls eylindriscben Zellen der Cynareen-
Staubfäden unmittelbar beobachtet hat, in allen Dimensionen
1) S. noch: Pfeffer, Jahrb. f. wiss. Botanik. Bd. IX. S. 308 ff.
2) Ins. Pl. p. 313—6.
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w.., 121
sich verkürzen, so lässt sich, nachdem wir soweit nur den Blatt-
flügel ohne die Randstacheln betrachtet haben, nunmehr die
Mechanik der Reizbewegung des ganzen Blattes folgender-
massen übersehen.
Wo auch immer der reizende Angriff das reiz-
bare Parenchym trifft, immer pflanzt sich die
Folge der Reizung sogleich über dieses ganze
Parenchym fort, und dasselbe erschlafft. Mit der
Erschlaffung des oberen Blattflügel-Parenchyms
dehnt sich dann das untere Blattflügel-Parenchym
aus und geht jeder Blattflügel aus der nach unten
eoncaven Gestalt in die nach oben concave über.
Mitder Erschlaffung weiter des oberen Mittel-
rippen-Parenchyms, das die inneren Enden der
beiden oberen Blattflügel-Parenchyme verbindet,
rücken diese Enden einander näher, unter Mit-
wirkung wiederum der activen Ausdehnung der
beiden unteren Blattflügel-Parenchyme und
wahrscheinlich zugleich der activen Ausdehnung
des unteren Mittelrippen-Parenchyms; denn auch
in dieses Parenchym wird ein Theil der aus den reizbaren Par-
tieen ausgetretenen Flüssigkeit übergehen'). Endlich werden
durch die Verkürzung des oberen und die Ver-
längerung des unteren Blattflügel-Parenchyms,
inFolgeder Verbindungderäusseren Enden dieser
beiden Parenchyme mit dem Randstachel-Paren-
cehyme (s. o. S. 79; vgl. Fig. 27a und Fig. 28a), die Rand-
stacheln der oberen Blattfläche zugeneigt. Das Par-
enchym des äusseren Randes und das Randstachel-Parenchym
sind bei der Reizbewegung unbetheiligt: nicht nur geht diesen
Parenchymen die Reizbarkeit ganz ab, sondern es wird auch,
1) Ich glaube manchmal gesehen zu haben, dass die Krümmung
der Mittelrippe sich bei der Schliessung spurweise verringerte; öfter
habe ich Nichts der Art wahrgenommen. Sollte sich jene Verringe-
rung constatiren lassen, so würde damit die Verkürzung des oberen
und die Streckung des unteren Mittelrippen-Parenchyms in der Rich-
tung parallel der Mittelrippen-Axe unmittelbar dargethan sein.
EEE IRRE
122 H. Munk: Die elektrischen Ereheinungen u.s. w.
wenn man vom offenen Blatte den äusseren Rand bis zur Seite
der Blattflügel-Parenchyme abschneidet, jede Spur einer Be-
wegung oder Formveränderung an den abgetrennten Theilen
vermisst, selbst wenn man dieselben mit Nadel und Scheere
zerlegt und in Wasser bringt.
Bei der Oeffnung des Blattes verhältsichnatür-
lich Alles umgekehrt, wie bei der Schliessung: die
vorher erschlafften und verkleinerten Parenchyme
dehnen sich jetzt unter Wachsen des Turgor’s und
der Steifheit ihrer Zellen aus, und die vorher ac-
tiv ausgedehnten Parenchyme werden jetzt com-
primirt. Das Gewicht der Blattflügel spielt bei der Oeffnung
keine Rolle; denn weder wird die Oeffnung ‚merklich beschleu-
nigt, wenn man die Belastung durch Drähte, die man an die
Randstacheln hängt, vergrössert, noch wird sie merklich ver-
zögert, wenn man das geschlossene Blatt in verkehrter Lage
befestigt, so dass die Randstacheln sich zu unterst befinden.
Aus dem langsamen Verlaufe der Oeffnung, die erst in 24 Stun-
den und noch später beendet ist, lässt sich entnehmen, dass die
Flüssigkeits-Aufnahme von Seiten der reizbaren Parenchym-
zellen, zum Ersatze der vorher abgegebenen Flüssigkeit, nur
'sehr allmählich erfolgt und bei der Dionaea viel langsamer vor
sich geht als bei der Mimosa. Damit könnte man es auch in
Zusammenhang bringen, dass bei der Dionaea Stunden nach
der Schliessung vergehen, ehe die erste Spur der Oeffnung sich
bemerklich macht, indem man die Restitution erst nach Stun-
den beginnen liesse. Indess halte ich es für wahrscheinlicher,
dass das lange Geschlossenbleiben darauf beruht, dass die reiz-
baren Parenchyme nach der normalen Schliessung, wie wir
oben S. 116 sahen, trotz ihrer Verkürzung doch in Hinsicht auf
den neuen Gleichgewichtszustand des Blattes passiv gedehnt
zurückbleiben: der wiederanwachsende Turgor der reizbaren
Parenchyme findet erst die Folgen dieser Dehnung (die über-
mässige Abnahme der Dicke der Zellen) anszugleichen, ehe
er zur Compression der bei der Schliessung activ ausgedehnten
Parenchyme vorschreiten kann.
(Schluss im nächsten Heft.)
BU Rn,
Ne
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes
bei der Zusammenziehung.
Von
E. pu Boıs-REyYMonD.
Dritte Abtheilung.')
$. XIX. Ueber die Betheiligung der parelektrono-
mischen Strecke an der negativen Schwankung.
Am Multiplieator und mit polarisirbaren Elektroden, also
ohne Möglichkeit einer Messung, hatte ich den Eindruck er-
halten, als sei die negative Schwankung gleich gross, von wo
sie auch ausgehe, d. h. gleichviel ob die Wirkung des ruhen-
den Muskels positiv, Null, oder negativ sei, oder gleichviel ob
es um künstlichen oder um natürlichen Querschnitt in beliebi-
gem Zustand des letzteren sich handele. Die Kraft der par-
elektronomischen Schicht schien bei der negativen Schwankung
dieselbe Rolle zu spielen, wie die eines beständigen, dem
Strome des ruhenden Muskels entgegenwirkenden Stromes,
Daraus schloss ich, dass die Kraft der parelektronomischen
Schicht bei der Zusammenziehung beständig bleibe, und dass
diese Schicht also nicht theilnehme am Molecularmechanismus
der Zusammenziehung.?)
1) S. die erste und zweite Abtheilung dieser Untersuchung in
diesem Archiv, 1873. S. 517—619; — 1875. 8. 610—667. Sie werden
im Folgenden als „I.“ und „II.“ angeführt.
2) Monatsberichte der Akademie. 1851. S. 396; — Moleschott’s
Untersuchungen zur Naturlehre u. s. w. 1857. Bd. II. S. 155; — Un-
tersuchungen über thierische Elektricität. Bd. II. Abth. II. S. 145 ff.
— Vergl. I. S. 535. 536. 548.
124 E. du Bois-Reymond:
In dieser Folgerung lag damals keine besondere Unwahrschein-
lichkeit, weil ich zugleich bewies, dass eine Schicht von verschwin-
dender Dicke genüge, um die Parelektronomie zu erklären.
Später zeigte sich an regelmässigen Muskeln, wo die Faser-
enden mehr der Untersuchung zugänglich sind, dass es nicht
richtig ist, von einer unmessbar dünnen parelektronomischen
Schicht zu reden, sondern dass es dort eine parelektronomische
Strecke giebt, deren Länge mehrere Millimeter beträgt.)
Es wäre nun wohl nicht unmöglich, sich vorzustellen, dass
negative Kräfte von einer parelektronomischen Strecke ausgingen,
welche wie jeder andere Theil des Muskels sich zusammen-
zöge, und dass gleichwohl jene negativen Kräfte beständig
blieben. Einzelne zwischen den peripolaren Gruppen vertheilte,
säulenartig ihre Wirkung summirende dipolare Molekeln, welche
an dem Molecularmechanismus der Zusammenziehung sich nicht
betheiligten, würden dies leisten. Allein nach den neuen, in
der ersten Abtheilung aufgedeckten Thatsachen wird die Schluss-
folge überhaupt hinfällig, welche dazu geführt hatte, die Nicht-
betheiligung der parelektronomischen Schicht an jenem Mecha-
nismus anzunehmen. Zu dieser Vorstellung wäre ich nie ge-
kommen, hätte ich schon damals gewusst, dass Zerstörung der
parelektronomischen Schicht die negative Schwankung absolut
vergrössert (s. I. S. 546).
Bis auf Weiteres ist jetzt vielmehr zu schliessen, dass die
negative Kraft der parelektronomischen Strecke an der Schwan-
kung theilnehme, jedoch in geringerem Maass als die positive
Kraft des Gesammtmuskels. Ich sage des Gesammtmuskels,
um die Möglichkeit einzubegreifen, dass auch in der parelek-
tronomischen Strecke positiv wirkende Elemente enthalten sind,
welche in gleichem Maasse, wie der übrige Muskel, an der
Schwankung sich betheiligen.
Um hier sicher zu gehen, verfahren wir folgendermaassen.
Der in der Ruhe stattfindende Spannungsunterschied zweier
passend gewählten Punkte der Muskeloberfläche, etwa eines
Aequatorpunktes und eines Poles, bei fortgedachter negativer
1) Dies Archiv, 1863, S. 636.
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s. w. 125
Kraft der parelektronomischen Strecke, heisse M; der Span-
nungsunterschied derselben Punkte, wenn umgekehrt nur die
negative Wirksamkeit der parelektronomischen Strecke in’s
Auge gefasst wird, heisse ?. In Wirklichkeit ist also der
Spannungsunterschied beider Punkte in der Ruhe
OD=M-—P.
P kann > M werden, wo dann der Muskel negativ wirkt.
Darüber, um wieviel P> M werden könne, fehlt es noch an
Bestimmungen. Soll ich eine Schätzung aussprechen, so würde
ich sagen, dass keinenfalls P>1'5 M gefunden werde.
Mit aM bezeichnen wir ferner den Spannungsunterschied
derselben Punkte im Tetanus, abgesehen von der negativen
Kraft der parelektronomischen Strecke, d.h. aM ist die mittlere
Ordinate der Ktenoide, welche den zeitlichen Verlauf der po-
sitiven Kraft des Muskels im Tetanus vorstellt, wenn nur diese
Kraft in’s Auge gefasst wird. Der Werth von a liegt. erfah-
rungsmässig (s. I. S. 53) zwischen 06 und der Einheit.
Ebenso bezeichnen wir mit «P den Spannungsunterschied
derselben Punkte im Tetanus wegen der negativen Kraft der
parelektronomischen Strecke allein, d.h. «P ist die mittlere
Ordinate der Ktenoide, welche den zeitlichen Verlauf der Kraft
im Tetanus vorstellt, wenn nur die negative Kraft der par-
elektronomischen Schicht in’s Auge gefasst wird. Der wirk-
liche Spannungsunterschied im Tetanus ist dann
U,=aM —aP;
die negative Kraftschwankung wird gemessen durch
U, — U,=(1l—-a)M— (1—o)P.
Es handelt sich darum, & so bestimmen, dass 1. die
Schwankung stets absolut negativ sei; 2. sie bei natürlichem
Querschnitt absolut kleiner ausfalle, als bei künstlichem; 3.
sie im Verhältniss zum Strom in der Ruhe dort grösser ausfalle
als hier. Analytisch gestalten diese Bedingungen sich so, dass
1. U, — U, stets positiv bleiben, 2. durch Nullsetzen von P
7 U; — U
U; — Ur wachsen, 3. I dagegen dadurch abnehmen
muss,
Wir haben zu wählen zwischen drei Möglichkeiten, 1. »=1,
un
126 E. du Bois-Reymond:
was soviel heisst, wie dass die negative Kraft der parelektro-
nomischen Strecke an der Schwankung nicht theilnimmt; 2.
«=q, was soviel heisst, wie dass sie in gleichem Maasse daran
theilnimmt, wie die positive Kraft des Gesammtmuskels; und
3. 1>a4>a, was soviel heisst, wie dass sie zwar daran theil-
nimmt, jedoch in geringerem Maass als die positive Kraft.
«<a würde bedeuten, dass sie stärker abnimmt, als die posi-
tive Kraft, endlich «>1, dass sie beim Tetanus zunimmt: An-
nahmen, zu welchen wir vorläufig keinen Grund haben.
R v—=1.
Früher hatte ich «=1 gemacht. Dadurch wurde U, =
aM—P, U,— U =(1-—a)M. Letzterer Ausdruck bleibt
zwar stets positiv, aber er ist unabhängig von P. Dies ent-
sprach meinen damaligen unvollkommenen Beobachtungen, wi-
derspricht aber der zweiten jetzt aufgestellten Bedingung. Unter
diesen Umständen kann es zu nichts helfen, dass
Dr Em
Ware ARENSP
durch Nullsetzen von P abnimmt.
ll. a=a.
Setzen wir «=a, d. h. lassen wir die negative Kraft der
parelektronomischen Strecke in gleichem Maasse wie die posi-
tive Kraft des Gesammtmuskels an der Schwankung theilneh-
men, so wird 9, — U, =(1— a)(M—P), d. h. die Schwan-
kung ist dem ursprünglichen Strome proportional. Für P<M
ist zwar U, — U, positiv, wird aber für kleine Werthe dieser
Ungleichheit kleiner als in Wirklichkeit. Für P=M ist 9,
— U,=0, der wegen Parelektronomie stromlose Muskel bliebe
es auch im Tetanus. Auch dies stimmt nicht mit der Erfah-
rung, wenigstens an der Bussole. Denn die unter diesen Um-
ständen erfolgende secundäre Zuckung liesse sich noch immer
durch die geringste Ungleichzeitigkeit in den Schwankungen
der parelektronomischen Kraft und der positiven Kraft des Ge-
sammtmuskels erklären. Allein für P>M ist U, — Ur nega-
tiv, d. h, der wegen Parelektronomie negativ wirksame Muskel
ARE
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s. w. 127
zeigte im Tetanus zwar relativ negative, aber absolut positive
Schwankung. Durch Nullsetzen von P erscheint für P=M
überhaupt erst negative Schwankung, für P<M wird sie ab-
solut vergrössert, für P> M verwandelt sich die absolut posi-
tive in eine absolut negative Schwankung. Endlich das Ver-
hältniss der Schwankung zum Strom in der Ruhe ist das näm-
liche bei natürlichem wie bei künstlichem Querschnitt, denn
man hat
ul — je M
ap
IN 50
Dies also passt nicht. Schlagen wir nun aber einmal den
Mittelweg zwischen meiner früheren und der letzten Voraus-
setzung ein, und setzen wir l>a>a, z. B. a=na, wo n>],
d. h. lassen wir die negative Kraft der parelektronomischen
Strecke an der Schwankung in geringerem Maasse theilnehmen
als die positive des Gesammtmuskels.
Alsdann wird
GG —-U=(l1-oa)M-—(l_-ne)P.
Dieser Ausdruck bleibt positiv, so lange
P, mit dessen Wachsen die linke Seite abnimmt, wird nicht
55: a, mit dessen Wachsen die rechte Seite wächst,
nicht <0:6 (s. oben S. 125). Daraus folgt, dass n nicht
11
kleiner als 2. werden dürfe, soll die Schwankung absolut ne-
gativ bleiben. Doch zwingt uns nichts, n grösser anzunehmen,
da es nur darauf ankommt, dass überhaupt 2>1 sei, damit die
Proportionalität zwischen Schwankung und ursprünglichem
Strom aufhöre.
Vernichten von P vergrössert sodann absolut die Schwan-
kung, verkleinert dagegen das Verhältniss
128 E du Bois-Reymond:
OD, — Ur 2 (A1—-a)M—(l—na)P
DR M—P ;
(1—a)M
or
Wie man sieht, stellt unsere Formel die Erscheinungen
diesmal befriedigend dar. Die nächste Folge wird aber lehren,
dass wir uns dabei noch nicht beruhigen dürfen.
denn für n > 1 ist dieser Bruch >
$. XX. Von den beiden am unversehrten Muskel zu-
gleich vorhandenen Arten der Nachwirkung, näm-
lich der inneren und der terminalen Nachwirkung.
Wer obıgen Verhandlungen aufmerksam folgte, hat leicht
bemerkt, dass die Auffassung, bei der wir im vorigen Paragra-
phen stehen blieben, dem Thatbestande noch nicht ganz ent-
spricht. Ein Punkt ist dabei ausser Acht gelassen, durch den
die negative Schwankung bei künstlichem Querschnitt, oder
ohne parelektronomische Strecke, von der bei natürlichem Quer-
schnitt, oder mit parelektronomischer Strecke, noch anders sich
unterscheidet, als durch ihre bisher allein berücksichtigte ab-
solute und negative Grösse. Dieser weitere Unterschied be-
steht in dem bei künstlichem Querschnitt sich zeigenden eigen-
thümlichen, langsamen, stockenden, ja von Rückschritten unter-
brochenen Gange der Schwankung, verbunden mit der grösse-
ren Stärke und Dauer der Nachwirkung.
Wie schon in der ersten Abtheilung gesagt wurde, sieht
man bei natürlichem Querschnitt im Beginne des Tetanus den
Faden im negativen Sinne vorwärts gehen, zurückweichen oder
zucken, abermals weiter vorschreiten, zurückweichen, zum drit-
ten Male vielleicht wieder weniger weit vorgehen, und nach
öfterer Wiederholung dieses Spieles endlich nicht selten zwi-
schen engen, bald etwas höheren, bald etwas tieferen Grenzen
kurze Zeit hin und her schwanken. Hier würde es sehr wohl ge-
lingen, einen mittleren Werth der Schwankung durch Compen-
sation zu messen. Doch liegt hier nicht soviel daran, wie bei
Anstellung des Versuches mit künstlichem Querschnitte, weil
auch ohne Messung der Augenschein lehrt, dass. die Schwan-
kung oft den ursprünglichen Strom weit übertrifft, und den
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s.w. 129
Faden auf die negative Seite des Nullpunktes führt. Aus die-
ser fast beständigen Ablenkung kehrt nach beendigtem Tetanus
der Faden meist nur sehr langsam zurück. Es hinterbleibt
eine Nachwirkung, welche oft die Hälfte der Schwankung be-
trägt. Siekann aber oberhalb einer gewissen Grenze jeden Werth
bis fast zu dem der negativen Schwankung selber annehmen,
mit anderen Worten, bei hoher Parelektronomie kommen Fälle
vor, wo sich der Strom von der negativen Schwankung kaum
erholt. Bei erneutem Tetanus erhält man dann nur sehr
schwache, absolut negative, relativ positive Wirkung, obschon
der Muskel sich noch ganz gut zu verkürzen scheint.')
Bei künstlichem Querschnitt zeigt sich von dem Allem
nichts. Der Faden geht schnell und stetig zu einem viel grös-
seren absolut und relativ negativen Maximum, und kehrt so-
gleich, langsamer zwar, doch nicht minder stetig, zurück. Die
schliesslich hinterbleibende Nachwirkung schätzten wir, so gut
es anging, auf nur etwa !/,, der Schwankung, oder etwa 4 pOt.
der ursprünglichen Stromkraft.
So werden wir zur Einsicht geführt, dass es zwei Arten
der Nachwirkung giebt, welche am unversehrten Muskel zu-
gleich vorhanden sind, von denen aber die eine mit dem na-
türlichen Querschnitte verloren geht.
Es giebt erstens eine Nachwirkung, welche die ganze Muskel-
masse ergreift, und daher auch bei künstlichem Querschnitte
wahrnehmbar ist. Sie ist es, welche Hermann Roeber
1) Beiläufig sei bemerkt, dass noch nicht untersucht ist, wie bei
Anwendung eines leichten aperiodischen Magnetspiegels die negative
Schwankung des Muskelstromes am lebenden Menschen bei willkür-
lichem Tetanisiren der Gliedmaassen sich gestaltet. Vielleicht wird
dabei, wie auch bei elektrischem Tetanisiren der Gliedmaassen des
Kaninchens, die negative Schwankung die soeben in Erinnerung ge-
brachte Beschaffenheit zeigen, welche dem vom natürlichen Querschnitt
abgeleiteten Strom eigen ist. Wenigstens giebt sich im Versuch am
Menschen stets sehr starke Nachwirkung kund (Untersuchungen u.s.w.
Bd. II. Abth, I. S. 291). Am Kaninchen gelang es aus besonderen
Gründen bei den älteren Versuchen nicht, die Nachwirkung zu beob-
achten (a. a. 0. S. 347).
Beichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 9
130 -E. du Bois-Reymond:
in’ seiner letzten Arbeit ausführlich untersuchte”) Es ge-
lang ihm, viel höhere Werthe dieser Nachwirkung zu beob-
achten, als sie in unseren Versuchen vorkamen, in welchen wir
nur ausnahmsweise den Muskel zur Erschöpfung tetanisirten,
denn mittels der statistischen Methode ?) fand er die Kraft
von Muskeln, die durch Strychnin- oder Pikrotoxin-Tetanus
erschöpft waren, um 17, beziehlich 22 pCt. herabgesetzt. An
Hrn. Ranke’s Ergebnisse anknüpfend, welche er theils bestä-
tigte, theils berichtigte, bewies Roeber, dass diese Nachwir-
kung auf der Säurung des Muskels beruht, die nach meiner
Entdeckung die Zusammenziehung begleitet. Eine nur halb-
procentige Milchsäurelösung, in Froschmuskeln gespritzt, setzte
deren elektromotorische Kraft um fast 30 pCt. herab. Dies lehrt,
eine wie kleine Säuremenge man nur anzunehmen braucht, um
dadurch die Nachwirkung zu erklären. Andererseits erhöhte
in Roeber’s Versuchen eine halbprocentige kohlensaure Natron-
lösung, in Muskeln gespritzt, die durch Pikrotoxintetanus er-
schöpft waren, deren Kraft wieder um 11 pCt. Dies lehrt,
1) Dies Archiv, 1870. S. 633. — Dr. Hermann Roeber, geb,
am 18. October 1842 zu Berlin, ward ein Opfer seiner Hingabe an
das bedrohte Vaterland. Wegen schwächlicher Gesundheit zum Die-
nen nicht verpflichtet, betheiligte er sich freiwillig am Feldzug und
machte als Assistenzarzt von der Belagerung von Strassburg bis zu
den winterlichen Märschen im westlichen Frankreich den Krieg mit.
Von dort brachte er eine Lungenerkrankung zurück, die ihn wenige
Wochen nach seiner Heimkehr, am 27. April 1871, dahinraffte. Die-
Arbeiten, mit denen er die Jahrgänge 1869 und 1870 dieses Archivs
bereicherte, zeigen besser als Worte, was die Wissenschaft an ihm
verlor. Geborner Naturforscher, hatte er von seinem Vater, dem
verdienstvollen Physiker und Mathematiker, die bezeichnenden Eigen-
schaften der deutschen physikalischen Schule geerbt: ideales Streben,
unverbrüchliche Wahrheitsliebe, nüchterne Besonnenheit und ernsten
Fleiss. Er jagte nicht nach des Tages vergänglicher Berühmtheit,.
sondern war still bemüht, dauernd Ruhmwürdiges zu schaffen. In einer
Zeit, wo die reissend steigende Fluth wissenschaftlicher Production.
schnell auch über den höchsten Leistungen zusammenschlägt, wird.
Hermann Roeber’s kurze Forscherlaufbahn von der Menge bald.
vergessen sein: seinen Freunden und Lehrern werden sein Talent,
sein Charakter stets in liebevoll bedauernder Erinnerung bleiben,
2) Dies Archiv, 1867. S. 279 ff.
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s. w. 131
dass ein Säure neutralisirender Einfluss wirklich die Nachwir-
kung beseitigt, was deren Entstehung durch Säurung des Mus-
kels ausser Zweifel setzt. Ich will diese Nachwirkung, zum
Unterschiede von der anderen, gleich zu bezeichnenden, „in-
nere Nachwirkung“ nennen.
Wenn aber Roeber auch die negative Schwankung
selber und sogar deren in das Latenzstadium fallen-
den, secundäre Zuckung erregenden Theil auf Säurung des
Muskels zurückführen wollte, so ging er meines Erachtens zu
weit. Zugegeben, die Säure entstände plötzlich genug, um die
Schwankung zu erklären, so ist erstens nicht bewiesen, im
Gegentheil sehr unwahrscheinlich, dass bei einer einzelnen Zu-
ckung Säure genug im Muskel entstehe, um die elektromoto-
rische Kraft bis beinah auf Null herabzudrücken (s. II. S. 648).
Zweitens bliebe dunkel, was aus dieser Säure werde, wenn ein
paar Tausendstel Secunde später die Kraft fast ihre frühere Höhe
erreicht. Wäre solche Säuremenge einmal da, der Muskel
müsste todtenstarr werden. Drittens zeigt der Nerv negative
Schwankung, und noch stärker als der Muskel (s. II. S. 651),
ohne Säurung.') Endlich viertens lehrt das Verhalten des Mus-
kels bei natürlichem Querschnitt, dass neben der Säurung je-
denfalls noch etwas Anderes im zuckenden Muskel vorgeht.
Es ist nämlich nun eine zweite Art der Nachwirkung zu
unterscheiden, welche, da sie nur bei natürlichem Querschnitt
stattfindet, ihren Sitz nothwendig an den Faserenden hat, und
deshalb, im Gegensatz zur inneren Nachwirkung, „terminale
Nachwirkung“ heissen soll. Auch diese der Säurung zu-
schreiben zu wollen, wäre ganz fehlerhaft. Wir wissen von
der Säure nicht, dass sie an den Faserenden sich anhäuft, und
wir sind nicht berechtigt, ihr eine andere Wirkung zuzuschrei-
ben, als eine kraft- und widerstandvermindernde, nicht aber
eine kraftvermehrende, geschweige eine nach dem Gesetze des
Muskelstromes erfolgende selbständige elektromotorische Wir-
»
1) Ueber die angebliche Säurung der Nerven bei Anstrengun-
gen vergl. die Zusammenstellung von Hrn. R. Gscheidlen in
Pflüger’s Archiv für die gesammte Physiologie u.s.w. 1873. Bd.
vol 8. 171.
9#
132 E. du Bois-Reymond:
kung. Durch die terminale Nachwirkung aber wird ein in der
Ruhe unwirksamer Muskel negativ wirksam, ein negativ wirk-
samer stärker wirksam. Dies lässt sich nicht durch die An-
nahme erklären, dass die positive Kraft des ganzen Muskels
abnehme, während die negative Kraft der parelektronomischen
Strecke beständig bleibe, denn dann müsste die Nachwirkung
bei künstlichem und bei natürlichem Querschnitte gleich gross
sein. Jenes Verhalten lässt sich vielmehr nur dadurch erklä-
ren, dass am natürlichen Querschnitt in den Faserenden eine
nach dem Gesetze des Muskelstromes mit umgekehrtem Zeichen
wirksame, also negative elektromotorische Kraft entsteht, die
zur positiven Kraft der parelektronomischen Strecke sich alge-
braisch summirt.
Wie man sieht, ist der Vorgang der negativen Schwan-
kung auch am regelmässigen, aber unversehrten Muskel noch
viel verwickelter, als er sich uns schon in unseren letzten Be-
trachtungen darstellte. Ehe wir dazu schreiten, ihn möglichst
vollständig zu zergliedern, haben wir aber noch von einer
wichtigen Beziehung Kenntniss zu nehmen, die sich hier ge-
radezu aufdrängt.
$. XXI. Dass die terminale Nachwirkung gleich der
Parelektronomie bei Herstellung künstlichen Quer-
schnittes schwinde, wird durch unmittelbaren
Versuch bewiesen.
Die terminale Nachwirkung besteht, wie wir wissen, darin,
dass eine nach dem Gesetze des Muskelstromes mit umgekehr-
tem Zeichen wirksame, also negative Kraft, zur negativen Kraft
der parelektronomischen Strecke hinzutritt. Diese neue nega-
tive Kraft hat zum Sitz die natürlichen Faserenden, d. h. das
anatomische Substrat der Parelektronomie. Was nun stellt
solche Kraft anders vor, als Verstärkung der Kraft der par-
elektronomischen Strecke, als Erhöhung der Parelektronomie?
So werden wir fast unwillkürlich darauf geführt, dass vielleicht
terminale Nachwirkung und Parelektronomie einerlei sind.
Ist dies richtig, so muss Herstellung künstlichen Quer-
schnittes nach Tetanus grösseren positiven Kraftzuwachs _be-
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 133
dingen als vorher. Nennen wir N: , N; die Beträge der ter-
minalen und inneren Nachwirkung in einem gegebenen Augen-
blicke nach dem Tetanus. Stellt man künstlichen Querschnitt
her, so geht der Spannungsunterschied M— P— NM: — N;
über n M—N;. Der Kraftzuwachs ist also P+ N,. Stellt
man dagegen künstlichen Querschnitt her ohne vorläufigen
Tetanus, so ist der Kraftzuwachs nur P<P+N,. So sehr
dies einleuchtet, so unmöglich scheint es beim ersten Blick,
den Beweis zu führen, dass dem so sei. Denn der Versuch,
wie er hier gedacht ist, setzt voraus, dass man an zwei Mus-
keln der Gleichheit von P gewiss sei. Wir beobachten aber
vor Herstellung des künstlichen Querschnittes stets nur M— P,
und aus Gleichheit der Wirkung zweier Muskeln mit natürlichem
Querschnitt dürfen wir nur schliessen, dass M- P-M,-P..
Um daraus zu entnehmen, dass P=P,, müssten wir finden
M=-M,. Nach dem Tetanus messen wir an dem einen Mus-
kel aber nur M_N;.. Wir würden also im Ungewissen blei-
ben, abgesehen von der Unsicherheit, die von solcher mittel-
baren Grössenbestimmung in diesem Gebiet unzertrennlich ist.
Um den verlangten Beweis zu führen, bedürfen wir also
eines Verfahrens, um die Parelektronomie sicherer als bisher,
wo möglich an demselben Muskel vor und nach dem Tetanus,
zu messen. Dazu ersann ich die schon in der Abhandlung
„Ueber den Einfluss körperlicher Nebenleitungen
auf den Strom des M. gastroknemius des Frosches“!)
näher geschilderte Methode, die Parelektronomie nach dem
positiven Kraftzuwachs zu schätzen, den ein mit ätzender
Flüssigkeit, z.B. L:HO::1:1, getränktes Fliesspapierscheib-
chen von stets derselben Grösse und Gestalt, dem Achilles-
spiegel angelegt, hervorbringt.
Man erinnert sich, dass das Verfahren seinen Zweck im
Allgemeinen erfüllt, dass aber eine unerwartete und lehrreiche
Verwickelung dabei auftritt. Bei gleicher Parelektronomie
brivgt das „Milchsäurescheibchen“ um so grösseren Zu-
wachs hervor, je tiefer es dem Achillesspiegel angelegt wird,
1) Dies Archiv, 1871. S. 564 ff.
134 E. du Bois-Reymond:
Der Grund hiervon ergab sich darin, dass die Muskelmasse für
den Neigungsstrom des Achillesspiegels eine Nebenleitung bil-
det, welche um so mehr schwächend auf den Stromzweig im
Bussolkreise wirkt, je grösser die Muskelmasse, am meisten
also in der oberen, am wenigsten in der unteren Gegend des
Spiegels. Legt man mehrere Scheibchen in gleicher Höhe
nebeneinander an, so wirkt im Allgemeinen | jedes folgende
Scheibchen schwächer als das vorhergehende; doch tritt dies
Gesetz sicher erst im Mittel mehrerer Versuche hervor.
Daraus ergab sich die Nothwendigkeit, hier folgender-
maassen zu verfahren. In gleichen Zwischenräumen solcher
Länge, dass die Scheibchen volle Wirkung üben, wozu bei
verdünnter Milchsäure zwei Minuten genügen, legte ich dem
Achillesspiegel des im Muskelspanner!) immobilisirten Ga-
stroknemius in der Medianlinie von unten nach oben zu
Scheibehen an, und verzeichnete die dadurch bewirkten, mit
grosser Regelmässigkeit abnehmenden Kraftzuwachse des vom
oberen Knochenstück und vom Sesamknorpel abgeleiteten Stro-
mes. Dann tetanisirte ich den Muskel vom Nerven aus?) mög-
lichst stark und lange, mass abermals die wegen der Nach-
wirkung verminderte Kraft, und legte darauf über dem
höchsten vor dem Tetanus angelegten Scheibchen wieder
ein Scheibchen an. Wirkte dies stärker als jenes, so
hatte der Muskel durch den Tetanus an Parelektronomie
1) So nenne ich fortan, der Kürze halber, den auf S. 137 abge-
bildeten, bisher als „kleine Streckvorrichtung“ bezeichneten kleinen
Apparat. Vergl. Untersuchungen u.s.w. Bd. II. Abth. I. 8. 67.
Taf. I. Fig. 86. 87 A u. B.
2) Um den Muskel zur Erschöpfung zu tetanisiren, hätte ich
besser bei offenem Bussolkreise die Schläge unmittelbar dem Muskel
zugeführt. Dagegen sprachen aber dieselben Gründe, welche schon
vor mehr als zwanzig Jahren bei meinen Forschungen über die Nach-
wirkung mich verhinderten, so zu verfahren, welche näher darzulegen
ich aber auch heute noch nicht in der Lage bin (Untersuchungen
u.s.w. Bd. II. Abth. II. S. 155.) Uebrigens erfüllte das mittelbare
Tetanisiren seinen Zweck so, dass es nicht rathsam gewesen wäre,
um etwas grösserer Wirkungen willen einen neuen Fehlerquell zu
erschliessen.
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s.w. 135
zugenommen; denn blieb die Parelektronomie dieselbe, so
hätte das höher angelegte Scheibehen schwächer als das letzte
gewirkt. Der Sorge, dass mit mehreren Milchsäurescheibchen be-
legte Muskeln nicht zucken würden, ward ich bald enthoben.
Meist thun sie dies noch ganz gut, und die negative Schwan-
kung zeigt noch, wenn auch minder ausgeprägt, die ihr bei
natürlichem Querschnitt zukommenden Eigenthümlichkeiten
(vergl. oben S. 128. 129). So erhielt ich Reihen wie folgende,
in denen die Zahlen Compensatorgrade bedeuten.
Gastroknemius
Ursprüngliche Kraft... . Ir 122
Zuwachs
+
B
[db]
Zuwachs.
—
or
©
Zuwachs
1
2| 263 52 | 534 15 | 426 93
| Tetanus. Tetanus.
Kraft nach a 237 468
der L-Scheibehen 3| 318 8l | 585 | 117 | 481 55
| Tetanus.
| an
4 Ko 15 nn 81
I}
I
In jeder dieser Reihen folgt dem Tetanus, ganz wie wir es
erwarteten, ein stärkerer durch das aufgelegte Milchsäurescheib-
chen bewirkter Kraftzuwachs.
Bei der Regelmässigkeit, mit der sonst beim Auflegen der
Scheibehen die Zuwachse von unten nach oben abnehmen,
scheint es schon hiernach, als sei wirklich der Muskel durch
das Tetanisiren parelektronomischer geworden. Es hätte ver-
hältnissmässig wenig zu sagen, dass auch Fälle vorkommen,
wo Tetanus den Zuwachs nicht vergrössert. Allein es giebt
136 E. du Bois-Reymond:
einen anderen sehr gewichtigen Einwand gegen diese Versuche.
Es ist unmöglich, zu beweisen, dass der Zuwachs, den ein
nach dem Tetanisiren aufgelegtes Scheibchen erzeugt, nicht
bloss deshalb grösser ausfällt, weil während der zwei Minuten,
deren das Scheibchen bedarf, um seine volle Wirkung zu üben,
die Nachwirkung sank. Jener grössere Zuwachs setzt sich,
wenn unsere Vorstellung richtig ist, aus zwei Theilen zusam-
men, einem Theil A, der auf Zerstörung der ursprünglichen
und der neugebildeten parelektronomischen Strecke, und einem
Theile 2, der auf Sinken der Nachwirkung im übrigen Achilles-
spiegel beruht. Man müsste B von A abziehen können, um
zu beurtheilen, ob A, im Vergleich zu den ohne vorläufigen
Tetanus bewirkten Zuwachsen, aus der Reihe falle. Wartet
man aber, bis alle Nachwirkung verschwunden ist, so sind die
Zuwachse, die man nun erhält, wegen allgemein verminderter
Leistungsfähigkeit nicht mehr mit den früheren vergleichbar.
Geböte man über mehrere Gastroknemien, wie man dann
und wann einen antrifft (s. oben S. 129), an denen die ter-
minale Nachwirkung der negativen Schwankung fast gleich-
kommt, und welche nach dem Tetanus mit fast beständi-
ger Kraft negativ wirksam bleiben: so liesse sich der Versuch
mit den Scheibehen wohl anstellen, weil hier der auf Nach-
wirkung beruhende Theil B des nach dem Tetanus beobachte-
ten Zuwachses verschwände. Es braucht kaum gesagt zu wer-
den, warum die Fälle der Art, die sich zuweilen darbieten,
nicht so verwerthbar sind. Hat man sie erkannt, so ist es zu
spät dazu.
Es ist klar, die einzige Art, hier zum Ziele zu kommen,
wäre Anwendung eines die Parelektronomie so schnell zerstö-
renden Verfahrens, dass während seiner Ausübung keine: in
Betracht kommende Abnahme der Nachwirkung stattfände.
Solches Verfahren ist Berührung des Achillesspiegels mit einem
heissen Körper.
Man denke sich einen Platindraht quer über den Achilles-
spiegel fort ausgespannt und dem Spiegel mit stets demselben
leisen Druck anliegend. Eine stets dieselbe kurze Zeit hin-
durch geschlossene Kette, die galvanokaustische Kette
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 137
genannt, erhitzt bei gleicher Ableitung der Wärme den Draht
stets auf denselben Grad. So verbrennt er in wenigen Secun-
den die berührte Stelle in gleicher Ausdehnung und in glei-
chem Grade. Diese Verbrennung, welche von Erhöhung der
positiven Kraft des Muskels begleitet ist, muss sich im Versuch
ebenso verwerthen lassen, wie die Anätzung durch Milchsäure-
scheibchen, wegen der Geschwindigkeit, mit der sie entsteht,
aber frei vom Uebelstande sein, den wir letzterer vorwarfen.
Fig. 1.
Vorstehende Figur zeigt, wie ich diesen Gedanken ver-
wirklichte. Ein Gastroknemius war in dem Muskelspanner
ausgestreckt, mit nach oben gekehrtem, möglichst wagerechtem
Achillesspiegel. Man erkennt leicht in der Figur die beiden.
Elfenbeinplatten des Spanners. Zwischen ihnen erblickt man den
Muskel, dessen Sesamknorpel diesseit des Schlitzes der vorde-
ren Elfenbeinplatte erscheint, und dessen Nerv den Thonspitzen
der unpolarisirbaren Zuleitungsröhren aufliegt, welche die te-
tanisirenden Schläge zuführten. Die Zuleitungsgefässe mit
ihren Bäuschen und Thonschildern, welche den Muskel-
strom abführten, sind fortgelassen. dö ist ein an die
Enden der 2 Mm. dicken Kupferdrähte dd', &ö' gelötheter
Platindraht von 25 Mm. Länge und 0'’3 Mm, Durchmesser,
Pe ae DAN AR a;
ji
138 E. du Bois-Reymond:
dessen Mitte auf dem Achillesspiegel ruht. Die Kupferdrähte
laufen dem wagerechten Hebel d’ö' bis zu dessen Drehpunkt
entlang und tauchen hier jeder mit verquicktem Ende in ein
Quecksilbergefäss, von wo aus sie den Strom der ealvanokau-
stischen Kette (einer Grove’schen Kette grösserer Art) erhal-
ten. Im Kreise der Kette und des Platindrahtes befindet sich
zwischen zwei Quecksilberrinnen eine Lücke, in welche die
verquickten Enden eines durch ein Uhrwerk bewegten Kupfer-
bügels, wenn das Uhrwerk ausgelöst ist, jedesmal 5“ ein-
tauchen. Ein- nnd Austauchen des Bügels wird durch ein
akustisches Signal angezeigt.
Geschehen alle Zuleitungen durch 2 Mm. dicke Kupfer-
drähte, so erglüht während des Kettenschlusses der Platindraht,
und ruht dieser auf dem Achillesspiegel mit dem vollen Mo-
ment des wagerechten Hebels, so schneidet er den Muskel da-
bei glatt durch.
Die Erhitzung des Drahtes ist durch Einführung von wi-
derständen leicht zu regeln. Um auch den Druck auf den
Spiegel zu beherrschen, läuft jenseit des Drehpunktes der He-
bel in eine Stahlstange mit Laufgewicht aus. Ausserdem aber
hatte ich vermöge der Länge des Hebels und seiner wagerech-
ten Stellung den Druck beinahe unabhängig gemacht von der
Höhe, in welcher der Gastroknemius den Draht trägt, wenn
er verschiedenen Punkten der Muskellänge anliegt. Es lässt
sich berechnen, dass bei dem 200 Mm. betragenden Abstande
zwischen Drehpunkt und Mitte des Drahtes, horizontaler Stel-
lung des Hebels und Erhebung oder Senkung des Drahtes
um 2 Mm., wie sie höchstens vorkommen kann, der Druck des
Drahtes nur um 25300 Sich ändert.!)
1) Es heisse P das im Schwerpunkt S vereinigt gedachte Ge-
wicht des Hebels. Der Draht ruhe auf dem Muskel mit seiner Mitte
M. ı sei die Entfernung des Schwerpunktes, 4 die der Mitte des
Drahtes vom Drehpunkte D. $ liege über der Verbindungslinie DM,
DM mache mit der Horizontalen den Winkel x, die Verbindungs-
linie DS den Winkel «&+x. Der Druck A, den M in tangentialer
Richtung auf den Muskel übt, ist
A=P.- cos(e +2).
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s.w. 139 N
Indem so Druck und Temperaturerhöhung des Drahtes
beherrscht werden, gelingt es zu erreichen, dass eine Be-
rührung des Drahtes, während der Strom 5" hindurchgeht,
auf dem Achillesspiegel nur eine matte Strieme hinterlässt,
und indem der Draht dann immer um 2—3 Mm. auf dem Spie-
gel aufwärts gerückt wird, kann der Spiegel wie mit einer
Längentheilung bedeckt werden, deren Striche die Brandstrie-
men bilden (s. d. Figur). Sie erscheinen völlig gleichmässig,
nur dass sie oben etwas länger werden, weil hier die Curve
des Muskelumfanges, wegen grösseren Krümmungshalb-
messers, mit dem tangirenden Draht in grösserer Strecke zu-
sammenfällt.
Setzt man sinz=z und differenzirt man A nach 2, so erhält man
dN\
de
durch Veränderung der Höhe, in welcher der Muskel den Draht trägt,
wird also am kleinsten, wenn DS wagerecht ist, wobei zugleich der
=0 für«e=—-x. Die Veränderung des tangentialen Druckes
tangentiale Druck am grössten, = 12 wir. In Wirklichkeit
konnte « vernachlässigt werden, statt DS wurde DM möglichst genau
horizontal gemacht. Wurde dann beimVerschieben des Drahtes auf
dem Achillesspiegel M um 7% gehoben oder gesenkt, so betrug die
Verminderung des tangentialen Druckes
2 h?
?.(1-yı-,)
Wie man sieht, nähert sich die Grösse unter dem Wurzelzeichen der
Einheit, und der Werth des ganzen Ausdruckes folglich der Null, um
so mehr, je grösser 4 beigleichem A. h konnte höchstens = #2 Mm.
sein, 4 war 200 Mm. Daraus ergiebt sich die Aenderung des Dru-
ckes für die möglicherweise vorkommende Hebung oder Senkung zu
höchstens =s}»-
Es lag nahe, die Glühvorrichtung, anstatt sie an einem Hebel
beweglich zu machen, durch ein Gewicht nahe aufgewogen an Rollen
aufzuhängen, und die unteren Enden dd der Kupferdrähte unmittelbar
in Quecksilber zu tauchen. Unter verschiedenen Gründen, welche hier-
gegen sprachen, ist vorzüglich der hervorzuheben, dass die Vorrich-
tung nach der Tiefe, bis zu welcher die Kupferdrähte in das Queck-
silber tauchten, verschieden schwer wog. Bei der gewählten Anord-
nung ist die Schwankung der Tiefe, bis zu welcher die Drähte ein-
tauchen, unmerklich.
140 E. du Bois-Reymond:
‘Wie zu erwarten, bringt jede Brandstrieme einen positiven
Kraftzuwachs hervor. Doch sind bei gleicher Parelektronomie
die Zuwachse kleiner als mit den Milchsäurescheibchen, weil
die Berührung des Drahtes, der Länge des Muskels nach ge-
messen, eine kürzere Strecke des Achillesspiegels in künst-
lichen Querschnitt verwandelt, als die Berührung des Scheib-
chens, die künstliche Neigungsstromkraft aber mit der Länge
des blossgelegten künstlichen Querschnittes wächst. Aus der
geringen Breite der Striemen im Vergleich zu den geätzten
Stellen unter den Scheibehen erwächst aber der grosse Vor-
theil, dass man längs der Rückenfläche eines Gastroknemius
viel mehr Striemen brennen, als Scheibchen anlegen kann.
Folgende Tabelle zeigt beispielsweise das Verhalten zu-
nächst ohne Tetanus in einem vollständigen Versuche.
Ursprüngliche Kraft in Com-
pensatorgraden . . . .» +442
J Brandstrieme I. Kraftzuwachs.
Achillessehne 44:6 EL. (Ü12l
| 45°6
[ Il.
56°5 lit,
59-4
IH.
67°8 ...+%4
704
IV.
11.9 2 ee ZEN
794
ıV;
85°0 NE
2 Minuten Pause.
J 89-0
v1
94:0 ,
95-4
vm.
|
99-6 ... +42
99:8
Achillesspiegel
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 141
VII.
1050 Sle.lhınl2
1066
IX,
1110 erh AA
2 Minuten Pause.
1150
[ x
1160 EL)
1172
XI.
119-0 le)
Rothes Fleisch . . . | 118-0
Xo.
1196 ee 166
1197
XIH.
1114 oe
Die römischen Zahlen bezeichnen die folgweise von un-
ten nach oben in etwas über 2 Mm. Abstand von einander vor-
genommenen Verbrennungen. I]. fand an der Achillessehne
selber statt, II—IX. am Achillesspiegel, X—XII. am rothen
Fleische zwischen Achillesspiegel und Hauptsehne. Die beiden,
gewöhnlich um 1—2 Einheiten im positiven Sinne verschiede-
nen Zahlen zwischen je zwei Verbrennungen sind die Kraft
unmittelbar nach der vorhergehenden und unmittelbar vor der
darauf folgenden Verbrennung. Die Verbrennungen geschahen
in einem Zeitabstande von je zwei Minuten, während welcher
die Kraft um jene Grösse stieg, erstens, weil sie häufig am
Gastroknemius im Steigen begriffen ist, zweitens, weil die Wir-
kung der Verbrennung, obschon im Wesentlichen rasch been-
digt, in geringem Maasse noch über die nächstfolgenden Mi-
nuten sich erstreckt. Jener Zeitabstand wurde zwischen zwei
Verbrennungen gelassen, theils damit sicher Zeit bleibe zu klei-
nen Geschäften, deren Dauer sich nicht genau regeln lässt, als
da sind das Rücken des Drahtes auf dem Muskel, das Corri-
142 E. du Bois-Reymond:
giren der täglichen Variation, u.d.m.; theils, um in den nun
erst folgenden wirklichen Versuchen das Tetanisiren bis zur
Erschöpfung ausführen zu können, ohne die Periode der Ver-
suche zu verändern. Zweimal in obiger Reihe, zwischen V.
und VI, und zwischen IX. und X., ist aber eine Pause von 2
Minuten gemacht, um festzustellen, dass dies von keinem Ein-
fluss auf die Grösse des Zuwachses ist, den die darauf folgende
Verbrennung erzeugt: da man nämlich beim Tetanisiren, aus
verschiedenen Gründen, die 2-Minuten-Periode nicht immer
streng innehalten kann. Der Unterschied der beiden durch |
die längere Pause getrennten Zahlen ist natürlich grösser, als
der bei kürzerer Pause.
Liegt der Draht der Achillessehne selber an, so ist oft
der Zuwachs Null. Im vorliegenden Fall ist eine Spur
davon da; vielleicht durch Strahlung des Drahtes nach
den letzten Faserenden des Achillesspiegels zu bewirkt,
da auf der Achillessehne der Draht durch Leitung und Ver-
dampfung am wenigsten Wärme verliert, und da die Wirkung
jener untersten Faserenden am wenigsten durch Nebenschlies-
sung geschwächt wird.
Sobald man mit dem Drahte den Spiegel selber betritt, ist
die Wirkung der Verbrennung verhältnissmässig sehr gross,
sogleich aber nehmen auch die Zuwachse mit fast vollkomme-
ner Regelmässigkeit ab biszu der für das Auge am unversehrten
Muskel nicht sicher erkennbaren Grenze zwischen Achillesspiegel
und natürlichem Längsschnitt. Das Ueberschreiten dieser Grenze
spricht sich in unserem Versuche durch plötzliches Sinken des
Zuwachses aus. Doch fahren, bis nah an die Hauptsehne,
kleine positive Zuwachse zu erscheinen fort, möglicherweise
‘weil auch hier noch einzelne Fasern am Perimysium enden,
und erst ganz oben werden die Zuwachse negativ, wie es mit
den Milchsäurescheibchen schon früher geschieht. Dies Nega-
tivwerden der Zuwachse erklärt sich bekanntlich so, dass die
abgestorbene Stelle wegen der Säurung den in die Bussole sich
ergiessenden Stromzweig durch Nebenschliessung schwächt.?)
1) Monatsberichte der Akademie, 1872. S. 201. — Vergl. 1.S.558.
2) Dies Archiv, 1871. S. 570.
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 143
Uebrigens ist, wie man sieht, das Gesetz, nach welchem die
Grösse des Zuwachses von der Höhe abhängt, in der die Ver-
brennung geschieht, ganz dasselbe, wie für die Milchsäurescheib-
chen, Natürlich überzeugte ich mich auch hier davon, dass
die Abnahme des Zuwachses von unten nach oben unabhängig
von der Reihenfolge ist, in der man die Grösse des Zuwachses
an verschiedenen Stellen untersucht, mit anderen Worten, dass
man Zunahme des Zuwachses erhält, wenn man mit den Ver-
brennungen von oben nach unten vorschreitet.!) Die Abnahme
der Zuwachse von unten nach oben wäre vielleicht etwas ge-
schwinder, wüchse nicht aus dem oben S. 139 erwähnten Grunde
die Länge der Striemen nach oben zu. Eine längere Strieme, d.h.
eine solche, welche einen grösseren Theil des Muskels umgiebt,
wirkt in der That stärker als eine kürzere, wie mehrere in
gleicher Höhe nebeneinander angebrachte Milchsäurescheibchen
ihre Wirkung gegenseitig etwas verstärken.?)
Wie schon gesagt, ist die Wirkung einer Verbrennung
wenige Secunden nach dem Austauchen des die galvanokaustische
Kette schliessenden Bügels so gut wie beendet. Lässt man
den Draht an derselben Stelle liegen, und erhitzt ihn nochmals
durch 5° langes Schliessen der Kette, so ist die Wirkung stets
sehr klein, und oft negativ. Lässt man aber die Kette länger
geschlossen, so fährt die Kraft fort zu steigen. In einem Falle
z.B. war die Reihe:
Ursprüngliche Kraft + 38°3
Brandstrieme I. Kraftzuwachs
AO Elle
dsl
II.
605...+ 74
62:0
III. Der Draht bleibi liegen, bis
kein Steigen mehr erfolgt.
989. 1.%..11000,
1) Dies Archiv, 1871. S, 565. 566.
2) Ebenda, S. 566, 567,
ET RE a Su
ICh RR
We “0
144 E. du Bois-Reymond:
Anstatt einer regelrechten Strieme fand sich diesmal eine
ausgedehnte trockene, matte Stelle, in deren Mitte ein brauner
Punkt den Anfang der Verkohlung verrieth. Endlich ver-
steht es sich, dass man durch stärkeres Erglühen des Drahtes
stärkere Zuwachse erhält.
Nach diesen Vorbereitungen konnte ich mit Sicher-
heit zum eigentlichen Versuche schreiten. Mitten in einer
regelmässigen Reihe wie die oben mitgetheilte, wurde jetzt
der Gastroknemius möglichst stark und dauernd tetanisirt.
Der Tetanus führt den Faden weit in die negative Scalenhälfte,
bis zu 250 se. Mit der Zeit kommt ein Punkt, wo weder
durch Verstärkung der Schläge, noch durch Hinabrücken mit
den Thonspitzen am Nerven, der Faden in seiner auf- und ab-
schwankenden negativen Ablenkung (s. oben $. 128) erhalten
wird. Sein Sinken wird aber auch nicht beschleunigt dadurch,
dass man zu tetanisiren aufhört. Es handelt sich also um
schnell schwindende Nachwirkung. Bald wird das Sinken
langsamer, zuletzt so langsam, dass es im Laufe von 5—10
Secunden kaum noch einem Compensatorgrad entspricht. Jetzt
ist der Augenblick da. Man löst das Uhrwerk aus, und liest
vor dem Eintauchen und nach dem Austauchen des Kupfer-
bügels die Kraft ab. Stets findet sich der Zuwachs grösser
als bei der letzten Verbrennung. Da man, um einen sicheren
Vergleichspunkt zu gewinnen, immer erst mehrere Verbrennun-
gen von unten nach oben zu vornimmt, ist die Zunahme des Zu-
wachses absolut nur klein. Sie istaber relativ beträchtlich, denn
meist erscheint der Zuwachs mehr als verdoppelt. Fährt man
im Versuche fort, so zeigt sich oft auch der durch die folgen-
den Verbrennungen erzeugte Zuwachs vergrössert. Neben-
stehende Tabelle giebt ein Bild solcher Versuche.
Diese Tabelle lehrt, dass es diesmal unmöglich ist, wie
im Falle der Milchsäurescheibehen, die durch den Tetanus be-
wirkte Vergrösserung des Zuwachses allein auf Rechnung
schwindender Nachwirkung zu bringen. Denn in Reihe] z.B.
beträgt der Zuwachs durch die vierte, unmittelbar nach dem
Tetanus vorgenommene, binnen höchstens 10 Secunden ihre
Wirkung übende Verbrennung 12:6 °; der Zuwachs we-
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s.w. 145
Gastroknemius
en esse
T. II. II.
S E Ursprüng- en Ursprüng- N Ursprüng- eat
E E licheKraft yaehs, |licheKraft Wuchs. |lcheKraft Wachs.
+ 216 + 805 +75:0
n |
DIT LI 99302. 848 ...+98
29-3 86:2 83°8
II,
34 4-7 90:0 38 915 75
39 89:3 90-3
III.
40.0: 2...3°0 93:2 39 96:6 63
Tetanus Tetanus.
280 990 IT
IV. |
40:6 .. . 12:6 640 8:5 || 102-0 6:3
Tetanus
48:0 670 64:6
W.
560... 80 | 705 38 730 84
Tetanus
50°0 | 730 78:6
VI |
HER 8:5 I 76-0 30 | 862 76
61-0 |
Vo.
Se: 10)
j
gen schwindender Nachwirkung während der zwölfmal länge-
ren Zeit bis zum Beginne der fünften Verbrennung nur 7'’4. Da
die Nachwirkung sinkt, wären freilich nicht 12x 12:6=151'2 er
Zuwachs zu erwarten gewesen, wenn die erste Zunahme allein
auf schwindender Nachwirkung beruhte, aber doch sicher eine
grössere Zahl als 12-6, während eine kleinere beobachtet
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1875, LO EE
146 E. du Bois-Reymond:
wurde. Dieselbe Betrachtung kehrt in jedem einzelnen Falle
wieder.
Ich bemühte mich, dem Versuch auch noch die Ge-
stalt zu geben, dass ich bei compensirtem Strom am ruhen-
den Muskel die Ausschläge durch die Verbrennungen in Scalen-
theilen ablas, und auf der Höhe des Tetanus eine Verbrennung
vornahm, welche einen grösseren Ausschlag liefern sollte. Ich
stiess aber dabei auf die Schwierigkeit, dass ich den Muskel
nicht stark genug spannen konnte, um ihn im Tetanus unbe-
weglich zu machen, weil dann die Brandstriemen unregelmässig
klafften und der Muskel dort einriss. Durch die Gestaltver-
änderung beim Tetanus wurde der Draht in die Höhe ge-
schnellt und kam an eine unrichtige Stelle zu liegen; suchte
ich ihn erst während des Tetanus anzulegen, so verschob er
sich bei dessen Nachlass. Ausserdem aber schien in den Ver-
suchen, welche trotz diesen Schwierigkeiten einigermaassen ge-
langen, während des Tetanus die Verbrennung nicht gehörig
auf Erhöhung der Stromkraft zu wirken. Dies macht auf einen
weiteren Fehler des Versuchsplanes aufmerksam. Durch Her-
stellung künstlichen Querschnittes wächst die negative Schwan-
kung, und der positive Zuwachs wegen aufgehobener Nachwir-
kung muss zum Theil dadurch aufgewogen werden.
$. XXII. Einerleiheit und gemeinsamer Ursprung
von Parelektronomie und terminaler Nachwirkung
aus der lebendigen Kraft der am Querschnitt bran-:
denden Zuckungswelle werden wahrscheinlich
gemacht.
Wie dem auch sei, die vorigen Versuche lassen keinen
Zweifel daran, dass die terminale Nachwirkung mit der Par-
elektronomie in ihren wesentlichen Zügen übereinstimmt. Wie
so oft, wenn man meint, etwas verstehe sich von selber, irrte
ich mich also, als ich in der zweiten Abtheilung des zweiten
Bandes meiner „Untersuchungen“ sagte: „Es versteht sich von
„selber, dass die Erscheinung der Nachwirkung des Teta-
„aus nichts zu schaffen hat mit dem parelektronomischen Zu-
„stande*“, und ebenda S. 157: „Die oben erwähnte Frage nach
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s.w. 147
„der wahren Bedeutung der Nachwirkung, ob sie beruhe auf
„einer Verminderung der elektromotorischen Kraft des Muskels
„mit Ausschluss der parelektronomischen Schicht, oder auf einer
„vorübergehenden Erhöhung der Kraft dieser Schicht allein, ist
„zu Gunsten der ersteren Ansicht zu entscheiden.“ Der er-
stere Ausspruch ist falsch, der zweite dahin zu ändern, dass
beide darin aufgestellte Möglichkeiten in Wirklichkeit zugleich
stattfinden; indem erstere Möglichkeit durch die innere, letz-
tere durch die terminale Nachwirkung verwirklicht wird. Um
dies sicher behaupten zu können, waren freilich noch zwei
Jahrzehnde tiefgehender Forschung nöthig.
Jetzt kann die Frage nur noch sein, ob auch die genröhn
liche Parelektronomie, deren Ursprung uns bisher unbekannt
war, als Nachwirkung während des Lebens geschehener Zu-
sammenziehungen zu deuten sei. Von vorn herein erscheint
diese Vorstellung gerechtfertigt. Der einzige Unterschied, den
wir zwischen Nachwirkung und Parelektronomie noch kennen,
besteht in grösserer Flüchtigkeit der Nachwirkung auf ihren
höheren Stufen. Allein dieser Unterschied ist nur ein grad-
weiser. Wie schon gesagt, kommen alle möglichen Stufen der
Nachwirkung bis zu solcher Höhe vor, dass der Strom gleich-
sam sich nicht aus der negativen Schwankung erholt.
Wenn es richtig ist, dass Parelektronomie nichts ist,
als terminale Nachwirkung, so ist also jetzt die nächste Frage,
warum unter Umständen die Nachwirkung nachhaltiger sei als
sonst. Ursprünglich hielt ich bekanntlich die Kälte für Ursache
der Parelektronomie, weil ich die Erscheinung zuerst an den
Muskeln erkalteter Frösche wahrnahm, und weil Erkaltung le-
bender Frösche ein sicheres Mittel abgiebt, sie herbeizuführen.
Es blieb aber räthselhaft, weshalb dies nicht auch mit ausge-
schnittenen Muskeln gelang. Als ich zu der neuen, hier mit-
getheilten Einsicht gelangt war, durfte ich glauben, zugleich.
auf den Grund gestossen zu sein, wesbalb es nicht gelinge,
ausgeschnittene Muskeln durch Erkaltung parelektronomisch zu
machen. Nichts schien klarer, als dass es in diesem Fall
an den nöthigen Zusammenziehungen fehle. Ich hoffte aber
nun, dass es mir an tief erkalteten Muskeln glücken würde,
10*
TEEN TEN
eh
148 E. du Bois-Reymond:
die Nachwirkung regelmässig als Parelektronomie sich fixiren
zu sehen.
Zuerst verfuhr ich nur wie gewöhnlich an Muskeln eis-
kalter Frösche. Als hier jeder auffallende Erfolg ausblieb,
glaubte ich, dies liege vielleicht daran, dass die Muskeln zu
warm wurden, bis ich sie in den Bussolkreis brachte und te-
tanisirte. Da ich nicht mit allen meinen Vorrichtungen in die
Kälte mich begeben konnte, vergrub ich bei Winterkälte von
4—5° C. Frösche in Schnee, denen ich am Rücken ein Zink-
elektrodenpaar angebracht hatte, und tetanisirte sie, dem Erfrieren
nahe, zur Erschöpfung auf die früher von mir beschriebene Art.?)
Jetzt musste es doch gleichgültig sein, ob die Muskeln im
warmen Zimmer untersucht wurden, . da der blosse Aufenthalt
der Muskeln in der Wärme an der einmal entstandenen Par-
elektronomie nichts ändert.?) Allein auch so erhielt ich keinen
ungewöhnlichen Grad von Parelektronomie. Der Einfluss der
Kälte auf Entstehung der Parelektronomie erscheint überhaupt
zweifelhaft, seit auch die Muskeln von Warmblütern parelek-
tronomisch gefunden wurden.?)
Die Ursache, weshalb unter gewissen Umständen die ter-
minale Nachwirkung sich als Parelektronomie gleichsam fixirt,
bleibt uns also vorläufig unbekannt. Dagegen lässt sich über
die Entstehung der terminalen Nachwirkung selber eine Ver-
muthung aufstellen. :
„Man kann sich... . denken,“ sagte ich schon vor zwölf
Jahren in der Abhandlung „Ueber das Gesetz des Muskel-
stromes“, „dass gewisse Vorgänge, die sich bei der Verkürzung
„von der gereizten Stelle im Muskelbündel fortpflanzen, in
„dessen Verlaufe keine Spur hinterlassen, weil in jeder Quer-
„scheibe‘) die Störung auf Kosten der folgenden Scheibe sich
1) Monatsberichte der Akademie, 1859. S. 315.
2) Untersuchungen u.s. w. Bd. II. Abth. II. S. 135. 136.
3) Untersuchungen u.s. w. Bd. II. Abth. II. S. 123. — Vergl.
dies Archiv, 1871. S. 599.
4) Es versteht sich, dass das Wort „Querscheibe“ hier geometrisch,
nicht histologisch genommen ist, d.h. nicht, um damit, wie es seitdem
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s.w. 149
„ausgleicht, dass aber am Ende des Bündels eine veränderte
„Anordnung hinterbleibt, weil hier die Möglichkeit jener Aus-
„gleichung fehlt“.')
Bei Betrachtung der in der Muskelfaser fortschreitenden
Zuckungswelle muss man in der That fragen, was denn aus
ihr werde, wenn sie an’s Faserende gelangt. Zurückgeworfen
wird sie nicht, sondern Welle um Welle erlischt scheinbar
spurlos am Muskelquerschnitt. Die in diesen brandenden Wel-
len enthaltene lebendige Kraft kann nicht verschwinden. Hr.
Bernstein neigt zur Annahme, dass sie Wärme werde.?) Es
ist aber gewiss keine unberechtigte Vermuthung, einen Theil
davon in die terminale Nachwirkung sich umsetzen zu lassen.
Doch bleibt zu erklären, warum bei künstlichem Quer-
schnitt keine terminale Nachwirkung auftritt. Die Antwort
liegt nahe: deshalb nicht, weil die am künstlichen Querschnitt
entstehende parelektronomische Schicht sogleich wieder zerstört
wird. Die terminale Nachwirkung lässt sich, wie die Parelek-
tronomie, darauf zurückführen, dass am Querschnitt eine ein-
fache Lage dipolar elektromotorischer Molekeln positive Pole
nach aussen kehrt. Wird diese Lage in der Entstehung zer-
stört, so kommt keine terminale Nachwirkung zu Stande. An
einem Grunde für die Zerstörung fehlt es am künstlichen
Querschnitte nicht. Er liest in der dort entstehenden Säure.
Aeltere Querschnitte ätzen den Achillesspiegel an, denn da-
durch ward ich auf die Säurebildung im absterbenden Muskel
geführt.?) Frische mechanische Querschnitte freilich ätzen den
Achillesspiegel minder stark an, doch sieht man die Kraft eines
aufliegenden Muskels wegen der Verunreinigung des Thonschil-
des mit Säure alsbald steigen, und zudem gehört mehr Säure
gebräuchlich ward, einen der in der Länge der Faser aneinander
stossenden Bestandtheile der contractilen Substanz zu bezeichnen.
1) Dies Archiv, 1863. S. 687, 688.
2) Untersuchungen über den Erregungsvorgang u.s. w. Heidel-
berg 1871. S. 155. 156.
3) Monatsberichte u.s.w. 1859. S. 292; — De Fibrae mus-
eularis Reactione ut Chemicis -visa est acida. Berolini 1859.4. p. 7.11.
— Untersuchungen u.s. w, Bd. II. Abth. II. S. 83 ff.
150 E. du Bois-Reymond:
dazu, um durch den sehnigen Ueberzug die Muskelsubstanz -
anzugreifen, als um eine an die gesäuerte Schicht stossende.
Molekellage unwirksam zu machen.!)
Im Falle chemischen Querschnittes könnte man sich auch
auf die ätzende Flüssigkeit berufen wollen, welche den Quer-
schnitt erzeugte; allein dies ist weder nöthig noch richtig, da
unstreitig die lebende Muskelsubstanz von der eindringenden
ätzenden Flüssigkeit stets durch eine Schicht abgestorbener
Substanz getrennt bleibt, deren Säure hinreicht, die in ihrer
nächsten Nähe entstehende parelektronomische Schicht zu zer-
stören. Selbst wenn die ätzende Flüssigkeit alkalisch ist, dürfte
dies der Vorgang sein.
Der vom künstlichen Querschnitt aus fortschreitende Tod
des Muskels wäre also Ursache, dass dort keine terminale Nach-
wirkung zu Stande kommt. Wie langsam er auch fortrücke,
sein Fortschritt wäre schnell genug, um die im Tetanus stets
an der Demarcationsfläche sich erneuernde verkehrt wirkende
Molekellage gleichsam in statu nascenti zu vernichten.
Am Sartorius und Cutaneus femoris besteht nicht selten
Parelektronomie fort, nachdem ein Stück vom Muskelende ab-
getragen ward.?) Hier giebt es eine parelektronomische Strecke,
von der nur die dem Schnitte nächste Schicht dem Angriffe
sogleich ausgesetzt wird. Es wäre der Mühe werth zu prüfen,
ob nicht auch innerhalb dieser Strecke terminale Nachwirkung
sich entwickele, und ob nicht die negative Schwankung des von
solchem künstlichen Querschnitt abgeleiteten Stromes etwas
vom Charakter der Schwankung bei natürlichem Querschnitt
habe.
Ueber Nachwirkung am Nerven ist nichts bekannt. Sollte
am künstlichen Nervenquerschnitt keine terminale Nachwirkung
sich finden, obschon im absterbenden Nerven keine Säure ent-
steht (s. oben S. 131), so brauchte man deshalb die Vorstel-
lung noch nicht aufzugeben, dass die Säurebildung die termi-
nale Nachwirkung am künstlichen Muskelquerschnitt verhindert.
1) Dies Archiv, 1867. S. 270 ft.
2) Dies Archiv, 1863. S. 685; — 1867. 8. 264.
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s.w. 151
Zwar dürfte man sich nicht darauf berufen, dass vielleicht die
Innervationswelle eine geringere Summe lebendiger Kräfte vor-
stellt, als die Contractionswelle. Denn die negative Schwan-
kung ist am Nerven verhältnissmässig bedeutender, als am
Muskel. Nicht bloss beträgt die negative Schwankung am Ner-
ven ein Vielfaches der ursprünglichen Kraft (s. II. S. 651),
sondern diese selber übertrifit wahrscheinlich die ursprüngliche
Kraft des Muskels.!) Allein auch am Nerven schreitet der Tod
vom Querschnitt aus fort, so dass auch ohne Säurung ein ver-
derblicher Einfluss der Querschnittsnähe stattfindet. Aus dem-
selben Grunde wäre wohl kaum zu erwarten, dass am künst-
lichen Querschnitt erkalteter Muskeln terminale Nachwirkung
sich zeige, wo auch keine Säure entsteht.)
Ueber Parelektronomie und terminale Nachwirkung am
Nerven würde man vielleicht an vernarbten centralen Stümpfen
von Muskelnerven etwas erfahren.
$S. XXIL Von der Rolle, welche die terminale
Nachwirkung bei der negativen Schwankung des
Muskelstromes im Tetanus spielt.
Nun erst sind wir im Stande, in den Erörterungen des
XIX. Paragraphen mit gehöriger Einsicht fortzufahren. Es
fragt sich nämlich, ob bei Berücksichtigung der terminalen
Nachwirkung die dort gezogenen Schlüsse in Kraft bleiben.
Die terminale Nachwirkung scheint bei der Schwankung in
doppelter Art berücksichtigt werden zu müssen. Erstens sum-
mirt sich ihre negative Kraft in jedem Augenblick algebraisch
zu der in demselben Augenblicke bestehenden Kraft des schwan-
kenden Stromes. Zweitens muss jene negative Kraft, wenn
wirklich terminale Nachwirkung und Parelektronomie einerlei
sind, an der Schwankung in gleichem Maass sich betheiligen,
wie die schon vorhandene negative Kraft der parelektronomi-
schen Strecke.
1) Dies Archiv, 1867. S, 440.
2) Monatsberichte u.s. w. 1859. S. 309; — De Fibrae musecula-
ris Reactione ut Chemicis visa est acida etc. p. 25.
152 | E. du Bois-Reymond:
Um dies in unsere Formeln aufzunehmen, vernachlässigen
wir zunächst die innere Nachwirkung und die Ermüdung. Die
terminale Nachwirkung, die in den Erörterungen dieses Para-
graphen schlechthin Nachwirkung heisst, schreiben wir als
Function der Zeit N«. Der Tetanus beginne zur Zeit t=0.
Dann ist N« Null für £=0; es wächst mit? nach unbekanntem
Gesetze, vermuthlich in einer gegen die Abscissenaxe concaven
Curve, welche sich einer dieser Axe parallelen Geraden asymp-
totisch anschliesst. Ueber die Ordinate dieser Geraden wissen
wir nichts Sicheres. Wir können nur aussagen, dass sie mit
P wächst, dass sie stets viel <P ist und dass bei Beseitigung
von P auch N«, zu bestehen aufhört.
Zur Zeit t, ist
Un = 0M — u(PIENK«))
0, —- U,=(1-a)M-(1-a)P +0.Nk).
Wir haben nun, wie wir im $. XIX ohne Berücksichti-
sung der Nachwirkung thaten, nacheinander »=1, =«@ und
>a zu Setzen und zu untersuchen, wie nach Hinzufügen des
die Nachwirkung vorstellenden Termen unsere Ausdrücke mit
dem Thatbestande stimmen. Dabei ist aber jetzt zu bedenken,
dass 1. durch Hinzufügen jenes Termen U, Function der Zeit
ward; 2. mit P stets zugleich N), =0 zu setzen ist, nicht
aber umgekehrt, oder wenigstens nicht im Falle, wo N«, durch
t,=0 verschwindet.
Die gesuchte Uebereinstimmung wird demnach analytisch
darin sich äussern, dass 1. U, — U; stets, auch für jeden
Werth von i,, positiv bleibt; 2. U, — U, durch Nullsetzen
von Pund N absolut wächst; 3. eben dadurch das Verhältniss
0, — U, : U, abnimmt.
Bro
bedeutet, wie man sich erinnert, Nichtbetheiligung der nega-
tiven Kraft der parelektronomischen Strecke an der Schwan-
kung. Auch die Kraft der Nachwirkung wäre nach unseren
jetzigen Annahmen der Schwankung entzogen. «=1 macht
für t=t,
U, — U; = (1-a)M + a.N«,).
SE nd nn A Zn an 2
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 153
(1l—a)M ist auch ohne den die Nachwirkung vorstellenden
Termen stets positiv, vollends mit diesem Termen für jeden
Werth von f,. Auch nimmt das Verhältniss
(1-a)M +0.Nk)
M-:P
durch Nullsetzen von P und N unter allen Umständen ab, da
der Nenner vergrössert, der Zähler für jeden Werth von ,>0
verkleinert wird. Dagegen nimmt für jeden solchen Werth von
t, (l-a)M+a-Ne«), ab, statt zu, wenn N«, vernichtet wird;
für ,=0 bleibt der Ausdruck constant. Dje Annahme «»=1
ist daher unzulässig.
Ted
bedeutet, dass die negative Kraft der parelektronomischen Strecke,
wie auch die der Nachwirkung, in gleichem Maasse schwankt,
wie die positive Kraft des Gesammtmuskels. Diese Voraus-
setzung, von allen die natürlichste, mussten wir im $. XIX.
aufgeben, weil dabei die Schwankung dem ursprünglichen
Strome stets proportional wurde, d. h. klein bei kleinem posi-
tiven Unterschiede M— P, Null an dem wegen Parelektrono-
mie stromlosen, absolut positiv an dem aus demselben Grunde
negativ wirksamen Muskel. Auch blieb das Verhältniss der
Schwankung zum Strom in der Ruhe bei künstlichem Quer-
schnitt dasselbe, wie bei natürlichem.
Jetzt stellen sich beim ersten Blicke die Aussichten für
diese Annahme günstiger. Durch die Nachwirkung wird die
Proportionalität zwischen Schwankung und ursprünglichem
Strom aufgehoben, aus welcher die der Wirklichkeit widerspre-
chenden Folgen der Annahme entsprangen. Man hat für t=1,
U, —-U,=(1l-a)(M-—-.P)+&. Na).
Ist also M — P sehr klein, oder Null, so erschiene doch, durch
Nachwirkung vorgespiegelt, negative Schwankung in ausrei-
chender Grösse. Durch Nullsetzen von P und N wüchse die
Schwankung absolut, so lange
N«)
pP =
1— a
a
154 E. du Bois-Reymond:
oder < als 3 für «=0'6. Wir haben keinen Grund, anzuneh-
men, dass dies Verhältniss je. überschritten werde.
Man hat sodann
(1 —a)(M-P) +4: Ne, > (1 _ a)M
In M
für MZP.
Weiter aber geht die Uebereinstimmung der neuen Aus-
drücke mit den Thatsachen nicht. Für M< P wird die linke
Seite letzterer Ungleichheit die kleinere. Auch ist für P>M
(1-a)(M-P)+o-Na,>0
nur so lange wie
@.Nae)>(l—a)(M-P),
also negativ für kleine Werthe von ,; d.h. der absolut nega-
tiven Schwankung, welche bei hinlärglicher Dauer des Tetanus
dadurch. vorgespiegelt würde, dass die Nachwirkung die abso-
lut positive Schwankung übercompensirte, ginge ein absolut,
positiver Ausschlag voraus.
Aber noch aus anderen Gründen ist die Schwankung bei
M= oder wenig > P nicht bloss durch Nachwirkung zu er-
klären. Zwar nicht deshalb, weil dabei keine secundäre Zu-
ckung stattfinden könnte. Denn um diese zu rechtfertigen,
genügte, wie schon bemerkt (S. oben 8.126), die kleinste Un-
gleichzeitigkeit in der Zusammenziehung der verschiedenen
Theile des Muskels. Allein die Erscheinungen am Rheotom
lassen jene Auslegung nicht zu. Hier sieht man die Schwan-
kung im Latenzstadium auftreten, und es ist überhaupt keine
Nachwirkung nachweisbar (s. oben I. S. 579. 593. — II. S. 667).
Ebenso zeigt sich die Schwankung bei Einzelzuckungen, wo
noch weniger daran zu denken ist, sie bloss auf Nachwirkung,
zurückzuführen.
Ill. +1. >22 200.
Sehen wir nun zu, wie die Dinge bei der Annahme
1>aD»a sich gestalten, welche schon ohne Berücksichtigung
der Nachwirkung am besten den Thatsachen sich anschloss. Wie
man sich entsinnt, bedeutet diese Annahme, dass die negative
Kraft der parelektronomischen Strecke, zu der wir jetzt auch
die der Nachwirkung rechnen, zwar an der Schwankung
a BE u 2a ala ige ln la nl lu Senn nn
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 155
sich betheiligt, doch in geringerem Maass als die positive Kraft
des Gesammtmuskels. Setzen wir wieder (s. oben S. 127)
a=na, wo n>|1, so hat man für t=t,
U,- U,=(1- a)M- (1-na)P + na.N«).
Dieser Werth ist wohl stets positiv, denn er ist es, so lange
M na. Ne) l—-na
USERN ©
wir sehen aber schon S. 127, dass auch ohne den links hinzu-
gekommenen, die Nachwirkung vorstellenden 'Termen diese Un-
gleichheit immer erfüllt sein wird, sobald für P<1'5 M und
v >06, n> = Jetzt wird n wegen jenes Termen sogar
noch kleiner sein können. Vernichtung von P und N verklei-
nert sodann das Verhältniss
A-a)M - (1 ona)P+na- Ne)
MER 4
denn wegen n> 1 hat man
(a I) rn. Ney > 0.
Endlich Vernichtung von P und N vergrössert absolut die
Schwankung, so lange na-N«) < (L—-na)P, d. h. wieder so lange
N, 2
(s. oben 8. 153. 154.) wie > <5-
Man sieht, dass die Annahme « >«a bei Berücksichtigung
der Nachwirkung abermals am besten besteht, noch besser als
ohne deren Berücksichtigung, denn sie führt zu einem der Null
gleichen oder absolut positiven Ausschlag unter gewissen Be-
dingungen später als ohne Nachwirkung. Sie verträgt sich,
wie kaum bemerkt zu werden braucht, mit den Beobachtungen
am Rheotom und mit dem Auftreten von Einzelschwankungen.
Wenn wir im Vorigen die Kraft der Nachwirkung sogleich
wieder an der Schwankung sich betheiligen liessen, so ist
übrigens diese Voraussetzung nicht so aufzufassen, als werde
dadurch die Uebereinstimmung unserer Formeln mit der Wirk-
lichkeit bedingt, sondern so, dass auch. bei jener Voraussetzung
diese Uebereinstimmung stattfinde. Man kann in den Formeln
den Coöfficienten na in dem die Nachwirkung ausdrückenden
Termen —=]1 setzen, ohne dass die Formeln aufhören, im All-
gemeinen so gut wie früher der Wirklichkeit zu entsprechen.
156 E. du Bois-Reymond:
Wir haben bisher innere Nachwirkung und Ermüdung ver-
nachlässigt. Es fragt sich, wie bei deren Berücksichtigung die
. Dinge sich gestalten. Beide würden in unseren Formeln als
von der Zeit abhängige Coöfficienten einzuführen sein. Es
wäre besonders zu erwägen, ob die innere Nachwirkung (von
der Ermüdung scheint dies nicht zweifelhaft) auch die Kräfte
der parelektronomischen Strecke ergreife oder nicht. Doch
wollen wir diese weiteren Verwickelungen und feineren Züge
der Erscheinung vorläufig bei Seite lassen. Die innere Nach-
wirkung im Vergleich zur terminalen Nachwirkung ist nament-
lich bei kürzerer Dauer des Tetanus so unbedeutend, dass un-
sere Schlüsse durch deren Berücksichtigung kaum eine Aende-
rung erleiden würden. Auf eine aus dem Thatbestande sich er-
gebende bestimmte Grössenbeziehung zwischen innerer Nach-
wirkung und Ermüdung kommen wir noch zurück (s. unten
S. 160).
Wir halten uns also für berechtigt, bis auf Weiteres von
der Annahme « > a auszugehen, und unsere Vorstellung vom
Hergange bei der Schwankung des vom natürlichen Querschnitt
abgeleiteten Stromes gestaltet sich folgendermaassen.
Während die terminale Nachwirkung wächst, und einen
Zuwachs der negativen Kraft der parelektronomischen Strecke
vorstellt, bekämpfen sich zwei relativ negative Schwankungen:
l. die auch absolut negative Schwankung der positiven Kraft
des Gesammtmuskels; 2. die absolut positive Schwankung der
negativen Kraft der parelektronomischen Strecke und der Nach-
wirkung. Die absolut positive Schwankung ist im Vergleich
zur ursprünglichen Kraft die geringere, daher die absolut re-
lative Schwankung in der Regel (s. unten) die Oberhand hat.
Die so resultirende Schwankung ist nothwendig absolut kleiner
als die negative Schwankung bei künstlichem Querschnitt, ja
es sind Fälle anzunehmen, in welchen der grösste Theil der
sich kundgebenden Schwankung nur Nachwirkung ist.
Es scheint sick aber so zugleich eine einfache Erklärung
zu ergeben für den eigerthümlichen Verlauf der Schwankung
bei natürlichem Querschnitte, für deren stockenden, ja von
Rückschritten unterbrochenen Gang. Zu dieser Erklärung
i
TED : €
ER IRRHT a dd udn DE mn a AL dd" m Ham ln N u >
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s.w. 157
stehen uns jetzt sogar zwei Mittel zu Gebote. Man kann sich
erstens denken, dass n nicht constant ıst, sondern auf- und
abschwankt. Man kann sich zweitens denken, dass einer ge-
wissen Grösse der Nachwirkung ein Zustand labilen Gleichge-
wichtes entspricht, und dass sie dann leicht auf einen geringe-
ren Werth zurückspringt, von dem aus sie langsamer wieder
anwächst, etwa wie die Polarisation beim Erschüttern der Elek-
troden.‘) Auch könnte beides zu gleicher Zeit stattfinden.
Die innere Wahrscheinlichkeit beider Annahmen ist indess
gering. Es widerspricht der Ermüdung, dass die negative
Schwankung der parelektronomischen Kräfte zeitweise wieder
an Stärke zunehmen soll, und die Annahme, dass die termi-
nale Nachwirkung einem Zustande labilen Gleichgewichtes ent-
spreche, passt schlecht zur Dauerbarkeit der Parelektronomie,
die mit ihr einerlei sein soll.
Es wäre nutzlos, neue Vermuthungen zu ersinnen, um
diesen Schwierigkeiten zu begegnen, und das Gerathenste wird
sein, durch fortgesetzte Versuche weiteren thatsächlichen Boden
zu erwerben.
Wenn der Strom sich aus der terminalen Nachwirkung
nicht erholt, sondern dauernd kleiner, ja verkehrt bleibt, und
bei erneutem Tetanus nur sehr geringe absolut negative Schwan-
kung entsteht, obschon der Muskel sich noch gut zusammen-
zieht, so ist dies wohl dahin zu deuten, dass dann auch der
erste negative Ausschlag wesentlich nur durch die sich ent-
wickelnde und als Parelektronomie fixirende Nachwirkung be-
dingt war, und eine eigentliche Schwankung fehlte, weil die
Ungleichheit («) (oben S. 155) sich nicht erfüllt fand, sondern
deren Unterschied fast Null war.
Sollte bei Tetanus eines mit natürlichem Querschnitt auflie-
genden regelmässigen Muskels künftigeinmal im ersten Augenblick
absolut positiver Ausschlag erfolgen, so wäre darin nicht etwa
eine unerhörte Ausnahme von dem Satz zu sehen, dass negative
Schwankung die Zusammenziehung begleitet. Sondern diese
Erscheinung würde zunächst so auszulegen sein, dass die oben
1) Untersuchungen u.s. w. Bd, I. S. 212.
lie
BENNER WERNER. -
158 E. du Bois-Reymond:
S. 155 angegebenen Bedingungen für U, — U, > 0 nicht er-
füllt waren. Ich lege Gewicht hierauf, weil ich im Laufe mei-
ner zahlreichen Versuche einige Mal beim Tetanisiren des
mit Aequator und unterem sehnigen Ende aufliegenden Sartorius
zuerst positive, dann negative Wirkung erhielt, was mir da-
mals räthselhaft blieb. Nach Willkür experimentiren lässt
sich hierüber so wenig, wie über die sich ganz in Parelektro-
nomie verwandelnde Nachwirkung (s. oben S. 136). Mau muss
warten, bis Einem gelegentlich solch ein Fall begegnet, eine
Sachlage, welche planmässiger Erforschung so ungünstig wie
möglich ist.
In der ersten Abtheilung, S. 592. 595, erwogen wir die
Möglichkeit, den Unterschied zwischen den Zeichen der Schwan-
kung des Gastroknemiusstromes bei unvollkommenem und bei
vollkommenem Tetanus aus der nur bei letzterem sich ent-
wickelnden Nachwirkung zu erklären. Jetzt braucht kaum be-
merkt zu werden, was damals noch nicht gesagt werden konnte,
dass mit Nachwirkung; dort die terminale gemeint war.
$. XXI. Graphische Darstellung des elektrischen
Vorganges im Tetanus.
Fig. 2 ist die graphische Darstellung der im vorigen Para-
graphen entwickelten Vorstellung vom elektrischen Vorgang im
Tetanus. Sie ist abermals eine weitere Entwickelung der ur-
sprünglichen in meinen „Untersuchungen“ gegebenen Figur,
welche den Verlauf des Muskelstromes im Tetanus erläuterte,
soweit er damals bekannt war.!) Zuerst zeigte diese Figur
nur die Ktenoide mit abwärts gerichteten Zähnen von verschie-
dener Länge in verschiedenen Abschnitten, um zu verdeut-
lichen, wie der Abnahme der Stromstärke im Tetanus, sobald
diese Abnahme nicht stetig sei, verschiedene Länge der Zähne
entsprechen könne (vergl. oben II. S. 611). Als ich später die
Nachwirkung fand, wiederholte ich dieselbe Figur mit dem
Unterschiede, dass die Länge der Zähne unbestimmt blieb, die
Ktenoide aber, um die mit der Dauer des Tetanus zunehmende
1) A. a. O. Bd. I. Abth. I. Taf. I. Fig. 89. S. 91. 121.
ne nu can na ci = ln nn u
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s. w. 159
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Fig. 2.
Nachwirkung darzustellen, zwischen je zwei Zähnen immer
weniger hoch wieder emporstieg. Mit wechselnder Dauer des
Tetanus wurde gleichsam der Rücken des Kammes höher.)
Jetzt liegt uns ob, in die Figur auch noch die nun er-
kannte Schwankung der parelektronomischen Kraft aufzunehmen
1) A. a. O. Bd. II. Abth. II. Taf. V. Fig. 145. S. 157.
Be iM
a it,
RN
160 E. du Bois-Reymond:
und die innere von der terminalen a: zu scheiden.
Dies geschieht folgendermaassen.
In den beiden Abschnitten I. und II. der Fig. 2 stellen
die Abscissenaxen Oi die Zeit vor. Die Abscissenwerthe sind
dieselben. Bei r fängt Tetanisiren an, bei r, ist die letzte
Einzelschwankung abgelaufen. In I. X sieht man die Einzel-
schwankungen der Kraft bei künstlichem Querschnitt, in I. N
die Einzelschwankungen der parelektronomischen Kraft und der
terminalen Nachwirkung, in II. X die Gesammtschwankung
bei künstlichem, in II. N die Gesammtschwankung bei natür-
lichem Querschnitte, wie diese Schwankungen an der aperiodi-
schen Bussole mit leichtem Spiegel sich darstellen. _Wir be-
trachten zuerst Abtheilung I. in ihren beiden Unterabtheilun-
gen K und N. a
Die in I. X über der Axe verlaufende Curve m, mm, ist
die der Kraft des Muskels im Tetanus bei künstlichem Quer-
schnitt. Sie unterscheidet sich von der zuletzt von mir in den
„Untersuchungen“ a. a. O. gegebenen Curve dadurch, dass jetzt
u TR
RAIN ER =
die Ktenoidenzähne, deren Länge dort unbestimmt blieb, be-
stimmte Länge erhielten. Wir lassen den ersten Zahn sich der
Axe nähern, nicht aber sie erreichen. Wenn nämlich auch die
Einzelschwankung gewöhnlich die Axe erreichte, was nicht der
Fall ist, dürften wir vorläufig doch der Polarisation halber die-
sem Verhalten keine wesentliche Bedeutung beilegen, sondern
müssten darin ein zufälliges Zusammentreffen sehen (s. oben
Il. S. 649).
Die Länge der Ktenoidenzähne nimmt mit wachsender
Dauer des Tetanus wegen der Ermüdung schnell ab: denn
trotz der wachsenden inneren Nachwirkung führt Tetanus bei
künstlichem Querschnitte nicht zu beständiger Ablenkung.?)
Die Zahnlänge muss folglich so schnell abnehmen, dass die
Verkürzung der Zähne die Schwächung des Stromes in den
Intervallen zwischen den Zähnen übercompensirt (vergl. oben
S. 157). Das Gesetz, wonach die Abnahme geschieht, ist uns
unbekannt; in Ermangelung einer einigermaassen berechtigten
Vermuthung darüber ist esin der Figur als linear angenommen.
1) 8.1. S. 529. 530.
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s.w. 161
Zwischen je zwei Zähnen steigt die Curve immer weniger
hoch empor. Dadurch stellen wir jetzt ausschliesslich die in
der Masse des Muskels stattfindende innere Nachwirkung vor,
Da die innere Nachwirkung vermuthlich einem oberen Grenz-
werth asymptotisch zustrebt, zeichnen wir die Ourve ihres
Wachsthumes einstweilen convex gegen die Abscissenaxe. Nach
Aufhören des Tetanus nimmt die Nachwirkung zuerst schneller,
dann langsamer, also in einer gegen die Axe concaven Curve
ab. Vollkommen erholt sich an dem des Kreislaufes beraubten
Muskel die Kraft wohl nie.
Am besten betrachten wir nun sogleich den Abschnitt II. X
der Figur, der den Verlauf der Gesammtschwankung bei künst-
lichem Querschnitte zeigt. Die Curve k,Akk, steht zur Curve
m, mm, in folgender Beziehung.
Der zwischen ihr und der Geraden k, k, begriffene Flä-
chenraum ist (der Idee nach) gleich dem Flächenraume zwi-
schen der Curve m, mm, und der Geraden m, m,, und diese
‘Gleichheit der Flächenräume besteht auch zwischen je zwei
Ordinaten, deren Abscissenunterschied nicht unter eine gewisse
Grösse sinkt, welche um so kleiner ist, je kleiner die Beruhi-
gungszeit des Magnetspiegels.') Denn wäre letztere kleiner,
als ein gewisser sehr kleiner Werth, so würde der Spiegel die
Einzelschwankungen unverändert mitmachen. Man bemerkt
an der Curve der Gesammtschwankung den stetigen Gang; das
schnell nach Beginn des Tetanus eintretende Minimum M, auf
dessen absolute Grösse wir noch zurückkommen; das darauf
folgende Wiederansteigen der Kraft, dadurch bedingt, dass der
durch die Ktenoidenzähne bedeckte Flächenraum schneller ab-
nimmt, als die innere Nachwirkung wächst; das plötzliche An-
steigen bei Aufhören des Tetanus; endlich die verhältnissmäs-
sig geringe innere Nachwirkung.
Die bei I. N unter der Axe verlaufende Curve p,pp, ist
die der negativen Kraft der parelektronomischen Schwankung
im Tetanus nach unserer jetzigen Anschauung. Um der Vor-
stellung einen Anhalt zu geben, ist Op, —=(0m, gemacht, d.h.
1) Vergl. Monatsberichte der Akademie, 1869. S. 835.
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1375. 11
162 E. du Bois-Reymond:
der ruhende Muskel ist als stromlos wegen Parelektronomie
angenommen. Bei Beginn des Tetanus geht auch die Curve
Pop P, In eine Ktenoide über, die zum Unterschiede von der
zuerst betrachteten positiven die negative Ktenoide heissen
soll. Die Zähne der negativen Ktenoide haben mit denen der
positiven Ktenoide gleiche Abseissen, sind aber aufwärts ge-
richtet. Die Zähne beider Ktenoiden liegen somit im Allge-
meinen symmetrisch zur Abscissenaxe. Sie unterscheiden sich
aber von einander durch ihre Länge und durch das Gesetz,
wonach die Höhe ihres Ursprunges mit der Dauer des Tetanus
sich ändert.
Die negativen Zähne sind verhältnissmässig, also für
0p, = 0m, auch absolut, kürzer als die positiven, weil die ne-
gative Kraft der parelektronomischen Strecke an der Schwan-
kung weniger sich betheiligt, als die positive Kraft des Ge-
sammtmuskels (S. oben S. 156).
Beispielsweise ist in der Figur der erste negative Zahn
/;mal so lang gemacht, wie der erste positive.
Während als Ausdruck der inneren Nachwirkung die po-
sitive Ktenoide zwischen je zwei Zähnen weniger hoch
emporsteigt, steigt als Ausdruck der terminalen Nach-
wirkung die negative Ktenoide zwischen je zwei Zähnen
im Allgemeinen immer tiefer hinab. Die positiven Zähne
entspringen aus immer geringerer Höhe über, die negati-
ven im Allgemeinen aus immer grösserer Tiefe unter der
Abscissenaxe. Weil aber die terminale Nachwirkung die in-
nere Nachwirkung übertrifft, so ändert sich die Höhe, aus der
die Zähne entspringen, für die negative schneller als für die
positive Ktenoide. Hört der Tetanus auf, so ist die Kraft der
parelektronomischen Strecke vergrössert um die der terminalen
Nachwirkung, welche in einer gegen die Abscissenaxe zuerst viel-
leicht concaven, dann convexen Curve sehr allmählich abnimmt.
Bisher sind wir unserer Sache ziemlich gewiss. Von jetzt
ab wird Alles hypothetisch, indem es der Möglichkeiten,
durch welche wir die Erscheinungen formell erklären können,
mehrere giebt, aber kein Mittel, dazwischen zu entscheiden.
Es fragt sich nämlich jetzt, wie lang die folgenden nega-
tiven Zähne zu machen seien, und wohin wir ihren Ursprung
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s.w. 163
zu verlegen haben. Wir stellten oben S. 151 als wahrschein-
lich hin, dass die eben erst entstandene Kraft der Nachwirkung
alsbaldin demselben Maasse wie die derparelektronomische Strecke
die Schwankung mitmache. Danach könnten wir unter der Vor-
aussetzung, dass wir das Gesetz kennten, nach welchem die ter-
minale Nachwirkung wächst, über die Länge eines beliebigen
negativen Zahnes wohl etwas aussagen. Denn sei n das Ver-
hältniss der Länge des ersten negativen zu der des ersten po-
sitiven Zahnes (also in unserer Figur n—=3), was wir so aus-
drücken wollen:
Ba, —W.E u
so hätte man, bei rechteckigen Ktenoidenzähnen (S. oben I.
S. 641. 650) allgemein die Länge des vten negativen Zahnes
n-D+ (P+ N)
M ;
wo ?, die Abscisse des Zahnes bedeutet.
Allein eine Menge Umstände widersetzt sich einer so ein-
fachen Schlussfolge. Wegen -der Ermüdung und der inneren
A
Nachwirkung wissen wir nicht, wie wir die Länge Z ,, zu
nehmen, und was zur Zeit it, als Kraft M des ruhenden Mus-
kels anzusehen sei. Unstreitig ermüdet, um uns so auszu-
drücken, die parelektronomische Strecke; ob auch der ihr eben
in Gestalt terminaler Nachwirkung gewordene Kraftzuwachs,
wissen wir nicht. Sodann stellten wir schon oben $. 156. 157 Ver-
muthungen auf, um den eigenthümlichen Gang der Schwankung
bei natürlichem Querschnitte zu erklären. Wir nahmen an,
dass entweder n schwanke, mit welchem bei rechteckigen Kte-
noidenzähnen n durch folgende Relation verknüpft sein würde:
_ RP+T(P-nL),
RM+T(M-L) ’
oder dass die terminale Nachwirkung zu einem labilen Zustande
nn
führe, und ihre Kraft plötzlich auf einen geringeren Werth zu-
rückspringe, womit denn auch wieder Abnahme der negativen
Zahnlänge verbunden sein würde. Es fehlte nicht an Einwän-
den gegen beide Annahmen; wie die Sachen stehen, haben wir
keine besseren, und ich habe den betreffenden Theil der Figur
deshalb nach folgendem Prineip entworfen,
111%,
TER Eee NE RR
164 E. du Bois-Reymond:
Die ersten vier Zähne entspringen aus immer grösserer
Tiefe, was die schnell wachsende terminale Nachwirkung ver-
sinnlicht. Sie nehmen wegen Ermüdung an Länge ab, jedoch
langsamer als die Ktenoidenzähne, weil vielleicht dieser Ab-
nahme die Zunahme entgegenwirkt, welche aus der Betheili-
gung der Nachwirkung an der Schwankung entspringt. Vom
fünften bis achten Zahn habe ich n grösser genommen, um zu
zeigen, wie solche Schwankung von n Stillstand, ja Abnahme
der Gesammtschwankung bei natürlichem Querschnitt bedinge.
Beim achten Zahne springt die bisher stetig wachsende termi-
nale Nachwirkung auf einen geringeren Werth zurück, und es
wird so die andere Art veranschaulicht, wie der Gang der Ge-
sammtschwankung bei natürlichem Querschnitt erklärlich würde.
Dasselbe wiederholt sich nochmals beim zwölften Zahn.
Schliesslich ist in II. N die Gesammtschwankung bei na-
türlichem Querschnitt schematisch dargestellt. Da der Muskel
als in der Ruhe stromlos gedacht ist, können wir die Curve
der Schwankung n,nn, bei natürlichem Querschnitt unter der-
selben Abscissenaxe auftragen, über weicher wir die Schwan-
kung bei künstlichem Querschnitt auftrugen. Um die Entste-
hung der Curve n,nn, zu begreifen, denke man sich zuerst
eine ÜOurve, deren Ordinaten die algebraische Summe der Ordi-
naten der beiden Curven m,mm,, P,Pp, Seien. Dann steht
Curve n,nn, zu jener resultirenden Curve in derselben Bezie-
hung, wie Curve k,kk, zu Curve mymm,. Es würde aber
nichts zur Deutlichkeit beitragen, wollten wir die resultirende
Curve selber entwerfen. Es handelt sich nur darum, einsicht-
lich zu machen, wie, durch Hinzutreten der parelektronomischen
Kraftschwankung p,pPp,, Curve k,kk, in eine der Curve nınn,
ähnliche übergeht.
Man sieht erstens, dass das zwischen der Geraden p) Pı
und der Abscissenaxe ot gelegene wagerecht schraffirte Stück
der negativen Zähne sich von den positiven Zähnen abzieht.
Dagegen fügen sich letzteren hinzu die von der Axe aus
jenseit der Geraden zwischen je zwei Zähnen gelegenen, senk-
recht schraffirten Flächenräume, welche die terminale Nach-
wirkung vorstellen. Der zwischen zwei gegebenen Ordinaten
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s.w. 165
begriffene wagerecht schraffirte Flächenraum übertrifft besonders
zu Anfang den die Nachwirkung vorstellenden senkrecht
schraffirten Flächenraum zwischen denselben Ordinaten. Unter
dieser Annahme erklärt es sich, dass die Gesammtschwankung
bei natürlichem Querschnitt langsamer ansteigt, als bei künst-
lichem. Den Störungen des Ganges der Curve 9,ppı durch
Schwanken von n, oder Rückspringen der Nachwirkung, oder
Beides, entsprechen ähnliche Störungen im Gange der Ge-
sammtschwankungscurve. Das später erreichte Maximum die-
ser Curve „« bleibt unter dem Maximum der Gesammtschwan-
kungseurve M bei künstlichem Querschnitt. Vom Maximum sinkt
die Curve langsam herab, und hält sich, auf und ab schwankend,
einige Zeit auf einer dem Maximum nahen Höhe; dieSchwankungs-
curve geht dann allmählich in die der Nachwirkung über.
Ich übergehe, dem schon oben S. 163 Gesagten gemäss,
die Frage, ob die innere Nachwirkung auch die parelektrono-
mischen Kräfte ergreife, als für den gegenwärtigen Stand der
Untersuchung zu schwierig und unbedeutend zugleich. Dagegen
scheint schliesslich folgende Erwägung gerechtfertist. Da die
Curve der Gesammtschwankung bei natürlichem Querschnitt
allmählich in die der terminalen Nachwirkung übergeht, und da
letztere die innere Nachwirkung weit übertrifft, so kann zuletzt
die Schwankung bei natürlichem der bei künstlichem Quer-
schnitt gleichkommen, ja sie übertreffen, obschon das Maximum
bei künstlichem das bei natürlichem Querschnitt übertraf. Ich
habe diese Möglichkeit in die Figur aufgenommen, obschon ich
über deren wirkliches Stattfinden keine unmittelbare Beobach-
tung besitze. Um solche zu erlangen, müsste man an einem
und demselben Muskel erst die Schwankung bei natürlichem
Querschnitte nach einer gewissen Dauer des Tetanus messen,
dann chemischen Querschnitt herstellen, und nun die Schwan-
kung nach derselben Dauer des Tetanus messen. Wenn man
aber jetzt geringere Wirkung erhält, steht Einem nichts dafür,
dass dies nicht bloss von der Ermüdung und von der Herab-
setzung der Erregbarkeit durch das Anätzen herrühre.. Der
Versuch ist also nicht ausführbar.
Ich glaube, dass hiermit die Kenntniss der negativen
166 E. du Bois-Reymond: Ueber die”negat. Schwankung u.s. w.
Schwankung in formeller Hinsicht soweit geführt ist, wie die
vorhandenen Beobachtungen gestatten, bin aber weit davon
entfernt, zu meinen, dass letztere den Kreis der schon mög-
lichen, noch immer verhältnissmässig fruchtbaren, ja grundle-
senden Wahrnehmungen erschöpft haben. Im Gegentheil, es
dürfte sehr lohnend sein, an der Hand der gewonnenen Ein-
sichten an die Beantwortung der vielen hier noch offenen Fragen
sich zu machen. Einige dieser Fragen, welche mit dem Vori-
sen in keinem unmittelbaren Zusammenhange stehen, werde
ich im letzten Paragraphen dieser Abhandlung anregen. Vor-
her jedoch liegt uns noch ob, einem auf den Umsturz aller
obigen Anschauungen gerichteten Unternehmen entgegenzu-
treten.
(Schluss im dritten Heft.)
FREETD
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen
am Blatte der Dionaea muscipula.
Von
HERMANN MUNK.
Hierzu Taf. I und Taf. III.
(Schluss.)
$. 6. Von den elektrischen Erscheinungen bei Reizung
des Dionaea-Blattes.
Ausser der Reizbewegung haben wir aber noch andere
Folgen der Reizung an unserem Blatte zu untersuchen.
Unter dem Titel: „Negative Schwankung“ theilt
Hr. Sanderson Folgendes mit!): „a) Wenn das Blatt so auf
die Elektroden aufgelegt wird, dass der normale Strom des
Blattes durch eine Ablenkung der Nadel nach links angezeigt
wird und man gestattet einer Fliege, in dasselbe zu kriechen,
so schwingt die Nadel in dem Momente, wo die Fliege das
Innere erreicht und so die sensitiven Haare der oberen Fläche
berührt, nach rechts, während zu gleicher Zeit das Blatt sich
über der Fliege schliesst. b) Nachdem die Fliege gefangen ist,
schwingt die Nadel jedesmal, wenn jene sich bewegt, nach
rechts. e) Dieselbe Reihe von Erscheinungen tritt ein, wenn
die sensitiven Haare der oberen Fläche?) statt durch die Fliege
durch einen feinen Pinsel berührt werden. d)Wenn das Blatt?),
während es auf den Elektroden des Galvanometers wie zuvor
1) Centralbl. S. 834—5. — In den Proceed. p. 496 findet sich
der gleiche Text, nur mit einigen Umstellungen und mit einzelnen.
Varianten, welche ich in den folgenden Anmerkungen hinzufüge.
2) „the sensitive hairs of a still expanded leaf“ (Proceed.).
3) „the open leaf* (Proceed.).
168 H. Munk:
aufliegt, von seiner oberen Fläche!) aus von zugespitzten
Platinelektroden, deren Entfernung 1 Mm, nicht überschreitet,
eben durchbohrt wird und diese letzteren (Platinelektroden)
durch Vermittelung einer Wippe mit dem du Bois’schen
Schlitten verbunden werden, so sind dieselben Erscheinungen
zu beobachten, wie nach der mechanischen Reizung, jedesmal,
dass man den secundären Kreis schliesst. Der Effect wird
nicht geändert, wenn die Richtung der reizenden Ströme um-
gekehrt wird. In diesem sowie in dem mit c) bezeichneten
Falle variiren die Erscheinungen, je nachdem das Blatt an ver-
schiedenen Stellen seiner oberen Fläche gereizt wird: wenn
das Blatt an seinen Rändern gereizt wird, gleichviel ob elek-
trisch oder mechanisch, so ist kein Effect zu bemerken; wird
das Blatt an seiner mittleren Partie gereizt, so schwingt die
Nadel nach einem Intervall von '/,—!/, Sec.?) nach rechts.
Wenn jedoch das Blatt an einer dem Stiele zunächst gelegenen
Stelle der mittleren Partie gereizt wird, so geht dem Schwin-
gen nach rechts ein leichter, der normalen Ablenkung (links)
gleich gerichteter Stoss voraus. In jedem Falle kommt die
Nadel nach der negativen Schwankung in einer Stellung zur
Ruhe, die weiter nach links gelegen ist, als zuvor, und nimmt
dann allmählich ihre frühere Stellung wieder ein.“
Die grossen Mängel dieser Mittheilung und zwar, von
allen Einzelheiten abgesehen, gerade im Hauptsächlichsten und
Wichtigsten, sind nicht zu verkennen. Vor Allem besteht die
Möglichkeit, dass Hrn. Sanderson’s „negative Schwankung
des normalen Blattstromes“ gar Nichts weiter sei als die Folge
der Verschiebung der Ableitungspunkte am Blatte, einer Ver-
schiebung, welche die mit einer Erschütterung des Blattes ver-
bundene Reizung mit sich bringen konnte, und welche durch
die Schliessung des Blattes, bei Hrn. Sanderson’s Ablei-
tungsweise von den Blattenden (s. Nat. p. 128 Fig. 2), sogar
1) „one of the concave surfaces* (Proceed.), Hr. Sanderson
bezeichnet die obere Blattflügel-Fläche öfters als die „concave“, weil
ihm so wenig als Hrn. Darwin die Concavität des Blattflügels nach
unten am ganz offenen Blatte (s. oben S. 108) bekannt war.
2) „from a quarter to a third of a second“ (Proceed.).
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 169
jedenfalls herbeigeführt sein musste. Man bleibt zweitens ganz
im Unklaren darüber, was eigentlich zur Beobachtung konımt.
Die Bezeichnung „negative Schwankung“ ist von Hrn. San-
derson der Lehre vom Muskelstrome entlehnt. Hat man
einen Muskel bis zum Maximum der negativen Schwankung
seines Stromes tetanisirt, so kehrt die Nadel vom negativen
Ausschlage nicht so bald, wie von sonstigen Ablenkungen, in
die Ruhestellung zurück, sondern ihre schnelleRückkehr nimmt,
in Folge der Nachwirkung des Tetanus auf die Kraft des’
Muskels, halbweges oder später in auffälliger Weise ein Ende,
so dass die Nadel schon hier zur Ruhe zu kommen scheint,
und nur ganz langsam setzt dann die Nadel ihren Weg zur
Ruhestellung fort!),. Wenn nun nach Hrn. Sanderson auch
das Blatt die negative Schwankung des normalen Blattstromes
zeigt, indem die durch den Ruhestrom nach links abgelenkte
Nadel nach rechts schwingt, so sollte man meinen, dass die
Nadel auf der Rückkehr zu ihrer ursprünglichen Ablenkung
weiter nach rechts, als zuvor, zur Ruhe käme und dann
allmählich ihre frühere Stellung wieder einnähme. Dagegen
sagt Hr. Sanderson, die Nadel komme zur Ruhe weiter nach
links, als zuvor; und das ist offenbar ganz unverständlich,
wenn man das „zuvor“, wie man doch muss, auf diejenige
Stellung der Nadel bezieht, von welcher aus der negative Aus-
schlag erfolgt ist, also auf die ursprüngliche Ablenkung nach
links. Die Vertauschung von „rechts“ und „links“, welche man
danach in Hrn. Sanderson’s Angabe vermuthen muss, ist
aber nirgends berichtigt; und das unerfreuliche Dunkel, wel-
ches in Folge dessen herrscht, ist noch dadurch gesteigert, dass
Hr. Sanderson in seiner letzten Veröffentlichung das eine
Mal — bei mechanischer Reizung — des eigenthümlichen Ver-
haltens der rückkehrenden Nadel gar nicht mehr gedenkt, son-
dern dort die Nadel einfach vom negativen Ausschlage un-
mittelbar zu ihrer ursprünglichen Stellung zurückkehren
1) E. du Bois-Reymond, Untersuchungen über thierische Elek-
trieität. Bd. II. Abth. II. S. 151 ff. — Dies Archiv 1873. S. 529; 544.
170 H. Munk:
lässt!) und das andere Mal — bei elektrischer Reizung — die
Nadel sogar schon von vorne herein nach links ausschlagen, d. h.
eine positive Schwankung des Stromes anzeigen lässt”). Wollte
Jemand in diesen vielfach wechselnden Ergebnissen einen Be-
weis dafür sehen, dass es sich gar nicht um Folgen der Rei-
zung, sondern blos um Folgen verschiedener Umstände, die
rein äusserlich mit der Reizung in Verbindung standen, bei
Hrn. Sanderson’s Versuchen gehandelt habe, Nichts würde
sich dagegen einwenden lassen. Endlich besteht der dritte,
höchst missliche Mangel darin, dass, wenn wir selbst Hrn. San-
derson’s negative Schwankung in Folge der Reizung trotz
alledem zugeben wollten, die Bedeutung dieser Schwankung,
ob sie eine Veränderung des Widerstandes oder Anderes an-
zeigt, ganz in Frage bleibt; während doch das Interesse, das
sich an die negative Schwankung des Muskels knüpft, gerade
darauf beruht, dass in derselben eine Abnahme der Kraft der
elektromotorisch wirksamen Muskelelemente zum Ausdrucke
kommt.
Bei diesen Mängeln kann Hrn. Sanderson’s Mittheilung
nur einen Fingerzeig abgeben, dass auf die elektrischen Er-
scheinungen bei der Reizung unseres Blattes zu achten sei, und
die Untersuchung der Erscheinungen hat von Grund auf zu
beginnen. Wir werden aber diese Untersuchung jetzt um so
lieber unternehmen, als auch schon unsere voraufgegangenen
Ermittelungen uns zu derselben drängen; denn da wir diesel-
ben Parenchymzellen, welche sich in $. 4 elektromotorisch
wirksam ergaben, in $. 5 bei der Reizbewegung eine Rolle
spielen sahen, ist Nichts uns näher gelegt als die Frage, ob
1) „The spot having assumed a fixed position on the screen, the
leaf was excited by touching the sensitive hairs with a camel-hair
pencil. The spot flew back towards the right edge of the screen, im-
mediately afterwards returning to its original position.
This effect was repeated several times.“ (Nat. p. 128.)
2) „Two fine-pointed electrodes.... were thrust into the centre
of the external surface of a leaf... On thus exeiting the leaf the spot
of light shot to the left.“ (Nat. p. 128.)
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 171
und wie die elektromotorische Wirksamkeit dieser Zellen
mit der Reizung des Blattes sich verändert.
Da die Mittelrippe der einzige Theil des Blattes ist, der
bei der Reizbewegung seine Lage im Raume beibehält und an
der unteren Seitein unveränderter Verbindung mit den Elektro-
den erhalten werden kann, so stellen wir die Thonspitzen un-
ter etwa rechtem Winkel nach oben gebogen her und lagern
sie, unter leichter Hebung des Blattes, der Mittelrippe von un-
tenheran. Die Elastieitätdes Blattes, welches das Bestreben hat,
sich mit seiner Spitze dem Boden zu nähern, sichert alsdann die
Verbindung zwischen Blatt und Elektroden so vortrefflich, dass
Erschütterungen des Topfes oder der Elektroden, wenn sie
nicht gar zu heftig sind, die Spiegelstellung unberührt lassen.
Erst wenn man, durch einen leichten Stoss gegen das Blatt,
dieses sichtlich momentan aus seiner Lage bringt, wie es na-
türlich ein völliges Misslingen der folgenden Versuche in sich
schliessen würde, sieht man, ebensowohl bei Compensation des
bestehenden Stromes wie ohne Üompensation desselben,
Schwankungen des Spiegels bald nach der einen bald nach der
anderen Seite hin auftreten und zwar Schwankungen der Art,
dass der Spiegel jedesmal rasch um 5—20 Sc. ausschlägt und
sogleich wieder in die frühere Stellung oder wenigstens ohn-
gefähr in dieselbe zurückkehrt. Offenbar rühren diese Schwan-
kungen zum grössten Theile daher, dass die Ableitungspunkte
verschoben werden, und die Verbesserung oder Verschlechte-
rung der Verbindung zwischen Blatt und Elektroden ist daneben
nur von untergeordneter Bedeutung.
Im Wechseln mit den Reizungsweisen bin ich Hrn. San-
derson nicht gefolgt, sondern habe mich immer an eine und
dieselbe Reizungsweise gehalten. Wie ich die Empfindlichkeit
der oberen Blattfläche kennen gelernt hatte, durfte ich an eine
Durchbohrung derselben mit feinen Platinelektroden nicht’
denken; und von einem solchen Verfahren an der unteren
Blattfläche (s. o. S. 170 Anm. 2) hielt mich die Ueberlegung
zurück, dass dann die normale Schliessung des Blattes behin-
dert und dadurch leicht auch eine Verrückung der Mittelrippe
auf den Elektroden bedingt sein musste. Ebensowenig mochte
172 | . H. Munk:
ich mich zum Experimentiren mit Fliegen entschliessen, weil
die gewaltsamen Befreiungsversuche des Thieres das Blatt auf
den Elektroden verschieben konnten. Dagegen ist die Reizung
des Blattes durch die Bewegung eines sensiblen Haares, sei
es mittelst eines feinen Pinsels, sei es mittelst eines fein zu-
gespitzten Hölzchens, von allen Bedenken frei und schont zu-
gleich am meisten das werthvolle Material. Hrn. Kurtz, der
immer diese Reizungsweise bei meinen Versuchen in An-
wendung brachte, gelang es dabei — mit höchst seltenen Aus-
nahmen, wo dann die Versuche verworfen wurden —, jede
Berührung und Bewegung des Blattes selbst zu vermeiden
und auch den zur Reizung verwandten Körper so rasch
wieder zu entfernen, dass die Schliessung des Blattes
‚durchaus normal sich vollziehen konnte. Die letztere Rei-
zungsweise ist also stets im Folgenden bei meinen Ver-
suchen vorauszusetzen.
Reizen wir nun unser Blatt bei Ableitung von den beiden
Enden der Mittelrippe und ohne Compensation des bestehenden
aufsteigenden Stromes, so beobachten wir Folgendes. Es sei
z. B. eine Ablenkung von 30 Se. vorhanden. Zuerst nach der
Reizung nimmt die Ablenkung sehr rasch auf 25—20 Se. ab,
und darauf nimmt sie sogleich etwas langsamer, doch immer
noch rasch, auf 40—60 Se. zu. Alles dies ist in längstens 20
Secunden nach der Reizung vor sich gegangen. Nun verweilt
der Spiegel nur momentan auf dem Maximum der Ablenkung
und kehrt dann langsam, in etwa einer Minute, zu seiner An-
fangsstellung zurück. Der Art ist das regelmässige Ergebniss
des Versuches; und wir finden somit als Folge der Reizung
eine positive Schwankung des Stromes mit ne-
gativem Vorschlage, die wir kurz als Doppel-
schwankung bezeichnen wollen.
Wiederholen wir dieselben Reizversuche mit Compensation
des ursprünglichen aufsteigenden Stromes, so erhalten wir die
nämlichen Resultate. Wir haben es demnach sicher auch mit
Veränderungen der Kraft, d. h. mit Veränderungen des Span-
nungsunterschiedes der abgeleiteten Punkte, nicht etwa blos
mit Widerstandsveränderungen des Blattes zu thun. Wie weit die
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 173
anfängliche Abnahme der Kraft sich erstreckt, darüber lässt
sich Nichts ermitteln, weil der negative Vorschlag zu rasch
vorübergeht, als dass man von Neuem compensiren könnte.
Dagegen lässt sich eine neue Compensation erzielen, wenn die
positive Schwankung auf ihrem Maximum oder nahe demsel-
ben sich befindet; und ich habe dann in den bestgelungenen
Versuchen die Kraft um mehr als die Hälfte erhöht gefunden.
Wenn also auch die Erscheinungsweise unserer Doppelschwan-
kung von Widerstandsveränderungen desBlattes beeinflusst sein
mag, so steht doch fest, dass ihr Veränderungen der Kraft zu
Grunde liegen der Art, dass die Kraft zuerst sehr rasch sinkt,
dann rasch sich wiederherstellt und noch beträchtlich steigt,
um schliesslich langsam auf ihre ursprüngliche Grösse abzu-
nehmen.
Auf eine ganz unerwartete Weise gelangen wir aber zu einer
noch viel vollkommeneren Einsicht. Oft bleibt nämlich
nach der Reizung nicht nur die Schliessung, son-
dern selbst jede geringste Bewegung des Blattes
aus, unddochsieht der Beobachter am Fernroöhre die
elektrischen Erscheinungen wie sonst eintreten.
So häufig ist das Vorkommniss, dass ich mindestens ebenso
viele Versuche ohne Schliessung, wie mit Schliessung des Blat-
tes angestellt habe: während manchmal sogleich auf die erste
Reizung das Blatt zuging, ist andere Male erst der 2., 3. bis 7.
Reizung die Schliessung gefolgt, hin und wieder, nachdem auf
die vorletzte Reizung eine unvollkommene Schliessung sich
eingestellt hatte. Ob nun das Blatt sich bewegt oder nicht,
ob es sich unvollkommen oder vollkommen schliesst, immer
kommt bei den vorbehandelten Versuchen unsere Doppel-
schwankung in der gleichen Weise zur Beobachtung; und im-
mer sehen wir bei der wiederholten Reizung desselben Blattes,
mögen wir jedesmal compensirt haben oder jedesmal nicht
compensirt haben, oder mögen wir abwechselnd mit und ohne
Compensation geprüft haben, die Erfolge der verschiedenen
Reizungen nur unbedeutend, nur um wenige Scalentheile in
der Grösse des negativen Vorschlages oder der positiven Schwan-
kung, und dabei noch in unregelmässiger Weise sich von ein-
174 HA. Munk:
ander unterscheiden. Es geht daraus klar hervor, dass die
ganze Doppelschwankung, wie sie sich uns darstellt, ohne Feh-
ler als eine Schwankung der Kraft aufzufassen ist; denn sowohl
die Formveränderung des Blattes wie auch eine etwaige Ver-
änderung seines eigenthümlichen Widerstandes muss nach jenen
Ergebnissen ohne alle Bedeutung sein gegenüber der Verän-
derung der Kraft.
Unwillkürlich drängt sich anfangs, wenn man die elektri-
schen Erscheinungen ohne die Reizbewegung ablaufen sieht,
die Vermuthung auf, dass doch nur eine Verrückung des Blat-
tes auf den Elektroden die Ursache der Erscheinungen sei.
Aber die Vermuthung ist mit vollster Sicherheit zurückzuwei-
sen. Wie ich schon gesagt habe, findet man blos Erschütte-
rungen des Blattes, welche das Blatt sichtbar aus seiner Lage
bringen, von Einfluss auf die Spiegelstellung, und derartige
Erschütterungen kamen bei den besprochenen Versuchen nicht
vor. Während ferner in Folge der Verschiebung des Blattes
immer nur einfache Schwankungen auftreten, handelt es sich
beı unseren Versuchen ımmer um Doppelschwankungen. Wei-
ter erfolgen die Ausschläge des Spiegels in Folge der Verschie-
bung des Blattes ganz unregelmässig bald nach der einen bald
nach der anderen Seite hin, und bei unseren Versuchen ist die
Bewegungsrichtung des Spiegels eine constante in Bezug auf
die ursprüngliche Ablenkung. Endlich ist es auch gar nicht
denkbar, dass bei wiederholter Reizung des Blattes, zumal wenn
wir abwechselnd compensiren und nicht compensiren, in Folge
von Erschütterungen immer dieselben Erfolge eintreten sollten,
wie wir es doch gefunden haben. Die Vermuthung, welche
wir somit als abgethan betrachten dürfen, wird denn auch je-
der Schritt in der Folge nur von Neuem widerlegen, und wir
werden sogar den Grund für das Ausbleiben der Reizbewegung
im geraden Gegensatze zu der Vermuthung stehen sehen.
Wir setzen nunmehr die Reizversuche fort, indem wir die
Thonspitzen zwei Punkte der Mittelrippe berühren lassen,
welche beide der vorderen oder beide der hinteren Hälfte der
Mittelrippe angehören, so dass die Kraft im ersteren Falle
aufsteigend, im letzteren Falle absteigend ist. Auch hier stellt
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s. w. 175
sich in Folge der Reizung regelmässig unsere Doppelschwan-
kung ein und nimmt denselben zeitlichen Verlauf, wie bei den
früheren Versuchen. Bei bestehender aufsteigender Kraft er-
folgt der Vorschlag im Sinne einer absteigenden und die
Schwankung im Sinne einer aufsteigenden Kraft; bei bestehen-
der absteigender Kraft ist das Umgekehrte der Fall, der Vor-
schlag erfolgt im Sinne einer aufsteigenden und die Schwan-
kung im Sinne einer absteigenden Kraft: so dass der Vorschlag
immer negativ und die Schwankung immer positiv ist in Bezug
auf die bestehende Kraft. Auch hier wiederum finden wir die
ganze Doppelschwankung als eine Schwankung der Kraft auf-
zufassen, da die Ergebnisse der Versuche, mag compensirt wor-
den sein oder nicht, mag das Blatt sich geschlossen haben oder
jede Bewegung des Blattes ausgeblieben sein, immer gerade so,
wie früher, übereinstimmen.
Nur in der Grösse des Vorschlages und der Schwankung
stellen sich Verschiedenheiten bei den verschiedenen Ablei-
tungsweisen heraus. Zwar sind Vorschlag und Schwankung
bei jeder einzelnen Ableitungsweise an den verschiedenen
Blättern von vielfach wechselnder Grösse und bieten nirgends
eonstante Beziehungen zu der ursprünglichen Ablenkung dar.
Aber trotz allem Wechsel bleibt kein Zweifel, dass der Vor-
schlag bei der Ableitung von den beiden Enden der Mittel-
rippe im Durchschnitte kleiner ist als da, wo die Ableitung
von der vorderen Hälfte der Mittelrippe geschieht, und hier
wiederum kleiner ist als bei der Ableitung von der hinteren
Hälfte der Mittelrippe. Während der aufsteigende Strom im
ersten Falle in der Regel um weniger, oft sogar um viel we-
niger als ein Drittel erniedrigt wird, nimmt er im zweiten Falle
sehr häufig auf die Hälfte und öfters noch weiter ab; und noch
grösser ist die Abnahme des absteigenden Stromes im dritten
Falle, wo es sogar nichts Seltenes ist, dass man den (aperiodi-
schen) Spiegel zum Nullpunkte zurückkehren oder noch um
einige Scalentheile den Nullpunkt überschreiten sieht: so dass
hier der negative Vorschlag wirklich zur Umkehr der ursprüng-
lichen Kraft, zum Auftreten einer aufsteigenden Kraft führt.
Gerade entgegengesetzt verhält sich dann die positive Schwan-
176 H. Munk:
kung: dieselbe ist am kleinsten bei Ableitung von der hinteren
Hälfte, grösser bei Ableitung von der vorderen Hälfte und am
grössten bei Ableitung von beiden Enden der Mittelrippe.
Dem entsprechend sehen wir, während Vorschlag und Schwan-
kung bei Ableitung von der vorderen Hälfte der Mittelrippe
von ohngefähr gleicher Grösse sind, bei Ableitung von der
hinteren Hälfte den Vorschlag, bei Ableitung von den Enden
der Mittelrippe die Schwankung wesentlich überwiegen und oft
ein Mehrfaches dort der Schwankung, hier des Vorschlages
ausmachen.
Mit besonderem Interesse verfolgen wir noch, was sich
ereignet, wenn die eine Thonspitze dem hinteren Ende und
die andere Thonspitze einem Punkte etwas vor der Mitte der
Mittelrippe angelagert ist, so dass von vorne herein gar keine
oder nur eine höchst schwache ab- oder aufsteigende Kraft
vorhanden ist. Der Reizung folgt hier immer zuerst ein sehr
rascher Ausschlag des Spiegels, der eine ziemlich starke auf-
steigende Kraft anzeigt; dann schwingt der Spiegel etwas lang-
samer, aber immer noch rasch, nach der entgegengesetzten Seite
hin, nur weniger und höchstens halb so weit über den Null-
punkt hinaus wie vorher, so dass eine wesentlich schwächere
absteigende Kraft zu constatiren ist; und endlich kehrt der
Spiegel langsam in die Anfangsstellung zurück. Man kann
demnach sagen, dass hier die Doppelschwankung eintritt, wie
wenn von vorne herein eine absteigende Kraft bestanden hätte.
Die Reihe unserer Prüfungen brauchte damit nicht ab-
geschlossen zu sein; denn durch unseren Fund, dass die elek-
trischen Erscheinungen nach der Reizung auch ohne die Schlies-
sung des Blattes auftreten, sehen wir uns nicht, wie wir es
anfangs glauben mussten, auf die Mittelrippe mit unseren Prü-
fungen beschränkt, sondern können auch noch die Blattflügel
in den Bereich der Untersuchung ziehen. Aber ehe wir dazu
übergehen, wollen wir unsere bisherigen Erfahrungen einer ein-
sehenderen Betrachtung unterziehen.
Wie wir wissen, sind an der Mittelrippe, dort wo unsere '
Thonspitzen immer die Mittelrippe berühren, durch die Blatt-
tlügel-Parenchyme und das obere Mittelrippen-Parenchym, vor
_.
\
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 177
deren positiven Querschnitten wir uns befinden, starke, in der
vorderen Hälfte der Mittelrippe aufsteigende, in der hinteren
Hälfte absteigende Kräfte bedingt; und schwächere Kräfte
gleicher Richtung gesellen sich noch durch die Neigungsströme
des Blattflügel-Parenchyms hinzu. Andererseits sind durch das
untere Mittelrippen-Parenchym, vor dessen negativer Fläche wir
uns befinden, überall an der Mittelrippe aufsteigende Kräfte
gesetzt. Aus der algebraischen Summirung aller dieser Kräfte
resultirt für die Mittelrippe, dass der positivste Punkt etwas
über die Mitte derselben hinaus nach hinten verschoben ist und
mit dem Wachsen des Abstandes von diesem Punkte die Po-
sitivität nach beiden Enden hin abnimmt, bis zum vorderen
Ende weiter als bis zum hinteren Ende.
Nun kann die Doppelschwankung, welche wir der Reizung
folgen sehen, nicht in einer Veränderung der Neigungsströme
begründet sein; denn nicht blos wird durch die Schliessung des
Blattes die Neigung, auf welche es ankommt, nicht gestört,
sondern es zeigt sich auch das Auftreten jener Schwankung
überhaupt gar nicht an eine Formveränderung des Blattes ge-
knüpft. Ebensowenig kann aber unsere Doppelschwankung
auf einer Veränderung der Spannungen beruhen, welche durch
das untere Mittelrippen -Parenchym bedingt sind, da alsdann
die elektrischen Erscheinungen nach der Reizung überall an
der Mittelrippe gleichartig und ausser Beziehung zu der gerade
bestehenden Richtung der Kraft sich hätten herausstellen müs-
sen. Auf dem Wege der Ausschliessung finden wir demnach
die Doppelschwankung denjenigen Kräften zuzuschreiben, welche
durch die Blattflügel-Parenchyme und das obere Mittelrippen-
Parenchym, in Folge der Negativität von deren Fläche gegen
den Querschnitt, an der Mittelrippe gesetzt sind. Wie diese
Kräfte in der vorderen und in der hinteren Hälfte der Mittel-
rippe entgegengesetzt gerichtet sind, so sehen wir auch die
Doppelschwankung dort und hier in entgegengesetztem Sinne
verlaufen, indem der negative Vorschlag dort absteigend, hier
aufsteigend und die positive Schwankung dort aufsteigend, hier
absteigend ist. Wir haben also, da Widerstandsveränderungen
aller Art sicher keinen Einfluss üben, aus unserer Doppel-
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 12
178 H. Munk:
schwankung zu schliessen, dass an den Blattflügel - Parenchy-
men und an dem oberen Mittelrippen-Parenchyme die Negati-
vität der Fläche gegen den Querschnitt in Folge der Reizung
zuerst sinkt, dann steigt und schliesslich wieder zur ursprüng-
lichen Grösse abnimmt.
In voller Uebereinstimmung damit steht das Auftreten der
Doppelschwankung in dem Falle, dass vom hinteren Ende der
Mittelrippe und von einem Punkte etwas vor der Mitte der--
selben abgeleitet ist. Durch die vom unteren Mittelrippen-Par-
enchyme gesetzte Kraft sind hier die Kräfte, welche von den
anderen wirksamen Parenchymen herrühren, nahezu oder ge-
rade compensirt, und durch die Reizung wird die Compensa-
tion in der Art gestört, dass anfangs die erstere Kraft, später
die letzteren Kräfte das Uebergewicht erlangen, bis endlich die
Compensation sich wieder herstellt. Gewissermassen den Ue-
bergang zu diesem Falle stellen diejenigen Fälle vor, in wel-
chen bei Ableitung von der hinteren Hälfte der Mittelrippe und
ursprünglicher absteigender Kraft der negative Vorschlag zur
Umkehr der Kraft führt: auch hier handelt es sich offenbar
nur um ein Hervortreten der durch das untere Mittelrippen-
Parenchym gesetzten Kraft in Folge der Schwächung der an-
deren Kräfte, und die Annahme, dass die Spannungen an den
Blattflügel-Parenchymen und an dem oberen Mittelrippen-Par-
enchyme wirklich sich umkehrten, die Fläche dieser Paren-
chyme positiv würde gegen den Querschnitt, wäre durchaus
unzulässig.
Verständlich ist es dann auch sogleich, dass der negative
Vorschlag bei Ableitung von der hinteren Hälfte der Mittel-
rippe grösser ist, als bei Ableitung von der vorderen Hälfte,
da in dem ursprünglichen ab- resp. aufsteigenden Strome die
durch die Reizung schwankenden Kräfte im ersteren Falle ver-
kleinert zum Ausdrucke kommen, im letzteren Falle vergrös-
sert durch die vom unteren Mittelrippen - Parenchyme herrüh-
rende Kraft, welche selber nicht der Veränderung unterliegt.
Dagegen bleibt es unklar, dass nicht das Gleiche auch für die
positive Schwankung gilt und diese vielmehr im ersteren Falle
noch kleiner ist als im letzteren Falle. Ebenso ist.es nicht
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 179
einzusehen, weshalb die positive Schwankung da, wo ursprüng-
lich gar kein Strom vorhanden ist, vom negativen Vorschlage
immer so auffällig an Grösse übertroffen wird. Vollends ent-
ziehen sich dem Verständnisse der Erfolg der Versuche mit
Ableitung von den beiden Enden der Mittelrippe und die Be-
ziehung, in welcher dieser Erfolg zu den Erfolgen der Ver-
suche mit andersartiger Ableitung steht. Mit alledem sehen
wir Schwierigkeiten gegeben, welche bei dem jetzigen Stande
unserer Einsicht sich nicht überwinden lassen.
Es scheint danach nicht anders sein zu können, als dass
die Doppelschwankung doch noch verwickeltere Vorgänge im
Blatte anzeigt, als wir es bisher angenommen haben; und es
liegt am nächsten, dass wir uns von den Ergebnissen der Ver-
suche mit Ableitung von den Mittelrippen - Enden leiten lassen
und dem unteren Mittelrippen-Parenchyme gleichfalls eine Rolle
für die Doppelschwankung zuerkennen. Lassen wir auch an
diesem Parenchyme die Negativität der Fläche gegen den
Querschnitt in Folge der Reizung solche Veränderungen wie
an den anderen wirksamen Parenchymen erfahren, mit dem
Unterschiede nur, dass, während bei den letzteren Parenchy-
men Sinken und Steigen von etwa gleicher Grösse sind, bei
dem unteren Mittelrippen-Parenchyme das anfängliche Sinken
an Grösse sehr zurücksteht gegen das nachmalige Steigen, so
scheinen alle Schwierigkeiten mit Einem Schlage beseitigt.
Doch nicht so ohne Weiteres dürfen wir zu diesem Auskunfts-
mittel greifen. Hin und wieder geht, was ich, um die Darle-
gung zu vereinfachen, bisher verschwiegen habe, bei den be-
sprochenen Reizversuchen, gleichviel wo die Ableitung geschieht,
dem negativen Vorschlage noch ein positiver Vorschlag vorher,
so dass eine complicirte Schwankung, wie ich sie nen-
nen will, an die Stelle der Doppelschwankung tritt: und diese
Erfahrung würde bei der eben vervollkommneten Einsicht
noch mindestens ebenso unverständlich wie vorher sein. Aus-
serdem muss Folgendes ganz besonders in’s Gewicht fallen.
Als es sich oben ergeben hatte, dass an den Blattflügel-Par-
enchymen und an dem oberen Mittelrippen - Parenchyme
die Negativität der Fläche gegen den Querschnitt in Folge
12*
4
NORTON
180 H. Munk:
der Reizung zuerst sinkt, dann steigt und schliesslich wieder
zur ursprünglichen Grösse abnimmt, konnte, da Widerstands-
veränderungen aller Art am Blatte ausgeschlossen waren,
Nichts dem im Wege zu stehen scheinen, dass wir die entspre-
chenden Veränderungen auch für die Zellen in Anspruch nah-
men, welche jene Parenchyme constituiren. Trotzdem haben
wir vorsichtiger Weise diesen letzten Schluss nicht gezogen,
weil für die einzelne Parenchymzelle die anfängliche Abnahme
und die nachmalige Zunahme der Negativität ihrer Mitte ge-
gen ihre Pole einen verwickelten Vorgang abgeben, zu
dessen Annahme man sich nicht eher entschliessen darf, als
jede Möglichkeit eines einfachen Vorganges, einer blossen
Abnahme oder einer blossen Zunahme, sicher fortgefallen ist.
Sollte nun aber wirklich, wie wir es vermuthen dürfen, ein
einfacher Vorgang an den betreffenden, Parenchymzellen der
Doppelschwankung zu Grunde liegen, so wäre es sogar denk-
bar, dass die vorher unverständlichen Erfahrungen schon da-
durch allein ihre Erklärung fänden. Bevor wir also die Bedeu-
tung des unteren Mittelrippen-Parenchyms, die nach dem Dar-
gelegten immer nur eine untergeordnete sein kann gegenüber der
Bedeutung der anderen wirksamen Parenchyme, mit Sicher-
heit zu ermessen vermögen, müssen wir über die Vorgänge
an den Blattflügel-Parenchymen und an dem oberen Mittelrip-
pen-Parenchyme noch mehr in’s Klare gekommen sein. Es
gilt daher vor Allem zu untersuchen, ob nicht unsere Doppel-
schwankung der Ausdruck einfacher elektrischer Vorgänge an
den Zellen der letztgenannten Parenchyme ist.
Worauf man zunächst verfällt, ist die Vermuthung, dass
die Doppelschwankung darauf zurückzuführen sei, dass ein ein-
facher elektrischer Vorgang an den Zellen, wenn auch sonst.
gleichmässig, doch ungleichzeitig verlaufe, weil er der Fort-
pflanzung von dem Orte der Reizung aus bedarf. In der That
ist leicht zu übersehen, dass, wenn die Dauer des Vorganges
nur klein wäre und die Fortpflanzung desselben langsam er-
folgte, eine Doppelschwankung, wie wir sie gefunden haben,
unter Umständen zur Beobachtung kommen müsste, wenn
auch in Folge der Reizung blos eine Abnahme oder blos eine
I
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 181
Zunahme der Negativität der Mitte der Zellen gegen ihre Pole
einträte, wenn auch, wie wir kurz sagen wollen, die Zellen
blos eine negative oder blos eine positive Schwankung erfüh-
ren. Im Falle z. B. einer negativen Schwankung der Zellen
würde alsdann eine positive Schwankung mit negativem Vor-
schlage zur Erscheinung kommen, wenn wir bei Ableitung von
zwei Punkten der hinteren Hälfte der Mittelrippe am vorde-
ren Ende oder bei Ableitung von zwei Punkten der vorderen
Hälfte der Mittelrippe am hinteren Ende des Blattes reizten;
und dasselbe würde im Falle einer positiven Schwankung der °
Zellen statthaben, sobald wir bei Ableitung von der vorde-
ren Hälfte der Mittelrippe am vorderen oder bei Ableitung von
der hinteren Hälfte der Mittelrippe am hinteren Ende des Blat-
tes die Reizung vornähmen. Aber zugleich übersieht man, dass
alsdann unter anderen Umständen, so wenn man in den ge-
wählten Beispielen jedes Mal am hinteren, statt am vorderen,
resp. am vorderen, statt am hinteren Ende des Blattes reizte,
gerade die umgekehrte Doppelschwankung auftreten müsste,
eine negative Schwankung nämlich mit positivem Vorschlage.
Die Doppelschwankung würde danach in zweierlei Form sich
uns darbieten und in ihrer jedesmaligen Form vom Orte der
Reizung abhängig sich herausstellen müssen; auch würde sie, wie
sich weiter ergiebt, in ihrer Erscheinungsweise beeinflusst sein
müssen von dem Abstande der Elektroden, indem mit der
Verringerung dieses Abstandes der Vorschlag an Grösse immer
mehr gegen die Schwankung zurücktreten müsste. Alles dies
trifft aber für unsere Doppelschwankung nicht zu, und deshalb
kann von der Vermuthung, um die es sich handelt, nicht wei-
ter die Rede sein.
Was die Frage nach der Erscheinungsweise unserer Dop-
pelschwankung bei wechselndem Orte der Reizung anbetrifft,
so habe ich derselben wegen einer von Hrn. Sanderson ge-
machten Angabe eine ganz besondere Aufmerksamkeit gewid-
met. Auf Grund der oben S. 169 besprochenen Bemerkung
Hrn.Sanderson’s, dass dieNadel weiter nach links zur Ruhe
komme als zuvor,. glaube ich nämlich annehmen zu dürfen,
dass Hr. Sanderson den Erfolg der Reizung, wenigstens bei
182 H. Munk:
seinen ersten Versuchen, richtig beobachtet und nur seine Be-
obachtungen durchaus missverstanden hat, indemer, voreingenom-
men für die Uebereinstimmung der elektrischen Erscheinungen bei
der „Contraction“ des Blattes und des Muskels, eine negative
Schwankung da zu sehen vermeinte, wo in der Wirklichkeit
eine positive Schwankung mit negativem Vorschlage sich zeigte.
Wenn dem so ist, würdeHrn. Sanderson auch unsere compli-
eirte Schwankung, welche ich vorhin erwähnte, aufgestossen
sein in den Fällen, wo er seiner negativen Schwankung einen
leichten positiven Ausschlag vorausgehen lässt’), Aber das
Auftreten dieser complicirten Schwankung würde dann nach
Hrn. Sanderson’s Angabe eigenthümlich sein der Reizung des
Blattes an „einer dem Stiele zunächst gelegenen Stelle der mitt-
leren Partie“, während bei der Wahl anderer Reizungsstellen
nur unsere Doppelschwankung zur Beobachtung käme'). Wäre
nun der Erfolg der Reizung wirklich derart vom Orte der Rei-
zung abhängig, es würde für die vorbesprochene Vermuthung
doch Nichts weiter zu besagen haben, weil es sich hier nur
um die complieirte Schwankung gegenüber der Doppelschwan-
kung, nicht um verschiedene Formen der Doppelschwankung
selber handelt; überdies würde, beiläufig bemerkt, schon die
Existenz der complicirten Schwankung für sich allein ausrei-
chend jene Vermuthung widerlegen. AlleinHrn. Sanderson’s
Angabe ist auch geradezu unrichtig. Ich habe bei Ableitung
von den beiden Enden der Mittelrippe auf Bewegung des vor-
dersten Haares — solche Reizung hat auch Hr. Sanderson
gemeint — in der Regel unsere Doppelschwankung erhalten,
und die complieirte Schwankung ist mir hier durchaus nicht
öfter vorgekommen, als nach der Bewegung anderer Haare,
welcher ich sie also gleichfalls habe folgen sehen. Ich habe es
ferner ziemlich häufig beobachtet, dass bei mehrmaliger Rei-
zung desselben Blattes, wenn die Reizung immer an demselben,
gleichviel welchem, Haare statthatte, ein einzelnes Mal die
complieirte Schwankung eintrat, während die anderen Male
immer Doppelschwankungen sich einstellten. Endlich habe
1) S. oben S. 168.
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.5s.w. 183
ich bei Ableitung sowohl von den beiden Enden wie von den
verschiedensten anderen Punkten der Mittelrippe, wie auch,
um dies sogleich vorwegzunehmen, bei Ableitung von den
Blattflügeln systematisch mit dem Orte der Reizung gewech-
selt, oft an einem und demselben Blatte, wenn die Reizungen
nicht zur Schliessung des Blattes führten; und ich habe gefun-
den, dass, mochte das vordere oder das hintere oder das mitt-
lere Haar an dem einen oder an dem anderen Blattflügel be-
wegt sein, die Erfolge der verschiedenen Reizungen doch nur
ebensowenig und ebenso unregelmässig von einander abwichen,
wie es beistets gleichem Reizungsorte der Fall ist. Danach kann
weder die complieirte Schwankung in irgend einer Beziehung
zum Orte der Reizung stehen, noch kann überhaupt von diesem
Orte der Erfolg der Reizung, innerhalb der Genauigkeits-
grenzen unserer Untersuchung, irgendwie abhängig sein.
Es bietet sich nun noch eine andere Möglichkeit dar, wie
die Doppelschwankung auf einem einfachen elektrischen Vor-
gange an den Zellen beruhen könnte, die nämlich, dass der
eine Theil der Zellen eine positive und der andere Theil eine
negative Schwankung in Folge der Reizung erführe. Natür-
lich könnten die Zellenpartieen verschiedenen Verhaltens we-
der nach der Länge noch nach der Breite des Blattes aneinan-
dergereiht sein, sondern sie müssten in der Dicke des Blattes
neben einander liegen; und die Doppelschwankung liesse sich
dann aus zwei Einzelschwankungen entstanden denken, etwa
in der Art, wie es Fig. 29 zeigt, in welcher die ausgezogene
Curve die Resultirende der beiden gestrichelten Curven ist.
Allerdings hätte bei jedem anderen Körper von durchweg glei-
chem Baue der Gedanke an die Möglichkeit etwas Ungereim-
tes und von vorne herein Widerstehendes. Aber hier, wo wir
das Blattflügel-Parenchym, trotz allem Fehlen unterscheiden-
der anatomischer Merkmale, in seinen beiden Hälften doch in
gewisser Hinsicht physiologisch ungleichwerthig erkannt haben,
wo wir das obere Blattflügel-Parenchym (die obere Hälfte)
mit dem oberen Mittelrippen-Parenchyme rücksichtlich der Em-
pfindlichkeit und rücksichtlich der Leistungen bei der Reiz-
bewegung so sehr häben abweichen sehen von dem unteren
184 H. Munk:
Blattflügel-Parenchyme (der unteren Hälfte) mit dem unteren
Mittelrippen-Parenchyme, ist die Möglichkeit nicht von der
Hand zu weisen, dass auch in elektrischer Beziehung nach der
Reizung die ersteren Parenchyme anders sich verhalten als die
letzteren.
Wir sehen denn auch sogleich gewichtig für die Möglich-
keit sprechen das Auftreten der complieirten Schwankung ne-
ben der Doppelschwankung. Während, wenn alle Zellen erst
eine negative und dann eine positive Schwankung erführen,
das Vorkommen der complieirten Schwankung durchaus un-
verständlich wäre, lässt sich nicht nur diese Schwankung ohne
Weiteres als die Resultirende einer positiven und einer nega-
tiven Einzelschwankung begreifen, wie es in Fig. 31 die aus-
gezogene Curve erläutert als entstanden durch die algebraische
Summation der beiden gestrichelten Curven, sondern es ist
auch leicht zu übersehen, wie in Folge blos eines verschiedenen
zeitlichen Verlaufes der beiden Einzelschwankungen aus diesen
das eine Mal die Doppelschwankung, das andere Mal die com-
plieirte Schwankung hervorgehen kann. Aber eine noch viel
werthvollere Stütze giebt sich uns in der complieirten Schwan-
kung zu erkennen, wenn wir ihr Auftreten und ihre Erschei-
nungsweise in einer gewissen Verbindung mit den Doppel-
schwankungen näher in’s Auge fassen.
Es ist eine anfangs ganz räthselhafte Erfahrung bei unse-
ren obigen Reizversuchen, dass die sehr reizbaren Blätter, welche
man mit Vorliebe für diese Versuche verwendet, und welche
auch vorher und nachher, wenn man sie ohne Beachtung der
elektrischen Erscheinungen prüft, jede Reizung mit ihrer
Schliessung beantworten, bei jenen Versuchen selbst so oft die
Reizbewegung vermissen lassen oder nur eine unvollkommene
Schliessung zeigen. Doch ist eine einfache Ueberlegung das
Rätbsel zu lösen im Stande. Damit die Schliessung eintrete,
ist offenbar nicht nur eine Reizung überhaupt, sondern auch
eine gewisse Grösse der Reizung erforderlich. Nun kommt
es für gewöhnlich, wenn man das Blatt zur Schliessung bringen
will, gar nicht darauf an, ob das Blatt selbst dabei bewegt
wird oder nicht, man braucht den Angriff auf das Haar des-
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 185
halb nicht sorgfältig abzumessen, und man reizt daher in der
Regel sogleich ausreichend stark. Bei den obigen Reizver-
suchen dagegen bringt der Umstand, dass jede Erschütterung
des Blattes vermieden werden muss, es mit sich, dass man
äusserst behutsam das Haar bewegt; und deshalb ist die Rei-
zung oft anfangs zu schwach, deshalb bleibt oft die Schliessung
ganz aus oder kommt nur unvollkommen zu Stande. Das Auf-
treten und das Ausbleiben der Reizbewegung zeigen also bei
unseren obigen Reizversuchen, bei der wiederholten Reizung
desselben Blattes, die grössere resp. geringere Stärke der Rei-
zung an, gerade so wie sie sonst, bei etwa gleicher Reizstärke,
die grössere resp. geringere Reizbarkeit der Blätter kundthun.
In den Fällen der wiederholten Reizung desselben Blattes
muss es sich danach herausstellen, welchen Einfluss die Stärke
der Reizung auf unsere Doppelschwankung hat, wenn wir die
mit der Reizbewegung verbundenen elektrischen Erscheinungen
mit den ohne die Reizbewegung ablaufenden vergleichen. Beieiner
früheren Betrachtung der betreffenden Versuche (S. 173) habe
ich gesagt, dass die Erfolge aller der verschiedenen Reizungen
nur unbedeutend, nur um wenige Scalentheile in der Grösse
des negativen Vorschlages oder der positiven Schwankung,
und dabei noch in unregelmässiger Weise sich unterscheiden.
Das bedarf aber jetzteiner Berichtigung insofern, als bei genauer
Musterung doch gerade in Bezug auf das, was uns augenblick-
lich interessirt, eine Besonderheit in den Versuchsergebnissen
sich findet. Wo nämlich die Reizbewegung eintritt, zeigt sich
bald blos der negative Vorschlag, bald blos die positive
Schwankung, bald zeigen sich beide verändert, und zwar ist
dann der Vorschlag ebensogross oder grösser, die Schwan-
kung ebensogross oder kleiner, als da, wo das Blatt in Ruhe
verharrt; nie aber ist im ersteren Falle der Vorschlag kleiner
oder die Schwankung grösser, als im letzteren Falle. Hin und
wieder kommt es bei Versuchen, welche nur aus einer Reizung
ohne Schliessung und einer Reizung mit Schliessung sich zu-
sammensetzen, wohl vor, dass bei der letzteren Reizung der
zuerst kleine Vorschlag bis auf das Doppelte vergrössert oder
die zuerst grosse Schwankung bis auf ein Viertel verkleinert
186 H. Munk:
erscheint; allein das sind Ausnahmefälle, und in der Regel
handelt es sich blos um wenige Scalentheile. Die Versuche
mit öfters wiederholter Reizung ohne Schliessung lehren auch,
dass auf die Grösse der Veränderung kein Gewicht gelegt
werden darf, da hier bei den verschiedenen Reizungen ohne
Schliessung oft ebensogrosse und noch grössere Unterschiede
in der Grösse des Vorschlages und der Schwankung vorkom-
men, als sie die Reizung mit Schliessung den Reizungen ohne
Schliessung gegenüber darbietet. Charakteristischist vielmehrnur,
dass diemit der Schliessung verknüpften Veränderungen der Dop-
pelschwankung immer in einer Vergrösserung des Vorschlages
oder in einer Verkleinerung der Schwankung oder in jener
Vergrösserung und dieser Verkleinerung zugleich bestehen, nie
aber umgekehrt als eine Verkleinerung des Vorschlages oder
eine Vergrösserung der Schwankung sich darstellen. Diese
Erfahrung, so regelmässig in so vielen Versuchen wiederkeh-
rend, kann kein blosser Zufall sein; und die Abhängigkeit der
Doppelschwankung von der Stärke der Reizung ist somit da-
hin auszusprechen, dass mit dem Wachsen der Reizung ent-
weder der Vorschlag oder die Schwankung oder beide zugleich
derart sich verändern, dass der Vorschlag grösser, die Schwan-
kung aber kleiner wird.
Da die Erscheinung der Doppelschwankung im Ganzen
als vom Widerstande unabhängig erwiesen ist, und da die ge-
schilderten Versuchsergebnisse sowohl mit wie ohne Compen-
sation wie auch mit Wechsel von Compensation und Nicht-
compensation in gleicher Weise erhalten werden, können Wi-
derstandsveränderungen am Blatte unserer Erfahrung nicht zu
Grunde liegen; und es ist die gefundene Abhängigkeit der Dop-
pelschwankung ebenso auf die Kräfte der Parenchyme und
ihrer Zellen zu beziehen, wie die Doppelschwankung_ sel-
ber. Daraus erwachsen aber neue und unüberwindliche
Schwierigkeiten für die Vorstellung, dass alle wirksamen
Zellen erst eine negative und dann eine positive Schwan-
kung erfahren. Denn es widerstrebt die Annahme, dass
mit dem Wachsen der Reizung die negative Schwankung der
Zellen gleichfalls wachsen, ihre positive Schwankung aber
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 187
abnehmen solle; und giebt man dieses selbst zu, so bleibt es
doch ganz unerklärlich, dass unter Umständen mit wachsender
Reizung nur die eine oder nur die andere Schwankung sich
verändern solle. Im Gegensatze dazu ist auf Grund der ande-
ren Möglichkeit, dass die eine Hälfte der Zellen in der Dicke
des Blattes eine negative und die andere Hälfte der Zellen eine
positive Schwankung erfahre, das Verständniss der gefundenen
Abhängigkeit leicht zu gewinnen. Beide Einzelschwankungen
können dann naturgemäss mit der Reizung wachsen, und nur
ihr zeitlicher Verlauf braucht mit wachsender Reizung derart
verschieden sich zu verändern, dass die positive Einzelschwankung
rascheran Steilheit desAnsteigenszunimmtals die negative Einzel-
schwankung und mithin das Maximum der ersteren Schwankung
dem derletzteren sich immer mehr nähert. Auch die Abhängigkeit
der Doppelschwankungen von der Stärke der Reizung sehen
wir also ein bedeutsames Moment zu Gunsten der letzteren
Möglichkeit abgeben, und das Gewicht, welches dieses Moment
schon im Augenblicke hat, wird durch die nächste Folge noch
wesentlich vergrössert werden.
Betrachten wir nämlich jetzt die complicirte Schwankung
näher. Ich habe sie der Doppelschwankung gegenüber bisher
nur dadurch charakterisirt, dass dem negativen Vorschlage
noch ein positiver Vorschlag voraufgeht. Aber ausserdem ist
sie noch in zweierlei Weise ausgezeichnet. Erstens ist ihr Auf-
treten immer und ausnahmslos mit der Schliessung des Blattes
verknüpft. Ich habe sie in ca. 10°/, der Fälle, in welchen die
Reizung zur Schliessung des Blattes führte, beobachtet, und
nie ist sie mir vorgekommen, wenn das Blatt in Ruhe blieb
oder sich nur unvollkommen schloss. Zweitens sind bei ihr
die Maxima der Vorschläge wie der Schwankung viel kleiner
als die Maxima des Vorschlages und der Schwankung bei der
Doppelschwankung, wie mit besonderer Sicherheit zu consta-
tiren ist, wenn man in Versuchsreihen mit wiederholter Rei-
zung zuletzt die complieirte Schwankung erhält. Im Uebrigen
ist das Verhalten der complieirten Schwankung ein vielfach
verschiedenes. Am häufigsten stellt sie sich etwa so dar, wie
es die ausgezogene Curve Fig. 31 zeigt: die beiden Vorschläge
Ba 1 han Say ah
en
188 H. Munk:
sind von ohngefähr gleicher Grösse und Dauer, und von wie-
derum etwa gleicher Grösse, aber längerer Dauer ist dann die
positive Schwankung, bei welcher der Spiegel manchmal eine
Weile auf dem Maximum der Ablenkung verharrt. Es kommt
aber auch häufig vor, dass der negative Vorschlag wesentlich
kleiner als der positive Vorschlag ist, und ich habe in seltenen
Fällen den ersteren sogar ganz ausfallen sehen, indem der
Spiegel, vom positiven Vorschlage zur Anfangsstellung zurück-
gekehrt, unmittelbar nochmals in positivem Sinne abgelenkt
wurde. Das Maximum der positiven Schwankung habe ich öf-
ters auch das des positiven Vorschlages übertreffen, selten hin-
ter dem letzteren zurückbleiben sehen.
Diese Erscheinungsweise der complicirten Schwankung
und ihr ausschliessliches Auftreten in Verbindung mit der
Schliessung des Blattes, wodurch sie als die Folge einer star-
ken Reizung gekennzeichnet ist, liefern offenbar, so gut wir
es nur wünschen konnten, den Beweis für die Richtigkeit der
Vorstellung, welche wir von den Veränderungen der Doppel-
schwankung mit wachsender Reizung vorhin gewonnen haben,
Indem die beiden Einzelschwankungen immer weiter wachsen,
zugleich aber die positive Einzelschwankung immer rascher an
Steilheit zunimmt als die negative, muss schliesslich an die
Stelle der Doppelschwankung eine andere Schwankungsform
treten mit eben den Eigenschaften, welche wir an unserer
complieirten Schwankung wahrgenommen haben. Und damit
ist zugleich die complieirte Schwankung ihrerseits vollkommen
verständlich geworden als das Endglied der Reihe von Doppel-
schwankungen bei wachsender Reizung.') Die ganze Summe
von Erfahrungen, welche wir behandelten, seit wir die Mög-
lichkeit in Betracht zogen, dass die eine Hälfte der Zellen eine
1) Die Figg. 29, 30 und 31 veranschaulichen die zur Beobach-
tung kommenden Schwankungen und deren Entstehung aus den Ein-
zelschwankungen, bei wachsender Reizung. Die ursprüngliche Kraft
ist durch die der Absceissenaxe parallele punktirte Gerade angezeigt.
Die Verdickung der Abscissenaxe in Fig. 30 zeichnet die Zeit aus, zu
welcher neben den elektrischen Veränderungen auch die Reizbewegung
erfolgt (s. unten $. 199).
EIER
u auen 2 a ran n BE nun Dunn um en m
E9 IV me!
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u. s. w. 189
positive und die andere Hälfte eine negative Schwankung er-
fahre, hat also auf Grund dieser Annahme ihre einheitliche
und einfache Erklärung gefunden, während dieselbe bei der
anderen Annahme, dass alle Zellen erst eine negative und dann
eine positive Schwankung erfahren, in jedem Stücke sich dem
Verständnisse entzieht. Von der letzteren Annahme ist mithin
abzusehen, und nur die erstere Annahme kann der Wirklich-
keit entsprechen.
Zu demselben Resultate gelangen wir auch auf einem an-
deren Wege, wenn wir nämlich die Folgen der Reizung an
den Blattflügeln untersuchen, was wir so lange verschoben
haben.
Berühren unsere Thonspitzen an der unteren Fläche des
Blattflügels zwei in derselben Querlinie nach innen von der
Haupt -Längslinie gelegene Punkte, so tritt auf Reizung eine
reine positive Schwankung ein, oder es geht der positiven
Schwankung höchstens ein spurweiser negativer Vorschlag, ein
Zucken des Spiegels in negativem Sinne, voraus. Die positive
Schwankung erscheint dabei desto grösser, je grösserder Abstand
der Elektroden und damit die ursprüngliche Ablenkung ist, und
erhöht die letztere um ca. '/,—?/,. Sind die berührten Punkte
der unteren Fläche des Blattflügels zu beiden Seiten der Haupt-
Längslinie gelegen, so verhält sich Alles gerade so, wie wenn
es sich um zwei Punkte gleicher Spannungsdifferenz auf der
inneren Seite der Haupt-Längslinie handelte. Bei Ableitung
endlich von einem der Haupt-Längslinie nahen Punkte der
unteren Fläche des Blattflügels und dem derselben Querlinie
zugehörigen Punkte der Mittelrippe, dort wo wir die Mittel-
rippe immer berühren, stellt sich regelmässig deutlich unsere
Doppelschwankung ein, doch beträgt der negative Vorschlag
nur 1—3 Se., selten noch etwas mehr und ist somit auffallend
klein gegenüber der ursprünglichen grossen Ablenkung; die
positive Schwankung erhöht hier diese Ablenkung mindestens
um die Hälfte, oft auf das Doppelte.
Ich brauche es wohl nicht als eine unumgängliche Bedin-
gung dieser Versuche noch besonders hervorzuheben, dass die
Reizbewegung ausbleiben muss. In günstigen Fällen lässt sich
190 H. Munk:
derselbe Versuch fünfmal und öfter anstellen, ehe das Blatt
sich schliesst, und man sieht alsdann die Felgen der verschie-
denen Reizungen, selbst wenn man abwechselnd compensirt
‘ und nieht compensirt, nur so unbedeutend von einander ab-
weichen wie bei den früheren Reizversuchen. Schliesst sich
endlich das Blatt, so hat man aus Gründen, die wir später
werden kennen lernen, noch Gelegenheit zu beobachten, dass
der negative Vorschlag dieses Mal ein wenig grösser als bei
den voraufgegangenen Reizungen ist; ein positiver Vorschlag
vor dem negativen ist mir hier nie vorgekommen.
Die Ergebnisse dieser Versuche sind nun nach der einen
Richtung hin ohne Weiteres und auf das Einfachste entschei-
dend. Wir haben jetzt das Verhalten der Kraft vor der Fläche
des Blattflügel-Parenchyms, wie auch zwischen der Fläche und
dem Querschnitte desselben Parenchyms geprüft; und wo die
Ableitung von einem der Haupt-Längslinie nahen Punkte einer
mittleren Querlinie und dem zugehörigen Punkte der Mittel-
rippe geschah, haben wir sogar das Verhalten der Spannungs-
differenz zwischen einem der negativsten Punkte vor der
Fläche und einem der positivsten Punkte vor dem Querschnitte
des Blattflügel-Parenchyms untersucht, einer Spannungsdiffe-
renz, welche viel grösser ist als die grösste Spannungsdifferenz,
welche vorher der Prüfung unterlag, als wir ausschliesslich
von der Mittelrippe ableiteten. Wenn alle wirksamen Zellen
in Folge der Reizung erst eine negative und dann eine posi-
tive Schwankung erführen, hätten mithin bei unseren neuen
Versuchen ebensogrosse und noch grössere negative Vor-
schläge sich ergeben müssen, als bei unseren früheren Reiz-
versuchen. Statt dessen hat sich neuerdings der negative Vor-
schlag ganz vermissen lassen, oder er ist nur spurweise und
selbst im äussersten Falle in nur sehr geringer Grösse aufge-
treten. Es kann danach kein Zweifel sein, dass die Annahme
eines gleichen Vorganges an allen wirksamen Zellen, einer
anfänglichen negativen und späteren positiven Schwankung
derselben, unbedingt zu verwerfen ist.
Nach der anderen Richtung hin sprechen dieselben Er-
gebnisse sehr zu Gunsten der zweiten Möglichkeit, dass die
|
4
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 191
eine Hälfte der Zellen in der Dicke des Blattes eine negative
und die andere Hälfte eine positive Schwankung erfährt, so
zwar, dass die negative Schwankung an den oberen Hälften
der Blattflügel- Parenchyme und an dem oberen Mittelrippen-
Parenchyme, die positive Schwankung an den unteren Hälften
der Blattflügel-Parenchymesich vollzieht. Setzen wir den extre-
men Fall, dass die negative Schwankung zur Unwirksamkeit der
von ihr betroffenen Parenchyme führt, so erläutern die Figg.
32 a und db (Taf. I.) an einem durch die Mittelrippe und die
benachbarten Partieen der Blattflügel gelegten Querschnitte
die Veränderungen, welche die Spannungen in den Querlinien
der unteren Blattfläche in Folge der negativen Schwankung
erfahren müssen. In Fig. 324 hat man vom Punkte m aus,
wo unsere Elektroden immer die Mittelrippe berühren, den
positiven (schraffirten) Gesammtquerschnitt der Blattflügel-
Parenchyme und des oberen Mittelrippen- Parenchyms vor
sich. Dagegen ist in Fig. 325 der positive Querschnitt der
oberen Hälften der beiden Blattflügel-Parenchyme und des
oberen Mittelrippen-Parenchyms fortgefallen, und blos unwirk-
samer Leiter erfüllt den Zwischenraum zwischen den unteren
Hälften der beiden Blattflügel-Parenchyme. Im letzteren Falle
ist, wie man sieht, der Punkt m nicht mehr der positivste Punkt
der beiden Querlinien des Schnittes, sondern hat an Positivität
gegen früher verloren, und der positivste Punkt der jederseiti-
gen Querlinie ist jetzt nach aussen vom Punkte m gelegen.
Nimmt man nun noch dazu, dass in der Wirklichkeit, während
das obere Mittelrippen-Parenchym und die obere Hälften der
beiden Blattflügel-Parenchyme ein ununterbrochenes Ganzes
bilden, dessen Zellen überall aneinanderstossen, zwischen die
beiden Hälften jedes Blattflügel - Parenchyms, wenigstens stel-
lenweise, unwirksamer Leiter in der Form der Seitennerven
eingeschoben ist, so müssen auch jetzt an der unteren Fläche
des Blattflügels die iso@lektrischen Curven gleicher Spannungs-
differenz spurweise weiter auseinanderfallen ‘als vorher.
In dieser Art müssen also jedesmal die Spannungen in
den Querlinien der unteren Blattfläche durch die negative
Schwankung sich verändern, nur in desto geringerem Grade,
192 H. Munk:
je weiter die betroffenen Parenchyme von der Unwirksamkeit
entfernt bleiben. Und damit stimmen die Ergebnisse unserer
Versuche vortrefflich überein, da wir gar keinen oder nur ei-
nen spurweisen negativen Vorschlag bei Ableitung von dem
Blattflügel allein fanden, einen etwas grösseren negativen
Vorschlag aber, sobald die eine Elektrode die Mittelrippe
berührte.
Auch dass der letztere Vorschlag immer viel kleiner war
im Verhältniss zur ursprünglichen Ablenkung, als der Vor-
schlag bei Ableitung von zwei Punkten der Mittelrippe, lässt
sich im Anschlusse an das eben Verhandelte sehr wohl ver-
stehen. Die Abnahme der Kraft, welche bei Ableitung von
einem Punkte des Blattflügels und dem derselben Querlinie
zugehörigen Punkte der Mittelrippe durch die negative Schwan-
kung der oberen Parenchymzellen herbeigeführt wird, ist of-
fenbar zu vergleichen der Abnahme der Kraft, welehe eintritt,
wenn an der seitlichen Hälfte der Vorrichtung Fig. 19 ein ab-
leitender Bogen mit seinem einen Fusspunkte auf der oberen
Fläche (Fig. 19 A), mit seinem anderen Fusspunkte in der-
selben Querlinie auf dem äusseren Querschnitte (Fig. 19 B)
und zwar über der Mitte des Zinks sich befindet und der letz-
tere Fusspunkt, immer in der Querlinie, nach der unteren
Fläche der Vorrichtung hin verschoben wird. Ebenso ent-
spricht die Abnahme der Kraft, welche bei Ableitung von zwei
Punkten der Mittelrippe durch die negative Schwankung der
oberen Parenchymzellen bedingt ist, derjenigen Abnahme der
Kraft, welche an der Vorrichtung Fig. 19 statthat, wenn wir
einen ableitenden Bogen, dessen Fusspunkte in derselben |
Längslinie über der Mitte des Zinks am äusseren Querschnitte
der Vorrichtung stehen, mit sich parallel nach der oberen oder
der unteren Fläche der Vorrichtung hin verschieben. Für die
gleiche Grösse der Verschiebung muss aber, wie die Betrach-
tung der Vorrichtung ohne Weiteres lehrt, die Abnahme der Kraft
im letzteren Falle viel beträchtlicher sein als im ersteren Falle.
Zwei durchaus verschiedene Wege, die Verfolgung der
Schwankungsformen an der Mittelrippe und ihrer Abhängig-
keit von der Stärke der Reizung einerseits und die Prüfung
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 193
der Folgen der Reizung an den Blattflügeln andererseits, haben
uns also zu ganz dem nämlichen Ziele geführt. Während es
sich als unmöglich herausgestellt hat, dass die Zellen der Blatt-
flügel-Parenchyme und des oberen Mittelrippen-Parenchyms in
Folge der Reizung zuerst einer negativen und dann einer po-
sitiven Schwankung unterliegen, sind uns alle Erfahrungen,
welche in Betracht kamen, verständlich geworden unter der
Annahme, dass die eine Hälfte jener Zellen in der Dicke des
Blattes mit einer negativen und die andere Hälfte mit einer
positiven Schwankung die Reizung beantwortet. Auch hat sich
noch auf dem zweiten Wege die Annahme in der wünschens-
werthen Weise dahin präcisiren lassen, dass es die Zellen der
oberen Hälften der Blattflügel-Parenchyme und des oberen
Mittelrippen-Parenchyms sind, an welchen die negative Schwan-
kung, und die Zellen der unteren Hälften der Blattflügel-Par-
enchyme, an welchen die positive Schwankung sich vollzieht.
Dass derart wirklich die Zellen sich verhalten, hat sonach eine
hohe Wahrscheinlichkeit für sich. Aber die Annahme hat noch
eine Probe zu bestehen. Wir waren oben (8. 175) auf Schwie-
rigkeiten gestossen, als wir unsere ersten, bei Ableitung von
der Mittelrippe gemachten Erfahrungen damit zu erklären ver-
suchten, dass an den Blattflügel-Parenchymen und an dem
oberen Mittelrippen-Parenchyme die Negativität der Fläche
gegen den Querschnitt in Folge der Reizung zuerst sinkt, dann
steigt und schliesslich wieder zur ursprünglichen Grösse ab-
nimmt. Allerdings bot sich uns dort der Ausweg dar, dass
wir die gleichen Veränderungen auch dem unteren Mittelrip-
pen-Parenchyme zuerkannten und nur bei diesem das anfäng-
liche Sinken der Negativität an Grösse sehr zurückstehen lies-
sen gegen das nachmalige Steigen. Allein dieser Ausweg er-
schien uns ungenügend, weil das Vorkommen der complicirten
Schwankung unverständlich blieb, und zum Mindesten verfrüht,
weil das Verhalten der Zellen der anderen wirksamen Par-
enchyme noch genauer zu erforschen war. Nunmehr, da das
Letztere geschehen, müssen wir auf unsere ersten Er-
fahrungen zurückkommen und von unserem jetzigen Stand-
punkte, der jeden Gedanken an einen verwickelten elek-
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 13
194 H. Munk:
trischen Vorgang am unteren Mittelrippen - Parenchyme un-
bedingt ausschliesst, das Verständniss jener Erfahrungen zu
gewinnen suchen.
Ohne dass wir auch das untere Mittelrippen - Parenchym
an der Doppelschwankung betheiligt sein lassen, kommen wir
zu dem Verständnisse nicht. Doch ist auch Nichts natürlicher,
als dass, wenn alle anderen wirksamen Parenchyme in Folge
der Reizung Veränderungen erfahren, das untere Mittelrippen-
Parenchym allein nicht unverändert bleibt; und Nichts liegt
näher, als dass, wie die Zellen des oberen Mittelrippen - Par-
enchyms mit den Zellen der oberen Hälften der Blattflügel-
Parenchyme der negativen, so die Zellen des unteren Mittel-
rippen-Parenchyms mit den Zellen der unteren Hälften der
Blattflügel-Parenchyme der positiven Schwankung unterliegen.
Der so naturgemäss erweiterten Annahme sehen wir dann
aber die Erfahrungen, um die es uns eben zu thun ist, in der
That sich fügen, sobald wir nur den verschiedenen zeitlichen
Verlauf‘) der beiden Einzelschwankungen, welche der Doppel-
schwankung zu Grunde liegen, im Auge behalten. Dass die
Doppelschwankung an der vorderen und an der hinteren Hälfte
der Mittelrippe in entgegengesetztem Sinne verläuft, und dass
sie auch bei Ableitung vom hinteren Ende der Mittelrippe und
von einem Punkte etwas vor der Mitte derselben auftritt, ist
jetzt gerade so erklärlich, wie vorher (S. 177); ebenso, dass
der negative Vorschlag bei Ableitung von der hinteren Hälfte
der Mittelrippe grösser ist, als bei Ableitung von der vorderen
Hälfte, da ja die vom unteren Mittelrippen - Parenchyme her-
rührende Kraft, obschon sie eine Veränderung erfährt, an der
negativen Einzelschwankung doch nicht betheiligt ist. Es lässt
sich jetzt aber auch sehr wohl verstehen, dass die positive
Schwankung bei Ableitung von der hinteren Hälfte der Mittel-
rippe sich kleiner ergiebt, als bei Ableitung von der vorderen
Hälfte, und dass da, wo ursprünglich gar kein Strom vorhan-
den ist, der negative Vorschlag immer auffällig grösser ist als
die positive Schwankung; denn in diesen Fällen summiren sich
algebraisch, um die positive Einzelschwankung zu bilden, die
1) S. oben S. 187; Figg. 29 und 30.
PE,
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 195
einander entgegengesetzt gerichteten gleichzeitigen Zuwächse
der vom unteren Mittelrippen-Parenchyme gesetzten aufsteigen-
den Kraft und der von den unteren Hälften der Blattflügel-
Parenchyme herrührenden absteigenden Kraft. Endlich lassen
sich jetzt auch die Folgen der Reizung begreifen, welche bei
Ableitung von den beiden Enden der Mittelrippe zur Beobach-
tung kommen.
Wenn wir für die von den Blattflügel- Parenchymen und
von dem oberen Mittelrippen- Parenchyme an der Mittelrippe
gesetzten Kräfte bisher stillschweigend eine Symmetrie in den
beiden Hälften der Mittelrippe angenommen haben, so ist dies
nur der Einfachheit halber geschehen, weil die geringe Unge-
nauigkeit, welche wir uns damit zu Schulden kommen liessen,
unseren bezüglichen Ausführungen keinen Eintrag thun konnte.
Denn es liess sich leicht übersehen, dass wegen der Dicken-
abnahme der Mittelrippe in der Richtung von vorn nach hin-
ten, wegen des wechselnden Umfanges der Mittelrippen - Par-
enchyme, wegen der von den Blattflügeln gebildeten Neben-
schliessungen u. s. w. jene Symmetrie eine unvollkommene
sein musste; und in Frage blieb nur die Art und Grösse der
bestehenden Asymmetrie, weil wir diese als einen vorerst we-
nig wesentlichen Umstand nicht weiter mit der Untersuchung
verfolgten (s. o. S. 56). Nunmehr lehren uns offenbar die
Reizversuche mit Ableitung von den Mittelrippen-Enden, dass
auch schon ohne den Hinzutritt der durch das untere Mittel-
rippen-Parenchym gesetzten Kräfte der positivste Punkt an
der Mittelrippe ein wenig über die Mitte derselben hinaus nach
hinten verschoben ist, dass auch schon blos in Folge der
Blattflügel-Parenchyme und des oberen Mittelrippen - Par-
enchyms eine schwache aufsteigende Kraft zwischen den
beiden Enden der Mittelrippe besteht. Indem die Verän-
derungen, welche diese Kraft in Folge der Reizung er-
fährt, mit den Veränderungen der vom unteren Mittel-
rippen - Parenchyme herrührenden stärkeren aufsteigenden
Kraft sich verbinden, entsteht die grosse positive Schwan-
kung mit dem kleinen negativen Vorschlage, welche wir be-
obachtet haben.
13*
196 H. Munk:
Die Annahme, welche sich vorher allseitig zutreffend er-
wiesen hatte, hat sonach, mit einer naturgemässen Erweite-
rung für das untere Mittelrippen- Parenchym, wie eine solche
von vorne herein (S. 184) sich hatte vorsehen lassen, auch bei
unseren ersten Erfahrungen die Probe bestanden; und die
ganze Reihe der Ergebnisse, welche unsere Reizversuche liefer-
ten, ordnet sich ausnahmslos derselben unter. Es kann daher
kein Zweifel sein, dass diese Annahme der Wirklichkeit ent-
spricht. Aber es ist höchst interessant, dass nunmehr auch
noch mit einem ganz einfachen Versuche die Richtigkeit der
gewonnenen Einsicht sich erhärten lässt. Da das untere Mit-
telrippen - Parenchym am Blatte und am Blattstiele ein natür-
liches einheitliches Ganzes bildet, muss, wenn die Zellen
dieses Parenchyms in Folge der Reizung eine positive Schwan-
kung erfahren, diese Schwankung, deren Erscheinungsweise an
der Blatt-Mittelrippe durch die gleichzeitigen Veränderungen
der anderen wirksamen Parenchyme des Blattes getrübt ist,
an der Blattstiel- Mittelrippe ganz rein hervortreten als eine
Verstärkung der durch das untere Mittelrippen-Parenchym hier
gesetzten absteigenden Kraft). Und das ist in der That der
Fall. Zwar habe ich selber den Versuch, auf den ich zu spät
verfiel, nicht angestellt, aber schon Hr. Sanderson hat ihn,
natürlich ohne von seiner Bedeutung eine Ahnung zu haben,
ausgeführt; und bei der Einfachheit der Beobachtung werden
wir uns auf deren Richtigkeit verlassen dürfen. „Wenn der
Stiel auf die Elektroden aufgelegt wird“, sagt Hr. Sander-
son?), „so wird die den Strom des Stieles anzeigende Ablen-
kung vergrössert, wenn das Blatt in einer der oben ange-
gebenen Weisen gereizt wird.“ Mit diesem unmittelbaren
Nachweise der positiven Schwankung der Zellen des unteren
Mittelrippen-Parenchyms sind aber offenbar zugleich unsere
voraufgegangenen Ermittelungen über die Veränderungen der
anderen wirksamen Parenchymzellen, aus welchen die Er-
kenntniss jener positiven Schwankung nur als eine einfache
und letzte Consequenz floss, auf das Beste verbürgt.
1) Vgl. oben 8. 834 —5.
2) Centralbl. S. 835; Proceed. p. 496.
N
nn a
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 197
In Folge der Reizung erfahren also die Zellen der oberen Hälf-
ten der Blattflügel-Parenchyme und des oberen Mittelrippen-Par-
enchyms eine negative, die Zellen der unteren Hälften der Blatt-
flügel-Parenchyme und des unteren Mittelrippen-Parenchyms eine po-
sitive Schwankung; d. h. die Negativität der Mitte der Zellen gegen
ihre Pole nimmt in Folge der Reizung bei den ersteren Zellen ab,
bei den letzteren Zellen zu. Mit grosser Geschwindigkeit
müssen sieh diese Abnahme und diese Zu-
nahme von dem Orte der Reizung aus durch
die ganze Zellenmasse fortpflanzen, in einer
Zeit, die nur klein ist gegen die Dauer des
Vorganges an der einzelnen Zelle, da anderenfalls
Unterschiede in den elektrischen Erscheinungen, je nach
dem Orte der Reizung, sich uns hätten kundgeben müs-
sen. Und indem so ohne wesentlichen Fehler der elek-
trische Vorgang an allen zusammengehörigen Zellen als
gleichzeitig anzunehmen ist, lässt sich, was wir für die
Einzelschwankungen, welche die an der Mittelrippe zur Be-
obachtung kommende Doppelschwankung resp. complieirte
Schwankung zusammensetzen, hinsichts ihrer Abhängigkeit
von der Stärke der Reizung ermittelt haben, auf die Vorgänge
an den Zellen selbst übertragen. Mit wachsender Rei-
zung wachsen danach die Abnahme und die Zu-
nahme und verändern sich zugleich in ihrem zeit-
lichen Verlaufe derart, dass die Zunahme immer
rascher an Steilheit des Ansteigens zum Maximum
gewinnt, als dieAbnahme.an Steilheitdes Abfalles
zum Minimum; so dass jenes Maximum, das bei
schwacher Reizung verhältnissmässig weitin der
Zeit zurückbleibt gegen dieses Minimum, mit
wachsender Reizung dem letzteren immer mehr
sich nähert. Ueber die relative Grösse der Abnahme und
der Zunahme ist Nichts mit Sicherheit auszusagen, wegen der
verwickelten Beziehung, in welcher der zur Beobachtung kom-
mende negative Vorschlag zur negativen Schwankung der
Zellen steht (s. o. S. 192).
Bemerkenswerth ist dann noch ein Zeitverhältniss der elek-
Pa Born RE Ra ER er Se Sue
198 H. Munk:
trischen Vorgänge, für dessen Verständniss ich Folgendes vor-
ausschicken muss.
NachHrn. Sanderson liegt zwischen der Reizung und der
negativen Schwankung bei unserem Blatte ein Intervall von'/,—!/,
Sec. (s.0.S. 168), und dieses Intervall soll der Periode der laten-
ten Reizung des Muskels entsprechen. „Onthus exciting theleaf“,
sagt Hr. Sanderson!), „the spot of light shot to the left, but
it was observed that there was an obvious interval of time
between the excitation and the effect. This period, though of
much greater duration, corresponds to the so-called „period of
latent stimulation* in muscle.“ Das ist aber unrichtig, da man
unter der Periode oder dem Stadium der latenten Reizung des
Muskels die Zeit versteht, welche zwischen der Reizung und
dem Beginne der Oontraction verfliesst; und dieses Latenzstadium
der Contraction hat Hr, Sanderson verwechselt mit dem La-
tenzstadium der negativen Schwankung, dem Intervalle zwischen
der Reizung und der negativen Schwankung des Muskels.
Wenn Hrn. Sanderson’s Beobachtung richtig ist, so hat
unsere Doppelschwankung am Blatte ein Latenzstadium von
’y—'l, Sec.; aber von demselben ist dann wohl zu unterschei-
den ein anderes Latenzstadium der Reizbewegung,
das Hrn. Sanderson entgangen ist. Um das letztere zu
constatiren, bedarf es nicht erst besonderer Hülfsmittel; so-
bald man nur überhaupt darauf achtet, fällt es auf, wie eine
verhältnissmässig lange Zeit, etwa eine Secunde und mehr,
zwischen der Reizung und dem Beginne der Reizbewegung
verfliesst; und an Blättern geringerer Reizbarkeit, bei welchen
diese Zeit verlängert ist, lässt sich das mehrere Secunden be-
tragende Intervall sogar bei flüchtiger Betrachtung nicht über-
sehen,
In dieses Latenzstadium der Reizbewegung fällt nun ein
grosser Theil der elektrischen Vorgänge, welche die Reizung
nach sich zieht. Schon bei den Reizversuchen mit Ableitung
von der Mittelrippe kann man sich davon überzeugen. Wenn
der Beobachter am Fernrohre in einem Falle, in welchem das
1) Nat. p. 128.
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 199
Blatt auf Reizung sich schliesst, nachdem er die Doppelschwan-
kung bis zur Constatirung des positiven Maximum’s verfolgt
hat, den Kopf nach dem Blatte wendet, so findet er das Blatt
jüngst erst in die Bewegung eingetreten, die Blattflügel höch-
stens etwa um !/, des Weges, den sie zur Schliessung des
Blattes zurückzulegen haben, einander genähert. (Genauer ist
aber der Sachverhalt festzustellen, wenn bei Ableitung von
der Mittelrippe und der unteren Fläche des Blattflügels das
Blatt sich schliesst. Obwohl hier, sobald die Reizbewegung
beginnt, der Bussolkreis geöffnet wird, sieht man doch regel-
mässig die Doppelschwankung, die positive Schwankung mit
dem negativen Vorschlage, so wie sonst ablaufen, nur dass
die Rückkehr des Spiegels zur Anfangsstellung rascher als
sonst erfolgt; und wo Reizversuche ohne Reizbewegung vor-
ausgegangen waren, stellt sich jetzt das Maximum der positi-
ven Schwankung ohngefähr ebensogross oder doch nur wenig
kleiner als vorher heraus. Es sind danach die negative
Schwankung der oberen Parenchymzellen und die
positive Schwankung der unteren Parenchymzel-
len zu einem grossen Theile, etwa bis zum Mini-
mum resp. Maximum, bereits abgelaufen, wenn
die Reizbewegung beginnt.
$. 7. Schlussbetrachtungen.
Das sind die Untersuchungen, welche ich mitzutheilen
hatte. Es bleibt nur übrig, dass wir ihre Ergebnisse noch von
den weiteren Gesichtspunkten aus mustern, welche unser In-
teresse für das Dionaea-Blatt bestimmten.
Unsere Kenntniss von der Contraction ist leer ausgegan-
gen, und sie musste leer ausgehen, weil die Bewegung unse-
res Blattes, wie sich ergab, gar Nichts mit der Muskelverkür-
zung zu schaffen hat, sondern den sonstigen Bewegungen der
Pflanzen sich anreiht. Von den beiden Eigenschaften, welche die
Thierähnlichkeit der Dionaea ausmachen sollten, der Verdau-
ungsfähigkeit und der Contractilität, bleibt demgemäss auch
nur die erstere bestehen; und selbst hinsichts dieser muss man
auf eigene Gedanken kommen, wenn man einerseits den
TFEIEIT
2
it
Ze
200 H. Munk:
Reichthum der Pflanze an Wurzeln und ihr prächtiges Gedeihen
bei Ausschluss jeder thierischen Nahrung constatirt, anderer-
seits die Blätter durch die Zufuhr thierischer Nahrung zu
Grunde gehen, gleichsam am Bissen ersticken oder richtiger
durch die Nahrung vergiftet werden sieht. Das Vertreiben
und Fangen von Inseeten mag unserer Pflanze von Nutzen
sein, aber in deren Verdauung kann ich nur einen Nachtheil
für die Pflanze erkennen; und gerade das Eigenthümliche, dass
der Verdauungsvorgang hier zugleich physiologischer und
pathologischer Natur ist, scheint mir es zu bedingen,
was Hr. Darwin so auffällig findet'), dass die Dionaea
trotz der so hohen Differenzirung ihrer Organe und trotz
ihrer ausgezeichneten Anpassung doch auf dem Wege zum
Erlöschen ist.
In einer anderen Richtung hat sich die gesuchte Entschei-
dung gefunden. Als die Präexistenz der elektrischen Gegen-
sätze im Muskel und Nerven von Hrn. L. Hermann?) be-
stritten worden war, weil die ruhenden Muskeln im unversehr-
ten lebenden Frosche stromlos sein und erst durch eine mit
der Entblössung verbundene Schädlichkeit elektromotorisch
wirksam werden sollten, habe ich das Irrige der neuen Lehre
dargethan?), indem ich zeigte, wie die zwischen der Haut und
den Muskeln des Frosches befindliche Lymphe eine gute Ne-
benschliessung für die Muskelströme abgiebt, so dass nur Spu-
ren dieser Ströme am unversehrten Thiere zur Beobachtung kom-
men können, und indem ich weiter die schwachen Muskelströme
neben den Hautströmen an der Oberfläche des unenthäuteten
lebenden Frosches nachwies. Zwar hat sich Hr. Hermann
bei dieser Widerlegung nicht beruhigt; aber weder habe ich
auf seine phrasenhaften Erörterungen‘) etwas Wesentliches
1) Ins. Pl. p. 358.
2) Untersuchungen zur Physiologie der Muskeln und Nerven. Drit-
tes Heft. Berlin 1868.
3) Dies Archiv, 1868. S. 529 ff.; 1869. S. 649 f.
4) Archiv für die gesammte Physiologie u. s. w. Bd. III. 1870. S.
15 #.; Bd. IV. 1871. 8. 149 £t.
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 201
zu bemerken nöthig gehabt, das nicht schon in meinen Mit-
theilungen enthalten war, noch habe ich es über mich zu ge-
winnen vermocht, mit einem Gegner in Discussion zu treten,
der nicht begriff, dass, wenn, was sonst deutlich sichtbar, unter
Umständen undeutlich oder selbst gar nicht wahrnehmbar
ist, daraus doch nicht geschlossen werden darf, dass dasselbe
dann gar nicht vorhanden ist. Jetzt bin ich Hrn. Her-
mann auf einem neuen, dem pflanzlichen Gebiete begegnet.
Nach den Strömen an Thieren hat Hr. Hermann auch noch
die Ströme an Pflanzen in den Bereich seiner Untersuchung
gezogen!) und auch auf diese Ströme, welche er an den Sten-
geln der verschiedensten Pflanzen, an Blättern, Blüthen u. s.:w.
studirt hat, seine Lehre ausgedehnt. Die Ströme der Pflanzen?)
stehen nach ihm „mit den Lebenseigenschaften der Pflanzen-
gewebe in innigem Zusammenhange, gerade wie die Muskel-
ströme mit den Lebenseigenschaften der Muskeln. Ihre
Grundbedingung ist das Vorhandensein einer Verlet-
zung an einem noch lebenden Pflanzentheile; die Art der
1) Ebenda, Bd. IV. 1871. S. 155 ff.
2) Die Kenntniss der Pflanzen - Ströme ist bisher eine höchst
ungenügende geblieben. Die älteren Untersuchungen sind sicht-
lich unzureichend, und die beiden neuesten, die eben angeführte
Hrn. Hermann’s vom J. 1871 und Hrn. J. Ranke’s Untersuchung
vom J. 1872 (Münchener Sitzungsber. Math.-phys. Kl. II. S. 177 ff.)
widersprechen einander geradezu. Darauf, dass Hr. Hermann alle
Ströme von Verletzungen ableitet, während Hr. Ranke „falsche“ Ströme,
die von Verletzungen herrühren, von den „wahren“ Strömen unter-
scheidet, würde weniger Gewicht zu legen sein. Aber-es besteht ein
rein thatsächlicher und dabei vollkommener Widerspruch in der Haupt-
sache, indem Hr. Hermann den künstlichen Längsschnitt deutlich
längsgefaserter Pflanzentheile positiv, Hr. Ranke dagegen negativ
gegen den künstlichen Querschnitt findet. Da Hr. Ranke Hrn. Her-
mann’s Untersuchung in seiner Mittheilung nicht berücksichtigt hat,
sind neue Untersuchungen erforderlich, um den wahren Sachverhalt
festzustellen. DassHr. Ranke an seinen von künstlichem Längs- und
Querschnitte begrenzten parallelfaserigen Pflanzenstücken auch die
Neigungsströme und die schwachen Längs- und Querschnittsströme
hat beobachten können, scheint zugleich mit unseren Ermittelungen
für Hrn. Ranke’s Angabe zu sprechen.
202 | H. Munk:
Verletzung ist wie bei den Muskeln gleichgültig.*') Schlagen-
der aber kann eine Widerlegung gar nicht gedacht werden,
als sie die vorliegenden Untersuchungen an unversehrten Blät-
tern unversehrter Pflanzen liefern mit ihren elektrischen Er-
scheinungen von der gleichen Art, wie die elektrischen Er-
scheinungen an den Muskeln und Nerven. Verschwendung
wäre danach jedes Wort, das sich noch weiter mit der Irrlehre
befasste.
Endlich, was die Fragen nach Wesen und Bedeutung der
elektrischen Erscheinungen an Nerv und Muskel betrifft, sehen
wir zwar nicht unmittelbare Erfolge, aber doch wesentliche
Fortschritte erzielt. An die Stelle der spurweisen und vielfach
unzutreffenden ersten Wahrnehmungen von Hrn. Sanderson
ist eine genauere Kenntniss des Dionaea-Blattes in elektrischer
Beziehung getreten, wonach dieses Blatt den Nerven, Muskeln
und elektrischen Organen mit seiner elektromotorischen Wirk-
samkeit sich an die Seite stellt. Und nicht blos im Allgemei-
nen ein neues Angrifisobjeet ist damit gewonnen, um die
elektrischen Erscheinungen an den Organismen verstehen zu
lernen, sondern auch die besonderen Angriffspunkte sind
bereits hervorgetreten. Gegenüber den zur Zeit unfassbaren
elektromotorisch wirksamen Muskel- und Nervenelementen
und gegenüber den nicht minder dunklen Elementen der elek-
trischen Platte haben wir an unseren wirksamen Parenchym-
zellen wohldefinirte und dem Versuche wohl zugängliche Ge-
bilde; und diese Gebilde zeigen auf Reizung, bei auch
anderweitig entgegengesetztem Verhalten, die einen eine
negative, die anderen eine positive Schwankung, während
sonst blos die negative Schwankung dem Nerven und
Muskel, blos die positive Schwankung der elektrischen
Platte zukommt. Bis zu einem gewissen Punkte ist dann
auch schon der Angriff durchgeführt. Da die elektromotori-
schen Kräfte unserer Zellen nach Ablauf der elektrischen
Folgen der Reizung, auch wenn die Reizbewegung stattgehabt
hat, genau dieselben wie vor der Reizung und überhaupt überall
1) A. a. 0. S. 161—2.
Ei. RG
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|
|
|
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Archiv fAnat.u. Phystol. 1816:
87271
Fig.15. Fig.16 a,
Fig. 168.
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Fig. %4B.
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Fig. 24.
BE
H Nunk del.
Die elektrischen und Bewegungs-Erscheinungen u.s.w. 203
unabhängig vom Oeflinungswinkel des Blattes sind, und da die
elektrischen Vorgänge in Folge der Reizung auch ohne die
Reizbewegung eintreten und, wo sie von der letzteren begleitet
sind, doch zum grossen Theile vor deren Beginn ablaufen, so
steht es fest, dass die elektromotorische Wirksamkeit der Zel-
len zur Form und zum Wassergehalte der Zellen in keiner
unmittelbaren Beziehung steht. Vielmehr muss die elektromo-
torische Wirksamkeit der Zelle der Ausdruck oder die Re-
sultirende sein einer Eigenschaft der Zelle oder eines Bestand-
theiles derselben, welche unmittelbar durch die Reizung vor-
übergehend verändert wird und deren Veränderung, wenn sie
eine gewisse Grösse erreicht hat, die Form- und Wasserge-
halts-Veränderung der Zelle nach sich zieht. Da nun nach
Hrn. Pfeffer!) der Primordialschlauch der bei Reizung va-
riable Theil der Zelle ist und zwar sein Filtrationswiderstand
in Folge der Reizung plötzlich sinkt, so muss die elektromo-
torische Wirksamkeit der Zelle der Ausdruck oder die Resul-
tirende sein der Eigenschaft des Primordialschlauches, von wel-
cher die Grösse seines Filtrationswiderstandes abhängig ist.
Von hier aus kann möglicherweise schon der nächste Schritt
die Bewältigung der Probleme einleiten; aber gerade je fol-
genreicher der Schritt wäre, desto mehr nehme ich Anstand,
mit der Hypothese der Erfahrung vorzugreifen.
Berlin, im März 1376.
1) Physiologische Untersuchungen. Leipzig 1873. 8. 131 fi. —
Botanische Zeitung, 34. Jahrg. No. 5. (4. Februar) 1876. S. 75 ff.
Ueber die Allantoıs des Menschen.
Von
Dr. W. Krause,
Professor in Göttingen.
Gegen das von mir!) beim Menschen beschriebene blasen-
förmige Hervorspriessen der Allantois hat Kölliker?) einge-
wendet: „Bis auf Weiteres halte ich die fragliche Allantois
für den Dottersack oder die Nabelblase, wie sie beim Men-
schen heisst und den zerrissenen Dottersack von Krause, der
bei Embryonen dieses Alters nie mehr so gross ist,
wie die Figur zeigt, für den abgerissenen Nabelstrang mit
Fetzen des Ammion — —“.
Kann man wohl einen unanatomischeren Einwand erheben?
Wir finden bei dem fraglichen Embryo zwei in der Me-
dianlinie hervorragende Blasen. Die Eine kleinere liegt distal-
wärts und unmittelbar an der einwärts gebogenen Cauda, die
andere grössere ebenfalls gestielte Blase mehr proximalwärts.
Eine Nabelschnur ist noch nicht vorhanden. Die distale Blase
ist mithin die Allantois; die proximale ist die Dotterblase
(Nabelbläschen) — nicht umgekehrt, wie Kölliker will. Ein
Blick auf meine Abbildung (s. d. Holzschnitt u. a. a. O. Taf. VI.)
Menschlicher Embryo 3mal vergrössert. a Allantois. d Dottersack,
1) Dies Archiv, 1875. S. 215. Taf. VI.
2) Entwicklungsgeschichte des Menschen u.s.w. 1876. S. 306.
W. Krause: Ueber die Allantois des Menschen. 205
schliesst jeden Zweifel darüber aus. Der letztgenannte ausge-
gezeichnete Embryologe scheint übersehen zu haben, dass nach
seiner Erklärungsweise der fragliche Embryo aus dem unteren
Ende der Aorta entspringende Aa. omphalo-mesaraicae und ober-
halb derselben entstandene Aa. umbilicales besitzen müsste.
Folgeweise müsste auch sein Enddarm proximalwärts von der
Valvula coli sich befinden; oder trivial ausgedrückt: der After am
Magen sitzen! Und was die Grösse der Dotterblase anlangt, so ist
sie schwerlich bedeutender, als an dem von Kölliker (a.a. 0.
Fig. 231) abgebildeten Embryo Thomson’s, dessen Alter
Kölliker in die dritte, Thomson selbst in die vierte bis
fünfte Woche setzt. — Die reelle Umkehrung der beiderseiti-
gen Insertionsstellen jener Blasen würde mithin eine Missbil-
dung darstellen, die nicht nur absolut unerklärlich, sondern
auch niemals und nirgends beobachtet wäre. Ausserdem fehlt
jede noch so schattenhafte Begründung für eine solche Annahme,
um so mehr, da der Embryo im Uebrigen ganz normal ist.
Alles hingegen erklärt sich auf das Natürlichste und Unge-
zwungenste, wenn man annimmt, dass in dem fraglichen Em-
bryo ein rasch vorübergehendes, vielleicht kaum einen Tag
dauerndes, aber unvermeidliches Entwicklungsstadium vorliegt,
welches bisher beim Menschen noch nicht beobachtet worden
war.
Die Streitfrage erscheint damit abgethan. Eine anderwei-
tige Erörterung jedoch drängt sich bei dieser Gelegenheit auf:
sie betrifft Altersbestimmungen an sehr jungen mensch-
lichen Embryonen überhaupt. Allerdings stimmen manche Be-
funde in Bezug auf Grössen-Verhältnisse und Fortschreiten der
Entwicklung nach den bisher vorliegenden Angaben über die
so seltenen menschlichen Embryonen aus dem Ende des ersten
Schwangerschaftsmonats nur schlecht mit den von den ver-
schiedenen Autoren selbst registrirten Angaben über die muth-
massliche Dauer der betreffenden Schwangerschaft. Die Wahr-
nehmung dieser Widersprüche sowohl älterer als neuerer Be-
obachter unter einander muss an sich schon dazu führen, jene
zeitlichen Angaben für höchst unsicher zu halten. Eine ein-
206 W. Krause:
fache Ueberlegung erklärt solche von mir (a.a. O.) ebenfalls
angedeutete Unsicherheit, die bekannt genug ist, trotzdem sich
aber zur Zeit leider nicht beseitigen lässt.
Experimentirt man an Säugethieren, so ist der Concep-
tionstermin bis auf den Tag oder vielleicht selbst die Stunde
genau bekannt. Bei menschlichen Embryonen hätte man im
glücklichen Falle mit einer Selbstmörderin oder plötzlicher ge-
waltsamer Todesart zu thun: gewöhnlich handelt es sich um
abortirte Eier.
Der Abortus hat natürlich seinen guten pathologischen
Grund, wenn dieser auch im speciellen Falle nicht aufzuklären
ist. Dabei sind verschiedene Verhältnisse möglich.
Entweder der Embryo entwickelte sich eine Zeit lang,
z. B. drei bis vier Wochen normal, staıb dann ab und wurde
noch einige Zeit anscheinend ohne sich zu verändern im
Uterus getragen. Eben so gut kann sich die Entwicklung
durch langsam eintretende Ernährungsstörungen der absterben-
den Frucht retardiren. Beide Male wird das Resultat sein,
dass der Beobachter den Embryo zufolge etwa vorliegender
Angaben über die letzte Menstruation u.s. w. für älter hält,
als es dessen Grössenverhältnissen u. s. w. entspricht.
Andererseits kann die relativ zu langsame Entwicklung
Verminderung der embryonalen Dimensionen resp. Differenzi-
rung der Organe herbeiführen, und wenn keine Angabe über
Menstruation oder Conceptionstermin vorliegt, es bewirken,
dass der Embryo jünger erscheint, als er wirklich ist. — Beide
Fehlerquellen vermögen eventuell auch an Eiern wirksam zu
werden, die im Uterus von Selbstmörderinnen u. s. w. gelegent-
lich gefunden werden sollten.
Das bisher vom Menschen vorliegende Material ist mithin
keineswegs danach angethan, die absoluten oder auch nur die
relativen Zeitverhältnisse der Entwicklung mit jener Genauig-
keit festzustellen, die bei Thieren vergleichsweise leicht erreich-
bar ist — selbst wenn man von individuellen Unterschieden
z. B. der Körpergrösse vorläufig ganz absehen wollte. Viel-
leicht könnte sogar die relative Zeitbestimmung z. B. in Bezug
auf das Kopf- und Schwanz-Ende erheblich differiren, falls Er-
Ueber die Allantois des Menschen. 907
nährungsstörungen in der Uteruswand oder im Embryo selbst
die obere Körperhälfte des letzteren mehr afficirten, als die
untere, resp. umgekehrt. Sogar bei Selbstmord u.s. w. dürf-
ten solche keineswegs als ausgeschlossen schlichtweg voraus-
gesetzt werden.
Nach allen diesen Umständen wird also anzurathen sein,
bei Schlüssen, die (wie der oben nach Kölliker eitirte) di-
rect oder indirect auf relative oder absolute Altersbestimmun-
gen von Embryonen aus dem ersten Schwangerschaftsmonate
basirt sind, grosse Behutsamkeit walten zu lassen. Dies ist
übrigens keine neue Anforderung. Am besten wird es sein,
die guten von den unzuverlässigen Beobachtungen zu sondern
und letzteren ein entsprechend vermindertes Gewicht beizu-
legen.
Neue Wahrheiten pflegen aus begreiflichen Gründen hier
und da schwer Eingang zu finden. Möchten die bekannten
drei Stadien, welche sonst in jedem Einzelfalle durchlaufen
werden, diesmal rasch absolvirt werden. Sie lauten ohne Zwei-
fel: A. es ist die Dotterblase. — BD. es ist wider die Antides-
cendenztheorie. — . es steht bereits in älteren Exemplaren
eines Lehrbuchs der Entwicklungsgeschichte.
Die Thatsachen aber behalten das letzte Wort.
Ueber die Glandula thyreoidea ohne Isthmus
beim Menschen.
Von
Dr. WENZEL GRUBER,
Professor der Anatomie in St. Petersburg.
Hiezu Taf. IV.
A. Fremde Beobachtungen.
J. B. Morgagni') hatte bei einem alten Frauenzimmer
im November 1706 zu Bologna die Glandula thyreoidea in
zwei Lobi getheilt gesehen, welche durch den ganzen Zwischen-
raum getrennt waren, den sonst der Isthmus einnimmt. Der-
selbe gedenkt wohl der Beobachtung von Joh. Heinr. Schultze,
Professor zu Altdorf, welcher nach einer Nachricht v. J. 1727
(1731) im Herbst 1726 die Glandula thyreoidea bei einem mit
einer starken Hernie behaftet gewesenen Manne in zwei Stücke
völlig getheilt angetroffen hatte?) Zwei von einander ge-
trennte Glandulae thyreoideae an einem monströsen todtgebore-
nen Kinde 1736 beobachtet zu haben, hatte auch Joh. Jac.
Ritter in einer Epistola anatomiea an Haller mitgetheilt,?)
welcher in seiner Responsio berichtete, dass ihm diese Abwei-
chung auch „aliquando“* vorgekommen sei.!) Diese Angabe
wiederholt A. v. Haller5) später wieder und citirt dabei auch
1) Epistol. anat. Patavii 1764. Fol. Epist. IX. Art. 30. p. 82.
2) Einige Singularia und Notabilia so bei der Sectione anatomiea
eines simplen Menschen observirt worden. — Miscellanea phys.-med.-
math. von Andr. Elias Büchner. An. 1727 (1. u. 2. Quartal),
Erfurt 1731. 4. Cl. IV. Aprilis 1727. Art. 3. S. 251.
3) „De foetu exomphalodaeo puerili“. — Acta phys.-med. Vol. VI.
Norimbergae 1742. 4. Observ. 12. p. 45.
4) Op. eit. p. 46.
5) Elementa physiologiae. Tom. III. Lausannae 1768. Lib. IX,
8. XXI. p. 384 et not. e. „Semel vidi“.
W. Gruber: Ueber die Glandula thyreoidea u. s. w. 209
Tab. XXV. von Barth. Eustachius, wo aber zwei Glandu-
lae thyreoideae nur vielleicht abgebildet sınd.) Sabatier?)
bemerkte ausdrücklich, dass er die Glandula thyreoidea beim
Menschen „quelquefois“ in zwei Portionen, in eine rechte und
in eine linke, getheilt gesehen habe, wie bei den meisten Qua-
drupeden. J. F. Albers?) hat einen Fall abgebildet. ©. Hand-
field Jones‘) führt vier Beispiele aus dem Museum des
Guy’s Hospitales in London an. An einem Beispiele der
Glandula partita sind zugleich zwei Lobi medii (median colums)
an dem zweiten und dritten Beispiele ist je ein Lobus medius,
an dem vierten Beispiele ist ein Lobus medius dexter und
eine isolirte Portion an der linken Seite (Glandula thyreoidea
accessoria superior) vorhanden. In den Werken vieler anderer
Anatomen bis in die neueste Zeit wird der Abweichung ent-
weder gar nicht gedacht oder doch die Häufigkeit ihres Vor-
kommens mit den unbestimmten Ausdrücken „sehr selten, sel-
ten, bisweilen“ bezeichnet, welche, wie man weiss, nicht immer
eigene Beobachtungen voraussetzen.’) Allerdings mögen in so
manchem Museum Beispiele davon aufgestellt sein, wenn ich
auch in einer ganzen Reihe von Museums-Catalogen, die mir
zur Durchsicht zur Verfügung gestanden hatten, davon keine
Präparate verzeichnet fand.
1) Barth. Eustachii tabulae anat. ab J. Maria Laneisio.
Amstelodami 1722. Fol. Tab. XXV. (In der Erklärung S. 61 keine
Angabe.)
2) Trait@ comp]. d’anat. Tom. II. Paris. 8°. Annee 1777, p. 247.
3) Atlas d. pathol. Anat. Abth. II. Bonn 1842. Fol. Tab. XII
Fig. 3.
4) The Cyelopaedia of anatomy and physiology. Vol. II. London
1852. Art.: „Thyroid. Gland.“ p. 1002.
5) Ich hatte ja schon die Ehre zu beweisen, dass man gern flun-
kert und über die Häufigkeit einer Anomalie, die man nur 1 Mal und
von 1725—1869, also während 144 Jahren, nicht wieder gesehen hatte,
denn doch mit den bequemen Ausdrücken: „sehr selten, selten, bis-
weilen“ herum warf. (Siehe meine Aufsätze über supernumeräre
Handwurzelknochen.)
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1375. 14
210 W. Gruber:
B. Eigene Beobachtungen.
Ich hatte während einer langen und an Erfahrung reichen
Laufbahn auch auf die Abweichungen der Glandula thyreoidea
mein Augenmerk gerichtet und darunter namentlich auf die,
durch welche sie, in Folge des Mangels des Isthmus, eine
Glandula bipartita wird, weil diese Art ihrer Abweichung
nicht nur als Bildungshemmung und Thierbildung interessant,
sondern auch in operativ-chirurgischer Beziehung kennenswerth
ist. Ich erlaube mir daher auch meine Erfahrungen über
diese Abweichung im Folgenden mitzutheilen, und finde
mich dazu um so mehr veranlasst, da ich im Stande bin, dar-
zuthun, wie es sich bei dieser Abweichung eigentlich mit der
Communication der Arteriae thyroideae von beiden
Seiten in der für den mangelnden Isthmus glandulae thyreoi-
deae auftretenden Praetracheallücke verhalte, was, so viel ich
weiss, man noch nicht kennt.
Mir sind bis jetzt 31 Fälle des Mangels des Isthmus der
Glandula thyreoidea zur Beobachtung gekommen. Den ersten
Fall habe ich in Prag, die übrigen in St. Petersburg beobach-
tet. Von den Petersburger Fällen habe ich den ersten 1847,
den letzten 1872 angetroffen. Von diesen bin ich auf 15 ge-
legentlich, auf 15 jedoch bei den geflissentlich vorgenommenen
Untersuchungen von 300 Kehlköpfen und deren Anhängen ge-
stossen, welche ich hinter einander vom September 1860 bis
Ende 1864, also in einem Zeitraume von 4 Jahren, einer all-
seitigen Untersuchung unterzogen hatte. Die Untersuchungen
hatten sich auch auf die Arteriae thyreoideae erstreckt, um zu
erfahren, wie es um ihre Communication stehe. Es wurden
deshalb von mehr als 100 Kehlköpfen deren Glandulae thyreoi-
deae auch arteriell injieirt. Unter diesen gelungenen injieirten _
Glandulae thyreoideae waren 10, welche keinen Isthmus
besassen. Ich konnte daher das Verhalten der Arterien der
Glandula thyroidea nicht nur mit, sondern auch ohne Isthmus
studiren. Von den Fällen ohne Isthmus, auf die ich gelegent-
lich gestossen war, hatte ich nur wenige zur arteriellen Injec-
tion verwenden können, weil manche andere, wegen zu weit
Ueber die Glandula thyreoidea u. s. w, 211
vorgeschrittener Präparation dazu nicht geeignet waren und für
noch andere taugliche die Zeit zur Ausführung der Injection
mangelte. |
Von den von mir beobachteten 31 Fällen der Abweichung
hatte ich den in Prag bei einem 3öjährigen Irren aufgefunde-
nen Fall und einen anderen Fall, welcher 1869 bei einem
Manne, der mit einer retrotrachealen Retentionsgeschwulst be-
haftet war, sich vorgefunden hatte, bereits veröffentlicht.') Es
erübrigt somit noch der Bericht über 29 Fälle:
Vorkommen. Von den mit Mangel des Isthmus der
Glandula thyreoidea behaftet gewesenen 29 Individuen waren
26 männliche und 3 weibliche. Von 15 Fällen aus den auch
auf diese Abweichung geflissentlich untersuchten 300 Kehl-
köpfen (250 männlichen und 50 weiblichen) gehörten 12 männ-
lichen und 3 weiblichen Individuen an. Nach letzterer Summe
würde sich der Mangel des Isthmus glandulae thyreoideae zu
seinem Vorkommen verhalten überhaupt wie 1: 19; beim männ-
lichen Geschlecht wie 1: 19,833; beim weiblichen Geschlecht
wie 1: 16,666. Ich habe 15, 16, 18, 20, 22, 25, 27, 55 und
selbst 48 Kehlköpfe untersuchen müssen, bevor ich 1 Mal die
Abweichung angetroffen habe, aber einige Mal Fälle von ihr
doppelt oder sogar dreifach auch schnell auf einander folgen
gesehen.
Verhalten der Lobi laterales.
Die Lobi hatten zum 5.—8. Trachealring abwärts gereicht.
Ihre Gestalt ist gewöhnlich die eines nach 3 Seiten comprimirten,
etwas gekrümmten kegelförmigen oder retortenförmigen Körpers
mit einer vorderen (vorderen seitlichen) hinteren (hinteren seit-
lichen) convexen und inneren concaven Fläche, mit oberer
Spitze und unterem abgerundeten dicken Ende; bisweilen die
1) a. Ueber die Anomalien der Art. thyreoidea ima und der A.
erico-thyreoidea in ihrer wichtigen Beziehung zu einigen chirurgischen
Operationen. — Neuer anomaler Kehlkopfs-Muskel. — Medic, Jahrb.
d. österr. Staates. Bd. 51. Wien 1845. S. 147. — b. Ueber eine
retrotracheale Retentionsgeschwulst. — Arch. f. path. Anatom. u.s.w.
Bd. 47. Berlin 1869, S.1ı1. Taf. I. Fig. 1.B.B.
14*
212 W. Gruber:
eines nach drei Seiten comprimirten länglich-runden oder ovalen
Körpers mit bald unterem, bald oberem breiteren abgerundete-
rem Ende. Sie waren, wie die Lobi der Glandula der Norm
besonders durch die Ligamenta suspensoria') am Larynx und
an der Trachea aufgehängt. In mehreren Fällen hatte sich von
einem der Lobi, namentlich vom Lobus sinister, ein anomaler
Lobus medius verschiedener Länge erhoben, welcher im höch-
sten Grade seiner Entwickelung, bald vermittelst eines langen
oder kurzen Lig. suspensorium medium, bald in Substanz an
den Körper des Os hyoideum sich anheftetee In 27 Fällen
waren die Lobi völlig von einander geschieden, in zwei Fällen
aber waren sie vor der Cartilago cricoidea und vor dem
Lig. erico-thyreoideum medium mit einander vereinigt. Bei
einem Weibe sandte nämlich jeder Lobus lateralis einen schma-
len zungenförmigen Lobus medius ab. Diese Lobi medii con-
vergirten und vereinigten sich an der Cartilago cricoidea zu
einem Lobus medius communis, der am Arcus cartilaginis cri-
eoideae und in der Fovea crico-thyreoidea vor dem Lig. crico-
thyreoideum medium Platz nahm und sich unten am Angulus
der Cartilago thyreoidea anheftetee DBei einem Manne kam
ein ähnliches Verhalten vor, aber der Lobus sinister hatte zwei
anomale Lobi medii, wovon der laterale zum Os hyoideum
aufstieg und vermittelst eines Ligamentes an dessen Körper
inserirte. — Sollte man diese beiden Fälle zu denen mit Man-
gel des Isthmus glandulae thyreoideae nicht rechnen dürfen, so
würden sie doch als bemerkenswerthe Fälle von Verrückung
des Isthmus glandulae thyreoideae von der Trachea auf den
Larynx zu gelten haben.
Prätracheallücke zwischen den Lobi.
Die Prätracheallücke reicht verschieden weit und selbst
bis zum 7. Trachealring herab, ist also verschieden und bis
2:7—3 Cm. hoch. Sie hat an der Mitte ihre geringste Weite,
erweitert sich nach oben und unten. In den beiden Fällen
1) Siehe meinen Aufsatz: „Ueber die Aufhängebänder der Schild-
drüse.* — Medic. Jahrb. Wien. Jahrg. 1363. 8. 1.
Ueber die Glandula thyreoidea u. s. w. 213
mit Vereinigung der an der Trachea wie beim Mangel des
Isthmus separirten Lobi laterales von diesen abgegangenen
Lobi medii war die Lücke am Larynx geschlossen und dahin
zugespitzt. Die Weite variirte an der Mitte von 6 Mm. bis
1:6 Cm. und betrug oben und innen noch um 6 Mm. mehr.
Die Lücke enthält Bindegewebe und Gefässe, namentlich Aeste
der Venae subthyreoideae, aber auch wohl in der Regel Arte-
rienäste in der Tiefe.
Verhalten der Arteriae thyreoideae.
Ich konnte in einer Reihe von Fällen, wegen zu weit vor-
geschrittener Präparation, diese auf das Verhalten der Arterien
nicht mehr prüfen. Ich habe an mehreren intacten Fällen, ohne
oder bei vorausgeschickter gelungener arterieller Injection,
Communication der Arterien einer Seite mit denen der
anderen Seite sicher vermisst und in einem der letzteren
injieirten Fälle, bei Vorkommen eines linken anomalen Lobus
medius, allerdings die A. dextrae untereinander durch eine:
feine Anastomose am hinteren Rande des entsprechenden Lobus
lateralis und die A. sinistrae unter einander auf dieselbe Weise
und zugleich die A. sinistra inferior mit der A. crico-thyreoi-
dea sinistra vermittelst eines Zweiges, welcher hinter dem Lo-
bus lateralis sinister verlief, communieiren gesehen. Ich habe
auch endlich an 10 Fällen, bei vorausgeschickter völlig gelun-
gener arterieller Injection Communication der Arterien der
rechten Seite mit aller Bestimmtheit nachweisen können,
wie die in meiner Sammlung aufgestellte schöne Collection be-
weiset.
An 9 solchen völlig gelungenen arteriell injicirten Prä-
paraten mit vollständiger Trennung der Lobi laterales habe
ich Communication der Arterien der rechten Seite mit
denen der linken Seite bestimmt vorgefunden. An dem |.
Präparate von einem Manne geht die Communication der Thy-
reoideae superiores durch ein feines fünfmaschiges Netz in der
Prätracheallücke, welches gleich unter der Cartilago cricoidea
am 1. Trachealring liegt, vor sich. Die Thyreoideae dextrae
allein und ebenso die Thyreoideae sinistrae allein communieiren
214 W. Gruber:
durch je einen langen Ast untereinander, welcher am hinteren
Rande jedes Lobus verläuft. Der Communicationsast ist selbst
an der schwächsten Stelle noch 1 Mm. dick. An dem 2.Prä-
parate von einem Jünglinge ist die Communication der Thyre-
oideae superiores eine ähnliche. Nur ist statt eines Netzes
ein einfacher feiner Communicationszweig vorhanden. An dem
3. Präparate (Fig. 1) communieiren die Thyreoideae superiores
(a. b) durch einen vor dem 2. Trachealring in der Prätracheal-
lücke geschlängelt in querer Richtung verlaufenden Ast (8) von
1'25 Mm. Durchmesser. An dem 4. Präparate (Fig. 2) von
einem Weibe ist die Communication der Thyreoideae superio-
res (a’. b,) durch einen 2 Cm. langen und 1'5 Mm. dicken,
etwas S-förmig gekrümmten Ast (0) bewerkstelligt, der mit
dem oberen rechten Abschnitte am 1. Trachealring mit der
unteren linken am 2. Trachealring in der Tiefe der Prätra-
cheallücke schräg von unten und links nach oben und rechts
aufsteis. An dem 4. Präparate (Fig. 4) von einem Manne
mit einem Lobus medius (a) des Lobus dexter (A) und einer
Glandula thyreoidea accessoria sinistra (c) theilt sich der Ter-
minalast (y) des primitiven medialen Astes (ß’) der Thyreoidea
superior sinistra (8) in der Prätracheallücke (*) in zwei Zweige
Der linke Zweig (y”) endigt im Lobus sinister (A’) der rechte
Zweig (y)) aber, nachdem er sich in zwei secundäre Zweige
gespalten hat, die durch Wiedervereinigung eine Insel bilden,
ramificirt sich im Lobus dexter (4). Mit dem die Insel
schliessenden secundären Zweig geht aber ein langer
vorderer Ast (£) der Thyreoidea superior dextra (x) eine
Anastomose ein. Die Crico-thyreoidea dextra (0) und die obere
Crico-thyreoidea sinistra (e) versieht den Lobus medius dexter
(@) und die untere Orico-thyreoidea sinistra (=’) versieht die
Glandula thyreoidea accessoria sinistra (cl) mit Zweigen. An
dem 6. Präparate von einem Manne ist die Thyreoidea inferior
sinistra mit der Thyreoidea superior dextra durch eine feine,
6 Cm. lange Anastomose, welche in der Tiefe der Prätracheal-
lücke schräg aufsteigt, im Zusammenhang. An dem 7. Präpa-
rate steht die Thyreoidea inferior dextra mit der Thyreoidea
superior sinistra durch einen in der Prätracheallücke verlaufen-
Be RD ne ETER EEE 1 SE in Au > ON en.
r .
Ueber die Glandula thyreoidea u.s. w. 215
den Zweig und stehen ausserdem beide Thyreoideae inferiores
durch einen queren, geschlängelt hinter der Trachea, gleich
unter der Cartilago cericoidea, verlaufenden Zweig in Communi-
eation. Die Thyreoidea superior dextra communieirt mit der
Inferior derselben Seite durch einen hinter dem Lobus dexter
verlaufenden Ast; die Thyreoidea superior sinistra mit der In-
ferior derselben Seite durch einen Randast. An dem 8. Prä-
parate (Fig. 3) von einem Manne hatte sich die Thyreoidea
inferior dextra frühzeitig in zwei Aeste, einen medialen (c) und
einen lateralen (c’) getheilt. Der stärkere laterale Ast (ec)
senkt sich in den Lobus dexter (4) ein. Der schwächere
mediale Ast (ce) von 2 Mm. Dicke steigt in der Prätracheal-
lücke (*) auf und vor dem 4—1. Trachealringe S-förmig ge-
krümmt schräg zum oberen Rande des Lobus sinistra (A’) und
ramificirt sich in diesem. Am 2. Trachealringe spaltet er sich
in zwei secundäre Aeste, einen kurzen rechten («) und langen
linken (8). Jener senkt sich in den Lobus dexter, dieser in
den Lobus sinister ein. Jeder dieser Aeste aber communiecirt
durch ein, rechts längeres (e) und links kürzeres Zweigchen
(€).ausserhalb der Lobi mit der Thyreoidea superior der ent-
sprechenden Seite (a. 5). Vom Stamme des medialen Astes
(ce) geht auch ein Zweig (y) in den Lobus sinister (4’). An
dem 9. Präparate von einem Manne, beim Vorkommen eines
am Körper des Os hyoideum durch ein Lig. suspensorium an-
gehefteten Lobus medius, hat die 3 Mm. dicke Thyreoidea su-
perior sinistra mit ihrem medialen Aste den Verlauf der Orico-
thyreoidea.. Am vorderen Rande des M. sterno-thyreoideus an-
gekommen, wendet sich die Arterie unter einem fast rechten
Winkel nach aus- und rückwärts, um hinter dem M. sterno-
thyreoideus sinister und lateralwärts vom Lobus medius zum
Lobus sinister sich zu begeben. Bevor sich die Arterie um-
biegt, sendet sie einen 1-5 Mm. dicken Ast zum Lobus sinister,
welcher am vorderen Rande des letzteren in der Prätracheal-
lücke herabsteigt. Von diesem Aste, 4 Mm. unter dessen Ur-
sprunge, geht ein kleiner Zweig von 0'7 Mm. Dicke, ab, wel-
cher sich auf das Lig. crico-thyreoideum medium begiebt und
mit der Crico-thyreoidea propria der rechten Seite anastomosirt.
316 W. Gruber:
Die 2:5 Mm. dicke Thyreoidea superior dextra verläuft normal.
Bevor sie sich hinter den M. hyo-thyreoideus dexter begiebt,
giebt sie 2 Mm. starke Crico-thyreoidea ab. Letztere theilt
sich in die Crico-thyreoidea propria dextra, welche mit einem
die Crico-thyreoidea sinistra darstellenden Zweige aus der
Thyreoidea superior sinistra anastomisirt und ein Ast für den
Lobus dexter ab, welcher, in diesem sich verästelnd, an dessen
vorderen und medialen Rande in der Prätracheallücke abwärts
steigt. Der am medialen Rande des Lobus dexter herabstei-
gende Ast der Orico-thyreoidea dextra und der am medialen
Rande des Lobus sinister herabsteigende Ast der Thyreoidea
superior sinistra geben einen 95 Mm. dicken quer ge-
gen die Medianlinie verlaufenden Zweig ab. Diese vereinigen
sich zu einer auf und vor dem 1. Trachealring in der Prä-
tracheallücke quer-bogenförmigen Anastomose. Die Thyreoi-
deae inferiores anastomosiren durch eine zwischen der Trachea
und dem Oesophagus durchsetzende hintere Queranastomose.
An einem völlig gelungenen arteriell injieirten Präparate mit
Mangel des eigentlichen Isthmus glandulae thyreoideae, aber
doch mit Vereinigung der Lobi laterales über der Prätracheal-
lücke durch Verschmelzung der daran existirenden Lobi medii
von einem Manne, communieiren weder die Thyreoideae supe-
riores noch Th. inferiores unmittelbar mit einander, aber in
der Prätracheallücke, die am Larynx geschlossen ist und dahin
sich zuspitzt, vertheilt sich ein Ast der Thyreoidea superior
mit Zweigen im Lobus dexter und sinister, wovon einer, der
an der hinteren Seite des Lobus sinister aufwärts steigt, mit
der Thyreoidea superior sinistra direct anastomosirt.
Besonderheiten.
In zwei Fällen fehlte das linke Cornu superius der Carti-
lago thyreoidea. In zwei Fällen war eine Glandula thyreoidea
zugegen. In einem der Fälle mit der Glandula thyreoidea
hing diese an einem vom Lobus dexter ausgegangenen Lobus
medius, war also einem im Museum des Guys-Hospitals zu
London aufbewahrten Falle mit einem Lobus medius dexter
und einer Glandula thyreoidea accessoria superior sinistra ähn-
DR >
Ueber die Glandula thyreoidea u.s. w. 217
lich. In einem der Fälle ohne Cornu superius sinistrum car-
tilaginis thyreoideae, aber mit Vorkommen eines Lobus ano-
malus medius am Lobus sinister, in einem anderen Falle mit
diesem Lobus anomalus medius und in einem dritten Falle
ohne diesen Lobus medius war ein M. levator glandulae thy-
reoideae zugegen, der am unteren Rande des Körpers des Os
hyoideum entstanden, in beiden Fällen mit Vorkommen des
Lobus anomalus medius sinister vor diesem oder ihn einhül-
lend, am dritten Falle vor der Eminentia laryngea der linken
Hälfte des Lig. erico-thyreoideum medium und des Arcus car-
tilaginis cericoideae herabgestiegen war und in allen Fällen am
Lobus sinister, in einem Falle zugleich am unteren Rande der
Cartilago thyreoidea medianwärts vom M. hyo-thyreoideus sini-
ster, in dem Falle ohne Lobus medius am inneren Ende des Lobus
sinister mit zerstreuten Bündeln endete. Der Muskel war bis
4 Mm. breit und in dem Falle, wo er am inneren Ende des
Lobus sinister endete, 6 Cm. lang.
Folgerungen.
l. Mangel des Isthmus glandulae thyreoideae kommt
nicht so selten vor, als man bis jetzt zu glauben schien, weil
ich denselben bei geflissentlich vorgenommenen Untersuchungen,
wenigstens bei Russen, schon in !/,, der F. auftreten gesehen
hatte.
2. Derselbe scheint häufiger beim weiblichen Geschlechte
als beim männlichen vorzukommen, weil ich ihm beim ersteren
schon in !/,—!/ı; d. F., beim letzteren erst in !/ao,—!/s, d. F.
begegnet bin.
3. Ob die Häufigkeit seines Vorkommens etwa auch bei
den Nationalitäten variire, ist bis jetzt noch nicht auszumitteln.
Immerhin ist die von mir beobachtete Häufigkeit bei den Cze-
chen in !/,eoo d. F. und bei den Russen schon in !/,;, d. F.
auffallend.
4. Mit demselben können andere ungewöhnliche Varietä-
ten auftreten, wie Mangel des Cornu superius cartilaginis thy-
reoideae oder eine Glandula thyreoidea accessoria superior
218 W. Gruber:
neben einem Lobus medius vom Lobus dexter glandulae thy-
reoideae (Fall im Museum des Guys-Hospitals; mein Fall).
5. Wie die Glandula thyreoidea oft in der Norm, so kann
auch die Gl. th. partita Musculi levatores besitzen.
6. Communication der Arteriae thyreoideae der
einen Seite mit denen der anderen existirt bald bei Isthmus-
Mangel der Glandula thyreoidea, bald fehlt sie. Existenz der
Communication ist vorwiegend. Die Communication wird ge-
wöhnlich durch die Art. superiores allein, seltener durch die
Art. superior der einen Seite und die Art. inferior der anderen
Seite allein, noch seltener durch eine Art. inferior und beide
Art. superiores bewerkstelligt. Ganz selten hat sich zu beiden
ersten Communicationsarten Communication beider Art. in-
feriores und in diesen Fällen nur durch einen hinter der Tra-
chea verlaufenden Ast gesellt. Communication aller vier Art.
thyreoideae in der Prätracheallücke ist nicht beobachtet wor-
den. Jedenfalls ist bei dieser Abweichung der Glandula thy-
reoidea die Communication ihrer Arterien in der Prätracheal-
lücke, wenn sie auftritt, eine variable und zwar um so mehr,
als die Möglichkeit des Vorkommens der Communication auch
einer Art. superior mit beiden Art. inferiores oder der Art. in-
feriores allein, oder aller Art. thyreoideae in der Prätracheal-
lücke nicht bestritten werden kann.
7. Die Arterien jedes einzelnen Lobus der Glandula thy-
reoidea partita können durch einen Rand- oder hinteren Ast
mit einander anastomosiren, müssen aber einen solchen Com-
municationsast nicht haben. 5
8. Wegen möglichen Vorhandenseins von Arterien in der
Prätracheallücke muss der Operateur auf ihr Vorkommen, selbst
bei diagnostieirtem Mangel des Isthmus der Glandula thyreoi-
dea, bei der hohen Tracheotomie gefasst sein. Ein St. Peters-
burger Chirurg, welcher anatomische Kenntnisse für überflüssig
hielt, also von dem möglichen Vorkommen der Communication
zwischen den Art. thyreoideae beider Seiten am Isthmus nicht
die geringste Kenntniss hatte, wählte, weil es für ihn bequemer
war, gerade die Region des Sitzes des sehr vorspringenden
Isthmus der Glandula thyreoidea zur Tracheotomie, obgleich er
le > un.
Ueber die Glandula thyreoidea u. s. w. 919
diese abwärts von jenem hätte ausführen können und diesmal
hätte ausführen müssen. Er schnitt, ohne Umstände zu ma-
chen, den 1 Cm. dicken und 2 Cm. hohen Isthmus nur im
oberen grössten Theile ein und daselbst zugleich mit der Tra-
chea durch. Es entstand eine starke, durch einen dicken Com-
municationsast der Arterien auch arterielle Blutung, in deren
Folge, durch Bluteindringen in die Trachea u.s. w., der Kranke
starb. Ich bewahre dies Präparat chirurgischer Ehre in meiner
Sammlung auf.
Aehnliches könnte auch bei Isthmus-Mangel passiren.
Erklärung der Abbildungen.
Fig. 1.
Cricoidalpartie des Larynx und obere Portion der Trachea mit
der Glandula thyreoidea ohne Isthmus — Glandula thyreoidea par-
tita — von einem Manne.
Fig. 2.
Ein ähnliches Präparat von einem Weibe.
Fig. 3.
Ein ähnliches Präparat von einem Manne.
Bezeichnung für alle Figuren:
A, A’. Lobi der Glandula partita.
* Prätracheallücke.
a, Arteria thyreoidea superior dextra.
a’. Medialer Ast derselben.
a”. Lateraler „ 5
b. Art. thyreoidea superior sinistra.
b’. Medialer Ast derselben.
b’.Lateraler „ >
. Medialer Ast der Art. thyreoidea inferior dextra.
ce’. Lateraler Ast derselben.
d. Art. thyreoidea inferior sinistra.
. Rechter secundärer Ast des medialen Astes der Art. thyreo-
idea inferior dextra.
Linker secundärer Ast desselben.
y. Besonderer Zweig des medialen Astes der Art. thyreoidea
inferior dextra zum linken Lobus der Glandula thyreoidea.
Oo
R
m
3230 W. Gruber: Ueber die Glandula thyreoidea u. s. w.
d. Communicationsast der Art. thyreoideae superiores in der
Prätracheallücke. 3
e. Communicationszweig zwischen der Art. thyreoidea superior
dextra und dem rechten secundären Aste des medialen
Astes der Art. thyreoidea inferior dextra.
€. Communicationszweig zwischen der Art. thyreoidea superior
sinistra und dem linken secundären Aste des medialen
Astes der Art. thyreoidea inf. dextra.
Fig. 4.
Larynx mit dem Os hyoideum, mit der oberen Portion der Tra-
chea und mit der Glandula partita.
1. Os hyoideum.
2. Larynx.
3. Trachea.
4. Museuli hyo-thyreoidei.
A. A’. Lobi der Glandula thyreoidea partita.
a. Lobus medius des Lobus dexter.
b. Dessen Lig. suspensorium.
c. Glandula thyreoidea accessoria superior sinistra.
(*) Prätracheallücke.
«. Arteria thyreoidea superior dextra.
$. Art. thyreoidea superior sinistra.
ß. Medialer, wie die Art. crico-thyreoidea anomaler Weise ver-
laufender Ast derselben.
ß”.Lateraler Ast derselben.
y. Terminaler in zwei Zweige gespaltener Ast des medialen
Astes derselben.
y. Zweig zum rechten Lobus (durch Spaltung in zwei secun-
däre Zweige und deren Wiedervereinigung eine Insel
bildend).
y'. Zweig zum linken Lobus.
d. Arteria crico-thyreoidea dextra.
ge. Zweige des medialen Astes der Art. thyreoidea superior
sinistra, welche zwei Art. crico-thyreoideae sinistrae re-
präsentiren.
£. Langer vorderer Ast der Art. thyreoidea superior dextra als
Communicationsast beider Arteriae thyreoideae superiores.
Institut f. d. praktische Anatomie a. d. med.-chir. Akademie.
31. October
St. Petersburg, TSaNDrember 1875.
Ueber ein aus der Epiphyse eines durch einen
fortsatzartigen Anhang vergrösserten Multangulum
minus entwickeltes, articulirendes neuntes
Össieulum carpi.
Von
Dr. WENZEL GRUBER,
Professor der Anatomie in St. Petersburg.
Hierzu Taf. V.
Der Processus styloideus des Metacarpale III. entwickelt
sich ausnahmsweise aus einem besonderen Össificationspunkte,
weshalb er als persistirende Epiphyse auftreten kann, wie ich
bereits in 5 Fällen beobachtet hatte.) Derselbe kann fehlen
und dann aucb durch einen anomalen Anhang (Fortsatz) des
Multangulum minus vertreten sein, der ebenfalls aus einem be-
sonderen Ossificationspunkte entsteht und bald als persistirende
Epiphyse, wie ich in einem Falle sah,?) bald im Falle baldiger
Verschmelzung der Epiphyse als Apophyse angetroffen wird,
wie davon mir zwei Fälle zur Beobachtung gekommen waren.?)
Bildet sich in der Synchondrose zwischen dem Metacar-
pale III und der anomaler Weise, an seiner Basis auftretenden
und dem Processus styloideus daselbst entsprechenden Epiphyse;
oder in der Synchondrose eines Multangulum minus, welches
durch einen anomalen Fortsatz auf angegebene Weise vergrös-
sert ist, zwischen dem Körper des Knochens und der seinen
1) S. dies Archiv, 1869. S. 361. Taf. X,B, Fig. 1—4, No. 9 (1.
Fall). — Das. 1870. S. 197. Taf. V,C, Fig. 1, 2. (2. u. 3. Fall. —
Bull. de l’Acad. Imp. d. se. de St. Petersbourg. Tom. XV. Col. 446.
Fig. 4,a (4. Fall). — Das. Col. 452. Fig. 9, 105. (5. Fall).
2) S. dies Archiv, 1869, S. 242. Taf. IX, Fig. 1, No.9 u. Fig.5.
3) Ebendas. 1869. S. 352. Taf. IX, Fig. 8, 95. — Bhll, de St,
Petersbourg. Tom. XV. Col. 451. Fig. 8«.
ni
222 W. Gruber:
Fortsatz darstellenden Epiphyse ein accidentelles Gelenk: dann
wird jede dieser Epiphysen ein articulirendes selbstständi-
ges ossiculum, welches als fünfter Knochen in der unteren
Reihe des Carpus Platz nimmt.
Die Art dieses Ossiculum, welches den Processus styloideus
des Metacarpale III. vertritt, aber vom Ursprunge an dem für
diesen Knochen präformirten Knorpel angehörte, ist gekannt.
Dem Ossiculum dieser Art ist das von J. Saltzmann!) er-
wähnte supernumeräre Ossiculum carpi höchst wahrscheinlich
und sind die an beiden Handwurzeln eines Individuum von J.
Struthers?) beobachteten Fälle supernumerärer Ossicula carpi
sicher gleichbedeutend, wie ich zu wiederholten Malen ange-
führt habe. Ich selbst hatte davon bis Ende December 1873
schon 9 Fälle beobachtet.°)
Die andere Art des Ossiculum, welches zwar ebenfalls den
Processus styloideus des Metacarpale III. substituirt, aber vom
Ursprunge an ein fortsatzartiger Anhang des dadurch vergrös-
serten knorplig vorgebildeten Multangulum minus war, ist bis
dahin nicht gesehen worden. Wenn aber, wie ich bewiesen,
durch Gelenkbildung in der Synchondrose zwischen dem Meta-
carpale III. und einer seinen Processus styloideus darstellenden
Epiphyse letztere als selbstständiges supernumeräres Ossiculum
carpi auftreten kann, so ist die Vermuthung zulässig, dass auch
die Epiphyse eines anomal vergrösserten Multangulum minus,
welche den mangelnden Processus styloideus des Metacarpale
IH. substituirt, durch Gelenkbildung in der Synchondrose zwi-
schen beiden Stücken des Multangulum minus ein selbstständi-
1) Decas observ. anatom. Obs. Ill. Argentorati 1725. (Diss. ab.
H. A. Nicolai). — Haller, Disp. anat. select. Vol. VII. Goettingae
1751. p. 691.
2) Case of additional bone in the human Carpus.. — Journ. of
anat. a. physiol. Vol. III. Cambridge a, London 1869, p. 354.
3) S. dies Archiv, 1870. S. 197. Taf. V,C. Fig. 3. (1—3 Fall). —
Bull. de l’Acad. Imp. des sc. de St. Petersbourg. Tom. XV. Col. 483
(4. u. 5. Fall). — Das. Col. 486 Fig. 1—4 (6. Fall. — Das. Tom.
XVII. No. 2. Col, 399 (7. Fall). — Dies Archiv 1873. S. 766 (&:—9.
Fall).
ee = Ä 5
2
Ueber ein neuntes Ossiculum carpi. 223
ges supernumeräres Össiculum carpi mit dem Sitze an dem
Orte des ersteren werden könne.
Um auch letztere Art des den Processus styloideus des
Metacarpale III. substituirenden, aber aus einem anomal ver-
grösserten Multangulum minus entwickelten, supernumerären
Össieulum carpi, dessen mögliches Vorkommen zu vermuthen
ich berechtigt war, zu finden, setzte ich meine Forschungen an
frischen und trockenen Knochen weiter fort.
Ich liess also den 1070 untersuchten Händen auch im Stu-
dienjahre 1874/75 noch viele andere folgen und fand schon im
November 1874, nachdem ich erst 35 Hände (15 rechtseitige
und 18 linkseitige) von Extremitäten, die vorher zur Präpara-
tion der Musculatur verwendet worden waren, an der rechten
Hand eines Mannes wieder das gewöhnliche supernumeräre
Össieulum carpi d. i. das, welches sich aus einer dem Proces-
sus styloideus des Metacarpale III. entsprechenden, also letzte-
rem Knochen angehörigen Epiphyse gebildet hat. Dieser Fall
ist der 10. der Fälle, welche ich seit 1868 bei 8 Individuen
(7 Männern und 1 Frau) und zwar beiderseitig bei 2 (Männern)
rechtseitig bei 4 (2 Männern und 1 Frau) und linkseitig bei
2 (Männern) nach Untersuchung von 1105 Händen beobachtet
hatte, und der 13. der bis jetzt beobachteten Fälle überhaupt
(aus fremder und eigener Beobachtung. Er hat nichts an sich,
was nicht schon an den veröffentlichten Fällen vorgekommen
wäre, bedarf daher keiner Beschreibung.
Das aus der Epiphyse eines anomal vergrösserten Multan-
gulum minus entwickelte, den mangelnden Processus styloideus
am Metacarpale III, substituirende supernumeräre Ossiculum
carpi hatte ich an frischen Knochen, trotz Nachforschung an
Massen von Händen, bis jetzt nicht angetroffen, aber es war
endlich wenigstens an trockenen Knochen zur Beobachtung
gekommen.
Unter mehr als 100 Skeleten aus der Maceration vom vor-
hergehenden Studienjahre 1373/74 nämlich wurde eines von
einem Erwachsenen jüngeren Alters, behufs Bindens, vor Kur-
zem aus der Vorrathskammer hervorgeholt. Bei der Sondirung
der einzelnen Knochen dieses Skelets von Seite der Präpara-
224 W. Gruber:
toren trafen. diese für die rechte Handwurzel 9 Knochen an.
Man legte mir die Knochen dieser Hand sogleich vor und ich
erkannte daran das, nach welchem ich seit Jahren vergeblich
gesucht hatte, d. i. das aus der Epiphyse eines durch einen
fortsatzartigen Anhang vergrösserten Multangulum
minus entwickelte neunte Ossiculum carpi.
Ueber diese knöcherne Hand der rechten Seite mit 9
Stücken im Carpus, welche ich wieder in meiner Sammlung
aufgestellt habe, kann ich Nachstehendes berichten:
Die Handwurzel hat in der oberen Reihe 4, in der unte-
ren Reihe 5 Knochen (Fig 1.).
Das Naviculare (No. 1) hat eine von seiner gewöhnlichen
Form etwas abweichende, aber so immerhin bisweilen auftre-
tende Gestalt. >
Am Lunatum (No. 2) ist wie in so manchen anderen Fäl-
len das ulnare Feld der Gelenkfläche an der Superficies digita-
lis ungewöhnlich gross.
Das Triquetrum (No. 3) und Pisiforme (No. 4) sind normal.
Am Multangulum majus (No. 5) sind sein Sulcus und sein
Tubereulum noch kaum angedeutet.
Das Capitatum (No. 7) ist etwas deform. Seine S. dor-
salis ist nach unten ungewöhnlich schmal. Die Felder der-Ge-
lenkfläche an der S. brachialis sind schärfer von einander und
von der Gelenkfläche an der S. radialis geschieden als gewöhn-
lich. An der Gelenkfläche der S. digitalis sind 3 Felder, ein
grosses zur Articulation mit dem Metacarpale II. ulnarwärts,
ein kleineres zur Articulation mit dem volaren Theile des Ul-
narkammes des Metacarpale II. radial- und volarwärts und ein
noch kleineres zur Articulation mit dem supernumerären Ossi-
eulum carpi radial- und dorsalwärts. Das ulnare Feld ist von
den beiden anderen durch eine überknorpelte Kante, die ra-
dialen Felder aber sind durch eine rauhe Furche geschieden.
Das Hamatum (No. 8) weist an der Gelenkfläche der S.
brachialis zwei scharf geschiedene Felder auf, wovon das
diesmal ungewöhnlich breite radiale Feld die abgestutzte Spitze
des Knochens einnimmt und, wie in anderen Fällen, mit dem
PETE RAT
ER)‘, %
Ueber ein neuntes Ossiculum carpi. 295
ulnaren Felde an der Gelenkfläche der S. digitalis des Luna-
tum artieulirt.
Das Multangulum minus (Fig. 1. No. 6; Fig. 2.a; Fig.
3, 4.) gleicht bis auf die dorsale Ulnarecke (Fig. 3.,), dem
Knochen der Norm. Die Ulnarecke ist in sagittaler Richtung
abgestutzt. Diese ist unregelmässig vierseitig, an der oberen
und hinteren Hälfte rauh (Fig, 4.y), an der unteren vorderen
Hälfte eine abgerundet dreiseitige oder ovale, schwach sattel-
förmige Gelenkfläche (Fig. 4.) zur Articulation mit dem su-
pernumerären ÖOssiculum carpi. Die Gelenkfläche seiner S.
brachialis ist etwas länger als gewöhnlich und hornförmig ge-
krümmt (Fig. 2, 2.a).
Das supernumeräre Ossiculum carpi (Fig. 1. No.9;
Fig. 2.5; Fig. 5. 6) endlich zeigt folgende Eigenschaften:
Lage. In der unteren Reihe der Knochen der Handwur-
zeln fast quer und zwar zwischen dem Multangulum minus
und dem dorsalen Theile des Ulnarkammes an der Basis des
Metacarpale II. radialwärts, dem Capitatum ulnar- und brachial-
wärts und über der dorsalen Radialecke des Metacarpale III.
(Fig. 1. No 9.)
Gestalt. Eines drei- oder vierseitigen, an der Mitte
seiner Länge etwas eingeschnürten Keiles (oder Pyramide),
welcher seine Basis radialwärts, seine quer abgeschnittene, et-
was abwärts gekrümmte Schneide ulnar- und rückwärts kehrt.
Seine S. dorsalis (Fig. 2.5) ist in eine breite obere (a’) und
schmälere hintere Abtheilung (ß’), wovon letztere beson-
ders ausgebuchtet ist, geschieden. Seine S. radialis oder Basis
(Fig. 5) zeigt zwei, durch eine überknorpelte Kante getrennte
und zu einander schräg gestellte Felder, ein oberes viereckiges
(z. 3) und ein unteres länglich vierseitiges (y). Das obere ist
vertical gestellt, oben rauh (z), unten und vorn ein abgerundet
dreiseitiges oder ovales Gelenkfeld (3); das untere ist schräg
gestellt und gleichfalls ein Gelenkfeld (y). Diese Gelenkfelder
gehen durch eine überknorpelte, stumpfe Kante in einander
über. Die S. ulnaris (genau genommen S$. brachialis) (Fig. 6)
ist vorzugsweise ulnar- und nur wenig brachialwärts gestellt.
Sie trägt eine dreieckige Gelenkfläche beträchtlicher Grösse (»).
Beichert's u. du Bois-Reymond's Archiv 1376. 15
396 W. Gruber:
Die S. digitalis ist concav, gegen das ulnare Ende und an die-
sem in dessen ganzer Breite, dann von der Basis angefangen
in der ganzen Länge dorsal- und radialwärts rauh, volar- und
radialwärts aber mit einer abgerundet dreiseitigen oder halb-
ovalen Gelenkfläche versehen, welche mit einer abgerundeten
Kante in die Gelenkfläche an der S. ulnaris übergeht. Zwischen
der S. radialis und ulnaris ist ein winklig geknickter, breiter,
rauher Rand zugegen.
Verbindung. Es articulirte durch die beiden Gelenk-
felder an der S. radialis mit dem Multangulum minus und dem
dorsalen Gelenkfelde am Ulnarkamme der Basis des Metacar-
pale II; durch die Gelenkfläche an der S. ulnaris mit dem dor-
salen Radialgelenkfelde der S. digitalis des Capitatum; und
durch die Gelenkfläche an der S. digitalis mit dem Metacar-
pale III. an einem Gelenkfelde der dorsalen Radialecke der
Basis dieses Knochens (Fig. 6.8.) Die rauhen Stellen der 8.
radialis und digitalis hatten offenbar zum Ansatze von Lig.
interossea zum Multangulum minus und Metacarpale III. gedient.
Grösse. Die grösste Länge beträgt 1'3 Cm.; die Dicke
an der Basis 0.9—1 Cm.; die Breite am abgestutzten Ende
7 Mm.
Dem Metacarpale II. fehlt der Processus styloideus (Fig. 7).
Statt seiner ist an der Basis des Knochens, an dessen dorsaler
Radialecke (#) ein schwach erhöhtes dreiseitiges Feld (x. ß.)
zu sehen, welches an der ulnaren Hälfte ein Gelenkfeld (6)
ist. An dieser Ecke der Basis des Metacarpale Ill. und tiefer
als diese, steht vom Rücken des letzteren ein kleiner Kamm
(y) horizontal hervor. Der Kamm hat die Gestalt des Viertel-
segmentes einer elliptischen Platte, das mit dem geraden Rande
verwachsen, mit dem gekrümmten Rande dorsalwärts und mit
dem kurzen Rande radialwärts gekehrt ist. Das Gelenkfeld an
der dorsalen Radialecke (3) der Basis musste zur Articulation
mit dem supernumerären Össiculum, das rauhe Feld (#) daneben
und der kleine dreiseitige Kamm (y) aber zum Ansatze von
Lig. interossea zur Verbindung mit dem Körper und dem Ende
des supernumerären Ossiculum gedient haben.
Ueber ein neuntes Ossienlum carpi. 927
Die übrigen Knochen dieser rechten Hand, alle Knochen
der linken Hand und überhaupt alle anderen des Skeletes
hatten nichts Abnormes an sich.
Vergleicht man das über diesen Fall des Vorkommens
eines neunten Ossiculum carpi Mitgetheilte mit dem,
was über das durch eine Epiphyse oder Apophyse vergrösserte
Multangulum minus und über das aus der den mangelnden
Processus styloideus des Metacarpale III. substituirenden Epi-
physe des letzteren Knochens entwickelte neunte Ossiculum
earpi gekannt ist, so kann nicht bezweifelt werden, dass das
neunte Ossiculum carpi dieses Falles sich aus einer
Epiphyse eines anomal vergrösserten Multangulum
minus hervorgebildet habe, und dass somit dieses, den Pro-
cessus styloideus des Metacarpale III. in der unteren Reihe
der Knochen der Carpus ersetzende supernumeräre ÖOssi-
eulum, zweierlei Ursprunges sei, falls nicht beide Formen
schon vom Ursprunge an durch einen besonderen, isolirten
Handwurzelknorpel präformirt sind, was als möglich vermuthet
werden kann, aber noch nachzuweisen ist. Von einer Analogie
dieser Art neunten Ossiculum vielleicht mit dem Os. in-
termedium carpi der Thiere kann keine Rede sein, wie ich
schon bei dem, aus der den Processus styloideus des Metacar-
pale III. vertretenden Epiphyse hervorgegangenen neunten Os-
sieulum carpi und bei dem von mir entdeckten wahren Ana-
logon des Os. intermediam der Thiere .beı dem Menschen aus-
einandergesetzt habe.!)
Erklärung der Abbildungen.
Fig. 1.
Carpus mit neun Knochen nebst den Basalstücken der Metacar-
palia der reehten Hand eines Mannes. (Ansicht von der Dorsalseite).
1. Os naviculare.
2. „ lunatum.
3. „ triquetrum.
4. „ pisiforme.
1) S. meine verschiedenen Aufsätze,
197
228 W. Gruber:
Os multangulum majus.
" 5 minus.
„ capitatum.
„ hamatum.
Aus der Epiphyse eines durch einen fortsatzartigen Anhang ver-
grösserten Multangulum minus entwickeltes Össieulum
supernumerarium.
10. Basalstücke der Metacarpalia.
Fig. 2.
Os multangulus minus in Verbindung mit dem Ossiculum super-
numerarium (Ansicht von oben und hinten).
a. O0. multangulum minus.
a. Gelenkfläche der S. brachialis.
ß. Gelenkfläche der $. ulnaris.
b. Os supernumerarium.
@’. Obere Abtheilung der $. dorsalis.
ER
ß. Hintere y 5 -
Fig. 3.
Os multangulum minus.
(Ansicht von der Brachial- und Ulnarseite).
«. Gelenkfläche der S. brachialis.
ß. Gelenkfläche der S. ulnaris.
y. Abgestutztes Ulnarende.
Fig. 4.
Dasselbe (Ansicht bei abwärts gekehrter Radial-, vorwärts gekehr-
ter Brachialseite und auswärts gerichtetem, abgestutztem Ulnarende.)
«. Gelenkfläche der Superficies ulnaris. i
ß- n x 5 digitalis.
y. Rauhe Stelle am Ulnarende.
y’. Gelenkfläche „ 3
Fig. 5.
Ossiculum supernumerarium.
(Ansicht seiner Basis bei abwärts gekehrter Digital- und rechts
gerichteter Ulnarseite.)
«. Rauhe Stelle.
8. Gelenkfläche zur Artieulation mit dem Multangulum minus,
y. Gelenkfläche zur Articulation mit dem Metacarpale II.
Fig. 6.
Dasselbe (Ansicht bei aufwärts gekehrter Basis und rechts und
rückwärts gerichteter Dorsalseite).
«. Gelenkfläche an der S. ulnaris zur Articul. mit dem Capitatum.
'ß. Rauhe $. dorsalis.
FE
Archiv fAnat uw Phyf' 1876. Taf al
Dügikof del. W Grohmann:se.
Ueber ein neuntes Ossiculum carpi. 2329
Fig. 7.
Basalstück des Os metacarpale Ill. (Ansicht der Basis des Kno-
chens bei abwärts gekehrter Dorsal- und links gerichteter Ulnarseite.)
a. Gelenkfläche zur Artieulation mit dem Capitatum.
b. Dorsale Radialecke.
«@. Rauhe Stelle,
3. Gelenkfeld,
y. Anomaler Dorsalkamm
zur gelenkigen und ungelenkigen Verbindung mit dem Ossiculum
supernumerarium carpi.
Institut für die praktische Anatomie.
24. September
— 1875.
6. October Nena
St. Petersburg, am
a,
x RER ram /4 . ar
Ein Nachtrag zum Vorkommen des zweigetheilten
Jochbeines — Os zygomaticum bipartitum —,
bei Anwesenheit des Kiefer-Schläfenbogens —
Arcus maxillo-temporalis intra-jugalis — Gruber.
Von
Dr. WENZEL GRUBER,
Professor der Anatomie in St. Petersburg.
Hierzu Taf. VI.
Ich habe in drei meiner Schriften!) über 14 Schädel, wo-
von 12 männlichen und zwei weiblichen Individuen angehört
hatten, berichtet, welche mit dem zweigetheilten Jochbeine —
Os zygomaticum bipartitum — behaftet sind. An 2 derselben
kam das zweigetheilte Jochbein beiderseitig, an 2 derselben
nur rechtseitig, und an 5 derselben nur linkseitig vor. An
dieser Schädel, wovon 2 das zweigetheilte Jochbein beiderseitig
und 1 dasselbe nur linkseitig aufweisen, ist beiderseitig auch
der von mir beim Menschen entdeckte und als Thierbildung
merkwürdige Kiefer-Schläfenbogen — Arcus maxillo-tem-
poralis-intra-Jjugalis — zugegen.?)
Zu dieser Sammlung konnte ich noch einen Schädel, wel-
1) a. Monographie über das zweigetheilte Jochbein — Os zygo-
maticum bipartitum — bei dem Menschen und den Säugethieren;
und Bericht über die Leistungen der praktischen Anatomie an der
med.-chir. Akademie in St. Petersburg 1868/68—1871/72. (Mitı Tafel.)
Wien 1873. 4°. — b. Ueber den an der Schläfenfläche des Jochbei-
nes gelagerten Kiefer-Schläfenbogen — Arcus maxilllo-temporalis intra-
jugalis — beim Menschen (Thierbildung); nebst Nachträgen zum zwei-
getheilten Jochbeine — ohne oder mit Vorkommen des Kiefer-Schlä-
fenbogens —. Dies Archiv, 1873. 8. 234. Taf. V.— c. Ein Nach-
trag zum Vorkommen des zweigetheilten Jochbeines — Os zygoma-
ticum bipartitum — beim Menschen. — Dies Archiv, 1875. S. 194.
Taf. V,B. Fig. 1.
2) S. vorige Note sub b.
Gruber: Nachtrag z. Vorkomm. d. zweigetheilt. Jochbeines. 231
cher nicht nur rechtseitig ein zweigetheiltes Jochbein, sondern
auch beiderseitig den Kiefer-Schläfenbogen besitzt, den
ich bei der Durchmusterung von 367 Schädeln aus der Mace-
ration vom J. 1874/75 angetroffen hatte.
Ich werde im Nachstehenden auch über diesen Schädel,
welcher zugleich der 4. eigener Beobachtung ist, an dem bei
Anwesenheit des zweigetheilten Jochbeines der Kiefer-Schlä-
fenbogen vorkommt und am Zygomaticum secundarium ma-
xillo-temporale eine in anderen Fällen nocn nicht beobachtete
Eigenthümlichkeit aufweist, berichten.
Der Schädel gehörte einem männlichen Individuum an und
zeigte manche Erkrankungen am Dache und am Processus al-
veolaris des rechten Maxillare superius, die ohne alle Beziehung
zu den Abweichungen an und hinter dem Zygomaticum stehen.
Das linke Zygomaticum ist einfach und normal. Es be-
trägt seine Höhe an einer Linie von der Mitte des Orbitalran-
des zur Mitte des Massetericalrandes 23—2°9 Cent.; seine
Breite an der Mitte 19 Cm.; die Entfernung des vorderen
Endes des Massetericalrandes an der Spitze seines Processus
maxillaris 34 Cm.; die Entfernung des vorderen und hinteren
Endes des Massetericalrandes vom Ende des Processus fronta-
lis 45 Om.
Das rechte Zygomaticum (a) ist durch eine quere Naht —
Sutura zygomatica —, welche vorwärts etwa über dem unteren
Fünftel der Höhe des Knochens verläuft, vorn 11 Mm. über
der Spitze des Processus zygomaticus des Maxillare superius
in der Sutura zygomatico-maxillaris beginnt, hinten von der
Spitze des Processus zygomaticus des Temporale an der Mitte
der winkligen S. zygomatico-temporalis und dem Masseterical-
rande nicht völlig parallel zieht, zweigetheilt — Zygomaticum
bipartitum —. Von den beiden über einander liegenden Stü-
cken — Zygomatica secundaria — ist das obere — Z. secun-
darium superius s. orbitale (@’) — wie in anderen derartigen
Fällen, unverhältnissmässig gross und wie das Zygomaticum
normale von den Canaliculi zygomatici durchbohrt; das untere
— Z, secundarium inferius s. maxillo-temporale (a”) —, welches
232 W. Gruber:
den Massetericalrand des Zygomaticum trägt und die diesem
zunächst liegende Partie des Knochens einnimmt, klein.
Das Zygomaticum maxillo-temporale (a”) hat unter dem
Z. s. orbitale, zwischen der Spitze des Processus zygomaticus
des Maxillare superius und darüber und der unteren Hälfte des
Endes des Processus zygomaticus des Temporale seine Lage
und stellt den vorderen Abschnitt des von ihm und dem Pro-
cessus zygomaticus des Temporale gebildeten Jochbogen dar.
Dasselbe hat die Gestalt einer unregelmässig länglich-vierseiti-
gen, von vorn nach hinten an Breite (Höhe) abnehmenden
Platte, welche zwei Flächen, zwei Enden, zwei Ränder und
einen ganz ungewöhnlichen Fortsatz, der an keinem der Zygo-
matica maxillo-temporalia früherer Fälle vorgekommen war,
aufweist. Von den Flächen ist die Gesichtsfläche schwach con-
vex und die Schläfenfläche schwach concav. Von den Enden,
die geradlinig sind und zur Verbindung dienen, ist das vordere
schräg ab- und vorwärts, das hintere ab- und rückwärts abge-
schnitten.
Von den Rändern ist der obere geradlinige ein Verbin-
dungsrand, der untere frei, der Massetericalrand des Z. com-
mune, vorn mit einem Fortsatze (a) von der Gestalt einer drei-
seitigen, platten Zacke, hinten mit dem von der hinteren Ecke
ganz oder doch vorzugsweise constituirten Tubereulum masse-
tericum (8), auf dessen Vorkommen am Jochbogen zwischen
dessen beiden Abschnitten ich aufmerksam gemacht hatte,') *
und zwischen beiden mit zwei Ausbuchtungen versehen. Das-
selbe steht am oberen Rande durch die 1'6 Cm. lange Sutura
zygomatica mit dem Z. s. orbitale, am vorderen Ende durch
das untere Endstück der S. zygomatico-maxillaris mit dem
Processus zygomaticus des Maxillare superius, am hinteren Ende
durch die untere Hälfte der S. zygomatico-temporalis mit dem
Processus zygomaticus des Temporale in Verbindung. Es be-
trägt seine Länge am oberen Rande 1'6 Cm., am unteren Rande
2:5 Cm.; seine Breite (Höhe) am vorderen Ende Il Mm., am
2) Ueber supernumeräre Knochen im Jochbogen. Dies Archiv,
1873. S. 339.
TREE
Nachtrag zum Vorkommen des zweigetheilten Jochbeines.. 235
hinteren Ende $ Mm., an der Stelle mit dem Fortsatze bis 16
Mm. Der als dreiseitige Zacke vom vorderen °/, des unteren
Randes ausgehende und gerade abwärts hervorstehende Fort-
satz («) ist am Abgange 1 Cm. breit und 7 Mm. hoch. Mit
seinem 9 Mm. langen vorderen Rande verlängert er den vom
Processus zygomaticus des Maxillare superius gebildeten Bogen
um etwa °/, seiner Länge und macht diesen viel tiefer als links.
Am Zygomaticum bipartitum dextrum beträgt die Höhe an
der Mitte 3°5.Cm., seine Breite an der Mitte 1:3—1'9 Cm.;
die Entfernung des vorderen Endes des Massetericalrandes von
der Spitze des Processus maxillaris 3:9 Cm.; die Entfernung
desselben vom Ende des Processus frontalis 45 Cm.; die Ent-
fernung des hinteren Endes des Massetericalrandes vom Ende
des Processus frontalis 49 Cm., die Entfernung der Spitze des
anomalen Fortsatzes am Massetericalrande von der Spitze des
Processus maxillaris 46 Cm. und vom Ende des Processus
frontalis 53 Cm. Das Zygomaticum bipartitum dextrum ist
daher wohl ähnlich breit, wie das Zygomaticum normale sini-
strum, aber auffallend höher als dieses.
An beiden Seiten ist der Arcus maxillo-temporalis-
intra-jugalis (d) zugegen. Am Zygomaticum bipartitum
bedeckt dieser die S. zygomatica an der Schläfenseite. Zur
Herstellung des rechten Arcus trägt vorzugsweise die Spina
zygomatico-temporalis (Y) des Processus zygomaticus des Ma-
sillare superius (b), zu der des linken Arcus aber vorzugs-
weise die Spina zygomatico-maxillaris des Processus zygomati-
cus des Temporale bei. Beide Arcus, namentlich der rechte
(d), haben eine beträchtliche Breite (Höhe). Diese betrug an
der schmalsten Stelle am rechten Arcus noch 7 Mm.
Damit sind mir bis jetzt 15 Schädel mit dem Zygomaticum
bipartitum, und zwar beiderseitig an 7, nur rechtseitig an 3
und nur linkseitig an 5, d.i. 22 Zygomatica bipartita zur Be-
obachtung gekommen. Unter diesen Schädeln waren 4, wovon
2 das Z. bipartitum beiderseitig, 1 nur rechtseitig und 1 nur
linkseitig aufwiesen, zugleich mit dem Arcus maxillo-tempo-
ralis-intra-jugalis beiderseitig behaftetes, d. i. es war dieser
mit 6 Zygomatica bipartita aus 22 und mit 2 Z. normalia aus
234 W. Gruber:
8 von 15 Schädeln aufgetreten. Nach diesen und den Angaben
aus der Literatur!) ist ferner damit die Zahl der bis jetzt zur
Kenntniss gekommenen Schädel mit Zygomatica bipartita nach
fremden und eigenen Beobachtungen wenigtens auf 46 gestiegen.
Erklärung der Abbildungen.
Fig. 2.
Stück der rechten Gesichtshälfte des Schädels eines Mannes mit
der Schläfengrube,
Fig. 2.
Dasselbe Stück mit dem Processus zygomaticus des Temporale
vom Schädel getrennt, zur Ansicht des an der Schläfenfläche des
Arcus zygomatico-temporalis, zu dessen Verstärkuug, gelagerten Arcus
maxillo-temporalis-intra-jugalis.
a Os zygomaticum bipartitum.
rc: S secundarium orbitale.
Er % a maxillo-temporale.
b. Maxilla superior.
c. Processus zygomaticus des Temporale.
d. Arcus maxillo-temporalis intra-jugalis.
1) S. angeführte Schriften sub a. und c. (In meinem Aufsatze:
„Ein Nachtrag zum Vorkommen des zweigetheilten Jochbeines beim
Menschen“ — dies Archiv 1875, S. 199. Note 10 — hatte ich nach
Garbiglietti's Citaten „Davis Angaben über Fälle vom Vorkommen
der Zygomatica bipartita mitgetheilt. Da mir gegenwärtig das Werk
von Joseph Barnard Davis — Thesaurus craniorum (Catalogue
of the sculls of the various races of man) London 1867. 8. — vor-
liegt, so kann ich aus dem Originale anführen, dass Davis in der
That in seiner Collection den Schädel eines Dayak (sub No. 1244) —
— a.a. 0. S. 293 — und den Schädel eines andern Dayak (sub
No. 1409) — a. a. O0. S. 297 — besitze, wovon ersterer nur auf der
rechten Seite und letzterer auf beiden Seiten das Zygomaticum bipar-
titum (sein Z. accessorium) aufweise. Er führt ferner (a. a. O0. S. 291)
abgesehen vom Bekannten an: dass der in van der Hoeven’s Ca-
talogus verzeichnete Negerschädel (sub No. 141) auf beiden Seiten, ein
Dayak-Schädel im Würzburger Museum (beiderseitig oder einseitig?)
das Zygomaticum bipartitum besitze, dass hm Weleker vom Vor-
kommen desselben auf der linken Seite eines Dayak-Schädels unter
den von den Gebrüdern Schlagintweit gesammelten Schädeln aus
Indien die Anzeige gemacht habe.)
Archiv f_ Anat:u.Phyf. 1876. Taf 17.
W Grohmann st,
«
Nachtrag zum Vorkommen des zweigetheilten Jochbeines. 935
«. Processus massetericus anomalus,
8. Tubereulum massetericum
am 0. zygomaticum maxillo-temporale.
y. Spina zygomatico-temporalis der Maxilla superior,
d, Spina zygomatico-maxillaris des Processus zygomaticus des
Temporale,
zur Bildung des Arcus maxillo-temporalis.
Institut für die praktische Anatomie.
24. September are
St. Petersburg, am 6. Oktober
Beiträge zur Physiologie
von
Dr. DÖnHorF.
I. Geringe Fäulnissfähigkeit des löslichen Hühnereiweiss.
In ein Zimmer, dessen Tages-Temperatur 19° C. betrug,
brachte ich frische und gekochte Hühnereier. Nach 2 Monaten
hatten erstere noch keinen Geruch angenommen, und waren
geniessbar. Die letztern dagegen liessen am $ten Tage einen
deutlichen Ammonjakgeruch wahrnehmen und schmeckten so
stark ammoniakalisch, dass sie nicht zu geniessen waren. Hielt
ich über sie ein Glasstäbchen mit einem Tropfen Salzsäure, so
entwickelte derselbe lebhafte weisse Nebel.
Ich füllte ein Gläschen mit frischem Hühnereiweiss. Um
die schnelle Verdunstung zu hindern, nahm ich eins mit ziem-
lich enger Oeffnung. Nach 5 Wochen konnte ich an dem im
geheizten Zimmer aufbewahrten Eiweiss noch keinen Geruch
wahrnehmen.
Sodann goss ich in ein Glas frisches Hühnereiweiss mit
Wasser, und in ein zweites Glas gekochtes mit derselben Menge
Wasser gemischt, legte in jedes einen blanken Thaler und hob
beide Gläser in einem geheizten Zimmer auf. Die Mischung
des frischen Eiweiss begann erst mehre Wochen später deut-
lichen Fäulnissgeruch zu entwickeln, als die des gekochten.
Die Thaler färbten sich dem entsprechend auch verschieden
schnell schwarz. Bemerkenswerth ist, dass die Schwefelwasser-
stoffreaction nicht von Anfang an allmählig, sondern erst nach
längerer Zeit eintritt, oft erst, wenn der Fäulnissprocess sich
schon längst durch üble Gerüche kenntlich gemacht hat. Es
Dönhoff: Beiträge zur Physiologie. 237
scheint, dass der Schwefelwasserstoff ein secundäres Product
der Fäulniss ist.
Baeillarien treten in ungekochtem und rohem Eiweiss zu
gleicher Zeit auf, wenn sie mit derselben Menge Wasser infun-
dirt werden.
Gekochter, mit Wasser übergossener Eidotter fault eben-
falls früher, als ungekochter, ebenso behandelter. Doch beträgt
hier die Differenz nur einige Tage.
In einem Versuche, den ich allerdings nicht wiederholt
habe, gab eine ungekochte Mehlinfusion, früher einen Fäulniss-
geruch als gekochte. Wahrscheinlich war in letzterer die Klei-
sterbildung der Fäulniss hinderlich. Die grössere Widerstands-
fähigkeit des frischen Eiweiss gegen die Fäulniss ist wichtig
für die Entwicklung der Eier. Manche Vögel legen bis zu 24
Eier, ehe sie zu brüten beginnen. Die ersten Eier würden
demnach faul sein, ehe das Brüten beginnt, wenn das rohe Ei-
weiss so schnell in Fäulniss überginge, wie geronnenes Eiweiss,
wie Vitellin, Myosin oder Kleber.
Wird Dotter durch Umrühren oder durch Mischen mit
Wasser zerstört, so fault er schnell. Im Ei wird er durch
unbekannte Umstände länger vor der Fäulniss geschützt.
1I. Mangel der Zweckvorstellungen bei den instinet-
mässigen Handlungen der Thiere.
Hühner lassen den Gluckton, durch welchen die Jungen
später herbeigelockt werden, gewöhnlich schon kurz vor und
während des Brütens hören. Eine höchst interessante Beobach-
tung aber habe ich im vorigen Jahr an einem meiner Hühner
gemacht. Dasselbe fing Anfangs Mai an zu brüten, hörte aber
nach einigen Tagen wieder auf. Von da bis Ende August be-
nahm es sich nun vollständig wie ein Mutterhuhn. Streute ich
ihm Brot hin, so zerkleinerte es dasselbe, nahm die kleinen
Stückchen wiederholt auf, und legte sie wieder hin, indem es
unterdessen immer den Ton ausstiess, mit welchem Mutter-
hühner ihre Küchelchen zu locken pflegen. Erst wenn das
lange Locken ohne Erfolg blieb, frass es die Krümel auf. Nä-
338 Dönhoff:
D
herte ich mich dem betreffenden Huhn, so flog es mit gesträub-
tem Gefieder auf mich los, als ob es Junge zu beschützen ge-
habt hätte. Des Nachts sass es nicht wie früher auf der
Stange bei den andern Hühnern, sondern auf ebener Erde im
Stroh, die Flügel gespreizt nach Art der Mutterhühner, die
ihre Brut unter den Flügeln versammelt haben.
Ich setzte das Huhn allein in eine Stube; es benahm sich
hier ebenso. Nach einigen Tagen liess ich es wieder frei.
Höchst ergötzlich war nun das Benehmen zweier alten Enten.
Dieselben hatten bald’ gemerkt, dass das Huhn lockte, wenn
es etwas Geniessbares gefunden hatte. Sie machten sich dies zu
Nutze, begleiteten das Huhn beständig, eilten auf sein Locken
sofort herbei und verzehrten die Früchte seines emsigen Su-
chens. Ruhte das Huhn aus, so legten sich die Enten zu seiner
Seite; stand es auf, so erhoben sie sich ebenfalls. Es lässt
sich denken, dass das Huhn dabei so mager wurde, wie ein
Mutterhuhn.
Sicher ist, dass dieses Huhn, welches, trotzdem es keine
Jungen hatte, doch sämmtliche Handlungen der Brutpflege aus-
übte, durch keine Zweckvorstellungen zu denselben veranlasst
wurde. Es ist daher auch anzunehmen, dass Hühner, wenn sie
wirklich Junge haben, und sie den Lockton hören lassen, da-
bei nicht die Vorstellung hegen, dass die Jungen herbeieilen
sollen, das Futter zu fassen. Sie haben dabei keinen Zweck,
sondern die instinetmässige Handlung ist ein blinder Mechanis-
mus, der durch innere Ursachen oder durch äussere Sinnesreize,
nicht durch eine angeborene Zweckvorstellung ins Werk ge-
setzt wird.
III. Instinetmässiges Tiefensehen.
Am 18. September vorigen Jahres fand ich in einem Hüh-
nerneste 4 Fuss hoch über dem Boden vier während der Nacht
ausgekrochene Hühnchen; spät am Abend vorher hatte ich die
Eier noch gesehen. Die Küchelchen konnten demnach das
Nest noch nicht verlassen haben, denn Niemand wäre dage-
wesen, der sie wieder hineingesetzt hätte. Ich sperrte die
Jungen mit der Henne in einen Käfig, in welchem keine Stan-
Beiträge zur Physiologie. 2339
gen waren, auf die sie hätten fliegen können, und nahm den
Käfig mit auf meine Stube. Am andern Tage kam ich auf den
Gedanken, zu untersuchen, ob die Thierchen Tiefenwahrneh-
mung hätten, ehe sie Gelegenheit gehabt hätten, Erfahrun-
gen zu machen. Ich setzte ein Hühnchen auf einen Tisch und
den Käfig mit der Henne vor denselben. Das Thierchen gab
sofort durch lautes Piepen seine Unruhe zu erkennen, jedoch
machte es keinen Versuch von dem Tisch herunterzuspringen.
Setzte ich nun einen Stuhl an den Tisch, so sprang es sofort
auf denselben und von hier herab zur Mutter auf den Boden.
Da es möglich war, dass dieses Hühnchen die grössere Nähe
des Stuhls dadurch erkannte, dass von demselben mehr Licht
in sein Auge fiel, als von dem entfernteren Boden, so setzte
ich ein anderes auf den Tisch, stellte einen Stuhl etwa 2 Fuss
vom Hühnchen, und beschattete den Stuhl. Das Thierchen
lief sofort über den Tisch nach dem Stuhle hin, und benutzte
ihn, um auf den Boden zu gelangen. Ich setzte das dritte
Hühnchen auf den Tisch, bedeckte den Boden vor demselben
mit einem weissen Tuche, und doch lief auch dieses Hühnchen
wie die anderen zu dem dunkleren Stuhl. Das vierte Hühn-
chen setzte ich auf meine Hand, welche ich 4 Fuss hoch über
der Decke eines Betts hielt. Das Thierchen blieb piepend
sitzen, und sprang erst herunter, wenn.ich die Hand bis auf
etwa % Fuss der Bettdecke näherte, Hielt ich ein Buch, auf
welchem ein Mehlwurm lag, einem auf dem Tisch sitzenden
Hühnchen in etwa 1 Fuss Entfernung vor, so guckte das Thier-
chen wohl nach dem Wurm, versuchte aber nicht ihn zu er-
fassen. Erst wenn ich den Wurm so weit näherte, dass es ihn
erfassen konnte, griff es zu. Diese Versuche wurden varürt
bei Lampenlicht wiederholt, gaben aber immer dasselbe Resultat.
Vor drei Jahren nahm ich das Nest eines Bienenschnep-
pers mit Jungen aus einem Weinstock heraus, und setzte es
in einem Käfig in ein Zimmer, dessen Fenster geöffnet blieben.
Die Alten konnten so zufliegen, und ihre Jungen füttern. Als
diese ganz flügge waren, öffnete ieh: eines Tages den Käfig.
Ein Junges flog heraus und setzte sich auf den Zweig eines
vor dem Fenster stehenden Baumes. Als ich es von hier ver-
N AB *
240 Dönhoff:
scheuchte, flog es auf den Zweig eines andern Baumes. Das
Thier musste eine Empfindung von der Nähe und Ferne des
Zweiges haben, denn als es ihm nahe gekommen war, mässigte
es seinen Flug, um nicht über das Ziel hinauszuschiessen.
Ein andermal setzte ich einem Stock eine italienische
Königin zu. Als nach meiner Berechnung bald junge Bienen
auskriechen mussten, setzte ich den Stock zehn Tage in den
Keller, dann brachte ich ihn auf den Stand zurück und öffnete
das Flugloch. Es dauerte nicht lange, so kroch eine italienische
Biene, deutlich an ihrer gelben Farbe zu erkennen, heraus, um
ihren ersten Ausflug zu halten. Sie flog ab, kehrte zurück und
setzte sich auf das dicht unter dem Flugloch befindliche Flugbrett.
Nun befestigte ich das Brett ungefähr einen halben Fuss tiefer
am Stock. Die nächste italienische Biene, welche ihren Aus-
flug gehalten hatte, setzte sich nicht auf das Flugbrett, sondern
direct an das Flugloch und so alle folgenden. Die erste Biene
empfand also die Nähe des Flugbrettes, die andern empfanden
dessen Entfernung.
Bei den Hühnchen und dem Bienenschnepper konnten es
Accommodations- und Convergenzempfindungen sein, welche sie
leiteten, bei den Bienen nur Accommodationsempfindungen. Da
junge Eichhörnchen mit der grössten Sicherheit Sprünge in
verschiedener Entfernung machen, so muss ihnen ebenfalls
Tiefenwahrnehmung angeboren sein. Zugleich muss die Stärke
der Muskelcontraction für die Sprünge in verschiedener Ent-
fernung instinetmässig angelegt sein, sonst würden sie jeden
Augenblick ihr Ziel verfehlen und zu Boden fallen, was in
Wahrheit nur höchst selten geschieht.
IV. Die Geschlechtsorgane im Zusammenhang mit den Blut-
ansammlungen in den Fleischanhängen der Hühner.
Der Kamm der jungen Hühner ist anfangs blass und fängt |
erst im nächsten Frühjahr an sich zu röthen, bei einem Huhn |
früher, beim andern später. So lange der Kamm blass ist,
legt das Huhn nicht, und fängt er an, sich zu röthen, so ist
dies ein sicheres Zeichen, dass das Huhn bald anfangen wird,
Eier zu legen. Während des Brütens wird der Kamm dann
Beiträge zur Physiologie. 941
wieder blass und sein Rothwerden bezeichnet jedesmal wieder
den baldigen Beginn des Bierlegens. Was vom Kamm gesagt
ist, gilt zugleich von den Troddeln unter dem Kinn. Das
Futter hat durchaus keinen Einfluss auf diesen Farbenwechsel,
Man kann im Herbst, wenn die Zeit des Eierlegens bei den
Hühnern vorbei ist, noch so stark füttern; die Fleischanhänge
bleiben blass.
Bei den jungen Hähnen röthet sich der Kamm schon im
ersten Sommer und er behält nun diese lebhafte Färbung das
ganze Leben hindurch. Es tritt dem entsprechend bei jungen
Hähnen die Geschlechtsreife auch schon im ersten Sommer
ein. Kastrirt man einen Hahn, so werden Wangen und Fleisch-
anhänge so blass wie die Haut eines bleichsüchtigen Mädchens.
Deshalb schneidet man beim Kapauniren wahrscheinlich auch
den Kamm und die Troddeln ab. Aber trotzdem behalten die
Kapaune ein kränkliches Ansehn, denn die Stümpfe der An-
hänge und der Wangen werden vollständig farblos. Um zu
prüfen, ob das Abschneiden der Fleischanhänge allein die bleiche
Farbe der Stumpfe verursachen kann, schnitt ich dieselben drei
jungen Hähnen ab, aber nach drei Monaten sind Stumpf und
Wangen noch so hochroth wie vor der Operation. Gleich nach
dem Abschneiden, wenn die Blutung vorbei war, waren die ab-
geschnittenen Kämme bleich; die rothe Farbe rührt also nur
von dem Blutgehalte her. Die Geschlechtsdrüsen haben mit-
hin die Kraft in den Fleischanhängen einen Blutturgor hervor-
zurufen. Derselbe hört bei kastrirten Hähnen vollständig auf,
weil jede Einwirkung der Geschlechtsorgane aufhört. Bei Hüh-
nern, die nicht legen, wird der Kamm nicht so todtenbleich,
wie bei Kapaunen, ist deshalb die Congestion nicht so voll-
ständig aufgehoben. Der Eierstock, wenn er auch augenblick-
lieh nicht functionirt, bewirkt doch noch einen schwachen
Turgor.
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 16
Studien über die Physiologie der Gewebs-
elemente.
Von
KonrAD HÄLLSTEN,
Professor in Helsingfors.
Die Erregbarkeit an verschiedenen Stellen desselben
Nerven.
(Uebertragen aus: Finska Läkare-Sällskapets Handlingar.
Helsingfors 1875. Heft 2.)
In einer Abhandlung „Om Protoplasma-Rörelser och Funk-
tionstillständet i Nervsystemet* (Von den Protoplasma-Bewe-
gungen und der Nerventhätigkeit) Helsingfors 1873“ habe ich das
Resultat einiger Untersuchungen in Betreff der Reizbarkeit in
sensiblen Nerven erwähnt; die Methode, die hierbei angewandt
wurde, konnte jedoch in dieser Abhandlung in ihren Einzel-
heiten nicht angegeben werden; daher und weil dieselbe Me-
thode auch. in einigen folgenden Untersuchungen angewandt
ist, möge deren Beschreibung zunächst hier Platz finden.
Das Verfahren war folgendes: die beiden hinteren Extre-
mitäten eines Frosches im Zusammenhange mit dem Lumbal-
Theile des Rückens wurden lospräparirt; die Haut wurde ab-
gezogen und die beiden Nervenstämme in ihrer ganzen Aus-
dehnung vom Rückenmarkscanale bis zur Fossa poplitea los-
präparirt; die Weichtheile in der Nachbarschaft des Rücken-
markscanales und das Os sacrum wurden entfernt; der eine
Nervenstamm wurde in der Fossa poplitea abgeschnitten; auf
der anderen Seite dagegen wurde der M. gastroknemius im
Zusammenhange mit dem Nervenstamme und mit dem Os fe-
moris und der Achillessehne erhalten. Das Präparat bestand .
Hällsten: Studien über die Physiologie der Gewebselemente. 243
dergestalt aus den beiden Nervi ischiadici in Verbindung mit
dem Lumbaltheile des Rückenmarks, und aus dem einen Wa-
denmuskel im Zusammenhange mit seinem motorischen Nerven
und mit dem Os femoris und der Achillessehne. Dieses Prä-
parat wurde in gewöhnlicher Weise in Pflüger’s Myographion
befestigt, und zugleich der Rückenmarkscanal mit Nadeln auf
einer Unterlage von Kork, die auf dem Myographion-Tische ver-
schoben werden konnte, fixirt. Dabei wurde natürlich die nö-
thige Vorsicht beobachtet, um möglichst zu vermeiden, dass
die Nervenstämme gespannt würden, oder vertrockneten, oder
in anderer Weise litten. Schliesslich sei noch erwähnt, dass
bei elektrischer Reizung den Elektroden, auf welchen der Nerv
ruhte, die Ströme dadurch zugeführt wurden, dass die amalga-
mirten Poldrähte gleichzeitig in zwei Quecksilber-Gefässe, die
mit den Elektroden in Verbindung standen, eingetaucht wur-
den, — so dass Stromschleifen und auch unipolare Erscheinun-
gen als ausgeschlossen zu betrachten sind.
So habe ich gefunden — wie in der genannten Abhand-
. lung S. 43—44 angegeben ist — dass die Reflex-Zuckung von
verschiedener Grösse ist, wenn der sensible (d.h. der abge-
schnittene) Nervenstamm in verschiedenen Stellen mit Induc-
tionsströmen von derselben Intensität gereizt wird. Bei der
Ausführung dieser Untersuchung wurde der abgeschnittene
Nervenstamm auf zwei Paare von Elektroden, das eine näher
dem Centrum, das andere näher dem abgeschnittenen Ende des
Nerven gelegt, und beide Elektrodenpaare konnten nach Be-
lieben durch Quecksilber-Gefässe mit der secundären Spirale
eines du Bois-Reymond’schen Inductoriums verbunden wer-
den. Als Elektroden schliesslich wurden hierbei entweder ganz
einfach zwei Paare von Nadeln, oder die bekannten unpolari-
sirbaren Thonstiefeln mit amalgamirten Zinkstreifen in concen-
trirter Zink-Sulphat-Lösung gebraucht. — Im Sommer 1872,
als diese Untersuchung zum ersten Male ausgeführt wurde, und.
später als dasselbe Experiment bei den Demonstrationen und
praktischen Uebungen wieder aufgenommen worden ist, hat sich
hierbei gezeigt, dass minimale Erregung durch Ströme verschie-
dener Intensität erzeugt wird, je nachdem die Reizung in ver-
16*
I44 K. Hällsten:
schiedenen Stellen des Nervenstammes geschieht; bei Reizung
näher dem Centrum genügt nämlich eine kleinere
Intensität um Reflex-Zuckung hervorzurufen, als bei
Reizung in grösserem Abstande davon.
. Unter den Verhältnissen, unter welchen diese Untersuchung
ausgeführt wurde, ist die Reizung durch eine Summirung der
auf einander folgenden Inductions-Schläge hervorgerufen, wie
einfach dadurch bewiesen wird, dass wenn bei gleichem Rollen-
abstande wie im vorigen Experiment, der Strom im primären
Kreise nicht auf gewöhnliche Weise vermittelst des Wagner”-
schen Hammers geschlossen und geöffnet wird, sondern in Queck-
silber, so rufen die so erzeugten einfachen Inductionsschläge
keine Reflex-Zuckung hervor. Aus diesem und noch aus einem
anderen Grunde, von dem sogleich die Rede sein wird, habe
ich neulich diese Untersuchung noch einmal aufgenommen mit
der Veränderung, dass nur ein einziger Inductionsschlag, als
Reiz gebraucht wurde. Bei den ersten derartigen Versuchen
zeigte sich, dass auch die stärksten Inductionsschläge eines ge-
wöhnlichen du DBois-Reymond’schen Schlitten - Apparates
nicht hinreichende Intensität haben, um Reflex-Zuckung her-
vorzurufen. Die Untersuchung wurde daher mit einem Rum-
korff’schen Inductorium ausgeführt; hierbei zeigte sich zuerst,
dass bei übrigens derselben Anordnung der Oeffnungs-Inductions-
schlag, der wie bekannt grössere Intensität, obschon kürzere
Dauer hat, früher als der Schliessungs-Inductionsschlag Reflex-
Zuckung hervorruft. Die Untersuchung wurde daher so an-
geordnet, dass nur der Oeffnungs-Inductionsschlag, auf den sen-
siblen Nervenstamm einwirkte. Auch bei dieser Anordnung
des Experimentes zeigte sich ganz dasselbe Resultat, als bei
der vorigen Untersuchung.
Ich gehe über zur Frage nach der Erklärung dieser Er-
scheinung. Zunächst findet man, dass sie sich nicht erklären
lässt durch die Annahme, welche man noch immer in Betreff
der Bewegung zu machen pflegt, in der die Thätigkeit des
Nerven besteht, dass nämlich diese Bewegung mit dem zurück-
gelegten Wege an Intensität wachse. Denn bei dieser Annah-
me müsste derselbe Reiz grössere Zuckung hervorrufen, wenn
En a pe A
.
Studien über die Physiologie der Gewebselemente. 245
er am abgeschnittenen Ende des Nerven, als wenn er näher
dem Rückenmark einwirkt; mit anderen Worten, wäre diese
Annahme richtig, so würden die Resultate unseres Versuches
gerade die entgegengesetzten gewesen sein. Deshalb sah ich
mich in der genannten Abhandlung veranlasst, die Theorie vom
lawinenartigen Anschwellen der Erregung aufzugeben und statt
dessen die Erklärung darin zu suchen, dass die Erregbarkeit
an verschiedenen Stellen des sensiblen Nerven verschieden ist.
Es könnte aber vielleicht Jemand die Erklärung der frag-
lichen Erscheinung darin suchen wollen, dass der Reiz näher
dem Rückenmarkscanale auf mehr sensible Nervenfasern ein-
wirkt, und damit auch auf mehr Reflexapparate im Rückenmarke,
und dass so eine hinreichende Summe von Wirkungen zu
Stande kommt, um den Gastroknemius zu erregen. Dieser Er-
klärung widersprechen jedoch einige Untersuchungen von A.
Fick über Reflex-Zuckungen. Fick!) hat nämlich gefunden,
dass bei Reflexreizung mit einem einzigen Inductionsschlage die
Zuckung (in den meisten Fällen) in ganz bestimmten Muskeln
auftritt; mit anderen Worten, dass hierbei der Nerventhätigkeit
nicht von einem Reflexapparate auf einen anderen übergeht.
Wird dieses Resultat von Fick festgehalten, so können die
hier beschriebenen Reizungs-Erscheinungen mit einzelnen In-
duetionsschlägen nicht durch ein Ueberspringen der Reizungen
im Innern des Rückenmarks erklärt werden. '
Dass die obengenannte Erklärung die richtige sei, scheinen
mir noch andere Beobachtungen zu beweisen, auf welche ich erst
aufmerksam wurde, nachdem die genannte Abhandlung ausge-
geben war. Hierher gehört eine Erscheinung, die W. Wundt?)
in seiner Arbeit „Physiologische Psychologie“ erwähnt, dass
nämlich die specifische Erregbarkeit in den Wurzeln der Ner-
venstämme, nach ihrem Eintritt in das Rückenmark, kleiner
ist als in den peripherischen Stämmen; ferner eine Beobach-
tung von Rollet°), dass in derselben hinteren Froschextremi-
1) Pflüger’s Archiv für die gesammte Physiologie. Bd. IIT.
8. 328.
2) W. Wundt, a. a. O. Erste Hälfte. Leipzig 1873. S. 117.
3) Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte in der
gesammten Mediein. Bd. IX. S. 275.
246 K. Hällsten:
tät die Nervenstämme, welche sich zu den Flexoren begeben,
eine grössere specifische Erregbarkeit haben als die, die sich
in den Extensoren verzweigen. Und wenn man die Erregbar-
keit nicht nur in den Nervenfasern, sondern auch in den ver-
schiedenen Theilen des Nervensystems berücksichtigt, so hat
die Erfahrung gelehrt, dass die peripherischen Endapparate der
sensiblen Nerven eine viel grössere Erregbarkeit als die sen-
siblen Nervenstämme haben, und dagegen die Centralapparate
überhaupt eine kleinere. Alles dies zeigt uns, dass die mini-
male Erregung in verschiedenen Theilen des Nervensystems
verschiedenen Werth hat; oder mit anderen Worten, dass die
specifische Erregbarkeit verschieden ist in verschiedenen Thei-
len des Nervensystems, sowohl in den centralen als in den pe-
ripherischen Theilen.
Hiermit können auch die bekannten, von Pflüger ent-
deckten Erscheinungen, die unter analogen Verhältnissen im
motorischen Nerven sich zeigen, erklärt werden; und beide, die
Pflüger’schen und die hier beschriebenen Erscheinungen zei-
gen zusammen, dass die specifische Erregbarkeit so-
wohl in motorischen wie in sensiblen Nerven (im
Allgemeinen) vom Centralapparat gegen die Peripherie
vermindert wird.
Die Voraussetzung, die man noch immer zu machen pfleste,
um die Pflüger’schen Erscheinungen in den motorischen Ner-
ven zu erklären-— dass nämlich die Nervenbewegung nicht
wie das Licht und der Schall mit dem zurückgelegten Wege an
Intensität abnehme, sondern vielmehr anschwillt, diese Voraus-
setzung muss daher nach meiner Meinung aufgegeben werden,
und damit auch die bekannte Hemmungstheorie des Processes
in den Nervenfasern.
Anmerkung.
[Hr. Pflüger hat bekanntlich nach einer der obigen ganz glei-
‚chen Methode, nur dass er den Frosch mit Strychnin vergiftete, Ver-
suche über das „Gesetz der elektrischen Empfindungen“ angestellt
(Allgemeine Medieinische Central-Zeitung. 27. Aug. 1859. Jahrgang
XXVIM. 69. St. Sp. 545.) Dabei musste er nothwendig auf den jetzt
a >.
Studien über die Physiologie der Gewebselemente. 947
von Hrn. Hällsten erörterten Punkt stossen. In seiner Habilitations-
schrift „Disquisitiones de sensu electric. Bonnae MDCCCLX. 4“
spricht sich Hr. Pflüger p. 14 folgendermaassen darüber aus: „In
summa disquisitionibus meis, quas enarravi, electrodam superiorem
fortiorem effieacitatem exereuisse, probatum mihi videbatur, cum mi-
nimus rivus descendens facile solum apertione, ascendens fere sem-
per solum elusione contractiones reflexorias produceret. Quae quum
ita se habeant, in disquisitionibus meis incitabilitatem in nervo ischia-
dico superiore majorem fuisse quam in inferiore mihi videtur.* Hr.
Pflüger hat also, wenn auch nicht so unmittelbar, dasselbe Ver-
suchsergebniss erhalten, wie Hr. Hällsten, er sucht es aber durch
die veränderten Kreislaufsbedingungen und den Mechanismus der Ver-
giftung zu erklären, ohne den Widerspruch hervorzuheben, in den es
mit seiner Lehre vom lawineuartigen Anschwellen des Reizes geräth.
E. d. B.-R.]
Mechanische Principien der Homöothermie bei
höheren Thieren und das Newton’sche Gesetz
bei der Wärmeabgabe derselben.
Studien über thierische Wärme.
(Dritte Abhandlung.)
Von
Dr. Argertr ADAMKIEWICZ,
Privatdocenten an der Universität Königsberg.
Hierzu Taf. VII.
A. Die Wärmeprocesse und der Process des Lebens
im Reich der Organismen.
Nicht sprungweise, sondern in stetiger Fortentwickelung
haben sich die Arten der Organismen aus ihren einfachen Ur-
formen hervorgebildet. Jede von ihnen steht gegenwärtig auf
der Höhe einer Entwickelung, deren Ursprung in längst ver-
flossenen Jahrhunderten liegen mag. Aber so wie sie sich
uns heute darbieten, stellen sie nicht wohl isolirte Gruppen dar,
jede scharf geschieden von der andern. Eine Kette bilden sie
vielmehr von aufsteigenden Gliedern, zwischen denen sondernde
Grenzen fehlen. Entstammen sie alle derselben. Urform, wie
es die Darwin’sche Transmutationslehre fordert, dann kann
man sie als Entwicklungsphasen dieser Urform betrachten, die
sich so zu sagen nur um das Entwickelungsdifferential von ein-
ander unterscheiden. In ihrer Gesammtheit stellen sie deshalb
das Integral ihrer gegenseitigen Entwickelungsdifferenz dar, —
also ein Continuum ohne Lücke und Sprung.
In der That, wer wüsste heute zwische Pflanze und Thier,
zwischen Thier und Menschen die sicheren Grenzen zu ziehn?
Ein Kriterium giebt es, welches diese Stellung der leben-
den Geschöpfe unter einander wohl charakterisirt. Der Wärme-
process ist es, da er innerhalb der Organismen Schritt hält
mit deren Entwickelung.
a
Adamkiewicz: Mechanische Principien der Homöothermie. 249
Je höher die Entwickelung eines Wesens ist, desto voll-
endeter stellt sich die Gesammtsumme seiner Organleistungen
dar, die wir dessen Leben nennen. Das Leben aber ist nur
eine Form von Bewegung. Es ist diejenige Bewegung,
welche aus dem Verlust von Spannkräften hervorgeht, die der
Lebensprocess im Entstehen vernichtet. Die Spannkräfte,
welche im Vergehen das Leben wecken, sind aber chemischer
Natur. Und weil der Untergang chemischer Spannungen als
lebendige Kraft die Bewegungsform „Wärme“ und nur inner-
halb der Organismen gleichzeitig die Bewegungsform „Leben“
erzeugt, so muss der Wärmeprocess in der Entwickelungsreihe
der Geschöpfe dasselbe Gesetz befolgen, wie ihr Leben, — er
muss an Grösse und Entfaltung in der Klasse der Organismen
wachsen wie dieses.
Nichts liest in der That mehr auf der Hand, als dass der
Wärmeprocess in der aufsteigenden Reihe der Wesen einer
Curve folgt, welche dem Entwickelungsintegral des organischen
Reiches parallel läuft.
Zunächst der Abseisse steht diese Cure im Reich der
Pflanzen, am weitesten von ihr entfernt in der Klasse der höch-
sten und vollendetsten Thiere.
Kaum sind in der Pflanze eigene Wärmeherde nachzuwei-
sen.) Den Sonnenstrahlen muss sie die Kraft entnehmen, die
den Apparat ihrer Zellen in Bewegung setzt und das Rohma-
terial ihrer Säfte in Lebensstoffe verwandelt.
Je mehr sich das Thier von der Pflanze differencirt, desto
mehr gewinnt es an Fähiskeit, selbständig Wärme zu bilden.
Schon die Bienen heizen durch selbstgeschaffene Wärme ihre
1) Grosse Mengen aufgehäuften keimenden Samens vermögen
allerdings nieht unbeträchtliche Wärmemengen zu produciren. Auch
sollen sich nach de Sauss ure die Aroideen durch relativ bedeutende
Wärmebildung auszeichnen. — Im Uebrigen sind die Forscher über
Wärmebildung in den Pflanzen uneius. Vergl. Tiedemann: Phy-
siologie des Menschen. Darmstadt 1830. Bd.I. S. 447. — Fontana
(Efemeride chemico-mediche. 1805. p. 236) stellt letztere ganz in
Abrede.
250 A. Adamkiewiez:
Wohnhäuser und schützen sich so vor der Winterkälte der Um-
gebung.') Aber erst in der Klasse der Amphibien und Fische
treten eigentliche Körpertemperaturen auf. Man hat den Aber-
glauben längst widerlegt, der Kaltblüter sei temperaturlos und
unterscheide sich in seiner Körperwärme nicht von seiner Um-
gebung.) In den höchsten Repräsentanten des Thierreiches
erreicht die Körperwärme den böchsten Grad ihrer Entfaltung.
Man scheint diesen Grad der Temperaturen als einziges Maass
der Wärmebildung im Thierkörper anzusehen, wenn man die
Thiere, welche ihn besitzen, gegenüber allen andern, die „Warm-
blüter* nennt. Natürlich geschieht das mit Unrecht. Denn
es ist falsch, eine Eigenthümlichkeit zum unterscheidenden
Merkmal einer Klasse zu machen, wenn diese Eigenthümlich-
keit auf Gradationen einer allen Thierklassen zukommenden
Fähigkeit beruht. Nicht die Intensität, sondern die Differenz
einer Erscheinung bedingt eine fundamentale Verschiedenheit.
Die sogenannte „Kalt- und Warmblütigkeit“ der Thiere ist nur
ein Ausdruck der verschiedenen Energie der Wärmebildung;?)
und das Maass der Wärmebildung ist nur ein Maass der Le-
bensprocesse im Reich der lebenden Wesen.
Daher spielt sich der Process des Lebens in den Thieren,
welche der Pflanze nahe stehen, träge und langsam ab. Einem
schwälenden Funken vergleichbar, der bescheiden am Zunder
glimmt. Das Leben der höchsten Thiere flammt dagegen wie
ein viel verzehrendes, stolz loderndes Licht. Aber jener glim-
mende Funke haftet der Materie hartnäckig an und trotzt den
Gewalten, die ihn bekämpfen. Die Flamme neigt sich und
flackert, wenn es in der Umgebung unruhig wird und verlischt,
wenn es um sie stürmt. Das Leben des Kaltblüters ist des-
1) Berthold: Neue Versuche über die Temperatur der kaltblü-
tigen Thiere. Göttingen 1835. 8. 36. — Martin: Medical and
philos. Essays. p. 331. — Huber: Mem. sur les abeilles. Tom. I.
p. 305. — U. A.
2) Tiedemann: Physiologie des Menschen. Darmstadt 1830.
Ba. I. S. 467 ft.
3) Deshalb wären für sie die Bezeichnungen Oligothermie und
Polythermie viel entsprechender.
Mechanische Prineipien der Homöothermie. 951
halb auch so wunderbar fest an seinen Körperbestandtheilen
gebunden und widersteht so auffallend lange selbst dem Man-
gel des freien Sauerstoffs, der doch den Funken belebt.!) An
der Hülle der Warmblüter schwebt die Flamme nur locker und
verzehrt sich schnell, wenn der Zufluss stockt.
Die Wärme, die im Entstehen des Lebens frei wird, die
also ein Product des Lebens ist, wird wieder zur Lebensquelle.
Das ist die wunderbarste Macht des Organismus, dass sie durch
die Resultate ihres Wirkens ihre eigene Schöpferkraft wieder
belebt. Ist doch die Wärme der mächtigste Motor, der den
Uebergang todter Spannungen in lebendige Bewegung ver-
mittelt.
Das Maass von Wärme, das in den verschiedenen Thier-
klassen entsteht, ist also auch das Maass von Kraft, welches
in ihnen neue Lebensprocesse weckt. Niedrige Thiere bedürfen
dieser Kraft nur wenig, den niedrigen Vegetationen entspre-
chend, die bei ihnen die Summe des Lebensist. In demselben
Verhältniss aber, als die Intensität der Lebensprocesse sich in
der Thierklasse steigert, nimmt das Bedürfniss nach Wärme
in ihnen stetig zu. Dem Lebensprocess der höchsten Thiere
genügen erst die grössten Wärmemengen. Diese Thiere müs-
sen daher auch die höchsten Körpertemperaturen besitzen.
Aber das Gleichmaass des Lebens bei ihnen fordert es, dass
diese Temperaturen in ihrer Höhe den Organismen constant
erhalten bleiben. Dazu ist es nöthig, dass die in ihnen ge-
bildete Wärme ihnen einerseits nicht wieder verloren geht und
andererseits sich nicht in einer Weise aufspeichere, dass die
retinirte Kraft übermächtig wird und die Spannungen sprenge,
die sie nur lösen soll.
B. Die Erhaltung der Wärme.
Diese Forderungen können nur erfüllt werden, wenn der
Körper nicht mehr Wärme verliert, als er bildet und nicht
1) Pflüger: Ueber die physiologische Verbrennung in den le-
benden Organismen. — Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. X. S. 321 ff.
EAN RER RR 0
252 A. Adamkiewicz:
ınehr hervorbringt, als er der Umgebung gibt. Im ersten Fall wür-
den sich sonst die Temperaturquellen des Körpers schnell er-
schöpfen und im zweiten würden sie den Organismus leicht
überfluthen und rasch verzehren.
Das Geheimniss der organischen Einrichtungen, welche die
beiden Factoren der Temperaturconstanz, Wärmebildung und
Wärmeverlust, stets in das erforderlich gleiche Verhältniss zu
einander setzen, hat von jeher den Forschertrieb der Gelehrten
lebhaft angeregt. Man hat es bald erkannt, dass die primären
Gefahren für die Temperaturconstanz nicht in Aenderungen
der Wärmebildung, sondern in denen des Wärmeverlustes lie-
gen. Aber man hat sich die Lösung der vorliegenden Räthsel
sehr leicht zu machen gewusst, indem man dem ÖOrganismus
nahe liegende compensatorirche Fähigkeiten der Wärmebildung
zuschrieb, durch welche alle Variationen des Wärmeverlustes
gedeckt und deren Gefahren ohne Schwierigkeiten beseitigt
werden sollten.
Als Haller im Gegensatz zu den Ausführungen seines
Lehrers Boerhaave für möglich erklärt hatte, dass mit Lun-
gen athmende Thiere eine Temperatur der Umgebung vertrü-
gen, die derjenigen ihres Körpers gleichkäme; und als in einer
Reihe kühner und an Selbstverleugnung reicher Versuche von
den Englischen Forschern!) Fordyce, Blagden, Dobson
an der eigenen Person der Nachweis geführt worden war, dass
ein mehrere Minuten dauernder Aufenthalt in einer Umgebung
von 60, 100, ja 127° Cels. den Fortgang der Lebensfunctionen
nicht störe: da sah sich der Physiker Adair Crawfort?)
1) Philosophical Transactions. Vol. 65. 1775. 463. 484.
2) Versuche und Beobachtungen über die Wärme der Thiere und
die Entzündung verbrennlicher Körper. — Uebers. von Crell. Lpzg.
1789. S. 295. — In ganz anderem Sinne spricht Tiedemann
(Physiologie des Menschen. Bd. I. S. 461.) noch von der Kältebildung
bei Thieren in hochtemperirter Umgebung. — „Den Thieren kommt die
Eigenschaft zu, in einem Medium, das ihre Wärme übersteigt, Kälte zu er-
zeugen, und dies ist in dereintretenden stärkeren Verdunstung ihrer
Säftemasse begründet, welche ein Lebensact ist, und wodurch die
ihnen von aussen zugegangene Wärme in gebundenem Zustande aus-
gestossen wird.“
Mechanische Prineipien der Homöothermie, 253
veranlasst, anzunehmen, dass der thierische Körper auch die
Fähigkeit besitzen müsse, Kälte zu bilden, um jedem Ueber-
maass von Wärme zu steuern.
Currie!) war der Erste, der aus seinen Beobachtungen
auch das entgegengesetzte Reactionsvermögen, das der Wärme-
bildung, als unmittelbare Folge des Wärmeverlustes bei höhe-
ren Thieren ableitete.
In neuester Zeit haben die unermüdlichen Arbeiten Lie-
bermeister’s?) ein schwer wiegendes Material geschaffen, das die
Anschauungen Currie’s wissenschaftlich zu begründen und zu
stützen sucht. Jede Kälteeinwirkungaufdie Körperperipherie wird
von ihm als die Ursache eines Innervationsvorganges angesehen,
der ein moderirendes und excitocalorisches System nervöser Oen-
tren in Erregung versetzt und von hier ausauf der Bahn centrifu-
galer Nerven, also in Form eines einfachen Reflexes, die Wärme-
bildung direet und ohne Hilfe von Organleistung anregen soll.
Das ist ein echt vitaler, aus den Eigenschaften der Materie
nicht verständlicher Vorgang, auf den die ihrer Herrschaft doch
bereits entsetzte Lebenskraft noch einigen Einfluss zu haben
scheint. Auch kann er jener hypothetischen centralen Nerven-
mächte nicht entbehren, auf denen die Erscheinungen von jeher
doch nur wie auf erborgtem Fundamente ruhten. Definitionen,
die sich ihrer bedienen, sind kaum mehr als Umschreibungen
von an sich schwer begreiflichen Processen. Denn eine Er-
klärung der Lebenserscheinungen giebt nur diejenige Zer-
gliederung derselben, welche die organischen Complicationen
entwirrt und in ihren Elementen die mechanischen Grundsätze
der Molecularbewegung nachweist. Wenn Emil du Bois-
Reymond!) von den geistigen Erscheinungen, den höchsten
1) Ueber die Wirkungen des kalten und warmen Wassers als
eines Heilmittels im Fieber und in andern Krankheiten. Uebers. v,
Michaelis. Lpzg. 1801. S. 331.
2) Volkmann’s Sammlung klinischer Vorträge. Heft 19. --
Liebermeister, Handbuch der Pathologie und Therapie des Fiebers.
Lpzg. 1875. — U. A. ,
3) La Mettrie, Rede, gehalten in der Akademie der Wissen-
schaften zu Berlin, am 28. Januar 1875. S. 24.
254 A. Adamkiewicez:
und complieirtesten, welche die Natur überhaupt geschaffen
hat, fordert, dass der Naturforscher bei ihrer Zerlegung ebenso
verfahre, wie gegenüber jeder anderen neu hervortretenden
Thätigkeitsäusserung der Materie, beispielsweise der Elektrici-
cität; — so darf man nicht daran zweifeln, dass für die Er-
gründung nicht psychischer, also weniger verwickelter vitaler
Erscheinungen jenes Gebot geradezu Gesetz wird.
Bevor man deshalb die an sich schon räthselhaften vitalen
Potenzen zur Erklärung organischer Erscheinungen heranzieht,
muss der Versuch erschöpft sein, eine Erklärung für sie aus
den mechanischen Gesetzen zu geben, die die Aeusserungen
der lebenden organischen Materie abzuleiten gestattet.
Für die wissenschaftliche Begründung der Temperaturcon-
stanz der höheren Thiere ist dieser Versuch!) nicht ohne Er-
folg geblieben. Er hat beide Factoren, die auf die Tempera-
turconstanz hinwirken, die Wärmebildung wie die Wärmeab-
gabe, variabel gefunden und nur unter günstigen Bedingungen
constant ihre gemeinschaftliche Summe, die Temperatur des
Körpers.
I. Wärmeproduction.
Zunächst hat sich mit Hülfe des Experimentes exact der
Nachweis führen lassen, dass die viel bewunderte Fähigkeit,
die Körperwärme beständig auf derselben Höhe zu erhalten,
auch dem Warmblüter fehlt, wenn die Function derjenigen
Apparate aus der Gesammtheit seiner Organleistungen ausge-
schaltet werden, welche der Ausführung seiner Willensimpulse
dienen — der Muskeln. Der Verlust der Muskelfunction,
Verlust also der Bewegungsfreiheit setzt auch das höchste Thier
in Abhängigkeit von dem einfachen physikalischen, nach Du-
long und Petit benannten Gesetz, welches die Temperatur
eines Körpers als die Function seiner Grösse und der Tempe-
raturdifferenz zwischen ihm und Umgebung ausdrückt, Ein
Thier mit ruhender oder gelähmter Muskulatur erleidet auch
1) A. Adamkiewicz: Die Analogien zum Dulong-Petit’schen
Gesetz bei Tkieren. — Dies Archiv 1875. S. 78.
Mechanische Prineipien der Homöothermie. 255
bei derjenigen mittleren Temperatur seiner Umgebung, bei
welcher es unter normalen Verhältnissen seine Temperatur
constant zu erhalten im Stande ist, einen continuirlichen Ab-
fall seiner Körperwärme in Form einer bestimmten Ourve, de-
ren niedrigste Grenze in directem Verhältniss steht zur Tem-
peratur der Umgebung und in umgekehrtem zur Körpergrösse
des Thieres.
Daraus geht klar hervor, dass die Temperaturbeständigkeit
der höheren Thiere unter Anderem zunächst ein Factor der-
jenigen Lebensprocesse sein müsse, welche innerhalb der thä-
tigen Muskelsubstanz sich abspielen. Und wenn es wahr ist,
dass die Sommerwärme zu einer natürlichen Beschränkung und die
Kälte des Winters zu einer natürlichen Steigerung der Muskel-
arbeit anregt; dann wird man anerkennen müssen, dass schon in
diesen einfachen instinctiven Erscheinungen der Wesen eine That-
sache gegeben sei, die dem ausgesprochenen allgemeinen Princip
gerecht wird. Und dieses Princip ist leicht begreiflich, wenn
man erwägt, dass Wärmebildung eine längst bekannte physio-
gische Function der Muskulatur ist; dass die Muskeln als die
thätigsten Wärmeherde im thierischen Körper anerkannt sind, und
dass der Grad der Wärmebildung in ihnen von der Höhe ihrer
physiologischen Leistung abhängt, die in der Contraction d.h.
in Bewegung des Gesammtkörpers ihren Ausdruck findet.
Die Natur befolgt im Grossen dasselbe Princip, indem sie
den Anforderungen der Temperaturconstanz in einer Klasse von
Thieren genügt, die von dem kleinsten Vogel in der Luft bis
hinauf zu dem mächtigsten Bewohner des Meeres an dieselbe
so zu sagen alle Variationen möglicher Ansprüche stellen.
Denn alle diese Thiere leben in Medien, welche kälter sind als sie
selbst und müssen daher an ihre Umgebung Wärme abgeben.
Der Wärmeverlust eines Körpers aber hängt unter Anderem
von der Grösse seiner Oberfläche ab, und die Oberfläche nimmt
zu im Verhältniss zum Inhalt, wenn sich dieser verkleinert.
Ebenso zahllos in der Grösse, ebenso mannichfaltig in der Wir-
kung müssen daher die Compensationen innerhalb dieser Ho-
möothermen sein, als es Formen und Grössen der Körper giebt,
die diese Thierklasse umfasst. Und dass diese Anforderungen
256 A. Adamkiewicez:
j
zum Theil durch unendlichen Wechsel in dem Grad der Mus-
kelarbeit erfüllt werden, lehrt jeder Blick in die Natur. Vom
kleinsten Thier mit der grössten Oberfläche bis zum grössten
Thier mit der kleinsten Oberfläche sieht man die natürliche
Lebhaftigkeit der Bewegungen unverkennbar sinken.
Wenn die Thätigkeit der Muskulatur für die Wärmepro-
cesse des Thieres von so hohem Einfluss ist, wie die Erfahrung
lehrt, so muss diese Bedeutung der Muskulatur noch in ande-
rer Weise als durch die directe Beobachtung sicher gestellt
werden können.
Wärme und Leben sind die beiden correlaten Functionen
der lebenden Materie. Wie von der Entwickelung des Lebens
die Menge von Wärme abhängt, die im Organismus entsteht,
so kann man die Intensität der Lebensvorgänge abhängig ma-
chen von der Menge von Wärme, die man dem Organismus
zuführt. In der Kälte nimmt der Lebensprocess ab, — die
Molekel der lebenden Materie schwingen träger und träger;
endlich bleiben sie stehen und unterbrechen das Leben. Wärme
steigert den Lebensprocess und erhöht die Organleistungen,
wie es die Zunahme der Secretionen und vor Allem der Thä-
tigkeit der Respirationscentren bei hoher Temperatur beweisen
— bis die Molekel im Uebermaass der Bewegung die lebende
Substanz tödten, indem sie sie sprengen. Dort erstarrt, hier
zerfällt die Materie im wahren Sinne des Wertes.
Nun ist das Leben der Materie nichts weiter als eine Zer-
setzung, und auch die Zersetzung ist, wie man weiss, ein
Product der Wärme. Jede organische Substanz hat das Schick-
ral, sich unaufhaltsam zu zersetzen; — nicht nur die todte,
indem sie fault, sondern auch die lebende, indem sie reagirt.
Wenn sich der Muskel zusammenzieht, bildet er Milch- und
Kohlensäure, und Milch- und Kohlensäure sind die Producte
einer Zersetzung in der Substanz des Muskels, die die Con-
traction veranlasst hat. Die Zersetzbarkeit ist die Ursache der
Reizbarkeit, sagt Pflüger.
Ist das Leben eine Zersetzung, so müssen die Zersetzungs-
producte einen Maassstab für die Höhe des Lebens abgeben.
Und aus den Aenderungen, die diese Producte unter gewissen
Mechanische Prineipien der Homöothermie. 257
Einflüssen erleiden, müssen sich sichere Schlüsse auf die Macht
dieser Einflüsse folgern lassen, die sie auf den ganzen Lebens-
process besitzen.
Unter den Zersetzungsproducten des lebenden Körpers ist
die Kohlensäure quantitativ die hervorragendste.e Die Menge
von Kohlensäure, die der Organismus unter verschiedenen Ver-
hältnissen bildet, kann demnach als ein Maass für die Varia-
tionen der Lebensintensität angesehen werden, wie sie durch
diese Verhältnisse bedingt werden.
Moleschott!) hat längst am Frosch den Nachweis ge-
führt, dass innerhalb gewisser Grenzen die Kohlensäurebildung
der Temperatur der Organe proportional wächst, und in der
neuesten Zeit haben Sanders-Ezn?) und Erler?) dasselbe
auch für den „Warmblüter* feststellen können.
Beherrscht nun die Muskulatur die Wärmeprocesse im
Thier, so muss die Störung oder Unterbrechung ihrer Function
auch das Leben beeinträchtigen und der Grad dieser Beein-
trächtigung muss durch die Abnahme der Kohlensäurebildung
gemessen werden können, die jener Störung oder Unterbrechung
folgt.
Hr. Dr. Erler hat die Untersuchung dieser Frage auf
meine Veranlassung unternommen. Es hat sich als Resultat
derselben ergeben, dass, wie die Temperatur eines Thieres
nach dem Verlust seiner Bewegungsfreiheit continuirlich sinkt,
in nahezu ähnlicher Curve auch die Menge der Kohlensäure
abnimmt, die das Thier aus den Lungen ausscheidet.
Es betrug im Mittel die während zehn Minuten von den
Lungen eines Kaninchens abgegebene Kohlensäuremenge in
ein und derselben Umgebung von durchschnittlich : 15:7 ° Cels.
1) Untersuchungen zur Naturlehre des Menschen und der Thiere,
Bd. I. 1857. S. 315.
2) Berichte der Kgl. Sächs. Akad. der Wissenschaften. Mathem.-
phys. Klasse. 1867. S. 58.
3) Ueber Jas Verhältniss der Kohlensäure-Abgaben zum Wechsel
der Körperwärme. Inaugural-Dissertation. Königsberg 1875.
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 17
258 A. Adamkiewicse:
Gr.
Bei einem Körpergewicht
des Thieres von ... .. || 1020'0| 1020°0| 1112°0| 1112°0| 1372°0] 13720
Im freien Zustand ..... | 0'050 0074| 0°045| 0'050) 0:045| 0'095
Im gefesselten Zustand . | 0'042) 0'059) 0'029] 0'031) 0'022) 0'049
Auf 100'0 Gr. der Körpersubstanz berechnet:
Im freien Zustand ... .. . | 0'0049| 0:0072| 0'0040| 0'0045| 0'0032]| 0:0069
Im gefesselten Zustand . | 0'0041| 0'0057| 0'0026| 0'0027| 0:0016| 0'0035
Das Verhältniss beider. . | 1:0'8| 1:08) 1:07) 1:0°6| 1:05) 1:05
BL = an
Ist also die normale Kohlensäurebildung von 100 Gr. Kör-
persubstanz eines Kaninchens gleich 1, so ist sie, wenn die
Muskeln des Thieres ruhen, durchschnittlich nur noch 0:65.
Weit grösser zeigt sich die Depression des Lebensprocesses,
wenn nach der Lähmung der Muskulatur die Körperwärme ra-
pide und continuirlich bis zur tödtlichen Grenze sinkt.
Mittelwerthe der während zehn Minuten aus den Lungen von
Kaninchen abgegebenen Kohlensäuremengen in ein und
derselben Umgebung:
Gr.
ee ee
Körpergewicht: « - . . .... 706°0 736.0 | 1306°0
Im normalen Zustand . . . . 0'046 0'074 0'091
Nach der Trennung des Rücken-
MMATKOS NERV nn. u
0°008 00173 0'016
Auf 100'0 Gr. der Thiere berechnet:
Im normalen Zustand . . .. | 0:0065
0:0094 | 00070
Nach der Lähmung . . . . . Ä 0:0011
0'0022 | 0:0012
Verhältniss 1:02 1:02 1:02
ER 2. A
A ER 2
A
k
Mechanische Prineipien der Homöothermie. 259
Vollkommene Lähmung der Muskulatur setzt demnach die
Kohlensäurebildung, also die Energie der Lebensprocesse, mehr
als dreimal so schnell herab, als die einfache Ruhe der Muskeln.
Vergleicht man die Grösse des durch die Störung der
Muskelthätigkeit veranlassten Temperaturabfalls der Ver-
suchsthiere mit derjenigen der durch dieselbe Störung herbei-
geführten Abnahme ihrer Kohlensäureproduction, so findet man
das auffallende Resultat, dass während der einfachen Muskel-
ruhe die Temperatur der Thiere nur im Mittel um 2° C.,')
die Kohlensäurebildung dagegen fast um die Hälfte der nor-
malen sinkt, und dass während der Muskellähmung die
Temperatur noch um das Doppelte,!) die Menge der Kohlen-
säure aber um das Dreifache des während der Ruhe stattfin-
denden Abfalls kleiner wird. Die hohe Progression, in weicher
die Kohlensäurebildung im Verhältniss zur Temperatur sich
vermindert, muss einigermaassen auffallen. Sie findet indessen
ungezwungen ihre Erklärung darin, dass für das Sinken der
Kohlensäure unter den angeführten Verhältnissen gleichzeitig
zwei Ursachen thätig sind, für das der Körpertemperatur
aber nur eine. Wenn die Muskeln in ihrer Function ge-
stört werden, nehmen die Oxydationsprozesse in ihrer Substanz
ab?) und mitihnen natürlich auch deren Producte, Kohlensäure
und Wärme. Diese Abnahme wird die zweite Ursache für eine
Verminderung der Kohlensäurebildung. Denn sie setzt die Kör-
pertemperatur und damit zugleich die Dissociationen im Orga-
nismus herab, deren Product wiederum die Kohlensäure, aber
nicht mehr die Wärme ist. Denn bei der Dissociation wird
nicht Wärme frei, sondern Wärme latent.
ll. Wärmeretention,
Wie sehr auch die Wärmegrössen wechseln mögen, welche
1) Die Analogien zum Dulong-Petit’schen Gesetz, a. a. O.,
SL17.
2) Sadler: Ueber den Blutstrom in den ruhenden, verkürzten
und ermüdeten Muskeln des lebenden Thieres. Berichte der Kgl.
Sächs. Gesellsch. der Wissenschaften zu Leipzig. Math.-phys. Classe,
Bd. XXI, 1869. S. 189,
11%
260 A. Adamkiewicz:
der aus allen Zellen des Thierlebens gleichsam hervorrieselnde
Wärmestrom bei den einzelnen in ihren Dimensionen so sehr
verschiedenen Individuen an die Umgebung abführen mag; —
die Wärmequellen, welche die Thätigkeit der Muskulatur nach
Bedürfniss belebt, erweisen sich als wichtige Compensatoren,
welche ihm im ganzen Reich der höheren Thiere ein fast un-
abänderlich gleiches Niveau ertheilt. Denn alle diese Thiere
haben eine Körpertemperatur, die nur innerhalb enger Gren-
zen, kaum dreier Grade, um die mittlere Temperaturhöhe von
37° Cels. schwankt.
Durch den Reichthum dieser Zuflüsse und das Quantum
von Wärme, das sie repräsentiren, wird jedoch der absolute
Höhestand jenes Stromes nicht allein bestimmt.
Es beherrscht ihn vor Allem der Umstand, dass die Wärme,
indem sie aus den innersten Räumen des Körpers durch die
einzelnen Schichten desselben zur Umgebung abfliesst, kurz vor
ihrer Mündung in das Gebiet der Muskulatur eintritt, deren
mächtige, an Masse fast die Hälfte des gesammten Körpers be-
tragende Lage, jene innersten Räume von der peripherischen
Bedeutung des Körpers wie eine isolirende Schicht trennt.
In dieser Schicht halten die selbständigen und hohen,
durch den Reichthum der hier vorhandenen Wärmequellen er-
zeugten Temperaturen den Strom gleich einer Schleuse auf,
die ihn am Abfliessen verhindert.
Daher kommt es, dass die Temperaturen des Thierkörpers
vom Mittelpunkt bis zur Peripherie nicht in einer stetig sin-
kenden Curve abfallen, wie die Temperaturen einer homogenen
Kugel, die die Wärme eines central gelegenen Herdes durch
Vorgänge einfacher Leitung der kälteren Umgebung mittheilt.
Sondern dort, wo die Muskulatur einem Gehäuse gleich den
Lebensapparat umschliesst und ihn von der äussersten Bedecküng
trennt, hört die Continuität des Temperaturabfalls auf und geht
in ein jähes Sinken der Temperaturen über, das durch die
äusserste Zone, die Haut, mit grosser Abschüssigkeit zur Peri-
pherie statt hat.
Nun wird die Herrschaft leicht verständlich, welche die
Muskulatur über die Temperaturen des inneren Körpers ausübt.
a PIAN, IN
ag!
Mechanische Prineipien der Homöothermie. 261
Erweisen sich doch ihre physiologischen Leistungen, indem sie
die Wärmequellen im Muskel beleben und dadurch die Tem-
peraturen des Muskels modifieiren, als regulirende Mächte, die
gleichsam den Stand der Schleuse und damit das Niveau der
von ihr aufgehaltenen Wärmefluten bestimmen.
Durch eine solche Einrichtung wird gleichzeitig eine sinn-
reiche Ersparniss physiologischer Arbeit erzielt. Da die
peripherischen Wärmeherde die Temperaturen des inneren
Körpers beherrschen!) und da diese sich jenen nach physi-
kalischen Regeln accommodiren, so hat der Organismus in ge-
gebenen Fällen immer nur nöthig, die Temperaturen der Mus-
kulatur zu modifieiren, um mit ihnen auch die des ganzen Kör-
pers mittelbar zu verändern. Da die Muskulatur 45 pCt. des
gesammten Körpers beträgt und nur sie erwärmt oder abgekühlt
zu werden braucht, damit der ganze übrige Körper dieselben
Aenderungen seiner Temperatur erfahre, so erreicht der Orga-
nismus vermöge jener Rinrichtungen mit 45 pCt. derjenigen
Wärmequantitäten, welche ohne dieselben nöthig gewesen wä-
ren, die erforderlichen Effecte.
Indem nun aber die Muskulatur die im Innern des Kör-
pers entstehende Wärme am freien Abfliessen verhindert und
indem sie sie zwingt, sich zu sammeln, bis sie zur Höhe ihrer
eigenen Temperaturgrenze emporgestiegen ist; — bringt sie das
Niveau des Stromes an allen Punkten seines Verlaufes dem
seiner central gelegenen Quellen bis auf wenige Zehntelgrade
C.?2) nahe. Dadurch wird die Spannungsdifferenz der Wärme
im Verlauf des Körperradius sehr klein, und die Strömungs-
geschwindigkeit derselben, die von jener Differenz abhängt,
sehr gering. Das vor Allem ist der Grund, weshalb die Wärme
innerhalb der Körpergewebe mit einer gewissen majestätischen
Ruhe und Langsamkeit sich fortpflanzt und dadurch wiederum
wird es bewirkt, dass der Wärmestrom das zarte Getriebe des
Körpermechanismus ungefährdet im Gang erhält, während es
jeder rauheren Gewalt unmittelbar unterläge,
1) Die Analogien zum Dulong-Petit’schen Gesetz, a. a. O.,
S. 118 fi.
2) Ebendas. S. 111,
262 A. Adamkiewicz: e
Der mächtige Wärmestrom, der so belebend durch die Ge-
webe rinnt, würde aber in jedem Augenblick unvermeidlich
solche Gewalten zertrümmernder Fluten entsenden, wo die
Schwankungen ihn erreichten, welche die ale der Um-
gebung fast ununterbrochen erleidet. H
Aber sie erreichen sie unter gewöhnlichen Verhältnissen
nicht. An der Muskulatur erlahmt die Kraft ihrer Wellen, die
sich nur durch die äussere Zone noch Bahn brechen. Die Mus-
kulatur ist vor diesen Temperaturschwankungen ihres äusseren
Nachbars durch ihr Unvermögen, Wärme zu leiten, geschützt.
Die Schlechtigkeit ihres Leitungsvermögens ist so wunderbar
gross, dass sie selbst die bekannte Unfähigkeit des Wassers,
Wärme zu leiten, noch um mehr als das Doppelte übertrifft.!)
Besässe das Eis das Wärmeleitungsvermögen des Muskels,
dann würde sich die Eisbildung in unserer Zone bei jeder
Temperatur der Umgebung um das Siebenfache des Zeitraumes
verzögern, in welchem sie sich unter den gegenwärtigen Ver-
hältnissen herstellt. Sie würde zwei und ein halbes Jahr eines
ununterbrochenen Winters beanspruchen, um eine Mächtigkeit
zu erlangen, zu der ihr jetzt der Zeitraum eines einzigen Win-
ters genügt.?)
il. Wärmeregulation.
Auf solchen Einrichtungen ruht die Homöothermie. Erst
wo die Ungunst der Bedingungen jene erschüttert, muss auch
sie zusammensinken.
Sind aber auch diese Einrichtungen nicht zu schwach, um
als Stützen der Temperaturconstanz zu dienen, so sind sie
doch zu gewaltig, um als strenge Regulatoren derselben zu
gelten. Die absolute Gleichwärmigkeit der Thiere fordert eine
absolute Gleichheit der in jedem Zeitraume gebildeten und ab-
gegebenen Wärme. Die Wärmeabgabe ist von der Differenz
der Temperaturen zwischen Körper und Umgebung abhängig
und folgt also auch den kleinsten Aenderungen, welche die
1) A. Adamkiewicz: Die Wärmeleitung des Muskels. Dies
Archiv, 1875. S. 255.
2) Ebendas. S. 257.
Mechanische Princeipien der Homöothermie. 263
Umgebungstemperatur erfährt. Wäre die Anpassung der Wär-
mebildung an diese Aenderungen des Wärmeverlustes der re-
gulirende Vorgang im Thierkörper, dann müsste man von den
eben geschilderten Einrichtungen erwarten dürfen, dass auch
sie als Regulatoren minutiösen Aenderungen ihrer Wirkung
fähig wären.
Es liegt aber der Wirkung jeder grossen Kraft fern, das
Maass subtiler Bewegungen einzuhalten und die Forderungen
eines prompten Eiffectes zu erfüllen. Auch der Organismus
kann nicht mit Hebel und Brechstangen operiren, wenn er den
feinen Mechanismus seines zarten Uhrwerks einstellt.
Modificationen der Wärmebildung durch Ernäh-
rung und Muskelbewegung können daher dem Thier
nur die Hülfsmittel der gröberen Einstellung seiner
Temperatur sein. Wie sollte ein Wärmeherd als Regulator
wirken, auf dem, wie es bei den Muskeln der Fall ist, zu
allen Zeiten mehr als die Hälfte der Gesammtwärme des Or-
ganismus entsteht und der beispielsweise bei einem Menschen
von 82 Kilogr. Körpergewicht stündlich 57000 Calorien bildet?
Es sind andere Einrichtungen als Regulatoren der Wärme thä-
tig, solche, die sich den Bedürfnissen entsprechend abzustufen
vermögen.
Wenn ein Thier gezwungen ist, sich gegen den Wechsel
der Temperaturen in der Umgebung zu vertheidigen, dann sucht
es seine Oberfläche zu ändern. Es streckt sich aus oder es
kauert sich zusammen, je nachdem es seine Wärmeabgabe zu
vergrössern oder zu verringern den Trieb fühlt. Der Mensch
kommt durch die Art der Kleidung denselben Zwecken zu
Hülfe und macht die Natur des Stoffes, selbst dessen Farbe
den strengeren Anforderungen der Regulation dienstbar.
Damit deuten die Wesen auf natürliche Einrichtungen hin,
die durch Aenderungen der Wärmeabgabe regulirend wirken
und die sie nur instinetiv unterstützen. Ist es doch eine cha-
rakteristische Eigenthümlichkeit gerade der Instincte, dass sie
nicht bewussten Bedürfnissen des physischen Lebens, sondern
unbewussten Zwecken der Körpermechanismen dienen.
264 A. Adamkiewicz:
1. Rolle des Kreislaufs.
Hier ist es der Kreislauf des Blutes, dessen Aufgaben zu
lösen sie helfen. Seitdem wir wissen, dass die Oxydations-
processe nicht im Blut, sondern innerhalb der Gewebe statt-
finden, seitdem ferner Pflüger!) darauf hingewiesen hat, dass
uns die Natur auch in dem Schauspiel der thierischen Phos-
phorescenz, die nichts weiter als ein sichtbarer Oxydations-
process der Organismen sei, „ein Beispiel gegeben habe, zu
zeigen, wo die Fackel brennt, die wir Leben nennen; — dass
die Organe es seien, also die Zellen und nicht das Blut, welche
leuchten“: seitdem ist es zur Thatsache geworden, dass von
jenen Aufgaben ein bedeutender Theil der Wärmeregulirung
gehört. Das Blut ist nur ein Vehikel, — für das Brennmate-
rial, das es den Geweben zuführt und für die Producte der
Verbrennung, die es aus den Herden zurückholt. Ueberall im
Körper ist das System der Capillaren der Ort der Uebertragung.
Und weil die Wärme eins dieser Producte ist, die das Blut
aus den Herden erhält, — so nimmt das Blut stets eine höhere
Temperatur an, während es ein System von Capillaren durchsetzt.
So lange das Blut im Innern des Körpers strömt, findet
es überall Orte, die ihm seine Temperaturbürde vergrössern.
Noch während es aus den innersten Räumen in die Muskulatur
tritt und in zahllosen Canälen dieselbe durchzieht, erfährt ihre
Wärme einen starken Zuwachs, besonders dann, wenn Thätig-
keit der Muskulatur hier die Wärmeherde lebhafter angefacht
hat.
Gelangt das Blut durch die Muskulatur in die äusserste
Zone, die Haut, so hat es den Hafen erreicht, in dem es sich
seiner Bürde wieder entledist. Schon in den oberflächlichsten
Schichten der Muskulatur, bis wohin die Einflüsse der Ober-
flächenabkühlung reichen, beginnt die Temperatur der Gewebe
unter das Niveau derjenigen des Blutes zu sinken.?) Was also
1) A.a. 0. S. 296.
2) Koerner: Beiträge zur Temperaturtopographie des Säugethier-
körpers. In.-Diss. Breslau 1871. S. 62.
» Mechanische Principien der Homöothermie. 265
an Wärme das Blut jenseit und innerhalb der Muskulatur auf-
genommen hat, das giebt es diesseits derselben an das Gewebe
der Peripherie zum Theil wieder ab. So beugt es dort den
Gefahren der Wärmestauung in einem von Muskulatur einge-
schlossenen Raume vor und hier den Gefahren zu grossen
.Wärmeverlustes, den die unmittelbare Nachbarschaft der kalten
Umgebung verschulden könnte.
Von der Menge von Wärme, die auf diese Weise dem
Körperinnern entzogen und der Körperperipherie zugeführt wird,
hängt der Grad des Temperaturausgleiches zwischen beıden
Theilen und der absolute Stand ihrer Temperaturen ab. Und da
eben das Blut der Träger der Wärme ist, so ist es leicht be-
greiflich, dass die Lebhaftigkeit seines Verkehrs zwischen jenen
sowohl den einen wie den andern dieser Factoren beherrschen
müsse.
Daher steigt die Temperatur des Körperinnern und sinkt
die Temperatur der Peripherie, wenn der Blutzufluss zur Pe-
ripherie herabgesetzt oder unterbrochen ist. So erklärt sich
die Temperaturzunahme der inneren Organe nach Verschluss
der Aorta und nach der Unterbrechung des ganzen Kreislaufs
kurz nach dem Tode.!) Wenn der Blutzufluss zu den ober-
flächlichen Schichten lebhaft und stark wird, muss für die Tem-
peraturen des Körpers der entgegengesetzte Erfolg eintreten.
— Daher die Temperaturerhöhung in Gebieten der Haut, in
denen die zugehörigen vasomotorischen Nerven durchschnitten
sind oder zu denen aus andern Gründen Fluxionen des Blutes
stattfinden.)
Was demnach den Kreislauf modificirt, muss auch verän-
dernd einwirken auf die Wärmevertheilung des Körpers.
Auch auf diese Verhältnisse kann die Muskulatur nicht
ohne Einfluss sein, da sie die Pforte darstellt, durch welche
die Strombahnen treten, bevor sie zur Peripherie gelangen.
1) Heidenhain im Archiv f. die ges. Physiol. 1870. S.522—526.
2) Claude Bernard: Comptes rendus. LV.p. 228.
Kussmaul und Tenner in Moleschott’s Untersuchungen zur-
Naturlehre des Menschen. 1857. S. 9ı ff. u.s. w.
266 A. Adamkiewicz:
Bei jeder Contraction muss sie den Abfluss des Blutes zur
Oberfläche verzögern. Weniger deshalb, weil sie bei jeder Zu-
sammenziehung mechanisch die sie durchsetzenden Blutbahnen
verengt, sondern vielmehr aus dem Grunde, weil es eine phy-
siologische Eigenthümlichkeit der Contraction ist, dass sie den
Blutzufluss zur Muskulatur steigert.) Wenn der Blutzufluss
zu den Muskeln oder den inneren Organen grösser wird oder der
Blutabfluss aus ihnen abnimmt, so muss die Bluteirculation in
der Peripherie sinken und hier einen Abfall der Temperaturen
bewirken, bis die durch die Contraction und die vermehrte
Circulation in den Muskeln bewirkte Steigerung der Oxydations-
processe innerhalb derselben auch die Temperaturabnahme der
Nachbarschaft durch Wärmemittheilung wieder compensirt. Das
ist der Grund, weshalb auch Hankel?) thermoelectrisch fest-
stellen konnte, dass in der Haut über krampfhaft contrahirten
‚ Muskeln eine Temperaturzunahme immer erst einem primären
Abfall folgt.)
Innerhalb der Capillaren ist der grösste Theil des gesamm-
ten Blutes angehäuft, weil die Strombahn mit der Theilung
der Gefässe wächst. Alle Momente, welche die Capacität des
Capillarraumes verändern, müssen daher vor allen Dingen
Blut- und Wärmevertheilung zu beeinflussen im Stande sein.
Die Contractilität der kleinsten Gefässe ist aber nächst der
directen Nervenwirkung zumeist unterthan den Temperaturen.
Es ist eine bekannte Eigenschaft des Capillarrohres, durch
Wärme gedehnt und durch Kälte zusammengezogen zu werden.
Hohe Temperaturen, die die Capillaren treffen, führen daher
eine Anhäufung derselben mit Blut, und niedrige Temperaturen
wieder eine Entleerung der Blutgefässe herbei, ganz abgesehen
davon, dass Kälte die Strömungsgeschwindigkeit in engen wie
in weiten Röhren an sich schon herabsetzt.
Gerade im System der Capillaren findet nun aber, wie
erwähnt, jede Art der Uebertragung vom Blut zu den Geweben
1) Sadler: a.a. O. S. 189.
Ranke: die Blutvertheilung der Organe.
2) Archiv d. Heilkunde. XIV. Bd. 1873. S. 157.
3) Vergl. auch Heidenhain a. a. 0. S. 563 ft.
Mechanische Prineipien der Homöothermie. 267
und umgekehrt statt. Die Capillaren der Peripherie können
daher nur die Canäle sein, aus welchen die den inneren Or-
ganen entzogene Wärme den oberflächlichen Schichten des Kör-
pers wieder zufliesst. Und da die Capacität des Capillarrau-
mes die Blut- und Wärmevertheilung beherrscht, so muss von
dem Contractionszustand der peripherischen Capillaren das
Verhältniss der Temperaturen zwischen dem Innern des Kör-
pers und seiner Peripherie abhängen.
Die Capillaren der Peripherie unterliegen aber wie die
oberflächlichen Schichten des Körpers selbst allen Temperatur-
schwankungen der Umgebung.
Sie ziehen sich also zusammen und theilen weniger Wärme,
als gewöhnlich, der Oberfläche mit, wenn es in der Umgebung
kalt wird. Sie dehnen sich aus und führen der Oberfläche
mehr Wärme zu, als gewöhnlich, wenn die Umgebung hohe
Temperaturen annimmt. Sie wirken also dem abkühlenden
Einfluss niedriger und dem erwärmenden Einfluss hoher Umge-
bungstemperaturen auf den Thierkörper direct entgegen und
suchen so die Angriffe der Temperaturschwankungen in der
Umgebung auf die Temperaturconstanz des thierischen Körpers
zu beseitigen.
Solche Thätigkeitsäusserungen der Capillaren sind natür-
liche Vorgänge der Regulation. Sie allein können den Anfor-
derungen an eine wirkliche Regulirung genügen. Denn sie
arbeiten den Niveauschwankungen prompt entgegen, denen
zu verfallen der allgemeine Körperwärmestrom ohne sie stets
Gefahr laufen würde, und sie stufen sich auf das Feinste ab,
so weit die grosse Empfindlichkeit der vitalen Capillaren reicht.
Jetzt werden jene Schwankungen des allgemeinen Körper-
wärmestromes gegenstandslos.
Treffen sie doch nur den mündenden Theil dieses Stro-
mes, der diesseits der Muskulatur im Bereich der peripheri-
schen Bedeckungen des Körpers fliesst, dort, wo die Capillaren
ihre regulirende Thätigkeit entfalten. Freilich ändert dieser
Theil des Stromes in denselben Grenzen die Steilheit seines
Gefälles, wie die äusserste Zone des Körpers ihre Temperatu-
ren mit denen der Umgebung wechselt. Es nimmt jene Steil-
268 A. Adamkiewicz:
heit begreiflicherweise zu, wenn die Umgebung kalt wird und
ab, wenn letztere warm wird. Aber diese Aenderungen hören
nun auf, Ausdruck der Schnelligkeit zu sein, mit welcher der
Strom seiner Mündung zueilt und Wärmegrössen an die Um-
gebung abführt. Denn er gleicht nur noch dem Wasserfall,
der ohne Einfluss auf den Wasserstand hinter der Schleuse
gerade bei geringer Steilheit seines Gefälles, wenn er in
weitem Bogen über den Rand der Schleuse zur Tiefe herabeilt,
mächtige Fluten mit sich fortreisst, weil ihn reiche Zuflüsse
aus geöffneten kleinen Pforten des Wasserthores — den dilatir-
ten Blutgefässen — unterstützen, — und der bei steilem
Gefälle arm längs der Wand der Schleuse herabsinkt, weil
die kleinen Pforten derselben — die contrahirten Blutgefässe —
. wieder geschlossen sind und die Zuflüsse stocken, die ihn frü-
her verstärkt haben.
2. Das Newton’sche Gesetz bei der Wärmeabgabe
h der Thiere.
« Es ist sehr bemerkenswerth, dass man bis jetzt nicht
diese Vorgänge der Blutströmung, die Folgen der Temperatur-
schwankungen an der Oberfläche des Körpers, sondern diejeni-
gen Temperaturänderungen der Körperoberfläche selbst, welche
durch jene Strömungsvorgänge an der Peripherie erst hervor-
gerufen werden sollen, als die eigentlichen und einzigen Regu-
latoren der Wärmebeständigkeit ansieht.
Bergmann,') der zuerst die Circulationsänderungen in
der Peripherie aus den Schwankungen der Umgebungstempera-
tur richtig abgeleitet hat, ist der Erste gewesen, der jene Auf-
fassung von der Regulation ausgesprochen hat.
Wenn Wärme auf die Oberfläche des Körpers einwirkt, N
so schliesst er —, und Dilatation der Blutcapillaren in Folge
dessen sich einstellt; — dann muss die Blutströmung zur Pe-
ripherie grösser werden und eine Zunahme ihrer Temperatur
veranlassen. Kälte, die die Körperoberfläche trifft, bringt da-
gegen die kleinen Blutgefässe derselben zur Contraction und
1) Dies Archiv 1845. S. 308.
ee ar 2
Mechanische Prineipien der Homöothermie. 269
setzt die Temperatur der Haut herab, indem sie den Blutzufluss
zu ihr vermindert.
„Diese Wechsel müssen als Regulatoren der Wärmever-
luste der inneren Organe betrachtet werden. *
Denn eine warme Haut gebe mehr Wärme an die Umge-
bung ab als eine kalte und eine kalte wieder weniger als eine
warme. Die Gefahr, dass eine warme Umgebung dem Körper
zu wenig und eine kalte zu viel Wärme entziehen würde,
müsse so durch Vermittelung der Bluteirculation gemindert
werden, die die Haut bei warmer Umgebung warm und bei
kalter Umgebung kalt machen hilft.
Diese Schlussfolgerung ist bisher ganz allgemein adoptirt
worden. Selbst die besten Forscher können in den durch die
Temperaturwechsel hervorgerufenen Vorgängen der peripheri-
schen Circulation nur in so fern einen regulirenden Einfluss
erkennen, als diese Vorgänge die Temperaturen der
Körperoberfläche im Sinn der sie veranlassenden
Wärmeänderungen der Umgebung modifieiren.')
Es kann aber keine Frage sein, dass diese Auffassung nur
in sehr beschränktem Sinn gelten kann. Erwägt man die
unmittelbare Wirkung von Temperaturschwankungen an
der Körperoberfläche auf den allgemeinen Wärmestrom des
Körpers, wie sie am Schluss des vorigen Abschnittes angedeutet
worden ist, so wird man finden, dass sie ganz natürliche Feinde
der Temperaturconstanz sind. Gerade dadurch, dass die
geschilderten Vorgänge der Bluteireulation an der Peripherie,
die diesen Schwankungen folgen, dem Effect derselben entgegen
wirken, sind diese im Dienst der Wärmebeständigkeit thätig.
Soweit sie thatsächlich die Temperaturänderungen der
Peripherie unterstützen, die die Temperaturschwankungen der
Umgebung veranlassen, schädigen sie im Princip ihren re-
gulatorischen Charakter. Aber es geschieht dies in einer für
1) Vergl. Liebermeister: Handbuch der Pathol. und Therap.
des Fiebers. Lpzg. 1875. S. 200.
Winternitz: Die Bedeutung der Hautfunction für die Körper-
temperatur und die Wärmeregulation. Separatabdruck aus den Wiener
med. Jahrb. 1875. S. 4 u. 5.
ae ER Sr, 1 A
270 A. Adamkiewicz:
ihren Endeffect durchaus bedeutungslosen Weise. Denn die
absoluten Temperaturänderungen der Haut, die sie hervorbringen,
sind im Verhältniss zu denen, durch welche sie selbst erzeugt
worden sind, so gering,!) dass sie die durch letztere bedingten
Gefahren für die Temperaturconstanz kaum zu steigern ver-
mögen.
Man hat es ganz vergessen, dass principiell für die
Temperatur des Körperinneren weit wichtiger ist das Verhält-
niss dieser Temperatur zu der der Körperoberfläche, als das
Verhältniss der Temperaturen der Körperoberfläche zu der der
Umgebung. Denn es ist selbstverständlich, dass Temperatur-
schwankungen am Körper weit directer dessen Gesammttempe-
ratur beeinflussen, als Schwankungen in der Temperatur der
Umgebung.
Jene Temperaturänderungen der peripherischen Körper-
schichten bleiben nur in Folge accessorischer, im lebenden
Organismus gebotener Momente thatsächlich ohne Wirkung.
Schlechte Wärmeleitungsfähigkeit der Muskulatur vertheidigt
die Temperaturbeständigkeit des Körperinneren gegen die Un-
gunst ihrer Einflüsse, und antagonistische Vorgänge der Circu-
lation schwächen ihre Effecte.
Aber es kann anderseits nicht übersehen werden, — und
erst hier kommt die alte Bergmann’sche Auffassung allerdings
in sehr modifieirter Form, zur Geltung —, dass dieser durch
accessorische Momente bedingte Schutz nur so lange ausreichen
kann, als die im Innern des Körpers gebildete Wärmemenge
jederzeit den Körper durch dessen Oberfläche wieder ganz und
vollkommen verlässt.
Erst für die Verwirklichung dieser Grundbedingung der
Temperaturconstanz wird das Verhältniss der Temperaturen
an der Körperperipherie und in der Umgebung von Wichtigkeit.
Indem die Haut den Temperaturschwankungen der Um-
gebung thatsächlich unterliegt und ihnen folgt, wirkt sie den
für die Wärmebeständigkeit des gesammten Körpers gefährlichen
Modificationen der Wärmeabgabe entgegen. Und solche
1) Vergl. weiter unten.
Mechanische Principien der Homöothermie. a
Modificationen sind bei Schwankungen der Umgebungstempe-
ratur unvermeidlich, da die Wärmeabgabe des Körpers
von der Temperaturdifferenz zwischen seiner Ober-
fläche und der Umgebung abhängt und dem Newton’-
schen Gesetz zu Folge dieser Differenz direct pro-
portional ist. -
Niemals können indessen jene Temperaturänderungen der
Haut die erwähnten Alterationen der Wärmeabgabe compen-
siren. Solche Compensationen würden erfordern, dass jede
Temperaturänderung in der Umgebung stets auch eine ihr an
Grösse vollkommen gleichkommende Temperaturänderung der
Haut bewirke. Denn nur dann bliebe die Temperaturdifferenz
zwischen Haut und Umgebung, also auch die Wärmeabgabe
die normale. Wäre das der Fall, dann müsste die mittlere
Temperatnr der lebendigen Haut von 35° auf 45° sich erheben,
wenn die mittlere Temperatur unserer Umgebung von 15 Graden
im Sommer auf +25° steigt und sie müsste bis auf 5° unter
Null sinken, wenn sich im Winter die Umgebung einmal auf
— 25° abgekühlt hat. Noch viel weniger ist daher die An-
nahme gestattet, die durch die warm werdende Umgebung sich
erwärmende Haut gebe mehr und die durch die kalt werdende
Umgebung sich abkühlende Haut gebe weniger Wärme an die
Umgebung ab, als die normal temperirte Haut an die normale
Umgebung. Denn solche Wirkungen würden die paradoxe
Voraussetzung involviren, dass die durch die Temperatur-
schwankungen der Umgebung bewirkten Temperaturwechsel
der Haut jenen voraneilen. Im Uebrigen würde dadurch eine
ganz unnöthige Uebercompensation der gestörten Wärmeabgabe
herbeigeführt werden müssen.
Hier ist nur von den groben Temperaturschwankungen
der Haut die Rede gewesen, welche die Umgebung unmittelbar
veranlasst.
Was man jedoch seit Bergmann mit besonderem Nach-
druck betont, das ist nicht die compensatorische Wirkung
dieser groben Schwankungen, sondern die derjenigen Tempe-
raturänderungen der Haut, welche durch die Strömungswechsel
des Blutes an der Peripherie hervorgerufen werden.
272 A. Adamkiewiez:
Da diese Aenderungen sich im Sinn jener Schwankungen
vollziehen, ist es in der That nothwendig, dass sie deren com-
pensatorische Wirkung unterstützen. In wie ausserordentlich
geringem Grade sie indess das zu vollbringen im Stande sind,
beweist die Thatsache hinreicherd, das unsere Umgebung
zwischen +30 und -30°, also innerhalb 60°, schwankt; das
höchste Maass einer nur künstlich herbeizuführenden Strömungs-
alteration des Blutes in der Peripherie, soweit sie nicht”bis
zur Erzeugung pathologischer Processe in den Geweben aus-
gedehnt wird, dagegen die Temperaturen der Haut niemals,
über die Grenzen von etwa 4° hinaus verrückt.
Es ist demnach Thatsache, dass die Temperaturänderungen
der Haut, die sich aus den groben, durch die Wechsel der
Umgebungstemperatur direct hervorgerufenen Schwankungen
und den kleineren Temperaturvariationen summiren, welche
den durch jene Schwankungen erzeugten Circulationsvariationen
des Blutes folgen, kleiner sind, als die primären Temperatur-
änderungen der Umgebung. Sie können deshalb eine Compen-
sation der durch letztere angeregten Störungen der normalen
Wärmeabgabe unterstützen aber nicht vollenden.
Eine Vervollständigung dieser Compensation wird durch
andere Wirkungen der Blutströmungen in der Peripherie in-
tendirt, die mehr als die vorigen den Charakter der Regulation
tragen. Es sind das diejenigen Wirkungen, welche
das an der Peripherie strömende Blut auf das Ver-
mögen der Wärmeemission der Haut ausübt.
Dieser Einfluss der Circulation erklärt sich aus dem Um-
stand, dass die Oberfläche des in der Haut kreisenden Blutes
als ein wichtiger Factor der Wärmeabgabe fungirt und dass
diese Oberfläche es ist, welche durch den Wechsel der Umge-
bungstemperaturen in ihrer Grösse modifieirt wird.
Nur in denjenigen Fällen, wo nicht die Temperatur der
Umgebung schwankt und die des Körpers constant ist, sondern
wo umgekehrt, die Temperatur des Körpers sich ändert, die
der Umgebung aber beständig bleibt, erweist sich das Verhält-
Vergl. weiter unten.
rule ee RE a en
Mechanische Prineipien der Homöothermie. 2373
niss der Temperaturen der Körperoberfläche und der Umgebung
für die Wärmeabgabe und also in der Folge auch für die
Temperatur des gesammten Körpers allein als unmittelbar be-
stimmend. Wenn die Körperwärme eines Thieres nach Störung
oder Unterbrechung seiner Muskelthätigkeit fällt, so wird dieser
Abfall mit zunehmender Dauer derselben für dieselben Zeiten
continuirlich kleiner, weil die Temperatur des Thieres sich
derjenigen der Umgebung beständig nähert und die für die
Wärmeabgabe desselben maassgebende Temperaturdifferenz
zwischen beiden immer mehr und mehr abnimmt. So erklärt
sich die eigenthümliche Form der Curve des „physiologischen
Temperaturabfalles“.') — So erklärt sich ferner die Thatsache,
dass ein kleines Thier in sehr kalter Umgebung einen tödtlichen
Temperaturabfall von 20° nur in einem kleinen Bruchtheil der-
jenigen Zeit erfährt, welche nöthig ist, damit die letzten Wärme-
reste von 1 bis 2° aus dem todten Körper desselben Thieres
in derselben Umgebung verschwinden. Walther,?) dem diese
Erscheinung der verlangsamten Abkühlung der Thiere nach dem
Tode aufgefallen ist, hat sie offenbar mit Unrecht als einzige
Folge der Sistirung des Kreislaufes im todten Thier gedeutet.
Diese kann nur geringen Antheil an jener Verlangsamung haben.
Er meint, letztere stellte sich im todten Thier aus demselben
Grund ein, weshalb ein glühendes Eisen einer ruhenden
Wassermasse nur 'sehr langsam, einer bewegten dagegen sehr
schnell seine Wärme mittheile. —
Der Vollständigkeit wegen sei hier noch erwähnt, dass
auch die Beobachtung Jürgensen’s,°) die Dauer der Nach-
wirkung eines kalten Bades sei bei der Nacht stets grösser,
als bei Tage, sich durch das erwähnte physikalische Gesetz
hinreichend erklären lässt. Denn die Nachttemperatur eines
Menschen ist im Mittel niedriger als seine Tagestemperatur.
Der hier für die Erwärmung des durch das Bad abgekühlten
Körpers maassgebende Unterschied der Temperaturen zwischen
ihm und seiner disponibeln Wärmequelle ist also auch bei Nacht
1) Die Analogien zum Dulong-Petit’schen Gesetz, A.a.0.S.90.
2) Centralblatt f. d. med. Wissenschft. 1864. S. 801.
3) Die Körperwärme des gesunden Menschen. Lpzg. 1373.
Reichert’s u. da Bois-Reymond’s Archiv 1876. 13
274 A. Adamkiewiez:
kleiner als am Tage, und kann daher dort nicht so schnell
wirken, als hier. —
3. Die Abweichung der thierischen Wärmeabgabe
von der Newton’schen Öurve.
Ist die mit der Circulation wechselnde Grösse der von der
Körperoberfläche abgegebenen Wärme in der That ein ansehn-
licher Factor der Wärmeregulirung, dann muss das Newton’-
sche Gesetz bei der Wärmeabgabe der Menschen und der Thiere
eine interessante Modification erfahren. —
Denn nähert sich die Temperatur der Umgebung derjenigen
der Körperoberfläche und wächst so bei abnehmender Temperatur-
differenz beider der Blutzufluss zur Peripherie, dann vermehrt
diese Circulationsbeschleunigung die Wärmeabgabe des Körpers,
die wegen jener Abnahme der Temperaturdifferenz, also aus
physikalischen Gründen, kleiner geworden wäre. Und wenn
die Umgebung sich abkühlt und jene Differenz der Temperaturen
zwischen Körper und Umgebung wächst, tritt der physikalischen
Forderung einer erhöhten Wärmeabgabe von Seiten der Körper-
oberfläche die physiologische Thatsache entgegen, dass der in
seiner Stärke und Lebhaftigkeit gesunkene Blutstrom an der
Peripherie die Wärmestrahlung der Körperoberfläche herabsetzt,
da sich jetzt die wärmeabgehende Blutfläche verkleinert hat.
Daher erfolgt dort die Wärmeabgabe schneller und hier
langsamer, als den Temperaturdifferenzen einfach proportional.
— Sie wird daher im ersten Fall grösser und im zweiten kleiner,
als das Newton’sche Gesetz es vorschreibt und geht so aus
einerlinearen in eine Öurvenfunction der Tempera-
turdifferenzen über. —
Einem ähnlichen Gesetz würden ungefähr die Wärmegrössen
folgen, die ein auf constanter Wärmehöhe befindlicher Leslie’-
scher Würfel einer Umgebung mit beständig sinkender Tempera-
tur mittheilen möchte, wenn derselbe mit zunehmender Tempera-
turdifferenz zwischen ihm und Umgebung eine allmählich ein-
tretende Wandlung seiner ursprünglich rauhen und undichten
Oberfläche in eine metallisch glatte und dichte erführe.
Liebermeister!) hat jenen Einfluss der peripherischen
1) Handbuch der Pathol. u. Therap. des Fiebers. S. 213.
Mechanische Prineipien der Homöothermie. 375
Circulationsverhältnisse auf die Wärmeabgabe als eine zwar
theoretisch zu fordernde aber real nicht vorhandene Thatsache
erklärt, da er bei der Wärmeabgabe des lebenden Körpers ‘an
kalte Bäder eine Aenderung des Newton’schen Gesetzes nicht
hat feststellen können. — v. Bärensprung!) hat dagegen die
Variationen der Blutströmung an der Peripherie als Factoren
von Bedeutung für die Wärmeabgabe des lebenden Körpers an-
gesehen, verzweifelte aber an der Möglichkeit, dass für sie je
würden absolute Werthe erhalten werden können, so wichtigsie auch
für die Physiologie seien. — In neuester Zeit hat Winternitz?)
den Versuch gemacht, solche Werthe festzustellen. Er hat zu
dem Zweck die Schnelligkeit gemessen, mit welcher ein ge-
schlossener Luftraum sich über einer bestimmten Hautpartie bei
normaler und bei in mannigfaltiger Weise alterirter Circulation
in derselben erwärmt. Leider gehen auch diese mühevollen und
mit vieler Sorgfalt ausgeführten Messungen von der Voraussetzung
aus, dass die absoluten Temperaturen der Haut ein Maass ab-
geben für die regulatorische Wirkung der Circulation und geben
deshalb nicht die hier gesuchten Resultate. —
Es sind bisher nur wenig Methoden bekannt, die Wärme-
abgabe verschiedener Oberflächen festzustellen. Leslie?) be-
stimmte sie aus der Temperaturzunahme eines Thermometers so,
dass er die mit Russ bedeckte Kugel des letzteren in den Brenn-
punkt eines Hohlspiegels brachte, in dem er die von der zu
untersuchenden Oberfläche ausgehenden Wärmestrahlen sich
vereinigen liess. — Melloni*) benutzte zu demselben Zweck
die Ablenkung einer Galvanometernadel, die mit einer in dem
Leslie’schen Verfahren das Thermometer ersetzenden und nur
einseitig bestrahlten Thermosäule in Verbindung stand. — Die
Fernwirkung der Wärmestrahlen ist nicht nur von der Natur
der strahlenden Oberfläche und dem Medium, in welchem
sich die Wärmestrahlen ausbreiten, sondern vor Allem auch vor:
der Temperaturdifferenz zwischen der wärmeabgebenden Ober-
1) Dies Archiv 1852. S. 280.
2) A. 2.0.
3) Inquiry into the nature of heat. London 1804.
4) Poggendorff’s Annal. Bd. XXXV. 1835. S. 385.
18*
276 A. Adamkievwicaz.
fläche und dem die Wärme absorbirenden Körper abhängig.
Daher giebt man vor jedem Vesuch, nachdem die messenden
Instrumente die Temperaturen der Umgebung angenommen
haben, den die Wärme ausstrahlenden Körpern künstlich
Temperaturen, die zu denen der Umgebung in einem festen
Verhältniss stehen. — Am lebenden Körper sind die Tempera-
turen der strahlenden Oberfläche gegeben. Da diese Tempera-
turen unter den verschiedenen Bedingungen der Circulation in
der Haut noch innerhalb enger Grenzen wechseln, so musste
die Brauchbarkeit der vorstehenden Methode für die Bestimmung
der Wärmeemission von Seiten der Haut an der Schwierigkeit
der Aufgabe scheitern, zu gegebenen Temperaturen und
kleinen Variationen derselben stets die Messapparate in
ein constantes Temperaturverhältniss zu setzen. Die Lösung
dieser Aufgabe hätte überdies vor Fehlern nicht schützen können,
die durch einen bei jeder neuen Temperatur der Haut und der
Messinstrumente auch anders einwirkenden Einfluss der Um-
gebungstemperatur auf letztere nothwendigerweise hätten herbei-
geführt werden müssen.
Auch die dritte überhaupt noch bekannte Methode!) zur
Bestimmung der Wärmeemission, die sich vor den vorigen da-
durch auszeichnet, dass sie für letztere absolute calorimetrische
Werthe giebt, verbietet sich für den lebenden Körper deshalb
von selbst, weil sie auf der Feststellung der Erkaltungs-
geschwindigkeiten der strahlenden Körper beruht. —
Somit blieb nichts übrig, als die Wahl eines neuen Ver-
fahrens. — Dasselbe sollte das calorische Aequivalent der
Capillarthätigkeit durch absolute Werthe ausdrücken und die
Fehler vermeiden, die die Einflüsse der Umgebungstemperatur
auf den messenden Apparat hätten mit sich bringen können. —
Zu dem Zweck war es nöthig, die von einer bestimmten Haut-
stelle unter allen Bedingungen ihrer Circulation abgegebene
Wärme einem Körper von bekanntem Wasserwerth zu über-
tragen, der unter allen Umständen leicht und schnell zur
Temperatur der Haut in ein bestimmtes Verhältniss gesetzt
1) Wüllner: Lehrbuch der Experimentalphysik. 2. Aufl. Bd. III.
Leipzig. 1875. 8. 211.
|
Mechanische Prineipien der Homöothermie. TUT
werden konnte und ferner einen Modus der Mittheilung der
Wärme an dieses Calorimeter zu wählen, bei welchem die Um-
gebung jeden Einfluss auf letzteres verlor, —
Man sieht, dass die Erfüllung dieser Forderungen die
„Wärmeemission“ zur Bestimmung jener Werthe zu verwenden
widerrieth und auf die Benutzung der „Wärmeleitung“* direct
hinwies. — Aber man erkennt auch, dass das nichts weniger,
als einen praktischen Nachtheil bedeutet. Wärmestrahlung und
Wärmeleitung sind nur verschiedene Bedingungen der Wärme-
übertragung und können in ihren Effecten nur relativ ver-
schieden sein, wenn bei ihnen Wärmequelle und der zu er-
wärmende Körper absolut dieselben sind. — Und da gerade
die Einflüsse, die sich bei der indirecten Uebertragung der
Wärme auf die Erwärmung geltend machen, die Werthe der
Wärmestrahlung relativ machen, so muss man sich im Princip
absoluten Werthen nähern, wenn man bei directer Mittheilung
der Wärme jene Einflüsse beseitigt. —
Die Haut der Hohlhand wurde als wärmeabgebende Fläche
benutzt. — Indem sie den zu erwärmenden Körper durch eine
einfache Manipulation und vollkommen umschloss, konnte die
'Wärmemittheilung an letzteren ohne Zeitverlust und ohne
störende Einwirkung von Seiten der Umgebung geschehen. —
Zur Erwärmung diente Wasser, — dessen geringe durch die
Wahl des Ortes bestimmte Menge der Forderung eines auch
für kleine Aenderungen in der Wärmeabgabe der Haut empfindli-
chen Index in sehr erwünschter Weise entgegenkam. —
Ich schloss das Wasser in einen kleinen, von der Hohl-
hand leicht zu umfassenden Cylinder von Glas (Fig. I. Taf. 7a.)
ein, der an messingnen Hülsen einen fixirten Boden (db) und
einen abschraubbaren Deckel (a) ebenfalls von Glas trägt. In
einer centralen, nach unten konisch sich verengenden Bohrung
des letzteren ist ein in Zehntelgrade getheiltes Celsius’sches
Thermometer eingeschliffen, dessen Spindel bis zur Mitte des
Gefässes reicht.!) — Dasselbe hat eine Länge von 75 Cm. und
einen Durchmesser von l’ö5Cm. Bei einer Temperatur von
1) Den Apparat hat Hr. Mechaniker Rekoss in Königsberg nach
meiner Angabe gefertigt. —
278 A. Adamkiewicz,
15° Cels. wiegt es mit Wasser gefüllt sammt Thermometer nur
37-451 Gr., wovon 10,719Gr. auf den Inhalt kommen. Die
specifische Wärme des Apparates beträgt nach dem Ergebniss
mehrerer nach der Mischungsmethode ausgeführten Bestimmun-
gen 0'118, — eine Grösse, die sich aus den Wärmecapacitäten
des denselben zusammensetzenden Glases (0'194), des Messings
(0'094) und des Quecksilbers (0'133) erklärt. Der ganze Appa-
rat repräsentirt also mit seinem Inhalt nur einen Wasserwerth
von 13'873 und stellt gewiss das kleinste Calorimeter dar, das
je in Anwendung gekommen ist. —
Methode der Messung.
Jede Messung beginnt mit einer Temperaturbestimmung
der Haut, deren Wärmeabgabe festgestellt werden soll. — Die
feine cylindrische Spindel eines Geissler’schen Thermometer,
das mit dem des Calorimeter genau verglichen worden ist, wird
zu dem Zweck entweder von der Hohlhand oder von der
zwischen Daumen und Zeigefinger befindlichen Interdigitalfalte
umschlossen. Im letzteren Fall bleibt die Hand selbst während
der Messung offen. Die schliesslichen Resultate der calori-
metrischen Bestimmung zeigen sich von der Wahl des Ortes,
an dem die Temperatur gemessen wird, vollkommen unabhängig.
— Als wahre und verwerthbare Temperaturen der Haut können
erst diejenigen angesehen werden, welche vom Thermometer
wenigstens 3 bis 5 Minuten ununterbrochen angezeigt werden.
Kommt eine solche Constanz aus irgend einem Grunde nicht
zu Stande, so muss von dem Versuch überhaupt Abstand ge-
nommen werden. — Gewöhnlich tritt sie bald nach kürzerer,
bald nach längerer Zeit ein; macht aber jedenfalls die Temperatur-
messung selbst zu dem mühsamsten und am meisten zeit-
raubenden Theil des ganzen Versuchs. — Denn der ganze
folgende Akt desselben hält sich nur innerhalb der Grenzen
Einer Minute. —
Seitlich und in unmittelbarer Nähe der Versuchsperson
befindet sich das Calorimeter. -- Es ist an der Klemme eines
Stativs so angebracht, dass es aus seinen Befestigungen mühelos
und schnell gelöst werden kann. Etwas tiefer befindet sich an
en
Mechanische Prineipien der Homöothermie. 279
einer zweiten Klemme desselben Stativs das Aetherreservoir
eines Richardson’schen Zerstäubungsapparates, das mit seiner
Canüle gegen das Calorimeter gerichtet ist. — Zum Zweck einer
schnellen Verdunstung des Aethers erhält letzteres eine feine.
Gasehülle, die im Augenblick der Application desselben an
die Haut wieder abgestreift wird. Der durch einen Gummi-
schlauch mit dem Reservoir in Verbindung stehende Ballon
liegt unter dem Experimentirtisch und wird von dem Beo-
bachter mit dem Fuss dirigirt, damit ihm die Hände zu den
nöthigen Manipulationen frei bleiben. — Bei einiger Uebung
gelingt es ihm leicht, während der Dauer der Temperaturbe-
. stimmung in der Haut der Versuchsperson das Calorimeter durch
Aetherverdunstung oder, wenn es nöthig ist, durch Erwärmung
mit seiner eigenen Hand auf Temperaturen zu bringen, die zur
Zeit der erreichten Temperaturconstanz in der Haut der für die
Messung der Wärmeabgabe bestimmten Hand zu den an dieser
festgestellten Temperaturen in einem gegebenen Verhältniss
stehen. —
Ist beides genau erreicht, dann legt die Versuchsperson
das Thermometer bei Seite und erfasst das ihm schnell darge-
reichte Calorimeter mit voller Hand. In demselben Augenblick
löst sich das Arr&tement eines Secundenzählers. Der Beobachter
verfolgt mit einer Lupe die Temperaturzunahme des Calorimeters
und unterbricht den Gang der Uhr in demselben Moment, wo
das Calorimeter sich in der Hand der Versuchsperson um eine
bestimmte Anzahl von Graden erwärmt hat. So ist die Zeit
gefunden, innerhalb welcher die Fläche der Hohlhand unter
gegebenen Verhältnissen eine bestimmte Anzahl von Calorien
abgiebt. — Aus den Variationen, welche diese Zeit erleidet,
lässt sich der Werth eines Factors auf das Genaueste nach
absolutem Maass feststellen, der die Wärmeabgabe der Haut
in irgend einer Weise beeinflusst. —
In einer grossen Reihe von Versuchen wurde zunächst die
Sicherheit der Methode, deren Princip die Anerkennung des
Herrn Geheimrath Prof. Neumann erfahren hat, und die Con-
stanz ihrer Resultate geprüft. — Nachdem die Versuchspersonen
durch Uebung das Calorimeter stets in gleicher Weise und
280 A. Adamkiewicz:
ohne Druck zu halten gelernt hatten, war beides in den erreich-
baren Grenzen eingetreten. !)
Das circulatorische Wärmeäquivalent.
Das absolute Quantum der von der Haut abgegebenen Wärme
muss die Summe zweier Grössen sein; derjenigen Wärmegrösse,
welche durch Leitung aus dem Innern des Körpers bis zur
Oberfläche der Haut dringt und hier in die Umgebung ausstrahlt
und demjenigen Quantum von Wärme, welches das ceirculirende
Blut den inneren Theilen des Körpers entzieht und an der
Oberfläche desselben" wieder absetzt.
Der erste dieser beiden Factoren kann als eine constante
Grösse angesehen werden, die zweite muss eine veränderliche
sein, da sie von dem Contractionszustand der peripherischen
Capillaren abhängt. Die ganze von der Körperoberfläche abge-
gebene Wärmemenge, die sich aus beiden zusammensetzt, ist
also ebenfalls eine Variable, deren Werthe durch das Verhältniss
jener beiden Grössen zu einander und durch die Grenzwerthe,
die die Veränderliche annehmen kann, bestimmt sind.
Da der mittlere Werth der gesammten die Körperoberfläche
verlassenden Wärmemenge bekannt ist, so ist die Grenze ihrer
Variationen gefunden, wenn man die Aenderungen in der
'Wärmeabgabe der Haut nach Einführung der Grenzwerthe des
variabeln Factors feststellt.
Zur Auffindung dieser Werthe wurden die Zeiten bestimmt,
innerhalb welcher sich das Calorimeter in der Hohlhand, stets
bei einer constanten Temperaturdifferenz zwischen beiden, um
5° erwärmte, alse von der Haut 5 mal 13-873 Calorien erhielt.
Aus ihnen wurde dann diejenige Anzahl von Calorien berechnet,
welche dieselbe Hautfläche in der Zeit von 1 Minute an das
Calorimeter unter denselben Verhältnissen abgeben würde. Zu-
nächst fand die Bestimmung bei normaler Circulation in der
Haut statt, dann nachdem eine der beiden Grenzen der Variabeln .
1) Die Herren Candd. med. Löwenthal, Casper und Storch
haben sich an meinen Versuchen eifrigst betheiligt und durch ihre
geschickte Assistenz dieselben auf das Dankenswertheste gefördert.
Mechanische Prineipien der Homöothermie. 381
eingeführt worden war. Beide Bestimmungen mussten stets
neben und kurz nach einander vorgenommen werden, damit
nicht Verschiedenheiten in der Erregbarkeit der Blutcapillaren
und in der Circulation und das ganze Heer von Zufällen ins
Spiel kämen, die zu verschiedenen Zeiten den Mechanismus
der Cireulation in bekannter Weise treffen können.
Der niedrigste Grenzwerth der variabeln Grösse.
In der ersten Reihe von Bestimmungen wurde neben der
normalen Wärmeabgabe diejenige Aenderung derselben geprüft,
welche sie erlitt, wenn der variable Factor gleich Null gemacht,
d. h. die Cireulation überhaupt unterbrochen war.
Die Unterbrechung der Circulation wurde nach der Me-
thode von Esmarch dadurch bewirkt, dass der Vorderarm
von den Fingerspitzen bis über das Ellenbogengelenk hinaus
mit einer elastischen Binde umwickelt wurde. Waren die Gefäss-
stämme, nachdem das Blut in eben erwähnter Weise aus der
Extremität herausgepresst worden war, hinreichend comprimirt
worden, und waren die Pulsationen der A. radialis verschwun-
den, so begann die Temperaturmessung der Haut. Gewöhnlich
stellte sich das Thermometer 10 bis 12 Minuten nach erfolgter
Unterbrechung auf die erforderlich constante Temperatur ein.
Dieselbe lag fast ausnahmlos 1'/, bis 2° Cels. unter der Tempera-
tur, welche die Haut bei normaler Circulation besass. Während
des Abfalls der Temperatur in der Haut durften natürlich calori-
metrische Bestimmungen nicht vorgenommen werden, da: die-
selben aus klar liegenden physikalischen Gründen alle möglichen
Resultate hätten ergeben müssen. Der gleiche Umstand verbot
es, mit diesen Bestimmungen über den Zeitpunkt der Tempera-
turconstanz hinaus zu warten, da sich an denselben ein erneu-
ter Abfall anschloss mit im Verhältniss zum primären sehr viel
langsamerem Sinken der Temperaturen. Ausserdem erreichten
die Schmerzen, Formicationen und Stiche im blutleeren Arm
in dieser Zeit eine unerträgliche Höhe.
In Folgendem sind die Mittel aus den höchsten und tiefsten
Werthen zusammengestellt, welche sich für die Wärmeabgabe
der Haut bei normaler und bei unterbrochener Circulation er-
282 A. Adamkiewicz:
geben haben. Letztere sind im Verlauf von einem und einem
halben Jahr gesammelt und liegen deshalb in einer Zahl vor,
wie sie zu Schlussfolgerungen aus solchen in ihren Resul-
taten schwer absolut constant zu erreichenden Bestimmungen
allein berechtigen. (Siehe Tabelle S. 283.)
Die erste der drei Versuchspersonen zeichnete sich vor den
beiden andern durch eine sehr kräftig entwickelte Muskulatur
aus und ertrug die Compression seiner Gefässe im Verhältniss
zu ihnen in bewundernswerther Weise. Es liegt nahe, diese
Thatsache aus einem gewissen Schutz zu erklären, den hier die
Muskulatur den Blutgefässen gegen den Druck des elastischen
Bandes gewährt habe. Die niedrigsten calorischen Werthe der
Circulationsunterbrechung in den zuerst angeführten Bestimmun-
gen, die so sehr von den übrigen abweichen, dürften deshalb
wol, zumal minimale Pulse der Radialis schwer zu erkennen
sind, als durch nicht vollkommene Sistirung des Kreislaufs be-
dingt angesehen werden und daher unberücksichtigt bleiben.
Dann hat sich aus den nachstehenden Versuchen ergeben,
dass von der gesammten mittleren, die Körperober-
fläche verlassendenundin die Umgebung ausstrahlen-
den Wärmemenge 20 bis 30pCt., demnach im Mittel
25pCt. dem variabeln und 75pÜt. dem constanten Factor
angehören. Beide Grössen verhalten sich also zu ein-
ander wie 1:3.
Helmholtz!) hat aus der Verbrennungswärme des in den
Respirationsgasen erscheinenden Kohlen- und Wasserstoffs die
Menge von Wärme berechnet, welche der Körper eines gesunden
Menschen innerhalb einer festgesetzten Zeit bildet. Unter Be-
rücksichtigung der aus Dulong’s?) berühmten Versuchen be-
kannt gewordenen Thatsache, dass das Resultat jener Berech-
nung nur 75 pCt. der wirklich gebildeten Wärme giebt, hat er
gefunden, dass ein Mann von 82 Kgr. Körpergewicht 113853
Calorien in der Stunde hervorbringt, wenn unter Calorie die-
1) Eneyelop. Wörterbuch der med, Wissenschaften. Herausgegeb.
von der med. Facult. zu Berlin. 1846. Bd. 35. S. 555.
2) Mem. sur la chaleur anim. (Ann. de Chim. et de Phys. 1841.
p. 440.)
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284 A. Adamkiewiez:
jenige Wärmequantität verstanden ist, welche eine Wassermenge
von 1 Gr. um 1° Cels. erwärmt. Die Beständigkeit der absoluten
Körpertemperatur beim Menschen macht es erforderlich, dass
bei ihm die Grösse der gebildeten und die der abgegebenen
Wärme einander gleich sind. Da der gewöhnlichen Annahme
zufolge von der gesammten im Organismus entstehenden Wärme
nur 775 pCt. den Körper durch die Haut verlassen, so beträgt
die Gesammtsumme der von der letzteren im Laufe Einer Stunde
unter gewöhnlichen Verhältnissen abgegebenen Calorien 88236.
Es werden demnach unter denselben Verhältnissen
annähernd 66177 Calorien durch Leitung durch die
Gewebe und 22059 Calorien durch das circulirende
Blut der Peripherie während Einer Stunde vermittelt
und an die Umgebung abgeführt.
Wie weit dieses empirisch gefundene Verhältniss der beiden
den absoluten Wärmeverlust zusammensetzenden Grössen dem
thatsächlich vorhandenen entspricht, lässt sich durch eine kleine
Berechnung prüfen.
Von allen Geweben des Körpers sind, wie früher dargelegt
worden ist, die der äussersten Zone, also Haut, Unterhautfett-
und Unterhautzellgewebe die einzigen, welche dem Blut nicht
Wärme :geben, sondern von dem eirculirenden Blut Wärme
aufnehmen. Unterbleibt plötzlich die Zufuhr von Blut zur
Peripherie, so muss die Temperatur dieser Zone sinken und
der Grad, in welchem das geschieht, dem Ausfall von Wärme
entsprechen, den die Circulationsunterbrechung herbeigeführt hat.
Im Verlauf der ersten halben Stunde nach Unterbrechung des
peripherischen Kreislaufs sinkt die Temperatur der Haut um
ungefähr zwei und ein viertel Grade Cels. Die in dieser Zeit
durch Sistirung des Kreislaufs der Peripherie entzogene Wärme-
menge kommt also annähernd derjenigen Grösse gleich, welche
die Masse der äusseren Körperzone um die genannte Zahl von
Graden zu erwärmen im Stande wäre.
Dursey!) hat bei einem Selbstmörder von 65'25 Kegr.
Körpergewicht die Haut sammt ihres Fettpolsters 7'404 Kor.
1) Nach einem Citat Liebermeister’s: Lehrb. d. Pathol. u.
Therap. des Fiebers u. s. w. S. 223.
Mechanische Prineipien der Homöothermie. 285
schwer gefunden. Die Masse der äussersten Zone beträgt daher
etwa ein Neuntel des gesammten Körpergewichtes und bei einem
82 Kgr. schweren Menschen demnach ungefähr 9Kgr. Da sie
eine von der specifischen Wärme des Muskels!) nicht abweichende
Wärmecapaeität haben wird, so repräsentirt sie einen calo-
rischen Werth von 9000: 0 769 = 69210 gr. Wasser. Zur Erwär-
mung um 225° bedarf sie demnach 15572 Calorien. Das direet
gemessene und für dieselbe Zeit berechnete circulatorische
Aequivalent beträgt 11029 Calorien, eine für die vorliegende nur
schätzende Rechnung hinreichend genaue Uebereinstimmung.
Die bei jeder Circulationsunterbrechung der Körperperiphe-
rie entzogene Wärmemenge wird nothwendigerweise in den
inneren Organen des Körpers zurückbehalten. Weil sie nicht
ohne Wirkung bleiben kann, muss der Wärmeretention eine
Temperatursteigerung in den inneren Theilen folgen. In dem-
jenigen Abschnitt derselben wird sie zunächst sich äussern,
welcher die Rolle der Peripherie in Beziehung auf den Kreis-
lauf zufällt. Nun hat Ludwig?) gezeigt, dass das Gefäss-
system der Muskulatur gegenüber demjenigen der Eingeweide
und der Haut durch Reactionsträgheit seiner muskulösen Ele-
mente in hohem Grad ausgezeichnet ist. Wenn die Blutgefässe
der Eingeweide und der Haut oder eines dieser beiden Gebiete
sich verengern, findet daher das aus ihnen verdrängte Blut in
der Muskulatur offene Abflusswege, in die es jederzeit unbe-
hindert ausweichen kann. Das Blut, das unter gewöhnlichen
Verhältnissen in der Körperperipherie fliesst, circulirt, wenn
der peripherische Kreislauf ruht, in der Muskulatur. Die Wärme,
die das Blut früher der Peripherie zugeführt hat, bleibt nun
in dem in den Muskeln kreisenden Blut. In kurzer Zeit muss
daher zwischen der Temperatur des Muskels und des in ihm
eirculirenden Blutes ein Ausgleich sich herstellen, und dann
1) Die Wärmeleitung des Muskels. A. a. 0. 8. 254.
2) Moh. Effendi Hafiz: Ueber die motorischen Nerven der Ar-
terien, welche innerhalb der quergestreiften Muskeln verlaufen. In
den Berichten der Kgl. Sächs. Gesellschft. der Wissenschaften - zu
Leipzig. Math. phys. Classe Bd. XXII. S. 214. 1870,
NETTE PET IR ER te Fe
286 A. Adamkiewicz:
die gesammte in den Muskeln gebildete Wärme die Muskulatur
selbst erwärmen.
Letztere beträgt ungefähr 45 pCt. des gesammten Körper-
gewichtes. Bei einem 82Kilo schweren Mann wiegt sie dem-
nach etwa 36°9 Kgr. Da sie eine specifische Wärme von 0:769
besitzt, so repräsentirt sie einen Wasserwerth von 28376. Bei
absoluter Unterbrechung der peripherischen Circulation würden
sich, wie sich aus dem Vorhergehenden ergiebt, 22059 Calorien
während Einer Stunde in der Muskulatur anhäufen. Fände
eine so lange dauernde Unterbrechung statt, dann wäre sie dem-
nach hinreichend, durch die durch sie bewirkte Wärmestauung
die ganze Muskulatur um 0'8° Cls. zu erwärmen.
Liebermeister!) hat darauf hingewiesen, dass ein in
der Achselhöhle eines Menschen befindliches Thermometer zu
steigen anfängt, sobald man jenem durch Kälteeinwirkung auf
die Körperoberfläche Wärme entzieht. Er hat diese Erschei-
nung im Verein mit den Resultaten seiner calorimetrischen
Messungen als ein Zeichen reactiver Wärmeproduction gedeutet
und in der früher erwähnten Weise erklärt. Wenn nun aber
ein Thermometer sich in der Achselhöhle befindet, ist es, wie
bekannt, allseitig von Muskulatur umschlossen und zeigt also
die Temperaturen der Muskelzone an. Die Muskelzone erwärmt
sich nun erwiesenermassen durch Wärmestauung, wenn die
Circulation in der Peripherie stockt. Kältewirkung auf die
Körperoberfläche bewirkt eine solche Stockung. Folglich ist
die Temperaturzunahme eines Thermometers in der Achsel bei
Abkühlung der Körperoberfläche nicht nothwendig ein Zeichen
vermehrter Wärmebildung.?) Und sie kann es nicht sein, wenn,
wie behauptet wird,?) es richtig ist, dass eine solche Tempe-
raturzunahme auch dann nicht mehr als 0'2° Cels. beträgt, wenn
die Körperoberfläche einen empfindlich kalten und mit 'seiner
1) Deutsche Klinik. 1859. Nr. 40. Dies Archiv, 1860. S. 523.
2) Senator (S. u. A. Virchow’s Archiv Bd. L. S. 354. Bd. LII.
S. 137); — Winternitz (Virchow’s Archiv Bd. LVI. S. 181 fi;
Wiener med. Jahrb. N. F. 1871. S. 180 ff. u. s. w.) u.A.
3) Vgl. Senator: dies Archiv, 1872. S. 38. Anm.
= f
Be -
Mechanische Prineipien der Homöothermie. 287
Nachwirkung den peripherischen Kreislauf etwa !/, Stunde
alterirenden Bade ausgesetzt ist.
Gerade die Temperaturzunahme der Muskeln bei Kreis-
laufssistirung in der Peripherie und bei der dadurch herbei-
geführten Wärmeretention im inneren Körper verleiht dem
eigenthümlichen Charakter der Muskulatur und ihrer Bedeutung
für die Temperaturbeständigkeit der höheren Thiere eine neue
Stütze. Wirkt sie doch einem Mechanismus gleich, der die
Schleuse gerade dann höher hebt, wenn die Gefahren für den
Wärmestrom, den sie schützt, besonders gross werden.')
Der höchste Grenzwerth der variabeln Grösse.
Der höchste Werth der Variabeln wurde durch den Ver-
gleich der bei normaler Circulation mit der bei maximaler
Capillardilatation in der Peripherie von der Haut abgegebenen
Wärmegrösse festgestellt.
Zur Hervorbringung der Dilatation diente die Wärme. In
grossen Zinkwannen wurde Wasser auf Temperaturen von
40° Cels. und darüber erwärmt und sorgfältig auf constanter
Höhe erhalten. Mit dem Schlag des Sekundenzählers tauchte
die Versuchsperson ihre zu den Messungen bestimmte Hand in
das Wasser ein und hob sie wieder nach Verlauf einer gewissen
Zeit aus dem Bade heraus. Sofort wurde die Temperatur der
Haut in der bereits geschilderten Weise tkermometrisch festge-
stellt. Die sehr empfindlichen Thermometer stiegen schnell zu
den hohen Temperaturen der Haut an, um dann wieder lang-
sam zu sinken. Der höchste, genau betrachtete Stand des
Thermometers zeigte die gewünschte Temperatur an. Hatten
mehrere stets von grösseren Pausen unterbrochene Messungen
dasselbe Resultat ergeben, so wurde in einer neuen Reihe
ebenso ausgeführter Erwärmungen an Stelle des Thermometers
unmittelbar das Calorimeter an die Haut angelegt und die
Wärmeabgabe direct bestimmt. Die Ergebnisse dieser Bestim-
mungen konnten nun mit den vorher festgestellten Werthen
der normalen Wärmeabgabe verglichen werden.
1) Vrgl. S. 260 dieser Arbeit,
288 A. Adamkiewicz:
Gefundene Mittelwerthe:
TRgaS E
\= a = ä
1 I = m
| Temperatur & 5, = BEA 522
BASS azar „mo ar
MHOSo Ssaol=a zZ a
ö ;
Cireulation. 3328 s „08 Se E 3
der des Calo-| SY ES |.3=2| 333 | S2®
B ei SH ö 5 0 salsu2| © >
Haut |rimeters | 5 2e5 | Aa
in m 5 <,45 i@}
= IS =) 38
: I
Normal. 358 15°8 20 48. 86°7
Umgebung zwischen In d.Hohlh. 7
15 und 20°Cels. | 39°6 15°6 48 86:7 | 100
In d. Inter-
digitalfalte
Capillardilata- | 385 18°5 wa 99114143
tion nach Einwir- ! pCt.
kung eines Bades v.
40° durch 5 Min.
1
ID
Capillardilata- | 411 211 . ..11 36 || 115°6 | + 33°3
tion. Bad von pCt.
45° Cels. durch 5Min.
Capillardilata- | 4rı 211 ... | 36“ | 1156| +33°3
tion. Bad von 46° u. pCt.
6' Grenze des für die,
Versuchsperson Er-
träglichen.
l
Aus der Gleichheit der Ergebnisse der beiden letzten Ver-
suche folgt, dass eine 5 Min. lang dauernde Einwirkung eines
Bades von 45° Cels. auf die Haut genügt, die grösste! Erschlaf-
fung der peripherischen Capillaren zu erzeugen. Eine höhere
Wärmewirkung auf dieselbe ist wenigstens nicht mehr im Stande
gewesen, das circulatorische Wärmeäquivalent zu vergrössern.
Sein grösster Werth beträgt also in runder Zahl
30 pCt. der normalen Wärmeabgabe. Würde dieser Werth
unter gewöhnlichen Verhältnissen erreicht werden, dann müsste
die Körperoberfläche eines 82 Kgr. schweren Menschen 88236 +
26470 = 114706 Calorien in der Zeit Einer Stunde verlassen.
In der gleichen Zeit werden von demselben Körper über-
haupt nur 113853 Calorien gebildet. Es ergiebt sich daraus
1) Das eirculatorische Wärmeäquivalent gibt hier diejenige Grösse
der normal von der Haut abgegebenen Wärmemenge in Procenten der-
selben an, um welche diese bei gesteigerter Hauteirculation
wächst (+). —
Mechanische Prineipien der Homöothermie. 289
die theoretisch sichergestellte Möglichkeit, dass die Function
derperipherischen Capillarenallein—,ohneden durch
die Wasserverdunstung von der Körperoberfläche
unddurch die In- und Egesta aus dem Körperinnern
herbeigeführten Wärmeverlust —, im Stande ist —,
die Wärmebildung innerhalb des Körpers durch
Steigerung der peripherischen Circulation und damit
der Wärmeabgabe zu compensiren.
Aber es fordert eine solche Compensation, dass sich der
höchste Grad der Capillardilatation unabhängig von Temperatur-
einflüssen der Umgebung auf die Körperoberfläche bei normalen
Temperaturverhältnissen zwischen der letzteren und der Um-
gebung einstelle. Wie weit diese Function den natürlichen
Forderungen der Temperaturconstanz wirklich genügt, wird
in Folgendem untersucht werden.
Curve der Wärmeabgabe am lebenden Körper.
"Den Berechnungen der absoluten Werthe der Capillar-
thätigkeit ist die normale mittlere Wärmeabgabe der Haut zu
Grunde gelegt. Man darf annehmen, dass diese Wärmeabgabe
bei einer Temperatur der Haut von 35° und einer Tempe-
ratur der Umgebung von 15°, also bei einem Temperatur-
unterschied zwischen Körperoberfläche und Umgebung von
20° erfolgt. Die diesen Grössen der normalen wie der
künstlich modifieirten Wärmeabgabe entsprechenden calorischen
Aequivalente sind bei derselben Temperaturdifferenz zwischen
Haut und Calorimeter gemessen worden und gelten demnach
für ein und dieselben physikalischen Bedingungen der Wärme-
abgabe. Deshalb sind sie direct mit einander vergleichbar und
können als Ordinaten eines Coordinatensystems (Fig. Il.) be-
trachtet werden, dessen Abseisse die verschiedenen Contractions-
grade der peripherischen Capillaren angiebt.
Die Untersuchung der calorischen Werthe hat vier solcher
Ordinaten ergeben, und durch sie sind auch vier Punkte der-
jenigen Curve bestimmt, welcher die Grössen der Wärmeab-
gabe unter denselben äussern Temperaturverhältnissen folgen
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 19
2390 A. Adamkiewicz:
müssten, wenn die Circulation in der Peripherie alle möglichen
Variationen durchginge von Null bis zum höchsten Grenzwerth,
Wie bereits erwähnt worden ist, ist der Grad der Capillar-
thätigkeit eine Function der auf die kleinsten Gefässe ein-
wirkenden Temperaturen. Der Contractionszustand der Haut-
capillaren hängt also von den Hauttemperaturen ab. Er steht
insofern im umgekehrten Verhältniss zu denselben, als er zu-
nimmt, wenn Letztere sinken. Nun werden die absoluten Tempera-
turen der Haut zum grössten Theil bestimmt von den Tempera-
turen der Umgebung. Sie wachsen, wenn letztere steigen und
nehmen ab, wenn sie fallen. Da sie aber langsamer wachsen und
langsamer abnehmen, als die Umgebungstemperaturen, unterderen
Einfluss sie selbst sich ändern, und da hier nur normale Verhält-
nisse berücksichtigt werden, also solche, bei denen der thierische
Körper an seine Umgebung überhaupt Wärme abgiebt, d. h. stets
höher temperirt ist, als seine Umgebung; so bedeutet jede
Temperaturzunahme der Körperoberfläche gleich-
zeitig eine’ Abnahme der Temperaturdifferenz
zwischen ihr und Umgebung und jede Temperatur-
abnahme derselben ein Wachsen dieser Differenz.
In einem System von Coordinaten sollen die Abseissen-
aufsteigende Temperaturen der Körperoberfläche und also auch
abnehmende Temperaturdifferenzen zwischen ihr und Umgebung
bedeuten, die Ordinaten dieses Systems dagegen sollen die
bei den einzelnen Temperaturen der Haut und den gleichzeitig
vorhandenen Temperaturdifferenzen zwischen der letzteren und
der Umgebung von der Körperoberfläche nach dem Newton’-
schen Gesetz abgegebenen Wärmegrössen angeben.
Die Art der Abweichung, welche die Wärmeabgabe des
lebenden Körpers von der Newton’schen Curve (Fig. III. NC.)
erfährt, ist daher definitiv gefunden, wenn zu den eben be-
zeichneten Ordinaten die festgestellten Werthe des eirculatori-
schen Aequivalentes algebraisch summirt werden.
Das Maximum der Capillardilatation fand sich bei einer
Temperatur der Haut von 41°. Käme eine solche Temperatur
in der Haut des normal fungirenden Körpers unter dem Ein-
fluss einer weniger hohen Temperatur der Umgebung zu
Stande, dann würde die Wärmeabgabe des Körpers bei die-
RER S
Mechanische Principien der Homöothermie. 291
ser Temperatur nicht mehr der normalen Wärmeabgabe multipli-
eirt in den Quotienten der gewöhnlichen Temperaturdifferenz
in die neue kleinere, sondern der um 30 pCt. gesteigerten nor-
malen und in diesen Quotienten multiplicirten Wärmeabgabe
gleich sein. Sie würde demnach, wenn a die Grösse der nor-
malen Wärmeabgabe und d die neue Temperaturdifferenz bedeutet,
nn n Calorien betragen.
Eine Angabe über die niedrige Temperatur der Haut,
welche die Capillaren derselben zu einer bis zum vollkommenen
9] 0
nicht a Er sondern (@ +qa
Verschluss führenden Contraction anzuregen im Stande wäre,
lässt sich leider nicht machen. Eine Reihe von Versuchen, in
denen an Stelle der warmen kalte und durch Eis regulirte
Bäder angewandt wurden, führten nicht zum Ziel. Zunächst
deswegen, weil es kein sicheres Zeichen eines durch Kälte be-
wirkten Verschlusses der Capillaren giebt. Dann weil sich die
Absicht nicht ausführen liess, die Abkühlung der Haut so lange
zu steigern, bis die Resultate der Wärmeabgabe constant blie-
ben, wie es bei der Erzeugung der Capillardilatation in ana-
loger Weise geschehen war. Die Temperaturen der durch
das Bad abgekühlten Haut liessen sich nämlich nie mit Sicher-
heit bestimmen, weil sie mit dem Augenblick, wo sie dem
Einfluss des Bades entzogen wurden, rapide sich zu erheben
begannen. Ferner hätte bei diesen Temperaturen das Oalori-
meter stets unter Null abgekühlt werden müssen. Die Sicher-
heit der Application eines so kalten Körpers in einer halb
erstarrten Hand würde eine sehr problematische geworden sein.
Endlich hätte die Ungleichmässigkeit der Eisbildung im Calori-
meter die Berücksichtigung der latenten Wärme des Eises bei
den Messungen in Rechnung zu ziehen nicht ohne erhebliche
Fehler gestattet.
Hier lässt sich daher nur allgemein sagen, dass bei der-
jenigen niedrigen Temperatur der Haut (Fig. III. x), welche zu
einem vollständigen Capillarverschluss in derselben führen
würde, nicht die normale, sondern die um 25 pCt. verringerte
normale Wärmeabgabe (a) der Körperoberfläche nach dem Ver-
hältniss der gewöhnlichen Temperaturdifferenz zwischen Körper-
197
292 A. Adamkiewicz:
oberfläche und Umgebung zu der neuen grösseren (d) wachsen
müsste.
2 ö
(ae 100, 0
Noch sind die calorischen Werthe der normalen Circulation
und derjenigen bekannt, welche die bei einer Temperatur der
Haut von 38°') vorhandene Capillardilatation mit sich bringt.
Es sind also im Ganzen drei Punkte (a, 5, c) der neuen
Curve (A B Fig. III.) gegeben, die die Interpolation der übri-
gen positiven Werthe gestatten.
Den Gang der zweiten Hälfte der Curve, derjenigen für
die negativen circulatorischen Wärmewerthe, hoffte ich da-
durch zu finden, dass ich die Zeit für die Abgabe einer be-
stimmten Anzahl von Calorien, — immer derselben wie in den
früheren Versuchen —, von Seiten der Haut an das Calorimeter
feststellte, wenn die Temperaturdifferenz zwischen Haut und
Calorimeter in einer arithmetischen Reihe stieg. Mit zunehmen-
der Temperaturdifferenz zwischen Haut und Calorimeter sollte
ein zunehmender Grad von Capillarcontraction eintreten, dessen
Wärmeäquivalente sich aus den den Temperaturdifferenzen nicht
mehr proportionalen Zeiten hätten ergeben sollen.
Auch von diesem Theil der Curve sollten drei Ordinaten
gefunden werden. Da die Differenzen von 20° an steigen mussten
und über 30° nicht betragen durften, damit das Einfrieren des
Wassers im Calorimeter vermieden wurde, so konnten die
erforderlichen Differenzen nur 20°, 25° und 30° sein.
In Folgendem sind die Mittelwerthe vier solcher an drei
Versuchspersonen gemachten Bestimmungen zusammengestellt.
(Siehe nebenstehende Tabelle.)
Die Temperaturdifferenzen zwischen Haut und Calorimeter
verhielten sich in allen nachstehenden Bestimmungen wie:
20:25:30=1:1'25:15, und die bei diesen Differenzen
von der Haut abgegebenen Calorien verhielten sich
1) bei C. wie 74:3:991:1281=1:135:172, .
2) bei L. wie 72:5:90'0:126°1=1:1'24:1:73.
3) bei S. wie 75'0:99:1:1224=1:1:32:1°63.
Es sind die von der Haut dem Calorimeter mitgetheilten
!) Vrgl. die früher angeführten Tabellen.
Mechanische Prineipien der Homöothermie. 2953
Umgebung 15 — 18°,
l. Versuchsperson: Hr. Cand. med. C.
Temperatur | Temperatur- | Zeit der Er- |Wärmeabgabe
\ differenz zw./wärmung des) der Haut
IH des ' Haut und ıCalorimt. um |während 1Min.
er Haut | Calorimeter | Calorimeter Ba in Secund.| in Calorieen
34:9 149 20. 2 |MR a6 74:3
34:7 9:7 25 I: \ 2142 I 991
345 45 30 ee az:
2. Versuchsperson: Hr. Cand. med. L.
Pr Be D,
To: Ad RAR ae | |
sa | 10 | 03 I 90:0
35.4 | 54 | 30 | 33 1261
3. Versuchsperson: Hr. Cand. med. S.
33-7 | ie 200,, | 055: 75:0
347 | 97 95 Ä 20 | 91
30 | :o BOBL EAN An a 1224
Wärmegrössen im Verhältniss zu den wachsenden Temperatur-
differenzen zwischen beider, unter deren Einfluss jene Mit-
theilung geschehen ist, nicht kleiner geworden. Die Messungen
haben also das erwartete Resultat nicht ergeben. Eine Er-
klärung für diesen negativen Erfolg lässt sich unschwer darin
finden, dass die zu den Messungen erforderliche Zeit der Ein-
wirkung des Calorimeters auf die Haut eine zu kurze und die
Grösse der Wärmeentziehung von derselben deshalb auch
eine zu geringe ist —, als dass das kalte Calorimeter eine Re-
action der kleinen Gefässe durch die die Wärme schlecht leitende
Cutis hindurch wachzurufen im Stande sein sollte. Dieser
erfolglose Versuch wäre deshalb von mir überhaupt unerwähnt
geblieben, besässen seine Resultate nicht auch eine schätzens-
werthe Seite. Die Wärmegrössen sind den wachsenden
Temperaturdifferenzen so genau gefolgt, dass die Quotien-
ten beider fast absolut übereinstimmen. Diese Thatsache beweist
294 A. Adamkiewicz:
die grosse Genauigkeit der hier angewandten Methode und
steigert den Werth der durch sie gewonnenen positiven Er-
gebnisse.
Aus der Bestimmung der Grenzwerthe des circulatorischen
Wärmeäquivalentes hat sich ergeben, dass dasjenige der nor-
malen Circulation bei mittlerer Hauttemperatur nahezu zwischen
beiden in der Mitte steht. Es lässt sich daraus vermuthen,
dass die Curve der negativen Werthe von derjenigen der posi-
tiven in ihrem Gang nicht sehr abweichen und vielleicht nur
um ein Weniges gestreckter verlaufen werde, als sie. Unter
dieser Voraussetzung wäre die Annahme gestattet, dass gleiche
durch den Wechsel der Umgebungstemperatur erzeugte Ab-
weichungen der Hauttemperaturen von der normalen mittleren
auch gleiche circulatorische Wärmewerthe mit verschiedenen
Vorzeichen haben werden. Da nun unter gewöhnlichen Ver-
hältnissen solche Temperaturschwankungen der Haut über die
Grenzen zweier Grade zu beiden Seiten der normalen mittleren
Temperatur nicht zu treten pflegen, so dürfte mit Rücksicht
auf das festgestellte calorische Aequivalent einer Hautwärme
von 38° wol geschlossen werden, dass die Schwankungen der
Wärmeabgabe von Seiten der Haut für gewöhnlich sich inner-
halb der Grenzen des um 14 pCt. vermehrten oder verminderten
normalen Wärmeverlustes multiplieirt in den Quotienten der
bekannten beiden Temperaturdifferenzen halten. Das kann
selbstverständlich nur soweit gelten, als nicht von den Tempera-
turen unabhängige Schwankungen in der Grösse der peripheri-
schen Strombahn vorkommen.
Der regulatorische Werth der circulatorischen
Leistung.
Die empirisch gefundene Höhe der circulatorischen Leistun-
gen gibt auf die Frage ihres regulatorischen Werthes unmittel-
bar noch keine Antwort. Dieselbe kann erst aus dem Verhält-
niss deducirt werden, in welchem jene Leistungen zu den
Forderuugen einer absoluten Temperaturconstanz stehen.
Nimmt man an, dass die Wärmebildung zu allen Zeiten
sich in den gewöhnlichen Grenzen befindet und sich nicht
„reactiv* ändert, so kann man diese Forderungen ziffermässig
Mechanische Principien der Homöothermie. 295
feststellen, indem man diejenige Wärmemenge berechnet,
um welche die durch die jedesmal vorhandene Temperatur-
differenz zwischen Körper und Umgebung bestimmte Grösse
des Wärmeverlustes zu- oder abnehmen muss, um stets die
normale bei einer Temperaturdifferenz von 20° vorhandene Höhe
zu erreichen.
Durch die Gleichung
EN A
(et om).
ist der zu suchende Werth (x) nach Procenten der normal
abgegebenen Wärmemenge ausgedrückt, sobald für a .diese
Wärmemenge und für d die Temperaturdifferenz zwischen Kör-
per und Umgebung eingesetzt wird.
Man erhält die Grenzwerthe der von einer absoluten Tempera-
turconstanz an die regulatorischen Leistungen gestellten Forde-
rungen, wenn man für d die grösste und die kleinste über-
haupt mögliche Temperaturdifferenz zwischen Körper und Umge-
bung einführt. Nun können + 30° und — 30° Cels. als die ge-
wöhnlichen Temperaturgrenzen unserer Zone gelten. Setzt man
daher voraus, dass die in ihren Temperaturen so labile Haut
bei der höchsten Umgebungstemperatur sich schnell bis auf 39°
erwärmt und bei der niedrigsten Umgebungstemperatur ebenso
schnell sich auf 30° abkühlt, so würde die kleinste überhaupt
mögliche Temperaturdifferenz zwischen Körper und Umgebung
9 und die grösste 60° betragen.
Dann ist das positive Aequivalent der regulatorischen
Leistung, — der Zuwachs von Wärme, welcher den bei der
kleinsten Temperaturdifferenz gegebenen sehr kleinen Wärme-
verlust der Körperoberfläche bis zur normalen Höhe erhebt, —
durch das r der Gleichung
& b)
ausgedrückt, während der Werth für das negative Aequi-
valent derselben Leistung, — für diejenige Grösse, um welche
der bei der grössten Temperaturdifferenz sehr gesteigerte Wärme-
verlust kleiner werden muss, um wieder zur Norm zurückzu-
kehren, — aus der Gleichung
(38236 + 88236
296 == A. Adamkiewicz:
60
(88236 — 88256 10) 0 on = 88236
folst.
Dort ist «= 122 und hier x = 666. i
Daraus folgt, dass die Temperaturconstanz des mensch-
lichen Körpers regulatorische Leistungen fordert,
die im höchsten Fall die Wärmeabgabe des Körpers
um 122 pCt. des normalen Wärmeverlustes zu steigern
und um 666 pCt. desselben Verlustes herabzusetzen
im Stande sein müssen.
Die Vorgänge der Circulation leisten das nicht, da sie die
Wärmeabgabe der Körperoberfläche nur um 30 pCt. des normalen
Wärmeverlustes zu erhöhen und um 25 pCt. desselben zu ver-
ringern vermögen.
Diese Tnatsache entspricht vollkommen der Natur der
eirculatorischen Vorgänge als der feineren Einstellungsmechanis-
men. Solche Mechanismen vollführen nie den Effect des ge-
sammten nothwendigen Excurses einer gegebenen Bewegung,
sondern beschränken sich stets auf einen Theil desselben.
In der Muskelfunction und der Ernährung einerseits, in
der directen Wärmeabgabe an die Umgebung, in der Wasser-
verdunstung und der Respiration sind anderseits die Momente
gegeben, welche die allgemeine, grobe Einstellung der Körper-
temperaturen bewirken.
Von principieller Bedeutung aber sind jene Resultai weil
sie lehren, dass die Vorgänge der Regulation den lebenden
Körper viel weniger vor Wärmestauung, als vor zu grossem
Wärmeverlust schützen. Das positive Aequivalent der von
Seiten der Blutströmung geleisteten Regulation entspricht nur
dem vierten Theil des für die Temperaturconstanz nothwendigen
Bedürfnisses, das negative Aequivalent derselben aber der
Hälfte. ‚Wenn es nun wahr ist.„dass der lebende Kör-
per den weit höheren Erfordernissen für die Ver-
meidung der Wärmestauung durch natürliche Vor-
Sänge ohne Zuhilfenahme einer reactiven Kälte-
bildung genügt, dann muss man auch consequenter
Weise annehmen, dass ein Bedürfniss desselben,
Mechanische Prineipien der Homöoth ie, > I
NA,
Wärme reactiv zu bilden, überhaupt ga. nicht/vötry,
liegt. m
Denn es bleiben selbst dann die Anforderungen der
Temperatureonstanz an die Leistungen des thierischen Organis-
mus bei den höchsten Temperaturen der Umgebung grösser als
bei den niedrigsten, wenn man die bei hohen Temperaturen
der Umgebung durch gesteigerte Wasserverdunstung stattfindende
Vermehrung des Wärmeverlustes in Rechnung zieht. Denn sie
beträgt nur etwa 25 pCt. der normal abgegebenen Wärmemenge.
Führt man in die beiden Gleichungen für x die Grenz-
werthe des circulatorischen Aequivalentes ein, so lehrt die
Berechnung von d das interessante Factum kennen, dass durch
die Vorgänge der Circulation allein eine vollständige Com-
pensirung der durch dieSchwankungen der Umgebungstemperatur
bewirkten Aenderungen in der Wärmeabgabe erzielt werden,
so lange die Temperatur der Umgebung derjenigen der Körper-
oberfläche sich von 20° bis auf 15° nähert und von 20°
bis auf 26°6° von ihr entfernt.!) Sie entsprechen demnach
den Forderungen der Temperaturconstanz nur für das Differenz-
intervall zwischen Körper und Umgebung von 11°6 Graden. Und
auch diese beschränkte Regulation findet nur dann statt, wenn
vorausgesetzt wird, dass innerhalb des Bereiches des genannten
Intervalles das Maximum und das Minimum des variabeln Factor
der Wärmeabgabe fällt.
Man kann daraus die Rolle ermessen, die den übrigen
die Körperwärme beeinflussenden Momenten noch aufdie Tempera-
tureonstanz zukommt: der Art der Ernährung, der Intensität
der Muskelbewegung, der Grösse der Wasserverdunstung und
dem Modus der Bekleidung. Auf die Bedeutung der letzteren
weist die Natur selbst hin, indem sie die Dichte und Stärke
des Pelzes der im Freien lebenden Thiere im Sommer und im
Winter den Bedürfnissen entsprechend verändert.
. 1) Mit diesem Resultat stimmen die Ergebnisse der Beobachtungen:
Senator’s (Centralblatt f. d. med. Wissschftn. 1868. S. 708) gut
überein, der das Regulationsvermögen des Menschen Temperatur-
schwankungen der Umgebung von nur 8 bis 10 Graden Cels. über-
winden gesehen hat.
298 A. Adamkiewiecz:
Was die Regulation absolut leistet, lässt sich am besten
an den Folgen eines regulatorischen Mangels erkennen.
Bei der kleinsten Temperaturdifferenz zwischen Körper
und Umgebung von 9° wird der stündliche Wärmeverlust eines
82 Kgr. schweren Menschen dem Newton’schen Gesetz zu
Folge von 88236 Calorien auf 39706 Calorien vermindert. und
bei der grössten Differenz von 60° auf 264708 Calorien erhöht.
Denken wir uns nun einen lebenden menschlichen Körper von
dem genannten Gewicht frei von allem Vermögen der Wärme-
regulation und seine Temperatur nur so lange constant, als
das normale mittlere Temperaturverhältniss zwischen ihm und
Umgebung vorhanden ist, dagegen veränderlich, wenn dieses
Verhältniss gestört wird; dann würde man die Folgen jenes
hypothetischen Mangels gefunden haben, sobald die Zeit be-
stimmt ist, innerhalb welcher die bezeichneten Störungen der
Wärmeabgabe den lebenden Körper tödteten.
Die höchste Körpertemperatur, die sich noch mit den
Lebensfunctionen des menschlichen Organismus verträgt, liegt
etwa 4° über der normalen und die niedrigsten Temperaturen,
die man in einigen Fällen am lebenden Menschen beobachtet
hat, befanden sich etwa 5°') unter derselben. Da der Wasser-
werth eines 82 Kgr. schweren menschlichen Körpers gleich
63058 ist, — ich setze die Wärmecapacität der gesammten
Körpermasse derjenigen des Muskel 0769?) gleich —, so lässt
sich aus den oben angeführten Zahlen mit Leichtigkeit finden,
dass der bezeichnete Körper in einer Umgebung von + 30° Cels.
im Verlauf von 5 Stunden und in einer Umgebung von
— 30° Cels. in 1 Stunde tödtliche Temperaturänderungen erfahren
müsste.
Genauer lässt sich dieses Resultat durch exactere Rechnung
wiederfinden.
Es soll die Oberfläche des Körpers die Temperatur r und
die Umgebung die Temperatur r haben. Wenn a die Zahl von
Calorien bedeutet, welche die Körperoberfläche bei der Tempera-
turdifferenz 7—-r in der Zeit ? an die Umgebung abgiebt; so
1) Vig. Liebermeister: Hdb. der Pathol. u. der Therapie des
Fiebers. Lpzg. 1875. S. 69.
2) A. Adamkiewicz: Die Wärmeleitung des Muskels. A. a. 0.
Mechanische Principien der Homöothermie. 399
bleibt die in dem sehr kleinen Zeitraum At von dem Körper
verlorene Wärmequantität aAt so lange dieselbe, als r und r
sich nicht ändern. Wächst nun plötzlich die Umgebungstempera-
tur um s Grade, oder kühlt sie sich plötzlich um s Grade ab,
so muss die re des Körpers in der Zeit AZ im ersten
Fall auf die Grösse @* “ At sinken und im zweiten Fall
auf die Grösse a ——. en At sich erheben. In Folge dessen
werden in derselben Zeit vom Körper dort (?-a — 2) At
—r+s
T—r
_ a) At Calorien
über das gewöhnliche Maass ausgegeben. Jenes Wärmequantum
erhöht die Temperaturen des Körpers, dieses setzt sie herab.
Und wenn wir den Wasserwerth des Körpers mit A bezeichnen,
ist AG® a’ =) At der bei der San stattfindende Zu-
wachs und (die negative Grösse) rn (a -—a” Zi —) At derdurch
Calorien zurückgehalten und hier (a!
die vermehrte Wärmeabgabe veranlasste Abfall dbagalten,
Für den lebenden thierischen Körper ist es charakteristisch,
dass seine beiden inneren Zonen bei der Erwärmung, wie bei
der Abkühlung des gesammten Körpers gleichmässig ihre
Temperaturen ändern.!) Da das Endresultat*) solcher Tempera-
turänderungen auch in der äussersten Körperzone dem der
inneren Schichten gleich ist, so darf ohne Schädigung des
Resultates die für die Rechnung nothwendige Annahme gemacht
werden, dass auch die Temperaturänderung der Haut von vorn-
herein mit der der inneren Schichten Schritt hält. Daher kann
die allgemeine Temperaturänderung des Körpers an der-
jenigen der Haut gemessen werden. Aendert sich demnach
die Temperatur r der letzteren unter den bezeichneten Bedingun-
gen um + Ar in der Zeit At, so gibt Ar auch die unter den-
selben Bedingungen eintretende Temperaturänderung der ganzen
Körpermasse an, und es ist
kei r—-ris
zl(e-a =) At=Ar.
Wenn man sich den ganzen Vorgang continuirlich ab-
1) Die Analogienzum Dulong-Petit’schen Gesetz u.s. w. A.a. 0.
S.119.
2) Vgl. ebenda S. 134 Anm.
300 A. Adamkiewicz:
nehmend vorstellt bis die Zeit- und Temperaturwerthe unend-
lich klein werden, dann resultirt aus der vorstehenden Relation
die Differentialgleichung
as
+
Ar-—
dt= dr
r
= dt=(r—-r) dr und durch Integration
derselben
2as
= nee + Const.
Der Werth der Constanten ist durch die Temperatur z,
zur Zeit {=o bestimmt, und es ist daher
ne) - N?=@Hr- Dez
Wird für « diejenige Wärmemenge gesetzt, welche die
Oberfläche eines lebenden Körpers unter normalen Temperatur-
verhältnissen zwischen ihm und Umgebung während Einer Stunde
an letztere verliert, so giebt der berechnete Werth von £ die
Zeit in Stunden an, innerhalb welcher in diesem Körper eine
tödtliche Temperaturerhöhung oder Temperaturerniedrigung ein-
treten müsste, wenn jenes Verhältniss plötzlich unterbrochen
würde und wenn der Organismus unfähig wäre, den Gefahren
einer solchen Unterbrechung durch regulatorische Vorgänge
vorzubeugen.
Für einen menschlichen Körper von 82 Kgr. Gewicht
‘findet man daher unter derselben Voraussetzung die Stunden-
zahl, innerhalb welcher er in einer Umgebung von + 30 Graden
und 30 Graden lethale Temperaturgrenzen erreichte, wenn .
man in die oben abgeleitete Gleichung r,= 35, r = 15, a = 88236,
A=63058 und in dem Fall der Wärmestauung r=39 und
s=15 und in dem andern Fall der Abkühlung r=30 und
s-=45 setzt.
Nach dieser Substitution der einzelnen Grössen wird für
die Temperaturerhöhung
t=num. log. 0'62248=4'2 und
für die Temperaturerniedrigung
t= num. log. 0:1450 = 1:4.
Königsberg, März 1876.
a
Br
1876.
’ rchrw flnat u Phyf-
Taf: UN,
7
Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum.
Von
Dr. Lupwıs LoTZE.
Aus Göttingen.
(Hierzu Tafel VII B.)
Ueber die Frage, in welcher Weise das Wachsthum der
Knochen erfolge, haben zahlreiche und werthvolle Untersu-
chungen zu einem allgemein anerkannten Abschluss noch nicht
geführt; noch immer stehen über diesen räthselhaften Vorgang
zwei entgegengesetzte Ansichten einander gegenüber. Die eine
Auffassung, durch Kölliker, Maas, Lieberkühn, Wegner
und andere vertreten, lässt den Knochen an Länge und Dicke
durch Auflagerung neu gebildeten Gewebes zunehmen, seine
typische Form aber durch entsprechende Resorption der schon
vorhandenen Substanz bewahren; die andere, von Strelzoff,
J. Wolff und anderen aufrecht erhalten, glaubt das Wachs-
thum der Knochen dadurch herbeigeführt, „dass die einzelnen
Knochenbälkchen unter Beibehaltung ihrer Oertlichkeit und
Richtung durch Expansion immer länger und dicker werden“.!)
Die Geschichte dieser Untersuchungen ist in den aus-
führlichen Arbeiten Köllikers?) und Strelzoffs?) eingehend
behandelt.
1) Zur Knochenwachsthumsfrage von Dr. Julius Wolff. Vir-
chow’s Archiv 61. Bd. 4. H. S. 428.
2) Kölliker, Die normale Resorption des Knochengewebes und
ihre Bedeutung für die Entstehung der typischen Knochenformen. 1873;
3) Strelzoff, Eberth, Untersuchungen aus dem pathol. Institut
zu Zürich.
302 L. Lotze:
Wenn ich nun mir erlaube, zu der Lösung dieser Frage
einen kleinen Beitrag zu versuchen, so motivire ich mein Un-
terfangen damit, dass ich schon vor dem Erscheinen der
Schriften von J. Wolff!) und Wegner?) auf Anrathen meines-
verehrten Lehrers des Hrn. Professor W. Krause den Du-
hamelschen Nagelversuch im Juni 1874 angestellt habe. Aus
der Wolff-Wegner’schen Controverse glaube ich ausserdem
nehmen zu dürfen, dass es nicht ganz überflüssig sei, diesen
Versuch zu wiederholen. Ich dachte dabei nicht, in der Menge
der Experimente Sicherheit für die Richtigkeit der zu erlan-
genden Ergebnisse suchen zu müssen und habe mich darauf
beschränkt, einige ganz genaue Messungen nach Duhamel
auszuführen, von denen ich hoffen darf, dass sie, nach einer
Richtung hin wenigstens, gerechten Anforderungen genügen
werden.
Meine Versuchsthiere waren durchweg französische Ka-
ninchen (Lapins), die mir der Grösse und des schnellen Wachs-
thums wegen geeigneter schienen als unsere deutschen.
Der Versuch wurde folgendermaassen ausgeführt. Das Thier
wurde auf dem Rücken liegend auf ein Öperationsbrett in ge-
wohnter Weise an den vier Beinen angezogen festgebunden.
Sodann durchschnitt ich in geringer Ausdehnung die Haut am
Unterschenkel und zwar so, dass ich den Knochen der Tibia
dicht unter der Tuberositas hart an der Crista auf etwa 5 Mm.
sehen konnte. Hier liegt der Knochen so nahe unter der Haut,
dass man weder Muskeln noch grössere Gefässe verletzen kann.
Blutung trat daher auch bei keinem der operirten Thiere ein.
Hierauf bohrte ich mit einem ganz fein zugespitzten Pfriemen
an der erwähnten Stelle ein und drückte in dieses vorgebohrte
Loch einen mit einem feinen Köpfchen versehenen Stift von
reinem in Feuer gehärtetem Silber. Ebenso machte ich es am
unteren Ende der Tibia, wo medianwärts von der Crista am
unteren Dritttheil der Tibia eine Stelle des Knochens frei von
Sehnen dicht unter der Haut liest. Bevor ich die Hautwunden
1) Virchow’s Archiv 61. Bd. H. 4.
2) Virchow’s Archiv 61. Bd. H. 1.
ab N LA
BE LTR
Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 303
schloss, machte ich die Messungen der Abstände der beiden
Nägelköpfe mit Hülfe von Cirkel und Massstab. Letzterer war
in Millimeter getheilt und geringere Grössen wurden geschätzt,
da diese Schätzung nach Wilh. Weber richtigere Resultate
geben soll, als wenn man sich eines in Zehntel Millimeter ab-
getheilten Massstabes bedient. Solcher Messungen machte ich
sechs an jedem Thiere, nahm von ihnen den Durchschnitt und
liess diesen als annähernd richtigen Messungswerth gelten.
Ferner mass ich, um doch einigermassen die Länge der Tibia
zur Zeit der Operation zu kennen, diese beim lebenden Thiere
über dem Fell. Da aber diese Bestimmung nicht ganz genau
sein konnte, so wurde versucht, nachdem das betreffende
Thier wie gewöhnlich an der rechten Tibia genagelt war, die
linke durch Amputation im unteren Drittheil des Femur als
genaues Maass der genagelten zu bekommen, da man wohl
annehmen kann, dass bei einem gesunden Thiere beide zu
jeder Zeit gleich lang sind. Leider vertrugen beide Versuchs-
thiere die Amputation nicht, obwohl dieselbe mit allen Cau-
telen gemacht war.
Die Einführung der Nägel vertrugen die Thiere ganz gut,
und traten gleich mit dem genagelten Beine fest auf; auch
habe ich bei keinem in der Folge irgend eine pathologische
Veränderung wahrgenommen; ihre Grösse nahm, bei guter
Fütterung, bedeutend zu, und sechs Monate nachher durfte
ich annehmen, dass die Knochen hinreichend gewachsen sein
würden, um, wenn der Knochen sich gedehnt hätte, einen
messbaren Ausschlag der Nägeldistanz zu geben.
Ich tödtete nun das zuerst (28. 6.74) operirte Thier am
15. 11. 74.
Der Abstand der Nägel ergab genau dieselbe Entfernung
wie vor fünf Monaten. Ebenso liessen sich bei sämmtlichen
folgenden Thieren, die ich in kurzen Zwischenräumen tödtete,
die Nägel in unveränderter Lage erkennen. Die Entfernung
der beiden Nägel betrug bei einem Thiere beispielsweise am
3. 7, 74 in 6 Messungen:
304 L. Lotze:
1. Messung 39:7 Mm. )
2.0 — 401 — )
3. — 398 — Im Durchschnitt:
4,0 — 399 — | 39'9 Mm.
I. 40.0 — |
6 — AUT
am 22. 11. 74 in 6 Messungen:
1. Messung 39:9 Mm. )
2. — 401 — )
I. 40.0 — | Im Durchschnitt:
4. — 398 — [ 39'9 Mm.
I KA
6. — Ahr
Diese Messungen, auf deren sehr geringe Schwankungen
ich noch zurückkomme, überzeugen mich vollständig, dass bei
allen diesen Versuchsthieren und während der beobachteten
Wachsthumszeit kein einziges Mal Zunahme der ursprüngli-
chen Entfernung der Nägel, also auch keine Längenexpansion
der von ihnen eingegrenzten Knochenpartie stattgefunden hat.
Sie können freilich nicht ohne weiteres beweisen, dass über-
haupt Expansions-Wachsthum in den Knochen nirgends und
niemals vorkomme. Im Allgemeinen würde die Theorie die-
ses expansiven Wachsthums drei verschiedene Behauptungen
aufstellen können. Sie könnte zuerst meinen, der Knochen
dehne sich in allen seinen Theilen und während seiner
Wachsthumszeit überhaupt zu jeder Zeit gleichmässig aus,
bis er seine normale Länge erreicht hat; diese erste An-
nahme halte ich allerdings für unverträglich mit meinen Mes-
sungen und sie gilt mir durch diese widerlegt.
Man könnte aber zweitens sich vorstellen, die Ausdeh-
nung des Knochens erfolge zwar in allen Theilen und in jedem
Abschnitt der Wachsthumsdauer, aber nicht gleichmässig,
sondern nach Ort und Zeit verschieden. Es könnte endlich
drittens vermuthet werden, der Knochen dehne sich in einigen
Theilen nur bis zu einer gewissen Zeit aus, bleibe von
da an in diesen unverändert, während er in anderen Theilen
in der vorigen Weise fortwächst, vielleicht auch in ihnen sich
Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 305
noch energischer dehnt. Die beiden letzteren Annahmen hätten
wir noch zu überlegen.
Nach der zweiten würde sich der Knochen zwar in sei-
ner ganzen Länge, aber ohne Zweifel in der Mitte der Dia-
physe am wenigsten und an den Enden derselben am stärk-
sten ausdehnen. Dann muss bei der erwähnten Art des Ver-
suches eine Zunahme der Nägeldistanz erfolgen, wo auch die
Nägel angebracht sein mögen; aber in der Mitte der Diaphyse
wird dieser Ausschlag geringer sein und zwar um so geringer,
je kleiner die ursprüngliche Distanz der Nägel gewählt
wurde. War diese Distanz sehr klein und befand sie sich zu-
gleich nahe der Mitte der Diaphyse, so würde ein Ausschlag,
der immerhin noch stattfinden könnte, sich einer Messung mit
gewöhnlichen Hülfsmitteln entziehen.
Umgekehrt wird der Ausschlag grösser, wenn die Nägel
nach den Enden der Diaphyse aus einander rücken und dies
wird um so mehr geschehen, wenn die Expansion selbst von
der Mitte der Diaphyse an nach der Epiphyse hin stärker wird.
Auch diese zweite Annahme kann ich mit meinen Ver-
suchen nicht vereinigen. Die Orte der Nagelungen waren von
der Mitte der Diaphyse weit entfernt, ihre Distanz sehr be-
trächtlich. Wenn dennoch nach hinlänglicher Wachsthums-
zeit keine Aenderung in der Stellung der Nägel eingetreten
war, so kann die ganze zwischen ihnen liegende Diaphyse
entweder gar keine oder nur eine so minimale Längenausdeh-
nung erfahren haben, dass sie innerhalb der Messungsfehler-
grenzen liegen würde.
Die dritte Annahme würde man ohne Zweifel so formu-
liren, dass in der Mitte der Diaphyse die Expansion am
frühesten aufhört und nach den Enden derselben zu, gleichviel
ob mit constanter oder vermehrter Energie, längere Zeit fort-
dauert. Denn das umgekehrte, dass sie in der Mitte nur
noch lebhafter würde, ist gegenüber obigen Messungsresul-
taten unhaltbar. Wäre es nun so, so könnte es allerdings ge-
schehen, dass man bei dem Versuch blos deshalb keinen
Ausschlag bekomme, weil man durch die Nägel gerade eine
Partie eingegrenzt hätte, die ihr Wachsthum vollendet hätte,
Beichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1576. 20
306 L. Lotze:
Allein auch dieser Einwurf gilt unseren Versuchen nicht, da
wir fast die ganze Diaphyse zwischen den Nägeln eingeschlos-
sen hatten. Man würde also nur noch einwenden können,
dass während der von uns beobachteten Wachsthumszeit die
Expansion wirklich blos noch jenseits dieser Grenzen stattge-
funden habe, was denn ziemlich darauf hinaus liefe, dass sie
eben nur in der Nähe der Epiphysen überhaupt geschieht.
Denn unsere Versuche fingen bei vierwöchentlichen Kanin-
chen an und endigten nach vollständigem Wachsthum. Oder
endlich: man würde behaupten müssen, in den ersten vier
Wochen expandiren sich die Diaphysen, von da aber tritt
jedenfalls die Art des Wachsthums ein, welche ich in dieser
Abhandlung nachzuweisen unternommen habe.
Fehlerquellen, welche meine Versuche unschlusskräftig
machten, kann man vier anführen. Die erste, ungenaue Mes-
sung, glaube ich vermieden. Nähmen wir aus den sechs oben
angeführten ersten Messungen die grössten und aus den sechs
zweiten die kleinsten Zahlen, so betrüge die Differenz, die
eine etwa stattgefundene Ausdehnung der Diaphyse zwischen
den Nägeln bedeuten würde, nur 04 Mm. Da der ganze
Knochen sich von 8Cm. auf 11 ausgedehnt hatte, so würden
jene 0'4Mm. noch nicht 2pCt. der ganzen Ausdehnung betra-
gen, d. h. einen so kleinen Theil, dass selbst dann, wenn er
wirklich direct beobachtet worden wäre, er noch immer in-
nerhalb der Grenzen annehmbarer Beobachtungsfehler fallen
würde.
Die zweite Quelle der Fehler könnte darin liegen, dass
die Nägel sich gelockert hätten, verschoben oder heraus ge-
fallen wären oder dass sie dem etwa stattfindenden Wachs-
thum nicht nachgefolgt wären. Ueber die letzteren Punkte
muss ich später sprechen. Auch ein Herausfallen ‚und eine
Verdeckung der Nägel durch überwachsende Knochensubstanz
ist mir einmal oder zweimal begegnet; allein es war immer
möglich, auch in diesen Fällen die Messungen mit gleichem
Erfolge an den Löchern, wo die Nägel gesessen hatten, oder
nach Abfeilung der bedeckenden Knochenwucherung an ihnen
selbst vorzunehmen,
Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 307
Der dritte Fehler würde zu geringe Distanz der Nägel
gewesen sein. Ich habe schon hinlänglich erwähnt, dass ich
im Gegentheil sehr weite Entfernungen wählte, nur die Sorge,
das Gelenk zu afficiren, bewog mich dazu, die Tub. tibiae
als Grenze anzunehmen, über die ich nicht näher an die
Epiphyse gehen wollte. In derselben Entfernung hielt ich
mich an dem unteren Ende der Tibia von dem Gelenke. Die
gewählten Zwischenweiten der Nägel betrugen in Mm.: 48:7;
48:2; 51:8; 39:9; 43:3; 40:6; 556; 51'1; 55°6; 590; 546,
37:5; 343; 34:0; 37-6; 41:1; 40'2,
Die vierte Fehlerquelle würde die Wahl zu alter Ver-
suchsthiere sein. Es könnte sein, dass bei diesen eine früher
vorhanden gewesene Expansion der Diaphyse bereits aufgehört
hätte und auch bei weiten Abständen der eingeschlagenen
Nägel nur noch jenseits derselben fortdauerte. Ich läugne
nicht, dass, wie man an den vorhin angeführten Zahlen sieht,
einige meiner Versuchsthiere älter waren als wünschenswerth
ist, allein die an ihnen gemachten Beobachtungen sind doch
ganz übereinstimmend mit denen, die an hinlänglich jungen
Thieren gemacht wurden.
Soll man berechtigt sein, aus derartigen Versuchen einen
bestimmten Schluss zu ziehen, so sind einige Kenntnisse über
die Grössen nothwendig, welche die Knochen der Versuchs-
thiere zu verschiedenen Zeiten haben. Ich vermisse hierüber
genaue Aufzeichnungen sowohl bei J. Wolff als bei Wegner
und glaube, dass die Richtigkeit der Wegner’schen Versuche
auch für J. Wolff weniger zweifelhaft gewesen sein würde,
wenn jener diese Zahlen mit Genauigkeit zu geben im Stande
gewesen wäre. Andrerseits würde J. Wolff auf die minima-
len, von ihm gefundenen Ausschläge weniger Gewicht gelegt
haben, wenn er die relativen Grössen des wachsenden Thier-
knochens mit ihnen verglichen hätte.
Unerlässlich scheint mir, wenigstens zu wissen, welche
Länge die Tibia kurz nach der Geburt hat, dann diejenige
zur Zeit des Experimentes und schliesslich noch die nach
vollendetem Wachsthum des Versuchsthieres oder seiner Spe-
cies,. Nur dann wird man beurtheilen können, ob etwa er-
2055
308 L. Lotze:
haltene Ausschläge überhaupt zu berücksichtigen oder zu
vernachlässigen sind.
Die drei oben geforderten Zahlen betragen nach meinen
Messungen für das neugeborene Kaninchen 34Mm.; für das-
selbe zur Zeit des Experimentes je nachdem 50 — 80 Mm.; für
das ausgewachsene 117 Mm.
Die Tibia des neugeborenen Kaninchens war die eines 5
Tage alten Thieres; die Tibien zur Zeit des Experimentes
gehörten 4—6 Wochen alten an und der Knochen, welcher
eine Tibia eines ausgewachsenen Thieres darstellt, ist von
einem französischen Kaninchen, welches 1'!/, Jahr nach dem
Duhamel’schen Versuche leben bleiben durfte.
Ich weiss nicht, ob es irgendwo sichere Angaben
giebt, welche die Zeit genau bestimmen, innerhalb welcher
das Wachsthum kleinerer Säugethiere resp. der Knochen de-
finitiv abgeschlossen ist; jedenfalls scheint mir diese Frist von
1!/, Jahren nicht zu niedrig gegriffen zu sein. Wenn nun
auch diesen letzten so wie den ersten Zahlenwerth genau zu:
wissen wichtig ist, wie ich nachher zeigen werde, so ist doch
natürlich der zweite von ganz besonderem Interesse. Ihn
beim lebenden Thiere genau zu erhalten ist mit gewöhnlichen
Hülfsmitteln unmöglich. Der einzig mögliche Versuch hierzu,
nämlich durch Amputation im unteren Dritttheil des Femur
in der abgetrennten und unversehrten Tibia die genaue Länge
der anderen mit Nägeln versehenen zu bekommen, schlug
fehl, weil die Amputation zum Tode der Versuchsthiere führte.
Ich habe den Versuch deshalb nicht weiter wiederholt, weil
mir aus dem ganzen Hergange ersichtlich wurde, dass der
Eingriff zu gewaltsam war, und dass sich nicht erwarten
liess, dass trotz aller Vorsicht bei diesen jungen schwachen
Thieren ein günstiger Verlauf einmal eintreten könnte.
Trotzdem sind jene beiden Versuchsthiere für die ganze
Untersuchung nicht verloren gewesen. Denn wenn ich auch
darauf verzichten muss, mit den betreffenden Tibien ein und
desselben Thieres das genaue Mass der Knochenlänge zur
Zeit des Experimentes und auch nach vollendetem Wachsthum
zu besitzen, so sind sie dennoch ein brauchbares Material für
nn
Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 309
die annähernd genaue Bestimmung der gesuchten Zahl, wie
ich im Folgenden zu beweisen hoffe.
Ich habe nämlich jedesmal zum Experiment einen Wurf
junger Kaninchen genommen. Bekanntlich sind diese zusam-
mengehörigen Thiere meist von gleicher Grösse und sind also
ihre Knochen annähernd gleich lang. Diese in meinem Falle
nach blossem Augenmass als gleich erachtete Körpergrösse
wurde auch durch die Messungen über dem Fell bestätigt.
Diese Messungen, die zwar zeigten, dass Längendifferenzen
der verschiedenen Tibien vorhanden waren, sollen allein nicht
beweisführend für die obige Behauptung sein, wenngleich
man so kleine Unterschiede noch in den Bereich der Fehler-
quellen rechnen dürfte. Denn es kommt für sie noch folgen-
der Thatbestand stützend hinzu. An den unmittelbar nach
einander amputirten Tibien zweier Thiere nämlich konnte ich
sofort constatiren, dass sowohl meine Schätzung und An-
nahme der gleichen Grösse sowie auch meine Messung über
dem Fell genaue Resultate geliefert hatte. Denn am so-
gleich präparirten Knochen zeigte sich noch deutlicher, dass
die Tibien beider Thiere als gleich gross anzusehen waren;
die eine mass 81 Mm., die andere mass 80 Mm. Da nun an
zwei Thieren der Beweis für meine obige Annahme geliefert
ist, so halte ich es für unbedenklich, ihn auch für die ande-
ren Thiere desselben Wurfes als geführt anzusehen.
So glaube ich denn mit den Tibien der amputirten Ka-
ninchen das absolute Längenmass der Tibia zur Zeit des Ex-
perimentes zu besitzen. Ich nehme von den beiden Zahlen
die grössere, also 51 Mm an.
Von den übrigen zum nämlichen Wurfe gehörigen Thie-
ren besass eines eine Tibia, deren Länge über dem Fell zu
83 Mm. gemessen war, also genau gleich lang denen der am-
putirten (85 und 87 Mm. über dem Fell gemessen) zu
setzen ist.
Nach 6 Monaten zeigte das getödtete Thier eine Tibia
von 110 Mm., mithin hat die Länge derselben unzweifelhaft
um 29 Mm. zugenommen.
Aus dem Gesagten geht also zur Genüge hervor, dass
ar.
310 L. Lotze:
der Röhrenknochen des kleineren Säugethieres nicht durch Ex-
pansion seine Längenzunahme gewinnt, und es bleibt mir nichts
übrig, als für das doch unleugbare Wachsthum des Knochens
die andere Theorie anzunehmen, die allein sich mit Resultaten
der Experimente vereinigen lässt: die Theorie der Apposition
und Resorption.
Sie erklärt es, das keine Distanzvermehrung der Nägel-
weiten auftreten konnte, eben weil keine Expansion vorhanden
war, die Längenzunahme erhält der Knochen lediglich durch
die appositionelle Thätigkeit des Intermediärknorpels, sowie er
die Wahrung seiner typischen Form den bestimmt erfolgenden
Resorptionen verdankt. Auf welche Weise und an welchen
Stellen diese letzteren vor sich gehen, ist am genauesten in der
oben eitirten Arbeit Köllikers zu ersehen. Ich werde jedoch
noch am Ende meiner Arbeit auf diese Frage zurückkommen.
Meine Duhamel’schen Versuche haben also ein negatives
Resultat gegeben; doch steht dieses nicht allein.
Wegner!) Lieberkühn?) und Maas?) haben die Unmög-
lichkeit eines Expansionswachsthums gleich schlagend dargethan;
sie haben erstens alle unveränderte Nägelzwischenweiten bei con-
statirt zugenommenem Längenwachsthum gefunden, ebenso haben
sie alle die Wichtigkeit der Intermediärscheibe erkannt, und
hat Jeder von ihnen nach seiner Weise und doch in Ueberein-
stimmung mit den Resultaten der Anderen ihre appositionelle
Thätigkeit bewiesen und zweitens haben sie auch für das Dicken-
wachsthum Apposition und Resorption als nothwendig und wirk-
lich vorhanden bewiesen.
Diesen Entscheidungen glaube ich nach dem Ergebnisse
meiner Versuche mich anschliessen zu müssen. ’
Man hat die vollständige Widerlegung der einen oder der
anderen Theorie bis jetzt allgemein anstandslos auf Grund dieser
Duhamel’schen Versuche geben zu können geglaubt, die für
1) Virchow’s Archiv Bd. 61. H. 1.
2) Zur Lehre vom Knochenwachsthum von Lieberkühn (Vor-
trag gehalten am 6. März 1872.)
3) Zur Frage über das Knochenwachsthum von Dr. H. Maas.
Betrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 311
fundamentale galten und deren Werth zur Beantwortung der Frage
nur durch die jeweilige Art des Experimentes bald mehr bald
minder gewichtig in die Wagschale fiel. Die genannten W eg-
ner, Lieberkühn und ‚Maas haben sich daher auch nicht
enthalten, darauf hin die Expansion nicht nur für den Thier-
knochen, sondern überall für unmöglich zu erklären, und in der
That scheint mir, dass man höchstens auf Grund pathologischer
Anschauungen, die doch ihrer Natur nach vieldeutige Vorgänge
betreffen, die Beweiskraft der von ihnen ausgeführten Versuche
in Zweifel ziehen könnte.
Der einzige, so viel ich weiss, ist J. Wolff, der gestützt
auf eine grosse Anzahl von Beobachtungen und Experimenten
das Wachsthum durch Expansion für den fertigen Knochen
dennoch in Ansprnch nehmen zu müssen glaubt und selbst die
Möglichkeit eines theilweisen Appositions- und Resorptions-
wachsthums ausgeschlossen zu sehen wünscht. Er urtheilt so,
weil er aus 1. der rein anatomischen Betrachtung der inneren
Architeetur der Knochen als auch 2. der Betrachtung der phy-
siologischen oder mathematischen Bedeutung dieser Architeetur
die Unhaltbarkeit der Appositionstheorie ') erwiesen glaubte.
In der Berliner klinischen Wochenschrift übergab J. Wolff
dieResultate seiner Duhamel’schen Versuche und Messungen der
Oeffentlichkeit. Seine Versuchsgegenstände sind kleinere Säuge-
thiere. Er stützt seine Expansionstheorie bei Thieren als experi-
mentell nachgewiesen 1. auf den Duhamel’schen Nagel- und .
Ringversuch und 2. auf die nur von ihm gefundenen Wachs-
thumshemmungen durch Diaphysenspangen.
J. Wolff hat nun hinsichtlich des Längenwachsthums keines-
wegs regelmässig ein Auseinanderweichen der Stifte bekommen,
sodann, was die Distanzvermehrung zwischen den beiden Nägeln
anlangt, eine solche um 0'5; 1'0; 1'5; in einem Falle um 2°5
Mm. am Röhrenknochen vom Kaninchen, bei einem Hunde ein-
mal sogar um 5 Mm., und neuerdings gar an der Scapula vom
Kaninchen eine Entfernungszunahme bis zu 9 Mm. beobachtet ?).
1) Virchow's Archiv Bd. 61. H. 4.
2) Berliner klinische Wochenschrift 1875. Nr. 7.
312 L. Lotze:
Was den um 5 Mm. vermehrten Abstand an der Hunde-
tibia anlangt, so meint J. Wolff, dass hier ein Irrthum von
1 bis 2 Mm. als möglich zugestanden werden muss'). Es
bleibt also auch diese Vermehrung in dem Werthe der oben
angeführten 2:5 Mm.
Aus diesen Zahlenangaben lässt sich nur das folgern, dass
das Expansions-Wachsthum bei besagten Thieren nur in höchst
untergeordneter Bedeutung vorhanden gewesen ist.
Nun aber ist, wenn man meine Zahlenwerthe des wach-
senden Thierknochens mit J. Wolff’s Ausschlägen vergleicht,
ersichtlich, dass in jedem Falle (ausgenommen den Expan-
sionsantheil verschwindend klein gerechnet), auch noch wenn
Apposition zu Expansion = 3:1 bestimmt, ganz andere d.h.
grössere Vermehrungswerthe hätten herauskommen müssen,
als die, welche J. Wolff gefunden hat. Diese kleinen Zahlen-
werthe lassen sich ferner auch nicht mit der Behauptung J.
W olff’s vereinbaren, nach welcher die bekannte Thatsache der
vermehrten Längenzunahme der Röhrenknochen kleiner Thiere
in der Nähe der Epiphysenlinien durch sehr vermehrte
Energie des expansiven Wachsthums der dem Epiphysenknor-
pel zunächst gelegenen Knochenschichten der Diaphyse zu
erklären sei °).
Angenommen nun, es seien junge Thiere, z. B. 4wöchent-
liche benutzt, so ist die Tibia eines solchen Thieres (Kanin-
chen) nach meinen Messungen 50'0 bis 550 Mm. lang. Hat
das Thier nach dem Experiment dann hinreichend lange gelebt,
so wird die Länge der Tibia sich zu 117:0 bis 1200 Mm. ent-
wickelt haben; der Knochen ist dann um 67 Mm. gewachsen,
ist also über noch einmal so lang geworden. Hat nun J.
Wolff die Nägel an den Diaphysenenden beiderseits ange-
bracht, und wächst der Knochen zur Hälfte expansiv und zur
Hälfte appositionell in die Länge, so muss der Ausschlag für
Expansion 335 Mm. ausmachen. Wächst der Knochen ?/,
appositionell und '/, expansiv, so würde der Ausschlag für
1) Berliner klinische Wochenschrift 1875 No. 7.
2) Ebendaselbst.
a DE ee
Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 313
Expansion 1675 Mm., 5025 Mm. für die Apposition betragen,
Hätte die Gesammtzunahme des Knochens, wie in dem einen
. Falle von mir, 29 Mm. betragen, so würde sich '/, Expansion
zu ‘/, Apposition der Ausschlag mit 14:5 Mm.; bei ®/, Appo-
sition zu '/, Expansion mit 7:25 Mm. beziffern.
Hätte die Tibia dagegen, wie in einem anderen von mir
eonstatirten Falle zu Zeit des Experimentes 55.0 Mm. betragen,
nach vollendetem Wachsthum dann 110.0 Mm., so würden sich
die Ziffern folgendermassen ergeben:
', App. zu '„, Exp. = 27:6 Mm. zu 27:6 Mm.
3), App. zu '/, Exp. = 41'25 Mm. zu 1375 Mm.
J. Wolff’s Ausschlagziffer ist im Durchschnitt 2.5 Mm.,
das würde dann soviel heissen, dass bei Längenzunahme von
550 Mm. auf 110:0 Mm. der Ausschlag, der in Folge der Ex-
pansion geschähe, '/,, zu *'/,, Apposition zu berechnen wäre.
Wenn ich die kleinen, nicht einmal regelmässig beobach-
teten Ausschläge von J. W olff mit den Ergebnissen der Expe-
rimente von Lieberkühn,!) Wegner, Maas und mir ver-
gleiche, so finde ich mich gedrängt, dieselben einfach auf
Messungsfehler zu beziehen, nach Analogie der 5 Mm. betra-
genden Distanzzunahme an der Hundetibia (S.312), zumal auch
Lieberkühn gezeigt hat, auf welche Weise bei diesem Expe-
riment Fehler sich leicht einschleichen können, deren Folgen
sich meist in genannten Ziffern als Ausschläge präsentiren.
Was nun J. Wolff’s Ergebnisse hinsichtlich des Längs-
wachsthums betrifft, die er mit Längsspangen, Dräthen, die er,
an beiden Enden rechtwinklig gebogen, in die Diaphyse ein-
drückte, erzielte, so hat er folgendes beobachtet:
Thatsächlich sprechen zwei Präparate in sehr auffälliger
Weise gegen die Apposition und für die sehr vermehrte Energie
des expansiven Wachsthums der Diaphysenenden, und zwar ein
Präparat mitden Duhamel’schen Stiften, und ein zweites Prä-
parat mit einer an beiden Enden rechtwinkling umgebogenen
Drahtspange, die eine bedeutende Verkrümmung des Knochens
zu Wege gebracht hat,obwohl beide Drahtenden in der Diaphyse
1) Lieberkühn, Sitzungsvortrag 8. 42 und 43.
N RE un,
E z 3 a Wr =
314 L. Lotze:
stecken, ‘und obwohl das Präparat ausser eben der einfachen
Verbiegung keine Spur pathologischer Störungen zeigt ').
Ferner hat J. Wolff an einer Reihe von Präparaten als -
Wirkung und sicheren Beweis der Wachsthumshemmung, die |
durch Diaphysenlängsdräthe zu Wege gebracht worden, eigen- 2
thümliche Zerrungsfurchen oberhalb und unterhalb der Dräthe |
gesehen?). Die sogenannten Zerrungsfurchen laufen längs |
einer Knochenleiste, die genau in der vertikalen Verlängerungs-
linie des Drathes sich vorfindet, und zwar häufig sowohl nach
oben als nach unten, sind mehr oder weniger tief und von einer
Länge bis zu 4 Mm.
Aus diesen Zerrungsfurchen schliesst nun J. Wolff, dass
hier das Wachsthum gehemmt sei, dass — mit anderen Worten
— an den betreffenden Präparaten Kraft und Widerstand ein-
ander entgegengewirkt haben, und dass mithin innerhalb der
Diaphyse eine Expansion in die Länge stattgefunden habe‘).
Auch bei diesen letzteren positiven Beweisen des expan-
siven Wachsthums muss sofort wieder derselbe geringfügige
Ausschlag, den J. Wolff bekommen hat, in die Augen sprin-
gen. Denn meiner Meinung nach müssen auch bei den Ver-
suchen mit Diaphysenspangen und Diaphysenlängsringen bedeu-
tend grössere Messungswerthe herauskommen, als er sie auch
bei dem Duhamel’schen Nagelversuch zu geben im Stande
gewesen ist.
Ich glaube, dass, wenn man in die Diaphyse einer Tibia
z. B., die zur Zeit des Experimentes die Hälfte der ausgewach-
senenLänge zeigt, eine Diaphysenspange nach J. W olff’scher
Methode einfügt, falls der Knochen durch Expansion wächst,
eine ganz bedeutende Verkrümmung, wenn nicht, vorausgesetzt,
die Spange hält die Dehnung aus, eine vollständig deutliche
Winkelstellung oder Knickung die Folge sein müsste. Etwas
dem entsprechendes, denke ich mir, muss bei den Diaphysen-
längsringen sich ereignen. Und zwar müsste richtiger Weise
1) Berliner klinische Wochenschrift 1875. Nr. 8.
2) Ebendaselbst Nr. 7.
3) Ebendaselbst.
Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum, 315
von dem oberen Loche resp. Löchern, durch welche der Draht
geht, in mehr oder minder genauer Richtung nach dem unteren
eine sehr deutliche Einkerbung, oder wenn man es so nennen
will, Zerrungsfurche entstehen; es müsste direct aus den Bohr-
löchern ein Suleus sich finden lassen, dessen Weite von der
Dicke des Drahtes abhängig sein würde und an dessen Tiefe
die Dauer und Intensität der eventuellen Expansion gemessen
werden könnte. Ein solcher Befund würde eher für die That-
sache sprechen, dass es sich hier um „Kraft und Widerstand“
gehandelt hätte. Nun ist dem aber bei J. W olff’s Präparaten
nicht so; bei ihnen findet sich genau in der vertikalen Verlän-
gerungslinie des Drathes kein Suleus, sondern eine Knochen-
leiste, genau von der Breite des Drathes, und neben dieser
Leiste zu beiden Seiten finden sich die Zerrungsfurchen. Dieser
Befund spricht nicht im mindesten für Expansion. Die Kno-
chenleiste ist eine nebensächliche Erscheinung, nur Neubildung
und Folge des Reizes des fest auf dem Knochen oder vielmehr
auf dem Periost aufliegenden Längsdrahtes. Dass sie jeden-
falls durch den Draht verursacht ist, dafür spricht noch der
Umstand, dass sie sich nur eine Strecke weit von oben und von
unten zur Mitte hin ausgebildet hat. Denn die Stelle, wo der
Drath am festesten aufgelegen hat, befindet sich an den Bohr-
löchern; wo er lockerer, nämlich in der Mitte, fehlt die Leiste
und fehlen ebenso die Zerrungsfurchen. Dass sich nun neben
der Leiste Vertiefungen bilden, ist nicht wunderbar und sind
dieselben nur als Folgeerscheinung der Leiste zu erklären, mit-
hin gar nicht beweisend für eine stattgefundene Expansion.
Wie tief und wie deutlich diese Furchen waren, erwähnt
J. Wolff nicht. Doch sagt er, dass dieselben am auffällig-
sten an solchen Präparaten waren, bei denen er einen Längs-
draht mit dem einen Ende in die Diaphyse, mit dem anderen in
die Epiphyse gesteckt hatte).
Dies letztere ist sehr glaubhaft, und in diesem Falle, wo
die Epiphyse mit in das Spiel kommt, werden auch ohne Zwei-
fel Zerrungsfurchen vorhanden gewesen sein, wie ich sie gefor-
1) Berliner klinische Wochenschrift 1875. Nr. 8&.,
316 - L. Lotze:
dert hatte; denn hier wird ein Zug ausgeübt, der sie hervor-
bringen kann, wenn auch aus anderer Ursache.
Hinsichtlich des Diekenwachsthums nun, so glaubt J.
Wolff auf seine Experimente gestützt auch hier entschieden
das Expansiv-Wachsthum als bestehend annehmen zu müssen.
Die Erscheinungen, die er in den darauf bezüglichen Versuchen
beobachtet hat, sind seiner Meinung nach durchaus nicht mit
der Appositions- und Resorptionstheorie zu erklären.
J. Wolff hat gefunden, dass solche Ringe, von welchen
man bisher annahm, dass sie in Folge der Apposition an der
periostalen und der Resorption von der medullaren Fläche des
Knochens in die Markhöhle hineinwanderten, keineswegs ein
solches einfaches Hineinwandern erfahren, dass sie vielmehr
zunächst fast in allen Fällen eine Einbiegung der durch den
Ring in ihrer Expansion gehinderten Knochenpartie zu Wege
bringen ').
Und zwar hat J. Wolff beobachtet, dass es sowohl auf
die Dicke der Dräthe wie der Knochen ankomme, ob die Ein-
biegung eine plötzliche oder mehr allmähliche sein wird. Die
Einbiegungen hat er an mehr als einem Dutzend von Präparaten
in den verschiedensten und zierlichsten Formen an verschie-
denen Knochen verschiedener Thiere gesehen.
Besonders hebt er ein Präparat einer Kaninchentibia her-
vor, an welcher sich eine vollkommene Einwachsung des Rin-
ges zeigte, bei welcher trotz derselben der Ring sich nicht
im geringsten der ihm gegenüber überall eingeengten Mark-
höhle genähert hat. Mikroskopisch fand J. Wolff sodann
noch, dass sich an der betreffenden Einbiegungsstelle die Ha-
vers’schen Canäle eingebogen zeigten, ohne in ihrer Conti-
nuität unterbrochen zu sein.
Solche Präparate nun nach der Appositionstheorie erklären
zu wollen, schien ihm schlechterdings eine Unmöglichkeit zu
sein. Interessant wäre es auch hier wieder zu wissen, wie tief
die erwähnten Einkerbungen waren, aber man findet nur unbe-
stimmtere Ausdrücke wie Drahtrinne, Einbiegung.
1) Berliner klinische Wochenschrift 1875. Nr. 7.
a
RR
—
Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 317
Mögen die Einbiegungen nun so tief gewesen sein wie sie
wollen; jedenfalls sind sie zum Theil im Knochen versteckt
und von Knochen bedeckt gewesen. Waren sie sehr oberfläch-
lich, sogen. Einbiegungen, so möchte ich sie so wie Wegner
erklären, dass an der betreffenden Stelle das Periost ausser
Function gesetzt war und deshalb im Bereich des Drahtes keine
neue Knochensubstanz angesetzt werden konnte. Der Umstand
dann, dass die Havers’schen Canäle eingebogen waren, wird
ohne Zweifel darauf beruhen, dass die verhältnissmässig sehr
weiche äusserste Corticalsubstanz durch zu festes Umschnüren
des Ringes zusammengedrückt wurde und so natürlich auch die
Havers’schen Canäle eingebogen wurden. Diese Deutung kann
nicht befremden, wenn man sich von der sehr grossen Weich-
heit des wachsenden Kaninchenknochens hinlänglich überzeugt
hat. Ich habe oben bei der Beschreibung meiner Experimente
den Ausdruck gebraucht, dass ich die Nägel in den Knochen
„eingedrückt* hätte; dies war in der That so, ich habe bei
4wöchentlichen Thieren fein zugespitzte Stiftchen ohne Köpf-
chen nur mit Hülfe einer sehr feinen Zange, um die hinreichend
kleinen Stifte fassen zu können, mit Leichtigkeit in den Kno-
chen eingedrückt, ohne vorher vorzubohren. Dass auf diese
Weise die Einbiegung des Knochens durch den Duhamel’schen
Ring, wenn nur der Versuch richtig angestellt wird — d.h.
wenn hinreichend jungen Thieren ein Draht, so fest wie mög-
lich, um den Knochen gelegt wird und dann das Thier nicht bis
zum vollendeten Wachsthum leben bleibt — in jedem einzelnen
Falle gelingt, ist wieder sehr glaubhaft, nur ist dieser Befund
durchaus kein positiver Beweis des expansiven Wachsthums.
J. Wolff hat aber auch mehrmals Einwachsungen des
subperiostal umgelegten Drahtringes gefunden, dabei aber die
oben erwähnte, der Stelle des Ringes entsprechende Auflage-
rung an der medullaren Fläche constant beobachtet. Er erklärt
diese Erscheinung wieder so, dass die Auflagerung in Wirk-
lichkeit keine Auflagerung, sondern die an der Expansion ebenso
wie die periostale Fläche gehinderte medullare Fläche des
Knochens sei. Den Beweis dafür findet er darin, dass die ein-
gebogene Partie (Auflagerung an der med. Fläche) ein voll-
318 L. Lotze:
kommen homogenes Aussehen mit den normalen Knochenpar-
tien hat. Man sieht die Havers’schen Kanälchen direet aus
den geraden Knochenpartien sich in die eingebogene Partie
hinein- und an der anderen Seite wieder hinausbiegen ').
Diese Einbiegungen sind nur von J. Wolff gesehen. Eine
Einbiegung der Havers’schen Kanäle an solchen Stellen,
welche J,W olff angiebt, konnteH. Maas bei vielfacher Untersu-
chung, bei der er besonders auf diesen Punkt seine Aufmerk-
samkeit richtete, nicht constatiren; ebenso wenig wie Phili-
peaux und Vulpian, welche nach dieser Richtung die Flou-
rens’schen Präparate untersuchten ?).
Uebrigens stehe ich nicht an zu erklären, dass J. Wolff
insofern Recht hatte, wenn er in dieser, von den Anhängern
der Appositionstheorie Auflagerung genannten, Knochenpartie
in der Markhöhle nur die ursprüngliche, am Expandiren gehin-
derte medullare Fläche des Knochens sehen will, weil ich der
Ueberzeugung bin, dass durch sehr festes Umschnüren, wie es
J. Wolff nach eigener Aussage gethan hat, nicht nur die Ein-
biegung der sehr weichen Corticalis, sondern auch noch eine
Einbiegung der medullaren Region in die Markhöhle hinein zu
zu Wege gebracht werden kann. Alsdann können die Ha-
vers’schen Kanäle alle die Biegungen machen, können alle Be-
dingungen erfüllt sein, die J. Wolff wünscht; und doch bedeu-
ten sie kein expansives Wachsthum.
Soll diese Erklärung nicht gelten, so wäre man gezwun-
gen die Deutung anzunehmen, die J. Wolff selbst angiebt, und
die ihm von den Anhängern der Appositionstheorie zugegeben
werden könnte: der Ring könnte nämlich da, wo er liegt, die
Veranlassung abgeben, dass die Resorption ihm gegenüber an
der Markhöhlenfläche in irgend einer Weise gehindert wäre.
Dann wäre die eingebogene Stelle der unverändert gebliebene
Knochen, während die oberhalb und unterhalb des Ringes ge-
legenen 'Knochenpartien durch Resorption geschwunden und
durch Apposition von aussen her wieder ersetzt wären’).
1) Berliner klinische Wochenschrift 1875. Nr. 8.
2) H. Maas, Zur Frage über das Knochenwachsthum.
3) Berliner klinische Wochenschrift 1875. Nr. 8.
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|
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I)
Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 319
J. Wolff weist diesen sich selbst gemachten Einwand
aus dem Grunde zurück, dass erstens der Ring unmöglich so
weit hin wirksam werden könnte, und dass zweitens dann die
Havers’schen Kanäle keine Einbiegung zeigen dürften ; sie
müssten vielmehr in der eingebogenen Stelle geradlinig verlau-
fen, und an beiden Enden abgebrochen erscheinen. Ebenso
müssten sie in demjenigen Theile der Knochenwand, der zwi-
schen dem Ring und der Anfangsstelle der Einbiegung liegt,
vollkommen geradlinig verlaufen ').
Von der Richtigkeit dieser beiden Behauptungen habe-ich
mich nicht überzeugen können und bin auch unklar darüber,
wodurch die Einwachsung des Ringes überhaupt zu Stande kom-
men soll. Nach streng genommener Expansion kann doch der
Ring gar nicht von Knochensubstanz verdeckt werden; er kann
höchstens so tief zwischen die beiden Knochenwände, die sich
zu den Seiten ungehindert expandiren, zu liegen kommen, dass
es den Anschein hat, als sei er eingewachsen und von Knochen
überdeckt. Wie kommt denn einmal die periostale Ueber-
deckung des Drahtringes, die H. Maas?) aufs deutlichste be-
obachtet und beschrieben hat, zu Stande, und zweitens, wie
kommt bei Expansion überhaupt der Ring z. B. in die Hirn-
höhle, der subperiostal um den Schädel gelegt war? Ein
Bedenken, auf welches Lieberkühn?) sehr richtig aufmerk-
sam gemacht hat.
Alle diese Bedenken können nur bei Annahme der Appo-
sition und Resorption schwinden.
Dies geben denn auch jetzt fast sämmtliche Forscher zu
und neuerdings noch hat Steudener*) Resultate auf mikros-
kopischem Wege bekommen, welche zum grossen Theile gegen
Strelzoff zeugen, wenn sie auch manches bestätigen, und ihn
zu folgender Aussage veranlassen:
„Demnach halte ich mich gegenüber der neuerdings aufge-
1) Berliner klinische Wochenschrift 1875. Nr. 8.
2) In der eitirten Schrift.
3) Lieberkühn ,2.0,
4) Steudener, Beiträge zu der Lehre von der Knochenentwicke-
lung und dem Knochenwachsthume, Halle 1875.
320 L. Lotze:
stellten Theorie des ausschliesslichen oder theilweisen inter-
stitiellen Knochenwachsthums mit Rücksicht darauf, dass während
des ganzen Verlaufes der embryonalen Entwicklung eine Kno-
chenexpansion nicht stattfindet, oder wenigstens ein sicheres
Kennzeichen derselben bisher nicht nachgewiesen ist, zu dem
Schlusse berechtigt, dass auch das postembryonale Kno-
chenwachsthum bis zu seinem definitiven Ab-
schluss genau nach denselben Gesetzen wie das
embryonale vor sieh geht)“.
Soviel über die experimentelle Seite dieser wichtigen
Frage.
Schliesst man nun die Expansion beim Wachsthum der
Knochen vollständig aus und nimmt man nur die Appositions-
und Resorptionstheorie in Anspruch, so ist es nothwendig, die
für letztere Theorie besonders wichtigen Resorptionen ausser
Zweifel zu stellen. Nach der heutigen Auffassung gehören zur
Knochenresorption zwei Dinge, erstens Howship’sche Laku-
nen und zweitens Riesenzellen. Es unterliegt keinem Zweifel,
dass überall, wo diese beiden Bildungen vorkommen, auch ein
Schwinden der Knochen- und Zahnsubstanz sich findet?). Die
so beschaffenen Resorptionsflächen an den wachsenden Knochen
gefunden und zuerst beim Kalbe an allen Knochen beschrieben
zu haben, ist das Verdienst von Kölliker°’). Zu denselben
Resultaten sind auch Wegner) und Steudener’) gekom-
men; alle drei Forscher haben auf mikroskopischem Wege die
Ueberzeugung gewonnen, dass die Ostoklasten die Urheber der
Knochenauflösung sind und haben die Thätigkeit derselben als
in der Howship’schen Lakunenbildung bestehend erkannt.
Von Strelzoff und J. Wolff sind sie immer als unauf-
findbar geläugnet.
1) Steudener, Beiträge zu der Lehre von der Knochenentwicke-
lung und dem Knochenwachsthume, Halle 1875.
2) Kölliker, Die normale Resorpt. u. s. w. S. 28.
3) Ebendaselbst.
4) Wegner, Myeloplaxen und Knochenresorption in Virchow’s
Archiv Bd. 56.
5) Steudener a. a. 0. 8. 27.
4
’
«“ u ee er
Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 321
In der That aber sind sie nach Kölliker’s Angaben
leicht zu finden, und ich habe dieselben am wachsenden Kno-
chen des Kalbes und Kaninchens auf das deutlichste an den von
ihm angegebenen Stellen wiedergefunden. Ganz besonders ist
es mir gelungen, als ich auf den Rath meines hochverehrten
Lehrers des Hrn. Prof.W. Krause den jungen Vogelschädel auf
diese Frage hin untersuchte, mich von der intracraniellen Re-
sorption sowohl wie von der subpericraniellen Apposition mi-
kroskopisch auf das deutlichste zu überzeugen. Denn es ist mir
stets möglich gewesen, sowohl die Riesenzellen in situ d. h.
in den Howship’schen Lacunen zu finden, als mich überhaupt
durch das constante Vorkommen derselben an der inneren Schä-
delfläche zu vergewissern, dass ihr Vorkommen nicht etwas
zufälliges sein konnte. Denn so constant, wie ich sie an der
erwähnten Stelle finden konnte, ebenso constant vermisste ich
sie subpericraniell; es sei denn, dass ich eine Stelle der äusseren
Tafeln untersucht hatte, die zur Zeit einer äusseren Resorption
unterworfen war.
Findet man die Riesenzellen an der inneren Fläche des
Schädels, so liegen sie stetsin Howship’schen Lacunen und
dies um so sicherer, als die Dura bei jungen Thieren fest, an
dem Schädel haftet. Die Lacunen unterscheiden sich von de-
nen bei Säugethieren gar nicht; es sind wie dort Aushöhlungen
des Knochens von mannigfacher Gestaltung und so wechselnder
Form, dass eine Grundform nicht angegeben werden kann, sie
sind bald rundlich, bald zackig in die Knochenlamellen ein-
greifend. Der angenagte Knochenrand sieht dunkelrandig und
meist glatt aus. Liegen die Lacunen sehr nahe neben einander,
so geben sie der Lamina vitrea interna des Schädels das Aus-
sehen, welches Henle') schon vor längeren Jahren mikros-
kopisch an der inneren Oberfläche des Schädels des Menschen
beobachtet hat und in seinem Handbnuche beschreibt; und wel-
cher mikroskopische Befund ihn zu folgendem Ausspruch hin-
sichtlich des Schädelwachsthums veranlasste.
„Hier bleibt uns keine Wahl, als, wie bei dem Wachsthuın
1) Henle, Handbuch der systematischen Anatomie des Menschen
1. Bd. 1. Abth. S. 218 und 219.
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 21
322 L. Lotze:
der Röhrenknochen in die Dicke, eine mit der Resorption der
inneren Knochentafel Hand in Hand gehende Auflagerung an
dem äusseren Periost zu statuiren, die auch die mikroskopische
Untersuchung bestätigt: an der äusseren Fläche von Knochen-
schliffen laufen die Lamellen in weiten Strecken ununterbrochen
fort, an der inneren Fläche sind sie oft unterbrochen und in
schräger Richtung abgeschnitten (Lucae.)*
Wie bedeutend und auffallend die Unterbrechung der La-
mellen anderinneren Fläche (Taf. VII. B.Fig.1 bei a)des Vogel-
schädels ist, sieht man am besten durch die Vergleichung mit
der äusseren subpericraniellen (Fig. 1 bei b). Au ersterer ist
der ganze Kuochenrand unter der Dura unregelmässig ausge-
zackt und zerklüftet, während bei letzterer der Rand zwar nicht
ganz eben und gleich ist, aber doch in ziemlich gerader Rich-
tung sich unter dem Pericranium ohne Unterbrechung hinzieht.
Die Dura ist fest mit dem Knochen verwachsen; der ganze Rand
des Knochens unter ihr ist unregelmässig zerklüftet und aus-
genagt, mit mehr oder minder tiefen Einbuchtungen versehen
(Fig. 4a). Hier und da findet sich oberhalb der Knochen-
einbuchtung eine Riesenzelle (Fig. 1 und 2). An der Aussen-
seite (Fig. 3 a) dagegen zeigt sich das Pericranium in straffen
Zügen über einer fast vollkommen glatten Oberfläche der La-
mina vitrea externa hinweggehend. Leichte Unebenheiten
lassen sich auch an dieser Linie wahrnehmen, jedoch keine
Spur von den oben geschilderten Lacunen. Man könnte noch
einen Unterschied in dem Aussehen der Knochensubstanz heraus-
finden; und zwar macht sich ungefähr von der Mitte derselben
ein verschiedenes Ansehen des Knochens geltend ; ich glaube, dass
von da nach dem Pericranium hin neue Knochensubstanz appo-
nirt ist, während nach unten zu die alte Knochensubstanz sich
findet. Der Unterschied liegt, wenn ich mich nicht täusche, da-
rin, dass die Knochenkörperchen in der unter dem Perieranium
liegenden Knochenpartie dichter stehen als in der unteren.
Was nun die Zellen anlangt, die in den oben geschilderten
Grübchen liegen, so sind es die nämlichen vielkernigen Zellen,
die zuerst von Robin (Myeloplaxes) und Kölliker (Osto-
klasten) beschrieben sind. Sie weichen beim Vogelschädel von
Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 323
den bei anderen Thieren gefundenen dadurch ab, dass sie nicht
platt und nicht von rundlicher oder ovaler Form sind, sondern
sie gleichen den Formen, die Kölliker birnförmig nennt und
mit Ausläufern oder Fortsätzen versehen beschreibt. Sie ma-
chen bei schwacher Vergrösserung (Fig. 1) durchaus den Ein-
druck einer auf der Kante stehenden Epithelzelle; bei starker
Vergrösserung dagegen (Fig. 2) sehen die Zellen spindel-
förmig aus; man unterscheidet den diekeren Zellenleib und
seine zwei Fortsätze. Der Zellenleib ist granulirt und mit
kleinen Kernen angefüllt. Die Kerne sind im Verhältniss nicht
so gross und hervortretend gegen das Protoplasma, wie dies
bei Säugethieren der Fall ist. Die Gestalt dieser Zellen beim
Vogel ist im Ganzen weniger wechselnd als beim Säugethier.
Woraus die Riesenzellen entstehen, woher sie stammen,
ist noch nicht entschieden. Kölliker lässt die Ostoklasten aus
den Osteoblasten hervorgehen; Wegner lässt sie von den Ad-
ventitialzellen der Blutgefässe herstammen. Welche von die-
sen beiden Ansichten die richtige ist, habe ich nicht zu ent-
scheiden.
Ob nun die Riesenzellen in der That die Auflösung des
Knochens bewirken, ist noch nicht direct bewiesen, wenn auch
ihr constantes Vorkommen die Vermuthung sehr wahrscheinlich
macht. Wie sie erstere zu Wege bringen könnten, ist durch
die folgenden Hypothesen auch noch nicht klargelegt. Sie fär-
ben sich mit neutralem Lackmuspulver violett (Rustizky)
und können daher eine Säure secerniren.
Kölliker sagt, dass es ihm aufgefallen sei, dass Chinolin-
blau, welches die Zellenkörper der Ostoklasten schön blau
färbt, die Kerne nicht zu tingiren scheint, und man erinnere sich
hierbei an die Entfärbung von Chinolinblau durch Säuren ').
Was mit einer Säure, die doch nur aus Blutbestandtheilen durch
die Thätigkeit der Zellen abgespalten und in ihnen zurückge-
gehalten sein kann (möglicherweise Milchsäure), im Gegensatz
zu den unorganischen Salzen des Knochens gewonnen ist, er-
scheint sehr fraglich.
1) Kölliker a. a. 0. S. 28.
21*
VORAN N ER 2
Pan rn j
324 L. Lotze:
Ferner ist noch zu beachten, dass nicht jede vielkernige
Zelle einer Riesenzelle, d. h. einer Zelle, deren Thätigkeit es
ist, da wo sie vorkommt, das normale Gewebe aufzulösen,
gleich gesetzt werden darf. Hierfür spricht die Thatsache, dass
es gelungen sei, sog. Riesenzellen künstlich herzustellen, und
ferner die bekannte Thatsache, dass die weissen Blutkörper-
chen (die richtiger graue genannt würden) eine grosse Neigung
haben, nicht nur freischwimmende Kerne und andere Partikel-
chen, sondern auch rothe Blutkörperchen in sich aufzunehmen
(Blutkörperchenhaltige Zellen).
Auf das Vorkommen der Riesenzellen bei pathologischen
Vorgängen habe ich hier ebenfalls nicht einzugehen; nur möchte
ich mir die Bemerkung erlauben, dass bei diesen Vorgängen
wohl öfter eine Riesenzelle gesehen wird, als sie in Wirklich-
keit vorhanden ist. 3
Zum Schlusse möchte ich noch ganz kurz meine makros-
kopischen Präparate besprechen.
Man sieht nämlich an den Resorptionsflächen (Fig. 5) der
Knochen zwei Zonen, die sich wesentlich von einander unter-
scheiden. Die eine, die obere, d. h. nach der Intermediär-
scheibe zu, ist rauh und uneben, während die untere zwar glatt
aber glanzlos ist, wodurch man ihre Grenze gegen die Diaphyse
leicht erkennen kann. Ich habe geglaubt, auf diese Erschei-
nung aufmerksam machen zu müssen, weil ich sie constant an
jeder noch wachsenden Kaninchentibia und zwar immer an der-
selben Stelle in der gleichen Ausdehnung unverkennbar habe
wiederfinden können, während sie an alten und ausgewachsenen
Knochen durchaus fehlen,
Man kann sich an derartigen Präparaten überzeugen, dass
sowohl die ersteren wie die letzteren Partien immer dieselben
Stellen innehalten. Deutlich lässt sich erkennen, dass in ge-
rader Verlängerung der Tub. tibiae nach unten zwei Resorp-
tions-Zonen längs der Crista tibiae verlaufen. Das gleiche
‘Verhalten der Zonen zu einander sieht man an der betreffenden
Rückseite der Tibia.
Die betreffenden ersteren Stellen zeigen schon für das
blosse Auge eine rauhe, deutlich zerlöcherte und zerklüftete
Beitrag zur Lehre vom Knochenwachsthum. 325
Oberfläche, welche Rauhigkeit mit dem Finger deutlich gefühlt
werden kann, „wie wenn mit Hohlmeisseln verschiedener
Grösse und verschiedener Form tiefere und minder tiefe Grüb-
chen in wechselnder Menge und Vertheilung aus dem Knochen
ausgeschnitten worden wären“), Das Ansehen ist ganz das
einesBimssteines; lauter feine Oeffnungen und Risse zeigen sich
umgeben von ebenfalls porösen Säumen. Die porösen Stellen
gehen nun unmerklich in die zweite Zone über. Diese ist am
Knochen matt, ohne Glanz, aber auch ohne Poren und Rauhig-
keiten. Diese Partien sind nicht scharf von dem Mittelstück
der Diaphyse geschieden, sondern gehen in feinen Ausläufern
unmerklich in die glänzende Aussenseite des Diaphysenmittel-
stücks über.
Resume.
Ich habe in der vorliegenden Arbeit erstens experimentell
nachgewiesen, dass das Längswachsthum der Kaninchentibia
durchaus ohne Expansion geschieht und habe zweitens makro-
wie mikroskopisch den Vorgang der Apposition und Resorption
an geeigneten Präparaten zu zeigen mich bemüht.
Dass die so wichtige Frage lange nicht erschöpfend be-
handelt ist, beweist schon der Umstand, dass ich auf die mi-
kroskopischen ArbeitenStrelzoff’s, Stieda’s undJ. W olff’s
gar nicht eingegangen bin und die Kölliker’s, Wegner’s und
Steudener’s nur so weit, als es unumgänglich war, berührt
habe.
Eine eingehende Berücksichtigung dieser Arbeiten würde
aber das gegebene Maass bei weitem überschritten haben, wes-
halb ich auf dieselbe leider verzichten musste.
1) Kölliker, a. a. O. 8. 19.
326 L. Lotze: Beitrag zur Lehre u. s. w.
Erklärung der Tafel.
Fig. 1 bis 4 stellen senkrechte Durchschnitte durch die Schädel-
knochen von F. buteo dar. Fig. 1 und 2 betreffen ein ganz junges
Thier. Frisch in Müller’sche Flüssigkeit gelegt, wurden die Schädel
dann durch Chromsäure (1 pCt.), später durch Chlorwasserstoffsäure (5 pCt.)
entkalkt, darauf in absolutem Alkohol gehärtet und die Durchschnitte
mit Garmin gefärbt. Nachher Behandlung mit Alkohol, Nelkenöl, Canada-
balsam. Vergrösserung in Fig. 1, 3, 4=90; in Fig. 2=350. In diesen
Figuren bedeutet: a Dura mater. b Pericranium. Zwischen ersterer
und dem Knochen sieht man in Fig. 1 und 2 die Riesenzellen in
situ. Denkt man sich den Zwischenraum zwischen Fig. 3 und 4 durch
Knochen ausgefüllt, so repräsentiren beide Figuren zusammen einen
Durchschnitt der ganzen Dicke des betreffenden Schädelknochens.
Fig. 5 und 6 stellen Unterschenkelknochen französischer Kanin-
chen desselben Wurfes in der Ansicht von vorn dar. Natürliche
Grösse Fig. 5 von einem 6 wöchentlichen, Fig. 6 von einem 11/2 jäh-
rigen Kaninchen. Erstere unmittelbar nach dem Experiment, nachdem
die Unter-Extremität amputirt war; Fig. 6 nach einer über ein Jahr
betragenden Zwischenzeit. Die Distanz der sichtbaren Nägelköpfe
ist in beiden Figuren genau dieselbe; ihre Durchmesser sind ver-
schieden. — Die Resorptionsflächen am oberen und unteren Ende von
Fig. 5 sind dunkler gehalten.
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Ueber die Lage der Nieren mit besonderer
Beziehung auf ihre Percussion.
Von
An. PanschH in Kiel.
Es mag anmassend erscheinen, über die Lage der Nieren
noch etwas Neues bringen zu wollen, nachdem Luschka in
seinem erst kürzlich erschienenen Werke!) diesen Gegenstand
abermals ausführlich behandelt hat, und nachdem auch die Pa-
thologen längst bemüht waren, auf der Oberfläche des Körpers
die Grenzen festzustellen, innerhalb deren man sich eine nor-
mal grosse und normal gelagerte Niere zu denken habe. Ausser-
dem zeigen diese Organe eine relativ sehr gesicherte Lage, so
dass von postmortalen die directe Beobachtung störenden Ver-
lagerungen, wie sie bei anderen Organen so vielfach auftreten,
hier wohl kaum die Rede sein kann.
Dennoch aber will ich es nicht unterlassen, die Resultate
einer ausgedehnteren und — ich darf es wohl sagen -- genauen
Untersuchung über diesen Gegenstand mitzutheilen. Denn es
sind die bisherigen Angaben in der topographischen Anatomie
einerseits doch noch zu wenig erschöpfend, andererseits aber
auch zu wenig übereinstimmend mit den Anschauungen der
Pathologen und den Resultaten der physikalischen Diagnostik.?)
Das Material, auf das ich mich stützen konnte, bestand
aus einer grösseren Reihe von Leichen, die während der letz-
1) Lage der Bauchorgane. 1873. S. 31.
2) Vergl. Gerhardt’s Lehrbuch der Auscultation und Percussion.
Tübingen 1871, und Guttmann’s Lehrbuch der klinischen Unter-
suchungsmethoden. 2. Aufl. 1874,
328 A. Pansch:
ten drei Jahre auf hiesiger Anatomie auf diesen Punkt hin genau
untersucht wurden. Es sind ihrer über sechszig.. Die Unter-
suchung wurde in der ersten Zeit nur von der Bauchhöhle aus an-
gestellt, indem bei horizontaler Lage der Leiche und nach Ent-
fernung des Dünndarms das oberste und unterste Ende der Nie-
ren vorsichtig durch einen Schnitt in die Fettkapsel freigelegt
und durch senkrecht eingestochene Nadeln bezeichnet wurden.
Durch gewissenhafte Anlegung eines quergerichteten Lineals
liess sich dann das in gleicher Höhe mit den Nieren liegende
Stück der Wirbelsäule genau und sicher bestimmen.!) Später
wurde mit Bezug auf die praktischen Bedürfnisse mehr Gewicht
auf die Untersuchung vom Rücken aus gelegt, und hier (wäh-
rend die Leiche sich in einfacher Bauchlage befand) zunächst
Haut und Fettpolster entfernt, dann die Muskeln Latissimus
dorsi und Sacrospinalis, sowie der Rand des M. quadratus lum-
borum der Reihe nach präparirt und gemessen, und die letzten
Rippen, der Darmbeinkamm und die Dornfortsätze der Wir-
bel freigelegt. Dann wurden die Nadeln an den Endpunkten
und Rändern der Nieren senkrecht eingestochen, so dass auch
hier die Lage der betreffenden Theile sicher und klar bervor-
treten musste, Ich glaube diese für einen gewissenhaften Ana-
tomen selbstverständlichen Maassregeln besonders anführen zu
sollen, und füge noch hinzu, dass durch solche Präparation,
wenn sie nur einigermaassen sanft geschieht, die Lage der Nie-
ren durchaus keinerlei Störungen erleiden kann. Um allen
Einwürfen wegen schlechten Messens u. dgl. zu entgehn und
einem Jeden die Sache demonstriren zu können, machte ich
mir in letzter Zeit ausserdem noch die Mühe, mehrere der so
erlangten Präparate mit der horizontalen Glasplatte und dem
Diopter in geometrischer Projection genau zu zeichnen.
Die bis jetzt erlangten Resultate will ich in Folgendem
mittheilen, ohne dass ich der Meinung bin, der Untersuchung
dadurch einen definitiven Abschluss gegeben zu haben; im Ge-
theil, ich möchte Anatomen und Pathologen zu wiederholter
und genauer Prüfung auffordern. Denn, wie überall bei der
1) Vergl. übrigens unten $S. 333; Anmerk. 2.
BE
Ueber die Lage der Nieren u. s. w. 3239
Beschreibung bekannterer und in grösserer Zahl vorliegender
Gegenstände, kommt es auch hier schliesslich weniger darauf
an, eine einzige bestimmte Form oder Lage als die „normale“
hinzustellen, sondern vielmehr die Grenzen festzusetzen, inner-
halb deren sich das Organ befinden kann, ohne deshalb „ano-
mal“ oder „pathologisch“ geformt oder gelagert genannt werden
zu müssen. Wollen wir aber, wie es häufig erforderlich ist,
eine bestimmte Form oder Lage herausheben oder als Abbil-
dung vorführen, so sprechen wir hier besser von einer „mitt-
leren“ Form oder Lage.)
Bei der Lagenbestimmung von vorne her kann ich mich
Luschka in den meisten Punkten vollständig anschliessen. So
meine ich, wird man für die „mittlere Lage“ der Nieren stets nur
die Höhe des zwölften?) Brust- und der beiden ersten Lenden-
wirbel (nebst der darunter liegenden Bandscheibe), oder vom
unteren Rande des elften Brustwirbels bis zum oberen Rande des
dritten Lendenwirbels angeben können. — Wenn Hoffmann?)
sagt, dass die Nieren „in der Höhe der beiden unteren Brust-
und der zwei bis drei oberen Lendenwirbel“ liegen, so ist die-
ser Ausspruch doch nur so aufzufassen, dass dies der Raum
1) Welche Verwirrungen und. welche verkehrte Anschauungen aus
einer Verkennung dieser Begriffe entstehen, sehen wir recht deutlich
beim Uterus. Die Lage desselben in der Beckenaxe, wie sie bei mäs-
sig gefüllter Blase und Mastdarm uns entgegentritt (oder nach B.
Schultze an der oberen Wand der Blase), ist nur als eine der nor-
malen Lagen anzusehen, und mag deshalb immerhin als „mittlere
Lage“ sebematischen oder ausgeführten Abbildungen zu Grunde gelegt
werden; aber man darf nicht vergessen, und es muss stets daran er-
innert werden, dass der Uterus auch noch andere normale Lagen ein-
nehmen kann, dass er um viele Grade weiter nach vorn oder auch
nach hinten gelagert sein kann, ohne deshalb im Geringsten in „ano-
maler“ Lage sich zu befinden.
2) In der „Anatomie des- Bauches“ 1863 rechnet Luschka auch
noch die untere Hälfte des 11. Brustwirbels hinzu. — Auf der Taf. 2
der „Lage der Bauchorgane“ reichen die Nieren auffallenderweise bis
zum unteren Ende des dritten und fast bis zur Hälfte des vierten
Bauchwirbels hinab.
3) Die Körperhöhlen und ihr Inhalt. 2, Aufl. S. 96.
330 A. Pansch:
ist, innerhalb dessen die Nieren bald höher, bald tiefer gelegen
sind.
Nach Henke!) liegt die Niere „neben den beiden ersten
und einem Theile des dritten Bauchwirbels bis. etwa einen
Zoll über dem höchsten Stande des Randes der Darmbein-
crista herab.*
Nach Engel?) liegen die Nieren „in der Höhe des ersten bis
dritten Lendenwirbels, die rechte Niere gewöhnlich etwas tiefer als
die linke“. — — „Das untere Ende ist ungefähr zwei Quer-
finger von dem Kamme des Darmbeines entfernt.“
Was die ziemlich allgemein angenommene (auch auf
Luschka’s Tafel dargestellte) tiefere Stellung der rechten
Niere angeht, so will sie mir durchaus kein regelmässiges,
sondern nur ein häufigeres Vorkommen scheinen; ich fand zeit-
weise, dass bei jeder dritten Leiche die linke Niere tiefer
lag. Solche Befunde können auch nicht auffallen, wenn man
sich überzeugt, wie häufig überhaupt einseitig oder doppelseitig
Abweichungen von der genannten „mittleren Lage“ sind. Nicht
selten ist ein Hinaufrücken der genannten oberen Grenze um einen
halben Wirbel, weit häufiger aber ein Hinabrücken der unteren
Grenze bis um die Höhe eines Wirbels; ja es senkt sich die-
selbe zuweilen noch mehr, d. i. also bis zum vierten Lendenwirbel
hinab. Ausserdem werden nach beiden Richtungen hin ein-
zelne extreme Fälle beobachtet, bei denen man sich streiten
könnte, ob sie als „normal“ oder als „anomal“ zu bezeichnen
sind. Dagegen muss ich von einer ganz oder theilweise im
Becken, d.h. in der Fossa iliaca gelagerten Niere nach meinen
Erfahrungen entschieden sagen, dass sie sich stets ausserhalb
der Grenzen des Normalen befindet.
Bei einer genaueren Bestimmung der mittleren Lage ist es
übrigens auch zu bedenken, dass das angeführte Stück der
Wirbelsäule durchaus keine bestimmte Grösse ist, sondern seine
Länge unter gewöhnlichen Verhältnissen schon zwischen 9
und 12 Cm. schwankt), so dass eine etwas grössere Niere,
1) Atlas der topogr. Anatomie, Textband. S. 111.
2) Compendium der topogr. Anat. 1859. S. 381.
3) Als Mittelwerth der Länge vom oberen Rande des zwölften Brust-
Ueber die Lage der Nieren u. s. w. 331
wie sie von 11'5 und 12 Cm. Länge öfters gefunden wird, jene
Grenzen ziemlichüberschreiten muss. Eine irgend erhebliche Ver-
änderung der Länge jenes Stückes durch Beugen oder Strecken des
Rückens kommt nicht zu Stande, da die Wirbelsäule vom neunten
Brustwirbel bis zum zweiten Lendenwirbel einschliesslich ein
ziemlich unbewegliches Ganzes darstellt.!)
Ob und wie weit eine tiefere Lage der rechten Niere von
der Leber abhängig ist, dürfte noch sehr unentschieden sein.
Hyrtl, der sich dagegen erklärt, macht darauf ‚aufmerksam,
dass die rechte Niere bei allen Säugethieren tiefer?) liegt und
diese Lage auch beim Situs inversus behält, wo die Leber doch
links liest. Wenn Hyrtl dann bemerkt, dass bei Volumsver-
grösserungen der Leber die Niere noch weiter herabgedrängt
werden kann, wobei namentlich ihr oberes Ende nach aussen
und unten rücke, so muss ich 'dem hinzufügen, dass in der
That auch öfters die Niere durch Volumsvergrösserungen der
Leber nicht dislocirt erscheint. Es wird mir das durch meh-
rere eigene Sägeschnitte bewiesen und ausserdem durch Ab-
bildungen°) bestätigt, wo die Leber sich fast über die ganze
Niere hinweggelagert hat. Ich halte es nicht für überflüssig,
an diesem Orte noch besonders hervorzuheben, dass die Leber
für gewöhnlich nicht nur die oberste Spitze der Niere über-
lagert, sondern dass sie wohl meistens, wie auch Luschka
anführt, die obere Hälfte derselben bedeckt. Die Faciecula
renalis der Leber ist also kein kleiner Eindruck von der Spitze
der Niere, wie man oft anzunehmen scheint, sondern je nach
der Entwicklung der Fettkapsel der Niere eine bald seichtere
bald tiefere breite Grube.
wirbels bis zum unteren Rande des zweiten Lendenwirbels fand ich an
einer Reihe frischer Wirbelsäulen 9 Cm.
1) Meyer, Statik und Mechanik u.s. w. S. 215.
2) Im Text (Topogr. Anat., Aufl. 6. S. 706) steht fälschlich:
„höher“, — Im Lehrbuch, 1875, S. 674 steht wieder, dass die rechte
Niere „durch die voluminöse Leber mehr hinabgedrückt wird.“
3) Z2.B. Rüdinger, topogr.-chirurg. Anatomie. Taf. IV.B. —
(Luschka, a.a.O., Taf. 4, Fig. 1. — Le Gendre, Anat. chirurg.
homalogr. PI. VII)
332 A. Pansch:
Von Interesse für die Percussion der lateralen Nieren-
grenze könnte auch die bisher noch nirgends besonders hervor-
gehobene Erfahrung sein, dass die schräge Lage der Queraxe
der Nieren nicht nur bei verschiedenen Individuen, sondern
namentlich auch auf den beiden Seiten desselben Individuums
eine äusserst verschiedene sein kann (Differenz bis über 40°).
In Folge davon ist also in dem einen Falle die ganze „hintere
Fläche“, in dem anderen fast nur der convexe Rand dorsalwärts
gerichtet, und die Nieren erscheinen bei getreuer Zeichnung
von vorn oder hinten im ersten Falle sehr breit, im anderen
sehr schmal.
Bei der Beurtheilung der Richtung des Querdurchmessers
muss man übrigens einige Vorsicht anwenden, da die hintere,
für gewöhnlich schon längere Lippe des Hilus zuweilen eine
ganz ungewöhnliche Länge und Dicke erreicht und es dann,
worauf schon Hyril aufmerksam macht, den Anschein gewinnt,
als läge der Hilus stark nach vorne; ja es kommen sogar Fälle
vor, in denen der Hilus schräg lateral- und vorwärts gerichtet
ist. Ueberhaupt zeigt die Niere ja nach allen Richtungen hin
eine sehr verschiedene Form und erscheint auf dem Querschnitt
zuweilen ganz eckig.
Das obere Ende der Niere (medialer Rand) fand ich meist
0:5 — 10 — 1:5 Cm. von der lateralen Seite der Wirbelkörper
entfernt. Es ist deshalb im Allgemeinen richtig, wenn Luschka
sagt, die Nieren seien neben die betreffenden Querfortsätze
gelagert; doch liegen sie auch öfters weiter medianwärts, d.h.
also mit dem oberen Ende noch etwas vor den Querfortsätzen
und zuweilen sogar fest neben den Wirbelkörpern.
- In Hinsicht der Convergenz der Längsaxen nach oben
finde ich nichts Besonderes zu bemerken. Zu der Notiz
Luschka’s, dass die unteren Enden — d. i. die medialen
Ränder derselben — 11 Cm. von einander entfernt seien, möge
noch hinzugefügt werden, dass die tiefsten Endpunkte der
Nieren meist einen Abstand von 15 Cm. zeigen, also jederseits
7— 38 Cm. neben der Medianebene liegen.
Um an der hinteren Seite des Körpers die Lage der Nieren
zu bestimmen, muss man von anderen Skelettheilen ausgehen.
em.
Ueber die Lage der Nieren u. s. w. 333
Als solche benutzt man die Reihe der Dornfortsätze, denen
Darmbeinkamm und die letzte Rippe und nimmt ausserdem noch
eine Marke von den Weichtheilen hinzu, nämlich den lateralen
Rand des M. sacrospinalis oder die sog. seitliche Lendenfurchet).
Bei der Benutzung der genannten Marken hat man aber
einige Vorsicht anzuwenden, denn dieselben wechseln in ihrer
gegenseitigen Lage ziemlich bedeutend. Es dürfte vielleicht
auch weiteres Interesse haben, diesen Punkt im Folgenden et-
was näher zu erörtern. —
Die Dornfortsätze der Lendenwirbel, sobald sie nicht eine stär-
kere und dann leicht zu erkennende seitliche Abweichung haben,
und dadurch also eine gebogene Rückenfurche bilden dürften mit
genügender Genauigkeit der Medialebene entsprechen, Dagegen
ist die Länge und Neigung der einzelnen Dornfortsätze eine so
mannigfaltige, dass man von ihren hinteren Enden aus nur un-
sicher auf die Höhenlage bestimmter Wirbelkörper schliessen
kann.?) Im Allgemeinen würde man vielleicht sagen können,
dass die die oben genannte mittlere Nierenlage begrenzenden
Horizontalebenen durch die Mitte oder das untere Ende des
Dornfortsatzes des elften Brustwirbels und durch den unteren
Theil oder das unterste Ende des Dornfortsatzes vom zweiten
Lendenwirbel gehen.
Bei solchen Bestimmungen muss ferner das Resultat eini-
germaassen verschieden ausfallen, je nach der Lagerung und
Krümmung der ganzen Wirbelsäule. Die horizontale Projection
eines Punktes am Ende des Dornfortsatzes verschiebt sich
auf der vorderen Fläche der Wirbelsäule schon um 2 Cm., wenn
die Neigung der Wirbelsäule nur um 15° geändert wird.?)
1) Den lateralen Rand des M. latissimus dorsi als Wegweiser zu
benutzen, wie wohl empfohlen wurde, ist durchaus unstatthaft, denn
erstens ist der Darmbeinursprung dieses Muskels sehr verschieden
breit, zweitens tritt der Rand nicht deutlich genug hervor und drittens
endlich liegt die Niere überhaupt nicht unter diesem Rande.
2) Einschlägige Untersuchungen sind vor einiger Zeit bereits von
anderer Seite her veröffentlicht worden.
3) Es begreift sich, beiläufig gesagt, wie sehr bedeutend der
Ausschlag werden muss, wenn man bei verschiedener Körperhaltung
Punkte der vorderen und hinteren Körperfläche auf einander bezieht.
334 A. Pansch:
In Bezug auf die zwölfte Rippe ist daran zu erinnern, dass sie
in Länge und Richtung ungemein variirt, obgleich sie anderseits
eine ziemlich gesicherte Lage hat und von den Bewegungen der
übrigen Rippen weniger beeinflusst wird. An einem anderen
Orte!) habe ich erwähnt, dass ich sie oft genug so kurz fand,
dass sie sich der Palpation an der Leiche gänzlich entzog und
die Meinung ausgesprochen, dass dieses Verhalten bei genauerem
Nachforschen sich als ein viel häufigeres darstellen würde, als
man gewohnt ist, anzunehmen. Für den vorliegenden Gegen-
stand ergiebt sich also die Folgerung, dass man an der letzten
tastbaren Rippe durchaus keine sichere Marke hat, es sei denn,
dass man von oben herab zählend, sie als die zwölfte nach-
gewiesen hat.
Der Darmbeinkamm ferner, der die untere Begrenzung
der Lendengegend bildet, bietet uns stets einen unverkennbaren,
in dieser seitlichen Lumbalgegend fast horizontal verlaufenden
Rand. Nur darf man bei der Palpation nicht vergessen, dass
sich über den Knochenrand einige Weichtheile (Bauchmuskeln
und Haut) hinweglegen, so dass er dadurch verdickt und erhöht
erscheint. .
Was endlich den M. sacrospinalis angeht, so ist derselbe
zwar im Allgemeinen in dem betreffenden unteren Theil 7 Cm.
breit, doch kann dieses begreiflicher Weise kein unveränder-
liches Maass sein. Der laterale Rand desselben verläuft leicht
divergirend nach oben; die Höhe desselben vom Darmbeinkamm
bis zur letzten Rippe beträgt nach Luschka an Leichen gut
gebauter Männer 12 Cm., während das Ende der letzten Rippe.
8 Cm. von der Crista entfernt sein soll.
In Hinsicht der übrigen Muskulatur der Nierengegend
fand ich an dem mir zugänglichen Material Folgendes: Der
M. latissimus dorsi reicht mit seinem Ursprunge noch weiter
lateralwärts als der M. sacrospinalis und zwar, wie bekannt,
in wechselnder Breite. Der M. quadratus lumborum zeigt in
seiner Breite einige Schwankung und scheint den M. sacro-
1) Ueber Anomalien am Thoraxskelete. In diesem Archiv, 1875.
S. 562, 563.
De
RE
a u a
Ueber die Lage der Nieren u. s. w. 335
spinalis an seinem Beckenursprunge gewöhnlich um 2—3 Cm.
seitlich zu überragen. Die Breite seines oberen Endes ist übri-
gens einigermaassen unabhängig von der Länge der zwölften
Rippe; ist diese ungewöhnlich kurz, so setzt der laterale Theil
des Muskels sich sehnig an die elfte Rippe an. —
Fragen wir jetzt, wie sich die Nieren in ihrer Lagerung
zu diesen Theilen verhalten, so findet sich einige Ueberein-
stimmung bei den Autoren nur in der Angabe, dass die Niere
den M. sacrospinalis oder den M. quadr. lumb. seitlich etwas
überrage und dass ein (verschieden angegebener) Theil der
Niere noch innerhalb des knöchernen Thorax liege. —
Es ist nun nach meinen Beobachtungen in der That richtig,
wenn man sagt, dass die Niere gewöhnlich um 1—2 Finger-
breiten (15 — 3— 4 Cm.) den M. sacrospinalis überragt, doch
dürften auch hier nach beiden Richtungen hin extreme Fälle
nicht selten sein.!)
Das Verhältniss des oberen Nierenendes zu den Rippen
ist nach meinen Erfahrungen ein äusserst wechselndes, wie es
ja auch bei der oben erwähnten, wechselnden Höhenlage der
Nieren und den vielen Längen- und Richtungsabweichungen
der letzten Rippen nicht gut anders sein kann. Ich sah die
Niere (und es war in diesem Falle die rechte) bis zur halben
Höhe der zehnten Rippe hinaufragen, und konnte andrerseits
einen Fall constatiren, wo sie den oberen Rand der zwölften
Rippe kaum erreichte. Das mittlere Verhalten anzugeben, ist
somit nicht leicht; am liebsten möchte ich mit Hoffmann
sagen, dass die zwölfte Rippe bei einer Neigung von 45° die
Niere ungefähr in zwei gleich grosse Hälften scheidet. Nach
1) Es ist vielleicht nicht ohne Interesse, daran zu erinnern, (Ss.
Luschka a.a. 0.8.7), dass schon 1829 Gerdy in seiner „Anatomie
des formes exterieures* (Deutsche Uebers. Weimar 1831. S. 160.
Anm. u) die Beziehungen der Nieren zur seitlichen Lendenfurche und
zur letzten Rippe genau erörtert und die Sectio lumborum angelegent-
lichst empfohlen hat, indem er sie als leicht und ungefährlich hin-
stellt. Nach ihm wird die seitliche Lendenfurche nach aussen von
der Niere um zwei Querfinger überragt und liegt diese nur mit ihrem
oberen Ende vor der zwölften Rippe.
336 A. Pansch:
Luschka soll die Niere noch höher, nämlich zu zwei Drittel
unter den Rippen liegen.
Während somit meine Beobachtungen mit den Angaben
anderer Anatomen und wohl mit allen anatomischen Abbildungen
in den hauptsächlichen Punkten vollständig übereinstim men
weichen sie leider von den noch neuerdings vorgebrachten»
grösstentheils auf die Percussion gestützten Ansichten der
Pathologen in einer wichtigen Beziehung ab; ich meine in dem
Verhältniss der Niere zum Darmbeinkamm. Aus Gerhardt’s
Worten!) scheint deutlich hervorzugehen und Vogel?) hat
es seiner Zeit geradezu ausgesprochen, dass die Niere normaler
Weise bis an den Darmbeinkamm oder selbst noch weiter in
das grosse Becken hinabreiche. Schon Luschka?°) hat sich
gegen diese „jedenfalls befremdende* Behauptung ausgesprochen
und sagt: „Unter geregelten Verhältnissen findet dieses nie-
mals statt, dagegen kann man wohl zugeben, dass die Grösse
des Abstandes zwischen dem Rande des Darmbeinkammes und
dem unteren Ende der Niere wechselnd ist“ und giebt dann
an, dass sie „bis zur mittleren Höhe des äusseren Lumbalge-
bietes“ hinabreiche.
Bei den sechszig Leichen, die ich genau untersucht habe,
fand ich, dass die Nieren auch nicht ein einziges Mal den Darm-
beinkamm erreichten, in vier Fällen einseitig und in zwei Fällen
beiderseits bis auf 1-5 Cm. sich demselben näherten, im Uebri-
gen aber in einer mittleren Entfernung von 3—5 Cm. blieben,
Diese Befunde stehen nun auch in vollem Einklange mit
den Resultaten einer Reihe von Skelet-Messungen, die ich an
frischen Leichen zu diesem und ähnlichen Zwecken in letzter
Zeit ausführte, und die ich hier beifüge, da wohl in der Lite-
ratur noch keine ausreichenden Angaben dieser Art zu finden
sind. —
Was zunächst das Verhältniss der durch den höchsten
Theil der Darmbeinkämme gelegten Horizontalebere zu der
1) A.a. 0. 8. 146.
2) Virchow, Handbuch der Pathol, und Ther. VI. 2. S. 421.
3) Lage der Bauchorgane. 8. 31.
Ueber die Lage der Nieren u. s. w. 337
vorderen Fläche der Wirbelsäule betrifft, so kann es ein all-
gemein gültiges Maass hier am allerwenigsten geben, denn
ausser der im unteren Theil ja so wechselnden Krümmung der
Wirbelsäule kommt dabei noch die Neigung des Beckens sehr
in Betracht. Indem ich einer Reihe von Becken die durch die
Untersuchungen Meyer’s festgestellte mittlere Neigung!) gab,
mass ich den senkrechten Abstand des Promontoriums von
der Horizontalebene der Darmbeinkämme, Als häufigste Zahl
ergab sich dabei 6 Cm., doch waren Schwankungen bis zu 5
und 8 Cm. häufig. Extreme Zahlen entstanden meistens durch
ungewöhnlich hohe oder tiefe Stellung des Promontoriums zum
Beckeneingange. An der vorderen Fläche der frischen Wirbel-
säule traf diese Horizontale nur auf den unteren Rand oder
die untere Hälfte des vierten Lendenwirbels und reichte kaum
einmal über die Mitte desselben hinaus. —
Die Entfernung der vorher angegebenen, mittleren oberen
Nierengrenze (unterer Rand des elften Brustwirbels) von der
Höhe der Darmbeinkämme schwankte nach meinen Messungen
von 14— 18 Cm.; die Entfernung des Köpfchens der zwölften
Rippe stellte sich im Mittel auf 14 Cm. Von dem unteren
Rande des elften Brustwirbels bis zum oberen Rande des dritten
Lendenwirbels dürften im Mittel 11'0—11'’5 Cm. sein, von
letzterem Punkte bis zur Ebene der Darmbeinkämme im Mittel
5 Cm. Projieirt man oberes und unteres Nierenende, sowie
den unter der Niere gelegenen Theil des Darmbeinkammes
senkrecht auf die Medianebene, so treffen sie alle drei meistens
in den Wirbelkanal hinein. Die direct gemessenen Entfernungen
werden also nur wenig von den senkrechten Abständen verschieden
sein, und würden ausserdem (im Gegensatz zu Luschka’s An-
schauung) bei Beugung des Körpers höchstens grösser werden
können, kleiner nur bei starker Rückwärtsbeugung. —
Da nun nach den geläufigen Angaben und einer Reihe
eigener Messungen die Niere gewöhnlich 10-3—11'0, seltner
bis 12 Cm. lang ist‘), so könnte sie nur etwa bis zur Mitte
des ersten Leudenwirbels hinaufreichen, wenn sie unten das
1) Neigung der „Normalconjugata* von 30°. —
2) Man muss hier natürlich nicht die herausgerissene oder her-
Reichert's u. du Bois-Reymonds Archiv 1376. 22
338 A. Pansch:
Darmbein erreichte; nimmt sie aber die oben angegebene mitt-
lere Lage ein, so muss sie noch 2—6 Cm, von demselben ent-
fernt bleiben, ein Resultat, das genau mit unseren directen Be-
obachtungen stimmt.
Nicht ohne Bedeutung für mich ist ferner auch die lang-
jährige Erfahrung, die wir bei der Zweitheilung unserer Leichen
für den Präparirsaal gemacht haben. Obgleich der Schnitt meist
über den vierten Lendenwirbel und etwazwei bis drei Finger
breit über dem Darmbeinkamm entlang geführt wird, wurden
die Nieren nie durchschnitten und nur in einzelnen Fällen
ihr unterstes Ende freigelegt. Freilich liesse sich hier der
Einwurf machen, dass die Nieren dabei mit oder ohne Absicht
nach oben gedrängt worden seien. —
Was die Chirurgen betrifft, so nahm Simon, der be-
kanntlich mit glücklichem Erfolge eine Niere exstirpirte, die
Lage der Niere ebenso an wie die Anatomen. Nach seinen
Uebungen an der Leiche (und an Hunden) beginnt der Haut-
schnitt in der seitlichen Lendenfurche deshalb „über der elften
Rippe und geht herunter über die zwölfte bis zur Mitte des
Zwischenraumes zwischen dieser Rippe und der Crista ossis
ilei“. Die Auslösung der Niere hält Simon für den schwer-
sten Akt der Operation, „weil die Niere zu zwei Dritttheilen
unter den Rippen liegt.“ —
Wie sich aus Obigem ergiebt, gehn also die Ansichten über
die Lage der Nieren noch ziemlich auseinander und wenn eine
Entscheidung auch vielleicht für die praktische Medicin vor-
läufig weniger Bedeutung hat, so ist es doch Sache der Ana-
tomen, einen Abschluss herbeizuführen. Da abweichende An-
sichten doch wohl wesentlich durch die bedeutenden nach Zeit
und Ort vielleicht häufigen Variationen der Lage hervorgerufen
werden, so würden also vor Allem zahlreiche neue und ge-
naue Beobachtungen erwünscht sein. —
Was nun die Percussion der Nieren anlangt, so wird
freilich wohl allgemein anerkannt, dass sie oft genug geringe
oder unsichere Resultate liefern muss, da die bedeckenden
ausgeschnittene auf dem Tisch liegende Niere messen, sondern die
durch das umgebende Fett in ursprünglicher Form in der Leiche er-
haltene Niere.
Ueber die Lage der Nieren u.s. w. 339
Weichtheile zu mächtig sind und die Nieren ausserdem noch
von der verschieden starken Fettkapsel umschlossen werden.
Dennoch möchte ich es von anatomischer Seite noch besonders
hervorgehoben wissen, dass die Fettkapsel, wenn sie einiger-
massen entwickelt ist, in vielen — ich will nicht sagen, den
meisten — Fällen eine Erkenntniss der unteren Nierengrenze
vollkommen unmöglich machen muss. Wenn schon aufmerk-
same Betrachtung des einfachen Situs dieses zeigen, so wird
es noch weit deutlicher durch horizontale Sägeschnitte. Ich
besitze solche, die in der Entfernung von je 2 Cm. durch den
Körper gelegt sind, und sie zeigen, wie die schalldämpfende
Schicht unterhalb der Niere vollständig dieselbe Dicke hat
wie in der Mitte derselben. Ein gleichmässig bis zum Darm-
bein gehender Dämpfungsbezirk ist also durchaus nicht immer
identisch mit der eigentlichen Nierendämpfung.
In Bezug auf die seitliche Grenze der Nierendämpfung
darf ich mir ferner wohl noch eine Bemerkung erlauben. Zu-
nächst meine ich, könnte auch hier eine stärkere Fettanhäufung
im Inneren die Bestimmung sehr stören und den Untersuchenden
irre führen. Nach den oben angeführten Untersuchungen würde
man den lateralen Rand der Niere ziemlich sicher in der Ent-
fernung von 10 Cm. von der durch die Proc. spinosi bezeich-
neten Medianebene finden.
Ferner will mir scheinen, dass die in der Percussionslehre
übliche Weise, den lateralen Rand der Nierendämpfung nach
seiner Entfernung von der „Wirbelsäule* zu bestimmen, etwas
unklar und jedenfalls leicht irreführend ist. Man fühlt von
der Wirbelsäule hinten doch nur die Dornfortsätze; diese
können aber nicht gemeintsein, wenn es heisst!): „Drei Finger
breit von der Wirbelsäule findet man einen dumpfen Schall-
raum“ u. s. w. — Soll man sich zu diesem Zwecke beliebig
die Wirbelsäule (mit oder ohne Querfortsätze?) an der hin-
teren Körperseite denken? Öder ist es nicht einfacher und
klarer, wenn man sagt: Die laterale Grenze der Nierendämpfung
1) Gerhardt, Lehrbuch der Auscultation und Percussion.
Zweite Aufl. 1871. S. 146.
227
340 A. Pansch:
liest 10 Cm. von den Dornfortsätzen und etwa 1—3 Cm.
von der seitlichen Lendenfurche entfernt? — Ein Irrthum in
der Auffassung wäre aber in dem angeführten Falle um so
leichter möglich, da auf der beigegebenen Fig. 16, S. 146,
die „äusseren Nierengrenzen“, die Linien ALN und ARN,
wohl durch ein Versehn viel zu weit medianwärts liegen.
Wie sie gezeichnet sind, entsprechen sie etwa dem medialen
Rande des unteren Theils der Niere.
Wenn Gerhardt und Andere es aussprechen, dass, schon
geringe hypertrophische oder hydronephrotische Umfangszu-
nahme sich durch die Percussion erkennen lässt“, so will ich
gerne zugeben, dass eine zunehmende Ausdehnung der Niere
bei einer und derselben Person in manchen Fällen sich durch
Percussion nachweisen lässt, muss aber ernstlich bestreiten,
dass aus dem Resultate einer einzigen solchen Untersuchung
irgend ein Schluss auf eine vergrösserte Niere gemacht wer-
den kann.
Was die Sectio lumborum angeht, so hat Simon (a. a. ©.)
noch erwähnt, dass er eine erleichternde Resection der zwölften
Rippe gescheut habe wegen der Gefahr einer Bröffnung der
Pleurahöhle, deren Umschlagsstelle am Orte der Resection den
oberen Rand der Rippe berühre.
Wenn Luschka (a. a. OÖ. S. 8) meint, dass diese Be-
denken nicht gerechtfertigt seien, da das Bauchfell „lose ad-
härirt und eigentlich nur dem obern Rande jener Rippe folgt,“
so muss ich erwähnen, dass nach meinen Erfahrungen aller-
dings in der Regel die Umschlagsstelle der Pleura in dieser
Gegend der zwölften Rippe anliegt, und zwar bald dem oberen,
bald dem unteren Rande entspricht, dass es aber auch Fälle
giebt, in denen die Pleura bis zur Höhe des Querfortsatzes des
ersten Lendenwirbels hinabreicht. An zwei Leichen habe ich
ein solches abweichendes Verhalten der Pleura sicher und zwei-
fellos constatiren können, und zwar jedesmal auf beiden Seiten.
Durch solche Vorkommnisse wird die Exstirpation der
Nieren in Zukunft noch um Einiges erschwert werden, denn,
will man vor einer Eröffnung der Brusthöhle ganz sicher sein,
so wird man den Schnitt in der Tiefe (beim Durchschneiden
Ueber die Lage der Nieren u. s. w. 341
des tiefen Blattes der Faseia lumbodorsalis) nur bis auf 2 oder
3 Cm. weit an den unteren Rand der zwölften Rippe hinan
machen dürfen. |
Ueber die Lageveränderungen, die bei pathologisch ver-
grösserten Organen stattfinden, kann ich mir, so wichtig es
wäre, auch hierauf von anatomischer Seite einzugehn, keine
Bemerkungen erlauben, da mir eigene Beobachtungen gänzlich
fehlen. Dagegen möchte ich zum Schluss noch einmal auf
einen Umstand hinweisen, den ich in einer Reihe von Fällen
sicher nachweisen konnte, nachdem schon Luschka ihn klar
hervorhob: ich meine den Umstand, dass !/, —!/, der Nieren
oberhalb der unteren Grenze des Pleurasacks gelegen ist. Denn
dadurch ist es nothwendig gegeben, dass bei starker Inspira-
tion, wo die Lunge hinten mehr weniger nahe an die untere
Pleuragrenze hinabrückt, durch das Zwerchfell ein Druck auf
die Niere ausgeübt werden kann, und eine leichte Verschiebung
des oberen Endes nach vorne stattfinden muss.
Obige Zeilen hatte ich bereits im Juni 1875 niederge-
schrieben, zögerte aber mit der Absendung, da ich aus mehr-
fachen Gründen wünschen musste, meine Nachforschungen noch
weiter auszudehnen. So habe ich nun noch etwa vierzig weitere
Leichen auf die Nierenlage genau untersuchen können und die
bisherigen Resultate fast stets bestätigt gefunden. Nur zwei-
mal war ich so glücklich, eine tiefere Lage zu finden (bei zwei
männlichen Leichen): bei einer Leiche reichte bei sonst ganz
normalen Verhältnissen die linke Niere bis fast an den Darm-
beinkamm, während die rechte Niere ihn noch um 2 Cm.
nach unten überschritt. Im anderen Falle reichten die Nieren
bis auf etwa 05 und 1'0 Cm. an denselben hinan.
Nach meinen auf hiesiger Anatomie an ca. hundert Leichen
gemachten Erfahrungen reicht also die Niere nur in 1 pCt.
bis an den Darmbeinkamm, und es ist dieses Verhalten des-
halb als ein recht ungewöhnliches und somit anomales zu be-
zeichnen. —
Kiel, 1. Mai 1876.
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes
bei der Zusammenziehung.
Von
E. pu Boıs- REYMoOND.
Dritte Abtheilung.
(Schluss)
$. XXV. Widerlegung der Hermann’schen Theorie
der negativen Schwankung und Untersuchung letz-
terer bei unmittelbarer Reizung curarisirter
Muskeln.
1. Hrn. Hermann’s Theorie der negativen Schwankung.
Hr. Hermann versucht die negative Schwankung des Mus-
kelstromes bei der Zusammenziehung durch die Annahme zu.
erklären, dass thätiger Muskel gleich absterbendem negativ
gegen ruhenden Muskel sich verhalte, folglich thätiger Muskel
neutral gegen absterbenden. Nach dieser Hypothese fällt bei
künstlichem Querschnitte, wenn der Muskel auf allen Punkten
seines Inneren thätig wird, der Grund zum Strome fort, da am
Querschnitt thätiger Muskel an absterbenden grenzt. Die ne-
gative Schwankung ergiebt sich somit um so leichter, als dies
Apercu der Keim aller thierisch-elektrischen Speculationen des
Hrn. Hermann war.
Dagegen bei natürlichem Querschnitt und im stromlosen
Zustand der Muskeln, den Hr. Hermann als den normalen
betrachtet, vermag Hr. Hermann aus seiner Hypothese nicht
ohne Weiteres zu erklären, dass der thätige Muskel im um-
gekehrten Sinne vom Gesetze des Muskelstromes elektromoto-
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s. w. 343
risch wirksam wird. Denn wird der Muskel zugleich auf allen
Punkten seines Inneren thätig, so heisst dies nach Hrn. Her-
mann soviel, wie dass er auf allen Punkten negativ gegen ru-
henden Muskel werde. Da nun aber, ohne weitere Hypothese,
nirgend ruhender Muskel vorhanden ist, kann eben so wenig
Strom entstehen, als wenn ein in verdünnte Schwefelsäure ver-
senkter Zinkblock auf allen Punkten zugleich in Platin sich
verwandelte.
Dieser Schwierigkeit entgeht Hr. Hermann durch zwei
Hypothesen. Die eine ist, ‘dass die Zusammenziehung des
Muskels nicht auf allen Punkten zugleich stattfinde. Das ab-
geleitete Ende des Muskels ist von der Eintrittsstelle des Ner-
ven im Allgemeinen weiter entfernt als der abgeleitete Punkt
des Längsschnittes. Hier wird also die Zuckung früher gegen-
wärtig sein als dort, und im Augenblicke der Zuckung wird
der Längsschnittspunkt sich negativ gegen das Muskelende
verhalten, mit anderen Worten, negative Schwankung wird ent-
stehen.!) In Muskeln nnd Nerven so entstandene Ströme will
Hr. Hermann „Actionsströme“ genannt wissen, und mit den
Froschhautströmen und dem Schlage der elektrischen Fische
sind sie die einzigen thierisch-elektrischen Erscheinungen, die er
im lebenden oder überlebenden unversehrten Körper zulässt.
In seiner ersten Bekanntmachung übersah Hr. Hermann,
und ich musste ihn erst darauf hinweisen,?) dass ihm mit die-
ser Annahme noch nicht geholfen sei. Denn wenn die Schwan-
kung das Ende des Muskels ergriffen hat, kommt ein Punkt,
wo nach seiner Hypothese dies Ende so negativ gegen den
Längsschnitt sich verhalten muss, wie vorher positiv; es erfolgt
positive Schwankung, und die Schwankungen heben einander
an der Bussole auf.
Deshalb fügte Hr. Hermann seitdem die zweite Hypothese
1) Weitere Untersuchungen zur Physiologie der Muskeln und
Nerven. Berlin 1867. S. 36.
2) Widerlegung der von Hrn. Dr. Ludimar Hermann kürz-
lich veröffentlichten Theorie der elektromotorischen Erscheinungen der
Muskeln und Nerven. — Monatsberichte der Akademie u. s. w. 1867,
S. 620.
344 E. du Bois-Reymond:
hinzu, dass die Zuckung, indem sie im Muskel fortschreitet,
an Stärke verliere, und dass also die positive Schwankung die
negative nicht aufhebe, welche somit zum Vorschein komme.')
An diesen Aufstellungen des Hrn. Hermann ist zweierlei
zu unterscheiden. Richtig ist daran, dass die Zusammenziehung
nicht auf allen Punkten des Muskels zugleich in derselben
Phase begriffen ist, und auch uns steht schliesslich bevor, mit
Rücksicht hierauf unsere Ergebnisse zu erörtern. Eine andere
Frage ist, ob Abnahme der Reizwelle stattfinde, und ob dadurch
die verschiedenen Erscheinungsweisen der negativen Schwankung
erklärt werden können. Zunächst werden einige Bemerkungen
über die Vertheilung der Nerven im Muskel hier am Platze
sein, da um diesen Punkt fortan die Verhandlung sich wesent-
lich dreht.
2. Wird bei mittelbarer Reizung die Muskelfaser nur an
einem Punkt oder an mehreren Punkten ihrer
Länge erregt?
Ist Hrn. Gerlach’s Lehre von einem die Muskelfaser in
ihrer ganzen Länge durchdringenden intravaginalen Nerven-
netze?) richtig, so würde der Muskel auf allen seinen Punkten
so gut wie gleichzeitig erregt, und der Hermann’schen Hy-
pothese würde jede Unterlage fehlen.
Ich will aber, da ohnehin Hrn. Gerlach’s Darstellung
mir keinen überzeugenden Eindruck gemacht hat, davon ab-
sehen,’) und mit der, wie ich glaube, grossen Mehrzahl der Hi-
stologen daran festhalten, dass es Nervenendplatten in dem
1) Untersuchungen zur Physiologie der Muskeln und Nerven.
Drittes Heft. Berlin 1868. S. 59; — Grundriss der Physiologie des
Menschen. 5. Aufl. Berlin 1874. S. 252.
2) Gerlach, das Verhältniss der Nerven zu den willkürlichen
Muskeln der Wirbelthiere. Leipzig 1874. S. 47.
3) Während des Druckes dieses Aufsatzes erhieltich durch die Güte
des Hrn. Dr. August Ewald dessen Abhandlung: „Ueber die En-
digung der motorischen Nerven in den quergestreiften Muskeln“
(Pflüger’s Archiv u. s. w. Bd. XII. 1876. S. 529), worin die Ger-
lach’sche Lehre widerlegt wird.
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s. w. 345
allgemein angenommenen Sinne giebt. Doch ist hier noch ge-
nauer festzustellen, wie man deren Vertheilung im Muskel sich
zu denken habe.
Hr. Reichert zählte im Brusthautmuskel des Frosches
auf 160—180 Muskelfasern 230—340 Nervenendigungen, wonach
jede Faser etwa 2 Nerven erhalten würde.) Hr. Kühne liess
zu jeder Muskelfaser des Froschsartorius 6—8 Nervenfasern
treten, obschon er an einigen Fasern auch nur eine, an ein-
zelnen sogar keine Nervenendigung fand?) Hr. W. Krause
wiederholte Hrn. Reichert’s Beobachtungen über die motori-
schen Nervenendigungen im Brusthautmuskel, und seine Worte:
„Manche Muskelspindeln erhalten übrigens nur eine einzige dop-
„pelt contourirte Nervenfaser,“ lassen schliessen, dass er sonst
jeder Spindel dieses Muskels mehr als eine Nervenfaser zusprach.?)
Für den M. gracilis des Frosches dagegen,‘) sowie für
alle Säugethiermuskeln, ja sichtlich sonst für alle Muskeln aller
Thiere stellte Hr. Krause die Regel auf, dass jede Muskel-
faser nur eine Nervenendigung erhält. Besonders genau über-
zeugte er sich davon am M. retractor bulbi und am M. tensor
fasciae latae der Katze’) Die von Hrn. Kühne an den Sar-
toriusfasern beschriebenen häufigeren Nerveneintritte deutete er
als Capillargefässe,‘) und sprach es schliesslich rückhaltlos aus,
„dass auch die längsten Muskelfasern der grössten Muskeln
„nur eine einzige Endplatte besitzen.“ ”)
Gleicher Meinung in Betreff der Zahl der in eine Muskel-
1) Dies Archiv, 1851. S. 58.
2) Monatsberichte der Akademie u.s. w. 1859. S. 395; — dies
Archiv, 1859. S. 565 fi.; — Ueber die peripherischen Endorgane der
motorischen Nerven. 4. Leipzig 1862. 8. 19. 20; — Stricker’s
Handbuch der Lehre von den Geweben u. s. w. Leipzig 1871. Bd.
1. S. 153.
3) Die motorischen Endplatten der quergestreiften Muskelfaser.
Hannover 1869. S. 95.
4) A. a. 0.8. 99,
5) A. a. 0. 8. 76-79.
6) €. F. Th. Krause’s Handbuch der menschlichen Anatomie.
3. Aufl. von W. Krause. Bd. I. Hannover 1876. S. 497.
7) Handbuch u.s. w. S. 495.
346 E. du Bois-Reymond:
faser eintretenden Nervenfasern scheint Hr. Gerlach. Dass
im Brusthautmuskel etwa die doppelte Zahl von Nervenendi-
gungen gefunden wurde, wie von Muskelfasern, erklärte er
durch die bei den meisten terminalen Nervenfasern vor dem
Eintritt in die Muskelfaser vorhandene Zweitheilung.!)
Von Bedeutung wird nun hier eine andere Lehre des Hrn.
Krause über den Bau der Muskeln. Die von Hrn. Rollett
wieder aufgefundene spitze Endigung der Muskelfasern im
Inneren des Muskels?) betrachtet Hr. Krause als Regel. Sei-
ner Meinung nach giebt es überhaupt keine längeren Muskel-
fasern als solche von höchstens 4 Cm. Bei Muskeln von die-
ser oder von geringerer Länge erstrecken sich die Muskelfasern
von Sehne zu Sehne, wie man es bisher auch von längeren
Muskeln fälschlich sich dachte. Bei längeren Muskeln aber
enden die Muskelfasern an beiden Enden spitz, daher Hr.
Krause die Muskelfasern „Muskelspindeln“ nennt) Hr.
1) Das Verhältniss der Nerven zu den willkürlichen Muskeln
u.s.w. 8. 34.
2) Wiener Sitzungsberichte u.s. w. 1856. Bd. XXI. S. 176.
3) Die motorischen Endplatten u.s. w. S. 2-6; — Handbuch der
menschlichen Anatomie u.s.w. A.a. 0.8.81. Hr. Krause hat
Recht, wenn er bemerkt, dass durch die von ihm in den längeren
Muskeln erkannte Anordnung deren Leistungsfähigkeit nicht be-
einträchtigt werde, da der Zug durch die fest verbundenen Muskel-
spindeln wie durch eine stetige Faser sich fortpflanze. Wenn er
aber an der zweiten Stelle hinzufügt: „Im Gegentheil dürfte die
„mechanische Leistung bei der vorhandenen Anordnung sich vortheil-
„hafter gestalten, als wenn die Muskelfasern von einem Muskelende bis
„zum andern reichten,“ wie daraus einleuchte, dass bei letzterer An-
nahme eine Sartoriusfaser vom Menschen Verhältnisse darböte, wie
ein Draht von 15 M. Länge und 1 Mm. Durchmesser, — so verstehe
ich ihn nicht. Zwar findet sich bei seinem Vater die Meinung, dass
Zwischensehnen einen Muskel verstärken (Handbuch der menschlichen
Anatomie. 1833. Bd. I. S. 63), aber diese Meinung ist irrig. Die Kraft
des Muskels ist seinem Querschnitte proportional, der doch nicht durch
Zwischensehnen vergrössert werden kann. Solche Sehnen verkleinern
nur den der Länge des Muskels proportionalen Hub, also seine Ar-
beitsleistung, daher ihr Dasein aus der Entwickelung oder aus beson-
deren Zwecken zu rechtfertigen ist (Vergl. Henle, Handbuch der
Muskellehre des Menschen. 2. Aufl, Braunschweig 1871. S. 8). Die
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 847
Nicol hat dies Ergebniss bestätigt.!)
Indem jede Muskelspindel nur eine Nervenfaser erhält. er-
klärt es sich, dass längere Muskeln nicht bloss in der Mitte
ihrer Länge, sondern bis zu einer Entfernung von ihren Enden,
die etwa der halben Länge einer Muskelspindel gleichkommt,
Nerven enthalten. Die Enden des M. tensor fasciae latae der
Katze z.B. findet man in 0°5 bis 2 Cm. nervenfrei.?) Muskeln
von geringerer Länge als 4 Cm. müssen im Verhältniss zu
ihrer Masse um so mehr Nerven erhalten, je kürzer sie sind,
längere Muskeln .eine ihrer Masse proportionale Anzahl von
Nervenfasern. Nimmt man hinzu, dass in verschiedenen Mus-
keln aus Einer Nervenfaser verschieden viel Endfasern ent-
springen können, so fehlt es nicht an Mitteln, um Erscheinun-
gen zu erklären, wie den scheinbar grösseren Nervenreichthum
der Augenmuskeln.°)
Es wird bequem sein, fortan Muskeln, in welchen die Fasern
Zusammensetzung längerer Muskeln aus Spindeln ist vortheilhafter
nur weil der an mehr Punkten innervirte Muskel schneller in ganzer
Länge einen gewissen Grad von Energie erreicht. Erhielte eine von
Ende zu Ende auch des längsten Muskels verlaufende Faser soviel
Nervenendigungen, als Spindeln dazu gehören um dieselbe Strecke
zu überspannen, so würde sie, selbst angenommen die übereinander-
greifenden Enden der Spindeln ergänzten sich stets zum gleichen
Querschnitte, nicht bloss so gut wirken, wie die ihr entsprechende
Spindelreihe, sondern besser. Denn ist v die Geschwindigkeit der
Zuckungswelle, und / die Länge, in welcher die Spindeln mit ihren
Enden aneinander liegen, so erreicht die Spindelreihe erst um die
Zeit £= v1 später als die zusammenhängende Faser auf allen
Punkten denselben Grad von Energie, wie diese.
1) Henle’s und Pfeuffer's Zeitschrift u. s. w. 1866. 3. R. Bd.
XXVIL S. 78.
2) Nach Hrn. Kölliker enthält der obere Bauch des M. omo-
hyoideus des Menschen bei einer Länge von 3“ nur in einem Bereiche
von 5—8“', also in einem Sechstel seiner Länge, Nervenfasern. Aehn-
liches berichtet Hr. Kölliker vom unteren Bauche desselben Mus-
kels, ferner vom M. sternohyoideus, sternothyreoideus, suberuralis
und eostocervicalis. Doch beziehen sich diese Angaben nur auf grö-
bere Nervenverzweigungen. (Mikroskopische Anatomie. Bd. II. Leip-
zig 1850. S. 238. 239).
3) Vergl. Krause, Die motorischen Endplatten u. s. w. S. 79.
348 E. du Bois-Reymond:
von Ende zu Ende reichen, in der Rede kurz von solchen unter-
scheiden zu können, welche der Länge nach aus mehreren Fa-
sern oder Spindeln zusammengesetzt sind. Ich werde erstere
monomere, letztere pleiomere Muskeln nennen.
Jetzt handelt es sich darum, die Nervenvertheilung in mo-
nomeren Muskeln zu untersuchen. Nach Hrn. Kühne bleibt der
Sartorius des Frosches nur im Bereiche weniger Millimeter von
seinen Enden nervenfrei.!) Nach Hrn. Krause vertheilen sich
die Nerven im M. retractor bulbi der Katze innerhalb der mitt-
leren zwei Viertel des Muskels.?) Nach Hrn. Reichert be-
schränkt sich am Brusthautmuskel des Frosches die Strecke,
in welcher die Nerven an den Muskelfasern endigen, auf das
mittlere Drittel) Endlich am Gastroknemius des Frosches
verlegt Hr. Kühne sämmtliche Endplatten etwa in die Mitte
der Muskelfasern.*)
Hier stossen wir jedoch auf eine ernste Schwierigkeit,
welche nochmals zu erörtern ich nicht für unnütz halte, ob-
schon ich schon einmal darauf hinwies.’) Aus Hrn. C. Sachs’
Versuchen folgt, dass die Wirkung einer Endplatte auf die zu-
gehörige Muskelfaser beschränkt bleibt.) Aus Hrn. Kühne’s
Versuch über doppelsinnige Leitung des Nervenprincipes am
Sartorius folgt weiter, dass auch eine Muskeifaser, der eine
Reizwelle entlang läuft, die Nachbarfasern unerregt lässt.”)
Danach erscheint unzweckmässig, dass Nervenendigungen über
einen grösseren Bezirk des Muskels sich verbreiten. Erstens
ist Nervenlänge vergeudet, zweitens geht im Nerven eine,
wenn auch kleine, doch angebbare Zeit verloren, drittens wird
die Wirkung des Muskels verlangsamt, denn der mittlere Ab-
1) Monatsberichte der Akademie u.s. w. 1859. S. 395; — dies
Archiv, 1859. S. 567.
2) Die motorischen Endplatten u.s. w. S. 76.
SATA OS TET
4) Ueber die peripherischen Endorgane u.s. w. S. 22.
5) Experimentalkritik u.s. w. Monatsberichte der Akademie u.s.w.
1874. S. 556.
6) Dies Archiv, 1874. S. 57.
7) Monatsberichte der Akademie u. s.w. 1859. S. 400; — Dies
Archiv, 1859. S. 585 ff.
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 349
stand der Endplatte von allen Punkten der Muskelfaser ist ein
Minimum, wenn die Endplatte in deren Mitte liegt. Das
scheinbar allein Zweckmässige wäre, dass sämmtliche Endplat-
ten in der mittleren Querebene des Muskels lägen, wie es,
mit Berücksichtigung seiner verschobenen Form, nach Hrn.
Kühne beim Gastroknemius der Fall ist.
Diese Schwierigkeit zu heben, müsste entweder eine aus
der Entwickelung herrührende Ursache für die scheinbar un-
zweckmässige Anordnung nachgewiesen werden, woran es bisher
fehlt; oder man müsste einen anderen damit verbundenen Zweck
ersinnen. Man könnte glauben, die Endplatten lägen deshalb
nicht alle in Einer Ebene, weil sie als krafterzeugende Organe
bedeutenden Stoffwechsel haben, und sich gegenseitig beein-
trächtigen würden, wenn sie sämmtlich in einer Querebene
versammelt wären. Im Gastroknemius lägen sie zwar virtuell
in solcher Ebene, seien aber in Wirklichkeit gegeneinander
verschoben, so dass sie in verschiedener Höhe sich befinden,
Dieser Annahme widerstreitet, dass in den Ganglien zahlreiche
Nervenzellen, deren Stoffwechsel dem der Endplatten am ehe-
sten sich vergleichen liesse, dicht gepackt sind.
Bei der Dünne der Endplatten ist auch nicht daran zu
denken, dass sie in Einer Querebene liegend am Muskel einen
ringförmigen Wulst erzeugt hätten.
Die Richtigkeit der Angabe vorausgesetzt, dass jede Mus-
kelfaser auch eines längeren monomeren Muskels nur eine
Nervenendplatte erhält, erscheint demnach als einziger Ausweg,
dass es doch noch gelinge, von Einer Endplatte aus mehrere
Muskelfasern zu innerviren. Da Hrn. Sachs’ Versuche mit
minimaler Reizung angestellt sind, so ist, wie er selber her-
vorhebt, die Möglichkeit da, dass bei stärkerer Reizung die
Wirkung der Endplatte auf mehrere Fasern sich ausbreite.
Natürlich müsste dann diese Wirkung elektrisch sein. Der
Sinn der Anordnung wäre dann, dass jede Muskelfaser an meh-
reren Stellen zugleich erregt würde, nämlich überall, wo sie
der Rückenfläche der Endplatten benachbarter Fasern hinrei-
chend nahe käme. Dadurch würde sie schneller in ganzer
Länge wirksam.
Auch verstände man, warum in längeren monomeren Mus-
350°. E. du Bois-Reymond:
keln, im Vergleich zu kürzeren, eine längere mittlere Strecke mit
Nervenendigungen versehen ist als in kürzeren (s. oben S. 348).
Dunkel bliebe dagegen, warum in pleiomeren Muskeln die
nervenfreie Strecke etwa halb so lang ist, wie eine Muskel-
spindel (s. oben S. 347), in monomeren nur wenige Milli-
meter (s. oben S. 348). Auch in ersteren sollte sie so kurz
wie möglich sein.
Hr. Krause äussert die Vermuthung, dass die zur Fort-
pflanzung der Reizwelle nöthige Zeit dem Latenzstadium ent-
spreche.!) Dies ist nicht richtig. Schon vor achtzehn Jahren
hatte Hr. Pflüger (damals noch in Berlin) denselben Gedan-
ken gefasst. Ich erhielt zu jener Zeit von Hrn. Rekoss in
Königsberg ein Helmholtz’sches Myographion, und der erste
Versuch, den Hr. Pflüger und ich damit anstellten, galt die-
ser Frage. Es zeigte sich aber auch bei unmittelbarer Reizung,
wo der Muskel auf allen Punkten zugleich erregt wird, ein
Latenzstadium.) Unzweifelhaft war dies schon von Hrn.
Helmholtz selber beobachtet, und er hatte nur versäumt, es
in seinen Abhandlungen zu erwähnen. Uebrigens würde am
Pouillet’schen Chronoskop, bei genauer Einstellung des Mus-
kels auf Belastung im Helmholtz’schen Sinne, kein Latenz-
stadium sich zeigen, wenn sofort nach Eintreffen des Reizes
im Muskel die Zusammenziehung in der Nähe der Endplatten
anfinge. Denn es liest im Wesen dieser Anordnung, dass
schon die kleinste Zunahme des Muskels an Spannung den
zeitmessenden Strom unterbricht.
3. Anwendung der neuen Lehre vom Muskelbau auf die
elektromotorischen Erscheinungen der Muskeln. Von den
sehnigen Scheidewänden der Mm. gracilis und semimem-
branosus vom Frosche. Vom Adductor magnus, einem
neuen regelmässigen Oberschenkelmuskel des Frosches.
Wir kehren zu unserem Gegenstande zurück, indem wir
ı) Handbuch u.s.w. S. 501.
2) Vergl. E. du Bois-Reymond, On the Time required for
the Transmission of Volition and Sensation through the Nerves. -
Proceedings of the Royal Institution of Great Britain. April 13, 1866.
p. 6. 8. Fig, 2
Ueber die negative Schwankung des Mnskelstromes u. s. w. 351
erwägen, wie Hrn. Krause ’s Lehre vom Muskelbaue zur Lehre
vom Muskelstrome passe. Sichtlich muss in pleiomeren Mus-
keln jede Spitze einer Muskelspindel Sitz von Parelektronomie
und terminaler Nachwirkung sein. Allein die negativen
Kräfte aller inneren Enden heben, wie man annehmen darf,
im Allgemeinen einander auf. Der elektromotorische Erfolg ist
also derselbe, als reichten die Fasern von Sehne zu Sehne.
Folglich bleiben bei Hrn. Krause’s Vorstellung vom Muskel-
baue auch an pleiomeren Muskeln alle unsere Schlüsse in Kraft.
Die monomeren Froschmuskeln werden selbstverständlich
dadurch gar nicht berührt. Doch hat neuerlich mit Bezug auf
die Frage nach der Geschwindigkeit der Reizwelle Hr. Her-
mann!) auf den zuerst von Hrn. Ecker?) hervorgehobenen
Umstand aufmerksam gemacht, dass die Mm. gracilis und semi-
membranosus vom Frosche durch eine sehnige Scheidewand in
zwei Abschnitte getheilt werden. Hr. Ecker hatte für beide
Muskeln zweifelhaft gelassen, ob die Scheidewand alle Fasern
unterbreche, und vom Semimembranosus hatte er angegeben,
dass sie den Muskel in schräger Richtung in eine vordere und
hintere Hälfte theile. Hr. Hermann behauptet für beide Mus-
keln mit grösster Schärfe Unterbrechung aller Fasern in der
Art, dass der Muskel in einen oberen und einen unteren Ab-
schnitt zerfalle, aus deren einem die Zusammenziehung, wenig-
stens am entnervten Muskel, nicht auf den anderen übergehe;
und er gründet hierauf eine Kritik der Versuche, durch
welche Hr. Aeby°) und später Hr. Bernstein‘) die Ge-
schwindigkeit der Reizung im Muskel maassen.
Ich selber habe mich des Gracilis und Semimembranosus
oft als regelmässiger Muskeln bedient, namentlich des ersteren,
denn am Semimembranosus hatte ich schon eine andere Ab-
1) Pflüger’s Archiv u. s. w. 1875. Bd. X. 8. 49.
2) Die Anatomie des Frosches. Braunschweig 1864. S. 113. 114.
Fig. 81. 82.
3) Untersuchungen über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der
Reizung in der quergestreiften Muskelfaser. Braunschweig 1862.
4) Untersuchungen über den Erregungsvorgang im Nerven- und
Muskelsysteme. Heidelberg 1871. S. 76 fi.
352 E. du Bois-Reymond:
weichung beschrieben, welche darin besteht, dass der Muskel
in einem Theile seiner Länge von unten nach oben neue Fleisch-
bündel ansetzt, die von beiden Seiten eines an seinem äusseren
Umfang emporsteigenden Sehnenstreifes entspringen.) Die
Inscriptiones tendineae, welche schräg über die Aussenfläche?)
beider Muskeln verlaufen, waren mir nicht unbekannt; doch
hielt ich sie für oberflächlich und hatte bisher keine Veran-
lassung, sie näher zu berücksichtigen.
Aus Gründen, welche bald erhellen werden, habe ich jetzt
diesen Punkt genauer untersucht. Ich gelangte leicht zum
Ziele mittels des Verfahrens, welches mir zur Darstellung der
facettenförmigen Endigung der Muskelfasern an den Sehnen-
spiegeln des Gastroknemius und Triceps so nützlich ward.?)
Die Muskeln wurden leicht ausgespannt, mit Platindraht auf
Glasstreifen von etwa 6 Mm. Breite und 40—50 Mm. Länge
befestigt, und in das bekannte Gemenge von Salpetersäure und
krystallisirtem chlorsaurem Kali gelegt. Das Immobilisiren
der Muskeln erfüllt den wichtigen Zweck, zu verhindern, dass
sie in der isolirenden Flüssigkeit zu unförmlichen Klumpen
sich zusammenballen. Nach hinreichender Einwirkung des
Gemenges geht der Muskel da, wo eine sehnige Scheidewand
vorhanden ist, bei sanfter Berührung auseinander, und in den
Trennungsflächen unterscheidet man mit der Lupe die sammet-
artige Mosaik der Faserenden. So ‘sind folgende Ergebnisse
gewonnen.
In Fig. 3 zeigt @ die Innenfläche (s. Anm. 2) des rechten
Graeilis. Der hintere Rand des Muskels, in der Figur der
linke, wulstet sich nach innen vor, und giebt dadurch Anlass
zur Bildung einer Falte, in der bei x der Hilus liegt. Die
über den Muskel ausgezogene Curve ist der Rand der Scheide-
wand an der dem Beschauer zugekehrten Innenfläche; ihr
gleichsam durch den Muskel hindurch gesehener Rand an der
1) Dies Archiv, 1863. S. 679.
2) Aussen- und Innenfläche der Muskeln heissen im Folgenden
beziehlich die dem Lymphraum und die dem Knochen zugewandten
Flächen der Muskeln.
3) Monatsberichte der Akademie u.s. w. 1872. S. 802.
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 353
dem Beschauer abgewandten Aussenfläche ist gestrichelt. Der
Theil der Scheidewand, welcher eine perspectivische Ansicht
Fig. 3.
gewährt, ist getüpfelt. Wie man sieht, ist der obere Muskel-
abschnitt im Allgemeinen keilförmig in den unteren, schwalben-
schwanzförmigen Abschnitt eingelassen. Aber die Gestalt der
Inseription ist nicht dieselbe an beiden Flächen. An der
Aussenfläche bildet sie bei sonst stetigem Verlauf eine nach
hinten verschobene stumpf lancettförmige Spitze nach unten,
An der Innenfläche macht sie an der oben erwähnten Falte einen
Sprung in der Faserrichtung, so dass einander berührende Fasern
in verschiedener Höhe unterbrochen sind. Der so entstehende
spitze Zipfel liegt in gleicher Höhe mit der stumpfen Spitze an der
Aussenfläche. Dies war der nächste Punkt, wo in Hrn. Aeby’s
Versuchen die von dem Elektrodenpaar am unteren Muskel-
ende ausgehenden Stromschleifen Enden durchgehender Fasern
trafen.!)
Die vier anderen Abbildungen beziehen sich auf den
rechten Semimembranosus. ‚S, zeigt seine Aussen-, $, seine
Innenfläche. Beidemal ist der Rand der Scheidewand an der
dem Beschauerzugekehrten Fläche ausgezogen, an der anderen ge-
strichelt. Die perspectivisch sichtbare Grenzfläche ist ge-
tüpfelt. Man bemerkt sogleich, dass die Scheidewand nicht den
1) Vergl. Aeby in Pflüger’s Archiv für die gesammte Phy-
siologie u.s.w. 1875. Bd. XI. S. 465.
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 23
354 E. du Bois-Reymond:
ganzen Muskel in zwei Abschnitte trennt, sondern fast wie die
Narbe eines schräg von unten und hinten nach oben und vorn
geführten Hiebes nur etwa zwei Drittel des Muskels durch-
dringt. Nichts ist leichter, als ohne jede weitere Maassnahme
sich davon schon an dem von der Haut entblössten Muskel in
situ zu überzeugen, wo er den Anblick wie in S, dar-
bietet. S, und S, zeigen den Muskel beziehlich ‘von seinem
äusseren und seinem inneren Rand aus gesehen, nachdem von
dem Theile des Muskels, dessen Fasern unterbrochen sind, der
obere Abschnitt entfernt wurde. Eine ‚mächtige Fasermasse
verläuft, wie man sieht, ununterbrochen vom oberen Ende des
Muskels bis nahe an das knorpelige Hufeisen, durch welches
der Muskel an der Tibia sich befestigt; die Länge ihrer längsten
Fasern beträgt gegen 0°9 der Muskellänge.
Daraus erklärt sich Hrn Bernstein’s Erfolg, da in sei-
nen Versuchen Gracilis und Semimembranosus zugleich ange-
wendet wurden.) Wenn auch nur einem Theile der eine
Muskelmasse zusammensetzenden Fasern eine Zuckungswelle
entlang läuft, entsteht doch eine dem Querschnitt der Masse
einigermaassen proportionale Verdickung am Ort der Welle,
weil die nicht selbstthätig anschwellenden Fasern, um die Ver-
kürzung mitzumachen, ziekzackförmig sich lagern, wie man
bei mikroskopischer Beobachtung des Tetanus bekanntlich an
ermüdeten Fasern sieht.
Wer, wie Hr. Hermann, überall zum Meister sich auf-
wirft, sollte sich doppelt vor so fatalen Fehlern hüten, wie mit
einem Ausrufungszeichen zu verkünden, dass auch der Semi-
membranosus durch seine Scheidewand ganz vollständig unter-
brochen werde, und darauf neuen herben Tadel zu gründen,
wenn er nur die Augen aufzumachen brauchte, um sich eines
Besseren zu belehren.
Der Nerv des Gracilis theilt sich, wie schon Hr. Aeby
1) Hr. Hermann hatschon darauf aufmerksam gemacht (a. a. O.
S. 49), dass Hr. Bernstein irrthümlich den Gracilis und Semimem-
branosus die beiden Adductoren, den Semitendinosus Biceps nennt
(Untersuchungen über den Erregungsvorgang u.s.w. S. 80).
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s. w. 355
bemerkte,') in einen Ast für den oberen und einen für den un-
teren Abschnitt des Muskels. Bei gleichzeitiger Innervation bei-
der Aeste hat diese Einrichtung grössere Geschwindigkeit der
Wirkung des Muskels zur Folge. Warum im Semimembranosus
nur ein Theil der Fasern desselben Vortheils geniesse, ist
leichter zu fragen als zu sagen.
Die Fasern beider Muskeln stossen an die sie unterbrechende
Scheidewand jederseits mit ziemlich gut ausgebildeten Fa-
cetten, nach Art der Fasern der Seitenrumpfmuskeln der Fische.?)
Es werden also den Scheidewänden entlang jederseits Neigungs-
stromkräfte herrschen, bei gleicher Parelektronomie jedoch in
der Ruhe einander aufheben. Dass dies gewöhnlich der Fall
sei, folgt daraus, dass gerade am Gracilis das Gesetz des Mus-
kelstromes, mit Inbegriff der Neigungsströme, am sichersten
und reinsten sich darstellt. Auch bei mittelbarem Tetanus müssen
jene Krafte einander aufheben. Deshalb haben wir die Kenntniss
der sehnigen Scheidewände bisher ohne Schaden entbehrt. Sie
hätte uns indess eine Auskunft mehr geboten, um die Un-
regelmässigkeiten zu erklären, auf die wir am tetanisirten
Gracilis bei Ableitung des Stromes von verschiedenen Längs-
schnittspunkten stiessen. (S. oben I. S. 536).
Es erschien jetzt wünschenswerth, für gewisse Gelegen-
heiten neben dem Sartorius, der so leicht abstirbt und dessen
Nerv so zart ist, und dem Cutaneus femoris, mit dem vollends
nichts anzufangen ist, noch einen regelmässigen mono-
meren Muskel zu besitzen. Ich fand einen solchen, für
manche Zwecke ganz tauglichen, in dem von Hrn. Ecker als
Adductor magnus°?) bezeichneten Oberschenkelmuskel vom
Frosche. Zwar hängt dieser Muskel oben mit dem einen Kopfe
des Semitendinosus, unten mit dem Adductor longus Ecker
zusammen. Doch lassen beide Verbindungen ohne Verletzung
1) A. a. 0. S. 48. 49.
2) Monatsberichte der Akademie u.s.w. 1872. S. 811.
3) Die Anatomie des Frosches. Braunschweig 1864. S. 116. Fig.
83. 84. Man wird sich hüten müssen, den Muskel seinem Namen nach
mit dem früher von mir (nach Cuvier) Adductor magnus genannten
Graeilis zu verwechseln. Dies Archiv, 1867. S. 263. Anm. 2.
23*
356 E. du Bois-Reymond:
unseres Muskels sich lösen; unten bleiben Stoppeln des Ad-
duetor longus stehen, sterben aber unstreitig so schnell ab,
dass nichts auf sie ankommt. Das untere Ende des Muskels
bildet, wie Hr. Ecker es ausdrückt, eine Art Muskelrohr um
das Femur, und lässt sich ohne Verletzung nicht davon trennen.
Daher der Muskel sich nicht wohl dazu eignet, das Gesetz des
Muskelstromes mit natürlichem Querschnitt daran zu erweisen.
Dagegen kann man ihn gut im Muskelspanner mittelbar oder un-
mittelbar tetanisiren. Oben lässt man ihm ein Stüek Becken, unten
etwa das untere Drittel des Femur und den Kopf der Tibia,
die man mittels einer um das Knie gelegten Fadenschlinge an
die eine Elfenbeinplatte des Spanners befestigt. Der Nerv des
Adductor magnus ist so viel leichter darstellbar als der des
Sartorius, Gracilis und Triceps, dass es einer besonderen Vor-
schrift dafür, wie für die Nerven jener Muskeln (S. oben I.
S. 521. 542. 556), nicht bedarf.
4. Hrn. Hermann’s Theorie vermag auch bei den gün-
stigsten ihr gemachten Zugeständnissen die Erschei-
nungen der negativen Schwankung nicht zu erklären.
Wenn es im Vorigen scheinen konnte, als verweile ich
. über Gebühr bei Betrachtungen, aus denen schliesslich nichts
sich ergab, als wie wenig wir davon wissen, auf welche Art
die Muskeln erregt werden: so geschah dies nicht unabsicht-
lich. Es lag mir daran, den Leser an die unsichere Beschaf-
fenheit des Bodens zu erinnern, auf dem wir uns bewegen.
Dies ist der Flugsand, auf welchem Hr. Hermann nach seiner
eigenen Erklärung!) seine Lehrgebäude mit Vorliebe aufführt.
Wir sahen schon, was seine Theorie der negativen Schwankung
werth ist, wenn zufällig und trotz allem Anschein, Hr. Ger-
lach in Betreff der motorischen Nervenendigungen doch Recht
behalten sollte (S. oben S. 168). Aber wie steht es um diese
Theorie, auch wenn Hr. Gerlach sich irrte, wenn aber die
oben S. 348, 349 geäusserten Zweifel sich bestätigten, und es sich
zeigte, das der Muskel nicht umsonst bis nahe an seinen Enden
1) Lud. Hermann, Weitere Untersuchungen zur Physiologie
der Muskeln und Nerven. Berlin 1867. S. 67.
ie in ‚ Aic
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u.s. w. 357
Nerven hat, sondern bei stärkerer Reizung innerhalb des gan-
zen nervenhaltigen Bezirkes erregt wird? Dann hätte die Reiz-
welle nur die wenig Millimeter lange Bahn der nervenfreien
Enden zu durchlaufen, und wird Hr. Hermann behaupten,
dass sie schon in so kurzer Strecke hinreichend abnehme?
Doch ich verschmähe es, in dieser Trübe zu fischen. Ich
will vielmehr von den Hrn. Hermann günstigsten Annahmen
ausgehen, 1. dass die Reizwelle im Muskel abnehme; 2. dass
jede Muskelfaser eines regelmässigen monomeren Muskels nur
an Einem Punkt ihrer Länge erregt werde. Der Einfachheit
halber setze ich ferner voraus, dass dieser Punkt die Mitte
des Muskels sei, oder dass sämmtliche Endplatten in der Mitte
der Muskellänge liegen. Es wird sich zeigen, dass die Folge-
rungen aus dieser Annahme dem in Wirklichkeit stattfindenden
Verhalten angepasst werden können. In der die Endplatten
enthaltenden Querebene, also am Aequator des Längsschnittes,
befinde sich die eine ableitende Thonspitze, während die andere
das sehnige Ende oder dort angelegten künstlichen Querschnitt
berührt. Wird der Nerv erregt, so laufen also, jeder Reizung
entsprechend, Reizwellen von der Mitte des Muskels nach sei-
nen beiden Enden.
Wir nehmen der Einfachheit halber an, dass die augen-
blicklichen Reizungen, die wir den Muskel treffen lassen, ein-
ander in solchem Zeitabstande folgen, dass die Welle Zeit hat,
am Aequator zu entstehen, nach dem Ende des Muskels zu
laufen, und dort zu vergehen. Den Zeitraum zwischen je zwei
Reizungen theilen wir in drei Abschnitte, einen Abschnitt 7\,,
während dessen die Welle unter der Spitze am Aequator hin-
durchgeht, einen Abschnitt 2, während dessen sie zwischen
den ableitenden Spitzen wandert, und einen Abschnitt 7,,
während dessen sie sich am Querschnitte befindet. Wir wollen
vorläufig setzen 7, = T,;,= T. Auch nehmen wir, wie bei Erörte-
rung der Versuche am Elektrodynamometer (S. oben II. S. 641),
rechteckige Gestalt der Zähne der Doppelktenoide an, als
welche man die aus abwechselnd positiven und negativen Wellen
bestehende Curve bezeichnen kann. Die Wirkung des Muskels
in der Ruhe, oder im Zeitabschnitt R, sei M, seine Wirkung
358 E. du Bois-Reymond:
im Abschnitt 7, sei M,, die im Abschnitt 7,, M,. Dann
wird die Wirkung im Tetanus sein
EM+ TI, +M)
R+2T. :
$
Rr2T:
Denkt man sich nun den Muskel stromlos, d.h. nach Hrn.
Hermann völlig unversehrt, und die Reizwellen nach den
Enden des Muskels zu abnehmend, so muss bei Zuckung
oder Tetanus in der That Wirkung im richtigen Sinn ent-
stehen. Sei (um Hrn. Hermann’s Hypothese genauer aus-
zudrücken) A der elektromotorische Unterschied zwischen ru-
hender und absterbender oder thätiger Muskelsubstanz, und
A — 0 der Unterschied zwischen ruhender Substanz und der
Substanz in dem Thätigkeitsgrade, der wegen Abnahme der
Reizwelle noch am Ende des Muskels herrscht. Dann ist
M=0, M=-4 M,=-A-0°.
R
Man hat S=6- Rat
Legt man künstlichen Querschnitt an, so erzeugt man
eine absterbende Schicht, zwischen welcher und ruhendem Mus-
kel der Unterschied A herrscht. Nun ist schon während der
Ruhe Strom da. Im Augenblick, wo die Reizwelle am Aequa-
tor entsteht, wird der Strom Null, weil die Thonspitze dort
thätige, die Thonspitze am Querschnitt absterbende Substanz
berührt, welche beide gleich negativ gegen ruhende Substanz
sein sollen. Vom Augenblick an aber, wo die Reizwelle unter der
Aequatorspitze hindurchging, ist der Strom wieder in voller
Stärke da. Denn nach einer von Hrn. Hermann’s zahllosen
Hülfshypothesen ad hoc bilden ruhende, thätige und abster-
bende Muskelsubstanz eine V olta’sche Spannungsreihe.!) Dies-
mal ist also M=A, M,=0, M,;=A, folglich
und die Schwankung
S=-EM- MM -M;)-
Br eh
ER ea
S ist beidemal positiv; und da A>0 und
7)
Der
1) Pflüger’s Archiv u.s.w. 1871. Bd. IV. S. 177. 178.
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s.w. 359
sieht es fast so aus, als seien die oben S. 125. 152 gestellten
Bedingungen erfüllt, und als vermöchte Hrn. Hermann’s Hy-
pothese sogar Rechenschaft von unseren neuen Thatsachen zu
geben, dass die Schwankung bei künstlichem die bei natür-
lichem Querschnitt absolut übertrifft, und dass das Verhältniss
der Schwankung zum Strom in der Ruhe bei natürlichem Quer-
schnitte grösser ist als bei künstlichem.
Allein damit ist auch ihre Leistung zu Ende. Sobald
statt dieser Grenzfälle der allgemeine Fall eintritt, dass der
Muskel mässig parelektronomisch ist, was Hr. Hermann
dahin auslegt, dass am Querschnitt eine Schicht sich befindet,
welche minder schnell abstirbt, als die Schicht am künstlichen
Querschnitt, herrscht nur noch Dunkel. SeiA-d die Kraft
zwischen dieser Schicht und ruhender Substanz. Im Augen-
blick, wo die Reizwelle unter der Längsschnittsspitze ver-
weilt, entsteht negative Schwankung im Betrage von - A+.d,
Was aber wird geschehen im Augenblicke, wo die Welle am
Querschnitt anlangt? Hrn. Hermann’s Andeutungen über
seine Hypothese lassen uns dieser Frage gegenüber völlig im
Unklaren. Etwas Nutzloseres, als die hier in seinem Sinn
etwa denkbaren Möglichkeiten zu zergliedern, dürfte es
nicht geben. Wenn man es nicht scheut, Hülfshypothesen ad
hoc aufeinander zu häufen, wird es aber freilich auch unter
diesen Bedingungen glücken, negative Schwankung von passen-
der Stärke herauszubringen.
Betrachten wir jetzt den Zustand höherer Parelektronomie,
in welchem schon der ruhende Muskel negativ wirkt. Schon
die Erklärung dieses Zustandes an sich bereitet Hrn. Hermann
unüberwindliche Schwierigkeiten. Bekanntlich fasst er die Par-
elektronomie als „Indolenz*“ der Muskelsubstanz auf, welche durch
die Kälte zu träge zum Absterben werde, und der natürliche
Querschnitt erscheint ihm, den schlagendsten Gründen ent-
gegen,') sonst als vulnerabelster Theil des Muskels. Jetzt
muss er annehmen, dass dieselben Umstände, welche bei
mässiger Einwirkung den Muskel mässig, bei stärkerer Ein-
wirkung ihn mehr „indolent* machen, bei noch stärkerer
1) Dies Archiv, 1871. S. 603 ff.
360 E. du Bois Reymond:
Einwirkung ihn wieder weniger „indolent“ machen, und
dass dabei zugleich der Querschnitt der weniger vulnerable
Theil wird. Aber die Verlegenheit wird noch schlimmer durch
die absolut negative Schwankung solchen Muskels im Te-
tanus. Er wird nämlich dadurch zur Annahme gezwungen,
dass die vulnerablere, schneller absterbende mittlere Gegend
des Muskels stärkere negative Schwankung hat, als die ver-
gleichsweise unversehrte Schicht, welche an den Querschnitt
stösst. Es bleibt ihm nichts übrig, als mittels neuer Hypothe-
sen ad hoc sich auch über diesen Widerspruch hinwegzusetzen.
Die innere Nachwirkung kann Hr. Hermann erklären.
Bei künstlichem Querschnitte bleibt der Längsschnitt noch eine
Zeitlang negativer zurück. Bei natürlichem Querschnitt über-
trifft die hinterbleibende Negativität des Aequators die des
Querschnittes. Wäre nur überhaupt verständlich, wie der Mus-
kel, nachdem er durch einen dem Absterben vergleichbaren
Vorgang negativ ward, seine natürliche Beschaffenheit im Nu
fast vollständig wiedergewinnt.!)
Was die terminale Nachwirkung betrifft, so wäre ich
begierig zu sehen, wie Hr. Hermann damit fertig wird.
Sie beruht erfahrungsmässig auf einer am natürlichen Quer-
schnitte bei der Zuckung sich bildenden elektromotorischen
Fläche, welche von innen nach aussen wirkt. Ich vermag mir
keine Combination auf den von Hrn. Hermann aus der Luft
gegriffenen Grundlagen zu denken, welche zur Entstehung sol-
cher Fläche führte.
Den verschiedenen Verlauf der Zuckung bei künstlichem
und natürlichem Querschnitt vermag Hr. Hermann scheinbar
wieder zu erklären. Da er bei natürlichem Querschnitt die nega-
tive Schwankung aus zwei Schwankungen, einer positiven und
einer negativen, entstehen lässt, von denen letztere siegt, so ver-
fügt er, wie man meinen sollte, formell dazu über ähnliche
Mittel, wie wir (S. oben S. 156). Unmittelbare Erfahrung zeigt
aber (S. unten), dass in seinem Falle diese Mittel nicht hinreichen.
Wenn die negative Schwankung der Ausdruck ver-
schiedener Grösse der Reizwelle an den beiden abgeleiteten
1) Vergl. Monatsberichte u. s. w. 1867. S. 621.
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5
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Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 361
Punkten ist, so muss sie mit diesem Unterschied abnehmen,
also unter anderem mit der Länge des Weges, den die Welle
zwischen beiden Punkten zurücklegt; sei’s dass die Spannweite
des ableiteaden Bogens kleiner, sei’s dass der Muskel kürzer ist.
An einem regelmässigen, wegen Parelektronomie stromlosen
Muskel, der vom Nerven aus tetanisirt wird, müsste also, nach
Hın. Hermann, bei Ableitung vom natürlichen Querschnitt
und von einem diesem nahen Punkte des Längsschnittes,
die Schwankung bei gleichem Widerstande sehr klein sein im
Vergleiche zu der bei Ersatz letzteren Punktes durch den Ae-
quator. Dagegen dürfte sie nicht merklich zunehmen, wenn,
während die eine Spitze am Aequator liegen bliebe, die andere
von einem dem sehnigen Ende nahen Punkt auf natürlichen
Querschnitt rückte. Bei künstlicbem Querschnitt dagegen
müsste sie unabhängig von der Spannweite des ableitenden
Bogens sein. Bei mittlerer Parelektronomie, wobei Hrn. Her-
mann’s Hypothese, wie man sah, überhaupt ganz unklar ist,
lässt sich ohne Hülfshypothesen über das entsprechende Ver-
halten Nichts aussagen; und vollends von dem wegen Parelek-
tronomie negativ wirksamen Muskel kann gar nicht weiter die
Rede sein. Nach meiner Lehre ist beim Tetanisiren des Mus-
kels vom Nerven aus in allen Fällen die Schwankung dem
Strom in der Ruhe proportional; was am stromlosen Muskel
soviel heisst, wie dass in jeder Lage des Bogens die negative
Schwankung in der verhältnissmässigen Stärke hervortritt, in
welcher bei derselben Lage der positive Strom in der Ruhe
nach Herstellung künstlichen Querschnittes sich zeigen würde.
Obschon ich mich von diesem Verhalten schon vor langer Zeit
überzeugte, und es auch mit den vollkommneren seitdem er-
fundenen Methoden in der Hauptsache bestätigt fand (S. oben
I. S. 534), liess ich mich jetzt doch die Mühe nicht verdriessen,
diesen Punkt nochmals ausdrücklich zu untersuchen. Bei jenen
früheren Gelegenheiten hatte ich die Aenderung des Wider-
standes bei verschiedener Spannweite des Bogens nicht berück-
sichtigt. Da diese Aenderung den Strom des ruhenden Mus-
kels ebenso wie die Schwankung beeinflusst, kommt eigentlich
hierauf nichts an; um aber Alles versucht zu haben, schaltete
362 E. du Bois-Reymond:
ich jetzt ein Widerstandsrohr in den Kreis, wie wir es oben I.
S. 530. 531. 600 ff. anwandten. Ich bekam an Sartorius, Ad-
ductor magnus und Gracilis bei verschiedenen Graden von Parelek-
tronomie wieder nichts zu sehen, als Annahme der Schwankung
mit der Spannweite des Bogens. Doch ist zuzugeben, dass, da so-
wohl nach Hrn. Hermann als nach mir dieser Erfolg zu erwarten
steht, und nur eine im Verhältniss zum Strom in der Ruhe
übermässige Abnahme für Hrn. Hermann sprechen würde, wie
sie gelegentlich auch aus anderen Gründen vorkommen kann,
die Beweiskraft der Versuche keine unbedingte ist.
Die sehnige Scheidewand, welche den Gracilis in zwei
etwa gleich lange Abschnitte theilt, bereitet Hrn. Hermann
neue Schwierigkeiten. Denken wir uns, dass in jedem Ab-
schnitt die Endplatten wieder in der mittleren Querebene des
Muskels liegen, und dass der Gracilis vom Aequator und dem einen
sehnigen Ende abgeleitet wird, so kann nach Hrn. Hermann die
Schwankung nur dadurch entstehen, dass in jedem der Abschnitte
die Wellen nach den Enden des Muskels zu stärker abnehmen, als
nach dessen Mitte. Erstens sieht man dafür am unversehrten Mus-
kel keinen Grund. Zweitens erscheint unbegreiflich, dass aus dem
Unterschied in der Abnahme der auf- und abwärts laufenden
Wellen stärkere Schwankung entstehen solle, als am Sartorius,
wo nicht allein die Wellen sich nicht dergestalt von einander
abziehen, sondern auch einen doppelt so langen Weg zurücklegen.
Am Semimembranosus müsste wegen dessen undurch-
brochenen Theiles stärkere Schwankung als am Gracilis auf-
treten, wovon man nichts gewahr wird.
Aehnliche Schwierigkeiten bietet Hrn. Hermann der
Gastroknemius. Am stromlosen, von Haupt- und Achillessehne
abgeleiteten Gastroknemius kann er die negative Schwankung
nur durch die neue Hülfshypothese erklären, dass die Wellen
nach unten sehr viel schneller abnehmen als nach oben, so
dass bei jeder Reizung der Neigungsstrom des Kniespiegels einen
Augenblick dieOberhand gewinnt. Abermals ist dafür kein Grund
einzusehen. Abermals ist unverständlich, wie aus dem Unter-
schied der Wellen, die fast genau denselben Weg zurücklegten,
die mächtige Schwankung des Gastroknemiusstromes entspringen
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 363
solle, um somehr, als die Gastroknemiusfasern im Mittel etwa
fünfmal kürzer sind, als die Sartoriusfasern (S. oben II. S. 663).
So steht es mit Hrn. Hermann’s Hypothese, wenn ihm
die beiden oben $S. 357 erwähnten Zugeständnisse gemacht
werden. Das eine dieser Zugeständnisse ist sichtlich falsch.
Mit Ausnahme des Gastroknemius sind die Muskeln in weiter
Ausdehnung nervenhaltig, mit anderen Worten, die Nervenend-
platten liegen nicht in der Mitte der Fasern. Es scheint also an
der Bahn zu fehlen, in der die Zuckungswelle abnehmen könnte,
Allein unter der Voraussetzung, dass jede Faser nur am Ort der
Nervenendplatte erregt wird, lässt sich für die Hermann’sche
Hypothese annähernd dieselbe Grundlage gewinnen, wie wenn
alle Fasern ihre Nervenendplatten in der Mitte trügen (S.
oben ebenda).
Man denke sich zwei aneinanderliegende Fasern, deren
eine die Nervenendplatte in der Entfernung & vom einen, die
andere in derselben Entfernung vom anderen Ende hätte. Die
beiden Fasern werden vom Aequator und dem einen sehnigen
Ende abgeleitet. Wänn wird, wenn A die Länge der Fasern
ist, eine Schwankung durch Abnahme der Reizwelle übrig
bleiben, welche, wenn diese Abnahme dem zurückgelegten
Wege proportional erfolgte, einer Länge = 2 — 2 +22= 28 ent-
spräche. Sie würde also kleiner sein, als wenn sämmtliche
Endplatten in der Mitte der Faserlänge lägen, oder als wenn
ji
€=5 wäre, und sie würde für &=0 verschwinden.
Wendet man diese Betrachtung auf die im Muskel vorhan-
denen Faserpaare an, deren Nervenendplatten ın gleicher Ent-
fernung vom Ende liegen, so gewinnt es den Anschein, als
lasse die Hermann’sche Hypothese zur Noth sich auch mit
der thatsächlichen Anordnung der Nervenendplatten im Muskel
vereinigen. Allein man stösst dabei auf den Uebelstand, dass dann
die Schwankung bei mittelbarer Reizung schwächer ausfallen
müsste als bei unmittelbarer, während das Gegentheil der
Fall ist.
364 E. du Bois-Reymond:
Der Leser ist im Stande zu beurtheilen, ob viel darauf
ankommt oder nicht. Gleichviel ob schon die erste Grundlage
der Hypothese fehlerhaft ist oder nicht, sie trifft, wie man sah,
auf soviel weitere Schwierigkeiten, dass ihr mit der Hinweg-
räumung des ersten Anstosses nicht geholfen ist.
5. Aus Hrn. Bernstein’s Versuchen folgt nicht, dass im
unversehrten Muskel die Reizwelle merklich abnehme.
Nur ist es Zeit, auch noch das andere Hrn. Hermann
oben S. 357 gemachte Zugeständniss näher zu prüfen, die An-
nahme nämlich, dass die Reizwelle im Muskel abnehme. Hr.
Hermann hatte ursprünglich diese Abnahme nur ad hoc er-
funden. Seitdem hat er das Glück gehabt, dass Hr. Bern-
stein in Versuchen am Differential-Rheotom sie wirklich be-
obachtete. Regelmässige durch Curara entnervte Muskeln wurden
vom einen Ende A aus unmittelbar gereizt. Zwei ableitende
Thonspitzen « und ß lagen symmetrischen Längsschnittspunkten
an, @ dem Ende A, 8 dem B näher. Es herrschte also kein
Strom im Kreise; war einer da, so wurd®®er compensirt. Lief
nun die Welle unter Spitze « fort, so entstand eine Schwan-
kung im Sinne, dass @ negativ gegen 8 wurde. Diese Schwan-
kung heisst negativ, weil sie als solche sich darstellen würde,
wenn Spitze ß dem Ende B des Muskels selber anläge. Nach
der Zeit, in welcher die Reizwelle von @ nach ß gelangt, folgt
auf die negative Schwankung eine positive im Sinne, dass
nun ® negativ gegen @ sich verhält. Wie kaum gesagt zu
werden braucht, liegt die Erklärung der Erscheinung darin,
dass die in Thätigkeit gerathende Strecke des Muskels minder
stark elektromotorisch wirkt, und also negativ gegen den übri-
gen Muskel sich verhält, wie dies Czermak schon vom Wulste
bei Hrn. Schiff’s sogenannter „idiomusculären Contraction *
nachgewiesen hatte.! )
Hr. Bernstein stellt nun als Regel hin, dass die nega-
1) Wiener Sitzungsberichte. 1857. Bd. XXIV. S. 510; — All-
gemeine Medicinische Central-Zeitung. 1861. XXX. Jahrgang 45.
Stück. S. 353.
BEL:
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 365
tive Schwankung an Grösse die positive übertreffe, was auf
Abnahme der Reizwelle schliessen lasse, und in der That er-
kennt man dies Verhalten in 5 unter den 13 von ihm mitge-
theilten Versuchsprotokollen (XXXIX, XLI, XLIX, L, LI).')
Allein es ist nicht zu übersehen, dass mit Ausnahme eines
einzigen Versuches am Gracilis (XXIX) alle diese Versuche
am Sartorius angestellt sind, einem schwächlichen Muskel,
der vom Augenblicke der Präparation an meist rasch abstirbt.
Daher in Hrn. Bernstein’s Protokollen, welche im Ganzen
23 Versuche umfassen (von denen 13 hierher gehören),
zehnmal die Bemerkung wiederkehrt, der Muskel habe nur
schwach gezuckt, er sei unerregbar geworden u. d. m.?) Die
Vermuthung liegt daher nahe, dass die Abnahme der Reiz-
welle in den Bernstein’schen Versuchen keine normale
Erscheinung war, sondern darauf beruhte, dass die Muskeln
schnell abstarben.
Ich will damit nicht sagen, dass in einer lebenden, blut-
umspülten Muskelfaser von unendlicher Länge die Reizwelle
in’s Unbegrenzte mit unverminderter Stärke fortlaufen würde.
Ich halte aus theoretischen Gründen für höchst wahrscheinlich,
ja für gewiss, dass mit der Zeit die Welle erlöschen müsste.°)
Eine andere Frage aber ist, ob wohl die Abnahme der Welle
so schnell geschehe, dass sie in einer 10—20 Mm. langen Strecke
eines gut leistungsfähigen, vollends eines im lebenden unyer-
sehrten Körper befindlichen Froschmuskels bemerkbar werde.
Eine so rasche Abnahme scheint nicht wohl vereinbar mit der
Vorstellung, die wir uns von der Zweckmässigkeit organischer
Einrichtungen machen. Zwar haben wir im Muskel schon mehrere
Unzweckmässigkeiten erkannt,?) welche zeigen, dass auch diese
vollkommenste aller Kraftmaschinen, gleich dem Gebild von Men-
1) Untersuchungen über den Erregungsvorgang im Nerven- und-
Muskelsysteme. Heidelberg 1871. S. 64. 73—75.
2) Nämlich in den Versuchen XI, XII, XVII, XX, XXVII,
AXXVI, XXXIX, XLIIL XLV, XLVI.
3) Vergl. Bernstein, a. a. 0. S. 149 ff.
4) S. meine „Experimentalkritik der Entladungshypothese u, s. w.“
in den Monatsberichten der Akademie, 1874, 8. 522.
366 E. du Bois-Reymond:
schenhand, gleichsam nur ein Compromiss zwischen der ange-
strebten Leistung und den natürlichen Bedingungen ist. Um so
abgeneigter werden wir der Annahme fernerer Unzweckmässigkei-
ten der Art sein, wie wir uns denn schon gegen die scheinbare Un-
zweckmässigkeit der Nervenvertheilung im Muskel abwehrend ver-
hielten (S. oben S. 348). Dagegen kann man sehr gut sich denken,
dass, je mehr der Muskel abstirbt, um so früher die Welle
erlischt und um so tiefer sie in einer gegebenen Strecke sinkt,
so dass ihre Abnahme in einem Froschmuskel bemerkbar wird.
Schliesslich schreitet sie gar nicht mehr vor, und verharrt am
Orte der Reizung selber als negativer Wulst der „idiomuscu-
lären Contraction“.
In derThat dürfen wir wohl unbedenklich die Welle der nega-
tiven Schwankung der Zuckungswelle ungefähr proportional setzen.
Dann aber ist der Vorgang, wie wir ihn am entnervten querge-
streiften Muskel uns denken, buchstäblich so, wie ihn Hr. |
Engelmann am Ureter sah. Da der Ureter nach ihm in weiter
Ausdehnung nervenlos ist, so lässt er sich füglich solchem Mus-
kel vergleichen. „Man kann oft schon eine halbe Stunde nach
„Oeffnung der Bauchhöhle beobachten“, sagt Hr. Engelmann,
„dass von Zeit zu Zeit eine der spontanen Wellen, die kräftig
„aus dem Hilus renis herauskommen, in ihrem Verlauf nach der
„Blase schwächer wird und, meist schon im mittelsten Theile
„des Ureter, erlöscht.... Endlich erhält man statt der peri-
„staltisch und antiperistaltisch vorschreitenden Wellen nur eine
„locale lange anhaltende Zusammenschnürung in den unmittel-
„bar an den direct gereizten Fleck grenzenden Partieen, in
„einer Ausdehnung von höchstens % bis einigen Millimetern.“ !)
Es dauert also eine halbe Stunde, bis in dem, im Vergleich
zu einem Froschmuskel, soviel längeren und zarteren Ureter
des Kaninchens die Abnahme der Reizwelle dem Auge bemerk-
bar wird, und auch dann verläuft in einer der halben Länge eines
Froschmuskels ungefähr entsprechenden Strecke die Welle noch
ungeschwächt. Ja noch mehr. Bei hohem Leitungsvermögen des
Ureters sah Hr. Engelmann sogar untermaximale Contractions-
1) Pflüger’s Archiv u.s.w. 1869. Bd. IL. 8. 265.
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 367
wellen bis zu einem Maximum anschwellen, und dann im weiteren
Verlaufe durch den Ureter anscheinend unverändert bleiben ;!)
so dass hier das von Hrn. Pflüger in den Nerven behauptete
Anschwellen des Reizes, welches neuerlich wieder lebhafter an-
gefochten wird,?) ein mit Augen sichtbares Seitenstück haben
würde; es sei denn, dass das Anschwellen der Reizwelle in die
Gegend des Ureters fiel, wo dieser noch Ganglienketten enthält.
In dem von Hrn. Kühne einst als „Porret’sches Phäno-
men am Muskel“ beschriebenen Versuche?) sieht man Zuckungs-
wellen mit scheinbar ganz unverminderter Kraft von der Anode
zur Kathode laufen.
Mustert man von diesem Standpunkt aus Hrn. Bern-
stein’s Versuche, so bemerkt man zunächst, dass in 4 von
seinen 13 Versuchen (XXIX, XXV, XLV, LIII) die positive
Reizwelle die negative übertraf. Von diesen 4 ist der erste,
XXIX, der einzige überhaupt am Gracilis angestellte Versuch.
In den übrigen 5 von den 13 Versuchen kamen gar keine po-
sitiven Ausschläge zum Vorschein. Der Muskel war also sichtlich
nicht im normalen Zustand, und in zweien dieser Fälle, XXXVI
und XLII, steht ausdrücklich da: „Noch erregbar?“ und
„keine Contraction mehr“ (S. oben S. 365.) Daher Hr. Bern-
stein selber sich einwendete, dass die negative Welle die po-
sitive in der Regel vielleicht deshalb übertreffe, weil die Erreg-
barkeit im Versuch abnahm. Er glaubte diesen Einwand da-
durch widerlegen zu können, dass die Abnahme auch in Fällen
sich kundgab, wo der Versuch mit Beobachtung der positiven
Ausschläge anfing.*) Dies schliesst aber die Möglichkeit nicht
aus, dass schon im Beginn des Versuches die Erregbarkeit soweit
gesunken war, da die negative. Schwankung die positive
1) Ebend. 1870. Bd. Ill. S. 289. 321.
2) S. Ernst Fleischl in den Wiener Sitzungsberichten. 1875.
Bd. LXXII. Abth. III. Separatabdruck; — Hällsten, Irritabilite-
ten pa olika ställen afsamma nerv. Finska Läkare-Sällskapets Hand-
lingar. Helsingfors 1875. H. 2; — in diesem Archiv, oben, $. 242 ff.
3) Dies Archiv, 1860. S. 642; — Vergl. Monatsberichte u. s w.
1860. S. 902.
4) A. a..0. 8. 64.
368 E. du Bois-Reymond:
übertraf. Nimmt man einen dem Tode nahen Muskel, so wird
man, mit Untersuchung der positiven Schwankung beginnend,
vielleicht gar keine Wirkung mehr erhalten, während noch deut-
lich negative Schwankung erscheint.
Endlich ist zu bemerken, dass Hrn. Bernstein’s Ver-
suche im Grunde für unseren Zweck nicht beweisend sind.
Dazu müsste man den ganzen Verlauf der negativen und posi-
tiven Schwankung aufnehmen, und anstatt der Maximalordinaten
die von Curve und Abscissenaxe umschlossenen negativen und
positiven Flächenräume mit einander vergleichen.')
Noch gehört hierher Hrn. Bernstein’s Versuchsreihe über
Geschwindigkeit der Reizung im Muskel, insofern wir die
Zuckungswelle der Reizwelle ungefähr proportional setzen, in
diesen Versuchen aber eine Abnahme der Zuckungswelle schein-
bar bemerkbar wurde. Diesmal bediente sich Hr. Bernstein,
wie wir oben S. 354 sahen, nicht nur nicht des Sartorius, son-
dern sogar der noch zusammenhängenden Mm. gracilis und se-
mimembranosus. Die entnervten Muskeln wurden abwechselnd
von einer Stelle « und einer weit davon entlegenen Stelle 5
aus gereizt, und die Verdickung des Muskels an der Stelle @
in beiden Fällen gemessen. Sie war kleiner bei Reizung von
b aus, so dass, um sie vona und b aus gleich zu erhalten, wie
der Zweck des Versuches es verlangte, bei b ein stärkerer |
Reiz angewandt werden musste. Stets lag dabei, wie Hr.
Bernstein ausdrücklich angiebt, a dem oberen, 5 dem un-
teren Ende des vereinten Gracilis und Semimembranosus mög-
lichst nahe. Es ist nicht wahrscheinlich, dass die Muskeln in
diesen Versuchen schnell abstarben.
Allein ein anderer Umstand beraubt letztere jeder Beweiskraft
hinsichtlich der Abnahme der Zuckungswelle. Der am Punkte 5
angebrachte Reiz schritt im Gracilis nur bis zur sehnigen Scheide-
wand fort, welche den Muskel in einen oberen und einen
1) Diese Bemerkung ist um so wichtiger, als, wie Hr. Bernstein,
nachdem ich sie niederschrieb, mir brieflich mittheilte, die an Höhe
abnehmende Reizwelle an Dauer wächst, was seine Fig. 7 nicht zeigt.
Unserer Annahme 7, = T, auf S. 357 entgegen, ist 7, > 7,, und die
längere Dauer der Welle compensirt vielleicht ganz ihre geringere Höhe.
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 369
unteren Abschnitt theilt. Im Semimembranosus geschah theils
dasselbe, theils ergriff von den durchgehenden Fasern der
Reiz nur die, welche unterhalb der Stelle 5 entsprangen. Es
ist also natürlich, dass die von 5 aus in a erregte Welle kleiner
ausfiel als die in a selber erzeugte, und eher wunderbar, dass
es gelang, durch Verstärkung des Reizes in 5 den Unterschied
auszugleichen.
Auch Hr. Hermann selber hat seitdem Versuche über
Geschwindigkeit der Reizung im Muskel angestellt!) Da er
die Abnahme der Zuckungswelle auch im lebenden unversehrten
Körper als ausgemacht ansieht, und, abgesehen von einem
Schildkrötenmuskel, wieder des Froschsartorius sich bediente,
so konnte er Neues über unsere Frage nicht beibringen.
6. Neue Versuche über die angebliche Abnahme der
Reizwelle im Muskel. Es fehlt an jedem Grund anzu-
nehmen, das sie im lebenden unversehrten Muskel ab-
nehme, was Hrn. Hermann’s Theorie vollends stürzt.
- Natürlich habe ich mich nicht auf diese kritischen Betrach-
tungen beschränkt, sondern zur Aufklärung meiner Zweifel eigene
Versuche unternommen. Es giebt eine einfache Art zu ermitteln,
ob die Reizwelle im Muskel abnehme oder nicht, bei welcher nö-
thigenfalls ein einziger, wenig Secunden dauernder Versuchsichere
Antwort ertheilt, so dass der Muskel wenigstens während des
Versuches nicht mehr an Erregbarkeit verliert, als die Erregung
es mit sich bringt.
Man denke sich einen regelmässigen monomeren Muskel ent-
nervt und im Muskelspanner immobilisirt, und jedem seiner Enden
A und B ein Elektrodenpaar in Verbindung mit der Nebenrolle
desSchlitteninductoriums angelegt. Die Elektroden sind entweder
zwei Thonspitzen, oder eine Thonspitze und ein das entspre-
chende Knochenstück berührendes Thonschild eines Zuleitungs-
gefässes. In solcher Entfernung von der nächsten Thonspitze,
dass man vor Stromschleifen sicher ist, liegen elektromotorisch
1) Ptlüger’s Archiv u, s. w. 1875. Bd. X. S. 50.
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 24
310... E. du Bois-Reymond:
symmetrischen Längsschnittspunkten « und 8 zwei Thonspitzen
als Enden des Bussolkreises an. Es herrscht kein in Betracht
kommender Strom. Nun wird von A aus tetanisirt. Wäre der
Muskel nicht entnervt, und würde er vom Nerven aus tetanisirt,
so bliebe erfahrungsmässig das Gleichgewicht so gut wie unge-
stört. Am entnervten Muskel aber erregt jeder Inductions-
schlag eine dem Muskel entlang laufende Welle, welche, nach
Hrn. Bernstein, an der Bussole erst negative, dann positive
Schwankung erzeugt. Erstere findet statt, wenn die Welle
unter a, letztere, wenn sie unter ß hindurch geht. Sind beide
‚gleich, so muss der Bussolspiegel in Ruhe bleiben. Nimmt die
Welle von « nach ß hin ab, so überwiegt die negative Wirkung,
und es muss im Muskel ein Strom im Sinne der fortschreiten-
den Welle, von « nach ß, erscheinen. Nähme die Welle zu,
so müsste ein Strom ihrem Lauf entgegen, von B nach a, ent-
stehen. Legt man eine Wippe um, welche Elektrodenpaar A
statt B in den tetanisirenden Kreis bringt, so muss, unter den-
selben Annahmen, der Strom umgekehrt fliessen. Um diese
Wirkungen von Stromschleifen zu unterscheiden, bringt man
ausser der A und BD miteinander vertauschenden Wippe noch
eine Wippe an, welche in dem gerade angewendeten Elektroden-
paare die Inductionsschläge umkehrt.
Ich habe eine grosse Anzahl solcher Versuche angestellt.
Ich bediente mich des Sartorius, des Adductor magnus, des
Semimembranosus und des Gracilis. Man könnte glauben, dass
die beiden letzteren Muskeln durch ihre Scheidewand hierfür un-
brauchbar gemacht seien. Doch kann in Hrn. Hermann’s Sinne
die Scheidewand keine andere Wirkung üben, als dass sie den
Weg der Welle verkürzt. Der Erfolg dieser Versuche war, dass
man am Sartorius stets negative Schwankung, als Zeichen der Ab-
nahme der Welle, erhält. An den mehr leistungsfähigen Muskeln
erhält man bei längerer Dauer der Versuche freilich auch negative
Schwankung. Zu Anfang dagegen ist die Schwankung manchmal
positiv, nicht selten doppelsinnig, erst positiv, dann negativ.
Die Wirkungen sind stets nur klein, und oftnur spurweise vor-
handen. Bei den in der ersten Abtheilung (8. 517. 518) geschil_
derten Verhältnissen der Bussole belaufen’sich die positiven Wir-
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 371
kungen in der Regel auf 5—10s°, die negativen auf 20—30°°;
selten sieht man welche letzterer Art von 70—808e,
Die positiven Schwankungen rühren weder von Strom-
schleifen, noch, wie ich anfangs glaubte, daher, dass die in-
trapolare Strecke den Muskel an sich zieht, noch endlich von
Neigungsströmen der Scheidewände am Gracilis und Semimem-
branosus, denn sie kommen auch am Adductor magnus vor, und
überdies würde bei Berücksichtigung der Neigungsströme
die Theorie negative Wirkung verlangen. Ich will übri-
gens nicht behaupten, dass die positiven Wirkungen auf Zu-
nahme der Reizwelle zu deuten sind. Ich vermag sie nicht
sicher zu erklären. Gewiss ist nur, dass der endliche Sieg der
negativen Wirkung auf Rechnung des Absterbens des Muskels
zu bringen, dass sie anfangs unmerklich, wenn überhaupt vor-
handen, und jedenfalls viel zu unbedeutend ist, um in Hrn.
Hermann’s Sinne sie zur Erklärung der negativen Schwankung
unter den gewöhnlichen Umständen zu verwenden.
Ursprünglich entnahm ich die zu diesen Versuchen be-
stimmten Muskeln curarisirten Fröschen. Da nicht entnervte
Muskeln bei Versuchen über die Geschwindigkeit der Zuckungs-
'welle bekanntlich nicht anders sich verhalten als entnervte'),
erwartete ich aber, dass diese Uebereinstimmung sich auch
hier kundgeben würde, und wirklich war in Beziehung auf
den Verlauf der Zuckungswelle, wie er in diesen Versuchen
sich ausspricht, zwischen entnervten und nicht entnervten Mus-
keln kein sicherer Unterschied erkennbar.
Von Bedeutung ist, dass die Schwankung in diesen
Versuchen völlig stetig verläuft; auch wenn sie doppelsinnig ist,
sieht man den Faden zuerst nach der einen, dann nach der
anderen Seite schnell und ohne Stockung sich bewegen. Hr.
Hermann vermöchte also nicht, wie es beim ersten Anblick
scheinen konnte, den neuerlich von mir beschriebenen ver-
schiedenen Gang der Schwankung bei künstlichem und natür-
lichem Querschnitt aus dem von ihm angenommenen Wettstreit.
zweier Wirkungen zu erklären (S. oben S. 360).
1) Aeby, Untersuchungen über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit
u. s. w. S. 47. 48;— Hermann, in Pflüger's Archiv u.s. w. 1874.
Bd. X. S. 53. 24*
372 E. du Bois-Reymond:
Wird der Versuch dahin abgeändert, dass man zwischen &
und ß die Quecksilberrinnen des Rheotoms einschaltet, und
in A oder B mittels des Rheotoms tetanisirt, so ist er einer-
lei mit Hr. Bernstein’s oben betrachteten Versuchen an Sar-
torien und an einem Gracilis. Die positiven und negativen
Wirkungen, welche vorher unmittelbar gegeneinander abgewo-
gen wurden, kommen bei verschiedenen Schieberstellungen
jetzt einzeln zur Beobachtung, und können miteinander ver-
glichen werden. Ich habe dergleichen Versuche mit dem nach
Obigem zu erwartenden Erfolg angestellt. An schwachen, er-
müdeten, absterbenden Muskeln überwiegt die negative, an
kräftigen zuweilen die positive Schwankung. Ich sagte schon
oben S. 368, weshalb diese Versuche in dieser Gestalt nicht be-
weiskräftig sind. Die Versuchsweise hat für unseren Zweck über-
dies den Fehler, dass die Leistungsfähigkeit der Muskeln unter
dem häufigen Tetanisiren leidet (S. oben I. S. 585. II. S. 666).
Der Gracilis verhält sich dabei, trotz seiner Scheidewand,
ganz wie ein undurchbrochener Muskel. Oefter als an anderen
Muskeln wiegt an ihm die positive Schwankung vor, wie sich
schon in Hrn. Bernstein’s Versuchen zeigte (S. oben
S. 367). Ich weiss nicht, ob dies seiner grösseren Leistungsfähig-
keit, oder seinem Baue zuzuschreiben ist.
Nach dem Allen halte ich für ganz unerwiesen, dass im leben-
den unversehrten Körper, bei nicht ermüdeten Muskeln, die Reiz-
welle innerhalb der Länge einer Muskelspindel merklich abnehme,
und da dies in hohem Grad unwahrscheinlich ist, fehlt es an
jedem Grunde, solche Abnahme anzunehmen.
Nach Hrn. Hermann sind die Muskeln im lebenden unver-
sehrten Körper stromlos.. Um zur Erklärung der negativen
Schwankung an solchen Muskeln auch nur den ersten Grund
zu legen, braucht Hr. Hermann die Abnahme der Reizwelle.
Da sie nicht abnimmt, so fällt seine Theorie vorweg; aber auch
wenn sie abnähme, ist diese Theorie, wie wir sahen, unhaltbar.
Denn sie ist nicht allein unfähig, von vielen wichtigen, ja
fundamentalen Erscheinungen Rechenschaft zu geben, sondern
auch im offenbaren Widerspruch mit Thatsachen.')
!) Hr. Hermann hat kürzlich ein angebliches Exrperimentum
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 373
$. XXVI. Erörterung der negativen Schwankung mit
Rücksicht auf die Lehre von der Reizwelle.
Schliesslich läge uns ob, die Thatsache, dass die Zu-
sammenziehung sich wellenförmig von den erresten Punkten
aus verbreitet, unsererseits in Rechnung zu ziehen, und eine
darauf gegründete Theorie der negativen Schwaukung im Teta-
nus zu versuchen. In vierfacher Beziehung weicht unsere Be-
erucis gegen das Vorherbestehen der elektrischen Gegensätze im
Muskel beschrieben. Er hat eine Vorrichtung, welche einem im Bus-
solkreise befindlichen immobilisirten und compensirten Gastroknemius
den Achillesspiegel schnell abstreift und eine kleine Zeit £ darauf den
Kreis öffnet. Sinkt ? unter s45— z49, so erfolgt kein Ausschlag
mehr, während der entwickelte Strom während derselben Frist noch
mehrere Scalentheile Ausschlag giebt. Hr. Hermann schliesst daraus,
dass der elektrische Gegensatz zu seiner Entwiekelung der Zeit £ be-
dürfe (Centralblatt für die medicinischen Wissenschaften. 1875.
S. 705.).
Er muss doch einigermaassen betroffen gewesen sein, als auch
dieser letzte Versuch, das Vorherbestehen der elektrischen Gegensätze
zu widerlegen, so schlecht ausfiel. Er rechnete gewiss darauf, dass
mindestens ein anständiger Bruchtheil der Secunde für die Entwicke-
lung des Stromes nöthig sein würde. Recht störend ist auch für
hn, dass die angebliche Stromentwickelung an stark parelektrono-
mischen Gastroknemien trotz ihrer „Indolenz“ eben so schnell vor sich
ging, wie sonst.
Wenn sein Versuch etwas beweist, so ist es das Gegentheil von
dem, was Hr. Hermann erwartete. Jeder Sachverständige sieht,
dass der Gastroknemius nur deshalb im ersten Augenblick keinen
Strom giebt, weil er wegen der mechanischen Verletzung seiner Fa-
sern in negativer Schwankung begriffen ist. Hr. Hermann unter-
nimmt zwar durch verwickelte Schlüsse und das Ziel verfehlende Con-
trolversuche zu beweisen, dass dies nicht der Grund des beobachteten
Verhaltens sei. Seine Redensarten werden aber nur solche überzeugen,
so an ihn glauben. Er thäte besser, offen einzugestehen, dass sein
Versuch gegen ihn spricht, und diese unfruchtbaren Angriffe auf
eine Wahrheit aufzugeben, die doch nun einmal nicht zu ändern ist.
Die Natur kann doch nicht, damit Hr. Hermann Recht behalte, die
Muskeln ihres Stromes berauben. Auf keine bessere Art könnte Hr.
Hermann die Reihe der von ihm in diesem Gebiete begangenen
Fehler in Vergessenheit bringen.
374 E. du Bois-Reymond:
trachtungsweise von der eben zurückgewiesenen ab. Erstens ist
uns die Zuckungswelle ein Ort, wo die Muskelsubstanz zeit-
weilig die in ihr vorherbestehenden Gegensätze ganz oder zum
Theil eingebüsst hat, sei’s durch Verminderung der elek-
tromotorischen Kraft, sei’s durch solche Lageänderung kleiner
elektromotorischer Flächen, dass keine oder geringere Wirkung
nach Aussen gelangt. Man kann daher theoretisch die Welle
durch einen im Muskel wandernden Abschnitt ersetzen,
den beiderseits eine negativ elektromotorische Fläche be-
grenzt. Zweitens haben wir zur Verfügung die stärker oder
schwächer verkehrt wirkende parelektronomische Strecke am
RER 18
natürlichen Querschnitte, deren negativ elektromotorische Kraft -
bei der Zusammenziehung in geringerem Maass abnimmt, als
die positive des Gesammtmuskels. Drittens berücksichtigen wir
die terminale Nachwirkung, eine zeitweilige, mit der Dauer
des Tetanus wachsende Verstärkung der negativen Kraft der
parelektronomischen Strecke. Endlich viertens suchen wir ohne
Abnahme der Reizwelle auszukommen, welche wir im leben-
den unversehrten Körper läugnen; was nicht ausschliesst,
dass sie im absterbenden und ermüdeten Muskel eine auch für
uns beachtungswerthe Rolle spielen kann. Die innere Nachwir-
kung und die Ermüdung lassen wir, der Einfachheit halber,
wie früher, vorläufig beiseite.
Die Grundlage für die Behandlung der negativen Schwan-
kung von diesem neuen Gesichtspunkt aus wurde schon oben
S. 357. 358 gegeben. Um die Schwankung zwischen Aequator und
sehnigem Ende zur Zeit i, zunächst bei unmittelbarem Tetani-
siren vom anderen Ende zu bestimmen, dient uns der Aus-
druck für die Wirkung des tetanisirten Muskels, entsprechend
dem U, unserer früheren Auseinandersetzungen (S. oben
S. 125 [wo durch einen-Druckfehler U, steht] und 152)
RM+TMA+ T,M;
R+T+T
in welchem wir der Einfachheit halber wieder 7, =T3= T machen
(S. oben S. 357. 368).
Es it M=M-P-Ne,,
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 375
MM, =aM—-P- N (e),
M,=M-naP-naNk),
wo M,P,N«,), n dasselbe bedeuten wie dort, a’'aber den pro-
centischen Betrag der in der Einzelschwankung noch übrig blei-
benden Kraft ausdrückt, wie früher @ dies für die Gesammt-
schwankung that. «' kann also = 0 werden, jedoch nicht ne-
gativ (S. oben II. S. 648 ff). I, ist = M- P; folglich
Se E — a!) M—- (1— na) P+na' Ne UT: Re)
Der Ausdruck in der viereckigen Klammer ist bis auf den Unter-
schied zwischen a’ und a« derselbe, zu dem wir oben $S. 155
ohne Berücksichtigung der Wellenbewegung gelangten. Wir
brauchen also nicht erst zu untersuchen, ob er im Allgemeinen die
nöthigen Bedingungen erfülle; nur dürfen nicht a’ und n zu klein
werden, dasonst bei P>M die Schwankung zuleicht positiv würde.
Nun ist die Frage, wie die Dinge beim Tetanisiren vom
Nerven aus sich gestalten, unter der Voraussetzung, welche wir
bis auf Weiteres doch festhalten müssen, dass die Muskelfasern
nur an einem Punkt ihrer Länge innervirt werden. Dieser
Punkt liegtbei verschiedenen Fasern in verschiedenen Querebenen
des Muskels. Es sind zwei Fälle zu unterscheiden. Auf solche
Fasern, die vom abgeleiteten Ende aus jenseit des Aequators
oder in seiner Ebene ihre Endplatte haben, passt ohne Weiteres
vorige Betrachtung. Hinsichtlich der Fasern, deren End-
platte zwischen Aequator und abgeleitetem Ende liegt, ist zu-
nächst zu bemerken, dass gleichgültig ist, von welcher Seite
die Welle dem Aequator sich nähert. Zweitens ist auch
gleichgültig, in welcher Reihenfolge die Zeitabschnitte R, 7,
und 7, mit einander abwechseln. Daraus ergiebt sich, dass
Formel (=) auch für diesen Fall gilt, so lange nicht die Wellen
Aequator und Querschnitt zu gleicher Zeit erreichen. Liegt
die Endplatte so in der Mitte, dass die Wellen zugleich am
Querschnitt und Aequator anlangen, so giebt esnurnoch einen Zeit-
abschnitt T veränderter elektromotorischer Wirkung des Muskels ;
der andere istzu Z zu schlagen. Für M erhält man Null während
des Abschnittes veränderter Thätigkeit. Dadurch wird diesmal
rE T[M- P(1-na)) + N«e).[R+T(1+na')]-
7 R+2T
376 E. du Bois-Reymond:
Dieser Ausdruck erfüllt unter erlaubten Annahmen gleichfalls
die oft erwähnten Bedingungen, uud überdies ist er grösser als
der mit (x) bezeichnete. Wir erhalten also für die Schwankung
bei mittelbarem Tetanus stärkere Wirkung als für die bei un-
mittelbarem Tetanus, während nach Hrn. Hermann, im Wider-
spruch mit den Thatsachen, vom Nerven aus nur unverhältniss-
mässig kleinere Wirkung erfolgen könnte (Vergl. oben S. 363.)
Bei Ableitung des Stromes von zwei Längsschnittspunkten
treten bei unmittelbarem Tetanus drei Zeitabschnitte veränderter
Wirkung auf; zwei sind die schon erwähnten, in welchen die
Welle unter den ableitenden Spitzen hindurchgeht, der dritte
ist der, in welchem sie den Querschnitt erreicht.') Doch be-
dürfte man, um diesen Fall genauer zu erörtern, der Kenntniss
des Gesetzes, nach welchem die Stromkraft mit der Lage des
Bogens am Muskel und zwar bei verschieden langen Muskeln
sich ändert, und noch mehrerer anderen Umstände.
Es wäre um so nutzloser, diesen Mangel durch willkür-
liche Annahmen ersetzen zu wollen, je lückenhafter hier auch
noch sonst unser Wissen ist. Nämlich es erübrigt hier nun
überhaupt, die negative Schwankung durch unmittelbare Rei-
zung planmässig bei künstlichem und natürlichem Querschnitt,
an entnervten und nicht entnervten Muskeln, bei verschiedener
Lage des Bogens, endlich, soweit thunlich, nicht bloss an
regelmässigen, sondern auch an unregelmässigen Muskeln zu
untersuchen, und unter allen diesen Umständen sie mit der
Schwankung durch mittelbare Reizung zu vergleichen. Hrn.
Bernstein’s und meine oben mitgetheilten Versuche sind nur
der erste Anfang dieser ausgedehnten und mühevollen Arbeit,
bei welcher man unter anderen auf die Schwierigkeit trifft, dass
der Muskel in beiden Fällen gleich stark erregt werden muss.
Dies scheint nur so ausführbar, dass man beidemal den Mus-
kel maximal erregt. Dann läuft man aber bei unmittelbarer
Reizung Gefahr, durch Stromschleifen, wenn auch nicht getäuscht,,
doch gestört zu werden.
Bei der Erörterung der Ergebnisse dieser Versuche wird man
1) Vgl. dies Archiv, 1871, S. 592 #,
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 377
wiederum nicht vermeiden können, die oben S. 348 angeregte
Frage zur erneuten Prüfung heranzuziehen, ob die Muskelfasern
wirklich nur am Ort ihrer Endplatte, oder sonst in ihrem Ver-
lauf erregt werden.
In dieser verworrenen Lage müssen wir die Untersuchung
abbrechen. Die Fragen der nächsten Zukunft bezeichnet zu
haben, ist schliesslich auch noch ein Fortschritt, und somit sei’s
an dieser Stelle für diesmal genug.
Seit Eduard Weber’s Artikel „ Muskelbemenungt in
Rud. Wagner’s „Handwörterbuch der Physiologie“ hat man sich
daran gewöhnt, vom thätigen Zustand der Muskeln als von einer
zweiten Gleichgewichtslage der Muskeltheilchen zu reden, in
welcher der Muskel bei gleichem Rauminhalte kürzer und dicker
ist. Muskelton, secundärer Tetanus und die Anzeichen erhöhten
Stoffverbrauches bewiesen doch längst das Unrichtige dieser Vor-
stellung. Wenn ich nicht irre, ist die Zeit da, wo man nicht
länger zögern darf, die stets von mir gelehrte Discontinuität des
Tetanus und, nach dem von Hrn. Aeby, Hrn. Bernstein und
Hrn. Jendrässik!) gegebenen Beispiele, dessen Entstehung
aus Reizwellen mehr zu beachten, als bisher.
8. XXVIH. Anhang. Vermischte Bemerkungen über
die negative Schwankung.
Aus gewissen Gründen war es wichtig, die negative
Schwankung am mittelbar mechanisch tetanisirten Gastroknemius
zu untersuchen. Zum Hämmern des Nerven diente der Halske’
sche Unterbrecher mit dem von Hrn. Heidenhain beschrie-
benen Elfenbeinhammer und Amboss.?) Durch geeignete Ver-
suche überzeugte ich mich, dass keine elektrische Wirkung
seitens der den Elektromagnet umgebenden Rolle auf den Ner-
ven stattfand. Der in mechanischen Tetanus verfallende Muskel
gab nicht bloss negative Schwankung, sondern auch secundären
Tetanus. (S. oben II. S. 637). Es lag mir nun aber daran,
1) Dies Archiv, 1874, S. 513.
2) Physiologische Studien. Berlin, 1856. S. 127
378 E. du Bois-Reymond:
die negative Schwankung bei mechanischem mit der bei elek-
trischem Tetanus zu vergleichen. Hierzu gebrauchte ich den
Kunstgriff, der mir schon bei meinen Untersuchungen über die
negative Schwankung des Nervenstromes gute Dienste geleistet:
hatte, den einen Tetanus, um mich so auszudrücken, in dem
Augenblick entreten zu lassen, wo die Ablenkung durch den
anderen Tetanus gerade das Maximum erreicht hat, und die Na-
del umzukehren im Begriff steht. Ist der zweite Tetanus
stärker, so geht die Nadel noch weiter zurück, ist er schwächer,
so kehrt sie sichtlich schneller in die der Ruhe des Muskels
entsprechende Ablenkung zurück.!) Hier wurde dies Verfahren
in’s Werk gesetzt, indem ich durch Umlegen der Wippe eines
Pohl’schen Gyrotropes ohne Kreuz den Strom eines Grove’schen
Elementes abwechselnd dem Halske’schen Unterbrecher und -
der Hauptrolle des Schlitteninductoriums zuführte. Der Nerv
des Gastroknemius lag bald diesseit bald jenseit des Hammers
auf einem Paar Platinelektroden, welche die Enden der Neben-
rolle des Inductoriums vorstellten. Obschon der mechanische
Tetanus vollkommen ausgeprägt war, und die tetanisirenden
Ströme des Inductoriums nur die gewöhnliche Stärke besassen,
übertraf die negative Schwankung durch den elektrischen stets
sehr deutlich die durch den mechanischen Tetanus.
Nothgedrungen lasse ich hier viel Fragen unberührt, die
sich von verschiedenen Seiten her zudrängen. Ich erwähne nur
noch folgende.
In der ersten Abtheilung, 8. 531, ist die negative
Schwankung in Tetanus mit künstlichem Querschnitt zu 0-4
der ursprünglichen Stromkraft angegeben. Gegen diese Be-
stimmung ist einzuwenden, dass sie möglicherweise nur
für die angewendete Art des Tetanisirens gilt. Es wird un-
tersucht werden müssen, wie sich die negative Schwankung
mit der Häufigkeit, Stärke und sonstigen Beschaffenheit
der tetanisirenden Schläge ändert. Die Behandlung dieser
‚Aufgabe erfordert aber vor Allem, dass man sich im Be-
sitz einer Vorrichtung zum Tetanisiren befinde, wie sie oben
1) Untersuchungen u. s. w. Bd. II. Abth. I. S. 448.
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 379
I. S. 518 Anm. 2 geschildert wurde. Voraufgehen müsste na-
türlich die Untersuchung der Schwankung bei Doppelreizung
u. d. m.
Eine der wichtigsten hier zu stellenden Fragen war die
nach dem Verhältniss der Schwankung zu der gleichzeitig vom
Muskel geleisteten Arbeit. Schon vor mehreren Jahren hat
Hr. Lamansky im Heidelberger Laboratorium am Bernstein’-
schen Rheotom diese Frage in Angriff genommen!), und hat
dabei, wie ich nachträglich bemerke, Hr. Meissner’s Irrlehre
selbständig widerlegt, wie auch Hrn. Sigmund Mayer’s
Versuche über den Verlauf der Gastroknemiusschwankung be-
stätigt. Indem er dem Muskel etwa nur drei Schläge in der
Secunde ertheilte, bis das Maximum der negativen Schwankung
erreicht war, gelangte er zum Ergebniss, dass die Schwankung
mit der vor der Zusammenziehung dem Muskel ertheilten
Spannung wächst, also ähnlich sich verhält, wie nach Hrn.
Heidenhain die Wärmeentwickelung”) Während aber diese
auch mit der Ueberlastung zunimmt, ist durch Hrn. Lamansky
die Ueberlastung ohne Einfluss auf die Schwankung. Ich habe
gegen diese Versuche das Bedenken, auf welches Hr.
Lamansky noch nicht kommen konnte, dass die Dehnung
des Muskels durch die Belastung die Nebenschliessung verschlech-
tert, welche dieMuskelmasse den von den Sehnenspiegeln ausgehen-
den Strömen darbietet. Um diesen Verdacht zu entkräften,
müssten die Versuche an regelmässigen Muskein mit thermischem
Querschnitte wiederholt werden. Auch dürfte sich empfehlen,
was unsere jetzigen Methoden gestatten, den Erfolg bei Ein-
zelzuckungen statt bei unvollkommenem Tetanus zu beobachten.
Hermann Roeber zeigte durch sorgfältige Versuche,
dass die Stärke des Muskelstromes durch Curara und durch das
Gift der Calabarbohne erhöht wird, und führte diese auf-
fallende Erscheinung auch sogleich auf ihre Ursache zurück,
nämlich auf die an den vergifteten Muskeln bemerkbare
Blutfülle. Nicht vergiftete Muskeln, an denen durch Unterbin-
1) Pflüger’s Archiv u. s. w. 1870. Bd. II. S. 193.
2) Mechanische Leistung, Wärmeentwickelung und Stoffumsatz
bei der Muskelthätigkeit. Leipzig. 1864. S. 140.
380 E. du Bois-Reymond:
dung Blutfülle bewirkt wurde, zeigten gleichfalls Erhöhung
ihrer elektromotorischen Kraft. Mit dieser Erhöhung ging an
eurarisirten und calabarisirten Muskeln eine solche der mecha-
nischen Leistungsfähigkeit Hand in Hand. Endlich auch die
von Hrn. Funke entdeckte, beim ersten Anblick so paradoxe
Erhöhung der elektromotorischen Kraft curarisirter Nervenstämme
führte Roeber auf dieselbe Ursache zurück.) Da nun an
ceurarisirten Nerven durch Hrn. Funke eine Vergrösserung der
negativen Schwankung nachgewiesen ist, so liegt die Ver-
muthung nahe, dass curarisirte, calabarisirte, überhaupt mit
1) Dies Archiv, 1869, S. 440. — Ich vergass, als Roeber mit diesem
Gegenstande sich beschäftigte, ihn auf ältere Wahrnehmungen
aufmerksam zu machen, welche mehr oder minder sicher hierher
gehören. Es bleibt zweifelhaft, ob Fowler’s Beobachtung hierauf
zu beziehen sei, nach welcher die Muskeln eines Frosches, dessen
Bein er durch Reiben mit einer Bürste entzündet hatte, stärker auf
den Reiz einer Zinksilberkette reagirten (Experiments and Observations
relative to the Influence lately discovered by M. Galvani etc. Edin-
burgh 1793. p. 128— 130; — Al. Monro’s und Rich. Fowler’s Ab-
handlung über thierische Elektrieität u. s. w. Leipzig 1796. S. 145).
Reinhold hat diese Beobachtung an Muskeln bestätigt, die er durch
Messerschnitte entzündet hatte (De Galvanismo Specimen I. Lipsiae
1797. p. 110). Matteucci verwundete Fröschen die Oberschenkel-
muskeln, so dass sie hyperaemisch wurden: „Un medecin les aurait
dits engorges.*“ Sie gaben stärkeren Froschstrom als gesunde Frösche,
nicht jedoch, wenn sie aus der Wunde sich verbluteten oder wenn
sie in Wasser gesetzt wurden, in welchen Fällen keine Hyperaemie
entstand (Traite des Phenomenes electro-physiologiques des Animaux.
Paris. 1844. p. 110. 111; — Vergl. meine Untersuchungen u. s. w.
Bd. II. Abth. I. S. 170). Dies beweist, dass die wahrgenommene
Verstärkung nicht auf Herstellung künstlichen Querschnittes be-
ruhte. Hr. Cima bestätigte Matteucci’s Angabe (Saggio storico-
critico e sperimentale etc. 1848. p. 476. $. 46). Nach Zerstörung
des Rückenmarkes fanden Matteucci, Hr. Cima und Hr. Brown-
Sequard den Muskelstrom verstärkt: Traite ete. p. 77. 78. (Vergl. Unter-
suchungen a. a.0.8.171; — s. jedoch auch Matteucei, Legons sur les
Phenomenes physiques etc., p. 183, wo die Angabe zurückgenommen
ist); — Saggio storico-critico ec. p. 486. $. 63; — Brown-Sequard in
Experimental Researches applied to Physiology and Pathology. New-
York 1853 (Letzteres Citat nach Valentin in Cannstatt’s Jahres-
bericht u. s. w. 1853. Würzburg 1854. S. 216). _
Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes u. s. w. 381
Blut überfüllte Muskeln gleichfalls eine verstärkte negative
Schwankung werden erkennen lassen. Es wird nicht leicht
sein, hierüber zur Gewissheit zu gelangen.
Auch die negative Schwankung des postmortal gewachsenen
Muskelstromest) zu untersuchen, wäre eine wichtige, aber frei-
lich nicht minder schwierige Aufgabe. Die Schwankung an kalt-
blütig gemachten Säugethiermuskeln?), an Säugethiermuskeln,
denen nach Ludwig’s und Al. Schmidt’s Methode künstlich
Blut zugeführt wird?), an erwärmten und an abgekühlten
Muskeln, besonders an Froschmuskeln, welche auf eine Tem-
peratur erkaltet sind, wobei keine Säurung stattfindet*), wäre
gleichfalls der Untersuchung werth.
Ich spreche nicht von der specifischen Intensität der
Schwankung bei den verschiedenen neuerlich von Hrn. Ran-
vier unterschiedenen Arten von Muskeln’), und anderen ähn-
lichen Aufgaben.
1) Dies Archiv, 1867. S. 293.
2) Dies Archiv, 1867. S. 439.
3) Arbeiten aus der physiologischen Anstalt zu Leipzig. 1868. S.1.
4) Monatsberichte u. s. w. 1859. S. 309; — De Fibrae muscularis
Reactione ete. p. 25.
5) Comptes rendus ete. 1873. t. LXXVII. p. 1030; — Brown-
Sequard, Charcot, Vulpian, Archives de Physiologie normale et
pathologique. Paris 1874. 2me Serie. t. I. p. 5.
Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur
auf den Nerven- und Muskelstrom.
Von
Dr. J. STEINER.
Assistenten am physiologischen Institut in Halle.
Erster Artikel.
$ 1. Einleitung.
Der Erregungsvorgang im Nerven war trotz aller Hülfs-
mittel nur kenntlich durch die Zuckung des zugehörigen Muskels,
so lange bis E. du Bois-Reymond die negative Schwankung
des Nervenstromes entdeckt hatte!); an die Stelle des Muskels
konnte jetzt, mit der bekannten Einschränkung, das Galvano-
meter gesetzt werden: der Rückschwung der Magnetnadel giebt
uns Kunde von einem Erregungvorgange im Nerven. Nachdem
darauf durch H. Helmholtz die Fortpflanzungsgeschwindigkeit
der Erregung im Nerven numerisch dargestellt war?), stellte
sich auch für die negative Schwankung des Nervenstromes die
Aufgabe, ihre Fortpflanzungsgeschwindigkeit von der Stelle der
Reizung, in ihrem Verlaufe bis zum Eintritt in das Galvano-
meter zu bestimmen; eine Aufgabe, welche erst vor einigen
Jahren von J. Bernstein gelöst worden ist?). Derselbe fand,
dass die negative Schwankung sich in einer Welle, der von
ihm benannten „Reizwelle“ fortpflanzte, deren Geschwindigkeit
genau gleich war der Geschwindigkeit der Erregungswelle, und
er stand auf Grund dieser Thatsache nicht an „die Annahme zu
1) E. du Bois-Reymond. Untersuchungen über thierische
Elektrieität. Bd. II. S. 425 u. £.
2) H. Helmholtz. Messungen über Fortpflanzungsgeschwindig-
keit der Reizung in den Nerven. Dies Archiv 1850.
3) J. Bernstein. Untersuchungen über den Erregungsvorgang
im Nerven- und Muskelsysteme. 1871.
Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 383
machen, dass die Reizwelle Nichts anderes ist, als das Bild des
im Nerven ablaufenden Erregungsvorganges“!).
Weiterhin hat Helmholtz gezeigt, dass die Temperatur
einen mächtigen Einfluss auf die Fortpflanzungsgeschwindigkeit
der Erregung im Nerven ausübt. Besteht nun in der That,
wie J. Bernstein annimmt, die Identität von Erregungs- und
Reizwelle, so steht zu erwarten, dass die Temperatur denselben
Einfluss auch auf die Reizwelle ausüben müsse, wie wir das
von der Erregungswelle schon wissen; eine Aufgabe, die
Hr. Professor Bernstein mir anzuvertrauen die Güte hatte,
Da das Verhalten der negativen Schwankung unter dem
Einflusse wechselnder Temperaturen im Allgemeinen durchaus
unbekannt war, so begann ich mit der Untersuchung dieses
Gegenstandes; aber bald zeigte sich, dass ich auch damit schon
zuweit vorgegangen war; man musste vorher durchaus erst
unterrichtet sein über das Verhalten des ruhenden Nerven- und
Muskelstromes, bevor man einen erspriesslichen Schritt nach
vorwärts thun konnte. Diese Untersuchung ist in dem ver-
flossenen Winter von mir ausgeführt worden und ich lege
hier dieselbe den Fachgenossen in einem ersten Artikel vor.
Diesem werden sich dann die ursprünglich geplanten Unter-
suchungen anschliessen.
$2. Versuchsanordnung.
Die Versuchsanordnung hat zwei Aufgaben zu erfüllen:
erstens eine Vorrichtung, in welcher der Nerv oder Muskel be-
liebig temperirt und durch stets unverrückbare Elektroden
abgeleitet werden kann; zweitens die allgemein in der Elektro-
physiologie gebräuchlichen Apparate zur Ableitung, Messung,
Compensirungu.s. w. derthierisch-elektrischen Ströme, anzugeben.
Für die Temperirung des Elektrieitätserregers wurde das
von E. du Bois-Reymond?) an seinem Federmyographion
angebrachte, und für ähnliche Zwecke bestimmte Kästchen be-
nutzt; seine Construction als bekannt vorausgesetzt berichte ich,
»72.2..0: 8: 34.
2) Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Muskel- und Nerven-
physik. Bd. I. Leipzig 1875. 8. 282.
384 J. Steiner:
dass dasselbe in den hölzernen Boden einer feuchten Kammer,
die auf vier Korkfüssen steht, so eingefügt wurde, dass die an
der Zu- und Abflussöffnung des Kästchens angebrachten Gummi-
schläuche unterhalb des Bodens hervorgezogen und als Zu- und
Abflussröhren benutzt werden konnten, Der Deckel des Käst-
chens musste selbstredend fortgelassen werden; der Lack, mit
dem die Oberfläche, auf welche der Nerv oder Muskel zu liegen
kommt, isolirt ist, erwies sich als ungenügend, weil er bald
Risse bekam und die Platte dadurch leitungsfähig wurde; dieselbe
wurde deshalb mit einer feinen Gummiplatte überzogen, welche
durch den gebräuchlichen Kitt an den Seiten befestigt war.
Diese Anordnung hat sich vortreffllich bewährt; es sind alle im
Folgenden aufgeführten Versuche auf derselben Gummiplatte
ausgeführt; es war ein Wechsel derselben niemals nothwendig
geworden. Die feuchte Kammer steht auf einem kleinen Tische,
von etwa zwei Drittel der gewöhnlichen Tischhöhe zu meiner
Rechten, wenn ich am Fernrohr sitze; der recht lange Abfluss-
gummischlauch führt durch eine Oeffnung in der Tischplatte
zu einem darunter stehenden Gefässe; das Zuflussrohr ist ziem-
lich kurz und führt zu einer auf demselben Tischchen befestig-
ten Doppelcanüle von Messing, die durch einen Hahn stellbar
ist; von den beiden Röhren der Doppelcanüle führen zwei lange
Gummischläuche zu zwei Trichtern, welche in Stativen befestigt
auf einem gewöhnlichen Tische stehen. Die beiden Trichter
sind für warmes und kaltes Wasser bestimmt. Das kalte Wasser
ist Eiswasser, das in entsprechender Weise zubereitet wird; das
warme Wasser wird in einem gewöhnlichen Wasserbade erhalten,
das auf demselben Tische in einem entsprechenden Stative
angebracht ist. In beiden Gefässen zur Gewinnung von Eis-
und warmem Wasser stehen constant Thermometer. Von diesen
beiden Trichtern aus wird nun das Kästchen beliebig erwärmt.
Statt des kleinen Wasserbades vielleicht ein grösseres Gefäss
zu verwenden, um mehr Vorrath von warmem Wassser zu ha-
ben, möchte ich als durchaus unpraktisch widerrathen: es han-
delt sich grösstentheils nicht darum fortwährend warmes Wasser
zu haben, sondern darum, warmes Wasser von verschieden
hoher Temperatur in kleiner Quantität sehr rasch zu besitzen,
‚ Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 385
was man am besten in dem gewöhnlichen Wasserbade erreicht;
man wird den Nutzen dieser Einrichtung in den Versuchen
selbst noch zu würdigen Gelegenheit haben. Dagegen kann
das Gefäss zur Beschaffung von Eiswasser, sofern man nur über
hinreichend viel Eis verfügt, nach Belieben gross sein. Es hat
sich noch bewährt, die beiden Gummischläuche, welche von den
Triehtern zur Doppelcanüle führen, mit Quetschhähnen zu ver-
sehen, die beliebig in Verwendung gezogen werden können.
Den Grund dafür werden wir bald erfahren. Was die Doppel-
eanüle betrifft, so ist es durchaus nothwendig, dass sie im Ca-
liber kleiner ist, als die Zuflussöffnung zu dem Kästchen und
zwar aus folgendem Grunde. Man kann nämlich das reinste
Wasser zur Circulation verwenden, so ist dasselbe doch nach
kurzer Zeit durch die vielfachen Manipulationen mit kleinen
festen Partikelchen verunreinist. Plötzlich stockt mitten wäh-
rend des Versuches die Circulation und der Versuch ist ver-
loren; vielleicht sogar der ganze Tag, wenn sich diese Partikel-
chen in dem Kästchen festgesetzt haben; hat man aber obige
Anweisung befolgt, so muss die Stockung stets in der Canüle
gesucht werden; diese lässt sich aber in einer Minute beseitigen;
es wird nämlich der zuführende Gummischlauch mit dem
Quetschhahn verschlossen, derselbe von der Canüle abgezogen
(es empfiehlt sich die Gummischläuche so passend für die Ca-
nüle zu nehmen, dass dieselben nicht festgebunden, sondern
nur darüber geschoben werden) und durch das Ende des Ab-
flussschlauches kräftig geblasen, so ist das Hinderniss bald aus
dem Wege geräumt. Sämmtliche Wasserbehälter und Trichter
waren von dem kleinen Tischchen, auf dem die feuchte Kammer,
sowie einige andere bald zu erwähnende Apparate standen,
soweit entfernt aufgestellt, dass durch unvermeidliches Spritzen
dort nichts beschädigt werden konnte.
Nerv und Muskel wurden abgeleitet durch die du Bois’-
schen Thonstiefelelektroden, welche während des ganzen Ver-
suches unverrückbar auflagen; als Galvanometer diente eine
ältere Wiedemann’sche Bussole von zusammen 12000 Win-
dungen, welche nahezu aperiodisch war. Der Strom von Nerv
und Muskel wird selbstverständlich stets compensirt, so dass
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 95
386 J. Steiner:
man es nur mit elektromotorischen Kräften zu thun hat. Als
Kette zum Compensiren diente ein grosses Daniell’sches Rle-
ment von sehr guter Constanz. Eine besondere Aufmerksam-
keit beansprucht in diesen Versuchen das Rheochord; es ist
1 Meter lang, von sehr dickem Kupferdraht in Stärke von 1'23Mm.;
nur mit so dickem Draht sind die hier auftretenden Erschei-
nungen wahrzunehmen. Rheochord und Schlüssel zum Galvano-
meter, sowie der Schlüssel für die Aufnahme der Compensatorkette
sind alle auf dem kleinen Tischchen aufgestellt, um während der
Fernrohrbeobachtung bequem erreicht werden zu können. Die
Zusammenstellung aller dieser Apparate zur Messung der elek-
tromotorischen Kräfte von Nerv und Muskel ist in bekannter
Weise bewerkstellist.
Die Versuche wurden sämmtlich im Winter im ungeheizten
Zimmer bei einer Temperatur von durchschnittlich 2°C. ge-
macht; da wir beim Abkühlen von Nerv und Muskel keine
tiefere Temperatur aufzusuchen nöthig hatten, so wurde dadurch
erreicht, dass wir auf dem Kästchen aus leicht ersichtlichen
Gründen keine Niederschläge von Wasserdämpfen hatten, die
vielleicht zu Fehlerquellen hätten werden können.
8 3. Der Nervenstrom.
Wie wohl man sonst mit der Untersuchung des Muskel-
stromes zu beginnen pflegt, so habe ich geglaubt, hier von
dieser Regel abweichen zu müssen in der Annahme, dass der
Nerv, als das in seinen Dimensionen beträchtlich kleinere Ge-
bilde, denn der Muskel, vollständiger in kürzerer Zeit eine belie-.
bige Temperatur annehmen könne.
Zur Geschichte unseres Gegenstandes ist zu bemerken, dass.
du Bois-Reymond angiebt, wie in der Siedhitze, die nur wenige:
Augenblicke auf den Nerven einwirkt, dessen Strom geschwächt
oder umgekehrt wird. Wird der Nerv in Wasser von 40—50° ge-
taucht, so kehrt sich der Strom nicht um, sondern wird allmälich
kleiner.!) Ferner eine gelegentliche Aeusserung desselben Autors,
in der es heisst: „Was den künstlichen Querschnitt betrifft, so.
1) Untersuchungen u. s. w. Bd. II. Abth. I. S. 287.
Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 387
zeigen wohl die Nerven eine Schwächung ihres Stromes durch
lang anhaltende Einwirkung der Kälte!) u. s. w. \
In Vorversuchen haben wir uns noch von zwei Umständen zu
unterrichten; einmal nämlich, ob bei unserer Anordnung keine
Thermoströme auftreten und zweitens, wie sich der Nervenstrom
- innerhalb einer Stunde etwa bei einer Temperatur von 1—2° C,
verhält, ohne dass irgend welche Einwirkungen aufihn geschehen.
Für die erste Frage hat sich am todten Nerven bei einer Tempe-
rirung, wie wir sie bald auseinandersetzen werden, ergeben,
dass Thermoströme nicht auftreten; bezüglich der zweiten Frage
haben wir ebenfalls durch Versuche, welche wir erst weiter
unten, um sie dort nicht wiederholen zu müssen, aufführen
wollen, ersehen, dass, wie vorauszusetzen war, der Nervenstrom
langsam, aber stetig abfällt.
So ausgerüstet können wir zu den Versuchen selbst über-
gehen. Dieselben sollten in folgender Weise angestellt werden.
Es wurden die beiden Nn. ischiadici oben zusammengebunden,
am peripheren Ende mit einem Querschnitt versehen auf
das Kästchen aufgelegt und durch die Elektroden von Quer-
und Längsschnitt abgeleitet. Darauf wird 5 Minuten lang Eis-
wasser durch das Kästchen geleitet, jetzt compensirt und ab-
gelesen; hierauf ebenso 5 Minuten lang warmes Wasser von
20—22° C., danach ebenfalls compensirt und abgelesen.
Um auch über die Stromstärken bald orientirt zu werden,
deren Kenntniss uns später von Nutzen sein dürfte, wird nach
beendeter Compensation die Compensatorkette geöffnet und der
Ausschlag in Scalentheilen abgelesen. (S. f. Tabelle.)
In derselben Weise, wie diese beiden Versuche, fielen noch
eine Reihe anderer Versuche aus, deren Aufführung überflüssig
wäre. Wir betrachten nur die Compensatorgrade und sehen,
dass das Steigen oder Fallen der elektromotorischen Kraft des
Nerven, mag man erwärmen oder abkühlen, durchaus keinem
Gesetze zu folgen scheint, sondern vollkommen regellos und
verworren auftritt: bald sehen wir bei der Erwärmung ein
Steigen, bald ein Sinken der elektromotorischen Kraft eintreten.
1) Untersuchungen Bd. II. Abth. II. S. 38.
25*
388 J. Steiner:
Stromstärke.
Temperatur
des
Wassers,
Stromstärke
in
Scalentheilen
Abs. Grösse.
Compensator-
Grade.
Temperatur.
Abs. Grösse
Compensator-
Grade
1) 0—2 |176—243 | 67 |657|1) 0—2° | 146—224:5 |78°5 | 784
20—22 |168—247 | 79 |618| 20—22 147—235 |88 |759
2), — .|167—-224| 57 60012) — ? ? |746| „
— |164-231|67 51 | ——| 144—224 |80 |750| S
3) — 1157-209| 52 |572|3) — 143—206 63 [7483| 5
— [150-210| 60 |559 _ 141-214 |73 |757| 8
4) — |145-192| 47 1557| — 140-200 |60 |755| 8,
— |143—200 | 57 |540 _ 138—208 |70 |782 &
5) — 1145-189) 44 |540|5) — 136—191 155 |751| 5
— |142-193| 51 |515 — 130—192 |62 |737| *
6 — [141-184 | 43 |5535|6) — 130—182 |52 |805
— ae 41 Ne an 128—184 |56 |805
Zimmertemperatur 5° C. Zimmertemperatu. 5°
lq = 16 mm. lq=20 mm.
Sorgfältig war jeder etwaige Versuchsfehler ausge-
schlossen; das Resultat blieb so inconstant und unverständlich
als möglich. Es gab nur noch einen Punkt, über den wir nicht
genügend unterrichtet waren, nämlich der, welche Temperatur
der Nerv denn wohl in Wirklichkeit hatte; es war vorauszu-
sehen, dass er gewiss nicht die Temperatur des circulirenden
Wassers haben könne, sondern durch fortwährende Strahlung
an der Oberfläche viel Wärme verliere. Um dies zu erfahren,
wird ein Thermometer mit recht kleiner Kugel horizontal so
auf ein Stück der Oberfläche des Kästchens gelegt, dass eine
möglichst grosse Fläche der Thermometerkugel aufzuliegen
kommt. Wir können auf diese Weise die Temperatur erfahren;
wir wollen aber hier bald erwähnen, dass zwar alle die auf
dem Kästchen gemachten Versuche unter sich vergleichbar und
richtig sind, dass aber die absoluten Temperaturen ungenau
sind und weiter unten eine Correctur auf die absolute Tempe-
ratur nöthig sein wird.
ie
Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 389
= s Solist = -„ & la A
=) = Sulo 3 8513 R RS g u
Salve la)scie ale 5 ‚Tele ars
sss 5 |&laseaslast = 1858888
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Su -= = aıdr|o SIıe eE = El or
= = la el = AN E ne
no alos._ıra 76 1390) 2° |1)0o—2| 96—174 |78)428| 2%
25 1103—188°|79 |344| 16°5 25 | 94—193 |99|450| 17%
2) 101—166 !65 |320}| 3 |2) — | 97-154 !57|384| 3%
— 1105—176 |7ı |285| 16 — | 97—180 |83)409| 17
3) — 102-157 |55 |299| 3% |8) — | 95-151 |56|380| 3%
— /100—158°5| 58:5| 260 | 16 — | 96—164 |68 |382 | 17%
a) — | 94-143 |51 |283) 3% |) — | 86-136 |50|374| 4
— | 97-150 |53 2538| 16 |. — | 82—149 |58| 360) 17
15) — | 69-118 |49|382 | 3%
— | 55—102 |47 | 225 | 19%
lq=12 mm. lq=18 mm.
Die Ergebnisse dieser beiden Versuche sind nicht klarer,
als die der beiden ersten, aber trotzdem führten sie mich, in-
dem ich jetzt die Temperaturen genauer übersah, auf den rich-
tigen Weg. In dem zweiten Versuche nämlich sehen wir inner-
halb der drei ersten Ablesungen constant ein Steigen der Kraft
bei der Erwärmung; bei der vierten Ablesung trat wieder ein
Sinken ein; indem ich die Temperaturen genauer ansehe, zeigt
sich, dass die Temperaturdifferenz hier kleiner ist, als in den
vorigen Ablesungen; diese Temperaturdifferenz, meinte ich, ist
vielleicht zu gering, um eine Steigerung der Kraft hervorrufen
zu können. Um mich sofort davon zu überzeugen, brachte ich
die Temperatur in der 5. Ablesung auf 19!/2°, also um 2°
höher, als sie irgend einmal vorher erreicht war, in der Voraus-
setzung, dass jetzt die Temperaturdifferenz gross genug sein
werde, um eine Krafterhöhung zu bewirken. Es traf indess
genau das Gegentheil ein — die elektromotorische Kraft sank
noch mehr, als es früher der Fall war. Folglich, wenn die
supponirte Ursache die umgekehrte Wirkung zur Folge hat, so
werden wir die Ursache umkehren und dann vielleicht die er-
wartete Wirkung eintreten sehen; d. h. also, es soll in den
I RR la lu BES,
390 | J. Steiner:
nächsten Versuchen die Temperaturdifferenz nicht, wie bisher
grösser, sondern kleiner, als in irgend einem bisherigen Ver-
suche genommen werden; vielleicht tritt dann constant eine
Kraftsteigerung ein.
sa 3 19 3855 3 Slsslssı
az S 2 la°|je sis. E 8. else
ar 2 = & HH 3a = = & =
1)0—2| 82—152 | 70| 642 2% |1) 0 | 108—260 1152| 763 at
18 | 82—161 | 79.675 | 12 18 | 100—272 1172 773 | 10
2) — |; 84—145| 61/622 3 2) — ı 97—221 1124| 625 2
— | 84—153| 69|658| 12 — | 94—245 |151|672| 10
3) — | 87—140 | 53 | 617 3 3) — | 86—197 |111| 567 2
— | 87—146 | 59|626| 12 — | 80—217 |137|623| 10
4) | 87-137 | 50|622| 3 14) — | 76128 10555202
— | 90—146, 561633 | 12% — | 72—191 119) 577 | 10
5) — | 87-135 | 48|633| 3%
— | 86—140| 541683 | 12%
lq = 16 mm. Zimmertemperatur 3° Jg=15mm.
1) 0 |147—300 | 153 | 705 ı% ID 0 ? ? |828 2
20 |150—318 |168 | 746 | 10% 20 | 11—191|180) 872| 11
2) — | 149-230 | 131 | 684 2 2) — ı 23—158 135, 815 2
— |148--306 |160 |733| ı1 = 2—157 1155851 | 10%
3) — |152—271 | 119 | 675 2 3) — | 27—154 |127| 809 2%
— ı154—290 | 146 ‚703 | 11 — | 23—161 1138| 834 | 11
4) — |ı168—272l10ale6ıl 2 | — | 31-147 \116|)809| 2%
— |167—290|123|682| 11 — | 31—163 1132) 8535| 11
Zimmertpr. 3° lg = 14 mm. Zimmertpr. 3° lg =10 mm.
Diese Versuche bestätigen auf das Schönste die Richtigkeit
unseres obigen Schlusses, dass ein geringeres Ansteigen der
Temperatur eine Krafterhöhung hervorruft. Wir haben jetzt
noch die Aufgabe zu zeigen, dass eine höhere Temperatur-
differenz, als wie sie in den letzten Versuchen erreicht war,
Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 391
in der That auch wieder ein Sinken oder wenigstens ein in-+
constantes Verhalten der elektromotorischen Kraft für die Er-
wärmung herbeiführen wird.
= s Sale »„ 5 ia
& 2 S 2 = 8. les Ri S 7 S 2a ®
238 0 58 SO ıssesslesa 2 |58[35855
SITE S s |solSaslE 2 Ss „l28l528
u -- S 2 |s7|oH Sn -< 2 2\a 7 |cH
= es ZN kelleie
1) 0 |8z-ı81 | 9alesı! 2 |D 0| aus Juasıı) ı
40 | 75-189 [11a |684| 25 45 | 8—165 |157|555| 24%
2) — | ı-ıa2 | 1609! 3% |2) — | 20-123 1103| 571) 2
— | 74-158 | 841580) 25 _ ? 2 |615| 23
3) — | 80-143 | 63|623| 3% |3) — | 17-116 | 99661) 2
— | 73—144 | zıl569| 2341 — | 12-117 I115l619 | 24%
a) — |es-ı22 | 59 19] |, — | 9-98 | saless| ' %
le al | 5 78 73558) 25%
Zimmertpr. 4° lga=16 mm. Zimmertpr. 3° Ig=10 mm.
1) 0 | 50-130 | solss2| 2411) 0 | 4-123 1119639) 1%
40 | 44—129 | 85|825| 24 45 | 1-103 |102]|591| 24%
2) — | 44—110 | 661812 34 12) — ! 4—-0-—90) 94, 615 3
— | 55—128 | 73/812] 24% — ? Bl #1 20%
3) — | 48-110 | 62|s21| 4 |3) — |22—0-89111,731| 2%
— ! 41 97 | 56/781) 23% | — | 18-107 | 89|652! 24%
4) — | 35— 81 | 46 | 396 4 |4) — ? ? | 702 3
o ? ? |888| 25 _ ? ? 1617| 25%
lq=14 mm. lq=10 mm.
Wir sehen in der That, dass, wenn wir eine gewisse Tem-
peratur übersteigen, mit der Erwärmung ein Sinken der elektro-
motorischen Kraft des Nerven einhergeht.
Das gesammte Versuchsergebniss geht demnach dahin, dass
wir bei der Erwärmung des Nerven eine Erhöhung seiner
elektromotorischen Kraft eintreten sehen; dass aber nach
Ueberschreitung eines bestimmten, zunächst uns noch nicht
392 J. Steiner:
genau bekannten Temperaturgrades, ein Sinken der elektromo-
torischen Kraft des Nerven eintritt.
Wir werden jetzt weiter, um die bisherigen Versuche noch
zu vervollständigen, ferner um die obere Temperaturgrenze für
das Ansteigen der Kraft ausfindig zu machen, steigende Tem-
peraturen auf ein und denselben Nerven allmälich einwirken
lassen, bis wir die Temperaturgrade erreicht haben werden,
wo ein Sinken der Kraft eintritt. Diese obere Temperatur-
grenze muss aber, wie wir schon jetzt, wenn wir die allerersten
Versuche zu Hülfe nehmen, schliessen können, zwischen 12 bis
18° C, liegen; wir wollen der Kürze halber künftig diese Tem-
peratur als mittlere, die darüber gelegene als hohe und die
darunter liegende als niedere Temperatur bezeichnen.
In den nächsten Versuchen wird ein Nerv resp. zwei Nerven
von 2° bis etwa 20°C. nach einander erwärmt und in ver-
schiedener Temperaturhöhe ihre elektromotorische Kraft ge-
messen, um genauer als es bisher geschehen konnte, die Grenzen
in Bezug auf Steigen und Fallen ihrer elektromotorischen Kräfte
festsetzen zu können. Es werden in diesen Versuchen nicht
mehr die Temperaturen des Wassers, sondern an derselben
Stelle die Zeiten notirt. Zur leichteren Orientirung für den
Leser sollen die Maxima der Kraft, sowie Temperatur, bei der
sie liegen, fett gedruckt werden. (S. f. Tabelle.)
Es ist selbstverständlich, dass man immer nur eine auf-
steigende Reihe in sich vergleichen kann, niemals die gleich
hohen Temperaturen verschiedener Reihen. So betrachtet, füh-
ren die Versuche zu zwei Resultaten, einmal nämlich ersehen
wir, dass die extremsten, höchst seltenen Fälle mitgerechnet,
die elektromotorische Kraft des Nerven bei steigender Erwär-
mung ein Maximum besizt, welches zwischen 9—18° 0. liegt;
zweitens sehen wir, dass die Abkühlung stets eine Verminde-
rung der elektromotorischen Kraft zur Folge hat. Diese Abküh-
lung, möchte ich hier noch erinnern, wurde erreicht durch plötz-
lich eintretende Circulation von Eiswasser.
Man könnte in Bezug auf das Resultat der obigen Ver-
suche meinen, dass sie Anderes lehren werden, wenn man mit
einer anderen Anfangstemperatur beginnen werde; man könnte
Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w,. 393
> Koh m. = = ® = a o
a erlag Seal Er Ss
> EIISDEREHS > oO - > (5) z
9h.58—| 612 1 11h. 11—|687| 2 [12 h. 32—| 760. 2%
10h. 1—| 638 15 14 |810| 9 34 1820| 10
3 584 20 17 |742 | 15% 36 |800| 18
. 512 10 19 |685| 6% 38 |762| 8
8 496 5% 21 |685| 4 44 |795| 2%
13 483 2 234 |734| 9 46 |855| 9
15 331 12 232 209) 115 47% |804| 14
17 515 16 Pa EL, 49 |875| 18
19 483 20 29% |-700 | 15% 52 |813| 9
21 421 7 32% |639| 6 54 1857| 5
27 435 2 36 |662| 3 55% |925 | 11
30 491 10 45% =, 1% 57 1995| 17
sl 470 15% 48% [1652| 11 58 1915| 19%
33 427 21 50 I685|14
36 367 8 55 1751/16
42 406 2 58 584 | 11
46 442 13 {12h. 1—)845 15
48 414 16 4 |641| 7
52 370 I
11h. — | 384 2
Zimmertemperatur 4° C. | Zimmertemperat. 5°] Zimmertemperat, 5°
lq=10 mm. lqa=12 mm. lg=10 mm,
sich vorstellen, dass der Stromabfall stets in einer bestimmten,
aber gleichen Temperatur von der Anfangstemperatur erfolge
oder mit andern Worten, dass diese ganze Erscheinung sei
eine Function der Anfangstemperatur. Die folgenden Versuche
lehren, dass diese Meinung ein Irrthum wäre. Wir wollen in
diesen von unserer sogenannten Mitteltemperatur beginnen.
394 J. Steiner:
uTsı8 (281, 8 ee
> EN ae Ss Hal > ss |B5
ES m ee) = ®) =
10h. 8— 610 10 |11h. 22—|588| 9 |12h. a 860 | 10
13 610 16 25 /616|14 40 1882| 14
17 580 18 26% 1593| 16 41% |834| 18
20 566 20 29% |586 | 18 44 |607| 27
22 599 23 3l [548 | 22 46 1631| 15%
25 op) 20 33% | 538 | 25 48 1638| 9
26 908 14 41 |631[13 51 1848| 14
27 | 497 10 43% 612) 11 54% 1877| 16
29% 577 14 45 |612| 9 55 1809| 20
3l 562 16 809 | 24
34%4| 529 18% 733 | 15
36% 806 22 800| 9
39 506 22%
43 506 16%
45 510 14
47 477 8%
50 5al 14
51% | 522 16
56% 503 21%
58% | 459 27
Zimmertemperatur 5°. Zimmertemperat. 6°.
lg = 13 mm.
lq=12 mm.
lqa=12mm.
Die Versuche bestätigen von Neuem unser Strommaximum
für die mittlere Temperatur von 9—18° C.
Wir wollen hier bald noch einen weiteren Einwurf durch
den Versuch entkräften, nämlich die Möglichkeit, dass das
Maximum Function der Zeit wäre; es könnte Folge des zu
jähen oder zu langsamen Aufsteigens der Temperatur sein.
Für jeden Fall soll ein Versuch angeführt werden.
m, |
Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 395
I. Rasches Ansteigen der II. Langsames Ansteigen
Temperatur. der Temperatur.
Zu ai ! n IIENN U In}
a |8=35|3 ®2|& ae
Seren le Nele nee
ee las
SR KERN S a 5
3h. 2— 398 | H) 10h. 57— 508 6)
34 | 355 16 Jııh. ı 539 12
5 302 24 5% 548 15
b 302 28 10 501 17
10 292 20 16 485 19
134 | 316 15 20 481 13
16% 308 12 23 497 10
21 500 6) 25% 484 14
22% 408 14 27% 462 17
25 332 24 29% | 462 18%
s0 280 6 35 515 14
31% 255 6 42 | 547 ir
33% | 208 15
lq=16 mm. lq = 16 mm.
Das jähe Ansteigen der Temperatur wirkt, wie wir sehen,
durchaus sehr deletär auf den Strom: es findet trotz der Er-
wärmung keine Steigerung, sondern stetiges Abfallen statt.
Bei der allmälichen Erhöhung der Temperatur tritt aber die
Gesetzmässigkeit des Maximums erst recht schön hervor. Dem-
nach sind auch diese Einwände glücklich überwunden.!)
1) Wenn man die Zahlen der Versuchsreihen genau durchsieht, so
wird man bemerken, dass die absoluten Werthe öfter mit der Zeit
des Versuches wachsen, statt, wie zu erwarten, zu fallen; das kann
seinen Grund haben in einer Abnahme der elektromotorischen Kraft
der Compensatorkette. Keineswegs kann aber dadurch an unserem
Maximum etwas geändert werden, um so weniger wenn man, wie ich
schon oben bemerkt habe, nur die Werthe einer aufsteigenden Reihe
miteinander vergleicht. Bei dem Werthe, den ich dieser Erscheinung
beilege, habe ich auch nicht verfehlt, diesen Factor zu controliren,
396 J. Steiner:
Wir kommen endlich zu dem schwersten Einwande, den
ich an den Schluss verlegen musste, weil er gleichzeitig mit
einer anderen Betrachtung abgehandelt werden soll. Der Ein-
wand ist der, dass der Stromabfall bei einer gewissen Höhe
der Temperatur Folge der Austrocknung sein könnte.
Die Betrachtung, die wir hier über das Maximum des Stromes
anzustellen haben, zielt dahin, dass wenn dieses Maximum eine
grösste elektromotorische Kraft bedeuten soll, von dem aus nach
unten und oben Absinken der elektrischen Fähigkeiten des
Electromotors stattfindet; so kann gerade so, wie beim Aufstei-
gen zum Maximum eine Kraftsteigerung eintritt, auch bei dem
Abfall der Temperatur zu demselben, eine Kraftsteigerung ein-
treten, d. h. eine Zunahme der elektromotorischen Kraft bei
der Abkühlnng von der hohen zur Mitteltemperatur. Wenn
dies in der That zu erreichen ist, so ist jener Einwand schla-
gend widerlegt und die ganze Erscheinung selbst jetzt voll-
kommen zweifellos.
Folgende Ueberlegungen leiten mich auf diesem Wege:
1) sieht man ir den früheren Versuchen da und dort, unab-
hängig von der in der untenstehenden Anmerkung gegebenen
Erscheinung, wirklich bei der Abkühlung zur Mitteltemperatur
eine Kraftzunahme; 2) haben wir gesehen, wie deletär ein jähes
Ansteigen der Temperatur auf den Strom wirkt; 3) pflege ich,
wie angegeben, die Abkühlung von der hohen Temperatur durch
Einleiten von Eiswasser zu bewerkstelligen; folglich ist es
wahrscheinlich, dass, wenn eine jähe Abkühlung ebenso
wie eine jähe Erwärmung gleich deletär auf den Strom wirkt,
wir eine Kraftzunahme bei der Abkühlung erhalten, wenn wir
dieselbe nur allmälich genug herbeiführen können. Statt nun
zur Abkühlung einen Strom von Eiswasser durchzuleiten, sollte
die Abkühlung, da die Zimmertemperatur gewöhnlich nicht über
9° C. betrug, durch die Temperatur der Luft allein erfolgen.
Folgendes die Versuche:
und werden weiter unten noch die bezüglichen Versuche angeführt
werden; hier nur soviel, dass auch dabei das Maximum sich siegreich
behauptet. Das Steigen der absoluten Werthe kann aber noch einen
andern Grund haben, der ebenfalls weiterhin noch behandelt wird,
aber ebensowenig unsere bisherigen Resultate trübt.
Untersuchungeu über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 397
7 E Ei = E nn & 3 B
SE Sa Denen ER =
aa euer sis | 8E 385
= N 2 a 85 = ED = = tes) {= Fe}
= Asa | 2 = IE
> oe ° 5 a Pr ° ö =
A OD a) oO m
10h. 59— 650 20% [11h. 58— 578 | 22
11h. 5—-| 712 12 [12h 5— 608 13
10 656 23 7% 608 11
15 640 ? 134 | 4583 24
Y7. 640 11 22 591 12
20 704 15 27 560 21
23 633 20 35% | 626 12
28 601 21
34 520 13
Zimmertemperatur 5% C. Dieselbe Temp. d. Z.
Die beiden Versuche sind viel versprechend und scheinen
unsere Voraussetzungen zu bestätigen.
Da diese Untersuchung aber durchaus frei von jedem Vor-
wurfe sein muss, so wurden noch folgende Correcturen einge-
führt: erstens sollte nur eine Abkühlung an einem Präparate
gemacht werden, um den Einfluss des Absterbens auszuschliessen ;
und zweitens sollte die Constanz der Compensatorkette jeder
Zeit geprüft werden können. Für letzteren Zweck wurde nach
dem Vorgange von du Bois-Reymond!) in den Kreis der
Compensatorkette eine sogenannte Hülfsrolle eingeschaltet und
dieselbe in entsprechender Entfernung ein für alle Mal aufge-
stellt; es wurde hierauf die Kette geschlossen und die Grösse
der Ablenkung abgelesen. Nachdem dies geschehen, muss die
Hülfsrolle wieder ausgeschaltet werden; alle Drahtverbindungen
müssen aber der Art sein, dass die Einschaltung jederzeit wieder
innerhalb des Versuches recht schnell geschehen kann. In
dieser Weise werden die nächsten Versuche ausgeführt.
1) Ueber die elektromotorische Kraft der Nerven und Muskeln,
Dies Archiv 1867. 8.419.
398 J. Steiner:
ch 5 = = < u 5 =] 8
era EBE Sn:
5 |3e as|823°| >35 25 Se
= sdasıs 2] > re
2 Se 3 =
Daniel Daniel
12h. 32% | 42—0-52 | =101 |12h. 14% 494 15
38 410 18 18 467 12
44 415 12 33 154—0—50 | = 104
46 422 11 36% 390 , 18
49 422 9% 41% 390 14
5% 37—0—68 | = 105 43% 390 12
11 505 18 | |
In diesen Versuchen haben wir in der That eine Zunahme
der Kraft bei der Abkühlung zur Mitteltemperatur, aber einige
Male bleibt sie auch aus.” Der Versuch muss vollständig con-
stant werden. Vielleicht ist selbst die Abkühlung durch die
Zimmerluft zu rasch; es wurde deshalb das warme Wasser,
welches eben das Kästchen passirt hatte und das dabei eine
Abkühlung erfährt, von Neuem oben in den Trichter gegossen,
so dass jetzt die Temperatur in der That noch allmälicher ab-
nahm, als bei der Abkühlung durch die Luft.
5 77 FE ü - N -
> „ 5 - Do = ©
h 24258%3| a 2.1851 = =6
— Smsoa|S ESSEN ET So =
2 = |198.23|.3I 8 = |23|. 2 = 25 .
223 |ss3sl.ae| 23 5 |Zsa°8| 2 53 3 mus
© © © ©
an JESSAlsal 2 sS [23H] #8 SA =:
3) 22953005 © s>1l55 © a > 8
> 2" Hal? 15 [Hs]? DIS =
; EB DO zu - Ä (@) Sal
11h. 32%] Auflag. d. N.|11 h.47 | Auflag. |1ıh. 4% | Auflagerung
43 428 | 16 53% 758 | 18 7 \D. 24-0-67 |= 91
49 630 | 13 58% 785 | 14% 11% 579 | 18%
51 597 | 11% 4% 774 | 12% 21 600 14
56 597 9% 13%] 755| 10 23 |D16%-0-74%4]= 91
4) 569 | 8 31% co | 10
39 580 8
Zimmertemperatur 6%°.
Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 39%
Die Versuche zeigen hinreichend deutlich, dass unter den
nothwendigen Cautelen bei der Abkühlung von der hohen zur
Mitteltemperatur die gesunkene elektromotorische Kraft des
Nervenstromes sich wieder erholt. Zur Technik dieser Ver-
suche, die mit der grössten Genauigkeit ausgeführt werden
müssen, ist noch zu bemerken, dass wenn in meinen Versuchen,
bei denen im Allgemeinen von 18° angefangen wurde, etwa der
13.—12.° in der oben angegebenen Weise erreicht wurde,
man die weitere Abkühlung dann der Luft überlassen konnte,
Es müssen sich die von mir hier gegebenen Vorschriften im
Allgemeinen nach der Zimmertemperatur richten; von dieser
wird es abhängen, ob man das oben durchgesandte warme
Wasser noch einmal aufgiessen muss, oder ob man die Abküh-
lung der Zimmerluft überlassen kann. Man hat nur dem Haupt-
satz zu genügen, die Abkühlung so allmälich, als nur irgend
möglich, vorzunehmen.
Ich habe dem Zufall noch die Kenntniss eines weiteren
Factors zu verdanken, dessen Vernachlässigung ebenso den
Versuch missglücken macht, wie zu rasche Abkühlung. Es ist
folgender Versuch:
Elektromotor. | Temperatur
Versuchs- Kraft in a
= Praha Thermometer
Graden.
Auflagerung und Beginn
51 der Erwärmung.
2 D.12—0—78 = 90
35 586 18
1% 572 15
4 550 14
8 540 12
25% 523
28 | D.54—0—85% = 91
Trotz der ganz langsamen Abkühlung tritt keine Erhöhung
der Kraft ein; der Unterschied gegen die früheren Versuche
400 J. Steiner:
liest nur in einem Punkte, nämlich darin, dass zu der Tem-
peratur 18° hier in kürzerer Zeit aufgestiegen war, als dort.
Man muss sich also auch hüten, selbst wenn man nur die
Folgen der Abkühlung beobachten will, zu der Temperatur,
von der aus man abkühlen will, zu schnell aufzusteigen.
Jetzt beherrschen wir die Erscheinung in weitestem Um-
fange. Es wird sich späterhin noch zeigen, von welch’ ausser-
ordentlich grossem Vortheil uns die so genaue Kenntniss aller
hier in Betracht kommenden Factoren sein wird.
Fassen wir jetzt kurz unsere bisherigen Resultate zusam-
men, so ergiebt sich, dass die elektromotorische Kraft des Ner-
venstromes bei langsamer Erwärmung steigt; bei unserer An-
ordnung in den Grenzen von 9—13° C. ein Maximum erreicht,
von dem sie wieder mit zunehmender Temperatur allmälich ab-
fällt; ferner dass der Nervenstrom bei Abkühlung von dieser
hohen Temperatur zur Mitteltemperatur, wenn dieselbe genügend
langsam geschieht, wieder an Kraft gewinnt, um bei niederer
Temperatur wieder an Kraft einzubüssen.
Wir haben diese Resultate gegen alle Einwände genügend
vertheidigt; sie überhaupt nach allen Seiten ‘auf breitester Basis
gestützt.
Es wird jetzt an der Zeit sein, sich daran zu erinnern,
dass wir für die bisher benutzte Methode des Kästchens eine
ungenaue Bestimmung der absoluten Temperatur vorausgesetzt
haben; wir wollen nun diesen Fehler corrigiren und die Tem-
peraturerhöhung nach einer anderen Methode eintreten lassen,
nach welcher wir die absoluten Temperaturen für das Maximum
bestimmt werden erfahren können.
Man bedient sich hierzu am besten des Oelbades. "Wir
müssen ferner hier ebenso, wie schon im Anfange daran fest-
halten, dass die Elektroden unverrückbar aufgesetzt werden
können, dass an ihnen überhaupt keine wesentliche Störung
zu befürchten ist; es wird sich demnach empfehlen, auch hier
die Temperaturen von aussen zuzuleiten. Ich habe hierfür
folgende Einrichtung getroffen.
‚Auf einem gewöhnlichen Porzellanteller oder besser einem
oblongen Porzellangefäss von entsprechenden Dimensionen, wird)
Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 401
ein gleicher Trog von 100 Mm. Länge und 60 Mm. Breite gesetzt,
der auf drei kleinen Korkplatten als Füsschen ruht und auf dessen
Boden in der Mitte ein Kork gekittet ist, auf den der Nerv auf-
gelegt wird. Der Trog wird mit Oliven- oder Mandelöl gefüllt.
Neben die beiden Langseiten des Troges kommen auf dass Grund-
gefäss zwei feste Holzleisten zu liegen, auf welche die Elektroden
gestellt werden können. Ein Thermometer taucht in das Oel
und steht hart an dem Kork; man achte darauf, dass dasselbe
weder den Boden, noch die Seiten des Gefässes berühre. Die
Temperaturerhöhung geschah in folgender Weise: es wurde im
Anfang Wasser von etwa 40° auf den Teller gegossen bis nahe
an den Rand des Troges; in bestimmter Zeit steigt die Tem-
peratur etwa bis 18°; hierauf wird mit einem Heber, wozu ein
kurzer Gummischlauch praktisch zu benutzen ist, das Wasser
entfernt und neues von höherer Temperatur etwa 50° aufge-
gossen u. Ss. w. Will man abkühlen, so macht man es ebenso
mit kaltem Wasser. Diese Einrichtung ist recht bequem und
kostet bei Weitem weniger Mühe und Anstrengung, als die
Temperirung des Kästchens.
Von den nächstfolgenden Versuchen wurden einige in
Oliven-, andere in Mandelöl gemacht, nachdem wir uns vorher
durch Versuche überzeugt hatten, dass der Nerv in beiden Medien
in ähnlicher Weise mit der Zeit abnimmt, wie das in Luft der
Fall ist. Für Olivenöl schien mir besonders der Abfall nach
den ersten 5 Minuten etwas grösser, als in Luft; für das Man-
delöl habe ich die Bemerkung nicht gemacht. Im Allgemeinen
scheint die Abnahme eine grössere zu sein, als in Luft. Die
hierher gehörigen Versuche werden weiter unten angeführt.
Folgendes sind die Versuche in Olivenöl von wechselnder
Temperatur. (S. f. Tabelle.)
Nach diesen Versuchen liegt, wie wir vorausgesetzt haben,
wegen der ungenauen Bestimmung der absoluten Temperatur
auf dem Kästchen, das Maximum etwas höher, als dort und
zwar zwischen 16—25° Celsius.
Ich lasse noch zwei Versuche folgen, die nach dem Vor-
gange von L. Hermann), der das Mandelöl für den Muskel
1) Weitere Untersuchungen über die Ursache der elektiomo-
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 26
402 J. Steiner:
angewendet hat, in demselben Oel angestellt sind, welches
fortan allein zur Verwendung kommen soll.
Olivenöl.
Fe) ar = - A Be =
S.& = = ı 9 = 3
_ . = Rs
seele Pe
2 —
Versuchszeit.sS53| 23830 2 3 Ei: 232
ASSH SE ES a Ss
a & =| = © jdo) = -
Ae=| ® © > = © 5)
= 78 & A| Q S =
Ste) = Ss) =)
I In TE 528 6 3 h. 16— 435 5
18 563 15 196 | 484 13
19 972 19 21 587 17
23 574 24 244 | 568 20
25 564 32 26 484 25
2% | 554 35 27% | 452 26
51 588 10 33% | Ai 24
6 38% | 379 16
6 591 16 47 290 9
4 | 57 22 Ik | 282 7
10 540 30 57% | 275 5%
12% | 51a 32 3% | a | 15
14% 502 33 5 259 18
44 — | 495 5 10 h. 19— | 348 4
47% 508 14 . 25 405 16
49 524 19 29 385 28
50% 512 21 31% 368 32
53% 488 25 37 355 24
55 477 27 43% 347 13
59 437 23 51% 337 8
2% 418 18 55 325 6
6% 384 12 59% 323 15
ME 335 20
% | 335 2
5 330 30
10% 268 32
— Zimmertemperatur 8°.
rischen Erscheinungen an Muskeln und Nerven. Pflüger’s Archiv.
"Ba. IV. S. 166.
r
Untersuchungen über den Eintluss der Temperatur u. s. w. 403
Mandelöl.
FETTE ED:
SASal Sir li.., So jene
Versuchszeit. Fo SE S = : s ® 3 E = = :
ee las
BE o = = >) S al
10h. 213—| 612 7 19 h. 24— | 545 5
23 645 14 27% 593 14
25% 714 18% 29 395 18
26% 698 21 31% 590 20
27 686 24 33% 575 22
28 680 26 40 475 20
30 660 |” 27 46% 434 15
35 655 24 53 508 10
39% 645 21 57 502 9
43 645 17 10h. 4% 478 7
44 638 18 11% 470 6
48 838 13% 15 492 17
59 632 9 16% 450 19
18 450 21
20 450 21
24% 450 18
28% 447 13
38 422 10
Zimmertemperatur 7°. Zimmert. 6°. lq=20 mm.
Die Resultate sind dieselben, wie oben, nur haben wir
schon im zweiten Versuche das Maximum der Stromkraft bei
14°; um nun allen vorkommenden Fällen zu genügen, wollen
wir jetz definitiv die Temperatur von 14—25° als diejenige
bezeichnen, bei welcher die elektromotorische Kraft des Nerven-
stromes ihr Maximum besitzt, um von da aus nach beiden
Seiten hin, sowohl nach unten, als nach oben, abzunehmen.
Es tritt jetzt nun die Aufgabe an uns heran, auch für diese
Versuche den Nachweis zu führen, dass bei der Wiederabküh-
lung zum Maximum eine Steigerung der elektromotorischen
Kraft des Nerven eintrete.e Wenn man indess mit Aufmerk-
samkeit die bezüglichen Versuche auf dem Kästchen durch-
mustert, so wird man sehen, wie sehr empfindlich der Nerv
gegen Temperatureinflüsse ist und wie sehr zart der Nerv be-
handelt werden muss, um die Erscheinung der Zunahme des
Stromes bei der Abkühlung zu geben. Wir haben sie nur da-
durch erreicht, dass der Temperaturabfall so allmälich als mög-
26*
404 .J. Steiner:
lich bewerkstellist wurde; dazu ist aber nothwendig, dass die
Vorrichtung, durch welche der Nerv abgekühlt wird, die Tem-
peratur, die ihr ertheilt wird, sehr schnell annimmt und ebenso
schnell auch wieder abgeben kann. Nun involvirt diese lang-
same Abkühlung aber ihrerseits wieder eine andere Gefahr für
diese Erscheinung; es kann nämlich bei allzu langsamer Ab-
kühlung die Zunahme des Stromes im Maximum gewisser-
maassen übercompensirt werden durch die Abnahme des Stromes
als Folge des Absterbens. Beim Oelbade befinden wir uns in
diesem Dilemma: in Folge der grossen Wärmecapacität desselben
dauert es ganz geraume Zeit, ehe z. B. Oel von 5°, wenn auf
den Teller 40° warmes Wasser aufgegossen wurde, auch nur
um einen Grad zu steigen beginnt. Aehnlich im umgekehrten
Falle, wenn man abkühlt; nimmt man Eiswasser dazu, so ge-
schieht die Abkühlung zu schnell, lässt man dieselbe durch die
Zimmerluft eintreten, so tritt jener eben betrachtete Fall ein,
dass die etwaige Zunahme bei der Abkühlung von der Abnahme
als Folge des Absterbens übercompensirt wird. Ich habe des-
halb und in Folge meiner Beobachtungen, die ich in den an-
geführten Oelversuchen gemacht habe, wobei ich ja natürlich
mein Augenmerk auch darauf gerichtet hatte, von weiteren Be-
mühungen nach dieser Seite Abstand genommen, um so mehr,
als die Versuche auf dem Kästchen ja vollständig beweiskräftig
sind. Es kommen übrigens in den Oelversuchen da und dort
Steigerungen bei der Abkühlung vor, von denen ich überzeugt
bin, dass sie nichts anderes bedeuten, als was wir auf dem
Kästchen gesehen. —
Um uns eine Vorstellung von der Grösse der Zunahme
der elektromotorischen Kraft des Nervenstromes bei der Er-
wärmung zum Maximum machen zu können, sind im Folgenden
die Zunahmen von zehn Versuchen procentisch berechnet und
aus denselben die Mittelzahl genommen worden, welche uns
das Gewünschte veranschaulichen wird. (S. f. Tabelle.)
Es beträgt also die Steigerung für die elektromotorische
Kraft des Nervenstromes von ca. 2—4° bis zum Maximum
ca. 20° die nicht geringe Zahl von 11'6 pCt., also etwa eim
Zehntel des eigenen Werthes.
Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 405
Nr. BR > = © | Mittelzahl.
ea. 2 zum = R S
Maximum. En
I. 612— 638 4 pÜt
I. 687—810 17
IM. 760—820 7
IV. 508—539 6
V 528—574 8 11:6 pCt.
VI 435—563 29
vi 495 —524 5
VIII 348—405 16
ER 612 — 714 16
R 545—593 8
$4. Der Muskelstrom.
Dass der Einfluss hoher und niederer Temperaturen, die
den Muskel starr machen, den Strom vernichten, ist vollständig
zunächst von E. du Bois-Reymond gezeigt worden.') Für
zwischenliegende Temperaturen hat derselbe Autor später nach-
gewiesen, dass bei Erwärmung des Muskels durch Strahlung eines
heissen Bolzens Erhöhung der Kraft um einen kleinen Bruchtheil
eintrete; bei Abkühlung resp. Entfernung des erwärmenden
Bolzens sank die Kraft sofort, um sich durch Erwärmung noch
mehrere Male in die Höhe treiben zu lassen.) Endlich hat
L. Hermann dargethan, dass bei Eintauchung des Muskels in
Mandelöl die Kraft in den Grenzen von ca. 0°—39° durch Ab-
kühlung ein wenig, aber ausnahmslos vermindert, durch Er-
wärmung ebenso ausnahmslos gesteigert wird und zwar nur für
die Dauer der einwirkenden Temperatur.?)
1) Untersuchungen u. s. w.- Bd. II. Abth. I. S. 179.
2) Ueber die Erscheinüngsweise des Muskel- und Nervenstromes
bei Anwendung der neuen Methoden zu deren Ableitung. Dies Archiv
1867. S. 275. Anmerkung 2.
3) Weitere Untersuchungen über die Ursache der elektromotorischen
Erscheinungen an Muskel und Nerven. (Fortsetzung.) Pflüger’s
Archiv u. s. w. Bd. IV. S. 173—182.
406 J. Steiner:
Demnach wäre das Verhalten des Muskelstromes unter dem
Einflusse der Temperatur hinreichend bekannt. Wenn ich trotz-
dem den Gegenstand noch einmal aufgenommen habe, so geschah
es, weil ich gehofft hatte, aus meinen Erfahrungen am Nerven,
auch für den Muskel noch etwas nachtragen zu können. Meine
Aufmerksamkeit sollie sich wesentlich auf zwei Punkte richten
und zwar 1) hat der Muskelstrom ein Maximum, ähnlich dem
Nervenstrome, und wo liegt dasselbe; 2) gelingt es, nach Ueber-
schreitung des Maximums, ebenso wie beim Nerven, durch die
Abkühlung zum Maximum, eine Erhöhung der Kraft zu be-
obachten oder ist das nicht der Fall.
Wenn man die Versuche von L. Hermann mit Rücksicht
auf ein solches Maximum genau durchgeht, so sind es nur drei
Versuche, die wir benutzen können; in diesen erreicht der
Strom sein Maximum bei 30, 27 und 26°, um nach höheren
Temperaturen wieder abzunehmen. — In unseren Versuchen
gehen wir vor der Hand wieder zu unserem Kästchen zurück,
um zunächst mit dessen Hülfe das Maximum darzustellen.
An den Anordnungen wurde nur das Rheochord geändert;
statt des dicken Drahtes trat jetzt ein dünner Kupferdraht von
0:57 Mm. ein. Durch Vorversuche am todten Muskel hatten
wir uns auch hier überzeugt, dass bei unserer Anordnung keine
Thermoströme auftreten.
Die folgenden Versuche sollen theils die Steigerung der
elektromotorischen Kraft durch die Wärme zeigen, theils nach
dem Maximum hin sondiren. Als Präparat wurde der Sartorius
benutzt mit einem am oberen Ende angelegten mechanischen
Querschnitt. (S. Tab. I auf der folgenden Seite )
Es steigt mit der Temperatur der Strom fortwährend, ohne
bei 20° ein Maximum erreicht zu haben. Wir werden in den
nächsten Versuchen über 20° hinausgehen und versuchen, das
Maximum des Stromes festzustellen. (S. Tab. II ebenda.)
Der Muskel hat demnach gleich dem Nerven als Function
der Temperatur ein Maximum, bei dessen Ueberschreiten die
elektromotorische Kraft wieder abnimmt; es liegt dieses Maxi-
mum aber bedeutend höher als beim Nerven; die Differenz ist
so bedeutend, das die extremste Zahl für das Maximum des
Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 407
1
Sartorien mit mechanischem Querschnitt.
Zeit
des
Versuchs.
Compensator-
Grade.
des
Temperatur
Thhermtrs.
Zeit
des
Versuchs.
Compensator-
Grade.
Temperatur
des
Thermtrs.
10 h.
50
56
6%
10
16%
20%
11h.
Zimmertemperat. 9°. lq=10 mm.
1 h. 35%
40
51
55
hs
7%
16
20
45 —
318
323
289
802
278
290
262
272
437
498
409
453
398
437
386
427
ii
one
fon
m
RR
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© HD ©:
BRRR
N
5
21
b)
20
6)
20
6)
20
lgya=9mm. Muskel zuckt noch.
ih.
213
244 I
211
244 i)
212
241 1
216
Dal
Igq=16 mm. Muskel zuckt noch.
en ann nm ran SEHEN EEE nn m nn nn nern ner
618 4%
665 20
595 4%
625 20
568 5
597 20
548 5%
576 20
lIg=11mm. Muskel zuckt noch.
DE
Sartorien.
SE BRETT
Zeit 2,5 &| Zeit 2,5 &
23 383%3 22523
ds |s528;5| de ISE285
Versuchs. | 3° 3 £|Versuchs. 8” 5 =
2 |- oe |H
oO: ()
Or 214 |183| 5
29 |328| 15 35 1237| 22
31 1370| 26 27 240 | 28
31% |272| 38 31 DRS 2T
33 |224| 29
35 248) 3l
36h 1242| 3%
44 |158| 20
STE:
zeit [3085
des =
; e5|3”3
Due E =
Sn
| |
12h —|118| 5
24 | 164| 18
4 | 174| 29
6% | 170) 32%
| |
\
| |
lqa=83 mm.
lg=10 mm. M. starr,
lqa=10 mm.
A408 J. Steiner:
Nerven noch nicht die niedrigste Zahl für das Maximum des
Muskels erreicht; dort hatten wir es auf 9— 18° festgesetzt; _
hier befindet es sich bei 26—32° C.
Wir haben uns aber jetzt, wie schon oben, zu erinnern,
dass die absolute Temperaturbestimmung auf dem Kästchen keine
richtige ist und dass das wirkliche Maximum noch höher liegen
muss, als es uns auf dem Kästchen angegeben wird. Wir
nehmen auch hier wieder unsere Zuflucht zu dem Oelbade,
möchten aber gleichzeitig durch dieselbe Versuchsreihe einen
Einwand beseitigen, der sich gegen die eben gefundenen Höhen
des Maximums, welches sich im Oelbade noch erhöhen dürfte,
machen liesse. Es hat nämlich du Bois-Reymond gezeigt,
dass nach dem Auflegen des Muskels ein so starkes Ansteigen
des Muskelstromes auftritt, dass die Stärke um mehr als den
vierten Theil zunimmt. Die Dauer dieses Wachsthums beläuft
sich auf 1—20 Minuten.!) Du Bois-Reymond hat ferner
dargethan, dass die Quelle für diese Steigerung in der Säuerung
des Muskels zu suchen sei; der dem Muskel anliegende Thon
wird ebenfalls sauer und bildet mit dem neutralen Thone eine
Flüssigkeitskette, deren Strom gleiche Richtung mit dem
Muskelstrome hat und somit letzteren verstärken muss.?)
Man könnte sich nämlich vorstellen, dass in unseren Ver-
suchen, wo die Säurebildung auch noch durch die hohe Tem-
peratur begünstigt wird, das Maximum wirklich tiefer liegt, als
wir es gefunden haben; vielleicht in gleicher Höhe mit dem
Maximum des Nervenstromes; dass aber die durch die Säuerung
des Thones neu auftretende elektromotorische Kraft von bedeu-
tender Grösse den Abfall des Stromes, der als Folge der Tem-
peratursteigerung eintreten würde, übercompensirt, uns ein höher
gelegenes Maximum vortäuscht und damit den wahren Sach-
verhalt verdeckt.
Um diesen Fehler zu vermeiden, werden in den nächsten
Versuchen keine mechanischen Querschnitte mehr angelegt,
1) Ueber die Erscheinungsweise des Muskel- und Nervenstromes
u.s. w. Dies Archiv 1867. S. 270.
2) Ebenda. $. 288.
Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 409
sondern nach der Vorschrift von du Bois-Reymond ther-
mische Querschnitte,') und zwar am unteren Ende des Sarto-
rius mit gleichzeitiger Erhaltung eines Stückes der Tibia, wel-
ches von allen Muskelresten sorglich gesäubert, der Querschnitts-
elektrode als Fusspunkt dienen soll. Wenn der Muskel aus
der 50 gradigen °/« pCt. Kochsalzlösung herausgenommen war,
so kam er erst zur Abkühlung für einige Minuten zwischen
einige Stücke kalter Muskeln. Erst so abgekühlt, wurde er in.
das gewöhnlich 5° warme Oelbad gebracht. Auf diese Weise
war gewiss der Einfluss der Säuerung ausgeschlossen und zu
hoffen, dass das sich bei so zugerichtetem Präparate ergebende
Maximum der wahre Ausdruck der Thatsachen sein dürfte.
In den letzten Versuchen hatte sich gezeigt, dass der Draht
des Rheochordes zu dünn war; die Abstufung der Compensator-
Grade konnte nicht in genügender Feinheit vorgenommen wer-
den. Da.aber, wie schon in den Nervenversuchen sich ergeben
hatte, der Hauptantheil an den Erfolgen der feinen Abstufung
durch das Rheochord zuzuschreiben ist, womit ermöglicht wird,
auch feine Differenzen von sonst grosser Oonstanz, hinreichend
scharf zu bestimmen, so wurde der bisherige Draht durch einer
neuen Kupferdraht ersetzt, welcher im Caliber zwischen den
beiden bisher gebrauchten Drähten stand, mit einem Querschnitt
von 0:8 Mm. Untersucht man so hergerichtete Muskeln in dem
Mandelölbade bei einer constanten Temperatur von 5°, so ergab
sich, dass die Kraft stetig und häufig, besonders bei der ersten
Ablesung nach fünf Minuten, recht erheblich abnahm; es konnte
aber auch eine Zunahme der Kraft eintreten, welche bald ein
Maximum erreichte, um dann wie gewöhnlich, abzunehmen.
Deshalb wurde in allen Versuchen erst durch zwei Ablesungen
untersucht, ob eine Zu- oder Abnahme stattfände; in ersterem
Falle wurde zunächst das Maximum abgewartet und erst dann
mit der Erwärmung vorgegangen.
Folgendes sind die Versuche:
1) Ueber die negative Schwankung des Muskelstromes bei der
Zusammenziehung. Dies Archiv 1873. S. 525.
410
J. Steiner:
In Mandelöl.
Sartorien mit thermischem Querschnitt.
a - - - m -_
Zeit 2,8 2| Zeit | 2,2. 8| Zeit. ge
a2 2,2 28 [2,5 Zee
des 5: 205 des 531325 des 5833258
=5 3° 3 e5 la 3 E52 3
Versuchs. S"|© 1 Versuchs. | 3 © ElVersuchs.|2 "is &
sa ss | s
=) ke) S)
36% = 6 31 517 6 55 |571| 5
42% |704| 13 36 525 16 33h. — |557| 17
45 1792| 16 37% 538 | 19 1% 1562| 19
46 753 | 20% 40 552 23 3 1965| 21
48 7933| 24 41% [569 27% 5.970725
51% 1882| 28 44 1583 32 6 1972| 28
93 912 | 30 46 588 35 8% 1574| 30
585 |911| 33 48 388 37 10 1575| 35
3 1925| 38 48% 1586 38 12% 1567! 36
b) 922| 41 0 953 40 13% |560 | 38
7 864 | 43 51% 1585(2) 42 15% |547 | 41
8 Muskel starr 54% 1582 41 18 532 | 46
und von der Elektr. zu- 56% 972 39 20 |518 | 38
rückgezogen. Neue Aufl. 57% 1566 38 22 |506 | 36
11 1549| 42 58% 1558 | 36% 23 |500| 35
ıh. —-I554 | 35 27% |486 | 30
4 933 30
Zimmertemperatur >|
Muskel nicht starr.
Muskel nicht starr.
6) 346 6
7 8553| 11
8 870| 16
ı0 |386| 20%
14 1443) 26
15% |455 | 30%
18% \469| 34
19% |476| 36
20% |477| 38
22 [4195| 38%
254 |515| 40
27 |484| 41
29 |aro| 40
32 |314| 38
33 |286| 35
Muskel nicht starr.
Zimmert. 5°.
18% | 712
22% | 697
234 | ıı
ee
28 | 758
31 767
32. | 764
33 - | 756
36 | 715
39% | 620
41% | 590
43 | 567
45 | 535
59 | 425
Muskel nicht starr.
693
703
727
758
736
815
800
790
767
744
725
718
703
637
645
620
Muskel nicht starr.
Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. A4]1
In Mandelöl.
Sartorien mit thermischem Quersehnitt.
| = = | u - AB -
Zeit ER: &| Zeit EINE &| Zeit |5.18 &
des 133 888 des ER: 335 des EE 28:5
Versuchs. 3° 5 Z|Versuchs. 3° |2 EBilVersuchs.| 8° 5 E
[SHE Sale SR
35 1578 6 53 | 44l 4 11h. — [530 6)
38 1585| 18 57 |450| 17 5% 1562 21
47 |606 | 26 58% 1460 | 20 10 |609 30
48 |617| 31 1% |486 | 28 13 1683 35
50 |632| 34 3 498 | 31 14% 656 37
51% 1641| 35 5% |524| 3 16 1657 | 38
53 1638| 37 6% |530 | 37 17 1650 39
54h |631| 38 8 [5833| 38 19 [651 42.
56 1623| 18 9715391 3 20 [646 41
58 |613| 37 12 544 4 22 1659 40
59% |605 | 36 13% 542 | 40 23 1635 39
1% |597| 35 14% |539| 39 24 |633 | 38
5 |578| 32 16% |538 | 38% 25% |eas | 37
5 1568| 30 19 |532| 36 26 1624 .| 36
16% 1538| 17 20% |526 | 36 28 1618 34
20 1525| 13 2ı [526 | 38 294 613 | 32
24% 1515| 10 23 18231 40 33 1605 30
24 ,521| 40 37 1590 20
26 /520| 40 45 1569 10
| 27 \518| 39%
| 93 1010138
| 30 1508| 37
31 |504| 36
| "83 |500| 34 |
33% |488| 29 |
Muskel nicht starr. Muskel
Zimmert. 5°.
nicht starr.
Muskel nicht starr.
Die eben mitgetheilten Versuche bieten uns bei näherer
Besichtigung der Zahlen mancherlei interessante Punkte. Durch
den Umstand, dass die Temperatur des Oeles so sehr langsam
steigt, ist es zunächst möglich, fast bei jedem einzelnen Grade
die Ablesungen zu machen, wodurch man in die angenehme
Lage kommt, das Maximum der elektromotorischen Kraft mit
aller Präcision feststellen zu können.
höher, als man hätte vermuthen können.
Es fällt bei Weitem
Die Grenze für das
Maximum, mit aller Schärfe fixirt, befindet sich bei 35—40°;
412 J. Steiner:
von hier sinkt der Strom zunächst bei noch höherer Temperatur
ganz allmälich ab, um in der Nähe der Grenze für die Starre
gekommen, erheblich abzufallen und dann, wenn der Muskel
erstarrt, fast vollständig zu verschwinden, wie ein weiterer
Versuch diesen Vorgang in Zahlen vorführen soll.
Dieses Maximum übersteigt dasjenige, welches aus den
Hermann’schen Versuchen zu abstrahiren ist, um einige Grade;
indess Hermann hat dieses Maximum gar nicht gesucht, so
wenig wie er es in der Temperirung so weit getrieben hatte,
wie das hier geschehen ist. Hermann hatte überhaupt einen
ganz anderen Zweck im Auge und hat desshalb seine Versuche
auch nach ganz anderer Richtung hin verfolgt. Dazu scheint,
wie man vielleicht aus der Grösse der Compensatorgrade für
die elektromotorische Kraft entnehmen kann, Hermann ein
Rheochord von grösserem Widerstande benutzt zu haben, als
das hier geschehen ist; vorausgesetzt die gleiche Kraft der
Maasskette, über die ich keine Angaben finden konnte. Her-
mann seheint gewöhnlich Grenet’sche Elemente anzuwenden.
Ich habe schon oben erwähnt, wie vielleicht der ganze Erfolg
dieser Versuche auf der Feinheit der Abstufung beruht, die
das benutzte Rheochord ermöglicht. Ich möchte deshalb das
von mir gegebene Maximum für das Richtige halten. —
Halten wir uns an die Zahlen, welche die elektromotorische
Kraft im Maximum angeben und verfolgen wir dieselben noch
über dieses hinaus bis zu 41 und 43°, so können wir sehen, wie
in der Mehrzahl der Fälle beim Zurückgehen zu niederer Tem-
peratur der Muskelstrom ziemlich steil abfällt; viel steiler als man
nach den Erfahrungen am Nerven erwarten sollte; jedenfalls viel
rascher, als in einigen Versuchen, die in Folge dessen auch
besondere Eigenthümlichkeiten zeigen und die wir unten noch
aufsuchen werden. Man kann diesen steilen Abfall der Kraft
nicht herleiten von einer zu raschen Abkühlung, weil dieselbe im
Oel in der That nicht rasch vor sich geht; aber auch aus einem
physiologischen Grunde, weil der Muskel, wie wir noch sehen
werden, bei Weitem viel weniger gegen Temperaturwechsel
empfindlich zu sein scheint. Der Grund ist offenbar ein an-
derer. Erreichen wir die Temperatur von 40—42°, so befinden
Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 413
wir uns in nächster Nähe der Lebensgrenze des Muskels, denn
schon bei 45° pflegt derselbe starr zu werden. Offenbar wird
der Muskel in seiner Vitalität durch diese hohe Temperatur
angegriffen und büsst deshalb viel von seiner elektromotorischen
Fähigkeit ein; er nimmt daher unverhältnissmässig rasch ab.
Die Folge davon scheint zu sein, dass eine spätere nochmalige
Erwärmung keinen wesentlichen Effect auf die Stromkraft mehr
äussert, wie wir das in Versuch auf S.411 zu sehen Gelegenheit
haben; ganz im Gegensatz zum Nerven, der bei wiederholter
Erwärmung grösstentheils in entsprechender Weise mit seinem
Strome reagirt. Aber da sein Maximum so viel tiefer liegt,
als beim Muskel, so bleiben wir jener gefährlichen Nachbar-
schaft fern und retten seine Vitalität.
In einer Anzahl der aufgeführten Versuche ist es auffallend,
wie gerade innerhalb der Temperaturgrade von 20—30° die
Steigerung der elektromotorischen Kraft eine besonders grosse
ist; es soll genügen, hier darauf aufmerksam gemacht zu haben.
Bisher haben wir niemals Gelegenheit genommen, über
den Einfluss zu handeln, den die Zeit auf den Strom hat; in-
dess wir hatten niemals nöthig, davon zu reden, weil uns kaum
je eine Thatsache begegnet war, die uns diesen Einfluss be-
merkbar gemacht hätte. Da dieser Einfluss aber bekanntlich
stets vorhanden ist, so können wir annehmen, dass derselbe
durch das Aufsteigen der Temperatur und folgeweise Erhöhung
der Kraft so übereompensirt wird, dass er bisher von uns völlig
vernachlässigt werden konnte. In den letzten Versuchen können
wir aber einige Male sehen, dass beim Aufsteigen der Tem-
peratur von 5 bis ca. 18° nicht nur keine Steigerung, sondern
ein Fallen der elektromotorischen Kraft eintreten kann. Es
müssen also hier sich Rinflüsse geltend machen, die die Wir-
kung der Temperatur modifieiren. Wir werden wohl nicht fehl
gehen, wenn wir diese Modification auf die Zeit zurückführen, da
es eine ziemlich lange Zeit dauert, ehe das Oel die Temperatur-
steigerung von 5 bis 20° vollendet hat. Wenn nicht alle Mus-
keln diese Modificationen erfahren, so beweist das nur, was wir
schon wissen, dass die Zeit die verschiedenen Muskeln nicht in
gleicher Weise beeinflusst. Mir scheint es aber sehr wahr-
414 J. Steiner:
scheinlich, dass auch das Oelbad an sich ein wenig zu dieser
Modification beitragen könnte; der Abfall des Stromes fünf
Minuten nach der ersten Ablesung dürfte grösser ausfallen, als
das in Luft der Fall ist. Keinesfalls ist diese Wirkung aber
bedeutend genug, um entschiedene Störungen zu verursachen. —
Wir haben oben schon gelegentlich bemerkt, dass der
Muskel bei Weitem nicht so empfindlich gegen raschen Tem-
peraturwechsel zu sein scheint, wie der Nerv; ich erinnere
daran, wie der Nerv bei raschem Ansteigen der Temperatur
gewöhnlich mit einem Sinken der elektromotorischen Kraft
antwortet; wie sehr deletär eine rasche Abkühlung wirkt und
welche Vorsichtsmaassregeln man beobachten muss, um die
Erhöhung der elektromotorischen Kraft bei der Abkühlung zum
Maximum zu erzielen. So empfindlich ist der Muskel durchaus
nicht; auf ihn können Temperaturschwankungen geschwind ein-
stürmen, ohne dass er alterirt wird; im Gegentheil, seine Kraft
scheint dann erst recht zu steigen und steigert sich selbst dann
noch, wenn die Temperatur schon wieder abnimmt.
Folgender Versuch wird dieses Verhalten veranschaulichen.
Rasches Steigen der Temperatur.
u ee 5 =
23 3= d == 5
des 3 Ss Ale es = 8 Al
5 | id)
Versuchs. 3” | ©38 Versuchs. | 3 8
S Bo = A7o
35% 317 6 50% 436 | 43%
38 340 19 52 442 43
40 366 | 30 53 445 | 42 A
42 390 | 33 55% 436 | 39
44 407 37 57 429 38
45 419 | 40 58% 424 | 36%
46% 422 | 41 11h. — 419 | 34
47% 425 | 42% 8 380 | 16
49 430 44 18 356 8
Zimmertemperatur 6°.
Untersuchungen über den Eınfluss der Temperatur u. s. w. 415
Es steigt also die elektromotorische Kraft mit der Erwär-
mung trotz der Geschwindigkeit, mit der diese eingeleitet wird;
sie steigt sogar noch bei der Wiederabkühlung, ohne vorher
einmal gesunken gewesen zu sein. Der Grund hierfür liegt
wahrscheinlich in dem Umstande, dass der Muskel bei so
rascher Erwärmung nicht in seiner ganzen Dicke dieselbe Tem-
peratur annimmt, wie sie das umgebende Oel und seine Ober-
fläche haben; dazu ist die Steigerung eben zu rasch. Während
die oberflächlichen Schichten vielleicht schon an Stromkraft
verlieren, steigt noch im Innern des Muskels in Folge der dort
herrschenden geringeren Temperatur die elektromotorische Kraft,
so dass die Resultante aller dieser Ströme noch eine Kraft-
steigerung zeigt bei einer Temperatur, wo dies sonst nicht mehr
der Fall ist und selbst bei der Abkühlung, ohne eine dazwischen
fallende Verringerung des Stromes gezeigt zu haben.
Dieser Vorgang ist, wie leicht einzusehen, sehr wesentlich
verschieden von jenem Versuche, wo das Maximum überschritten
wird, d. h. wo bei einer höheren Temperatur, als der zuletzt
voraufgegangenen, ein Sinken der Kraft eintritt gegen die vor-
aufgegangene höhere Grösse derselben; geht man mit der Tem-
peratur wieder zurück, so tritt jetzt bei einer niederen Tem-
peratur, als die letzte war, eine Stromsteigerung ein. Man
muss diese beiden Vorgänge sorgfältig von einander trennen
und auseinander halten.
Es bleibt uns jetzt noch übrig, auf die zweite der beiden
Fragen, welche im Entwurf zur Untersuchung des Muskel-
stromes aufgeworfen worden waren, zu antworten, ob es gelingt,
nach Ueberschreitung des Maximums für die Wiederabkühlung
zum Maximum eine Erhöhung der elektromotorischen Kraft des
Muskels zu erzielen oder ob es nicht gelingt, und welches der
Grund hierfür sei. Da wie ich oben gezeigt habe, der Muskel-
strom nicht so empfindlich gegen Temperaturschwankungen ist,
als der Nerv, so verzichtete ich darauf, zum Kästchen zurück-
zukehren, wie beim Nerven; sondern beschloss diesen Versuch
auch im Oelbade zu machen, schon um der Möglichkeit eines
Einflusses als Folge ungleicher Erwärmung, wie sie auf dem
Kästchen bei einem so voluminösen Gebilde, wie es der Muskel
ist, möglich wäre, zu entgehen.
416
J. Steiner:
-
Zeit Com- = =) Zeit Com- = =)
= © = ©
des pensator- 25 des pensator- Aue
Versuchs. Grade. s 2 | Versuchs. Grade. 5 =
A rs | <=)
tlche25 633 6 44 377 6
12 650 16 46 are 9.
14 674 19 49% 397 20
17 710 26 53 418 DR
20% 738 32 55 423 29
22% 741 35 57 428 30%
24% 736 36 58% 432 35%
27% 735 42 59% 433 36
31 721 41 2 432 38
32 710 39% 3 425 39%
33 701 38 4 424 40%
34 692 36% 5 424 40
35 680 35 6% 427 39
37 680 33 5% 439 38
39 630 30 10 430 37
190%, 19 479 7 11 430 36
13 429 34
15 427 32
17% 4295 30
19% 418 27
23% 415 20
u kelnieh ; E Muskel nicht starr.
26% 569 4 51% 644 34
32 627 15 54 659 87
34 650 18 55% 668 | 40%
36 678 20 57% 6600 | MR
38 707 26 % 665 40
39 731 28 3 ya :
44 792 33 5) 669 36
46 7.97 34 9 672 38%
47 791 34 10% 671 39%
92 767 27 13 657 43
55 750 21 16 650 45
1 718 15 17% 645 48
7% 652 12 19% 5öll) |, 49
33% 573 4 21% 500 52
39 583 13 24 462 53
41 592 16 27 (Starre) 128 | 54
45 605 22 3 69 44
47 615 26 37% 52 49
50 630 30
Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 417
Wir ersehen aus diesen Versuchen, dass auch beim Muskel
bei der Rückkehr zum Maximum eine Steigerung der gesun-
kenen elektromotorischen Kraft auftreten kann.
In dem ersten dieser drei Versuche ist eine solche Stei-
gerung eigentlich nicht vorhanden, sondern wir finden darin
nur eine Andeutung zum Steigen, indem trotz Zurückgehens
der Temperatur kein Abfall, sondern Constanz des Stromes
auftritt. Dies deutet diese Steigerung zum Maximum an, denn
in meinen sehr zahlreichen Versuchen habe ich niemals beob-
achten können, dass bei der Abkühlung, wenn der Strom erst
einmal iın Sinken war, eine Differenz von zwei Graden nicht
stets auch einen Abfall des Stromes zur Folge gehabt hätte.
Der zweite Versuch zeigt auf’s Schönste den Vorgang der
Kraftzunahme bei der Abkühlung zum Maximum; nachdem
letzteres bei 36° erreicht und bis zu 40%° in drei Ablesungen
überschritten war, trat beim Rückgange zu 39° eine allmäliche
Zunahme ein, welche bei 33° ihr Maximum erreichte und sich
bis zu 36° auf demselben erhielt, um bei 34° wieder abzu-
sinken. Die Werthe dafür sind zwar klein, aber sehr sicher
und vermittelst eines hinreichend feinen Rheochordes genug
deutlich darzustellen. Im Scalenbilde selbst markirt sich der
Vorgang allein schon sehr vortrefflich, da unter diesen Um-
stäinden 2—3 Scalentheile einem Millimeter-Compensator zu
entsprechen pflegen. Aus diesem Versuche können wir aber
noch etwas sehr Wesentliches herauslesen; das ist nämlich,
worauf ich im gegentheiligen Falle aufmerksam gemacht habe,
die ausserordentlich langsame Abnahme der Kraft nach Ueber-
schreitung des Maximums und ebenso bei der Abkühlung zum
Maximum; wie mir scheint, als Hinweis darauf, dass dieser
Muskel von der hohen Temperatur noch nicht gelitten hat.
Der dritte Versuch ist nach mehreren Seiten sehr instructiv.
Zunächst war die Temperatur bis 34° gesteigert worden, ohne
das Maximum erreicht zu haben; — es war durch einen Zu-
fall augenblicklich kein wärmeres Wasser mehr vorhanden —;
es wurde wieder abgekühlt, nochmals erwärmt und bei 404°
das Maximum erreicht, bei 41%° war es deutlich überschritten,
bei der Abkühlung auf 40° nahm die Kraft wieder zu, um bei
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 27
418 J. Steiner:
38° das Maximum zu erreichen, das bei 36° schon wieder über-
schritten war; eine neue Erwärmung auf 38%° giebt wieder
ein Maximum, das schon bei 39%° überschritten ist, um bei
noch höherer Temperatur weiter überschritten zu werden. Wir
ersehen daraus, wie bei der Abkühlung zum Maximum die
Stromkraft zunimmt, wie alle Abfälle der Kraft sehr allmälich.
geschehen und wie im Gegensatz zu obigem Versuche nach
Ueberschreitung des Maximums bei der Abkühlung die erneute
Erwärmung auch wieder eine deutliche Steigerung der Kraft
hervorrufen kann. In diesem Versuche sollte ausserdem das
Verhalten des Stromes bis zur Starre untersucht werden; der
Zufall war dem ausserordentlich günstig, da die Starre erst
bei 54° eingetreten war, wodurch der Weg vom Maximum
38—40° bis zur Starre ein verhältnissmässig sehr weiter war,
so dass der ganze Vorgang in die Länge gezogen ein sehr über-
sichtliches Resultat ergeben konnte. So sehen wir, dass nach
überschrittenem Maximum der Strom allmälich ohne wesent-
lichen Sprung abnimmt bis zu 48°; von hier erfolgt aber bei
der Zunahme der Temperatur um nur einen Grad bis zu 49
eine plötzliche Abnahme des Stromes um fast 100 Mm. des
Compensators. Die nächstfolgenden Temperaturzunahmen geben
nicht weniger steile Abfälle, dem schliesslich der steilste Ab-
fall von 53 zu 54°, dem Eintreten der Starre, folgt: es fällt der
Strom zur Starre plötzlich um über 300 Mm. des Compensators.
Die Abkühlung von da zurück giebt ebenso rapide Abfälle.
Jener Punkt, in der Tabelle durch ein Ausrufungszeichen mar-
kirt, wo der erste hervorstechende steile Abfall des Stromes bei
der Erwärmung eintritt, bedeutet offenbar, wie oben angedeutet
wurde, die Temperatur, wo die Muskelsubstanz durch die hohe
Temperatur in ihrem Gefüge angegriffen wird.
Die Erscheinung, die in diesem Versuche durch die Gunst
eines glücklichen Zufalles, über einen längeren Weg ausgedehnt,
dadurch so ausserordentlich klar sich darstellt, tritt auch in
allen übrigen Fällen ein, wo schon die Starre bei 45° eintritt;
nur ist offenbar, dass durch Zusammendrängung auf einen
kürzeren Weg, etwa auf den von 38—45°, der ganze Vorgang
undeutlicher wird und in seinen einzelnen Phasen viel weniger
“
Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 419
verständlich herausgelesen werden kann. Indess fehlt auch hier
der Punkt nicht, in welchem, ohne dass schon die Starre er-
reicht wäre, ein sehr entschiedenes Sinken der elektromoto-
rischen Kraft sich bemerkbar macht.
Beim Nervenstrom habe ich die Wege angegeben, auf denen
es möglich ist, fast stets die Erhöhung bei der Kraft zum Maxi-
mum beobachten zu können, Auf das Studium der gleichen
Erscheinung beim Muskel habe ich nicht mindere Sorgfalt ver-
wendet, wie dort, ohne indess nach Belieben die Erscheinung
hervorrufen zu können. Man findet nur in einer Reihe in
gleicher Weise angestellter Versuche einige von der erwarteten
Form. Dagegen kann man jedesmal, wenn man das Maximum
auch nur um eine Ablesung überschritten hat, voraussagen, ob
die Erscheinung eintreten werde oder nicht; und zwar ent-
scheidet darüber der rasche Abfall, den wir schon wiederholt
besprochen haben. Tritt dieser auf, so pflegt die Erholung
gewiss nicht einzutreten; ich möchte annehmen, wie schon an-
gedeutet ist, dass man dann den Punkt erreicht hatte, wo durch
die Temperatur die Muskelsubstanz angegriffen wird.
Der Unterschied gegen den Nerven liegt also hier darin,
dass das Maximum der oberen Lebensgrenze so nahe liegt, dass
sehr bald der Moment erreicht ist, wo die Muskelsubstanz an-
gegriffen wird. Dieser Punkt ist aber ein so variabler,
wie die Lebensgrenze, die wir in jedem einzelnen Versuche
nicht genau kennen; auf der anderen Seite müssen wir aber
wieder für alle Fälle das Maximum, das jener Grenze so nahe
liegt, überschreiten: so ist dem Experimentator die Möglichkeit
benommen, hier unumschränkt zu herrschen; es tritt hier ein
Factor mit ein, der nicht zu meistern ist; wenn man so sagen
darf, die Individualität des Muskels. Das hindert indess nicht,
die Erscheinung im Allgemeinen als festgestellt zu betrachten,
wenn wir auch nicht in der Lage sind, über jeden speciellen
Fall gebieten zu können.
Zur Technik dieser Versuche möchte ich noch bemerken,
dass die Abkühlung zum Maximum durch die Zimmertemperatur
eingeleitet wurde, ohne indess das warme Wasser in dem Aussen-
27°
420 J. Steiner:
gefässe zu entfernen. Erst bei 32—30° wurde das warme
Wasser entfernt und kaltes wieder aufgegossen. —
So sehen wir, wie sowohl beim Nerven- wie Muskelstrome
die beiden Methoden der Untersuchung einander ergänzen, ohne
dass aber die eine die andere überflüssig machen könnte. —
Wie oben für den Nervenstrom, so wollen wir auch hier
für den Muskelstrom seine Zunahme an elektromotorischer
Kraft bis zum Maximum procentisch ausdrücken.
Steigerung
der E.K. Steigerung
Nr. von ca. 4° bis in Mittelzahl.
Mana Procenten.
: 715—925 29 pCt.
U. 517—588 13
IM. 571-575 nn
IV. 346-515 =
V. 712—767 7
v1. 693-815 17 ee
VI. en
VII. 441 —544 23
IX. 530—657 98
x. 633 — 741 17
x 377—433 14
XI. 569797 a
Diese Steigerung würde also ca. das Doppelte betragen
‘wie für den Nervenstrom.
Berechnet man die Werthe aus den drei Versuchen am
Kästchen, so stellt sich die Mittelzahl noch höher.
Steigerung
der E’K: Steigerung
Nr. von ca. 4° bis in Mittelzahl.
zum P ten
Maximum. nee:
iR 118—174 38 pCt.
Il. 234— 370 30 33 pCt.
IM. 183— 240 sl
Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur u. s. w. 49]
Ich habe schon bemerkt, dass ich das Oelbad nicht für so
ganz indifferent halte; wir werden der Wahrheit am nächsten
kommen, wenn wir die beiden Mittelzahlen noch vereinigen
und deren Mittel nehmen. Dasselbe beträgt 269 pÜCt.; es
würde also der Muskelstrom um ca. ein Viertel seines Werthes
bis zum Maximum zunehmen.
$.5. Zusammenfassung der bisherigen Resultate.
Wir haben demnach gesehen, dass die elektromotorische
Kraft des Nervenstromes von 2° an desto grösser ist, je höher
die Temperatur, dass dieselbe ein Maximum zwischen 14—25°
hat und bei höheren Graden wieder kleiner ist.
Die Kraft des Muskelstromes ist gleichfalls von 5° aufwärts
desto grösser, je höher die Temperatur ist; sie hat zwischen
35—40° ihr Maximum und ist bei höheren Temperaturen wieder
kleiner, bis sie endlich, wo die Starre eintritt, fast Null wird.
Halle, im April 1376.
Untersuchungen zur Gasometrie der Transsudate
des Menschen.
Von
Dr. C. Anton Ewaup,
I. Assistent der med. Klinik und Docent zu Berlin.
Zweite Abtheilung.
Die folgenden Untersuchungen reihen sich als zweites
Stück den Bestimmungen an, welche ich zur Gasometrie der
Transsudate des Menschen bereits im Jahre 1373 veröffentlicht
habe. —
Wie jene die tropfbar flüssigen, so sollten diese die gasför-
migen Produkte der Exsudation betreffen und ihre Beziehungen,
sowohl zu den ersteren als zu der gesammten Kreislaufs -Oe-
conomie des Körpers betrachtet werden. Es ist Schicksal Kkli-
nischer Beobachtungen, dass sie abhängig von dem jeweiligen
Zufluss des Materials häufig mit unerwünschter Langsamkeit
‘ verlaufen, und gerade der vorliegenden Frage haben die letzten
Jahre nur spärliche Ausbeute entgegengebracht. Aber es
schien um so wünschenswerther eine gewisse Fülle des Materials
zu erstreben, als die Arbeit — ursprünglich viel weiter ge-
plant — dadurch, dassdem Verfasser mittlerweile die umfassen-
den Untersuchungen der Herren Demarquay und Leconte')
bekannt wurden, eine erhebliche Einschränkung erlitt. Diese
Herren haben die Frage nach der Aenderung der Zusammen-
setzung, der Einwirkung auf den Organismus und der Art der
Resorption von Gasen, welche man in Körperhöhlen oder das
Unterhautzellgewebe injieirt, einer eingehenden Prüfung unter-
1) Demarquay, Essai de Pneumatologie medicale. Recherches
physiologigques, eliniques et therapeutiques sur les gaz. Paris 1866,
Ferner eine Folge von Journal-Aufsätzen in den Aıchives generales.
Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 493
zogen und sind, was die beiden letzten Punkte betrifft,
zu dem überaus wichtigen Resultat gelangt, dass: 1) unter allen
von ihnen injieirten Gasen und Gasgemengen (Sauerstoff, Wasser-
stoff, Kohlensäure, Stickstoff, Schwefelwasserstoff, Schwefelam-
monium und Luft) nur Schwefelwasserstoff und Schwefelammo-
nium, entweder für sich allein oder nach Beimengung zuandern
Gasen, eine schädliche Wirkung auf den Organismus resp. seine
Gewebe ausüben, und dass: 2) eine Verschiedenheit in der
Schnelligkeit, mit welcher verschiedene Gasarten resorbirt
werden, in der Weise besteht, dass die Kohlensäure amschnellsten,
der Stickstoff! am langsamsten verschwindet, dass Sauerstoff,
Wasserstoff und atmosphärische Luft zwischen jenen die Mitte
halten und Gasgemenge der reinen Gase miteinander oder mit
der Luft um so schneller aufgesaugt werden, je mehr Volumen-
theile eines leicht resorbirbaren Gases sie enthalten. —
Wenn diese Resultate, welche im Wesentlichsten nur
eine breitere Ausführung der von früheren Forschern (Astley-
Cooper'), Davy°), Wintrich°), Bouley und Clement‘)
angestellten Untersuchungen sind, schon wegen der Einfachheit
der dazu nöthigen Beobachtungen, kaum beanstandet werden kön-
nen, so ist dies mit der Antwort, welche die genannten Autoren auf
die erste der oben aufgeworfenen Fragen, die quantitative und
qualitative Aenderung der Gasgemische, geben, sicher nicht der
Fall. DemarquayundLeconte operirten an der Peritonäal-
höhle und am Unterhautzellgewebe, aber weder hier wie dort schei-
nen sie mitihren Methoden einen wirklich sicheren Abschluss der
injieirten Gase gegen die atmosphärische Lufterzielt zu haben.
Der Umstand, dass sie bei Injection reinen Sauerstoffs oder
Wasserstoffs in den spätern analysirten Proben bedeutende
Mengen Stickstoff finden, so z. B. bei Injection von Sauerstoff
nach 60 Minuten 14-04 pCt. Stickstoff, 4:30 pCt. Kohlensäure und
1) Surgieal and physiological Essays by John Abernethy.
London 1793 p. 55.
2) Davy, Philosoph. Transact. of the roy. soc. of London 1823.
3) Wintrich, Krankht. der Respirationsorgane.
4) Bouley u. Clement, eit. beiDemarquay, Arch, gener. d,
med. t. XIV.
424 C. A. Ewald:
8:66 pCt. Sauerstoff, bei Injection von Wasserstoff nach 60 Minuten
19:75 pCt. Stickstoff, 2:S2 pCt. Kohlensäure, 3:38 pCt. Sauerstoff
und 74-05 pCt. Wasserstoff, würde, auch ohne eine entsprechende
Bemerkung der Verfasser, auf eine Verunreinigung ihrer Gase
mit atmosphärischer von Aussen eingedrungener Luft hinweisen,
da uns von keinem flüssigen oder festen Gewebe des Körpers
ein auch nur im entferntesten dem entsprechender Gehalt an gas-
förmigem Stickstoff bekannt ist. Aber sie geben diese Möglichkeit
selbst zu, wenn sie an einer Stelle‘) ihrer in verschiedenen Jour-
nalartikeln niedergelegten Arbeiten die eigenthümliche Erschei-
nung, dass dieerhaltenen Absorptionswerthe für injieirten Wasser-
stoff im Allgemeinen grösser als für den Stickstoff zu sein schei-
nen, obgleich letzerer einen höheren Absorptionseoefficienten hat,
direct durch die grössere Tendenz des Wasserstoffes, sich in
der Atmosphäre zu verbreiten, erklären. Was für den Wasser-
stoff gilt, gilt aber auch für die Kohlensäure und wenn die
Wasserstoffwerthe auf diese Art entstellt sind, so müssen es
auch die Kohlensäurewerthe sein.
Der Hinweis auf diesen Umstand scheint mir aus folgen-
dem Grunde wichtig:
Wir verstehen unter Spannungsausgleich zweier gegen ein-
ander diffundirenden. (freien oder absorbirten) Gase denjenigen
Zustand derselben, in welchem ihre Procentzahlen diesseits und
jenseits des Diffusionsmenbran übereinstimmen. Die Grösse
dieser Zahlen wird dann auf derjenigen Seite der Membran be-
stimmt, auf der die Menge des in der Zeiteinheit zuströmenden
Gases am grössten resp. constant ist.
Injieirt man ein Gas oder Gasgemisch, also beispielsweise
Sauerstoffund Kohlensäure, in eine abgeschlossene Körperhöhle
und dasselbe verändert sich so lange, bis es schliesslich auf
einem constanten Werth stehen bleibt, und hat man von Aussen
kein neues Gas zuströmen lassen, so muss der endliche Werth
die Grösse der Spannung jenseits der Zellwandungen des um-
1) Leconte et Demarquay. Etudes chimiques sur l’action
physiologique et pathologique des gaz injectes dans les tissus des
animaux vivants. Archiv. gener. de med, V. ser. t. XIV. p. 424.
Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 495
gebenden Gewebes, welchem fortwährend neue Mengen Sauer-
stoff und Kohlensäure zugeführt werden, vorstellen. Verändert
sich aber der Procentgehalt eines Gases wie z. B. des Stick-
stoffes nicht oder nur sehr langsam, obgleich seine Menge in
den Geweben bekanntermaassen ganz gering ist, so zeigt dies,
dass das betreffende Gas nicht unter den einfachen Gesetzen
der Absorptionstehenkann oder dass sein Absorptionscoeffieient
nur ausserordentlich klein ist.
Auf dieser Betrachtung fussen die von mir angestellten
Untersuchungen, über welche ich in dieser Abhandlung
berichte,
Demarquay undLecontehabenzum Theilähnliche Ver-
suche wie ich angestellt, ohne sie allerdings im gleichen Sinne zu
deuten. Wollte man dies aber.thun, so würden ihre fehler-
haften Analysen auch zu fehlerhaften, Schlüssen führen müssen.
Demarquay und Leconte kommenzu dem Ergebniss, dass be-
vor überhaupt eine Resorption der injieirten Gase eintreten
kann, ein Ausgleich zwischen den aus dem Blute stammenden
und den injieirten Gasen nöthig ist, derart, dass das resultirende
Gemisch eine gewisse Constanz der Zusammensetzung erlangt
haben muss, um überhaupt resorbirbar zu sein. Ist es aber so
weit gekommen, so ändert sich die Zusammensetzung eines
solchen Gasgemisches nicht mehr, sondern es wird dann in toto
und gleichmässig aufgesaugt, d. h. es ist nach dem Obigen zu
einem Spannungsausgleich mit dem benachbarten Gewebe ge-
kommen. Von der einen Seite wird so viel aufgenommen wie
von der anderen abgegeben und es stellt sich ein mittlerer Span-
nungszustand her, dessen Grösse die constanten Werthe
angeben. Nun liegen diese Werthe, wenn Luft, Stickstoff
oder Wasserstoff in das Peritonäum oder Unterhautzellgewebe
injieirt wurden, bei Demarquay und Leconte in der Mehr-
zahl der Fälle für den Sauerstoff zwischen 4 und 6 pÜCt., für
die Kohlensäure zwischen 3 und 5 pCt., obschon einige nicht
unbeträchliche Schwankungen nach Oben und Unten vorkommen.
Diese Zahlen entsprechen nahezu den vonStrassburg') für die
1) Strassburg, Zur Topographie der Gasspannungen im thie-
rischen Organismus, Pflüger’s Archiv VI.
436 C. A. Ewald:
Spannung des arteriellen und venösen Blutes ermittelten Durch-
schnittswerthen, welche sich zu 4:05 pCt. für die Kohlensäure
und 3°4 pCt. für den Sauerstoff beziffern, und so könnte es schei-
nen als ob die Spannung dieser Gase innerhalb der besagten
Gewebe nur wenig von der des Blutes selbst unterschieden,
d. h. der in jener Arbeit erbrachte Beweis, dass die Spannung
der Kohlensäure in den fixen Geweben höher als im Blute ist,
erschüttert sei. Diese Uebereinstimmung ist aber eine rein zu-
fällige und das gegen die ZuverlässigkeitderDemargquay’schen
Zahlen von mir vorgebrachte Bedenken kann auch dadurch nicht
beseitigt werden, dass sich laut Aussage der Verfasser nach
Verlauf einer gewissen Zeit eine dauernd gleiche Zusammen-
setzung der injieirten Gase eingestellt haben soll. Denn ein-
mal kann man füglich nicht von einer Constanz der Zusammen-
setzung sprechen, wenn die Volumenprocente, wie diesin der von
DemarquayundLecontegegebenen Tabelle der Fallist, von
einer Stundezur anderen um mehr als2pCt. schwanken, dann aber
ist es leicht denkbar, dass der Wechselverkehr zwischen inji-
eirtem Gas und umgebender atmosphärischer Luft nur in den
ersten Stunden nach der Injection bei weit geblähten Hautdecken
und starkem Druck energisch stattfand, später aber noch gerade
ausreichte, um eine scheinbare aber unter den wahren Werthen
liegende Constanz herbeizuführen. Nicht nur haben frühere For-
scher (Wintrich, Davy) weit höhere Kohlensäure und Sauer-
stoff-Werthe selbst noch 24 und 48 Stunden nach der Injection
erhalten, auch dieneueren mit verbesserten Methoden angestellten
Analysen von Sertoli') (”—-11 pCt. Kohlensäure nach zwei
Stunden) und Strassburg?) (7'7 pCt. nach 2 Stunden) weisen
auf weit höhere als die Demarquay’schen Mittelzahlen hin.
Diese Gründe machen mir die Richtigkeit seiner Zahlen, deren
Controle den Physiologen zukommt, sehr zweifelhaft. Ich
habe sie von meinem Standpunkt aus beleuchten zu müssen
geglaubt, weilich wegen derdamitnachgewiesenen Unzulänglich-
1) Sertoli, Ueber Bindung der Kohlensäure und Ausscheidung
in den Lungen. Medic. chem. Untersuchungen herausg. von Hoppe-
Seyler Bd. Il.
2) a. a. 0. 93.
du
Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 497
keitder Methode, dieich für Thiere durch keine bessere zu ersetzen
im Stande bin, das Thierexperiment bei Seite gelassen habe. Ich
konnte dieses deshalb, weil ich mich auf die Lösung der Aufgabe
beschränken wollte,wiehoch dieSpannungderG@ewebe-
gase unter pathologischen Verhältnissen werden
kann und die Bedingungen hierzu beim Menschen vorkommen. —
Es ist zweifelsohne für den Pathologen von allergrösstem
Interesse, über die Aenderung, welche der Gasgehalt des
Blutes, und zwar in erster Linie die leicht abdunstbaren Gase
desselben, durch entzündliche Störungen zumal der Respirations-
organe erleidet, eine auch nur annähernde Kenntniss zu gewinnen
und dies Interesse wächst, wenn es gelingt, nicht nur die Art
dieser Störungen, sondern auch ihre Quelle ausfindig zu machen.
Während aber über den Stoffwechsel, die Wärmeöconomie,
die Kreislaufs-Verhältnisse u. A. m. lokalisirter entzündlicher
Prozesse ausgedehnte Untersuchungen angestellt sind, hat man
hisher noch niemals versucht, auch dieser Frage gerecht zu
werden. —
Dieselbelässt sich von zweiSeiten aus angreifen. Entweder
kann man nach Analogie der Wintrich’schen und Demar-
quay’schen Versuche die Zusammensetzung der Luft messen,
welche längere Zeit und ohne directen Verkehr mit der At-
mosphäre in Körperhöhlen verweilt hat, welche von entzündlichen
Membranen umgeben sind, denn hier muss nothwendig die Span-
nung der einzelnen Gase des Luftraums derjenigen der an-
grenzenden Gewebe gleichsein, wenn anders ein Diffusionsverkehr
zwischen beiden stattfindet, oder man kann die Spannung der
Gase bestimmen, welche von Flüssigkeiten absorbirt sind, die
längere Zeit im Innern einer Körperhöhle mit entzündeten
Wänden verweilt haben, denn auch in diesem Fall müsste sich,
ein Diffusionsaustausch überhaupt vorausgesetzt, die Spannung
zwischen Gewebe der Wand und Flüssigkeit ausgeglichen haben.
Nach der oben gegebenen Deduction stellt dann jeder auf
diese Weise ermittelte Werth die Spannung des Gewebes in
dem Augenblick der Untersuchung vor, und aus der etwaigen
Constanz dieser Werthe zu verschiedenen Zeiten würde sich
auch die Constanz der entzündiichen Spannung ergeben. Eine
498 C. A. Ewald:
weitere Untersuchung hätte sich mit der Frage, welches der
hier betheiligten Gewebe, ob Exsudatflüssigkeit, ob das circu-
lirende Blut, ob die fixen Zellen die ursprüngliche Quelle der
beobachteten Spannung ist, zu beschäftigen. Beide Wege habe
ich beschritten und die Uebereinstimmung der auf diese Weise
erhaltenen Resultate scheint mir eine derartige zu sein wie sie
unter so komplexen Verhältnissen nur immer erwartet werden
darf.
Im Wesentlichen musste ich mich dabei an die Ausmittelung
der Kohlensäure-Spannung halten, derübrigens auch das grösste
Interesse zukommt. Denn da ich mich bei diesen wie bei
früheren Versuchen nicht des Vortheils begeben wollte, am
kranken Menschen zu arbeiten, um so mehr als mich die oben
auseinandergesetzten Verhältnisse direct darauf hinwiesen,
so sind ihnen von vorn herein gewisse Schranken gesetzt wor-
den, welche mir das Material auferlegte.e Ich musste mir
genügen lassen die oben gestellten Bedingungen wenigstens unter
zwei Umständen verwirklicht zu sehen: dem Pneumothorax und
dem pleuritischen Exsudat.
Da aber der Sauerstoffgehalt pleuritischer Exsudate, wie
ich im ersten Theil dieser Abhandlung gezeigt habe. fast Null
ist’), so mussten auch Bestimmungen seiner Spannung fortfallen.
Nun giebt es allerdings noch neben der Pleurahöhle andere
Orte abnormer Luft- und Flüssigkeits - Ansammlung im Orga-
nismus, so vor Allem die Peritonäalhöhle, aber sie bieten vor
jener nicht nur keine Vortheile dar, sondern stehen durch
mannigfache Complicationen, (schwere Zugänglichkeit, Beimen-
gung anderer Gase, z. B. aus dem Darmrohr, seltenes Vor-
kommen) enschieden hinter ihr zurück und -ihre Ausnutzung
würde erheblich erschwert sein. Schon diese Gründe, noch
mehr aber die Ueberlegung, dass, was für die Pleura gilt, so
weit es nicht specielle Eigenthümlichkeiten dieses Gewebes
betrifft, und davon werden meine Versuche nicht berührt, jeden-
1) C. A. Ewald, Untersuchungen zur Gasometrie der Trans-
sudate des Menschen. Dies Archiv, 1873, Heft 6.
Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 429
falls auch auf andere entzündete Gewebe übertragen werden
kann, haben mich bestimmt ausschliesslich diese Stelle zu be-
nutzen. Hierbei ist ein anderer Vortheil nicht zu unter-
schätzen:
Bekanntlich ist es ein äusserst seltenes Vorkommen, dass sich
beim Menschen ein Pneumothorax ohne gleichzeitige eitrige
Exsudation der Pleura ausbildet respective entsteht. In der
Mehrzahl der Fälle findet sich gasförmiges und tropfbarflüssiges
Exsudat gepaart und man hat es mit einem Pyo- oder Sero-
pneumothorax zu thun. Es leuchtet aufden ersten Blick ein, dass
man hier durch den pathologischen Prozess die Bedingungen
verwirklicht hat, welche für die normalen Gewebe (flüssige
und feste)in den Arbeiten des Pflüger’schen und Lud wig’schen
Laboratoriums durch complicirte Apparate erstrebt wurden,
nämlich die, ein pathologisch verändertes Gewebe und Secret
gegen eine allseitig abgeschlossene Gasmischung in Spannungs-
austausch treten zu lassen. Man kann also durch die Analyse
der pneumothoraeischen Luft nicht nur die Spannung der
Pleura, sondern auch die der Exsudate messen, wenn, wie
hier als selbstverständliches Postulat stillschweigend vorausge-
setzt wird, die Luft der Pleurahöhle durch irgend einen der
hier möglichen und vielfach diskutirten Verschlüsse gegen die
Lunge abgesperrt ist.
Für dies Verhalten geben aber die gewonnenen analytischen
Werthe selbst in jedem Fall die beste Bürgschaft. Schon
Demarquaybhat daraufhingewiesen, dass hoher Sauerstoff- und
niedriger Kohlensäure- Gehalt pneumothoraeischer Luft auf
eine bestehende offene Communication mit den Lungen hinweist.
In Folgendem werde ich mehrere Analysen anzuführen haben,
wo auf Grund eines solchen Befundes die Communication von
Pleurahöhle und Lunge in einzelnen Fällen direet diagnostieirt
und p. mortem bestätigt, in den andern angenommen werden
konnte aber der directen Bestätigung entbehrte, da der Patient
geheilt wurde.
Endlich aber lässt die gleichzeitige Analyse der pneumo-
thoraeischen Luftund derin der Toricelli’schen Leere aus dem
Exsudat abdunstenden Gase erkennen, wie gross der Bruchtheil
430 GC. A. Ewald:
der gesammten sog. locker gebundenen d. h. bei 0 Mm. Druck
und o. Tension abdunstenden Kohlensäure ist, welcher sich
unter Atmosphären-Druck und einer bestimmten Wasserdampf-
spannung abspaltet, und ob derselbe zu dem Gesammtgas in
einem bestimmten wiederkehrenden Verhältniss steht.
Leider stehen mir aus rein technischen Gründen nur wenige
solcher Doppelanalysen zu Gebote, weil es in den meisten
Fällen schwer hielt uno tenore d. h. ohne eine doppelte Punc-
tion, sondern nur durch veränderte Richtung des Troicarts
erst Gas und dann Eiter auszusaugen, und die Ausführung einer
zweiten Punction unmittelbar nach der ersten, wie es doch im
Sinne der Frage gewesen wäre, durch die Rücksicht auf die
Patienten verhindert wurde.
Sämmtlichein Folgendem anzuführende Analysen wurden nach
den bekannten Methoden ausgeführt, und das nach Absorption
und event. Verpuffung von Kohlensäure und Sauerstoff blei-
bende Restgas als Stickstoff verrechnet. Die pneumothoraeische
Luft wurde durch das seitliche Rohr der Punktionsspritze direet
am Krankenbett in die mit Quecksilber gefüllten Eudiometer-
röhren übergeführt und Sorge getragen, dass erst eine oder selbst
zwei Spritzen voll Gas aufgesaugt und in die Luft entleert
wurden, ehe das zur Analyse bestimmte Gas gesammelt wurde.
Das tropfbarflüssige Exsudat wurde in der bereits früher
geschilderten Weise!) ausgesaugt und verarbeitet. Stets wur-
den die zu verwendenden Instrumente vorher auf ihren luft-
dichten Verschluss geprüft. Die umstehende Tabelle, in wel-
cher die Reihenfolge, so weit dies möglich, die Zeitdauer
des Pneumothorax einhält, ergiebt in übersichtlicher An-
ordnung die betreffende Daten. Da es sich in sämmtlichen
Fällen um interne Ursachen (Lungen- oder Pleuraulcerationen,
Bronchiectasen etc.) nicht um äussere Verletzungen, welche
den Pneumothorax entstehen machten, handelte und in allen, mit.
einer Ausnahme, ein mehr weniger reichliches und wie aus-
drücklich constatirt wurde eitriges Exsudat und ein mehr we-
niger starkes Fieber vorhanden war, so konnten die Bemer-
kungen aus der Krankengeschichte möglichst kurz gefasst und
1) Ewald, a. a. 0.8. 666.
L
.
i
Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 431
auf die für die Beurtheilung der Analyse nothwendigen Daten
beschränkt werden. (Siehe Tabelle I S. 12.)
Ich werde nun zuerst die Ergebnisse der einzelnen Ana-
lysen, welche sich in gewisse Gruppen anordnen lassen, kurz
besprechen und dann die allgemeinen Folgerungen daraus ab-
leiten. — en
Von diesen Analysen gehört die schon erwähnte erste, vierte
und fünfte mit aller Sicherheit zu den Fällen, wo eine offene
Communication zwischen Pleurahöhle und Lungen bestand.
Sie charakterisiren sich durch ihre selbst bei längerem Bestand
des Pneumothorax enorm niedrigen Kohlensäure- und dem ent-
sprechend hohen Sauerstoff-Werthe und einen Stickstoff-
gehalt, welcher dem der atmosphärischen Luft nahezu gleich-
kommt. Wenn sich bei Analyse II schon am 2. Tage, bei
Analyse III am 5. Tage des Bestehens des Pneumothorax
Werthe für die Kohlensäure von 18 und 15 Volum. Procent
finden, so müssen offenbar die niedrigen Werthe der Analysen
I, IV und V in der ausgiebigsten Ventilation der Pleurahöhle
ihren Grund haben. Bei IV ist dies durch die Section sicher
gestellt, bei I und V durch die Krankengeschichte höchst
wahrscheinlich gemacht. Nehmen wir nun von diesen drei
Analysen die Durchschnittswerthe, so erhalten wir 2:77 pCt. -
Kohlensäure, 16'75pÜt. Sauerstoff und 805 pCt. Stick-
stoff, als mittlere Zusammensetzung eines mit
der Lunge in offener Communication stehenden
Pneumothorax.
Es ist übrigens, beiläufig bemerkt, auch ohne grossen
eudiometrischen Apparat, falls man nur eine kleine und un-
schädliche Punction nicht scheut, in allen Fällen leicht die
Pneumothorax - Luft nach dieser Richtung hin zu untersuchen
und diesen für die Prognostik nicht zu unterschätzenden
Punkt sicher zu stellen: Man fülle eine gewöhnliche Bürette,
deren Ausflussöffnung abgesperrt ist, mit einer gesättigten Salz-
wasser-Lösung, schliesse das offene Ende mit dem Daumen,
kehre um und fixire dasselbe in bestimmter Höhe unter dem
Spiegel eines mit derselben Salzwasser-Lösung gefüllten
Gefässes. Wenn man nun mit einer etwa 50—100 Cem. fassenden
C.A. Ewald:
432
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Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen.
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434 C. A. Ewald:
Spritze punctirt hat, deren Canüle nur die Dicke einer dünnen
Strieknadel zu haben braucht, so kann man die Spitze der
Canüle leicht derart schräg unter das Wasser halten, dass sie
unter die Oeffnung der Bürette zu stehen kommt. Drückt man
nun den Stempel langsam zu, so steigt das Gas in der Bü-
rette hoch und man kann an der (freilich umgekehrten) Theilung
der Bürette, den Stand des Wassers und die ungefähre Menge
des Gases ablesen. Nun bringe man schnell ein etwa erbsen-
grosses Stück kaustischen Kali’s unter die untere Büretten-
öffnung, verschliesse die Bürette wieder mit dem Daumen,
nehme sie aus dem Wasser, schüttele einige Male tüchtig um
und tauche sie wieder in das Salzbad, indem man durch all-
mähliches Aufrichten der horizontal gehaltenen Bürette das
Kalistückchen ander Kuppe antrocknen lässt. Sehr schnell wird
die Kohlensäure bis auf geringe bei einem so rohen Versuch
nicht in Betracht kommende Mengen absorbirt. Beträgt das
absorbirte Volumen weniger als denzehnten Theil des gesammten
Gases, so ist nach meinen Erfahrungen mit Sicherheit auf
eine offene Communication mit den Lungen zu schliessen,
oder, da die Umkehr des Satzes sich vielleicht noch augenfälliger
in der Praxis zeigt, ist die absorbirte Menge mehr als ein
Zehntheil des Gesammtvolumens, so ist luftdiehter Abschluss
der Pleurahöhle vorhanden. Wenn ich hierbei als Charakte-
risticum eines offenen Pneumothorax einen Kohlensäuregehalt
von nicht über 10 pCt. angegeben habe, so ist damit wohl der
äusserste Grenzwerth nach Oben hin gesetzt, wie er sich nach
einigen später zu besprechenden Analysen unter Umständen
stellen kann, im Allgemeinen aber kaum eine die Hälfte davon
betragende Zahl anzunehmen. Ich habe in allerjüngster Zeit
Gelegenheit gehabt auf das Resultat einer derartigen Probe-
Analyse hin eine offene Communication zwischen Pleura und
Lunge intra vitam zu diagnostieiren, obschon die Grösse des
Pneumothorax eher auf das Gegentheil hindeutete. Ich fand
zwischen 3 und 4 pCt. Kohlensäure am 4. Tage des Bestehens
und am zweiten Tage vor dem Tode des Patienten. Die Ob-
duction ergab ein linsengrosses, wie ausgeschlagenes Loch
in der fast intacten Pleura der gänzlich geschrumpften Lunge,
Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 435
welches direkt in einen Bronchus hineinführte. Da die Be-
stimmung der Kohlensäure in diesem Falle nur eine approxi-
mative war so ist er nicht in die Tabelle aufgenommen worden.
Gegen den naheliegenden Versuch aus diesen Werthen
Schlüsse in Beziehung auf den Kohlensäuregehalt der Alveolen
kranken Lungengewebes ziehen zu wollen, möchte ich mich
aber sofort verwahren. Die pathologisch-anatomischen Ver-
hältnisse sind in diesen Fällen zu allermeist derart, dass eine
unausgesetzte und durchaus ausgiebige Ventilation, und zwar
mit Ausschluss jeglichen respirationsfähigen Gewebes direkt
in die Bronchien zweiter und dritter Ordnung hinein stattfindet,
der regelrechte Gasaustausch der Lungencapillaren entweder
überhaupt nicht oder nur im allergeringsten Maasse besteht
und die etwa abdunstenden Gase sofort entfernt werden.
Daher darf es nicht Wunder nehmen, wenn diese Zahlen hinter
denen, welche für die Residualluft der Lungen (66 pCt.
Vierordt'), für die Spannung abgeschlossener Lungenpartieen
(5:1 bis 586 als Maximalwerthe, Wolffberg?), oder gar für die
p- m. aus den Lungen genommene Luft (bis 12:2 pCt. Davy?)
gefunden sind, weit zurückbleiben. Sie berechtigen zu weiter
Nichts als dem Schluss, dass gegebenen Falls eine offene Com-
munieation zwischen Pleura uud Lunge bestanden hat, dies
aber so sicher, dass ick nicht anstehe in dem Fall VI, welcher
eine Luft mit 20'4 pCt. Kohlensäure, 2:35 pCt. Sauerstoff und
79-18 pCt. Stickstofl enthielt, ohwohl das Gas erst p. m. auf-
gefangen wurde und die Section eine fast kirschkerngrosse
direkt in einen Bronchus führende Oeffnung der Pleura nach-
wies, eine feste Verlegung derselben bis zum Augenblick der
Leichenöffnung,, etwa durch einen zähen Schleimpfropf, anzu-
nehmen. Ich habe diese Analyse deshalb zu den Fällen von
abgeschlossenem Pneumothorax gerechnet.
Solcher Fälle stehen mir mit gleichzeitig eitrigem Exsudat,
1) K. Vierordt, Physiologie der Athmung mit besonderer Rück-
sicht auf die Ausscheidung der Kohlensäure. Karlsruhe 1845.
2) S. Wolffberg, Ueber die Spannnng der Blutgase in den
Lungencapillaren. Pflüger’s Archiv IV 8.474 und VI 8. 26.
3) 2.2.0.
28*
436 C. A. Ewald: | ;
sechs, mit serösem einer zu Gebote. Letzterer ist getrennt
von den übrigen zu besprechen.
Es darf nun billig Wunder nehmen, dass das Resultat
dieser sechs Analysen, obgleich sie zu so verschiedenen Zeiten,
unter so verschiedenen Umständen und nach so verschiedenen
Entstehungsursachen angestellt sind, verhältnissmässig so ge-
ringe Unterschiede für jede Gasart bei Vergleich der einzelnen
Analysen giebt. Die grösste Differenz für die Kohlensäure
beträgt 527 pCt., für den Sauerstoff, mit Fortlassung der
Analyse II, deren hoher Sauerstoffgehalt offenbar durch den
kurzen zweitägigen Bestand des Pneumothorax bedingt ist, 3:29
pCt., für den Stickstoff 4'038 pCt. Da diese Analysen in die
Zeit vom zweiten bez. fünften bis zum vierunddreisigsten Tage
fallen, so kann man daraus zu Recht schliessen, dass nach
kurzer Zeit eine gewisse Stetigkeit der Zusammensetzung,
welche von gemeinsamen gleichen Bedingungen abhängt, ein-
tritt und ist berechtigt die zu berechnenden Durchschnittswerthe
alsdenTypusdes Gasgehaltes eines geschlossenen
Pneumothorax aufzustellen. Dieselben sind: 18:13 pCt.
Kohlensäure, 26 pCt. Sauerstoff und 7%S1 pÜt.
Stickstoff.
In diesen Mittelwerthen nähert sich die Zahl des Stickstoffs
und die Summe von Sauerstoff und Kohlensäure nahezu dem
Sauerstoff und Stickstoff der atmosphärischen Luft, und da
2 Volumina Sauerstoff und 1 Volumen Kohlenstoff 2 Volumina
Kohlensäure geben, so werden wir direkt auf die Möglichkeit
hingewiesen, dass die gesammte Kohlensäure der pneumothora-
cischen Luftdurch Oxydationsprozesse in den Exsudaten bedingt
ist. In der That ist es von vorne herein nicht zu bestreiten, dass
durch den Zutritt von Luft saure Produkte in dem eitrigen
Exsudate gebildet werden, Kohlensäure frei gemacht und als
neuer Summand der schon vorhandenen zugesellt werden
kann. Aber ich stelle die direkte Abhängigkeit der Kohlensäure
der pneumothoraeischen Luftvon diesem Vorgang in Abrede und
werde in der Folge zu zeigen haben, dass die letztere durch
andere Momente bestimmt wird, so dass die Uebereinstimmung
Untersuch, zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 437
zwischen dem verschwundenen Sauerstoff und der gebildeten
Kohlensäure nur zufällig ist.
Eine eigenthümliche Sonderstellung nimmt diesen Analysen
gegenüber der Fall VIII ein, wo es sich um einen Sero-Pneumo-
thorax mit $:13 pCt. Kohlensäure, 126 pCt. Sauerstoff und
90:61 pCt Stickstoff handelte und bemerkt werden muss, dass
kein Symptom. auf eine etwaige offene Communication zwischen
Lunge und Pleurahöhle hinwies. Nichtnur der Kohlensäure-Ge-
halt, dessen geringe Höhe wohl in Zusammenhang mit der
serösen Beschaffenheit des flüssigen Exsudates steht, sondern
vor Allem die abnorme Menge Stickstoff resp. Restgas recht-
fertigt den Verdacht, es möge ein analytischer Fehler vor-
liegen. Leider ist dieser Fall vereinzelt geblieben und die
Gasmenge reichte zu einer Doppelanalyse nicht aus. Da der
Sauerstoff mit Kalipyrogallat absorbirt wurde und die Schwämme
mit dem Kalipyrogallat') nach der Absorption in andern Röhren
auf ihre Wirksamkeit mit positivem Erfolg geprüft wurden,
so können die niedrigen Werthe für Sauerstoff und Kohlen-
säure nicht beanstandet werden, zumal sie nicht direkt unwahr-
scheinlich sind. Hiervon ist aber die procentarische Stickstoff-
grösse, falls derselben nicht noch andere Gase beigemengt sind,
was ich nach meinen früheren Analysen bezweifele, in grader
Linie abhängig. Es muss mir vorerst genügen die Gültigkeit
der analytischen Werthe, eben weil sie sich so schroff aus dem
Rahmen der übrigen hervorheben, gesichert zu haben. Eine
eingehende Betrachtung und damit die ihm zukommende Stelle
wird dieser Fall erst nach der Beschreibung anderer Versuche,
welche später besprochen werden, erhalten können, dann
aber seine scheinbare Ausnahmestellung verlieren und sich als
durchaus gesetzmässig erweisen.
1) Ich bediente mich in letzter Zeit statt der in Kugelform ge-
pressten Kugeln von Papier mache kleiner kugelig geschnittener
Stückchen von reinem dichten Schwamm, welche auf Platindräthe
aufgehakt werden. Dieselben lassen sich, nachdem sie vorher in
Kalipyrogallat getaucht sind, vollkommen luftfrei unter Quecksilber
ausdrücken und in die Absorptionsröhren einführen. Sie sind leichter
und schneller herzustellen wie die Papierkugeln, absorbiren aber
energischer.
ETRTLTER
a CAR:
Eine Art Mittelstellung zwischen den Analysen letzt-
und erstgenannter Gruppe nehmen die Fälle VII, XIV und XV
ein. Obgleich in jedem derselben das Vorhandensein einer
direkten Communication mit der Lunge nach Aussage der
Krankengeschichte höchst wahrscheinlich ist, ja für den
Fall XIV zwingende Gründe zu der Annahme vorliegen, dass
der Pneumothorax erst im Momente der Punction einer eitrigen
Pleuritis, wahrscheinlich unter Ruptur des Pleuragewebes in
Folge zu starker Aspiration, entstanden ist (cfr. Ewald, zur
operativen Behandlung pleuritischer Exsudate.), sind die erhalte-
nen KohlensäureWerthe dochzu hoch um einen direeten Austausch
zwischen Pleuragas und Luft, wie in den Fällen der ersten
Gruppe und zu niedrig um einen abgeschlossenen Pneumothorax
wie in denen der zweiten anzunehmen. Sie sind aber fast gleich
denen, welche Demarquay und Lecontein einem Fall von
Hydropneumothorax avec communication pleuro-pul-
monaire gefunden haben. Es wurden in diesem Fall an zwei
Tagen jedesmal mehrere Proben Pleura- Gas kurz hinter-
einander durch Punction entnommen, Die betreffenden Zahlen
waren hier für die Kohlensäure am ersten Tage in der ersten
Probe 10'832, in der zweiten 8'823 pCt., bei einem zweiten vier
Tage später angestellten Versuche 11'16, 9:36, 796 und 1'53
pCt., während die gleichzeitigen entsprechenden Sauerstoffwerthe
1:54, 5'392 und 049, 542, 9-45 und 15°37 sind. Hieraus sieht
man ganz deutlich, dass die Communicationsöffnnng an beiden
Punctionstagen anfänglich nicht genügend durchgängig gewesen
sein muss und sich erst in Folge der Entziehung des Pleura-
gases und des dadurch relativ wachsenden Druckes der Lungenluft
erweitert hat. Dasselbe muss in meinen Fällen stattgehabt
haben. Sie sind in ihren analytischen Ergebnissen characte-
ristisch für einen ungenügenden, vielleicht nach Art einesschlecht
wirkenden Ventils verlegten, pleurapulmonalen Verbindungs-
weg. Vielleicht haben wir im FallXIV ein Bild der Lungen-
1) Charite-Annalen 1874 S. 153. Einen durch meine Abwesen-
heit bei der Superrevision der Correctur entstandenen Druckfehler
bitte ich hier Zeile 2 von unten dahin zu berichtigen, dass es
statt „nur 0'3 pCt. Sauerstoff“ heissen muss „170 pCt. Sauerstoff“.
‘Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 439
luft unter pathologischen Verhältnissen vor uns, da das Gas
im Moment des Entstehens auch schon zum Zweck der Analyse
entfernt wurde und kaum Zeit zu einem ausreichenden Aus-
gleich mit dem Gase des Exsudates gefunden haben kann.
Obgleich der von Vierordt bei vermehrter Puls- und Re-
spirationsfrequenz gefundene Werth von 622 pCt. Kohlen-
säure der Exspirationsluft bei 15 Athemzügen und 201 Pulsen
in der Minute mit dem hier erhaltenen Resultat von 6'S pÜt.
in guter Uebereinstimmung steht, lassen doch andere später zu
erörternde Thatsachen diese Annahme bezweifeln, und es
muss genügen auf diese Möglichkeit hingewiesen zu haben.
Es bleibt endlich die AnalyseX. Dieselbe betrifft ein Gas-
gemenge, welches 20 Stunden p. m. aufgefangen wurde, nach-
dem sich ein eitriger Pneumothorax, von dessen Luftbeschaffen-
heit die Analysen VIII und IX Kenntniss geben, in einen
jauchigen Pneumothorax umgewandelt hatte Es kann hier
nicht von einer etwa crst p. m. entstandenen Zersetzung und
Umbildung des Exsudates resp. der Luft die Rede sein. Ersteres
nicht deshalb, weil diejauchige Beschaffenheit des Exsudates sich
schon längere Zeit vor dem Tode durch characteristische Zeichen
kund gab, letzteres, weil uns die Analyse III mit ihrer gleich-
falls erst vor der Section entnommenen Luft, deren Zusammen-
setzung von 15'135 pCt. Kohlensäure, 3:94 pCt. Sauerstoff und
80-92 pCt. Stiekstoff in Nichts von den anderen während des
Lebens angestellten Analysen abweicht, beweist, dass einkurzer
Aufenthalt der Luft im todten Körper keine wesentliche
Aenderung der Gasbeschaffenheit hervorrufen kann. Die
40°53 pCt. Kohlensäure, 0:54 Sauerstoff, 58:93 Stickstoff und
1:0 Schwefelwasserstoff zeigen, wie mächtig die Kohlen-
säure unter dem Einfluss des mit der Verjauchung verbun-
denen Zersetzungsprozesses und der damit Hand inHand gehen-
den Säurebildung anwachsen, wie der Sauerstoff fast voll-
ständig verschwinden und als neuer Bestandtheil Schwefel-
wasserstoff auftreten kann. Gleichzeitig wird in Folge der
veränderten Zusammensetzung der procentarische Gehalt an
Stickstoff um fast ein Drittheil herabgedrückt. Ein Vergleich
mit einer 7 Tage vorher angestellten Analyse des damals noch
nicht verjauchten Exsudates (Eiter) ergiebt das interessante
440 C. A. Ewald:
Factum, dass der Kohlensäuregehalt der Luft gegen den des
Eiters bei gleichbleibendem Sauerstoffgehalt um fast ein Drit-
theil gewachsen ist, und ein Vergleich mit der zu eben jener
Zeit angestellten Luftanalyse, dass er gegen jene um über das
doppelte zugenommen hat d. h. dass die Acidität des Eiters
‘der von demselben Patienten stammenden Analysen VIII und
IX, wenn überhaupt vorhanden, lange nicht ausreichte um auch
nur die Hälfte der gesammten austreibbaren Kohlensäure frei zu
machen. — Gasanalysen des neben dem Pneumothorax bestehen-
den Exsudates konnten nun leider nur in der Minderzahl der
Fälle angestellt werden, indessen vertheilen sie sich glücklicher-
weise derartig über die Gesammtzahl, dass sich mit Sicherheit
die Unabhängigkeit der Zusammensetzung des Pneumothorax-
Gases von dem Eiter-Gase, wenigstens bis zu einem bestimmten
Punkte ergiebt. Es wird am besten sein die Erörterung der
auf diese Weise gewonnenen Zahlen sofort mit der Ableitung
der allgemeinen Schlussfolgerungen zu verbinden.
Vergleicht man nun zuerst die Kohlensäure-Zahlen der aus-
pumpbaren locker gebundenen Eitergase mit denen der über dem
Eiter stehenden Luft in den betreffenden Analysen II, HI, IX
und XI, so ergiebt sich eine Maximal-Differenz der einzelnen
Luftanalysen untereinander von 413 pCt. während sie für den
Eiter den enormen Werth von 40:93 pCt. erreicht. Ich habe
in dem ersten Theil dieser Abhandlung die Gründe entwickelt
wodurch diese Differenzen im Gasgehalte der tropfbar flüssigen
Exsudate, welche offenbar mit der Dauer und Beschaffenheit der-
selben inZusammenhang stehen, bedingt werden und brauche an
dieser Stelle nicht darauf zurückzukommen. Es möge aus jenen
Versuchen nur noch einmal hervorgehoben werden, dass diejenige
Menge von Gas, in specie von Kohlensäure, welche bei 0 Mm.
Druck gegen das Vacuum aus verschiedenen Exsudaten abdunstet,
eine ganz verschiedene ist und durchauskeine constanten Werthe
zeigt, Hier interessirt uns vor Allem das fundamentale Factum,
dass, während der Kohlensäuregehalt der Exsudate so mächtig
schwankt, die aus der pneumothoraeischen Luft gewonnenen
Werthe innerhalb so enger Grenzen eingeschlossen sind und
sich durchaus disproportional zu denen der Exsudate verhalten.
Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 441
Diese Thatsache, welche sich klar und deutlich aus den ge-
wonnenen Werthen ergiebt, ist aber für die folgenden Betrach-
tungen von maassgebender Wichtigkeit, weil sie uns zeigt, dass
die Kohlensäure der Luft nur in beschränktem Maasse von
derjenigen der Exsudate abhängig sein kann, etwa in so fern
als diese die Quelle jener abgeben würde. Offenbar muss
noch ein Regulator vorhanden sein, welcher dem erschöpfenden
Abfluss derselben aus dem Exsudate steuert. Ein solcher
Regulator kann aber nirgend anderswo gesucht werden als in
dem Widerstand, welchen eine ausserhalb der Exsudate und
jener Luft gelegenen Kraft dem Abdunsten des Gases aus dem
Eiter entgegensetzt und die einzige Stelle, wo diese
Kraft gesucht werden kann, liegtindem umgeben-
den Gewebe und bedeutet nichts Anderes als die
Gasspannung desselben. Jedenfalls zeigt die Ungleichheit
jener ersten, derEiter-Gas-W erthe, die annähernde Gleichartigkeit
der zweiten, der Luftwerthe, dass wir hier ein Maximum vor
uns haben. Die Bedingungen desselben können nicht wohl in
der Kohlensäure der Exsudate und einem nur passiven Auf-
treten derselben in dem Pleuragewebe gesucht werden.
Denn wollte man den in diesen Versuchen leitenden Ge-
danken und der aus ihnen sich ergebenden Betrachtungsweise
den Einwand machen, dass die beobachtete Kohlensäure nicht
der Spannung der Gewebe, sondern einer in dem Exsudat
auftretenden dieCarbonate desselben zersetzenden Säurebildung
entspreche, so würde der Hinweis auf die Analyse X mit
ihrem bei wenig starker Aciditätso grossem Kohlensäure-Gehalt
so wie die Thatsache, dass sich eine fast gleich zusammen-
gesetzte Luft über Exsudaten mit saurer, neutraler und al-
kalischer Reaction befand, derartige Bedenken entkräften
müssen. Denn dies beweist zur Genüge, dass einmal die
pathologischen Verhältnisse dem Abdunsten ungeheurer Kohlen-
säure-Mengen aus dem Exsudate unter zwingenden Umständen
keinen Widerstand entgegensetzen können, dass andererseits
aber in der inneren Säuerung der Exsudate nicht die Gründe
liegen, welche eine Vermehrung der ausdunstenden Kohlen-
säure bewirken, weil die ohnehin geringe Acidität derselben
De A, 7 A ET
EAN. a Wchdgge
442 C. A. Ewald:
einen nennenswerthen Unterschied in dem Gasgehalt der Pneumo-
thorax-Luft selbst dann nicht hervorrufen kann, wenn die ge-
sammte lockere Kohlensäure, welche im flüssigen Exsudat vor-
handen ist, erheblich wachsensollte. Letztere setzt sich offenbar
aus zwei Componenten zusammen, von denen die eine constant
und eine Function der Gewebsspannung, die andere aber variabel
istund sich mit der Beschaffenheit des Exsudates gewissermaassen
von innen heraus ändert. Hierin liegt aber zugleich ein
zwingender Beweis dafür, dass wir es nicht etwa mit einer
leblosen, starren und undurchdringlichen Wand zu thun haben,
welche die Pneumothorax-Luft einkapselt. Bekanntlich findet
man bei den Sectionen der an Pneumothorax verstorbenen
Personen nicht selten einen mehr weniger grossen Bruchtheil
der Pleuren nicht mehr in dem Zustande einer frischen Ent-
zündung sondern im Gegentheil auf dem Wege der retrogres-
siven Metamorphose, in fettiger Umwandlung, in molecu-
lärem Zerfall, in Mortification des Gewebes begriffen. Auf dies
Verhalten hin könnte aber nicht ohne Grund der Einwurf ge-
macht werden, dass es sich in meinen Versuchen überhaupt nicht
um ein lebendes entzündetes Gewebe und seinen Einfluss auf
die umgebende Luft handele. Aber wenn Dies in der That nicht
statt hätte, wenn die Luft des Pneumothorax einfach von einer
indifferenten Wand verschlossen wäre, wie wollte man damit die
gefundenen Differenzen der Reaction und der ausgepumpten Gase
der flüssigen Exsudate einerseits, die fast constante Zusammen-
setzung der über ihnen befindlichen Luft andrerseits vereinbaren?
Und wenn wirklich das überwiegende und bestiz:mende Mo-
ment bei diesen Vorgängen das absterbende und verfettende
Pleuragewebe bildete, so würde auch damit die Constanz der
Luftzusammensetzung nicht in Einklang zu bringen sein, weil
die bei einem solchen Prozess auftretende Säurebildung und
Zersetzung unausbleiblich zu einem stetigen Wachsen der Koh-
lensäurewerthe führen müsste. Meine analytischen Ergebnisse
sind mir im Gegentheil ein Beweis, dass diese Zustände
entweder nicht die Folgen auf den Gaswechsel haben, die man
ihnen a priori zuschreiben möchte, oder, dass sie gegen die
doch stets noch vorhandenen activ entzündlichen Vorgänge
Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 443
zurücktreten und nicht die leitende Rolle spielen können. Es
ist ein lebensfähiges, allen Gesetzen der Diffusion und des
Stoffwechsels unterworfenes Gewebe, mit dem wir es zu thun
haben und dies Verhalten der Pleuren muss gerade deshalb
ganz besonders betont und hervorgehoben werden, weil es
überhaupt die Möglichkeit, die erhaltenen Resultate auf das
Verhalten entzündeter Gewebe zu übertragen, giebt. Für diese
Betrachtung ist es nun auch ganz gleichgültig, ob man die
nachgewiesene Spannung der pneumothoraeischen Luft als das
Maximum der Exsudatspannung d. h. der im flüssigen Exsudate
vorhandenenund unter Atmosphärendruck abdunstenden Gase an-
nehmen will oder ob man etwa die letzterenoch höher beziffert, mit
andern Worten, obmandem Exsudat dabei eine active oder passive
Rolle zuertheilen will. Denn da jedes einzelne Theilchen der secer-
nirten Flüssigkeit zu irgend einer Zeit einmal das Pleuragewebe
durchwandert haben muss, so muss sich auch seine Spannung mit
der des Nachbargewebes (Pleura) auf diesem Wege ausge-
glichen haben und das einzelne Molecul wird sich seinen Vor-
gängern mit einem Spannungsindex zugesellen, welcher aus
seiner eigenen und des Gewebes Spannung resultirt. Sollten
die bereits ausgetretenen Elementeausirgend welchen Gründen
einen Theil ihrer Spannung an einen neuen Factor z. B. die
plötzlich in die Pleurahöhle strömende atmosphärische Luft ab-
zugeben haben oder von ihnen aufnehmen, so müsste sofort ein
rückläufiger Ausgleichzwischen jenen ersten Ankömmlingen und
den letzten und den neu nachrückenden eintreten, etwa wie
sich der Wasserspiegel eines Sees durch Vertheilung der ein-
zelnen Wassertropfen von einem Punkt aus überall hin senkt,
wenn an seinem einen Ende ein plötzlicher Abfluss stattfindet.
So hängt also jeder der drei Factoren Luft, Exsadat und Ge-
webe vom andern ab, alle drei aber suchen fortdauernd in’s
Gleichgewicht zu kommen. Wenn es gelingt einen von ihnen
dabei als activ betheiligt, die anderen als passiv zu erweisen
so ist damit zugleich die Quelle der ermittelten Spannungs-
werthe gefunden. Jedenfalls muss also die Spannung in dem
Exsudat und in den anstossenden Geweben nahezu gleich
dem Durchschnittswerth der pneumothoracischen Luft sein.
444 6. A. Ewald:
Da nun Gewebe und Exsudat zu einer bestimmten Zeit ihre
Spannung ausgetauscht haben, so handelt es sich nur noch um
den Nachweis, ob ursprünglich das Gewebe dem vorbeiströmen-
den Exsudat oder dieses dem Gewebe abgegeben hat, ob ersteres
oder letzteres ursprünglich höher gestellt war. Wäre letzteres
der Fall, so muss, da das Exsudat doch ein Abkömmling des
Blutes ist, das gesammte im Körper kreisende Blut eine gleiche
oder annähernd gleich grosse Spannung haben.
Obgleich sicherlich bei allen schweren Respirations -und
Circulationskrankheiten die Kohlensäure- Spannung des Ge-
sammtblutes erheblich gegen die Norm erhöht ist, scheint es -
nun doch in hohem Grade unwahrscheinlich, dass der mensch-
liche Organismus auch nur vorübergehend die hier in Frage
kommende Luftspannung aushalten kann. Wenn man sich
dagegen die anderweitig sicher gestellten Thatsachen vergegen-
wärtigt, unter denen eine jede Entzündung zu Stande kommt,
der erhöhten Temperatur entzündeter Stellen, der verlangsam-
ten Circulation, der gesteigerten Plastieität, mit einem
Wort jener alten Vierzahl des calor, rubor, turgor und dolor
gedenkt, was Alles doch schliesslich nichts weiter als eine
locale Stoffwechselerhöhung bedeutet, und wenn man-sich er-
innert, dass die Erhöhung der sogen. inneren Athmung d. h.
ein vermehrter Sauerstoffverbrauch und eine dem entsprechende
gesteigerte Kohlensäureproduction bei gesteigerter Thätigkeit
einzelner Organe von Ludwig und seinen Schülern direct
nachgewiesen ist, so dürfte eine vermehrte Kohlensäurepro-
duction event. ein vermehrter Sauerstoffverbrauch entzündlich
veränderter Gewebszellen und damit eine über die Norm er-
höhte Gasspannung derselben, nichts Befremdliches haben.
Von dieser Annahme aus lassen sich auch die vorliegenden
Verhältnisse durchaus ungezwungen und einfach erklären. Denn
die entzündete Zelle gleicht ihre Spannung mit dem langsam
vorbeifliessenden Blut aus, und die von dieser Stelle aus das
Blut verlassenden festen und flüssigen Elemente nehmen den
gleichen Werth in die Pleurahöhle hinüber und theilen ihn
schliesslich der pneumothoracischen Luft mit. So betheiligen
sich an der endlichen Feststellung der procentarischen
EEE en
Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 445
Werthe der Pneumothoraxluft sowohl Exsudat wie Gewebe,
aber die endgültige Regulation ist direct oder indirect dem
Protoplasma der Gewebszellen zuzuschreiben. Ist aber, um
allgemeiner zu werden, das Blut an irgend einer entzündeten
Stelle des Körpers, gleichviel ob mit oder ohne Exsudation
um ein Mehr von Kohlensäure reicher, um Sauerstoff ärmer
geworden, so wird es wahrscheinlich nur wenig weiter im Sinn
des Stroms vorgeschritten, bereits zur normalen oder nahezu
normalen Spannung zurückgekehrt sein. Es wäre sehr interes-
sant zu erfahren, wie sich der Gasgehalt des Blutes peripherer
Gefässe gestaltet, wenn an irgend einer beschränkten Körper-
stelle innerhalb der Blutbahn oder doch so, dass das Blut in
leichtem Wechselverkehr damit stehen kann, eine constante
Kohlensäurequelle hergestellt wird. Ich meinestheils bin über-
zeugt, dass dadurch der Kohlensäuregehalt des Gesammtblutes
bei ungestörtem respiratorischem Gasaustausch nur wenig ge-
ändert würde. Für die thierische Wärme habe ich wenigstens
durch directe (noch nicht publicirte) thermoelectrische Versuche
nachgewiesen, dass die Temperatur des Magens um 20° und
noch mehr unter die der Achselhöhle sinken und nur allmählig
innerhalb 30bis45 Minuten die gewöhnliche Wärme annehmen
kann, ohne dass die Achselhöhlen-Temperatur um mehr als
wenige Zehntheile eines Grades und auch dies nur vorüber-
gehend zu fallen braucht. Also dass der Wärmeverlust des die
Magenwandungen durchströmenden Blutes sich vollkommen
ausgeglichen haben muss, bis dasselbe die Peripherie erreicht,
etwa wie sich die Oberfläche eines Haufens Erbsen nicht merk-
lich ändern würde, aus dessen Mitte man eine oder auch zwei
oder drei fortnimmt. Aehnliche Verhältnisse werden aber im
Blute statthaben, d.h. eine normale Anhäufung oder Produktion
eines Blutgases vertheilt sich bei regelrechter Lungenventilation
soschnell aufeine so grosseBahn, dass sie an einzelnen Punk-
ten derselben nicht mehr augen- oder sinnfällig ist. So wenig
stens erkläre ich mir die lokale Cyanose entzündeter Körper-
stellen, welche nicht mit einer allgemeinen Oyanose verbundenist.
Obgleich ich nun den Ort der Kohlensäurespannung, als
in der Zelle des entzündeten Gewebes liegend mehr als wahr-
RA \ Fa
a wB \
>
446 C. A. Ewald:
sch einlich gemacht habe, will ich mich doch bei Formulirung
des aus diesen Analysen zu ziehenden Schlusses nicht von dem
Boden der nüchternen Thatsachen entfernen und behaupte,
dass die Kohlensäurespannung entzündeten Ge-
webes (Blut oder fixe Zellen), in welchem eine.
Eiterproduktion stattfindet zwischen 15 und 20
Volumprocenten liegt und in ihrer Höhe von der
Intensität der Entzündung abhängig ist.
Betreffs des Sauerstoffs und Stickstoffs kann ich mich
kürzer fassen. Ersterer wird bis auf wenige Procente absor-
birt und zwar nahezu gleichmässig in allen Analysen von etwas
längerem Bestande. Der Durchschnittswerth von 2:6 pCt.
weicht kaum von den von Strassburg für das venöse Blut er-
mittelten Werth von 2° 9 pCt. ab, und es hat dies durchaus
nichts Befremdendes, wenn man bedenkt, dass der Sauerstoff fort-
während durch das Blut, auch wenn er in erhöhtem Maasse
verbraucht wird, zugeführt und erneuert werden kann.
Die Sauerstoffspannung entzündeten und mit
Eiterproduktion verbundenen Gewebes würdesich
danach auf 2: 6 pCt. stellen.
Da das Stickgas, soweit wir bis jetzt wissen, bei allen
Vorgängen des thierischen Stoffwechsels eine rein passive Rolle
spielt, so werden wir es auch rein mechanischen Gesetzen
unterworfen finden. In der That scheint es, ziemlich von glei-
cher Menge in den verschiedenen Analysen der pneumo-
thoraeischen Luft, von den Exsudaten proportional der Zeitdauer
ihrer Berührung mit jener Luft absorbirt zu werden. Er beträgt
in Maximo am 2. Tage 1'45, am 3. 2:09, am 24. 12'25 und am
34. Tage 37:66 pCt. Schon Demarquay und Leconte haben
nachgewiesen, dass der Stickstoff trotz seines hohen Absorp-
tionsco£fficienten —25— am langsamsten von allen Gasen resor-
birt wird, ein Factum, welches sich, nebenbei gesagt, aus der
einfachen Thatsache, dass in den Lungen fortwährend Massen
von Stickstoff mit einem in höchstem Grade resorptionsfähigen
Organe in Berührung sind, ohne dass normaler Weise in irgend
einem Gewebe ein nennenswerther Gehalt an (gasförmigem)
Stickstoff vorkommt, ergiebt. Die Gewebe scheinen also der
Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 447
Aufnahme des Stickstoffs einen gewissen nicht unerheblichen
Widerstand entgegenzusetzen, so dass sie erst nach längerer
Zeit und unter erhöhtem Partiardruck mit ihm imprägnirt wer-
den. Der Durchschnittswerth von 79:81 pCt., welchen ich für
den Stickstoff der pneumothoracischen Luft gefunden habe,
beweist nur aufs Neue, dass sich dieses Gas dem Organismus
gegenüber vollständig indifferent verhält. —
Die vorliegenden Untersuchungen hatten es mit eitrigen
Pleuritiden, mit der Form des Pyopneumothorax d. h. mit
einem Pleuragewebe mit mehr weniger starker eitriger Auf-
lagerung und entzündlichen Schwarten zu thun. Obschon ich
nun im Vorhergehenden nachweisen konnte, dass eine solche
Pleura sich keineswegs wie eine todte Kapsel, sondern ganz
und gar wie lebendes Gewebe verhält, wollte ich doch nicht
unterlassen den zweiten der Eingangs erwähnten Wege ein-
zuschlagen und direct die Gasspannung seröser Exsudate mit
Hülfe der aörotonometrischen Methode zu ermitteln, wie die-
selbe zu ähnlichen Zwecken von Pflüger in die Wissenschaft
eingeführt ist. Ich bediente mich hierzu eines Apparates, der
im Wesentlichen ganz ähnlich dem Pflüger’schen Aörotono-
meter construirt war.') Der Sinn desselben ist bekanntlich
der, zwei Portionen einer gleichzeitig aufgefangenen Körper-
flüssigkeit (Blut, Harn. u. s. w.) ohne Berührung mit der Luft
mit zwei Gasgemischen verschiedener aber bekannter Zusam-
mensetzung in Contact zu bringen und aus der Art, wie diese
Gasgemische dadurch verändert werden, die Spannung
der betreffenden in der Flüssigkeit absorbirten Gase
zu bestimmen. Dies geschieht, indem man die zu prüfende
Flüssigkeit gleichzeitig durch mehrere lange cylindrische,
vertical gestellte, oben und unten conisch zu laufende Röhren
fliessen lässt, welche mit den Gasen bekannter Zusammen-
setzung gefüllt sind. Diese Röhren können auf Körpertempe-
ratur erwärmt und erhalten werden.
1) Siehe die genaue Beschreibung desselben in der citirten Arbeit
Strassburg’s. Mein Apparat war bis auf die im Text angegebene
Abweichung genau ebenso construirt.
448 C. A. Ewald:
Bestimmt man nun vor und nach dem Durchlaufen die
Zusammensetzung des in diesen Röhren enthaltenen Gases, so
zeigt sich erstens, ob die durchgelaufene Flüssigkeit an die
Röhren Gas abgegeben hat oder umgekehrt, und zweitens
gelingt es bei ungefährer Kenntniss der Werthe, um die es
sich handelt, die Gasmischung zweier Röhren so einzurichten,
dass die durchlaufende Flüssigkeit von der einen aufnimmt, an
die andere abgiebt, d. h. innerhalb zweier Grenzwerthe ein-
geschlossen ist. Hat dann ein vollständiger Ausgleich statt-
gefunden, so müssen die betreffenden Werthe (z. B. die Kohlen-
säurewerthe) nach dem Versuch in beiden vorher verschiedenen
Röhren gleich oder nahe zu gleich sein und die daraus sich er-
gebende Zahl ist der annähernde Spannungswerth des betreffen-
den Gases. Indem ich betreffs der näheren Versuchsanordnung
und Beschreibung des Apparates auf die Arbeit Strassburg’s
verweisen kann, habe ich noch Folgendes zu bemerken: Ich
konnte selbstverständlich einen so complieirten Apparat, wie
den hier benutzten, nicht am Krankenbett aufstellen sondern
war gezwungen die durch Punction gewonnene Flüssigkeit
von den Krankensälen in das Laboratorium zu bringen. Da
ich mich aber auf die Ermittelung der Kohlensäurespannung
beschränkt habe und da ich früher nachgewiesen habe, dass
die Aenderungen in dem Gasgehalt der Exsudate in den ersten
Stunden nach der Punction nur minimale sein können, so durfte ich
diesen Wegunbedenklich einschlagen. Stattdervon Strassburg
benutzten vier Röhren habe ich nur zwei angewendet und mit
einem Gemisch aus Stickstoff und Kohlensäure gefüllt, welches
immer erst unmittelbar vor dem eigentlichen Versuch zu einem
Theil in die Tonometerröhren übergeleitet, zu einem andern zur
Feststellung seiner Zusammensetzung besonders aufgefangen
wurde. — Ich verfuhr also folgendermaassen: mit dem Punctions-
troicart wurde eine grosse eigens zu diesem Zweck angefertigte
gläserne Spritze von genau 290 Ccm. Inhalt verbunden, nachdem
zuvor der Troicartund die verbindenden Gummischläuche nöthi-
‚genfalls durch Pressen des Patienten mitFlüssigkeit gefüllt waren.
Dann wurde die Spritze voll gesaugt, luftdicht am oberen Ende
abgeklemmt und in Eis versenkt in’s Labortorium gebracht.
Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 449
Hier waren kurz vor der Punction die betreffenden Röhren
gefüllt und die nöthige Temperatur derselben hergestellt. Als-
dann wurde die Spritze mit dem zuführenden Schlauch ver-
bunden, nachdem sie zuvor gleichfalls auf eine Temperatur von
37—38° gebracht war, der Gasdruck in den Röhren mit der
Atmosphäre in Gleichgewicht gesetzt, die todten Räume der
Leitungen mit Hülfe doppelt durchbohrter Hähne mit Exsudat
gefüllt und nun von einem Gehülfen durch langsamen und
stetigen Druck auf den Stempel der Spritze die gesammte
Flüssigkeit innerhalb anderthalb bis zwei Minuten durchgepresst.
Aus jeder der zwei Tonometerröhren sammelte sich die durch-
laufende Flüssigkeit über Quecksilber in graduirten Röhren,
so dass annähernd gleiche Mengen derselben mit Sicherheit
als durch beide Röhren geflossen nachzuweisen waren.
Sammelte sich in der einen Vorlage mehr Flüssigkeit wie in
der andern, so konnte man leicht durch entsprechendes Heben
des betreffenden Zuleitungsschlauches die andere nachrücken
lassen. Nach dem Durchleiten wurde das Gas jeder Röhre
wiederum zur Analyse abgefüllt.
Dadiese Versuche sehr complieirt und schwierig anzustellen
sind, so sind mir leider nicht wenige misslungen, in denen es
zu gar keinem oder nur sehr mangelhaftem Ausgleich der Gas-
spannung in beiden Röhren kam, wovon die grossen Differenzen
nach dem Durchleiten zeugten, oder es nicht gelang die Serum-
Gase zwischen ein Minimum und Maximum der Tonometer-
röhren-Gase einzuschliessen. Von den neun überhaupt ange-
stellten Versuchen sind daher nur vier in der folgenden Tabelle
aufgenommen worden und selbst von diesen zeigen einige, wenn
man die ursprüngliche Spannung des Flüssigkeits-Gases für
jede Röhre aus den einzelnen Differential - Werthen berechnen
wollte, grössere Unterschiede, nämlich bis 2:32 pCt., als unter
physiologischen Bedingungen erlaubt sein dürfte. Da man aber
unmöglich an diese Versuche die strengen Anforderungen des
physiologischen, durchaus in die Hand des Experimentators
gegebenen Experimentes stellen darf, und da sie ausserdem doch
durchaus eindeutige Resultategeben, halteich mich für berechtigt
sie hier anzuführen. —
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 29
C. A. Ewald
450
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Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 451
Jedenfalls sieht man aus dem Verlauf dieser Versuche auf
das Deutlichste, dass, ebenso wie es von Strassburg für das
Blut nachgewiesen ist, so auch für seröse Flüssigkeiten die
scheinbar so kurze Zeit von 1 bis 2 Minuten vollständig aus-
reicht um einen erschöpfenden Gasaustausch in den Tono-
meterröhren zu Stande kommen zu lassen, dass also der Span-
nungsausgleich ein fast momentaner ist und dies Verhalten
hatte ich im Auge, wenn ich oben (S. 18) das Resultat der
Analyse XIV nicht ohne Weiteres als Ausdruck der Lungen-
luft ansehen zu können glaubte.
In drei von diesen Versuchen ist es nun gelungen in dem
einen Tonometerrohre soviel Kohlensäure im Kohlensäure-Stick-
stoffgemisch zu haben, dass die Kohlensäurespannung höher, im
anderen so wenig, dasssie niedriger als im Exsudat war, d.h. dass
die Kohlensänre-Spannung im ersten Rohr nach der Exsudat-
Durchleitung gesunken, im Zweiten gestiegen ist und die Span-
nungen nach dem Durchleiten sich nahezu gleich verhalten. Im
vierten Versuch (Analyse III) liegt die resultirende Spannung
unterhalb derjenigen, welche vor. dem Durchleiten in den beiden
Röhren bestand. Da aber der Kohlensäuregehalt beider Röhren
nach dem Durchlaufen so wenig von einander verschieden ist, dass
man einen fast vollkommenen Ausgleich der Spannungen an-
nehmen darf, so ist auch diese Analyse mit aufgenommen und
als Ergebniss derselben das Mittel der halben Differenzen der
Spannungszahlen gegen die ursprünglichen Kohlensäureprocente
genommen.
Die so erhaltenen Werthe, welche demnach
direet dieSpannungder Kohlensäure seröser Exsu-
date anzeigen, liegen zwischen 75 und 11'5 pCt.
Hierbei ist zu bemerken, dass die Ziffer 11'’5 die höchste
ist, welche ich überhaupt in allen, auch den nicht in der Ta-
belle angeführten Analysen erhalten habe, während umgekehrt
niedrigere Werthe als 75 vorkommen. Wenn dies aber in
dem einen Rohr statthatte, so zeigte regelmässig der unver-
hältnissmässig höhere Werth in dem anderen Rohre oder eine
sonstige Unregelmässigkeit, dass der Versuch nicht ordnungs-
mässig verlaufen war.
29*
a a
452 C. A. Ewald:
Hier ist nun auch der Ort um auf die oben nicht weiter be-
sprochene Analyse XIII, welche es mit einem Seropneumothorax
zu thun hatte, zurückzukommen. Unter den Luftanalysen mit ab-
geschlossener Pleurahöhle bildete dieselbe mit ihren 8:13 pCt.
Kohlensäure eine scheinbare Ausnahme gegen die übrigen so viel
höher gestellten Fälle. Im Lichte dieser Tonometer-Versuche be-
trachtet reiht sie sich den gewonnenen Ergebnissen vollkommen
an. In der Thatkonnte ihre Kohlensäurespannungnicht merklich
grösser sein, weil eben die Gewebsspannung seröser Exsudate
nicht merklich höhere Werthe erreicht, und die scheinbare Aus-
nahme bildet den besten Beweis für die Zulässigkeit der
Methode.
Ich habe bereits im Eingange dieser Abhandlung die Ueber-
legung auseinandergesetzt, welche mich bei Anstellung dieser
Tonometer-Versuche leitete. Sie sollen gewissermassen die
Probe auf das Exempel geben und die Schlüsse, welche bei
den Luftanalysen an der Hand umständlicher Deductionen ab-
geleitet werden mussten, glatt und zweifellos aus dem directen
Wortlaut des Experimentes folgen lassen. Dies ist, wieman aus
den gewonnenen Ergebnissen ersieht, in der That der Fall und so
bilden diese Versuche nicht nur einenothwendige Ergänzung, son-
dern geradezu das Fundament der vorangestellten Luftanalysen,
nur um deshalb nach ihnen besprochen, um desto wirksamer die
noch haftenden Bedenken entkräften zukönnen. Denn vieleZwei-
fel, welchesich betreffs der dort abgeleiteten Schlüsse erheben und
nur durch eingehende Ueberlegung beseitigen liessen, fallen durch
die hier angewandte Methode von vornherein fort und es
lässt sich kein stichhaltiger Vorwurf, welcher denselben gemacht
werden könnte, ersehen. Dieselbe Sicherheit, welche die nach
der Methode der Spannungsausgleiche angestellten Blutanalysen
gewähren, müssen diese Serumanalysen besitzen, nachdem ich
früher den Nachweis geführt habe, dass der Gasgehalt seröser
Exsudate in den ersten Stunden nach der Punction nur mini-
male Aenderungen erleidet. Obgleich der Ausführung nach
complicirter, sind diese Versuche der Ueberlegung nach ein-
facher als die Luftanalysen und deshalb weit eindeutiger
als jene. Schliesst man von diesen auf jene zurück, so verlei-
Untersuch. zur Gasometrie d. Transsudate d. Menschen. 453
hen sie ihnen eine weitere und vielleicht die sicherste Stütze
und in der Reihe der dort gezogenen Betrachtungen bilden sie
das letzte und bindende Glied. Bei einer acuten serösen Pleu-
ritis ist der entzündliche Zustand des Pleuragewebes nicht zu
bestreiten. Hier handelt es sich nicht um etwaige Zersetzungs-
vorgänge im Innern des Exsudates, um Stagnation desselben
in einer undurchdringlichen Kapsel, um Oxydationsprocesse,
welche unter dem Einflusse neu hinzutretender Luft entstehen
könnten. Dennoch liegen die gewonnenen Zahlen erheblich
über der Spannung normalen Blutes und indem sie sich eng
an diejenigen Werthe anschliessen, die für die Spannung nor-
maler fixer Gewebe gefunden worden sind, setzten sie diesel-
ben so zu sagen nach oben hin fort. Da man aber nach den
uns geläufigen Anschauungen nicht anders kann, wie eine
Steigerung der Intensität des entzündlichen Processes einer
serösen und einer eitrigen Pleuritis anzunehmen, so ist damit
auch die Vermehrung der Spannung des betheilisten Gewebes
der eitrigen Pleuritiden gegenüber den serösen erklärt und
begründet.
Fasst man endlich die beiden hier behandelten Processe,
die Entzündung mit serösem und eitrigem Product zusammen,
so ergiebt sich folgende allgemeine Schlussfolgerung:
Die Kohlensäurespannung der Zellen entzün-
deter Gewebe liegt in jedem Falle über der des nor-
malen Blutes. Siebeginnt mitWerthen, welche sich
eng an diejenigenanschliessen, welche fürdie nor-
male Gewebszelle ermittelt sind, und steigt so
hoch an, dass sie dieselbe um das Doppelte und
Dreifache übertreffen kann. Diese Steigerung ist
abhängig theils von der Dauer der Entzündung
theilsundingrösseremMaassevonihrerIntensität.
Ist letztere auf ihrem mit der Bildung von Eiter
verbundenen Höhepunkt angelangt, so sind damit
auch die höchsten Spannungswerthe der Zellen
verbunden.
454 C. A. Ewald: Untersuchungen zur Gasometrie u.s. w.
Es sei mir gestattet dieser Arbeit eine Mittheilung folgen
zu lassen, deren Bezeichnung als eine vorläufige nicht die
Unsicherheit der gewonnenen Ergebnisse, sondern der Mangel
des Control - Experimentes, welches mir bisher anzustellen un-
möglich war, veranlasst.
Ich habe die Aenderung des Gasgehaltes des Blutes nach
Einverleibung gewisser Stoffe in dasselbe studiert und bin
zu folgenden Resultaten gekommen :
1)Hunde, welchein starker Morphium-Narkose sich befinden,
haben einen bis auf die Hälfte und noch etwas mehr verrin-
gerten Sauerstoffgehalt des Blutes. Der Kohlensäuregehalt
ist unverändert oder sogar etwas gesteigert.
2) Hunde, welchen man grössere Quantitäten — bis 10
grm. — Traubenzucker in die Venen injieirt, zeigen unmittel-
bar nach der Injection eine Verminderung des Sauerstoff- und
Kohlensäuregehaltes um 2 bis 4 pCt.
3) Injection gleicher Mengen Wasser bewirkt nur solche
Unterschiede, welche durch die Versuchsanordnung oder die
physiologischen Schwankungen bedingt sind.
Ich arbeitete mit einer Pumpe. Die erste — unverän-
derte — Portion Blut wurde in Eis gestellt und erst nach der
zweiten unmittelbar nach der Injection entgasten Portion ver-
arbeitet, so dass also das Sinken des Sauerstoffs a fortiori be-
wiesen wurde. Den endgiltigen Versuch, nämlich die gleich-
zeitige Entgasung zweier Blutproben mit zwei Pumpen, habe
ich bis jetzt noch nicht anstellen können.
Beiträge zur Physiologie.
Von
Dr. DÖNHOoFF.
l. Uebergang von Spannkräften im Zucker
in Muskelbewegung.
Nimmt man Bienen vom Flugloch und setzt sie bei einer
Temperatur von 19° C. in ein Glas, so laufen sie Anfangs an
der Glaswand hastig auf und ab, und fliegen im Glase umher.
Später werden die Bewegungen weniger lebhaft; nach 45 Mi-
nuten sitzen sie still zusammen, bewegen sich langsam und
unbeholfen. Sie sind nicht mehr im Stande zu fliegen; lässt
man sie auf einen Bleistift kriechen, und schnellt diesen in die
Höhe, so fallen sie senkrecht ohne Flugton nieder. Untersucht
man sie, so findet man die Honigblase leer, welche bei Bienen,
die man vom Flugloch nimmt, mit etwas Honig gefüllt ist,
Gibt man ihnen nun eine Zuckerlösung, und wirft sie nach
3 bis 4% Minuten in die Höhe, so hört man beim Fallen den
Flugton, sie fallen nicht senkrecht, sondern etwas weiter nie-
der. Bleibt man am Werfen, so sieht man, dass sie immer
weiter niederfallen; nach etwa wieder einer Minute fallen sie
nicht mehr nieder, sie fliegen zum Fenster; sie sind die früheren
lebhaften Thiere geworden. Bringt man Bienen in eine nie-
drigere Temperatur als 19°, so werden sie früher flugunfähig,
und es dauert länger, bis sie nach Zuckergenuss wieder flug-
fähig werden; in höhern Temperaturen dagegen erlangen sie
die Flugfähigkeit schneller wieder. Bienen, welche ich in einem
Glase in Wasser von 37° stellte, waren nach Zuckeraufnahme
schon in 1% Minuten wieder flugfähig.
Man könnte den Grund für die Wiederherstellung der
Flugfähigkeit nach Zucker darin suchen, dass man sagt: Muskel
und Nerv sind durch das Hungern verschlissen, der Zucker
geht in die Zusammensetzung dieser Maschinen ein, und bessert
456 n Dönhoft:
sie wieder aus. Abgesehen davon, dass es seine chemischen
“ Bedenken hat, dass der Zucker sich am Aufbau der Organe
betheilige, ist es sehr unwahrscheinlich, dass diese verschlis-
senen Organe 1% Minuten nach der Aufnahme von Zucker sich
reconstruirt hätten. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Biene
: flugunfähig ist, weil ihr die Spannkräfte zum Umsatz in Muskel-
bewegung fehlen, und dass sie flugfähig wird, weil ihr dieselben
im Zucker geboten werden. \
Lässt man die Bienen noch länger als % Stunde hungern,
so werden sie unfähig zu gehen, sie fallen auf die Seite, strecken
wohl den Rüssel nach vorgehaltenem Honig aus, können aber
keine Leckbewegungen mit demselben machen; nach etwa einer
% Stunde sind sie todt. Da Zucker den Tod verhütet, so ent-
stehen nicht bloss die Muskelbewegungen, sondern auch die
anderen organischen Thätigkeiten aus Spannkräften im Zucker.
Man könnte einwenden, es ist hierdurch nicht bewiesen, dass
andere organische Thätigkeiten auch aus Spannkräften im Zucker
bestehn, denn der Tod könne eintreten, weil die Athemmuskeln
nicht mehr functioniren. Dem wende ich ein, dass im ruhigen
Zustand, wie auch vor dem Sterben, die Biene keine Athem-
bewegungen macht, während sie bei Mangel an Luft, wenn man
sie z. B. unter Wasser hält, die Hinterleibsringe lebhaft bewegt.
Zudem stirbt eine Biene bei Sauerstoffmangel nicht sofort, son-
dern sie fällt erst in Scheintod, aus welchem sie bei Sauer-
stoffzufuhr noch nach zwei Stunden erwacht. Der Versuch zeigt
direct den schon aus anderen Versuchen geschlossenen Umsatz
von Spannkräften in Kohlehydraten in Muskelbewegung; er
zeigt aber zugleich den Umsatz von Spannkräften in einem
Kohlehydrat in die übrigen organischen Actionen. Da die
Versuchsbienen, wenn man sie nach dem Tode secirt, noch
einen bedeutenden Vorrath von Eiweiss im Chylusmagen auf-
weisen, welches das Aussehn von Hühnereiweiss hat, wie die-
ses zusammenhängt, durch Hitze, Alkohol und Mineralsäuren
gerinut, so zeigt der Versuch zugleich die Unzulänglichkeit des
Eiweisses zur Muskelbewegung und zu den übrigen organischen
Thätigkeiten. Giebt man den Bienen statt Zuckerlösung Pollen
und Wasser, so rühren sie beides nicht an, obgleich beides
Beiträge zur Physiologie. 457
Nahrungsmittel für die Bienen sind. Die Bienen stellen ihre
Functionen ein, nicht aus Mangel an Nahrung, sondern aus
Mangel an einem Kohlehydrat. Hat man Bienen in einer
Temperatur von 20°C. durch Hunger flugunfähig werden lassen,
und bringt sie dann an den Öfen, oder setzt sie in ein Glas,
welches man in Wasser von 80° stellt, so werden sie auf kurze
Zeit wieder flugfähig; ebenso werden Bienen flugfähig, wenn
man sie in einer Temperatur von 27° hat flugunfähig werden
lassen, und man bringt sie dann in eine solche von 37°. Es
scheint, dass die Flugfähigkeit wieder hergestellt wird, weil
in der höheren Temperatur stärkere Oxydationen von noch
geringem Honigvorrath vor sich gehn. Setzt man die Bienen
aus der höheren Temperatur in die niedere zurück, so hört
nach wenigen Secunden die Flugfähigkeit wieder auf. Liegen
die Bienen in Folge des Hungerns schon auf der Seite, und
man bringt sie dann in eine höhere Temperatur, so tritt der
Tod schnell ein, wahrscheinlich weil in dieser höheren Tem-
peratur das Minimum von Spannkräften, welches noch vorhan-
den ist, schnell aufgezehrt wird.
II. Die Spannkräfte in den Nahrungsmitteln gehn
nicht erst in Wärme, und dann in Muskelbewegung
über.
Brachte ich Bienen, die ich in einer bestimmten Temperatur
hatte Augunfähig werden lassen, in eine 1 bis 3° höhere Tem-
peratur, so wurden sie nicht flugfähig. Liess ich Bienen in
einer Temperatur von 30° Augunfähig werden, brachte sie dann
eine Zeitlang in eine Temperatur von 20° und dann wieder in
eine solche von 32°, so wurden sie nicht wieder flugfähig,
Wenn demnach eine Erwärmung des Muskels um 1, 3 oder 12
Grade die Flugfähigkeit nicht wieder herstellt, so ist es höchst
unwahrscheinlich, dass die geringe Wärme, welche durch das
langsame Verbrennen des Zuckers in der Biene entsteht, die
Flugfähigkeit herstellt, sondern entweder gehn die Spannkräfte
direet oder nach vorheriger Umwandlung in eine andere Kraft
in Muskelbewegung über.
458 Dönhotf:
II. Ueber das Wasserbedürfniss der Thiere ver-
glichen mit dem der Pflanzen.
Käfer und andere Insecten, die ich in ein leeres Glas
setzte, starben binnen einigen Tagen. Setzte ich sie in ein
mit feuchtem Sand gefülltes Glas, so lebten sie mehrere Wochen.
Mehlwürmer (Tenebrio molitor) dagegen hielt ich in einem
trockenen Glase vier Monate am Leben. Wie der Unterschied
in dem Wasserbedürfniss zwischen diesen Käfern und dem
Mehlwurm ein sehr grosser ist, so ist er es auch bei anderen
Thieren. Eine Ente säuft viel häufiger und mehr als ein Huhn,
sie säuft fast alle Viertelstunden. Wirft man Enten Futter vor,
so fressen sie einen Augenblick, dann saufen sie, und wechseln
beständig damit ab. Weil das Huhn weniger Wasser zu sich
nimmt, ist der Koth consistenter, der Koth der Ente ist immer
von einer grossen Lache wässerigen Urins umgeben. Versuche
das Wasser zu messen, welches eine Ente säuft, misslangen,
weil sie so viel Wasser herumschleudert. Dagegen nahmen
Enten, die ich mit Hühnern in einem Käfig einsperrte, und
denen ich alle halbe Stunden den Wassernapf vorhielt, viermal
so oft Wasser zu sich als die Hühner. Man könnte nun sagen,
der Koth der Ente ist deshalb mit der grossen Lache Wasser
umgeben, weil sie gründelt, und dabei unwillkührlich Wasser
verschluckt. Ich schloss deshalb Enten in einen Käfig ein,
hielt ihnen alle halbe Stunden den Wassernapf vor, und zog
ihn zurück, wenn sie mit dem Saufen aufhörten, und anfangen
wollten zu gründeln. Nach zwei Tagen noch war der Koth
von einer grossen Lache Wasser umgeben. Die Gans ähnelt
der Ente in Bezug auf die Wasseraufnahme. Man kann Thier
und Pflanze in Bezug auf das Wasserbedürfniss paralellisiren.
Die Ente gleicht der Wasserpflanze, das Huhn der Ackerpflanze,
der Tenebrio molitor dem Sempervivum tectorum.') Der Regen-
wurm stirbt nach wenigen Stunden ausgetrocknet, wenn man
ihn auf den Tisch legt. Dies rührt wohl von der starken
Schleimabsonderung seiner Haut her. Ein Regenwurm, welchen
ich an einem Faden aufhing, lebte länger, weil er weniger
Schleim absonderte.
1) Beruht der Aufenthalt der Wasserthiere im Wasser vielleicht
auf ihrem Bedürfniss, viel Wasser aufzunehmen?
Beiträge zur Physiologie. 459
Warum Käfer auf feuchtem Sand am Leben bleiben, ist
mir unklar. Wenn ich Käferarten, die nach einigen Tagen
verdursten, in ein leeres Glas gesetzt hatte, und ich hielt ihnen
nach ein oder zwei Tagen einen Tropfen Wasser vor, oder
setzte sie auf feuchtem Sand, so konnte ich nie sehen, dass
sie Wasser zu sich nahmen. Regenwürmer und Frösche saugen
Wasser durch die Haut ein; ob dies beim Käfer möglich ist,
ist wohl sehr zweifelhaft.
IV. Ueber oscıllirende Gesichtsempfindungen.
Drehe ich mich achtmal schnell um meine Achse, und
stehe dann still, so sind die Gegenstände, nach denen ich sehe,
in einer oscillirenden Bewegung von rechts nach links, und
von links nach rechts begriffen. Sehe ich nach den Fenstern
eines 50 Fuss entfernten Hauses, so schätze ich die Weite der
Öseillation auf den Bruchtheil eines Zolls, sehe ich nach einer
% Meile entfernten Baumgruppe, so ist bei derselben Empfindung
die Schätzung der Oscillationsweite eine viel grössere. Drehe
ich mich fünfmal im Kreise herum, so ist die Oscillationsweite
geringer. Bei achtmaligem Umdrehen zähle ich 35 Oseillationen,
die 20 Secunden anhalten; sie nehmen an Weite und Dauer all-
mälich ab. Die Bewegung ist für mich dieselbe, ob ich mich
rechts, oder links herumgedreht habe. Die Angabe der Au-
toren, dass nach Rechtsherumdrehen die Gegenstände sich nach
rechts drehen, kann ich nicht theilen; sie ist auch nicht gut
möglich. Fände eine continuirliche Bewegung nach rechts statt,
so müssten die Gegenstände im Gesichtsfeld sich immer weiter
nach rechts schieben, was nicht der Fall ist. Auch mir schei-
nen zuweilen, so wohl, wenn ich mich rechts herum, als wenn
ich mich links herum gedreht habe, die Gegenstände in einer
continuirlichen Bewegung nach rechts sich zu befinden. Viel-
leicht ist die Ursache die, dass man dann nur auf die Oseil-
lationsbewegung nach rechts merkt, und die Rückschwingung
nach links übersieht. Jedenfalls ist das Grundphänomen das
einer Öscillation, der Schein einer continuirlichen Denen
in einer Richtung etwas Abgeleitetes.
An den Bügel eines Eimers befestigte ich ein Tau, und
drehte dieses, so oft es anging, nach rechts herum. Hob ich
460 Dönhoft:
nun den Eimer vom Boden, so wickelte das Tau sich ab, und
der Eimer gerieth in eine schnelle Bewegung um seine Axe.
Bedeckte ich den Boden des Eimers mit Sand, oder legte ich
eine Gummikugel in den Eimer, setzte diesen in Bewegung,
und hemmte diese, ehe das Tau abgelaufen war, so lagen der
Sand und die Kugel am Rande des Eimers. Goss ich Wasser
in den Eimer, legte auf das Wasser Hölzchen und versetzte
_ den Eimer in Bewegung, so blieben anfangs die Hölzehen ruhig
liegen. Wenn gegen das Ende der Abwickelung die Kreis-
bewegungen des Eimers langsamer wurden, fingen die Hölz-
chen an zu kreisen; so wie der Eimer still stand, wurden -
die Kreisbewegungen viel schneller, und dauerten längere
Zeit an. Wendet man diese Thatsachen auf das Gehirn an,
so kann man sich 1) denken: Durch die Centrifugalkraft
werden beim Herumdrehen Molecüle der Gehirnsubstanz nach
aussen geschleudert, beim Stillestehn gehn sie durch die Elas-
tieität der Gehirnsubstanz zurück, schwingen über ihre Gleich-
gewichtslage hinaus, und oscilliren längere Zeit hin und her,
bis sie zur Ruhe kommen; 2) kann man sich denken, dass der
Liquor sanguinis, welcher das Gehirn erfüllt, nach dem Stille-
stehn des Gehirns in seiner Kreisbewegung fortfahre, und da-
durch die Gehirnsubstanz in Schwingungen setze. Bemerken
möchte ich noch, dass wenn ich nach einer Bewegung um meine
Axe stille stehe und mit zugehaltenen Augen mir einen räum-
lichen Gegenstand vorstelle, dieser vorgestellte Gegenstand
nicht in Oscillation geräth.')
V. Ueber die Ansammlung von Sauerstoff während
des Schlafes.
Voit hat die Entdeckung gemacht, dass während des
Schlafes Sauerstoff sich im Körper anhäuft. Man könnte daraus
schliessen, dass ein Thier, welches geschlafen, die Luft länger
entbehren kann, als ein Thier, welches den Tag über in Thätig-
keit gewesen ist. Dies ist aber nicht der Fall. Ich hielt den
Kopf eines Huhns, welches ich am Tage fing, unter Wasser.
1) Vielleicht wird die Netzhaut durch ihre Oseillation abwechselnd
von anderen Strahlen getroffen.
a
Beiträge zur Physiologie. 461
Nach 1% Minuten geschah das Athmen interrupt, gewaltsam
mit weit geöffnetem Schnabel wie bei Sterbenden. Als der
Kopf eine Viertel Minute später aus dem Wasser genommen
wurde, liess das Huhn Kopf und Hals auf die Seite fallen;
hingesetzt viel es auf den Bauch, kurz es hatte alle Erschei-
nungen der beginnenden Erstickung. Als ich dasselbe Huhn
Nachts, nachdem es acht Stunden geschlafen hatte, in Wasser
tauchte, zeigte es nach derselben Zeit dieselben Erscheinungen.
Eine Taube, die ich am Tage und Nachts unter Wasser tauchte,
war nach 45 Secunden dem Erstickungstode nahe. Ein sechs
Wochen altes Hühnchen war am Tage nach 30 Secunden am
Ersticken. Dasselbe Hühnchen, als ich mit ihm das Experiment
wiederholte, wie es Nachts um drei Uhr den Schnabel in die
Federn gesenkt fest schlief, zeigte nach einer halben Minute
dieselben Erscheinungen. Vom Felde kommende Bienen, die
ich am Flugloch abfing wie Bienen, die ich Morgens früh vor
der Flugzeit am Flugloch abfing, ‘waren unter Wasser von 19°
nach drei Minuten scheintodt. Da die Thiere Nachts mehr
Sauerstoff aufgehäuft hatten als am Tage, die Erstickungs-
Erscheinungen aber um dieselbe Zeit auftraten, so konnte der
Grund der Erstickung nicht Mangel an Sauerstoff sein. Der
Grund konnte nur der sein, dass in die mit Kohlensäure über-
ladene Lunge keine Kohlensäure aus dem Blut mehr austrat.
Es folgt daraus, dass der Tod des Ertrinkens kein Tod aus
Mangel an Sauerstoff, sondern ein Tod aus Ueberfluss von
Kohlensäure im Blut ist,
VI. Ueber die Schalenhäute des Hühnereies.
Einige Autoren sprechen von einer Schalenhaut, andere
von zweien. Es giebt aber in Wirklichkeit im Vogelei drei
Schalenhäute. Nimmt man ein Stückchen Kalkschale am
stumpfen Pole eines Eies ab, so sieht man eine Haut. Nimmt
man diese fort, so trifft man auf eine zweite Haut; diese
liegt auf dem Eiweiss, welches in Folge der Verdunstung sich
zurückgezogen hat. Legt man das abgenommene Stückchen
Kalkschale in Salzsäure, so bleibt, nachdem der Kalk sich ge-
löst hat, eine dritte Haut zurück,
Neue Untersuchungen über die Structur der
elektrischen Platten von Torpedo.
Von
Prof. Franz BoLL.
(Aus dem Laboratorium für vergleichende Anatomie und Physiologie
zu Rom. Vierte Mittheilung.)
Hierzu Tafel VII.
Seitdem ich im Jahre 1875 die „Punktirung“ als ein neues
und eigenthümliches Structurverhältniss der elektrischen Platten
von Torpedo beschrieben habe,!) sind von zwei verschiedenen
Forschern, wie Ciaccio und Ranvier einige höchst werthvolle
Mittheilungen über die feinere Structur dieser Platten veröffent-
licht worden. Ich selber habe im Herbst 1875 in Viareggio
demselben Gegenstande eine erneute, sehr eingehende Unter-
suchung gewidmet, über deren Resultate bereits an einer an-
deren Stelle ein vorläufiger Bericht erstattet wurde.?) Das
Gesammtresultat dieser verschiedenen von Ciaccio, Ranvier
und mir vorgenommenen Untersuchungen ist ein höchst befrie-
digendes. Die absolute Uebereinstimmung unserer Resultate
berechtigt zu dem Ausspruche, dass nunmehr die Nervenendigung
in den elektrischen Platten von Torpedo mit einer fast abso-
luten Präcision festgestellt und jedenfalls viel genauer bekannt
ist, als jede andere Nervenendigung in irgend einem Organ
des thierischen Körpers.
1) Die Structur der elektrischen Platten von Torpedo, —
M. Schultze’s Archiv für mikroskopische Anatomie. X, 8. 101.
2) Neue Untersuchungen zur Anatomie und Physiologie von
Torpedo. — Monatsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften
1875, S. 710,
Neue Untersuchungen über die Structur u. s. w, 463
Ciaccio hat in dieser Frage zwei verschiedene Abhand-
lungen veröffentlicht, von denen die erste!) nicht lange nach
meiner Publication der „Punktirung“ erschien und zum Theil
gegen meine Angaben gerichtet war. Es waren im Wesent-
lichen drei Einwürfe, die er gegen die von mir gegebene Be-
schreibung der elektrischen Platten geltend machte:
1) Behauptete er, dass die von mir in Uebereinstimmung
mit Max Schultze u.a. in die homogene Schicht versetzten
runden Kerne in der Nervenschicht gelegen seien,
2) Bestriitt er der von mir entdeckten Punktirung den
Werth eines besonderen Structurverhältnisses. Meine „Pünkt-
chen“ seien nichts anderes als die ihm längst bekannten, die
Substanz der Nervenschicht zusammensetzenden feinen Körn-
chen von wechselnder Grösse, die durch Osmium dunkel und
durch carminsaures Ammoniak roth gefärbt wurden.
3) Kritisirte er meine Beschreibung des sogenannten
Koelliker’schen Terminalnetzes, dessen Configuration bisher
noch von Niemand und auch von mir nicht richtig beschrieben
worden sei: die wahre Form dieser letzten Nervenendigungen
sei nuran Goldchloridpräparaten zu ermitteln, welches Reagens
bisher nur von ihm allein zum Studium der elektrischen Platten
von Torpedo angewandt sei. Es glichen diese Nervenendigungen
ganz den von Kühne in Stricker’s Handbuch der Lehre
von den Geweben Fig. 36 abgebildeten Endverästelungen in
den motorischen Endplatten von Lacerta. Im Uebrigen gab
Ciaccio keine weitere Beschreibung dieser Configuration, son-
dern verwies auf die seiner Mittheilung mitgegebene photo-
graphische Abbildung. Diese — übrigens keine directe Photo-
graphie eines mikroskopischen Präparats, sondern eine auf
photographischem Wege vervielfältigte Zeichnung — stellte eine
von meiner Abbildung sehr abweichende Configuration dar.
Die zwischen den Nervenfasern des Koelliker’schen Terminal-
netzes freibleibenden Räume erscheinen hier nicht, wie ich an-
1) Intorno all’ intima tessitura dell’ organo elettrico della Torpe-
dine (Torpedo narke). — Rendiconti dell’ Accademia delle scienze dell’
Istituto di Bologna. Sessione del 21. Maggio 1874.
464 Fr. Boll:
gegeben und abgebildet hatte als „verzogene und unregelmässige
Rhomben“, sondern als Zwischenräume von manigfaltigster und
unregelmässigster Gestaltung. f
In dem Referat, welches ich bald darauf von dieser Mit-
theilung Ciaccio’s veröffentlichte,') machte ich gegen diese Ein-
wände einige antikritische Bemerkungen. In Bezug auf den ersten
Punkt musste ich meine frühere Angabe über die Lage der runden
Kerne gegenüber der Behauptung Ciaccio’s einfach aufrecht
erhalten. Wenn zweitens Ciaccio in der von mir entdeckten
Punktirung weiter nichts besonders Merkwürdiges erblicken und
die Punkte als von ungleicher Grösse und in Carmin sich fär-
bend beschreiben konnte, so konnte ich nicht anders als an-
nehmen, dass ihm bisher die reine und volle Wahrnehmung
des von mir beschriebenen und von ihm kritisirten Structur-
verhältnisses noch nicht geglückt sei. Ueber den dritten Punkt
endlich musste ich mit meinem Urtheil zurückbalten. Durch
einen unglücklichen Zufall war ich 1873 in Viareggio verhin-
dert gewesen, das Goldchlorid auf die Untersuchung der elek-
trischen Platten anzuwenden und hatte mich auf das Studium
von frischen und Osmium-Präparaten beschränken müssen. Es
war daher sehr wohl möglich, dass das Goldchlorid in der Dar-
stellung des Koelliker’schen Terminalnetzes die besonderen,
ihm von Ciaccio zugeschriebenen Vortheile besitze, und die
letzten Nervenenden wirklich in der von Ciaccio abgebildeten
charakteristischen Form hervortreten lasse. Ueber diesen letz-
teren Punkt beschloss ich bei der nächsten Gelegenheit erneute
Untersuchungen anzustellen.
Durch die in meinem Referate enthaltenen antikritischen
Bemerkungen wurde Ciaccio zur Veröffentlichung einer zweien
Mittheilung?) veranlasst. In dieser vom 22. August 1875 da-
tirten Publication wurden die zwischen uns obwaltenden Diffe-
renzen wesentlich vereinfacht dadurch, dass Ciaccio die beiden
1) Centralblatt für die medieinischen Wissenschaften 1874. Nr. 56.
2) Nuove osservazioni intorno all’ intima tessitura dell’ organo
elettrico della Torpedine (Torpedo narke Risso e Torpedo Galvanüi
Bonap.) — Lo Spallanzani, Rivista di Scienze mediche e naturali.
Anno XIll. Fasc. X. 1875.
Neue Untersuchungen über die Structur u. s. w. 465
ersten Punkte einfach zurücknahm. Namentlich erkannte er
jetzt die „Punktirung“ als ein durchaus eigenthümliches Structur-
verhältniss an und bestätigte dadurch die Richtigkeit meiner in
dem Referate ausgesprochenen Voraussetzung, dass ihm zur
Zeit, als er seine erste Mittheilung veröffentlichte, die Wahr-
nehmung der wirklichen „Punkte“ noch nicht einmal geglückt
war. Nur die dritte Differenz, betreffend die Form des Koel-
liker’schen Terminalnetzes, blieb zwischen uns beiden noch
bestehen. In Bezug auf diese Bildung wiederholte und erwei-
terte Ciaccio seine früheren Angaben, dass sie aus nackten
Axeneylindern zusammengesetzt sei, „welche, bald sich verbrei-
ternd, bald sich verschmälernd, theils mit einander sich ver-
binden, theils mit freien Enden aufhören, also in ihrem Ensemble
durchaus nicht das bisher von allen Autoren beschriebene
regelmässige, aus gleichmässig starken Nervenfasern bestehende
und gleichartige Mäschen einschliessende Netz darstellen“.
Als ich mich im Herbst 1875, unmittelbar nach dem Er-
scheinen dieser letzten Mittheilung nach Viareggio begab, um
die elektrischen Platten mittelst der Goldmethode zu unter-
suchen, hatte ich das Glück, dort Ciaccio persönlich vorzu-
finden, den ganz die gleiche Absicht dorthin geführt hatte. So
konnte denn jeder von uns die uns beide gleichmässig interes-
sirende Arbeit mit gedoppeltem Nutzen vornehmen, da Jeder
dem anderen seine Erfahrungen vorlegte und die besten Prä-
parate demonstrirtee Speciell bin ich Ciaccio dafür Dank
schuldig, dass er mir seine Methoden zur Vergoldung und Ver-
silberung mittheilte und mir dadurch viel nutzloses Herum-
experimentiren ersparte. Unter diesen gewiss ausserordentlich
günstigen Bedingungen sind die in dieser Arbeit niedergelegten
Resultate gewonnen worden.
Ueber die Methoden der Untersuchung ist zu bemerken,
dass sowohl die Versilberung wie die Vergoldung, wie eine
Combination beider Methoden angewandt wurde.
Für die erste Methode dienten mir Silbernitratlösungen
verschiedener Concentrationen (1:200, 1:300, 1:500). An
den so imprägnirten elektrischen Platten bleiben die Nerven-
fasern weiss; es färben sich die zwischen ihnen frei bleibenden
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 30
466 Fr. Boll:
Maschen des sogenannten Koelliker’schen Terminalnetzes in
den gelben bis braunen Tönen, welche der Silberimprägnation
eigenthümlich sind. Diese Bilder will ich als negative Dar-
stellungen des Terminalnetzes bezeichnen.
Für die Vergoldungsmethode hielt ich mich ganz aus-
schliesslich und streng an die ursprüngliche Cohnheim’sche
Vorschrift, und bediente mich nur einer schwach durch Essig-
säure angesäuerten halbprocentigen Goldchloridlösung. Diese
Methode producirt ausschliesslich positive Darstellungen des
Terminalnetzes, dessen Nervenfasern roth oder violett gefärbt.
erscheinen.
Viel empfehlenswerther als die Einzelanwendung der bei-
den Metallsalze ist ihre Combination, — ein Verfahren, welches,
so viel ich habe ermitteln können, zuerst von A. Hansen!) vor-
geschlagen worden ist und dessen ganz hervorragende Vortheile
speciell für die Untersuchung der elektrischen Platten mich
Ciaccio kennen lehrte. Man kann entweder erst die Gold-
lösung und dann die Silberlösung einwirken lassen oder auch
umgekehrt verfahren; doch giebt die erstere Methode bei
Weitem die besseren Resultate. Ich wage nicht zu erörtern,
durch welche chemische Wechselwirkung der beiden Metallsalze
die eminenten histiologischen Vorzüge dieser comıbinirten Me-
thode zu erklären sind. Thatsache ist, dass die so erhaltenen
Bilder in jeder Beziehung den Vorzug vor den blossen Silber-
bildern oder Goldbildern verdienen. Einmal treten in ihnen
die Färbungen viel intensiver und schöner ein und zweitens
zeigen beide Arten von Bildern, die negativen sowohl wie die
positiven, eine grössere Klarheit und schärfere Begränzungen.
Gewöhnlich werden bei Anwendung dieser combinirten Methode
stets gleichzeitig positive und negative Bilder erhalten, die
oft in einer und derselben Platte mit einander abwechsela,
ohne dass es mir möglich gewesen wäre, einen ersichtlichen
Grund ausfindig zu machen, weshalb hier eine negative Fär-
bung und unmittelbar daneben eine positive Färbung der elek-
1) Untersuchungen über die entzündlichen Veränderungen der
Hornhautkörper. — Wiener medieinische Jahrbücher 1871. 8. 218.
Neue Untersuchungen über die Structur u. s. w. 467
trischen Platte eingetreten war. Bei den negativen Bildern ist
der gefärbte Grund der Platten, von dem die meisten Nerven-
fasern sich abheben, jedoch niemals gelb oder braun wie nach
der reinen Silberimprägnation, sondern von einer Farbe, welche
die grösste Aehnlichkeit mit einem tiefen Nachtblau hat. Bei
den positiven Bildern ist die Färbung der Nervenfasern stets
unvergleichlich viel intensiver, als bei der isolirten Anwendung
der Goldmethode. Nicht selten kommen in diesen Bildern
tiefbraune, wie mit Silber imprägnirte Nervenfasern vor, und
die so gefärbten Stellen dieser Präparate sind es gerade, denen
ich die entscheidenden Aufschlüsse über die letzten Enden der
elektrischen Nerven zu verdanken habe.
Im Allgemeinen ist über alle diese drei Methoden zu be-
merken, dass sie in ihrer Anwendung auf die elektrischen
Platten nicht weniger launisch sich beweisen als bei den anderen
Geweben. Oft muss man die gefärbten elektrischen Platten
weit und breit durchmustern, ehe man auf Stellen trifft, in
denen die positive oder negative Reaction wirklich in homo-
gener und befriedigender Weise eingetreten ist und nicht regel-
lose Niederschläge die Bilder unzuverlässig machen.
Aber auch an solchen Stellen, an denen wirklich eine
durchaus gleichartige und scheinbar vollkommen zuverlässige
Reaction über weite Strecken erfolgt ist, darf man dem An-
schein durchaus nicht ohne Weiteres trauen.
Besonders unzuverlässig sind in dieser Beziehung die reinen
Silberbilder, welche negative Darstellungen der elektrischen
Platten liefern. So stellen z. B. die Abbildungen Fig. 1—3
alle drei scheinbar ganz normale Silberbilder dar. Alle
drei sind von Präparaten gezeichnet, in denen auf ganz weite
Strecken hin die dunkelgefärbten Partien die in den Zeich-
nungen wiedergegebene characteristische Configuration in voll-
kommener Gleichartigkeit darboten, eine Gleichartigkeit, die die
Meinung erwecken könnte, als ob hier wirklich jedesmal durch
die Silberimprägnation ein präformirtes Structurverhältniss zum
wahrheitsgetreuen Ausdruck gebracht worden sei. Dennoch
ergiebt eine einfache Ueberlegung, dass von diesen drei Silber-
bildern mindestens zwei „falsch“ sein müssen, d. h. dass sie
30*
468 Fr. Boll:
die in dem Koelliker’schen Terminalnetz bestehende Con-
figuration, die Balken wie die zwischen ihnen eingeschlossenen
Maschen nicht wirklich wahrheitsgetreu reproduciren können.
Denn es ist sicher, dass diese Configuration überall in den
elektrischen Platten eine vollkommen gleichartige ist und nir-
gends Verschiedenheiten zeigt, welche für das Zustandekommen
so verschiedener Silberbilder verantwortlich gemacht werden
könnten. Wenigstens ist es mit den zuverlässigsten Methoden
— Untersuchung in Liquor cerebrospinalis und Osmiumsäure —
niemals gelungen, irgendwelche locale Verschiedenheiten im
mikroskopischen Bilde der elektrischen Platten nachzuweisen,
welches überall durchaus gleichartig erscheint.
Wie ein eingehenderes Studium der zahllosen, durch die
Silberimprägnation in den elektrischen Platten hervorzubrin-
genden verschiedenen Bilder (von denen die drei hier mit-
getheilten nur willkürlich gewählte, besonders characteristische
Typen darstellen) mit grosser Evidenz ergiebt, stehen alle diese
Silberbilder in einem verschiedenen relativen Verhältniss zur
Wahrheit, d. h. sie reproduciren mehr oder minder approximativ
die wirkliche natürliche Configuration des Terminalnetzes.
Am meisten entfernt von der Naturwahrheit ist unter den
mitgetheilten Bildern Fig. I, welche kleine dunkle Silbernieder-
schläge darstellt, die nirgends auf grössere Strecken hin zu-
sammenhängen, sondern überall von einander durch ungefärbte
Zwischenräume getrennt sind. Einzelne dieser Niederschläge
entsprechen in ihrer Form fast vollkommen genau den Figuren
auf der Abbildung, welche Ciaccio seiner ersten Mittheilung
beigegeben hat.!) — Das zweite Präparat Fig. II nähert sich
schon mehr der Naturtreue: die einzelnen Silberniederschläge
erscheinen voluminöser und complicirter gestaltet, wie wenn sie
durch ein Zusammenfliessen mehrerer der in Fig. I noch durch-
weg vereinzelt gebliebenen Figuren entstanden wären. — Denkt
man sich dieses Zusammenfliessen der einzelnen Silberfiguren
1)Das von Ciaccio reproducirte Präparat, in der Erklärung der
Abbildung einfach als Goldpräparat bezeichnet, war sicher nach der
combinirten Gold-Silbermethode erhalten worden.
Neue Untersuchungen über die Structur u. s. w. 469
noch weiter fortgesetzt, so kommen Bilder zu Stande, wie die
Abbildung Fig. III, welche unter den mitgetheilten reinen
Silberimprägnationen entschieden die vollkommenste ist und der
Naturtreue am nächsten kommt.
Aus dem Studium dieser verschiedenen Bilder hat sich
also ergeben, dass die reine Silbermethode insofern wenigstens
absolut unzuverlässig ist, als niemals die Garantie einer wirk-
lich naturgetreuen (negativen) Wiedergabe des Koelliker’schen
Terminainetzes besteht. Es werden bei der Silberimprägnation
der elektrischen Platten in die Zwischenräume der Nervenfasern
weniger oder mehr reichliche Silberniederschläge deponirt, die
diese Zwischenräume weniger oder mehr vollkommen ausfüllen
und so eine Reihe verschiedener Bilder bedingen, welche je
nach der grösseren Vollkommenheit der Silberniederschläge der
Naturwahrheit sich immer mehr annähern. Nach diesem Grund-
satze gelingt es zwar unschwer zu bestimmen, welches von zwei
vorliegenden Silberbildern das vollkommenere ist und sich mehr
der Naturtreue annähert; die Frage aber, ob ein Silberbild
wirklich absolut genau die Configuration des Terminalnetzes
reprodueire, kann der Natur der angewandten Methode nach
niemals mit Sicherheit entschieden werden, da es niemals mit
Gewissheit festzustellen sein wird, ob wirklich eine absolute
und vollständige Ausfüllung der Zwischenräume durch die
Silberniederschläge stattgefunden hat. Die Frage, ob und in-
wiefern selbst das vollkommenste der erhaltenen Silberbilder,
z. B. Fig. IH wirklich genau die natürliche Configuration des
Koelliker’schen Terminalnetzes reproducire, kann also auf
Grund dieser Methode allein gar nicht beantwortet werden. Zu
ihrer definitiven Erledigung ist es nöthig, noch erst eine andere
Methode, die der positiven Goldbilder zu Hülfe zu nehmen.
Während bei den Silberbildern die Reaction in der mehr
oder. minder vollständigen Form, in welcher sie gerade ein-
getreten ist, sich gewöhnlich in gleichmässiger Schärfe und
Deutlichkeit über eine grössere Ausdehnung der elektrischen
Platten zu erstrecken pflegt, ist bei der Goldfärbung das Gegen-
theil der Fall. Eine (positive) Färbung des Terminalnetzes ist
zwar gleichfalls auf ausgedehnte Strecken hin eingetreten; aber
470 Fr. Boll:
leider ist diese Färbung meist eine so wenig entschiedene und
hebt die blassröthlichen Nervenfasern nur so ungenügend von
dem farblosen Grunde ab, dass es bei der grossen Schwierig-
keit des Objects doch so gut wie unmöglich ist, die Configu-
ration der Nervenverästelung scharf und bestimmt mit dem
Auge aufzufassen. Nur an einigen, seltenen und meist ganz
circumscripten Stellen ist inmitten des blassroth gefärbten
Nervennetzes eine Vertiefung des Farbentones eingetreten, und
auf ganz kleine Strecken hin erscheint das Terminalnetz in-
tensiv violett oder braunroth gefärbt mit so vollendeter Schärfe,
dass es möglich ist, seine Configuration genau mit dem Auge
aufzufassen und bis ins kleinste Detail in der Zeichnung zu
reprodueiren.
Derartige beschränkte, dunkler gefärbte Stellen des Nerven-
netzes sind in den Abbildungen Fig. IV’— VII wiedergegeben
worden. Ich glaube, dass das Studium der mitgetheilten Zeich-
nungen ausreichen wird, um richtige und erschöpfende Vor-
stellungen über die Natur der in den elektrischen Platten von
Torpedo stattfindenden Nervenverästelung zu gewinnen.
Zunächst und vor allem ist die Richtigkeit der Bemerkung
Ciaccio’s anzuerkennen, dass es sich in dieser Terminal-
verästelung des N. electricus nicht um ein gleichmässiges ge-
schlossenes Netz, bestehend aus regelmässigen Balken und
ebenso regelmässig geformten Maschen handelt, wie M. Schultze
es beschrieben hat und auch ich noch in meiner letzten Arbeit
es angenommen hatte, sondern dass die hier vorliegende Bil-
dung einen von der eigentlichen Netzform sehr abweichenden
Character trägt, indem die Nerven durchaus nicht regelmässig
mit einander anastomosiren, sondern allenthalben mit freien
Enden aufhören. Hierdurch wird es bedingt, dass von irgend
einer bestimmten Form' der Maschen, die M. Schultze als
quadratisch und ich als verzogene Rhomben beschrieben habe,
gar nicht die Rede sein kann, sondern dass diese, die nichts
weiter sind als die zwischen und neben der Nervenverästelung
ausgesparten Räume, eben jede mögliche Form werden an-
nehmen können.
Hier ist nun eine anatomische Frage zu erörtern, deren
Neue Untersuchungen über die Structur u. s. w. 471
Entscheidung, wie ich glaube, eine hohe Bedeutung für die
physiologische Erkenntniss der elektrischen Platten von Torpedo
besitzt, ob nämlich in dem Bereiche dieser Terminalveräste-
lung neben den freien Enden der Nervenfasern auch noch
wirkliche Anastomosen der Nervenprimitivfasern vorkommen
oder nicht. Ciaccio, dem das Verdienst gebührt, zuerst gegen
die seit M. Schultze’s bekannter Arbeit feststehende Idee
eines geschlossenen Netzes Opposition gemacht und ganz im
Sinne einer älteren, aber unter dem Eindrucke der M. Schultze’
schen Monograpbie in ungerechtfertigte Vergessenheit gera-
thenen Mittheilung von Remak!) — das Vorhandensein freier
Endigungen der Nervenfasern hervorgehoben zu haben, lässt
in seiner ersten, wie in seiner zweiten Abhandlung, in der Ab-
bildung wie im Text neben diesen freien Endigungen noch den
Modus der Anastomosenbildung bestehen. Auch ich war eine
Zeit lang der Ansicht, dass beide Formen, freie Endigungen
und Anastomosen neben einander vorkämen, wenn ich auch
geneigt war, die letzteren als die Ausnahmen zu betrachten.
Die noch in Viareggio selbst gezeichnete Abbildung Fig. IV,
in welcher neben sehr zahlreichen freien Enden auch noch
einige Anastomosen wiedergegeben sind, ist ein Beleg dafür,
wie ich damals das mikroskopische Bild dieser Terminalver-
ästelung beurtheilen zu müssen glaubte. Ich vermied es daher
auch in der am Schlusse meines Aufenthaltes in Viareggio ab-
gefassten (vom 17. October datirten) Mittheilung an die Ber-
liner Akademie die Existenz dieser Anastomosen absolut zu
verneinen und formulirte mein Endresultat dahin, „dass fast
überall die letzten Enden der Nervenfasern frei aufhören und
nicht mit denen anderer Nervenfasern in Continuität treten“,
Von Viareggio nach Rom zurückgekehrt, setzte ich dort
an mitgebrachtem und vortrefflich conservirtem Material meine
Studien fort und gelangte bald zu der Ueberzeugung, dass es
dieses einschränkenden „fast“ nicht bedurft hätte und dass die
von mir angenommenen und auch noch in Fig. IV gezeichneten
1) Ueber die Enden der Nerven im elektrischen Organ des Zitter-
rochen. — Dies Archiv, 1856. S. 470.
472 Fr. Boll:
Anastomosen in der That nicht existiren und nur an weniger
vollkommen gefärbten Stellen der Präparate vorgetäuscht wer-
den. Je vollkommenere und intensiver gefärbte Präparate ich
erhielt, desto seltener konnte ich die Anastomosen nachweisen,
so dass ich bald dazu gekommen bin, ihre Existenz völlig zu
bestreiten und in den elektrischen Platten von Torpedo ganz.
ausschliesslich die zuerst von Remak behauptete freie Endi-
gung der Nervenfasern anzunehmen. Das entscheidende Prä-
parat, welches mir jeden Zweifel in dieser Hinsicht benahm,
ist in Fig. VII wiedergegeben worden. An den tief braunroth
gefärbten Nervenfasern sind ganz ausschliesslich nur freie Endi-
gungen und niemals Andeutungen einer Verschmelzung mit einer-
benachbarten Faser wahrzunehmen.
Es ist mir eine grosse Genugthuung, dass ich in dieser
absoluten Negation der Anastomosenbildung vollständig über-
einstimme mit Ranvier, welcher gleichzeitig mit mir die
elektrischen Platten von Torpedo an Gold- und Silber-Präpa-
raten untersucht hat und gleichfalls zu dem Resultate gelangt
ist, dass die letzten Enden der Nervenfasern nur frei aufhören,
niemals aber eine Anastomosenbildung eingehen.!)
Unter diesen Umständen wird es nunmehr angezeigt sein,
die bisher für die Endverästelung des N. electricus übliche
und bequeme Bezeichnung des Koelliker’schen Terminalnetzes
gänzlich aufzugeben. Denn man kann unmöglich die Bezeich-
nung „Netz“ einer Bildung belassen, deren characteristisches.
Wesen eben darin besteht, dass sie nirgends geschlossene
Maschen besitzt, also ganz das Gegentheil eines Netzes ist,
wenn der äussere Anblick auch eine noch so grosse Aehnlich-
keit mit einem Netze darbietet. Es wird sich für diese letzte
Endverästelung statt des unmöglich gewordenen Namens des
Koelliker’schen Terminalnetzes noch am Besten die Be-
zeichnung der Koelliker’schen Terminalverästelung empfehlen.
1) Sur les terminaisons nerveuses dans les lames electriques de
la Torpille. — Gomptes rendus etc. 20 Decembre 1875, und Bulletin
hebdomadaire de l’Association scientifique de France. t. XVII. p. 251.
23 Janvier 1876.
Neue Untersuchungen über die Structur u. s. w. 473
Nach diesen durch das Studium der (positiven) Goldpräparate
erzielten Resultaten kann nunmehr zu der Beantwortung der
oben: offen gelassenen Frage geschritten werden, ob und welche
(negative) Silberbilder wirklich genau die Configuration der
Koelliker’schen Terminalverästelung reproduciren. Offenbar
kann man dies nur von solchen negativen Bildern behaupten,
welche sich als die vollkommenen Ergänzungen der positiven
Goldbilder darstellen. Entsprechend diesen letzteren, in denen
niemals eine wirkliche Anastomose zweier Nerrenfasern vor-
kommt, dürfte also in den wirklich getreuen Silberbildern nie-
mals eine geschlossene Masche d.h. niemals ein isolirtes Stück
des dunklen Grundes vorkommen.
Derartige absolut vollkommene negative Bilder habe ich
mittelst der reinen Silberimprägnation niemals erhalten. Selbst
‘ die vollkommenste der mitgetheilten Abbildungen, Fig. III, zeigt
die weisse Zeichnung der Nervenverästelung durchaus nicht
auf einem überall zusammenhängenden dunklen Grunde, son-
dern zeigt eine Menge einzelner dunkler Inseln, welche all-
seitig von den weiss gebliebenen Nervenfasern umschlossen
werden, — ein Verhältniss, das mit den positiven Bildern der
Goldmethode in Widerspruch steht. Wirklich vollkommene
und den positiven Goldbildern absolut entsprechende negative
Darstellungen der Koelliker’schen Terminalverästelung erhielt
ich nur durch die combinirte Methode der Gold- und Silber-
Behandlung, bei welcher — wie oben erwähnt — nicht selten
negative Bilder der Terminalverästelung auf stahlblauem Grunde
erscheinen. Diese Bilder, von denen die Abbildungen Fig. VIII
und IX eine getreue Vorstellung zu erwecken geeignet sind,
zeigen ebensowenig ein isolirtes Stück des dunklen Grundes,
wie gelungne Goldpräparate eine Anastomose zweier Nerven-
fasern zeigen. Von den beiden mitgetheilten Abbildungen ist
übrigens nur Fig. IX nach einem Präparat gezeichnet; Fig. VII
ist eine schematische Zeichnung, bei deren Herstellung die Um-
risse des positiven Goldpräparates Fig. VII zu Grunde gelegt
wurden, um so an einer einzigen ganz bestimmten Configuration
direct das negative mit dem positiven Bilde vergleichen zu
können.
474 Fr. Boll;
Es bieibt nun nach Erledigung der Frage über die Con-
figuration der Koelliker’schen Terminalverästelung noch die
andere Frage zu erörtern, wie sich an den mittelst der Gold-
und Silbermethode hergestellten Präparaten die „Punktirung“
der elektrischen Platten verhält. Ueber dieses eigenthümliche
Structurverhältniss haben die es als ein solches anerkennenden
neueren Untersucher Ciaccio (der die Punkte mit den Spitzen
einer Reibungselektrisirmaschine vergleicht) und Ranvier neue
Thatsachen oder Aufschlüsse beizubringen nicht vermocht.
Auch ich selbst bin heute noch nicht im Stande, auch nur
einen Schritt über das hinauszugehen, was ich im Jahre 1873
in meiner ersten Abhandlung über dieses räthselhafte Structur-
Verhältniss ermitteln konnte.
Sowohl das Silbernitrat wie das Goldchlorid sind im Stande
die Punktirung vollständig und mitunter höchst elegant zu con-
serviren; doch sind sie in dieser Beziehung sehr unzuverlässig,
und man kann an Gold- oder Silberpräparaten niemals mit
solcher Sicherheit darauf rechnen, die Pünktchenstrucetur er-
halten zu sehen wie nach Einwirkung der Osmiumsäure. Ver-
hältnissmässig am vorzüglichsten bewährte sich auch für diesen
Zweck die combinirte Anwenduug der beiden Metallsalze.
In wohlgelungenen Präparaten, welche unmittelbar nach
eingetretener Gold- und Silberreaction untersucht wurden, finden
sich nicht selten ausgedehnte Stellen, wo die Pünktchenstructur
in gleicher Vollkommenheit und fast mit gleicher Präeision zu
demonstriren ist, wie an den besten Osmiumpräparaten. Diese
Erhaltung der Pünktchenstructur findet sich sowohl an den
positiv wie an den negativ gefärbten Stellen der elektrischen
Platten; besonders die letzteren (Vgl. die Abbildungen Fig. VIIL
und IX) gewähren einen ausserordentlich eleganten Anblick,
indem die dunkleren Pünktchen auf dem weissen Grunde sich
ungemein scharf abzeichnen. Aber auch in den positiven Bil-
dern, in denen die Pünktchen nicht auf einem weissen Grunde
sondern als dunklere Körnchen auf dem an und für sich schon
gefärbten Grunde der Nervenverästelung erscheinen, erhält man,
wenn auch seltener, in ihrer Art kaum minder vollkommene
Präparate. (Vgl. die Abbildung Fig. VI.)
Neue Untersuchungen über die Structur u. s. w. 475
An vielen Präparaten der letzteren, positiven Art findet
jedoch ein eigenthümliches Verhalten statt, das ich besonders
besprechen muss, weil es sonst leicht zu einer irrigen Vor-
stellung über das wahre Aussehen der Punktirung Anlass geben
könnte. Sehr viele, ja man kann sagen die meisten positiven
Goldpräparate, in denen die Punktirung erhalten ist, zeigen
sie in der in der Abbildung Fig. V wiedergegebenen Weise.
Diese weicht, wie eine Vergleichung der beiden Abbildungen
Fig. VI und V lehrt, nicht unerheblich ab von dem oben als
normal bezeichneten Verhalten, wie es in Fig. VI dargestellt
ist, dadurch dass die Punkte in sehr viel sparsamerer Anzahl
vorhanden und in ihrer Stellung fast ausschliesslich auf die
Ränder der Nervenfasern beschränkt sind, in der Mitte der
Nervenfasern aber so gut wie völlig fehlen.
Diese Differenz ist nicht imıner, wie ich zuerst glaubte,
einfach auf einen Altersunterschied zurückzuführen, indem in
den jüngeren Individuen schmälere und gestrecktere Nerven-
fasern mit sparsameren Punkten vorkommen, sondern sie findet
sich auch an den elektrischen Platten desselben Individuums,
ja in einer und derselben Platte. Sie kann daher nicht in jenen
entwickelungsgeschichtlichen Differenzen, die an einer anderen
Stelle erörtert werden sollen, sondern muss ihren Grund haben
in anderen von diesen Wachsthumsverhältnissen unabhängigen
Ursachen. Ich erkläre die Bilder wie Fig. V mir dadurch, dass
in ihnen nur eine unvollständige Conservirung und Darstellung
der Pünktchenstructur stattgefunden hat, die im ursprünglichen
Zustande an jenen Stellen ganz so bedeutend entwickelt war,
wie sie in den anderen Fig. VI entsprechenden Goldbildern
erhalten und wiedergegeben ist. Ich stütze diese Anschauung
darauf, dass die unvollkommneren Bilder, wie Fig. V, sich vor-
zugsweise in älteren Präparaten finden, ja dass conservirte voll-
kommene Goldbilder, wie Fig. VI, nach einiger Zeit eine be-
ginnende Verarmung an Pünktchen zeigen und so den unvoll-
kommneren Bildern allmählich ähnlich und ähnlicher werden.
Durch diese immer fortschreitende Verminderung der Pünkt-
chen wird dann schliesslich ein Stadium erreicht, wie das in
476 Fr. Boll:
Fig. VII dargestellte, wo die ganze Nervenverästelung voll-
kommen glatt und ohne jeden ihr ansitzenden Punkt erscheint.
So sind also durch die neuen Methoden, wenn auch keine
neuen Aufschlüsse über die Bedeutung der Pünktchenstructur
erhalten, so doch die Resultate meiner früheren Untersuchung
durchaus nur in schönster Weise bestätigt worden. Nach zwei
bereits veröffentlichten, mehr oder minder noch mit Fehlern
behafteten Versuchen,!) wage ich es nunmehr eine dritte und
hoffentlich letzte! — vervollkommnete Zeichnung der Pünktchen-
structur den Fachgenossen vorzuführen, die in der Abbildung
Fig. X genau so wiedergegeben wurde, wie sie an gelungenen
Osmiumpräparaten erscheint. Ebenso wie ich in Fig. VIII die
Configuration von Fig. VII in negativer Weise reproducirt habe,
habe ich bei Anfertigung der Zeichnung Fig. X die Configu-
ration von Fig. VI zu Grunde gelegt, um so eine deutliche
Vorstellung von dem Verhältniss der Nervenverästelung zu der
Pünktchenstructur und der Goldpräparate zu den Osmium-
präparaten zu erwecken. Wer die beiden neben einander-
stehenden Abbildungen mit einander vergleicht, wird es be-
greiflich und verzeihlich finden, wenn ich in meiner ersten,
allein auf das Studium von Osmiumpräparaten begründeten
Mittheilung die Maschen des „Netzes“ als verzogene und un-
regelmässige Rhomben und das „Netz“ selbst als ein vollkommen
geschiossenes beschreiben konnte: denn als ein solches stellt
sich diese Bildung dar in Osmiumpräparaten, in denen die
Nervenfasern selbst stets nur äusserst blass gefärbt sind,?) und
in denen die durch die Pünktchenstructur hervorgebrachte Re-
production der Nervenfasern den Anschein geschlossener Maschen
erweckt aus dem Grunde, weil oft die Distanz zweier verschie-
denen Nervenfasern angehörigen Punkte nieht grösser ist als
die normale Distanz, welche zwischen den einzelnen einer ein-
zigen Nervenfaser angehörigen Punkten vorliegt.
1) Archiv für mikrosk. Anatomie. Band X, Tafel VIII, Fig. V
und ebenda Band X, Tafel XV, Fig. X.
3) Die von Ranvier mit solchem Erfolge angewandte Combi-
nation der Osmiumfärbung mit der Goldchloridkaliumbehandlung habe
ich noch nicht versuchen können.
Neue Untersuchungen über die Structur u. s. w. 477
Ich stehe am Ende einer Darstellung, für deren Weit-
schweifiskeit ich fühle um Entschuldigung bitten zu müssen.
Andererseits schien mir eine derartig eingehende Behandlung
auch der untergeordnetsten Details geboten, um die an die
Spitze dieses Aufsatzes gestellte Behauptung zu rechtfertigen,
dass nunmehr die Nervenendigung im elektrischen Organ
von Torpedo genauer bekannt sei, als jede andere Nerven-
endigung in irgend einem Organ des thierischen Körpers.
Durch die mit gleichem Erfolge auf ein gleiches Ziel
von Ciaccio, Ranvier und mir gerichteten Bemühungen ist
es in vollkommen. übereinstimmender Weise festzustellen ge-
lungen, dass die elektrischen Nerven von Torpedo endlich
übergehen in eine ausserordentlich feine Endverästelung, be-
stenend aus etwas abgeplatteten Nervenfasern von wechselnder
Breite, welche der Bauchfläche der elektrischen Platten ange-
drückt ist. Innerhalb dieser Endverästelung endigen die sämmt-
lichen, sich vorher unzählige Male getheilt habenden Nerven-
fasern alle ohne Ausnahme frei: keine einzige geht eine pe-
ripherische Verbindung mit einer anderen einem anderen Stamme
entsprossenen Nervenfaser ein. An der unteren (dem Rücken
zugekehrten) Fläche dieser terminalen Nervenverästelung und
ihre Configuration genau reprodueirend befinden sich die zahl-
losen räthselhaften Pünktchen als ebenso viele Spitzen, in
welche die Nervenfaser zuletzt übergeht.
Trotz der grossen Schwierigkeit des mikroskopischen Ob-
jects und der starken Vergrösserungen, die zu ihrer Feststellung
nothwendig sind, sind diese Thatsachen vollkommen positiv.
Wir können nunmehr das grosse Wort gelassen aussprechen,
dass die Frage nach der Nervenendigung im elektrischen Organ
des Zitterrochen abgeschlossen ist, und dass für unsere Zeit
wenigstens es der Anatomie nicht mehr gelingen wird, sie noch
weiter zu fördern. Die Anatomie hat innerhalb der ihr ge-
stellten Grenzen ihre Aufgabe vollkommen gelöst und erwartet
nuumehr von der Physiologie und ihren Methoden eine weitere
Vertiefung der Erkenntniss. Vielleicht dass der von der Ana-
tomie jetzt geführte Nachweis der ausschliesslichen freien En-
digungen der elektrischen Nerven die Schwesterwissenschaft
478 Fr. Boll:
veranlassen wird, eine schon einmal aufgeworfene Frage!) näher
ins Auge zu fassen: was unter diesen Umständen denn schliess-
lich aus der negativen Schwankung des Nervenstromes werden
muss, die den Erregungsvorgang innerhalb der Nervenfaser
jedenfalls doch wohl bis an das äusserste peripherische Ende
begleitet, und ob die in den elektrischen Platten von Torpedo 2)
durch die anatomischen Verhältnisse der Nervenverästelung
bedingte, mehr als millionenfache:) Multiplication dieser Stromes-
sehwankung nicht vielleicht ausreichend befunden wird, den
„ Schlag des Zitterrochen zu erklären?
Roma, am 2. März 1876.
Erklärung der Abbildungen.
Sämmtliche Abbildungen mit Ausnahme von Fig. VIII und X
sind direct nach Präparaten bei einer Vergrösserung durch die Hart-
nack’sche Immersionslinse Nr. IX gezeichnet. Es wurden stets die
günstigsten optischen Bedingungen gesucht und je nach der Hellig-
keit auch verschiedene Oculare angewandt. So ist es gekommen,
dass der Maassstab, in welchem die einzelnen Präparate wiedergegeben
worden sind, nicht genau der gleiche ist: ein Fehler, den der Be-
schauer zu beachten und in Gedanken zu verbessern gebeten ist.
Fig. I. Silberpräparat. Sehr unvollkommen negative Darstellung.
der Terminalverästelung.
Fig. II. Silberpräparat. Etwas vollkommnere negative Darstel-
lung der Terminalverästelung.
1) M. Schultze’s Archiv für mikroskopische Anatomie. Bd.X,.
S. 118.
2) Nicht von Malopterurus.
3) [Wenn nur die negative Schwankung an den Nervenenden in
Betracht kommt, würde meines Erachtens die Multiplication nur durch
die Zahl der in den Säulen übereinander geschichteten Platten statt-
finden, und, wegen der Nebenschliessung durch die Lücken zwischen
den Nervenenden, nicht einmal durch die volle Plattenzahl.
E. d. B.-R.]
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Neue Untersuchungen über die Structur u. s. w. 479
Fig. III. Silberpräparat. Relativ vollkommene negative Dar-
stellung der Terminalverästelung.
Fig. IV. Gold- und Silber-Präparat im Herbst 1875 in Viareggio
gezeichnet. Positive Darstellung der Terminalverästelung. In der
Zeichnung befinden sich einige Anastomosen zwischen benachbarten
Nervenfasern, die auf unrichtiger Beurtheilung des Präparats beruhen.
Fig. V. Gold- und Silber-Präparat mit positiver Darstellung der
Terminalverästelung und unvollkommen wiedergegebener Pünktchen-
structur.
Fig. VI Gold- und Silber-Präparat mit positiver Darstellung
der Terminalverästelung und vollkommen wiedergegebener Pünktchen-
structur.
Fig. VII. Gold- und Silber-Präparat mit positiver Darstellung
der Terminalverästelung; die Pünktchen fehlen vollkommen.
Fig. VII. Die Zeichnung, welche die Configuration von Fig. VII
in negativer Darstellung und mit erhaltenen Pünktchen wiedergiebt.
Fig. IX. Gold- und Silber-Präparat. Vollkommen negative Dar-
stellung der Terminalverästelung mit erhaltenen Pünktehen.
Fig. X. Auf die Configuration von Fig. VI basirte Zeichnung
der Pünktehenstruetur, wie sie an wohlgelungenen Osmiumpräparaten
erscheint.
Anatomische und Physiologische Untersuchungen
über den Arm der Kephalopoden.
Von
Dr. GIUSEPPE COLASANTI.
(Aus dem Laboratorium für vergleichende Anatomie und Physiologie
in Rom. Fünfte Mittheilung.)
Hierzu Tafel IX u. X.
1. Einleitung.
Wenn man einem eben aus dem Meerwasser gezogenen
lebenskräftigen Kephalopoden einen seiner Arme abschneidet,
so fährt das abgetrennte Glied fort Bewegungen auszuführen
und auf Reize zu reagiren, ganz in derselben Weise, wie
wenn es noch mit dem Körper in Verbindung wäre. Die
Trennung des Armes von den im Kopfknorpel gelegenen
grossen Centralorganen des Nervensystems scheint weder in
der Sphäre der Bewegung noch der Empfindung die geringste
Störung hervorgebracht zu haben: wenigstens vermag die auf-
merksamste Beobachtung keinerlei Unterschied zwischen dem
Benehmen und den Bewegungen eines vom Rumpf getrennten
und eines mit diesem noch in unverletzter Verbindung stehen-
den Armes nachzuweisen: nicht einmal die quantitative. Energie
der nervösen und motorischen Functionen erscheint im Gering-
sten vermindert. Mehr noch als der enthauptete Frosch oder
der abgeschnittene Aalschwanz erschien daher der vom Körper
getrennte Arm der Kephalopoden als ein vorzügliches Object,
um gewisse auf die thierische Sensibilität sich beziehende
Fundamentalfragen experimentell in Angriff zu nehmen.
Die ersten hierauf bezüglichen Versuche wurden im Herbst
1875 in Viareggio unternommen. Es gelang hier schon eine
Anatomische und physiologische Untersuchungen u: s. w. 481
Reihe physiologischer Thatsachen zu beobachten, welche sich
im Verlauf der Versuchsreihen mit grosser Regelmässigkeit
wiederholten. Andererseits war es jedoch unmöglich aus diesen
physiologischen Thatsachen überhaupt irgendwelche bindenden
Schlüsse, irgendwelche Resultate für die allgemeine Physiologie
des Nervensystemes abzuleiten. Denn es fehlten damals noch
gänzlich die nothwendigen anatomischen Fundamente für ein
physiologisches Raisonnement: es fehlte jegliche genauere
Kenntniss über die Anatomie der Muskeln und Nerven, welche
in die Zusammensetzung des Kephalopodenarmes eingehen.
Diese Kenntniss zu erlangen war daher das erste Erfor-
derniss, um in der Behandlung dieser physiologischen Fragen
weitere Fortschritte machen zu können. Es wurde daher in
dem folgenden Winter eine genaue anatomische Untersuchung
des Armes der Kephalopoden vorgenommen, zu deren Behuf
das in chromsaurem Kali gehärtete Organ nach der Stilling’-
schen Methode in eine Reihe successiver Querschnitte gelegt
wurde. So gelang es, die Anatomie der Muskeln und Nerven
des Kephalopodenarmes vollständig; festzustellen und eine sichere
Basis zu gewinnen, von welcher aus die Lösung der physio-
logischen Fragen erfolgreicher als bisher in Angriff genommen
werden konnte.
Dieses geschah im Februar d. J. 1876 in Porto d’ Anzio,
wo die in Viareggio begonnenen Versuchsreihen wiederholt
und vervollständigt wurden. In der Deutung der Versuchs-
resuitate bestanden jetzt nicht mehr die früheren durch die
Unkenntniss der Anatomie des Organs bedingten Zweifel und
es gelang durch die glückliche Vereinigung des anatomischen
und physiologischen Beweismaterials zur Feststellung einiger
Thatsachen zu gelangen, welche für die Frage von der thie-
rischen Sensibilität von der allergrössten Bedeutung zu sein
scheinen. x
Alle die in dieser Arbeit mitzutheilenden Thatsachen, die
anatomischen Angaben und die physiologischen Versuche be-
ziehen sich allein auf die eine sowohl in Viareggio wie in
Porto d’ Anzio häufigste Species: Eledone moschata, welche an
ihren acht Armen je nur eine einfache Reihe von Saugnäpfen.
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 3 31
482 Giuseppe Colasanti:
trägt. Doch hat eine an dem mit einer doppelten Reihe von
Saugnäpfen versehenen Octopus vulgaris angestellte anatomische
und physiologische Nachuntersuchung im Wesentlichen ganz
dieselben Resultate ergeben, so dass es nicht zu gewagt sein
wird, die an Eledone ermittelten Thatsachen auf die ganze
Kephalopodenklasse überhaupt auszudehnen.
2. Allgemeine Bemerkungen über die Anatomie des
Armes der Kephalopoden.
Das anatomische Studium des Kephalopodenarmes zerfällt
naturgemäss in drei Abschnitte: es sind zu berücksichtigen
die Muskelmasse, welche die Hauptsubstanz des Armes bildet,
zweitens die dieser Muskelmasse aufsitzenden Saugnäpfe und
endlich die in einer centralen Höhlung des Armes enthaltene
„nervöse Axe*, — eine Bezeichnung, die später noch ausführ-
lich gerechtfertigt werden wird.')
Ueber alle diese drei Organe enthält die classische Mono-
graphie Cuvier’s?) die ersten Angaben: sie sind als er-
schöpfend zu betrachten in so weit, wie die anatomische Unter-
suchung dieser Theile ohne Anwendung des Mikroskops vor-
genommen werden kann. .
Nach Cuvier scheint die Structur der die Hauptmasse des
Armes bildenden Musculatur nicht weiter Gegenstand anato-
mischer Untersuchungen gewesen zu sein. — Auch über den
Bau und Mechanismus der Saugnäpfe liegt in der Literatur
nach Cuvier nur eine einzige Angabe von Keferstein?) vor:
1) Ueber die Haut, welche den Arm der Kephalopoden überzieht
und hier übrigens ganz dieselben Structureigenthümlichkeiten zeigt
wie an den anderen Stellen des Leibes, wird in dieser Monographie
nicht gehandelt werden, da die Absicht besteht, ihr nebst ihren in-
teressanten Einschlüssen, den Chromatophoren, an einer anderen Stelle
ein besonderes Studium zu widmen.
2) Memoire sur les Cephalopodes et sur leur Anatomie. —
Memoires pour servir & l’histoire et ä l’anatomie des Mollusques.
Paris 1817. p.1.
3) Bronn und Keferstein, Klassen und Ordnungen des Thier-
zeichs Bd. III. S. 1363. 1866.
Anatomische und physiologische Untersuchungen u. s.w. 483
Die Bemerkungen von W. Müller und Koelliker'!) sowie
von Boll?) beziehen sich ausschliesslich auf Eigenthümlich-
keiten des ihre freie Oberfläche überziehenden Epithels. — Die
grosse Literatur endlich, welche sich in diesem Jahrhundert
über die Neurologie der Kephalopoden angesammelt hat, ver-
nachlässigt gerade die Nerven der Arme in auffallendster Weise.
Die besten und ausführlichsten Angaben über sie bietet die
fleissige Monographie von Cheron;?) die auf sie bezüglichen
Angaben Owsjannikow’s und Kowalevsky’s sind nur sehr
unvollständig und stehen durchaus nicht auf derselben Höhe
wie die übrigen Abschnitte der von beiden Forschern über die
feinere Anatomie des Nervensystems der Kephalopoden ver-
öffentlichten ausgezeichneten Arbeit.*)
3. Anatomie der Musculatur des Kephalopodenarmes.
Jeder einzelne der acht die Mundöffnung der Eledone
moschata umgebenden Arme zeigt einen elliptischen Querschnitt,
dessen lange Axe gegen die Mundöffnung des Thieres gerichtet
ist. Dem entsprechend sind an dem Arme zwei längere Seiten-
flächen und zwei kürzere Flächen zu unterscheiden, von denen
die eine gegen die Mundöffnung gerichtete, welche die Saug-
näpfe trägt, die innere Fläche heissen soll, während die ihr'
gegenüberstehende als äussere Fläche bezeichnet werden wird.
In den beiden Abbildungen Fig. 1 und 2, welche Querschnitte
des Armes, Fig. 1 dicht an der Basis, Fig. 2 dicht an der
Spitze genommen, darstellen, bezeichnen die Buchstaben A,
und A, die beiden Seitenflächen, B, die innere mit Saugnäpfen
bekleidete und B, die äussere freie Oberfläche. An der Basis
1) Koelliker, Untersuchungen zur vergleichenden Gewebelehre,
Würzburger Verhandlungen VIII. S. 63. 1858.
2) Beiträge zur vergleichenden Histiologie des Molluskentypus.
S. 61. 1869.
3) Recherches pour servir & l’histoire du systeme nerveux des
Cephalopodes dibranchiaux. — Annales des sciences naturelles. Zoo-
logie. 5me Ser. t. V. p. 1. 1866.
4) Ueber das Centralnervensystem und das Gehörorgan der Kepha-
lopoden. — Memoires de I’ Academie imperiale des sciences de St.
Petersbourg. 7me Ser. t. XI. 1867.
31*
434 Giuseppe Colasanti:
der Arme erscheint der elliptische Querschnitt stets länger
ausgezogen als an der Spitze, wo der lange und der kurze
Durchmesser verhältnissmässig weniger: differiren.
Die ganze Länge des Armes wird von einem Canale durch-
zogen, welcher in ein lockeres Bindegewebe eingebettet, die
nervöse Axe und die Hauptblutgefässe des Armes enthält.
Dieser Canal ist nicht genau central, sondern stets näher an
der inneren (mit Saugnäpfen besetzten) als an der äusseren
(freien) Oberfläche gelegen. Sein Querschnitt ist an der Wurzel
des Armes elliptisch; doch sind die lange und kurze Axe die-
ser Ellipse nicht gleichsinnig, sondern gerade umgekehrt orien-
tirt wie die beiden Axen des ganzen Armes. Gegen die Spitze
des Armes wird das Lumen des Canals kreisförmig.
Auf sämmtlichen Querschnitten des Armes von der Wurzel
bis zur Spitze zeigen die Muskelfasern stets die identische
Anordnung; mit absoluter Regelmässigkeit reproducirt sich in
allen Präparaten ein und dasselbe höchst elegante Bild, welches
in den Abbildungen Fig. 1 und 2 wiedergegeben ist.
Sämmtliche Muskeln des Kephalopodenarmes lassen sich
in folgende drei Kategorien theilen:
1) Längsmuskeln, welche von der Wurzel bis zur Spitze
des Armes stets der Axe des Armes parallel verlaufen und
daher auf den Querschnitten gleichfalls stets querdurchschnitten
erscheinen müssen.
2) Quermuskeln, deren Richtung genau senkrecht steht
zur Axe des Armes und der Längsmuskeln, und deren histi-
ologische Elemente daher auf Querschnitten ihrer Längsaxe
parallel getroffen werden.
3) Schrägmuskeln, welche weder eine reine Längs- noch
eine reine Querrichtung besitzen, sondern in einer zu der Axe
des Armes schiefen Ebene orientirt sind; ihre histiologischen
Elemente erscheinen daher auf Querschnitten als kleine schräg-
gestellte Stückchen.
Die Längsmuskeln nehmen die Peripherie des Armes ein.
Der stärkste Längsmuskel (M. longitudinalis externus) liegt
unmittelbar an der Aussenfläche des Armes; ein etwas dünnerer
«M. longitudinalis internus) an der Innenfläche unmittelbar
Anatomische und physiologische Untersuchungen u. s. w. 485
unter der Reihe der Saugnäpfe. Beide Muskeln haben einen
elliptischen Querschnitt. An den beiden Seitenflächen zeigt der
Querschnitt der Längsmuskeln die Form einer schmalen Sichel,
welche durch einen feinen in ihrer Mitte verlaufenden Streifen
von Quermuskeln in zwei nahezu gleiche Hälften getheilt
wird.
Die Hauptmasse der queren Muskeln nimmt das Centrum
des Armes ein, wo die auf dem Querschnitt eine schon von
Cuvier erwähnte trapezförmige Figur bilden, in deren Mitte
die für die Aufnahme der nervösen Axe bestimmte Höhlung
liest. In dieser Hauptmasse verlaufen die Muskelbündel theils
der langen theils der kurzen Axe des querdurchschnittenen
Armes parallel und bilden ein ausserordentlich dichtes Geflecht.
Von der centralen Hauptmasse drängen allenthalben feine
Muskelbündel bis an die Peripherie des Armes, welche um
dorthin zu gelangen die Längsmusculatur durchsetzen müssen.
Diese wird dadurch vielfach unterbrochen und in einzelne
Bündel zerlegt und abgetheilt, welche innerhalb der Mm. lon-
gitudinales externus et internus eine unregelmässigere, innerhalb
der seitlichen Längsmuskeln aber eine völlig regelmässige Con-
figuration besitzen, die den Querschnitten ein unvergleichlich
zierliches und elegantes Aussehen giebt. — Ausser der cen-
tralen Hauptmasse und diesen von ihr ausgehenden Muskel-
bündeln, sind an der Peripherie des Armes noch einige Züge
querer Muskelfasern vorhanden und zwar erstens ein zwischen
den beiden Polen der Ellipse verlaufender, schmaler, sichel-
förmiger Muskelstreif, welcher wie schon oben erwähnt, die
beiden seitlichen Längsmuskeln in zwei fast gleiche Hälften
theilt, und zweitens eine dünne Muskelhaut, welche das System
der Armmusculatur nach aussen gegen die Cutis hin vollkommen
abschliesst.
Eine nur sehr geringe quantitative Entwickelung zeigen
endlich die schrägen Muskeln: sie sind auf einen einzigen
schmalen Streif redueirt, welcher beiderseits zwischen der
langen Seite des aus queren Muskelfasern bestehenden Tra-
pezes und dem seitlichen Längsmuskel eingeschoben ist.
Ein Muskelsystem, wie das eben beschriebene, welches
486 Giuseppe Colasanti:
von Cuvier mit den Zuüngenmuskeln der Säugethiere ver-
glichen wurde, macht die ausserordentlichen motorischen und
mechanischen Leistungen des Kephalopodenarmes leicht be-
greiflich und erklärt die grosse Leichtigkeit, mit der dieses
Organ sich verlängern, verkürzen und in allen möglichen
Richtungen krümmen und beugen kann (Cuvier).
4, Anatomie der Saugnäpfe des Kephalopodenarmes.
Die erste für die Anatomie der Saugnäpfe wichtige That-
sache ist die vollkommene Unabhängigkeit ihrer Musculatur
von der soeben beschriebenen Musculatur des Armes. Diese
letztere bildet stets ein vollkommen in sich abgeschlossenes
Ganze, welches ebenso wie von der es überziehenden äusseren
Haut sich auch von den Saugnäpfen vollkommen unabhängig
erhält. Dieses Verhältniss wird aus der Betrachtung von Fig 3
sehr deutlich, welche einen gleichzeitig durch die Muskelmasse
des Armes und das Centrum eines Saugnapfes geführten Quer-
schnitt darstellt. Man sieht, dass das Muskelsystem des Saug-
rapfes und das des Armes, beide vellkommen in sich abge-
schlossen sind und von einander durchaus getrennt bleiben, und
dass allein die Hautmuseulatur, die an den Stellen wo die
Saugnäpfe befindlich eine etwas stärkere Entwickelung zeigt,
nur einige ganz schwache und unerhebliche Verbindungen mit
der Muskelmasse des Armes einerseits und den Saugnäpfen
andererseits eingeht. Diese Verbindungen — und die Anord-
nung der Hautmusculatur unter den Saugnäpfen überhaupt —
scheinen übrigens eines bestimmten morphologischen Typus
durchaus zu entbehren, wie ein solcher in der Musculatur des
Armes und der Saugnäpfe so sehr charakteristisch ausgeprägt
ist. Wie Fig, 3 lehrt, sind es nur ganz schwache und dünne
Muskeln, welche die Verbindung zwischen der Muskelsubstanz
des Armes und den Saugnäpfen herstellen und die mit der
Function betraut sind, die geringe Verschiebung längs und
seitlich des Armes auszuführen, welche nothwendig ist, um diese
Organe an den für ihre günstigste Wirkung geeignetsten Ort
zu bringen.
Die Musculatur der Saugnäpfe selbst bildet eine anatomische
u ne Im
Se
A
Anatomische und physiologische Untersuchungen u. s. w. 487
Einheit, die in sich völlig so abgeschlossen ist wie die eben
betrachtete Musculatur des Armes; die beiden Abbildungen
Fig.4 und 5 sind ausreichend, um eine klare Vorstellung vom
Bau dieser Organe zu erwecken. Fig. 4 stellt einen durch die
Längsaxe eines Saugnapfes geführten Schnitt dar: der ganze
Saugnapf zeigt die Form eines Bechers von unregelmässiger
Gestalt und Wandungen von ungleicher Dicke. Der Hohlraum
dieses Bechers wird durch eine Einschnürung in zwei Abthei-
lungen geschieden, von denen die der Mündung nähere und
grössere, der Haftraum, die den Grund des Bechers einnehmende
kleinere, der Saugraum heissen soll. Der erstere wird von
der Muskelsubstanz unmittelbar aufsitzenden, sehr hohen
Cylinderepithelien ausgekleidet, über deren freie Oberfläche eine
sehr starke Cuticula ausgebreitet ist; die cylinderepitheliale Aus-
kleidung des letzteren zeigt eine beträchtlich geringere Ent-
wickelung. Dieser Unterschied steht mit der Function der
Theile im innigsten Zusammenhang, da allein die Oberfläche
des Haftraumes mit den von dem Saugnapfe angepackten Ge-
genständen in Berührung kommt und daher eines stärkeren
Epithelialüberzuges bedarf als die niemals damit in Contact
kommende Oberfläche des Saugraumes.
Entsprechend den verschiedenen Functionen der beiden
Abtheilungen des Saugnapfes sind auch die muskulösen Wan-
dungen beider durchaus verschieden gebildet: die Muskelwand
des Haftraumes ist sehr viel dünner und besteht aus einem
sehr innigen Geflecht von feinen Muskellagen, die beständig in
ihrer Richtung mit einander abwechseln und sich durchkreuzen;
es begreift sich daher leicht, wie eine derartige Anordnung der
allerverschiedenartigsten Bewegungen und Formveränderungen
fähig sein und auch den verschiedenst gestalteten Oberflächen
sich stets genau wird anpassen können, während quantitativ
bedeutende mechanische Leistungen nicht von ihr zu erlangen
sein werden. Diese letzteren sind vielmehr in ganz hervor-
ragendem Maasse von der Musculatur des Saugraumes zu er-
warten, die durchschnittlich um das Doppelte mächtiger ist,
als die des Haftraumes, und in welcher die einzelnen contrac-
tilen Fasern fast alle in ein und derselben Richtung angeordnet
488 Giuseppe Colasanti:
sind und zwar in derjenigen, in welcher ihre Zusammen-
ziehung die gröstmöglichste Erweiterung des Saugraumes her-
vorbringen muss.
Die Structur dieser Muskelwand ist so sehr einfach, dass
zu ihrem Verständniss der in Fig. 4 wiedergegebene Längs-
schnitt vollkommen ausreicht, und die Abbildung eines Quer-
schnittes durchaus überflüssig erschien. Dagegen schien es
wünschenswerth, zum besseren Verständniss der in der Wand
des Haftraumes bestehenden verwickelteren Anordnung der
Muskelfasern noch die Querschnittsabbildung Fig. 5 mitzu-
theilen, zumal da diese gleichzeitig dazu dient, eine Structur-
eigenthümlichkeit des Haftraumes zu veranschaulichen, die
an Längsschnitten unmöglich hervortreten konnte: nämlich
die Existenz riffartiger Leisten, weiche auf der freien Ober-
fläche von der Basis bis zur Mündung des Haftraumes ver-
laufen, und deren Nützlichkeit auf der Hand liest, da eine mit
solchen Vorsprüngen versehene Oberfläche sich viel inniger
an einen fremden Körper wird anpressen können als eine glatte
Oberfläche. Die Zahl dieser Leisten ist (bei Eledone wenig-
stens) inconstant und nimmt an den einzelnen Saugnäpfen von
der Basis bis zur Mündung (durch Theilung) beständig zu.
Mit der hier gegebenen Darstellung des Baues der Saug-
näpfe von Eledone, haben die von Keferstein gegebene Be-
schreibung und Abbildung der Saugnäpfe der riesigen Archi-
teuthis dux Steenstrup (aus dem Kopenhagener Museum) nur
eine sehr entfernte Aehnlichkeit. Erneute Untersuchungen
werden zu entscheiden haben, ob diese Differenzen auf fehler-
haften Beobachtungen beruhen oder — was das Wahrschein-
lichere ist — in specifischen Eigenthümlichkeiten der ver-
schiedenen Kephalopodenarten ihren Grund haben.
5. Anatomie der nervösen Axe des Kephalopoden-
armes.
Der in dem centralen Canal des Kephalopodenarmes ver-
laufende Nerv zeigt bei der Betrachtung mit blossem Auge
Anschwellungen, welche in regelmässigen Abständen auf ein-
ander folgen und in ihrer Anzahl und Lage genau der Reihe
Anatomische und physiologische Untersuchungen u.s.w. 489
der Saugnäpfe entsprechen. Es erweckt dieses Bild durchaus
die Vorstellung, als ob der Nerv des Armes in regelmässigen
Abständen mit Ganglien besetzt sei. In der That haben alle
Autoren ohne eine einzige Ausnahme, auch Cheron und
Owsjanikow und Kowalevsky dieser aus der makros-
kopischen Betrachtung abgeleiteten Vorstellung ohne weiteres
gehuldigt und übereinstimmend den Armnerven der Kephalo-
poden als einen peripherischen, allein aus Primitivfasern zu-
sammengesetzten Nerven beschrieben, welcher in regelmässigen
Abständen zu peripherischen Ganglien anschwelle und nur
innerhalb dieser Anschwellungen Nervenzellen enthalte,
Die genauere mikroskopische Untersuchung ergiebt jedoch,
dass diese Vorstellung durchaus irrig ist, und dass vielmehr
der Nerv des Kephalopodenarmes in seiner ganzen Länge von
der Basis bis zu der Spitze des Armes Ganglienzellen enthält
und zwar in einer vollkommen bestimmten Anordnung, die
sich auf jedem einzelnen Querschnitte in identischer Weise und
mit gleicher Regelmässigkeit, reproducirt, wie das bekannte
schräge Kreuz auf den Querschnitten des Rückenmarks der
Wirbelthiere. Es müssen also die Centralnerven der Arme (für
welche daher zweckmässig die Bezeichnung der nervösen Axe
eingeführt wird) durchaus als nervöse Centralorgane angesehen
und sie dürfen in keiner Weise, wie bisher allgemein geschah,
zum peripherischen Nervensystem gerechnet werden.
Die drei Abbildungen Fig. 6—8 stellen drei verschiedene
Durchschnitte durch die nervöse Axe dar, von denen Fig. 6
durch eine der an der Basis des Armes gelegenen ganglien-
artigen Anschwellungen, Fig. 7 durch die darauf folgende
Einschnürung und Fig. 8 durch eine ganglienartige Anschwel-
lung der Armspitze geführt wurde. Es ist unmöglich, diese
drei neben einander stehenden Abbildungen zu betrachten und
mit einander zu vergleichen, ohne auf die höchst überraschen-
den Uebereinstimmungen aufmerksam zu werden, die zwischen
dieser Bildung und dem Rückenmark der Wirbelthiere be-
stehen.
Zunächst fällt hier ins Auge die bilaterale Symmetrie, die
bei der nervösen Axe nicht weniger deutlich ausgesprochen
490 Giuseppe Colasanti:
erscheint als beim Rückenmark der Wirbelthiere; eine von der
in einer medianen Längsfurche der nervösen Axe eingebetteten
Arteria brachialis ausgehende Raphe von Bindegewebe und
Gefässen theilt die Substanz der nervösen Axe genau so in
zwei symmetrische Hälften, wie das Rückenmark durch die
beiden Ineisurae longitudinales eingetheilt wird; die Längs-
richtung dieser Raphe fällt mit der Be Axe des elliptischen
Querschnittes zusammen.
Zweitens drängt sich dem Beobachter die Constanz auf,
mit welcher sich in allen möglichen Querschnitten der ner-
'vösen Axe von der Basis bis zur Spitze, in den Anschwellungen
wie in den Einschnürungen, stets ein und dasselbe Bild repro-
ducirt, ganz wie im Rückenmark stets das Bild des Kreuzes
wiederkehrt. Diese Uebereinstimmung gewinnt noch an Be-
deutung durch die Thatsache, dass ganz wie im Rückenmark
so auch in der nervösen Axe das identische Bild bedingt wird
durch eine bestimmte Abwechselung und Configuration von
zwei Substanzen, die ohne den geringsten Zwang als graue
und weisse bezeichnet werden können, da die erste ganz wie
die des Rückenmarks exclusiv aus Ganglienzellen und molecu-
lärer Masse, die zweite ebenso exelusiv aus Nervenfasern be-
steht, die ganz ebenso querdurchschnitten erscheinen, wie die
weissen Stränge des Rückenmarks.
Dieses stets wiederkehrende Querschnittsbild der nervösen
Axe, welches zuerst, wenn auch ungenau von Cheron beschrieben
und abgebildet wurde, ist allerdings dem Querschnitte desRücken-
marks einigermaassen uuähnlich. In der nervösen Axe umgiebt
nicht eine Schaale weisser Substanz den grauen Kerr, sondern
beide Substanzen erscheinen auf dem Querschnitt neben ein-
ander gelagert. Die weisse Substanz besteht aus zwei sym-
metrischen Strängen von rundlichem Querschnitt, welche den
der Aussenfläche des Arms zunächstliegenden Theil der ner-
vösen Axe einnehmen. Di graue Substanz liegt der Innen-
fläche des Armes näher; sie zerfällt in einen Ganglienzellen-
haltigen und in einen Ganglienzellen-freien Theil, welcher
letztere in seinem mikroskopischen Aussehen die grösste Aehn-
lichkeit mit der moleculären Aussenschicht der Kleinhirnrinde
EM
Be
Anatomische und physiologische Untersuchungen u. s.w. 491
zeigt. Das Verhältniss dieser beiden Theile der grauen Sub-
stanz ist ein durchaus constantes, indem die Ganglienzellen-
schicht die moleculäre Masse von aussen in Hufeisenform um-
giebt.
Die interessantesten Uebereinstimmungen zwischen der
nervösen Axe und dem Rückenmark ergeben sich jedoch erst
aus dem Vergleich der einzelnen verschiedenen Querschnitte
der nervösen Axe und aus der Discussion über die anatomische
Bedeutung der Verschiedenheiten, welche das eben beschriebene
Querschnittsbild der nervösen Axe an verschiedenen Stellen
zeigt. Diese Discussion ergiebt für die anatomische Auffassung
der nervösen Axe ganz die gleichen Gesichtspunkte, welche
aus dem Vergleich der verschiedenen Rückenmarksquerschnitte
für die Anatomie dieses Organs festgestellt worden sind.
Vergleicht man die beiden in Fig. 6 und 7 wieder-
gegebenen Querschnitte der nervösen Axe mit einander, von
denen der erste durch eine an der Basis des Armes gelegene
Anschwellung, der zweite durch die dicht daneben befindliche
Einschnürung geführs wurde, so ergiebt sich, dass das vermin-
derte Volumen des letzteren ausschliesslich seinen Grund hat
in der Volumsverminderung der grauen Substanz und in der
verringerten Anzahl der Ganglienzellen, während die weisse
Substanz nicht die geringste Volumsverminderung zeigt. Es
erklärt sich dieses Verhalten daraus, dass in den Einschnürun-
gen die graue Substanz allein für die Musculatur und Haut
des Armes die Nervenwurzeln herzugeben hat, während in den
Anschwellungen noch die sensitiven und motorischen Nerven
für die Saugnäpfe hinzukommen. Es deckt sich diese Erklä-
rung vollkommen mit der allgemein acceptirten Anschauung,
nach welcher die Hals- und Lenden-Anschwellung des Rücken-
marks durch die von den beiden Extremitätenpaaren geforderte
grössere Menge von Nervenwurzeln bedingt wird.
Noch eine zweite Thatsache der Anatomie des Rücken-
marks reprodueirt sich auch in der nervösen Axe: das Volu-
men der weissen Substanz nimmt auf den Querschnitten von
der Basis bis zur Spitze des Armes continuirlich ab, — offen-
bar aus dem gleichen Grunde wie im Rückenmark, weil, je
492 Giuseppe Colosanti:
weiter man gegen das Ende (des Rückenmarkes oder der ner-
vösen Axe) vordringt, der durch die weisse Substanz mit den
höheren Nervencentren in Verbindung stehende Körpertheil
beständig kleiner wird und ein beständig geringer werdendes
Nervengebiet in der weissen Substanz repräsentirt zu werden
braucht.
Dagegen möchte es — auf den ersten Blick wenigstens —
auffallend erscheinen, dass (wie ein Vergleich von Fig. 8 mit
Fig, 6 zeigt) die graue Substanz an der Spitze des Armes
quantitativ ganz so mächtig entwickelt ist wie an der Basis,
während die dünne Armspitze doch viel weniger Nerven zu
ihrer Versorgung brauchen sollte als die starke Basis. Doch
ist es nicht schwer, eine ausreichende Erklärung, für diesen
scheinbaren Widerspruch zu finden: Offenbar hat die dünne
Armspitze eine ganz andere Funktion als die starke Basis;
sie ist vorzugsweise Tastorgan, während die mechanischen Lei-
stungen des Armes ausschliesslich in der muskelkräftigen Basis
ihren Sitz haben. Wenn daher auch die Spitze des Armes
sehr viel weniger motorische Nervenfasern verbraucht, so hat
sie dafür desto mehr sensitive Nervenfasern nöthig und es be-
greift sich leicht, dass der Ueberschuss an letzteren den Aus-
fall der ersteren vollkommen compensiren kann. Offenbar mit
diesem Verhältniss hängt die charakteristische Verschiedenheit
der Ganglienzellen der Armspitze von denen der Basis zu-
sammen. Die ersteren sind fast durchweg äusserst klein und
ihr Ensemble hat sehr grosse Aehnlichkeit mit der Körner-
schicht des Kleinhirns oder der Retina. An der Basis hingegen
finden sich vorzugsweise grosse Ganglienzellen mit deutlichem
Kern. Es scheint also, als ob auch innerhalb des Mollusken-
typus dasselbe Verhältniss stattfindet wie bei den Wirbelthieren,
dass nämlich die sensiblen Zellen stets kleiner gebildet sind
wie die Ursprungszellen der centrifugalen Nervenfasern.
Während die nervöse Axe, als nervöses‘ Centralorgan be-
trachtet, mehrere höchst bemerkenswerthe anatomische Ueber-
einstimmungen mit dem Rückenmark zeigt, fehlen solche durch-
aus für die von ihr ausgehenden Nerven, für welche sich kei-
nerlei derartige Beziehungen mit den Rückenmarksnerven nach-
Anatomische und physiologische Untersuchungen u.s.w. 493
weisen lassen. Die peripherischen Nerven entspringen von der
nervösen Axe während ihres ganzen Verlaufes, reichlicher von
den Anschwellungen, aber auch von den Einschnürungen. Ihre
Ursprungsweise ist sehr inconstant; das einzige constante Fac-
tum ist, dass sie stets aus dem moleculären Theil der grauen
Substanz hervorgehen und daher, um an die Oberfläche der
nervösen Axe zu gelangen, die Ganglienzellenschicht durch-
setzen. Vorzugsweise entspringen sie (wie in Fig. 6 und 8)
aus den beiden Winkeln des Hufeisens; doch sieht man nicht
selten die Nervenfasern auch näher an der Oefinung des Huf-
eisens aus der moleculären Substanz heraustreten. Meist ent-
springen die Nerven einzeln, jedoch nicht selten auch finden
sich zwei oder dreiNerven, die ganz dicht zusammen die ner-
vöse Axe verlassen. Von einem Entspringen mit gesonderten
Wurzeln wie im Rückenmark ist niemals etwas zu sehen, wie
überhaupt auf den Querschnitten der nervösen Axe nichts von
einer Scheidung oder Localisirung der motorischen und sen-
siblen anatomischen Elemente nachzuweisen ist. Ja, es scheint
in Bezug auf Anzahl und Modus der Nervenursprünge nicht
einmal auf beiden sonst bilateral symmetrischen Seiten der
nervösen Axe eine Uebereinstimmung vorzuliegen.
Die peripherischen Nerven durchsetzen den mit lockerem
Bindegewebe ausgefüllten Zwischenraum zwischen nervöser
Axe und der Muskelwand des Armes und dringen in die
letztere ein, innerhalb deren sie sich theilen und so schliess-
lich dem Auge entziehen. Zu den Saugnäpfen und zu der
Haut gelang es nur sehr selten besondere Nervenstämmchen
durch die Armmusculatur hindurch zu verfolgen. Ueber ihre
Endigung in den Muskelfasern des Armes, der Saugnäpfe
oder der Haut gelang es nicht, irgend etwas Bestimmtes zu
ermitteln. Doch scheint eine Thatsache vollkommen sicher,
dass nämlich diese ganze peripherische Nervenverästelung keine
Ganglienzellen enthält, dass in dem Kephalopodenarm ausser
in der nervösen Axe keine Nervenzellen mehr enthalten sind
und dass die von der nervösen Axe ausgehenden peripheri-
schen Nerven ganz direct und ohne Dazwischenkunft periphe-
494 Giuseppe Colasanti:
rischer Ganglienzellen in den contractilen Elementen oder in
den Sinnesepithelien des Armes endigen.
6. Physiologische Versuche und Schlussfolgerungen,
Nach den soeben gegebenen Aufschlüssen sind nunmehr
die in der Einleitung erwähnten Thatsachen nicht mehr auf-
fallend. Wenn der Arm des Kephalopoden nicht bloss einen
centralen Nerven, sondern ein wirkliches nervöses Centralorgan
besitzt, das die allergrössten Uebereinstimmungen mit dem
Rückenmark der Wirbelthiere zeigt, so hat sich Niemand da-
rüber zu verwundern, wenn ein solcher abgeschnittener Arm
sich ebenso zweckmässig benimmt, wie ein enthaupteter Frosch
oder ein abgeschnittener Aalschwanz. Auch wird die That-
sache verständlich, wie ein solcher Arm sich loslösen und mit
einer Patrontasche von Samen versehen als Hectocotylus selbst-
ständig auf die Frei gehen kann.
Uebrigens übertrifft der Kephalopodenarm die beiden eben
erwähnten kaltblütigen Wirbelthiere erheblich an Vitalität.
Seine nervöse Axe behält ihre Erregbarkeit viel länger als das
Rückenmark des Frosches oder des Aales, und die Muskel-
contractionen erfolgen auch noch ganz lange Zeit nach der
Abtrennung des Armes mit unverminderter Energie. Diese
Eigenschaften sind unschätzbar für den experimentellen Phy-
siologen, der an dem Rückenmark der kaltblütigen Wirbel-
thiere in der so leicht erschöpften Erregbarkeit dieses Organs
beständig ein Hinderniss oder eine Fehlerquelle für seine Ver-
suche berücksichtigen muss. Die Erregbarkeit des Kephalo-
podenarmes ist hingegen scheinbar unerschöpflich; wenigstens
kann man eine Stunde lang und noch mehr an ein und dem-
selben abgeschnittenen Arm herumexperimentiren ohne ihn zu
ermüden und man kann — was sehr wichtig ist — die ein-
zelnen Versuche beliebig oft hinter einander wiederholen, um
so durch die stets sich gleichbleibenden Erfolge sich der con-
stanten Versuchsergebnisse zu vergewissern und sie von zu_
fälligen und unzuverlässigen Einzelbeobachtungen zu unter-
scheiden.
Die erste Frage, welche experimentell in Angriff genommen
Anatomische und physiologische Untersuchungen u.sw. 495
wurde, war diese: Welchen Erfolg hat die elektrische Reizung
des centralen Stumpfes der nervösen Axe? Zu diesem Zwecke
wurden einige Centimeter der nervösen Axe an der Basis eines
abgeschnittenen Kephalopodenarmes freipräparirt und auf ein
Paar Elektroden gebreitet, durch welches jeden Augenblick
auf beliebige, längere oder kürzere Zeit der tetanisirende Strom
eines du Bois’schen Schlitteninductoriums geleitet werden
konnte.
Der Erfolg dieser Versuche war stets ein positiver: stets
trat in Folge der elektrischen Reizung eine Muskelcontraction
ein und zwar sowohl eine Contraction der Armmusculatur wie
der Saugnäpfe und auch derjenigen Muskeln, welche schon die
in der Haut gelegenen Chromatophoren inseriren und bei ihrer
Contraction die weissliche Farbe der Haut in ein tiefes Braun
verwandeln. Stets waren also bei diesen Experimenten drei
Erscheinungen zu beobachten: 1) die Bewegungen des Armes
2) die Action der Saugnäpfe, und 3) die Farbenveränderung
der Haut.
Nun war es im höchsten Grade bemerkenswerth, dass bei
den ausserordentlich oft wiederholten Experimenten doch fast
niemals eine Constanz der Resultate zu erzielen war in dem
Sinne, dass der wiederholten Reizung auch immer der gleich-
artige Erfolg entsprochen hätte: ein Erfolg trat, wie schon ge-
sagt, jedesmal nach der Reizung ein, aber meist ein wechselnder,
indem bei den verschiedenen Reizungen die drei oben er-
wähnten Factoren (die Bewegung des Armes, die Action der
Saugnäpfe und die Farbenveränderung) stets in verschiedenen
Verhältnissen zusammentraten und so stets verschiedenartige
Symptomencomplexe bedingten.
So trat z.B. imersten Versuche eine sehr energischeBewegung
des ganzen Armes, Action einiger weniger Saugnäpfe und eine
nur sehr geringfügige Farbenveränderung ein. Bei der nächsten
Wiederholung färbte sich der ganze Arm tiefbraun, blieb aber
verhältnissmässig unbewegt; die in dem ersten Versuche thätig
gewesenen Saugnäpfe functionirten diesesmal nicht, dafür aber
andere. Oder die Färbung des Armes beschränkte sich auf
einen bestimmteu Abschnitt, der bei der nächsten Wieder-
496 Giuseppe Colasanti:
holung des Versuches jedoch wechselte, ebenso unberechenbar
wie in einem Versuche allein die Saugnäpfe der Basis und im
nächstfolgenden allein die der Spitze sich contrahirten. Sehr
selten nur gelang es, einen und denselben Symptomencomplex
sich genau wiederholen zu sehen; es war dieses nur möglich,
wenn in beiden Versuchen die Stromstärke dieselbe geblieben
war und der Nerv nicht die geringste Verschiebung auf den
Elektroden erlitten hatte. Sobald in dieser Rücksicht die Ver-
suchsbedingungen auch nur die allergeringste Veränderung er-
litten hatten, gelang es niemals wieder, denselben Symptomen-
complex hervorzurufen, sondern das durch das Zusammentreten
der drei erwähnten Factoren bedingte Gesammtresultat des
_ Versuches war stets ein ungleichartiges.
Wenn man diese Versuche oft hinter einander wiederholt
und sich jedesmal überzeugt, dass auf die elektrische Reizung
des centralen Stumpfes der nervösen Axe zwar jedesmal ein
positives Resultat, wenn auch in beständig wechselnder Form
erfolgt, so drängen sich dem Experimentator schliesslich mit
grosser Unmittelbarkeit gewisse einfache physiologische Ueber-
legungen auf, welche geeignet sind, den scheinbaren Wider-
spruch befriedigend aufzulösen, welcher zwischen der un-
bestreitbar vorhandenen elektrischen Erregbarkeit; der nervösen
Axe und der stets wechselnden Form ihrer Reaction besteht.
Zunächst ist es klar, dass der Experimentator niemals in
der Lage sein kann, die natürliche Willensinnervation des
Thieres nachzuahmen, welche von den grossen Ganglien des
Kopfes zu der nervösen Axe geht und dabei ihren Weg wahr-
scheinlich durch die weisse Substanz nimmt. Das Thier inner-
virt stets nur ganz bestimmte Fasern und Fasergruppen der
weissen Substanz, während es die unmittelbar daneben liegen-
den völlig unerregt lässt. So ist das Thier in der Lage wirk-
lich jedesmal ganz bestimmte Bewegungen zu reiner Ausführung
zu bringen. Eine solche isolirte Innervation mit stets gleich-
bleibendem Resultat ist aber der Experimentator künstlich nach-
zuahmen ausser Stande: er reizt stets sämmtliche Nervenfasern
der weissen Stränge und zwar mit Strömen, deren Intensität
für jede einzelne Nervenfaser verschieden ist, ja auch für die-
Ye EEE,
FONS N N
Kr
Anatomische und physiologische Untersuchungen u.s.w. 497
selbe Nervenfaser in zwei aufeinanderfolgenden Experimenten
fast niemals constant zu erhalten ist. Unter diesen Umständen
muss es gänzlich unberechenbar sein, welche Form des Erfolges
auf die einzelne Reizung einzutreten haben wird. Man kann in
dem ersten Experiment einen ganz bestimmten charakteristischen
Symptomencomplex erhalten, der bei der zweiten Reizung
gänzlich ausbleiben und bei einer dritten in einen völlig ent-
gegengesetzten verwandelt sein kann, weil bei der zweiten
Reizung vielleicht antagonistische Nervenfasern in gleicher
Stärke mitgereizt wurden und weil bei der dritten endlich die
Reizung der antagonistischen Fasern die der zuerst gereizten
gar überwog.
Zweitens ist zu berücksichtigen, dass, wie die anatomische
Untersuchung unzweifelhaft dargethan hat, die weissen Stränge
der nervösen Axe niemals direct die Muskelfasern des Armes,
der Saugnäpfe oder der Haut innerviren, sondern stets erst nach
der Durchsetzung von grauer Substanz und von Ganglienzellen.
Es ist aber vollkommen illusorisch, anzunehmen, dass die Inner-
vation sich durch jede Ganglienzelle ohne Widerstand oder
auch nur mit dem gleichem Widerstande fortflanzen müsse; es
ist vielmehr viel wahrscheinlicher, dass die lebendigen und
vollkommen erregbaren Ganglienzellen der Fortpflanzung der
Innervation einen individuellen, ja vielleicht sogar einen be-
liebigen (d.h. von dem „Willen“ der Zelle abhängigen) Wider-
stand entgegensetzen können. Sobald aber dieser Vorstellung
ihre Berechtigung zugestanden wird, ist die Thatsache, dass,
die Reizung der weissen Stränge von stets wechselndem Erfolge
begleitet wird, nicht mehr schwer zu erklären.
Es ist zu hoffen, dass diese beiden Ueberlegungen auch
dann zur Geltung kommen werden, sobald wieder ein Unter-
sucher die verwickelte und unerquickliche Frage nach der
Erregbarkeit der vorderen Rückenmarksstränge zu behandeln
unternimmt. Wahrscheinlich wird sich in dieser ein Einver-
nehmen unter den Physiologen ohne Schwierigkeit erzielen
lassen, wenn man nicht mehr, wie bisher. das Dilemma stellt,
ob diese Stränge erregbar seien oder nicht, sondern wenn man
die natürlichen Ursachen aufzufinden strebt, weshalb nach ihrer
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 32
498 Giuseppe Colasanti:
Reizung der Erfolg entweder ausbleibt oder doch eine beständig
verschiedene Form annimmt. Das Problem hat eine zu grosse
Analogie mit dem soeben behandelten der nervösen Axe, als
dass es nicht mit gleichen oder doch mit ähnlichen Mitteln zu
lösen sein sollte.
Aehnlich nahe Berührungspunkte zwischen der Physiologie
des Kephalopodenarmes und der Wirbelthiere, wie sie eben
angedeutet wurden, existiren auch noch in Bezug auf eine
zweite am Kephalopodenarm unternommene Versuchsreihe.
Während die bisher mitgetheilten Untersuchungen dazu dienten
ein neues Licht auf die Physiologie des Rückenmarks zu wer-
fen, erweitern die jetzt zu berichtenden Versuche die Vor-
stellungen über die eigene Irritabilität der Muskelsubstanz.
Diese Vergleiche beziehen sich auf die Action der Saug-
näpfe. Wenn man mit dem Finger den freien Rand eines
Saugnapfes berührt, so tritt dieses Organ sofort in ganz be-
stimmter Weise in Function: die Muskelwand des Haftraumes
schmiegt sich an die dargebotene Oberfläche hermetisch an und
die Muskelwand des Saugraumes zieht sich kräftig zusammen.
Jedem unbefangenen physiologisch gebildeten Beobachter
wird dieser Vorgang als ein einfacher Reflexvorgang erscheinen:
die sensitiven Nerven haben die Berührung nach dem Central-
organ der nervösen Axe geleitet und dort auf reflectorischem
Wege die Contraction der Muskeln des Saugnapfes ausgelöst.
Es schien interessant zu versuchen, wie ein Saugnapf sich
benimmt, wenn er zwar gereizt wird, sich aber doch nicht an-
saugen kann. Sticht man einen Saugnapf mit einer feinen
Nadelspitze, so erfolgt ganz dieselbe Reihe von Bewegungen
wie bei der Berührung durch den Finger, aber natürlich frucht-
los. Die Muskeln des Haftraumes bewegen sich, als wenn sie
die Nadelspitze umschliessen wollten, und der Saugraum er-
weitert sich ganz als wenn durch den Haftraum wirklich ein
hermetischer Verschluss hergestellt wäre. Auch dieser Ver-
such scheint durchaus mit der Idee einer Reflexaction ver-
einbar.
Nun ist es eine höchst merkwürdige Thatsache, dass diese
Function der Saugnäpfe in vollkommen gleicher Weise auch
Anatomische und physiologische Untersuchungen u.s.w. 499
dann eintritt, wenn von einer Reflexaction absolut die Rede
nicht sein kann, nämlich an Kephalopodenarmen, aus denen die
nervöse Axe völlig herausgeschnitten wurde oder an ein-
zelnen abgetrennten Saugnäpfen. Auch diese saugen sich noch
an, wenn auch mit sehr verminderter Kraft. Die Bewegungen
des Haftraumes und des Saugraumes finden aber ganz in der
oben beschriebenen Weise statt.
Diese Thatsache schliesst sich in sehr befriedigender Weise
an an verschiedene neuere Beobachtungen über die Physiologie
muskulöser Organe.
Engelmann') hat nachgewiesen, dass die Bewegungen
des Ureter unabhängig vom Nervensystem erfolgen, ja dass der
ganze Ureter sich stets ganz so verhält, wie sich eine einzige
hohle Muskelfaser unter denselben Umständen verhalten würde.
Auch Cohnheim!) ist dazu gelangt, die Ursachen der
physiologischen ünd pathologischen Erweiterung und Verenge-
rung der Arterien direct in den Reizzuständen des Muskel-
rohres und nicht im Nervensystem zu suchen.
Der oben mitgetheilte Versuch hat gezeigt, dass selbst ein
so complieirt gebautes muskulöses Organ wie der Saugnapf
auch dann noch functionirt, wenn es nicht mehr mit Ganglien-
zellen in Verbindung steht und dass es sich — nach dem
glücklichen Ausdrucke von Engelmann — vollkommen so
benimmt, wie sich eine einzige ebenso gestaltete Muskelfaser
unter gleichen Umständen benehmen würde.
Rom, 4. März 1876.
Erklärung der Abbildungen.
Fig. 1. Durchschnitt eines Armes von Eledone moschata, dicht
an der Basis, 7mal vergr. B, innere (mit Saugnäpfen besetzte), B,
äussere, freie Fläche. A, A, die beiden Seitenflächen.
Fig. 2. Durchschnitt desselben Armes an der Spitze, 7 mal vergr.
B, B, A, A, wie in Fig. 1.
1) Zur Physiologie des Ureter. — Pflüger’s Archiv II. S. 243. 1869.
2) Neue Untersuchungen über die Entzündung. S. 25. 1873.
32*
500 Giuseppe Colasanti: Anat. u. phys. Untersuch. u. s. w.
Fig. 3. Durchschnitt durch die Basis eines Armes von Eledone
moschata, um das Verhältniss des Saugnapfes zur Armmuseulatur zu
zeigen, 7mal vergr.
Fig. 4. Längsdurchschnitt durch einen Saugnapf, 10mal vergr.
Fig. 5. Querdurchschnitt durch den Haftraum eines Saugnapfes,
10mal vergr.
Fig. 6. Durchschnitt durch die nervöse Axe eines Armes von
Eledone moschata, 7Omal vergr.; der Schnitt ist durch eine der An-
schwellungen geführt worden.
Fig. 7. Dasselbe. Der Schnitt ist durch eine der Einschnürungen
an der Basis geführt worden.
Fig. 8. Dasselbe. Der Schnitt ist durch eine der Anschwellungen
an der Spitze geführt worden.
IW Grohmann. sc.
Archiv f.Anat: u Phyf. 1876.
I
EBoll del.
uyf. 1870.
Irchiv f Anatw Ph
Pr
Ef Bou det.
W Grohmann. sc
Uebersicht der neuen Untersuchungen über Ent-
wickelung, Bau und physiologische Verhältnisse
der elektrischen und pseudoälektrischen Organe.
Von
A. BAaBucHmn.
Hierzu Taf. XI u. XII.
Im Jahre 1869 habe ich gefunden und 1870 publicirt,
dass die von Max Schultze sogenannten elektrischen Platten
bei Torpedo keineswegs nervöser Natur sind, sondern sich aus
Muskelfasern bilden, und dass die Nervenfaserverzweigungen'
(resp. das Nervennetz) nichts Anderes, als sehr entwickelte
motorische Endplatten sind. Dieser Homologie wegen nannte
ich damals das Nervennetz „elektrische Platte“.
Im Jahre 1872 habe ich wieder im „Centralblatt für die
medicinischen Wissenschaften“ in einer vorläufigen Mittheilung
bekannt gemacht, dass auch die pseudoelektrischen Organe bei
Mormyrus und bei den Rochen, wo die Verhältnisse besonders
klar sind, sich in derselben Weise entwickeln, wie bei Torpedo.
Ungeachtet dieser Mittheilungen schreibt Darwin von
1859 bis zu diesem Moment, dass die Entstehung der elek-
trischen Organe ein Räthsel sei. Wiederholt erklärt er:
„Die elektrischen Organe der Fische bieten (in Bezug auf seine
Theorie) einen Fall von besonderer Schwierigkeit dar; denn es
ist unmöglich, sich vorzustellen, durch welche Abstufungen die
Bildung dieser wundersamen Organe bewirkt worden sein mag.“')
1) Origin of Species. „Ueber die Entstehung der Arten.“ Ueber-
setzt von Bronn. Nach der sechsten englischen Auflage berichtigt
von Carus, 1876. Cap. 6. — Fälle von besonderer Schwierigkeit in
Bezug auf die Darwin’sche Theorie. — ($S. 215.)
N EEE
502 A, Babuchin:
Nachdem er eine von vertrauenswürdigen und hervorragenden
Specialisten nicht für richtig erkannte Beobachtung erwähnt hat,
wonach die Muskelcontraction von einer der Entladung des
elektrischen Organes vergleichbaren elektrischen Erscheinung
begleitet sein soll, fährt Darwin fort: „Diese Organe schei-
nen aber auf den ersten Blick noch eine andere und weit
ernstlichere Schwierigkeit darzubieten; denn sie kommen in
ungefähr einem Dutzend Fischarten vor, von denen mehrere
verwandtschaftlich sehr weit von einander entfernt sind. Wenn
ein und dasselbe Organ in verschiedenen Gliedern einer und
derselben Klasse, und zumal bei Formen mit sehr auseinander
gehenden Gewohnheiten auftritt, so können wir gewöhnlich
seine Anwesenheit durch Erbschaft, von einem gemeinsamen
Vorfahren, und seine Abwesenheit bei anderen Gliedern durch
Verlust, in Folge von Nichtgebrauch oder natürlicher Zucht-
wahl, erklären. Hätte sich das elektrische Organ von einem
alten, damit versehen gewesenen Vorgänger vererbt, so hätten
wir erwarten dürfen, dass alle elektrischen Fische auch sonst
in näherer Weise mit einander verwandt seien; dies ist aber
durchaus nicht der Fall. Nun giebt auch die Geologie durch-
aus keine Veranlassung zu glauben, dass vordem die meisten
Fische mit elektrischen Organen versehen gewesen seien, welche
ihre modifiecirten Nachkommen eingebüsst hatten. Betrachten
wir uns aber die Sache näher, so finden wir, dass bei den
verschiedenen, mit elektrischen Organen versehenen Fischen,
diese Organe in verschiedenen Theilen des Körpers liegen,
dass sie im Bau, wie in der Anordnung der verschiedenen
Platten und nach Pacini in dem Vorgang oder den Mitteln,
durch welche Elektrieität erregt wird, von einander abweichen,
endlich auch darin, dass die nöthige Nervenkraft (und dies ist
vielleicht unter allen der wichtigste Unterschied) durch Nerven
von weit verschiedenen Ursprüngen zugeführt wird.
Es können daher bei verschiedenen Fischen, die mit elek-
trıschen Organen versehen sind, diese nicht als homolog, son-
dern nur als analog in der Function betrachtet werden. Folg-
lich haben wir auch keinen Grund, anzunehmen, dass sie von
einer gemeinsamen Stammform vererbt werden; dann wäre
Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 503
dies der Fall, so würden sie einander in allen Beziehungen
gleichen. Die grössere Schwierigkeit zu erklären, wie ein
allem Anschein nach gleiches Organ in mehreren, entfernt von
einander verwandten Arten auftrat, verschwindet; es bleibt uns
die geringere, aber immer noch grosse, durch welche allmäh-
liche Zwischenstufen diese Organe sich in jeder der verschiedenen
Gruppen von Fischen entwickelt haben.“
Weiter äussert sich Gegenbauer in seinem „Grundriss
der vergleichenden Anatomie“ 1874 (S. 520) über elektrische
Organe ganz entschieden: „Ob sie in genetischem Zusammen-
hange mit Muskeln stehen oder nicht, ist unbekannt.“ Er fügt
aber die elektrischen Organe den Muskeln bei, „weil die Ner-
ven auch in ihrer Endigungsweise mit jenen der motorischen
Nerven in den Muskelfasern übereinkommende Verhältnisse
‚darbieten*“.
Dagegen erlaube ich mir zu bemerken, dass die Ulassifi-
cation der Organe nach einem einzigen] Mel ziemlich ge-
fährlich ist. Danach gälte die Regel, dass die Organe und
auch Körpertheille, bei denen die Nervenendigungen ent-
sprechende Verhältnisse darbieten, analog, homolos u. s. w.
sind. Aber vor Kurzem ist entdeckt worden, dass auch in den
Sehnen Endplatten existiren, welche beinahe ganz aussehen,
wie die grossen motorischen Platten. Zwar hat im vorigen
Jahre ein Forscher dahin sich geäussert, dass die Muskelfasern
. nichts Anderes als Bindegewebzellen sind. Aber ein solches
Streben zur Verallgemeinerung fördert am Ende die Wissen-
schaft in Nichts, und ist mehr leidenschaftlicher, als wissen-
schaftlicher Natur.
Weiter möchte ich fragen, welche übereinstimmenden Ver-
hältnisse die elektrischen Organe von Malopterurus mit den
Muskeln darbieten. In diesem Fall könnte man sagen, dass
die elektrischen Organe des Malopterurus darum den Muskeln
beigesellt werden müssen, weil sie mit keinem einzigen Organ
im ganzen Thierreich übereinkommen.
Es ist wahr, dass W. Krause vor einigen Jahren sich
dahin sesprede hat, dass die motorischen Platten wie die
elektrischen wirken sollen. Aber diese Meinung war nicht die
504 A. Babuehin:
Folge von eingehenden wissenschaftlichen Untersuchungen, viel-
mehr stützte sie sich auf zwei ganz falsche Gründe. Erstens
hat W. Krause sich durch Prof. Meissner’s Endeckung ver-
führen lassen, wonach die Muskeln bei der Contraction in
einem gewissen Momente eine positive Schwankung ihres
Stromes zeigen. Aber Prof. du Bois-Reymond hat nach-
gewiesen, dass diese Entdeckung Meissner’s, obschon ihr eine
richtige Thatsache zu Grunde liegt, doch auf unrichtiger Deu-
tung der Erscheinungen beruhte.) Zweitens hat W. Krause
eine falsche Vorstellung von motorischen Platten gehabt; er
glaubte, dass sie Säckchen darstellen, in welche die motorischen
Fasern eindringen. In Folge dessen schienen sie ihm den
elektrischen Endkörpern (resp. Platten) bei Malopterurus sehr
ähnlich zu sein, von welchen er, wie damals überhaupt die
Gelehrten, keinen -richtigen Begriff hatte. So kam es, dass er
das Unbekannte durch Vergleichung mit einem anderen Un-
bekannten erläutern wollte. Uebrigens hat W. Krause den
Bau der motorischen Platten (einige Nebensachen ausgenom-
men) früher und richtiger als viele Andere erkannt.
Meiner Meinung nach ist vor Allem die Entwickelungs-
geschichte berufen, in wissenschaftlicher Weise Aufschluss über
die Stellung zu geben, welche die elektrischen Apparate unter
anderen Organen einnehmen sollen, und das zu erklären, was sogar
dem scharfsinnigen Darwin unerklärbar blieb. Es ist dies auch
vielleicht der einzige Weg, die alte, phantastische Ansicht von
der Analogie der elektrischen Organe und der Muskeln, eine
Ansicht, welche sich im Grunde nur auf die gleiche Abhängig-
keit der Muskeln und der elektrischen Organe von den Nerven
stützte, zu verwirklichen, und die Voraussetzung zur Thatsache
zu erheben. Trotzdem ist meine Arbeit über die Entwickelung
der elektrischen Organe, wie aus oben Gesagtem zu ersehen,
hervorragenden Biologen der Gegenwart so gut wie unbekannt
geblieben.
Prof. du Bois-Reymond hat die Ergebnisse meiner
mühsamen, gewissenhaften Untersuchungen mit den unbegrün-
deten Voraussetzungen von W. Krause verwechselt und glaubt,
1) Dies Archiv, 1873. S. 564 ff.
vr EN NO
Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 505
dass ich schon zu weit gehe, wenn ich elektrische Organe als
metamorphosirte Muskeln betrachte oder als Muskeln, aus wel-
chen die contractile Substanz ausgezogen ist.!)
In seinem „Handbuch der menschlichen Anatomie“ 1876,
gedenkt W. Krause meiner Untersuchungen vorübergehend
mit den Worten: „Auch aus der Entwickelungsgeschichte leitet
Babuchin eine Homologie der elektrischen und motorischen
Endplatten“ ab u. s. w., fügt aber hinzu: „wenn das wahr
ist“. (l)
Unterdessen sind die neuen Untersuchungen von Prof.
de Sanctis über die Entwickelung der elektrischen und
pseudoelektrischen Organe erschienen.°)
Die Ergebnisse von Prof. de Sanctis weichen von den
meinigen sehr ab; da aber die Arbeit von de Sanctis
viel später als meine Mittheilungen erschienen ist, so könnte
es geschehen, dass Nichtspecialisten jene für die richtigere
hielten, um so mehr, als dieselbe von der Neapolitanischen
Akademie prämiirt worden ist. Dies veranlasst mich, meine
1) An dieser Verwechselung trage ich übrigens selbst die Schuld.
Meine Mittheilungen von 1869 und 1872 habe ich abschreiben lassen
müssen und war unglücklicherweise verhindert diese Abschrift vor
dem Druck durchzusehen, so dass sich dabei zuweilen sinnentstellende
Fehler eingeschlichen haben, die ich im „Centralblatt“ (1875) in einer
Berichtigung theilweise angeführt habe.
[Ich glaube mich einer Verwechselung der Art, wie der Hr. Verfasser
sie mir vorwirft, nicht schuldig gemacht zu haben, und auch das Urtheil,
Hr. Babuchin gehe zu weit in seinen Aufstellungen, habe ich nicht
gefällt, sondern rein thatsächlich berichtet: „Hr. Krause... be-
trachtet die Einerleiheit der Endplatten mit den elektrischen Platten
als ausgemacht, und die Zurückführung der verschiedenen Formen
der Endplatten auf dasselbe Schema bietet ihm keine Schwierigkeit.
Hr. Babuchin geht auf Grund embryologischer Forschungen an
Torpedo so weit, dass er das elektrische Organ einen Muskel nennt,
aus dem die Muskelsubstanz entfernt sei“. (Experimentalkritik der
Entladungshypothese über die Wirkung von Nery auf Muskel. Monats-
berichte der Akademie u. s. w. 1874. S. 523.) Die Hrn. Babuchin
zugeschriebene Meinung ist buchstäblich seinem Aufsatz im Centralblatt
1870, S. 259, entlehnt. E. d. B.-R.]
2) Embriogenia degli organi elettrici delle Torpedine e degli organi
pseudoelettrici delle Raie. 1872.
506 A. Babuchin:
Resultate mit denen von Prof. deSanctis hier zu vergleichen,
und zu beweisen, dass er viele Entwickelungserscheinungen
falsch, oder gar nicht verstanden hat, und dass man sogar
sagen könnte, dass seine Arbeit, ausser einigen, die Entwicke-
lung der äusseren Körperform betreffenden Thatsachen, mit
meinen Resultaten gar nichts gemein hat.
Ich beabsichtige nicht, sein Werk in seiner ganzen Aus-
dehnung hier zu berücksichtigen. Ich wünsche nur, die Auf-
merksamkeit der Leser auf das Wichtigste darin zu lenken
und zwar auf das, was dazu dienen kann, einen richtigen Be-
griff von der Entwickelung der elektrischen Organe zu geben,
oder so zu sagen, die Idee und den Plan der Natur zu er-
mitteln, welche sie beim Bau der elektrischen Organe gehabt
hat.
I. Prof. de Sanctis unterscheidet fünf Entwickelungs-
stufen der Torpedo:
1) Stadio squaliforme,
2) Stadio raiforme,
3) Stadio torpediforme,
4) Stadio torpedinetta bianca,
5) Stadio torpedinetta macchiata,
und will diese verschiedenen äusseren Formen mit der Histo-
genesis der elektrischen Organe in zeitlichen Zusammenhang
bringen.
II. Er behauptet, dass im ersten Stadium, dass heisst,
wenn die, embryonalen Kiemenbogen, (welche er seit inter-
branchiai, Kiemenscheiden, nennt), noch aus indifferenten
Zellen zusammengesetzt und durch von aussen nach innen
gehende Spalten von einander getrennt sind, noch keine Spur
von einer etwaigen Anlage der elektrischen Organe zu sehen
sei. Er sah aber, dass schon in diesem Stadium in den Kie-
menbogen die Bündel von Nervenfibrillen, welche vom Central-
nervensystem ausgehen, nach aussen streben und dort endigen.
III. Zweites Stadium, — stadio raiforme, nennt de Sanctis
die Entwickelungsstufe, wo die Spalten zwischen den Kiemen-
bogen verschwinden, indem sie vom Derma überzogen werden,
und nur auf der Bauchseite fünf Löcher zurückbleiben, aus
Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 507
welchen äussere oder provisorische Kiemen, — nach de Sanctis
filamenti branchiali decettori, — als rothe Fäden heraushängen.
In Folge dessen sind anstatt Kiemenspalten und interbranchialer
Scheiden nur auf einander folgende Furchen und Wülste zu
sehen, oder, — wie de Sanctis sich ausdrückt — die ganze
Regio branchialis erscheint zackenförmig. "Dieses Stadium hält
de Sanctis für sehr wichtig, weil die elektrischen Organe erst
hier zum Vorschein kommen.
An senkrechten Schnitten der Regio branchialis des
Embryo sieht man unter dem Mikroskop Rudimente der Colonne
oder cilindretti elettrici. Diese Colonne befinden sich nur an
den Stellen, welche den setti interbranchiali entsprechen, dort
aber, wo das embryonale Gewebe die interbranchialen Säcke
von aussen begrenzt, fehlen die Colonne ganz und zwar nach
der Ansicht von de Sanctis aus dem Grunde, weil hier nicht
genug Raum für die Bildung derselben vorhanden ist. Die
Zellen, aus welchen die Colonne bestehen, unterscheiden sich
in nichts von den sie umgebenden embryonalen Zellen, ausser
darin, dass sie dichter an einander gedrängt sind und eine
mehr compacte Masse bilden. Was aber den feineren Bau der
cilindretti betrifft, so hält ihn de Sanctis für ein unauflösbares
Geheimniss, und nur nach langer, mühsamer Arbeit hat er be-
merkt, dass die gedrängten Zellen sich in einer bestimmten
Richtung, der Länge der cilindretti nach, an einander reihen;
die erste Reihe schliesst sich der zweiten von der Seite in
derselben Richtung und zwar der Art an, dass die Zellen der
ersten Reihe wie Zacken zwischen den Zellen der zweiten ein-
dringen und so weiter, bis eine gewisse Anzahl von Serien der
senkrechten Zellen eine Colonna oder einen cilindretto elettrico
bilden. Als de Sanctis die Embryonen in 3procentiger Chrom-
säurelösung erhärtete und die cilindretti von solchen Embryonen in
Natronlauge bearbeitete, sah er unter dem Mikroskop beim
Druck auf das Deckgläschen die Zellen sich verlängern und
einander nähern. Nach der Aufhebung des Druckes entfernten
sie sich wieder vonei nander. Aus dieser nichtssagenden Beob-
achtung hat er den Schluss gezogen, dass die Zellen sowohl
508 A. Babuchin:
in senkrechter als in horizontaler Richtung mit amorpher Kitt-
substanz zusammengeklebt sind.
Jedes von den fünf elektrischen Nervenstämmchen, welche
aus feinsten Fibrillen bestehend in der Substanz der inter-
branchialen Scheiden verlaufen, verzweigt sich unter den cilin-
dreiti elettrici. Von den grösseren Aesten lösen sich die klei-
neren Bündel von Nervenfibrillen ab, welche sich manchmal
fächerförmig ausbreiten und in die cilindretti eindringen.
IV. Bei weiterer Entwickelung der elektrischen Organe
und besonders im Stadio torpediforme spricht de Sanctis von
einigen neuen Thatsachen, welche er in den cilindretti elettrici
bemerkt hat. Er sieht in diesen cilindretti Zellen mit nieren-
förmigen Kernen, welche sehr glänzende Körnchen enthalten
und mit zwei oder drei Nervenfibrillen im Zusammenhang
stehen. Aus diesen sonderbaren Kernen entstehen durch Thei-
lung zwei oder drei neue Kerne, welche aber rund sind, und
ein jeder für sich nur eine einzige Nervenfibrille erhalten.
Diesen Befund hält de Sanctis für ungemein wichtig; denn
er glaubt, dass nur aus diesen neuen, durch Theilung ent-
standenen Zellen elektrische Platten (in Max Schultze’s Sinne)
sich bilden. Die übrigen Zellen, welche keinen nierenförmigen
Kern haben, dienen zur Bildung der Gefässe, der Schwann’-
schen Scheiden und überhaupt des Bindegewebes. In diesem
Stadium nimmt unterdessen die Zahl der cilindretti zu, und das
elektrische Organ vergrössert sich allmählich.
V. So hat de Sanctis gefunden, woraus die piastrini
elettrici sich zusammensetzen. Es fragt sich aber, auf welche
Art und Weise sie entstehen. Er findet in den cilindretti keine
Kraft, um diesen Prozess zu Stande zu bringen. Er ruft eine
vom Thätigkeitsort entfernte Maschine zu Hülfe. Es sind die
grossen Zellen, welche Verfasser Schleimzellen nennt (cellule
muciferi), welche übrigens den Fettzellen ähnlich sind und im
Derma, im Subcutangewebe und zwischen den cilindretti ruhelos
wandern. Mit der Zeit geben sie diese zwecklosen Spaziergänge
auf und dringen endlich von der Seite in die cilindretti, um
dort Nutzen zu bringen, sogar mit Aufopferung ihres Daseins.
Durch ihr seitliches Eindringen in die cilindretti wirken
Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 509
sie auf dieselben wie Keile und zerspalten sie in aus Zellen
bestehende Scheiben. Diejenigen Zellen, welche aus den
Zellen mit nierenförmigen Kernen entstanden sind, verschmelzen
zu elektrischen Platten. Die übrigen aber dienen zur Bildung
der Gefässe, des Bindegewebes, und anderer Nebentheile. Unter-
dessen schwellen die Schleimzellen mehr und mehr auf, werden
durchsichtig, hydropisch. Ihre Hülle wird immer dünner und
dünner. Auf diese Art entfernen sich die elektrischen Platten
mehr und mehr von einander, und es entstehen zwischen ihnen
mit Schleim gefüllte Räume. In diese Räume dringen die
nackten, manchmal mit Kernen versehenen Neryenfasern hinein,
um dort auf der Bauchseite der elektrischen Platten sich mehr
und mehr zu verzweigen und mit ihren nackten Enden die
bekannten engmaschigen Netze zu bilden. Man muss aber
nicht vergessen, dass ausser den eben beschriebenen Nerven-
fasern dabei noch andere sind, welche früher mit nierenförmigen
Kernen im Zusammenhange standen. Allem Anscheine nach
dienen diese Fasern zur Bildung des unbekannten weitmaschigen
Nervenfasernetzes, welches sich über das bekannte engmaschige
ausbreitet, und in dessen Knotenpunkten die Kerne der elek-
trischen Platten liegen. Damit sind in den wesentlichen
Punkten die elektrischen Organe fertig. Meiner Meinung nach
beweist diese Schöpfungsgeschichte der genannten Organe nur,
dass es unmöglich ist, eine wissenschaftliche Forschung zu
einem gewissen Preise und zu einer bestimmten Frist zu be-
stellen, und dass die Akademien mit ihren Aufgaben und
Preisen auf die gesunde Entwickelung der Wissenschaft mehr
schädlich als nützlich wirken.
Hat die neapolitanische Akademie für ihren Preis etwas
Belehrendes bekommen?
Diese Frage wird von selbst gelöst, wenn ich die Angaben
von Prof. de Sanctis eingehender beurtheile, und mit den
Ergebnissen meiner eigenen Arbeit über denselben Gegenstand
vergleiche. Damit meine ich aber n;cht, dass ich die längst
versprochene Monographie über elektrische Organe überhaupt
hier niederschreiben will; seit zwei und einem halben Jahre
verhinderte mich der Zustand meiner Gesundheit mein Ver-
Br 5
N
510 A. Babuchin:
sprechen zu erfüllen. Ich will hier, wie ich schon oben gesagt
habe, nur über die wesentlichsten Entwickelungserscheinungen
berichten, damit die Leser eine richtige Anschauung von den
elektrischen Organen und ihren Bestandtheilen bekommen. Ich
werde nicht den von Prof. de Sanctis gestellten Entwicke-
lungsstufen streng folgen, was er für sehr wichtig hält. Diese
Stadien sind wirklich wichtig, wenn man die Bildung der
äusseren Körperformen des Embryo, nicht aber, wenn man
histogenetische Erscheinungen bei der Entstehung der elek-
trischen Platten und Prismen studirt. In der That trifft man
bei allen Embryonen bis zum Anfang der Zeit, wo die elek-
trischen Platten im Begriff sind, sich vollständig auszubilden,
die primitiven elektrischen Säulchen auf verschiedenen Stufen
ihrer Entwickelung. In Folge dessen entsprechen die ver-
schiedenen Entwickelungsstufen der elektrischen Säulchen gar
nicht den so streng begrenzten, von de Sanctis aufgestellten
äusseren Formen des Embryo.
Wenn überhaupt bei der Beschreibung der Entwickelung
Perioden aufgestellt werden müssen, so ziehe ich vor, in der
Entwickelung der elektrischen Organe drei Perioden zu unter-
scheiden:
I) Allererste Anlage der elektrischen Lappen, der elek-
trischen Nervenstämme und der primitiven elektrischen Säulchen.
II) Entstehung des Plattenbildners unter fortwährender
Zunahme der elektrischen Säulchen mit ihren Hauptbestand-
theilen.
II) Ausbildung der elektrischen Platten(vonMaxSchultze),
des metasarkoblastischen Gliedes (von mir) und Entstehung des
Pseudonetzes.
In der ersten Periode kann man betreffs der Entwickelung
der Bestandtheile der elektrischen Organe sammt den Lappen
ganz ungezwungen drei Phasen unterscheiden: die erste, wo
die Kiemenbogen durch und durch aus embryonalen indifferen-
tem Gewebe bestehen und von aussen mit Epithel überzogen
sind; die zweite Phase, wo die primitiven Nervenstämmchen
in den Kiemenbogen erscheinen, und die erste Anlage der
elektrischen Lappen zu sehen ist; die dritte Phase, wo die
Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 511
Entstehung der primitiven elektrischen Säulchen bemerkbar
wird.
In dem Abschnitt des Medullarrohrs, wo später die elek-
trischen Lappen entstehen, wird der Centralcanal breiter, bleibt
aber von allen Seiten geschlossen; die Bauchwand ist dicker
als die Dorsalwand. Aus der Bauehwand zu beiden Seiten
der Medianlinie entstehen faltenförmige gegen die Dorsalwand
gerichtete Hervorragungen, welche aus eylinder- oder spindel-
förmigen Zellen zusammengesetzt sind. Mit der Zeit verlieren
die rudimentären elektrischen Lappen dieses faltenförmige Aus-
sehen. Die Zellen theilen sich in mehr oder weniger runde
“ Zellen, ihr Protoplasma schickt nach aussen Fortsätze, welche
am Entstehungspunkte konisch sind, bald aber in ungemein
dünne Fibrillen übergehen (künftige Axencylinder). Diese
Fibrillen gehen durch die Seitenwände des Medullarrohrs und
vereinigen sich bei ihrem Ausgange aus der Centralnervenmasse
zu fünf primären elektrischen, je nach der Entwickelungsstufe
und Behandlung mehr oder weniger fein granulirten Nerven-
stämmchen, welche im embryonalen Gewebe des oberen Gliedes
je eines von den fünf Kiemenbogen verlaufen und bis zur Knie-
stelle derselben reichen; hier theilen sie sich grösstentheils in
zwei oder drei Aestchen, welche sich endlich in der feinkör-
nigen Masse verlieren, wo sie unregelmässig verlaufen und
sammt denselben eine Art von Bulbus bilden, so dass man
sagen könnte, dass die genannten Aestchen mit feinkörnigen
und kolbenförmigen Anschwellungen endigen. Die Stämmchen
sind ebenso, wie die von ihnen ausgehenden Aestchen mit An-
schwellungen, mit einer dichten Schicht der Embryonalzellen
umzogen. Manche von diesen Zellen sind spindelförmig, andere
rund oder unregelmässig geformt, und lassen im frischen Zu-
stande unter dem Mikroskop Bewegungserscheinungen erkennen.
Aber bei sehr scrupulösen, an mehr als 20 Embryonen in die-
ser Phase angestellten Untersuchungen habe ich keine einzige
mit Kernen versehene Fibrille gefunden. Zwar kann man
später dicht an der Wurzel der Nervenstämmchen, und zwar
rückwärts, viele spindelförmige, mit runden Kernen versehene
Zellen beobachten, welche: medianwärts zur Centralnervenmasse
512 A. Babuchin:;:
und seitwärts nach der Peripherie sehr lange und dünne Aus-
läufer schicken, die sich an die elektrischen Stämmchen an-
schliessen. Diese Zellen gehören aber eigentlich zu Ganglien
der sensiblen Nervenwurzeln. Die Ganglien sind verhältniss-
mässig sehr gross, aber nicht scharf begrenzt. Einige von den
Ganglienzellen dringen sogar auch zwischen motorische resp.
elektrische Fasern ein, was weniger Geübte zu dem Gedanken
führen könnte, dass die Axencylinder hier und da kernhaltig
seien. Hier, glaube ich, ist der Ort kurz zu bemerken, dass
Alles dafür spricht, dass wenigstens elektrische resp. motorische
Axencylinder als Nervenzellenfortsätze betrachtet werden müssen.
Ich war so glücklich, Embryonen von der jetzt zu be-
schreibenden Periode der Entwickelung, d. h. zwischen der
Phase, wo keine Nervenfasern zu sehen sind und der, in wel-
cher schon die feinsten Fibrillen erscheinen, in so grosser
Masse zu bekommen, dass ich bei sorgfältiger unausgesetzter
Untersuchung nicht im Stande war, das ganze Material zu be-
wältigen. Aber vergebens suchte ich in der ersten Phase etwas,
was auf das Entstehen der peripherischen Nervenfibrillen aus
besonderen Zellen gedeutet hätte. Ich sah immer, dass die
motorischen Nervenfibrillen aus dem Oentralnervensystem heraus-
wuchsen. Zwar habe ich oft im oberen Gliede des Kiemen-
bogens Zellen mit kurzen Ausläufern gesehen, aber sie lagen
zerstreut im Embryonalgewebe, d. h. nicht zu regelmässigen
Reihen geordnet, und kein Forscher, mag er noch so erfahren
und scharfsinnig sein, dürfte behaupten, dass diese Zellen zur
Bildung der Nervenfasern dienten oder blos embryonale oder
ganz unschuldige Bindegewebszellen seien.
Als ich zum ersten Male gesehen hatte, dass in späteren
Stadien die embryonalen Nervenstränge ihrer ganzen Länge
nach von spindelförmigen Zellen mit sehr langen Fortsätzen
begleitet waren, und dass man innerhalb dieser Fortsätze lie-
gende, sehr feine Fibrillen unterscheiden kann, kam ich auf
den Gedanken, dass ich nervenbildende Zellen sähe. Man
könnte glauben, dass Nervenfibrillen sich aus dem Protoplasma
der spindelförmigen Zellen bilden, auf die Art, wie die aller-
FR EREN
ABER
nz
Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 513
ersten quergestreiften Fibrillen im Protoplasma der muskel-
bildenden Zellen entstehen.
Ich habe schon anderswo die Vermuthung ausgesprochen,
dass die Nervenfibrillen auf diese Art entstehen könnten, was
bestimmt zu behaupten aber sehr gewagt wäre. Das eben von
mir geschilderte Bild der spindelförmigen Zelle mit in ihr ein-
gebetteten Fibrillen, kann auch so gedeutet werden, dass diese
Zelle eine junge Bindegewebszelle sei, welche ein Stückchen
wirklicher Nervenfibrille umzogen hat, um sich später in eine
Schwann’sche Scheide umzuwandeln. Es giebt noch eine an-
dere Deutung. Die fragliche Zelle ist nichts Anderes, als eine
junge Bindegewebszelle, deren Protoplasma sich zu Binde-
gewebsfibrillen differenzirt. Wenn aber von vielen Seiten be-
hauptet wird, dass peripherische Nervenfasern aus einer Reihe
spindelförmiger Zellen zusammengesetzt sind, und dass dies die
erste Stufe der Nervenfaserentwickelung bedeutet, so beweist
das nur, dass wirklich Nervenfasern existiren, welche wie aus
langen Zellen bestehend erscheinen. Was aber die Deutung
solcher Thatsachen betrifft, so ist das Geschmackssache, nicht
aber das Resultat eingehender Untersuchungen. Die Forscher
sind sicher, dass sie früh genug gekommen sind, um die aller-
erste Bildung der Nerven zu sehen. Aber es ist möglich, dass
sie schon etwas zu spät kamen, und nichts Anderes gesehen
haben, als junge Nervenfasern mit Schwann’scher Scheide
und ohne Marksubstanz. Es kann auch geschehen, dass sie
die Entwickelung der centripetalen Nervenfasern, welche mög-
licherweise sich anders entwickeln, als die centrifugalen, sahen.
Es ist eine allbekannte Thatsache, dass auch Remak’sche
Fasern wie eine Reihe spindelförmiger Zellen aussehen. Mit
einem Wort, ich darf behaupten, dass weder ich, noch Jemand
Anderes im Besitz irgend welchen Beweises sich befindet, dass
die peripherischen centrifugalen Nervenfasern an Ort und Stelle
im mittleren Kiemenblatte sich entwickeln. Man weist beständig
auf solche Thatsachen hin, die vielfach gedeutet werden können.
Es findet also in der eben besprochenen zweiten Phase der
ersten de Sanctis’schen Entwickelungsstufe noch keine Diffe-
renzirung im embryonalen Gewebe des Kiemenbogens statt,
Beichert’s u, du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 33
514 A. Babuchin:
weil die Nervenfasern in diese Substanz von aussen eindringen.
Wenn man etwas Neues finden kann, so sind es nur kleine
Vorsprünge (zwei oder drei an der Zahl), welche auf der in-
neren Seite jedes Kiemenbogens sich befinden und später zu
äusseren Kiemen sich entwickeln. Bald aber schwellen die
Kniestellen der Kiemenbogen merklich an. Hier bekommt
jeder der fünf Bogen seitwärts einen Vorsprung und oben in
diesen Anschwellungen beginnt schon die Differenzirung des
embryonalen Gewebes. Man kann sehen, dass in der Substanz
dieser Gewebe zwei, drei, oder, je nach der Zeit, mehrere
Säulchen sich bilden, welche von der äusseren Oberfläche der
Rückenseite des Thieres bis zur Bauchfläche senkrecht sich
hinziehen und von dem embryonalen Gewebe auf allen Seiten
umgeben sind. Die Kiemenspalten sind zu dieser Zeit noch
nicht ganz geschlossen; nur etwas später wachsen die oben-
genannten Anschwellungen zusammen.
Fig. 1.
Die Hälfte eines Querschnitts durch den Kiemenbogen eines Torpedo-
embryos. a) die erste Anlage der elektrischen Lappen. b) Seitenwand
des Medullarrohrs. c) Anlage des elektrischen Nervenstammes. d) seit-
licher Vorsprung des Kiemenbogens. e) allererste Anlage der elek-
trischen Säule. Schematisch.
Mit der Zeit vergrössert sich die Zahl der Säulchen, bei
gleichzeitigem Wachsthum der zwischen ihnen liegenden Em-
bryonalgewebe, so dass die künftigen elektrischen Organe schon
dem blossen oder mit der Lupe bewaffneten Auge zugänglich
Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 515
werden. Sie bilden am Rande der Kiemen einen Saum, wel-
cher sich allmählich vergrössert und am vorderen Ende breiter
als am hinteren wird. Die elektrischen Säulchen stehen in
gleicher Entfernung von einander. Die Nervenstämme, welche
in Kiemenscheiden vereinzelt verlaufen, verästeln sich mehr
und mehr zwischen den Säulchen. Man kann sehr klar sehen,
dass einige Fibrillenbündelchen mit den elektrischen Säulchen
sich verbinden, einmal mit dem Bauchende derselben, manch-
mal mit dem oberen Ende, nicht selten auch mit ihrer Seite.
Es gelang mir aber nie die Fibrillen weit in der Substanz der
Cylinderchen selbst zu verfolgen. Ich kann nur behaupten,
dass die Fibrillen dort inwendig der Länge nach verlaufen.
Auch in dieser Phase sieht man keine kernhalt;gen Nerven-
üibrillen. Das embryonale Bindegewebe ist viel lockerer und
durchsichtiger als die Säulchen. Die Säulchen stehen mit die-.
sem Gewebe in so schwacher Verbindung, dass, wenn das Prä-
parat ein paar Tage in verdünnter Lösung von chromsaurem
Kali-Ammoniak liest, man blos nach Entfernung des Epithels
die Säulchen, welche wie regelmässig vertheilte weisse Punkte
aussehen, wie die Bienenlarven mit der Nadel aus ihren Zellen
herausziehen kann. Nach diesem Verfahren bleibt das embryo-
nale Gewebe der künftigen elektrischen Organe wie eine Wabe
mit ausgeleerten Zellen zurück.
Jetzt kommen wir zu den wichtigsten Momenten der Ent-
wickelung der elektrischen Organe. Wir werden den Bau der
elektrischen Säulchen und die Bildung der elektrischen Platten
aus denselben näher erforschen.
Prof. de Sanctis war nicht im Stande, weder das Eine
noch das Andere zu verstehen, obgleich er nach seiner eigenen
Aussage zu den stärksten Vergrösserungen Zuflucht nahm, in-
dem er wahrscheinlich glaubte, dass nur die allerstärksten Ver-
grösserungen uns alle Geheimnisse der Natur zu enthüllen ver-
mögen. Er brauchte nämlich das Hartnack’sche System
Nr. 9 in Verbindung mit Ocular 5 (!), d. h. eine sehr unvor-
theilhafte Verbindung, mit welcher er nur sehr grobe und ver-
waschene Contouren im Objeete sehen, und nur einen sehr
schwachen Begriff von dessen Bau bekommen konnte. Er
33*
ee AL, EUREN
>’
516 A. Babuchin:
untersuchte seine Embryonen in sehr starker Chromsäurelösung
(3 pCt.) erhärtet und zwar ausschliesslich an Schnitten, welche
gewöhnlich nur zu topographischen Studien des gegebenen
Organs, aber nicht zur Kenntniss des feineren Baues desselben
und der histologischen Elemente dienen konnten. Um die
Frage vom Bau der elektrischen Säulchen zu entscheiden,
hätte er ausser der Schnittanfertigung auch die zur Isolirung
dienenden Mittel benutzen müssen, welche zur Zeit seiner
Arbeit in grosser Zahl bekannt waren, und die ich vorzüglich
gebraucht habe.
Das ist die Ursache, warum die Resultate der de Sanctis’-
schen histiologischen Untersuchungen mit den meinigen nichts
gemein haben, und warum er die äusseren Formen der Ent-
wickelung der elektrischen Organe so schön beschrieben, histo-
genetische Verhältnisse aber so gut wie gar nicht verstan-
den hat.
Es ist ganz richtig, dass beim ersten Anblick isolirte
elektrische Säulchen, welche zu allererst in den obengenannten
Vorsprüngen der Kiemenbogen erscheinen, als aus dicht ge-
drängten Zellen bestehend sich darstellen. Es gelingt auch
sehr selten, die einzelnen Elemente zu isoliren, sogar nach
Gebrauch der macerirenden Flüssigkeiten, weil wegen der
Kleinheit der Säulchen selbst es sehr schwer ist, dieselben mit
Nadeln zu zerzupfen; wenn dies aber einmal gelingt, so kann
man klar sehen, dass die gedrängten verschieden gestalteten
embryonalen Zellen die Bündel der langen Zellen von allen
Seiten umgeben. Diese Zellen sind im Anfang schmal, haben
einen oder zwei verhältnissmässig grosse Kerne mit Kern-
körperchen. Bald werden sie aber dicker und im Protoplasma
derselben bildet sich ein mehr oder weniger starker Faden,
welcher grösstentheils seitlich liegt und in gerader Richtung
oder hier und da gebogen die ganze Zelle durchläuft. Derselbe
ist quergestreift und steht in keinem Zusammenhange mit
Kernen. Uebrigens hängt die grössere oder geringere Schärfe
der Querstreifung von der Bearbeitung und von günstiger Be-
leuchtung des Präparats ab. Es ist jedenfalls keine leichte
Aufgabe, diese Querstreifung beim ersten Blick in’s Mikroskop
Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 517
zu unterscheiden. Es sind dazu erforderlich ein gutes Objectiv
mit grosser Oefinung, passende Behandlung und gute Beleuch-
tung. Ich habe das nach zweimonatlicher Arbeit zum ersten
Mal an einem sehr hellen Tage mit sehr gelungenem Objectiv
(Nr. 9) (trocken) und Ocular 2 von Hartnack an einem zer-
zupften Präparate, welches 24 Stunden in Müller’scher Flüssig-
keit lag, wahrnehmen können. Es giebt Reagentien, welche
die Querstreifung ganz und gar vernichten, und nach ihrer
Wirkung bleibt nur der ungestreifte Faden mit Protoplasma
und Kernen zurück. Die vorzüglich von mir gebrauchte Flüssig-
keit, welche die histologischen Elemente leichter isolirbar macht,
indem sie sich mehr als alle macerirenden Flüssigkeiten ver-
schont, so dass sie wie im lebendigen Zustande erscheinen,
werde ich in der versprochenen Monographie später ebenfalls
namhaft machen, nachdem ich ihre Wirkung näher studirt
haben werde; denn auch mit dieser Flüssigkeit werden nicht
immer gute Resultate erreicht.
Jeder, welcher Gelegenheit gehabt hat, die embryonalen
Bündel der kurzen Muskelfasern bei Torpedo zu sehen, kann
bei Betrachtung der zerzupften elektrischen Säulchen nichts
Anderes sagen, als dass er embryonale Muskelfasern vor sich
hat, Das sagten auch alle Sachkundigen, denen ich meine
Präparate zeigte. Einige solche Präparate, welche schon seit
sieben Jahren conservirt worden, hatte ich vor kurzem Gelegen-
heit dem Prof. du Bois-Reymond zu demonstriren. Einige
dabei anwesende Herren glaubten darin embryonale Muskel-
fasern zu erkennen, obwohl sie vor ihren Augen nur zerzupfte
elektrische Säulchen hatten.
Aus dem Gesagten folgt, dass die ersten Anlagen der
elektrischen Prismen bei Torpedo eigentlich im strengen Sinne
des Wortes die ersten Anlagen von Muskelfasern sind. Mit
der Zeit nimmt in jedem Säulchen die Anzahl der Muskelfasern
zu. Das weitere Wachsthum (ich will jetzt schon bestimmt
sagen) der Muskelfasern besteht darin, dass ihre Kerne, resp,
Muskelkörperchen sich vielfach theilen und in Folge der Proto-
plasmazunahme sich von einander entfernen, so dass man am
Ende sieht, dass die Säulchen aus Bündeln langer, dicht neben
518 A. Babuchin:
einander liegender, mit vielen Kernen versehener Fasern, nur
mit darin verlaufenden quergestreiften Fäden, bestehen. Zu
dieser Zeit findet man zwischen den Fasern nur hier und da
der Länge nach verlaufende Fibrillen; aber zwischen den
Muskelfasern kann man keine Zellen finden. Dagegen an der
Oberfläche sind die Bündel von allen Seiten immer von dicht
gedrängten embryonalen Zellen umgeben, mit welchen sie ein
aus dem übrigen embryonalen Gewebe leicht isolirbares Ganze
bilden; wie schon oben gesagt worden ist, will ich diese Zellen
äussere Belegzellen nennen.
Prof. de Sanctis hat nämlich auf dieser, nicht aber auf
der frühesten Stufe der Entwickelung stehende Säulchen ge-
sehen, und da er die einzelnen Elemente’nicht zu isoliren ver-
mochte, glaubte er, wie aus Nr. III ersichtlich ist, dass die .
Säulchen nur aus den spindelförmigen Zellen bestehen, welche
eine besondere Anordnung haben, und in senkrechter wie
horizontaler Richtung mit amorpher Kittsubstanz zusammen-
geklebt sind. Meinen Untersuchungen nach lege ich den
Schwerpunkt der Ausbildung der elektrischen Prismen und
elektrischen Platten in die merkwürdige Metamorphose der
Muskelfasern. De Sanctis glaubt aber, dass hier die von
ihm gesehenen grossen Zellen mit nierenförmigen Körpern die
Hauptrolle spielen.
Er behauptet, dass diese Zellen sich theilen sollen, um,
indem sie miteinander verschmelzen, später zur Bildung der
elektrischen Platten zu dienen. Vergebens suchte ich diese
Zellen an meinen sehr gelungenen Präparaten, bis ich mich
überzeugen musste, dass Alles, was de Sanctis von diesen
Zellen gesehen, Täuschung war.
In der That geht die allererste Bildung der elektrischen
Platten in folgender Weise vor sich. Die Enden der embryo-
nalen Muskelfasern, welche gegen die Bauchseite gerichtet sind,
schwellen auf. Diese Anschwellung kommt daher, dass der
dem Bauchende nächste Kern der Faser sich in zwei andere
theilt. Sie entfernen sich nicht mehr von einander wie früher
der Länge der Faser nach, sondern bleiben nebeneinander
liegen. Das Endstück des Protoplasmas, von den neugebildeten
Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 519
Kernen anfangend, nimmt an Dicke zu. In der Substanz des-
selben liegt nicht nur die Verlängerung der oben beschriebenen
quergestreiften Fäden, sondern es kommen noch zwei oder drei
andere Fädchen zu Tage, welche einen geradlinigen oder
wellenförmigen und ziekzackförmigen Verlauf nehmen und quer-
gestreift sind. Sie stehen grösstentheils in Verbindung mit
ursprünglichen gestreiften Fäden und erscheinen als gabelförmige
Verzweigung der letzteren. Das Ganze erinnert an einen Quast,
welcher an einer mit Knoten (Muskelkerne) versehenen Schnur
hängt. Wenn das Präparat so liest, dass die Ursprungsstelle
der Fäserchen mit Kernen zugedeckt ist, entsteht der
Schein, als ob die Fädchen mit Kernen im Zusammenhange
stehen. Jetzt ist begreiflich, was die de Sanctis’schen nieren-
förmigen Kerne mit Nervenfäserchen bedeuten. Wenn das
Präparat zu stark erhärtet ist, verbacken sich die nebenein-
ander liegenden Kerne so stark mit einander und werden so
undurchsichtig, dass die Grenze zwischen ihnen sehr schwer
zu unterscheiden wird, und zwei Kerne als ein einziger er-
scheinen. Das Trugbild wird noch täuschender, wenn die
Kerne nebeneinander in gekrümmter Linie liegen, was immer
der Fall ist mit der quastenförmigen Anschwellung, deren
Kopf verschieden angeordnete Kerne bilden. Die quergestreiften
Fibrillen sind ohne allen Zweifel die Nervenfäserchen von de
Sanctis.
Also: die allererste Metamorphose der langen embryonalen
Muskelfasern, aus welchen die Säulchen bestehen, unterscheidet
sich dadurch, dass das Bauchende der Muskelfasern sich in
quastenförmige Gebilde umwandelt. Da aber diese Gebilde zu
derselben Zeit die allererste Anlage der elektrischen Platten
sind, so wollen wir der Kürze wegen diese quastenförmige
Anschwellung „Plattenbildner* nennen. Die entgegengesetzten
Enden der Muskelfasern sind abgerundet, manchmal aber ge-
schweift zugespitzt. Die quergestreiften inneren Fäden reichen
bis zu dieser Spitze. In den abgerundeten Enden aber theilen
sie sich nicht selten in zwei Fibrillen, was überhaupt an em-
bryonalen Muskelfasern immer wahrzunehmen ist.
Ich habe schon früher gesagt, dass im Anfange die Muskel-
520 A. Babuchin:
fasern die ganze Länge der Säulchen einnehmen. Dann wäre
es unbegreiflich, warum die Plattenbildner nicht nur am Bauch-
ende der Säulchen sichtbar sind, sondern auf verschiedener
Höhe der Säulchen sich befinden; aber ich habe auch früher
gesagt, dass die Säulchen mit der Zeit stärker werden und /
zwar dadurch, dass die neuen embryonalen Muskelfasern in/
diesen Säulchen vielleicht von äusseren Belegzellen sich bilden.
Diese sind jedenfalls kürzer und ihre Bauchenden reichen nicht
bis an die Bauchenden der Säulchen. Sie metamorphosiren sich
immer auf die Art, wie die früher entstandenen Muskelfasern,
das heisst, dass ihre Bauchenden sich zu Plattenbildnern um-
wandeln. Ich habe auch nicht selten beobachtet, dass irgendwo
in der Mitte einer Muskelfaser die Vermehrung der Kerne
stattfindet, welche mit der Zeit einen Haufen bilden. Gleich-
zeitig schwillt auch auf einer gewissen’ Strecke das Muskel-
protoplasma auf. In Folge dessen entsteht ein quastenförmiges
Gebilde, dessen Basis, das heisst die Plattenbildner, eine ge-
wisse Zeit mit dem Bauchabschnitte der Muskelfasern in Ver-
bindung steht. Manchmal kann man diese Verbindung sehr
lange Zeit sehen. In Folge dieses Prozesses stellen sich die
Plattenbildner als beinahe regelmässig in der Substanz der
Säulchen zerstreut dar.
Um die Aufmerksamkeit der. Leser durch detaillirte Be-
schreibung von Nebenumständen nicht zu zerstreuen, werden
wir zuerst ausschliesslich die Entstehung der elektrischen
Platten bis zur vollständigen Ausbildung derselben verfolgen.
Der Prozess ist sehr einfach. Der nicht angeschwollene Ab-
schnitt der Muskelfasern bleibt immer auf derselben Stufe der
embryonalen Entwickelung, und wenn eine Veränderung an diesen
zu bemerken ist, so ist das ihre fortwährende Verlängerung und
gleichzeitig ihre Verschmälerung, ohne dass sie dabei ihre
Querstreifung verlieren. Das Protoplasma umzieht zu dieser
Zeit den quergestreiften Faden, als sehr dünne kaum unter-
scheidbare Hülle. (Ich muss hier davor warnen, dass man
nicht durch unvorsichtige Zerzupfung eine Muskelfaser sehr
ausdehne, denn dadurch verschwindet die protoplasmatische
Hülle und Querstreifung ganz.) Was die Plattenbildner betrifft,
Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 52]
so besteht ihre Metamorphose nur in ihrer Vergrösserung,
Formveränderung und fortwährender Kernvermehrung.
So wandeln sich die Plattenbildner vor Allem in birn-
förmige Körper mit sehr langem, knotigem und quergestreiftem
Stiel um. Eine Anzahl der Kerne liest im dorsalen Ab-
schnitt des Körpers, wo der Stiel sich an der Verbindungs-
stelle allmählich konisch ausbreitet. Der Bauchabschnitt der
Plattenbildner stellt ein beinahe durchsichtiges oder je nach
der Bearbeitung feinkörniges Protoplasma dar, welches von
einer Anzahl Fäserchen durchzogen ist. Diese erstrecken sich.
von der Basis des birnförmigen Körpers zu den Kernen, mit
welchen sie aber keine Verbindung eingehen, sondern durch
oder auch über dem Haufen derselben sich an die quergestreiften
inneren Fäden des Stieles anschliessen.
Manchmal habe ich bemerkt, dass einige von den be-
schriebenen Fäserchen quergestreift sind. Man muss daher
annehmen, dass auch zu dieser Zeit in der protoplasmatischen
Abtheilung der birnförmigen Körper eine fortwährende Bildung
der Muskelfibrillen stattfindet.
Ich habe nicht selten die feinkörnigen und cylindrischen
Fortsätze gesehen, welche von der Basis der Plattenbildner
ausgehen und gleich Kerzen senkrecht stehend ihren Rand
umgeben. Diese Fortsätze, (zwei, drei bis vier an der Zahl),
verschwinden bald ganz und gar. Ich habe endlich Fortsätze
auch an mikroskopisch kurzen Fasern bei anderen Fischen
bemerkt.
Die ganze äussere Ansicht der Säulen stellt sich dann so
dar, als ob sie aus, mit embryonalen Zellen umgebenem, kugel-
förmigem Gebilde zusammengesetzt seien.
Es sind wahrscheinlich jene wanderlustigen Schleimzellen,
welche de Sanctis die cilindretti elettrici wie mit Keilen in
aus Zellen zusammengesetzte Scheiben zerspalten lässt, aus
denen später die piastrini elettrici sich bilden.
Je weiter überhaupt die Entwickelung des Embryo fort-
schreitet, desto mehr verändern die Plattenbildner ihre
Form. Die Basis der birnförmigen Körper wird mehr und
mehr flach.
922 A. Babuchin:
Auch der spitzige Pol des Körpers beginnt sich abzuplatten
und verdiekt sich gleichzeitig, die Kerne streben bei fortschrei-
tender Vermehrung sich zu einer scheibenförmigen Schicht an-
zuordnen, der Stiel wird immer dünner und sitzt nicht
immer im Centrum der dicken scheibenförmigen Körper, son-
dern sehr oft seitlich; dafür vergrössert sich die Anzahl der
feinsten Fäserchen im protoplasmatischen Abschnitt, so dass
dieser Abschnitt manchmal wie quergestreift erscheint. Die
Strichelchen ziehen sich von der Rückseite in gerader Richtung
zur Bauchseite der Plattenbildner. Wenn man zu dieser Zeit
die isolirte, elektrische Säule im Ganzen betrachtet, so be-
kommt man den Eindruck, dass die Säule aus nicht ganz
regelmässigen, dicken, kuchenförmigen Körpern zusammengesetzt
ist, welche von einander durch embryonale Zellen getrennt,
nicht die ganze Breite der Säule einnehmen und nebeneinander
und übereinander liegen.
Im Querschnitte stellen zu dieser Zeit also die Platten-
bildner zwei Schichten — eine obere körnige und eine untere,
durchsichtige und quergestreifte dar; die Schichten sind an
Dicke beinahe gleich. Uebrigens kann man noch eine durch-
sichtige protoplasmatische Schicht unterscheiden, welche die
körnige von der dorsalen Seite deckt, und sich allmählich aus
einem konischen Stück der oben erwähnten birnförmigen
Plattenbildner bildet. Die Räume zwischen den kuchenförmigen
Körpern sind, wie ich schon oben gesagt habe, mit Zellen
verschiedener Form gefüllt, welche ich als innere Beles-
zellen bezeichnen will. Besonders sammeln sie sich an der
Basis der Plattenbildner und hängen sich hier fest an. Man
sieht auch lange aus dem Haufen der Zellen heraussteckende
(Nerven?) Fibrillen. Man kann manchmal sehr klar sehen,
dass diese Fibrillen mit spindelförmigen Körperchen im Zu-
sammenhange stehen. Was den Rest von früheren Muskelfasern
resp. Stielen betrifft, so werden sie dünner und verschwinden
allmählich ganz.
Von dieser Stufe der Entwickelung der Plattenbildner an
wird die Isolirung derselben immer schwieriger und schwieriger,
denn die äusseren Belegzellen bilden allmählich eine mehr und
mehr zusammenhängende Hülle um die elektrischen Säulchen.
Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 525
Nach dieser Periode platten sich die Plattenbildner unter
fortwährender Rernvermehrung mehr und mehr ab, die untere
protoplasmatische Schicht wird immer dünner, während die
dorsale sich etwas verdickt, die Keruschicht aber dieselbe
Dicke behält; am Ende nehmen die Plattenbildner die Form
runder Platten an, welche den ganzen Querschnitt der Säulchen
einnehmen. Es sind schon ausgebildete sogenannte elek-
trische Platten, in welchen die Kerne (eigentlich Zellen)
mehr der Bauchoberfläche genähert und von einander entfernt
liegen. Sie entstehen also nicht aus dem Zusammenfliessen
der embryonalen Zellen, sondern sie bilden sich durch die
Metamorphose der Myoblasten, das heisst aus vielkernigem
Protoplasma, und sind keineswegs nervöser Natur, was Max
Schultze so lange Zeit behauptete und was von Allen ange-
nommen wurde. Die Platten sind von einander durch eine
Menge von verschiedenförmigen Zellen getrennt. Sie sind
grösstentheils spindelförmig, aber mit runden Kernen versehen.
Die Isolirung der einzelnen Platten ist zu dieser Zeit ungemein
schwierig, und wenn macerirende Flüssigkeiten etwaigen Nutzen
bringen, so verderben sie zugleich die histologischen Elemente,
Ausserdem sind die Platten so ungemein dünn, dass es nur
sehr selten gelingt, wirklich eine einzige Platte zu isoliren.
Wenn aber zwei oder drei Platten einander decken, bringt es
keinen Nutzen. Wenn es mir einmal gelang, eine einzige Platte
zu isoliren, so fand ich immer, dass die Zwischenzellen sehr
stark an der Bauchseite der Platte haften, während die Dorsal-
seite ganz glatt und entblösst ist.
Das Wachsthum der elektrischen Platten geschieht nach
dem Princip des Wachsthumes der Muskelfaser bei Wirbel-
thieren.
Bei langsamer Kernvermehrung nimmt die Substanz der
Platten an Breite immer zu, die Kerne der Platten entfernen
sich mehr und mehr von einander, in Folge dessen verdicken
sich die elektrischen Säulchen immer mehr und mehr und
werden bei weiterem Wachsthum vom Druck, den sie gegen
einander ausüben, prismatisch.
Das embryonale Gewebe, welches sich zwischen den Pris-
524 A. Babuckin:
men befindet, wandelt sich allmählich zu einem echten fibril-
lären Bindegewebe um. Wenn die elektrischen Platten einmal
gebildet sind, so entwickeln sich in den Säulchen oder Prismen
keine neuen Platten mehr. Die Prismen wachsen in die Höhe
einerseits, weil die Platten sich absolut verdicken, anderseits,
weil der Zwischenraum zwischen. je zwei Platten sich ver-
grössert, indem dort das fibrilläre Gallertgewebe sich entwickelt,
in welchem die Gefässe und die gröbere Nervenverästelung
eingebettet sind.
Jetzt wenden wir uns zur Histogenese des nervösen Appa-
rats der elektrischen Organe, unter welchem ich in erster Reihe
elektrische Lappen und Nervenstämme mit ihren Verzweigungen
verstehe, in zweiter Reihe die Nervenfaserverzweigung zwischen
je zwei Platten bis zur Bildung der Nervenendplatte, welche
nach meinen früheren (im Jahre 1869) und im vorigen Sommer
(wegen der Behauptung von Prof. Boll (1873):!), dass diese
Platten ein Netz bilden) wiederholten Untersuchungen, weiter
nach Untersuchungen von Ciaccio (1869 und 1875)?) und von
Ranvier (1375)°) nichts Anderes ist als eine reiche Terminal-
verzweigung der elektrischen Nerven, was 1875 endlich auch
von Boll anerkannt worden ist.*)
Ich muss aber gestehen, dass ich mich bei Erörterung der
1) Max Schultze’s Archiv für mikroskopische Anatomie, 1873.
Bd. X. S. 101.
2) Intorno all’ intima tessitura dell’ Organo elettrico della Tor-
pedine. (Nuove Osservazioni.) Lo Spallanzani, Rivista di Scienze
Mediche e Naturali. Modena 1875. Anno XIII. Fasc. X. — Meine
neuen Beobachtungen, obwohl sie schon im Juli 1875 beendet waren,
habe ich nicht veröffentlicht, weil ich erfuhr, dass Ciaccio schon am
20. August seine Ergebnisse bekannt gemacht hatte, welche von den
meinigen nur in Einzelheiten abweichen. Die Präparate aber, welche
nach ganz anderen Methoden als den von Ciaccio und später auch
von Boll angewendeten behandelt sind, habe ich Prof. Brücke im
August während seines Aufenthalts in Venedig, im September Prof.
Schwalbe und Prof. du Bois-Reymond demonstrirt.
3) Comptes rendus etc. 20 Decembre 1875.
4) Monatsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften. 1875.
S. 710 f& — [S. oben S. 462. — Red.] ’
DE a TE
Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 525
vorliegenden Fragen nicht mit solcher Bestimmtheit oder so zu
sagen apodiktisch über Entwickelungserscheinungen äussern
kann, wie das bei Beschreibung der nicht nervösen Platten-
bildung der Fall war. Die Ursache wird aus allem Nächst-
folgenden für Sachkundige von selbst verständlich. Unter
Anderem fehlen auch einige Details, welche zu ergänzen ich
schon begonnen habe. Was die Entstehung der elektrischen
Nerven und Lappen betrifft, so habe ich für einen Journal-
artikel schon genug gesagt. Zur ausführlichen Darstellung
wäre ein ganzes Buch nöthis, daher muss ich mich hier auf
einige weitere kurze Andeutungen beschränken. Nach der von
mir schon beschriebenen Stufe der Entwickelung der Nerven-
zellen vergrössern sich dieselben allmählich und fangen an
nach allen Seiten Fortsätze auszusenden, welche anfangs breit
abgestumpft und feinkörnig sind; nachher aber verjüngen und
verästeln sich ihre Enden. Zu der Zeit, wo das Propterygium
der Brustflossen die elektrischen Organe von hinten und an
den Seiten umgiebt, findet man schon in den Lappen zwar
sehr kleine, aber ganz fertige Nervenzellen; der Axeneylinder-
fortsatz derselben lässt sich manchmal auf so lange Strecken
isoliren, dass er eine Länge von ein bis zwei Millimetern er-
reicht. Auch an so langen Axencylinderfortsätzen habe ich nie
etwas an Kerne Erinnerndes gesehen. Sie erscheinen immer je
nach der Behandlung ganz glatt und structurlos oder blass und
ausserordentlich feinkörnig; nicht selten liegt in der feinkör-
nigen Masse eine sehr feine structurlose Fibrille, was zum
Schluss führen könnte, dass der Axencylinder nicht die un-
mittelbare Fortsetzung des Protoplasma der Nervenzellen ist,
sondern in und aus dem Protoplasma des Fortsatzes sich diffe-
renzirt, wobei das Protoplasma sich später in feine Körnchen
umwandelt. Um diese Verhältnisse zu sehen ist die schonende
Behandlung nicht ausreichend; man muss ein starkes, sehr gutes,
übercorrigirtes Objectiv brauchen.
Die Nervenstämmehen verdieken sich immer unter fort-
währender Zunahme der neuen Nervenfibrillen. Gleichzeitig
schicken die Zweige der Nervenstämme in das Parenchym der
künftigen elektrischen Organe immer mehr und mehr Aetes,
526 A. Babuchin:
welche dort allseitig in verschiedenen Schichten des elektrischen
Organs manigfaltig gebogen verlaufen und scheinbare Maschen
bilden. Auf welche Weise und aus welcher Ursache diese
Verästelungen entstehen, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen.
Ich kann nur auf die eben beschriebene Thatsache hinweisen und
hinzufügen, dass sowohl die Nervenstämmchen als ihre Aeste
immer von einer Schicht dichtgedrängter Zellen umgeben sind.
Mit der Zeit dringen vielleicht diese Zellen oder ihre Nachkömm-
linge zwischen die Fibrillen und zerspalten auf diese Weise
die Nervenstämme und ihre Verzweigungen in mehr und mehr
dünne Bündel. Dadurch entstehen am Ende der Nervenzweige
neue Aestchen, welche gegen die Säule sich richten und, wie
ich schon oben gesagt, sehr oft nur wenige primitive Nerven-
fibrillen enthalten. Hier schliessen sich die Endästchen an die
Säulen sebr dicht an, indem sie entweder in der Länge, oder in
schiefer oder querer Richtung verlaufen. Nach der Entfernung
der darüber liegenden Zellen kann man sich vollkommen über-
zeugen, dass manche einzelne Nervenfibrille an ihrem Ende
sich in zwei, drei oder mehrere Aestchen theilt. Um das zu
sehen, ist es unbedingt nothwendig, gute starke Wasser-
objective und besser übercorrigirt als untercorrigirt in Verbin-
dung, mit schwachen Ocularen (Nr. 2) zu brauchen.
Auf welche Art und Weise diese Fibrillenästchen ent-
stehen, ist sehr schwer zu bestimmen; da aber alle Merkmale
fehlen, die auf irgend welche Art und Weise auf die Art der
Entstehuzg der Aestchen weisen, so muss man annehmen, dass
wir es hier mit Sprossenbildungen zu thun haben, was anderswo,
wie wir später sehen werden, in der That geschieht.
Man kann sich überzeugen, dass die Fibrillen, wie ich
schon oben gesagt habe, wirklich in die Substanz der Säulchen
eindringen, schon zu der Zeit, wo dieselben noch aus Bündeln
einfacher und nackter embryonaler Muskelfasern bestehen; ihr
weiteres Schicksal aber ist beinahe unmöglich zu verfolgen.
Die Schnitte der Säulchen stellen nichts besonderes dar und
nur in sorgfältig zerzupften Säulen kann man hier und da die
Fibrillen wahrnehmen, welche grösstentheils längs der Muskel-
Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u, s. w. 527
fasern verlaufen. Diese Unbestimmtheit bleibt bis zur Ausbil-
dung der elektrischen Platten.
Jetzt muss ich daran erinnern, dass zwischen den embryo-
nalen Muskelfasern, welche sich zu Bündeln resp. zu elek-
trischen Säulen vereinigen, keine anderen Zellen vorhanden
sind, oder wenigstens in sehr geringer Anzahl; dieser Zustand
dauert bis zum Beginn der Metamorphose der Bauchenden der
Muskelfasern.
Von dieser Zeit an erscheinen die Plattenbildner mit in-
neren Belegzellen umgeben, besonders an ihrer Basis. Diese
Zellen nehmen ihren Ursprung; unstreitbar von äusseren Beleg-
zellen. Sie sind von mannigfaltiger Form und aus ihren An-
häufungen stehen nicht selten eine oder zwei Fibrillen heraus
welche den Nervenfibrillen sehr ähnlich sind. Aber die näheren
Verhältnisse dieser Fibrillen zu den Platten sind mir trotz aller
meiner Bemühungen noch nicht klar. Wenn die Zellenhaufen
an Ort und Stelle bleiben, so kann man zur Ueberzeugung
kommen, dass einige von den genannten Fibrillen eigentlich -
Fortsätze der spindelförmigen Zellen sind. Ein anderes Mal
aber ist das nicht der Fall; die methodische Isolirung der
Zeilen ist mir nie gelungen, wegen der Kleinheit der Platten-
bildner zu dieser Zeit. Wenn es auch einmal gelingt bei
hundertmaliger Vergrösserung die Zellen von der Basis mit
einer Nadel zu entfernen, so schwimmen sie augenblicklich fort
oder bleiben an der Nadel haften.
Nachdem die Plattenbildner in Platten sich umwandelten,
welche die ganze Dicke der Säulchen einnehmen, findet man
folgende Verhältnisse:
Die Platten sammt den Belegzellen bestehen aus zwei
Schichten. Die dorsale Schicht bilden eigentlich durch Meta-
morphose der Muskelfaser entstehende Platten. Sie sind je
nach der Behandlung entweder ganz structurlos oder an der
Bauchseite feinkörnig. In der Substanz derselben ist eine nicht
besonders grosse Anzahl von runden Kernen eingebettet. Die
Bauchschicht besteht aus runden, spindelförmigen und auch mit
verästeltem Fortsatz versehenen Zellen. Manchmal sieht man,
dass die eine oder die andere von den letztgenannten Zellen
528 A. Babuchin:
vermittelst ihres Fortsatzes mit einem Faden in Verbindung
tritt, welcher von aussen kommt und aus einer sehr verlängerten
oder aus zwei zusammengeklebten Zellen besteht. Man kann
auch einen anderen Faden sehen, welcher mit anderen spindel-
förmigen Zellen sich vereinigt. Grösstentheils aber fehlen diese
Fäden ganz und gar. Bei genauer Betrachtung kann man
sich überzeugen, dass in der sehr feinkörnigen Masse der Faden
eine feine Fibrille durchläuft, und dass auch die mit ihm ver-
bundenen Zellen in ihrer Substanz (aber nur bei sehr glück-
licher Beleuchtung wahrnehmbare) eine Fibrille enthält; diese
Fibrille steht ihrerseits wieder in Verbindung mit der Fibrille,
welche in die Substanz von aussen kommender Fäden ein-
gebettet ist. Die obengenannten Fäden sind unstreitig elek-
trischeNervenfasern, welche nur aus der embryonalen Schwann’-
schen Scheide und dem Axencylinder bestehen. Wir kennen schon
die Entwickelung derselben. Anfangs bestehen sie aus feinen
Fibrillen, welche sich nachher zu einem mit embryonalen
Zellen umzogenen Stämmchen vereinigen. Wir wissen auch,
dass mit der Zeit diese Zellen in die Substanz der Stämmchen
eindringen und sie in Bündel zerspalten. Am Ende trennen sie
auch die einzelnen Fibrillen von einander, indem sie dieselben
rundherum umziehen und auf diese Weise die Schwann’sche
Scheide bilden. Mit der Verlängerung der Fibrillen verlängern
sich auch diese Zellen. Gleich nach diesem Process wird auch
die Marksubstanz wahrnehmbar und zwar nicht an unversehrten
Fasern, sondern nach dem Zerreissen derselben. Dann sammelt
sich die Marksubstanz in verschiedenartig gestalteten Tröpfehen
und Krümeln, welche nach ihrer Form an Myelin erinnern,
aber viel blasser und mit doppelten, aber sehr feinen Conturen
umgeben sind. Das weist darauf hin, dass die Marksubstanz
bei erster Ablagerung andere (chemische?) Beschaffenheit als
später hat.
Jetzt fragt sich, ob die spindelförmigen und verästelten
Zellen die Nervenfibrillenbildner sind, oder Bindegewebs-
körperchen, welche zur Bildung der Schwann’schen Scheide
dienen? Auf die erste, sowie auch auf die zweite Frage, kann
man nur muthmassend antworten. Viele Erscheinungen sprechen
‘
Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 529
für die erste Voraussetzung und viele auch fürdie zweite, und
das ist eben der schwierigste Punkt in der Entwickelungs-
geschichte der Nervenendplatten, den ich jedoch noch zu über-
winden hoffe; dafür aber liegt die weitere Entwickelung der-
selben klar vor Augen. An jedem Ende der fibrillenhaltigen
Zelle entstehen immer zwei Sprossen, welche mit der Zeit zu
kleinen Aestchen aufwachsen, und wieder am Ende jedes dieser
Aestchen bilden sich zwei Sprossen u. s. w.
Das Protoplasma der Zellen begleitet immer diese sprossen-
haft entstehenden Fibrillen, bildet aber immer eine dünnere
und dünnere Schicht um sie herum, welche endlich ganz ver-
schwindet. Das geschieht grösstentheils dort, wo zwei neue
Sprossen entstehen, welche bei ihrem weiteren Wachsthum und
Theilung vom Protoplasma einer neuen embryonalen Zelle um-
zogen werden. Mit dem Wachsthum der aus Muskeln ent-
stehenden Platten geht die Ramification der ' Nervenfibrillen
immer vorwärts, bis es zu der feinsten und dichtesten Ver-
ästelung oder der Bildung des sogenannten Netzes kommt,
welches in und auf einer feinkörnigen Schicht gelagert ist.
Hier entsteht diese sehr verwickelte Verästelung auch durch
fortwährende Sprossenbildung, welche auch bei den erwachsenen
Thieren fortdauert; bis zu welcher Zeit kann ich nicht sagen.
Die Zahl der allerletzten Terminalästchen ist nicht gleichmässig
an die verschiedenen Stellen der Platten vertheilt: an einer
Stelle sind die Aestchen so dicht an einander gedrängt, dass
man glauben könnte, wirkliche Netze vor sich zu sehen; an
einer andern sind die Zwischenräume so gross, dass das rich-
tige Verhältniss sogar mit Objectiv Nr. 5 von Hartnack und
Oeular Nr. 2 gleich in’s Auge fällt.
Einen ganz ähnlichen Prozess der Terminalverästelung habe
ich auch bei der Entwickelung der motorischen Endplatten
bei Torpedo ganz klar beobachtet. Dort entsteht die Terminal-
verästelung auch durch Sprossenbildung. Darüber, dass hier
zwischen Verästelung und Muskelsubstanz feine Körnchen vor-
handen sind, habe ich mich schon längst und ausdrücklich
ausgesprochen.
Auf Grund von allem oben Gesagten können wir behaupten,
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 34
530 A. Babuchin:
dass bei Torpedo ein im embryonalen Zustande sich befindendes
motorisches Organ aus für uns unbekannten Ursachen, bei
weiterer Entwickelung eine andere Bahn eingeschlagen, und
zum elektromotorischen Apparat sich gestaltet hat. Die Muskel-
fasern sind in Platten umgewandelt, denen physiologisch viel-
leicht eine sehr geringe, möglicher Weise aber auch eine sehr
wichtige Bedeutung zukommt. Dafür aber ist das, was sonst
zur Erregung der Muskelcontraction bestimmt ist, (die moto-
rische Endplatte), in Wesentlichem unverändert geblieben, und
hat sich nur enorm entwickelt. Unter diesen Umständen rufen
die motorischen Platten, wenn sie in Thätigkeit gesetzt werden,
nicht Contraction hervor, sondern erzeugen mit dem, was sich
contrahiren sollte, vielleicht auch ohne dasselbe, Elektrieität. —
Der oben ausgesprochene und ungezwungen aus der Ent-
wickelungsgeschichte entnommene Schluss findet glänzende
Unterstützung in meinen Untersuchungen der Entwickelung der
pseudoelektrischen Organe bei Rochen und bei Mormyrus;
während, wenn de Sanctis Recht hat, er meinen Begriff von
den elektrischen und pseudoälektrischen Organen ganz zerstören
würde. Ich hoffe den Lesern klar darzustellen, dass, obwohl
de Sanctis dasselbe, was ich gesehen, er die Erscheinungen
gar nicht verstanden hat. Er schreibt: „Die folgenden Resul-
tate der Untersuchungen an dem kleinsten Individuum von
Raja Schultzii kamen mir Anfangs so unerwartet vor, dass ich
es für nöthig fand, die Untersuchungen von Neuem anzustellen,
bis ich die volle Ueberzeugung von ihrer Wirklichkeit gewann.
Als ich mit der grössten Sorgfalt aus dem Schwanze der klein-
sten Rochen (bei denen die Dicke des Schwanzes in dem
Punkte, wo die pseudoälektrischen Organe beginnen, kaum ein
Millimeter betrug) den M. sacrolumbalis mit dem pseudo&lek-
trischen Organe, welches von ihm ausgeht, isolirte, sah ich,
dass das elektrische Organ gleich der Sehne des ihm ent-
sprechenden Muskels vom äussersten Ende desselben bis zu
der Spitze des Schwanzes verläuft. Das vordere Ende des
pseudo£lektrischen Organes ist zugespitzt und verbindet sich
mit den mittleren Fasern des M. sacrolumbalis. Nach hinten
verdickt sich das pseudoelektrische Organ, und nimmt die
Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 531
Form eines Konus an, dessen Seiten die Muskelfasern in
schräger Richtung erreichen, indem sie von vorne ein Zehntel
des pseudo£lektrischen Organes bedecken, und auf diese Weise
eine Art von Scheide bilden ohne sich weiter fortzusetzen. Es
befinden sich gewöhnlich in den Sehnen der Länge nach ver-
laufende Fasern, welche durch Scheidewände, gleich einem
Muskel in vieleckige Bündel getheilt werden, was man an
Querschnitten beobachten kann. In den Sehnen findet man
ausserdem auch Netze von feinen elastischen querlaufenden
Fasern. Wir haben im pseudoelektrischen Organe, welches
sehnenförmig aussieht, dieselben Verhältnisse, die hier aber
viel deutlicher zum Vorschein kommen, denn Längsscheiden
theilen das zugespitzte vordere Ende des Organs in zwei, dann
je nach Verdickung des Organs in drei, vier oder mehr Ab-
theilungen.
In Folge dieser Längstheilungen entstehen viele Colonne
beinahe von gleicher Grösse und auch diese Haupttheilungen
des Organs haben dieselbe Form wie das ganze Organ, indem
sie an dem vorderen Ende zugespitzt erscheinen, und sich in
der Mitte immer verdicken, rückwärts sich aber wieder ver-
jüngen. Ausser dieser Längstheilung giebt es noch andere
Quertheilungen, weiche die der Länge nach liegenden Sehnen-
bündel in gleicher Entfernung durchschneiden. Die Längs-
bündel sind deswegen Schritt für Schritt unterbrochen, und
das ganze Organ erscheint an der Oberfläche wie aus Vierecken
bestehend gleich der Oberfläche einer Weizenähre (Fig. 28, IV).
Die Elemente desselben sind im Arfang birnförmig, nachher
in Folge des ‚gegenseitigen Druckes viereckig und von einander
ganz isolirt, vermittelst Bindegewebes, welches Längs- und
Querscheiden bildet.
Jetzt wenden wir uns zu dem feineren Bau der Theile,
welche das pseudoelektrische Organ bilden, und zu den in-
timeren Beziehungen dieser Theile, zu Muskelfasern und
Nerven.
Wenn man diese Elemente mit Nadeln zerzupft, theilen
sie sich der Länge nach und dann, wenn sie ein wenig gezogen
werden, theilen sie sich auch der Quere nach. Das geschieht,
34*
532 A. Babuchin:
nachdem ein Stückchen vom Organ zuerst in Alkohol oder
Essigsäure gehalten wurde, oder wenn es in dieser Mischung
von Essig und Alkohol längere Zeit gekocht wurde. Die ein-
zelnen Stückchen, welche, so lange sie von einander gedrückt
waren, quadratisch aussahen, werden im isolirten Zustande ab-
gerundet und wirklich birnförmig. Am spitzen Pol des birn-
förmigen Körpers befindet sich ein picciuolo (Stift) (Fig. 38,
IV), welcher sich in eine Muskelfaser fortsetzt, welche,
nachdem sie sich verjüngt hat und den Körper erreicht, mit
dem Stift verschmilzt. Dieser Stift stellt so zu sagen den
Anfang einer grossen Anzahl elastischer Maschen dar, welche
eine Art von Skelet bilden, das dem Körper die Form ver-
leiht. Diese elastischen Fasern sind eigentlich die intercellu-
lare Substanz, welche Fasergestalt angenommen hat. Ausser
diesen dicken Fasern giebt es noch feinere, welche mit ein-
ander verklebt sind und dadurch vollkommener als die iso-
lirten Fibrillen die Streifung dieser intercellularen Substanz
behalten, welche alle elastischen Maschen anfüllt und an der
Oberfläche des Körpers eine Decke bildet.“ (Solch’ einen
klaren und eigenthümlichen Begriff hat de Sanctis von der
mäandrischen Substanz!) „Um mich vollkommen von den Ver-
hältnissen des Stieles des birnförmigen Körpers mit den Muskel-
fasern zu überzeugen, musste ich mit grösster Vorsicht einen
von diesen Körpern isoliren; dann habe ich ganz deutlich unter
dem Mikroskop gesehen, dass die Muskelfaser, welche ihrer
ganzen Länge nach eine gleiche Dicke behält, eine sehr klare
Streifung darbietet und dann, wenn sie sich ihrem Ende nähert,
sich um !/, oder !/, ihres Diameters verdünnt, eine weniger
klare Streifung zeigt, aber statt dessen feinkörnig in diesem
kurzen Raume erscheint und dann mit dem Stiele ver-
schmilzt, wie schon angeführt. Wenn man das Ganze dieses
Körpers betrachtet, so gleicht es einer Weizenähre, deren Haare
durch Muskelfasern, die Samenkapsel durch die Fasern der
feingestreiften Substanz und die Samen endlich durch einen
Körper, von welchem wir sprechen werden, repräsentirt sind.
Um die Structur eines Körperchens der pseudoelektrischen Or-
gane gründlich kennen zu lernen, musste ich das Stückchen
Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 533
in verschiedener Weise bearbeiten. Was mir am besten gelang,
war das einige Minuten lange Kochen des Stückchens in Sal-
petersäure und chlorsaurem Kali. Mit diesen Mitteln habe ich
sehr klar gesehen, dass das Körperchen, nachdem das Binde-
gewebe vernichtet war, aus einem Knäuel von elastischen Fasern
bestand, welche zu einem Netz verflochten sind. Diese Fasern
verbreiten sich in der Weise, dass sie dem Körper das Aus-
sehen eines Fensterwerkes in allen Richtungen verleihen (Fig. 31).
In das Innere dieser Fenster dringen die kernhaltigen Nerven-
fasern mit ihren letzten Enden ein, und so viel ich sehen
konnte, sind sie in Verbindung mit Fortsätzen einiger stern-
förmigen und anastomosirenden Zellen.
Da die elastischen Körper in besondere Kästchen von
membranösen Scheiben des Bindegewebes vertheilt werden, habe
ich. mir folgenden Begriff: vom pseudoälektrischen Organ ge-
macht: es entsteht aus einer Sehne, welche sich grösstentheils
in elastische netzförmige Geflechte transformirt, welche sich in
Körper verwandeln, von denen ein jeder für sich in besonderer
Beziehung zu den Muskeln- und Nervenfasern steht.
Die pseudoälektrischen Platten stellen sich im Anfange
als birnförmige Körper dar, welche nichts Anderes, als ein
Knäuel von elastischen zu einem Netze vereinigten Fasern sind,
in welchem sternförmige Zellen eingebettet sind, die mit ihren
Fortsätzen einerseits untereinander, andererseits mit Nervenfasern
sich vereinigen. Diese birnförmigen Körper stehen auch ver-
mittelst ihrer Stifte in Verbindung mit Muskelfasern“.
Dies ist der Schluss, welchen de Sanctis aus seinen
Untersuchungen zu ziehen sich bemüht. Dieser Schluss aber
und alle seine Angaben stehen von Anfang bis zu Ende in
diametralem Widerspruch mit meinen Beobachtungen. Er sagt,
dass die Entwickelung der pseudoelektrischen Organe viel
schwieriger zu studiren ist, als die der elektrischen Organe bei
Torpedo, und beklagt, dass er nicht eine volle Reihe von Em-
bryonen und kleinen Rochen gehabt habe. Ich behaupte, dass
nichts leichter zu begreifen ist, als die Entstehung der pseudo-
@lektrischen Organe. Es ist auch gar nicht nothwendig, sich
eine grosse Zahl von Embryonen oder ganz junge Rochen zu
534 A. Babuchin:
verschaffen. Nöthigenfalls kann man sich mit einem einzigen
Exemplar begnügen. Es ist ferner ganz gleich, von welcher
Grösse der junge Roche ist, denn die Bildung der pseudoelek-
trischen Organe dauert hier sehr lange Zeit. Wenn de Sanctis
noch jüngere Rochen gehabt hätte, so hätte er vielleicht unab-
sichtlich nicht die Entwickelung der pseudoelektrischen Organe,
sondern die der Muskeln und motorischen Endplatten studirt.
Es ist schon oft bemerkt worden, dass die Bestandtheile
der pseudo£lektrischen Organe so angeordnet sind, ‘als ob sie
die unmittelbare Fortsetzung des M. sacrolumbalis darstellten.
Ich füge hinzu, dass dies nicht nur dem Schein nach, sondern
auch in Wirklichkeit so sich verhält.
Nach Entfernung der Haut am Schwanze eines jungen
Rochen hat de Sanctis anstatt pseudoälektrischer Organe nur
eine Sehne gefunden, welche bis zu der Spitze des Schwanzes
sich ausdehnt. Als ich aber einen ganz durchsichtigen Schwanz
von einem sehr jungen Rochen unter dem Mikroskop bei sehr
sreller Beleuchtung betrachtete, fand ich, dass anstatt des
pseudo£lektrischen Organs nur Muskelfasern da waren, welche
sich sowohl willkürlich, als bei galvanischer Reizung heftig
contrahirten. Im Wasser verhalten sich junge Thierchen ganz
ruhig; dafür macht ein schmaler Endabschnitt des Schwanzes
fortwährend sehr mannigfaltige wurmförmige Bewegungen, so
dass manchmal die Hälfte des Schwanzes eine wellenförmige
Linie darstellt. Bei älteren Rochen kann man dies nicht mehr
bemerken. Die Muskelfasern haben ganz dieselbe Anordnung,
wie im M. sacrolumbalis, mit dem Unterschiede, dass einzelne
Muskelbänder, je mehr sie dem Schwanzende sich nähern, unter
desto spitzerem Winkel sich vorne vereinigen, so dass sie un-
weit vom Schwanzende beinahe parallel neben einander liegen.
An isolirten Muskelfasern aus dem Gebiet, wo später pseudo-
Elektrische Organe entstehen, kann man schon sehr klar mo-
torische Endplatten unterscheiden, welche aus einer reichen
Verzweigung grösstentheils einer einzelnen Nervenfaser mit
Schwann’scher Scheide aber ohne Marksubstanz bestehen.
Die Terminalästchen verbreiten sich merkwürdigerweise ganz
dicht am hinteren Ende der Muskelfaser und zwar an der
N
[i
Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 535
inneren, d. h. zur Medianlinie des M. sacrolumbalis gekehrter
Seite derselben. Grösstentheils aber nehmen die Aestchen oder
motorischen Platten den natürlichen Querschnitt der Muskel-
faser ein. Die näheren Verhältnisse kann man nicht in moto-
rischen Endplatten unterscheiden, denn dieselben stellen sich
immer nur in Profilansicht vor. Man kann nur sehen, dass an
und zwischen den Aestchen die kleinen Zellen eingelagert
sind, und dass zwischen der Muskelsubstanz und den Terminal-
ästchen feine Körnchen vorhanden sind, welche aber an mit
Säuren (ausser Chromsäure) behandelten Präparaten ganz un-
wahrnehmbar werden. Bei etwas grösseren Thieren derselben
Art (welche aber weder ich, noch die Zoologen von Fach be-
stimmen können), sowohl an Längsschnitten des Schwanzes als
an isolirten Muskelfasern, bemerkt man schon Veränderungen
an denselben. Diese Veränderungen treffen die Muskelfasern,
welche das mittlere Dritttheil des Schwanzes einnehmen, und
bestehen darin, dass das Ende der Faser unter Vermehrung
der Muskelkörperchen allmählich aufschwillt, so dass die Muskel-
faser sich schliesslich in einen kolbenförmigen Körper umwan-
delt. Zu derselben Zeit vergrössert sich: die motorische End-
platte, indem die allerletzten Terminalästchen sich verdicken
und an ihren Enden durch Sprossungsprocess immer zwei neue
Aestchen produciren. Zwischen den Aestchen befindet sich
auch zu dieser Zeit eine Anzahl kleiner embryonaler Zellen,
von welchen einige spindelförmig sind. Mit der Vermehrung
der Aestchen verbreiten sie sich mehr und mehr an der inneren
Seite des Kolben. Auch in diesem Zustande antworten die
kolbenförmigen Muskelfasern auf die galvanische Reizung.
Willkürliche Contraction aber habe ich nicht bemerkt. Die
Bewegungen des Schwanzes werden so zu sagen steifer. Es
sind dies die corpuscoli piriformi de Sanctis, welche nach
seiner Meinung aus Quertheilung der Sehnen entstanden sind
und durch und durch, d. h. sowohl der Kopf als der Fortsatz,
picciuolo, aus elastischen Fasern bestehen!
Die kolbenförmigen Muskelkörper sind desto grösser, je
mehr sie in der Mitte jedes Muskelbandes eingelagert sind;
gegen das vordere wie das hintere Ende des Muskelbandes hin
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3 vorn ar M f
FEN?
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536 A. Babuchin:
aber verkleinern sie sich allmählich, so dass man zu gewisser
Zeit an beiden Enden des Muskelbandes nur einfache Muskel-
fasern finden kann. Im Ganzen hat das isolirte pseudo£lektrische
Organ wirklich eine, wenn auch sehr entfernte Aehnlichkeit
mit einer Weizenähre. Ich gebe hier eine schematische Ab-
bildung des Uebergangs des M. sacrolumbalis in das pseudo-
elektrische Organ. /
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Fig. 2.
Längsschnitt der Uebergangsstelle des M. sacrolumbalis in das pseudo-
elektrische Organ a, a. Muskelfaserbänder; die Querstreifung ist nicht
angegeben. b. die Muskelfasern des künftigen pseudo&lektrischen
Organs, welche sich vom Winkel c. nach hinten allmählich zu kolben-
föormigen Körperchen d. umwandeln.
Die weitere Metamorphose der kolbenförmigen Muskelfasern
besteht darin, dass der Kopf derselben in der Richtung von
hinten nach vorn abgeplattet wird. Die Querstreifen, welche
früher wie im Fortsatze so auch im Kopfe der Kolben beinahe
parallel angeordnet waren, biegen sich jetzt mannigfaltig in der
Kopfabtheilung (Plattenbildner) und stellen schon zu dieser Zeit
eine mäandrische Zeichnung dar. Die motorische Endplatte
verbreitet sich mehr und mehr auf dieser Seite. Die sprossen-
artige Bildung der neuen Aestchen schreitet immer weiter
vor. Die vermehrten Muskelkörperchen werden rund oder
elliptisch und sind von der körnigen Masse, welche sich in
Goldchlorid tief schwarz färbt, wie von einem Hof umgeben.
Sie sind in der mäandrisch gestreiften Substanz nicht tief einge-
bettet, wie Max Schultze glaubte, sondern liegen an ihrer
Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 537
Oberfläche. Die älteren Nervenästchen fangen schon an sich
mit einer sehr feinen Schicht Marksubstanz zu umgeben.
In Folge des Wachsthums wendet sich die mäandrisch
gezeichnete Oberfläche nach vorn sammt der motorischen End-
platte.
Ich habe bis jetzt ausschliesslich auf die Bildung der quer-
gestreiften oder mäandrisch gestreiften Substanz und auf die
fortschreitende Entwickelung der motorischen Endplatte Rück-
sicht genommen. Auf der entgegengesetzten Seite geht ein
anderer Process vor sich; dort kann man, wenn die Muskel-
fasern noch ein kolbenförmiges Ansehen haben, eine stärkere
Muskelkernvermehrung unter gleichzeitiger Zunahme des sie
umgebenden Protoplasmas bemerken. Man sieht eine unter-
brochene Schicht von blassem, körnigem Protoplasma mit einer
Anzahl eingebetteter, runder oder elliptischer Kerne. Aus dem
Protoplasma entstehen mit der Zeit mannigfaltige Hervorragungen
und kernhaltige Balken, welche sich unter verschiedenen Win-
keln mit einander vereinigen, und auf diese Art bilden sich
unregelmässige Vertiefungen, offene Lacunen zwischen densel-
ben. Der Boden der Lacunen besteht aus durchsichtigem,
kernhaltigem Protoplasma, durch welches mäandrisch gezeichnete
Substanz schimmert. Mit dem Wachsthum des elektrischen
Körpers nimmt die Zahl der Balken zu, sie wachsen in die
Höhe wie in die Länge, wodurch die Lacunen sich auch ver-
grössern und tiefer und abgerundeter werden. Auf dem Boden
derselben entstehen wieder neue Balken und in Folge dessen
neue Vertiefungen. So dauert dieser Process unter beständiger
Kernvermehrung und Zunahme des Protoplasmas immer fort
bis sich zuletzt der sogenannte Schwammkörper vollständig
ausbildet, welcher von der hintern Seite ganz so wie ein Ab-
schnitt von Froschlungen ohne Gefässe aussieht. Was den
Fortsatz des früheren kolbenförmigen Körpers betrifft, so ver-
liert er allmählich die Querstreifung und atrophir. Das
geschieht aber sehr spät, und ich beobachtete diese Fortsätze
noch an 15 Cm. langen Rochen. Die mäandrisch gezeichnete
Substanz bildet nicht bei allen Rochenarten eine zusammen-
hängende Schicht. Bei Raja quadrooculata wandelt sich die
538 A. Babuchin:
quergestreifte Muskelsubstanz in starke, kernhaltise und netz-
artig verflochtene Fasern um, welche de Sanctis irrthümlich
für elastische Fasern genommen hat, und als Skelet der
pseudoelektrischen Platten betrachtet.
Ich halte für überflüssig zu erwähnen, dass zwischen den
elektrischen Platten sammt den dazu gehörenden Nerven binde-
gewebige Scheiden sich entwickeln, so dass das elektrische
Element von allen Seiten vom Bindegewebe umgeben bleibt;
mit anderen Worten, in sogenannte Kästchen eingelagert ist.
An gelungenen Längsschnitten des pseudoelektrischen Or-
gans kann man an jedem spindelförmigen Hauptabschnitt des-
selben, weleher aus früheren Muskelbändern entstanden ist, von
vorn nach hinten folgende Schichten unterscheiden.
1) Die dichte bindegewebige Scheide, welche theilweise
Blutgefässe und auch vereinzelte starke Nervenfasern, oder
kleine Bündel derselben enthält.
2) Die Nervenfaserschicht, in welcher ungezwungen drei
Lagen zu unterscheiden sind.
a) Die vordere, welche grösstentheils markhaltige dicho-
tomisch getheilte Nervenfasern enthält.
b) Die mittlere, wo ausschliesslich nur marklose mit
Schwann’scher Scheide versehene und dichotomisch
verzweigte Nervenfasern sind.
c) Die hintere Lage, die von zahlreichen Terminalver-
zweigungen eingenommen ist.
Der Charakter dieser Terminalverästelung ist ganz derselbe,
wie der der Terminalverzweigung an früheren motorischen
Endplatten, d. h., die Aestchen sind nicht horizontal gelagert,
wie das z. B. bei Torpedo der Fall ist, sondern sie stre-
ben in mehr oder weniger senkrechter Richtung zur hinteren
Oberfläche der elektrischen Platten. Am Ende schicken sie
Sprossen, welche sich in der feinkörnigen Masse verlieren, und
so weit meine Erfahrung reicht, weder weit- noch engmaschige
Netze bilden, wie Max Schultze sie beschrieben und
abgebildet hat. Ausführliches darüber s. im nächstfolgenden
Abschnitt dieses Aufsatzes.
ne
Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 539
3) Die eben erwähnte feinkörnige Masse bildet eigentlich
die dritte Schicht.
4) Die vierte Schicht besteht aus mäandrisch gezeichneter
Substanz. Zwischen diesen zwei Schichten sind grosse von
einem Hof umgebene Kerne eingelagert.
5) Die fünfte Schicht besteht aus dem Schwammkörper.
Zwischen demselben und der nächstfolgenden bindegewebigen
Schicht existirt ein mit Gallertgewebe erfüllter Raum, in wel-
chem spärliche Biudegewebsfibrillen, feine elastische Fasern,
zahlreiche sternförmige Zellen eingebettet sind und auch er-
nährende Gefässe verlaufen.
6) Weiter kommt wieder eine bindegewebige Schicht u. s. w.
Die anisotropen Scheiben der Muskelfasern verlieren nicht
ihre optische Eigenschaft, auch in der mäandrisch gezeichneten
Substanz. Wenn man sie im farbigen polarisirtem Licht be-
trachtet, so stellen sie sich entweder aus blau und purpur, oder
aus gelb und purpur gefärbten Streifen bestehend dar, indem
die bindegewebige Schicht meistens die umgekehrte Färbung
annimmt.
Die Mormyri betreffend, will ich hier nur erwähnen, dass
bei ihnen die pseudoälektrischen Platten sich auf dieselbe Weise
entwickeln, wie bei Torpedo und beim Rochen, jedoch mit dem
wesentlichen Unterschiede, dass an der Bildung der pseudo-
@lektrischen Platte der Mormyri viele kaum metamorphosirte
und zusammengeschmolzene Muskelfasern theilnehmen, während
bei Torpedo und dem Rochen jedes elektrische Element aus
einer einzigen metamorphosirten Muskelfaser und sehr ent-
wickelten Nervenendplatte besteht. Die pseudoälektrischen
Platten bei Mormyrus sind eigentlich aus drei dicht zusammen-
geklebten Blättern zusammengesetzt, Das vordere Blatt besteht
nur aus einer ausserordentlich dünnen, structurlosen Membran,
welche von der hinteren Seite mit einer Schicht mehr oder
weniger feinkörniger Substanz bedeckt ist. Dieses Blatt ent-
hält auch zahlreiche runde Kerne. Das zweite Blatt stellt
nichts anderes als sehr abgeplattete, nach verschiedenen Rich-
tungen gelagerte, quergestreifte und zusammengeklebte Muskeln
dar. Das hintere Blatt wird durch eine sehr dünne, vor der
540 A. Babuchin:
inneren (resp. vorderen) Seite mit feinkörniger Schicht be-
deckten Membran gebildet. Hier finden sich auch zahlreiche
Kerne. Wenn man eine Platte im Ganzen unter dem Mikroskop
betrachtet, so stellt sie sich mäandrisch gestreift dar. Die
Streifen haben das Aussehen, als ob der eine aus feinen Körn-
chen, der nächstliegende aber aus einer durchsichtigen structur-
losen Masse bestehe. Das sind aber ganz falsche, von sehr
leicht anzugebenden optischen Ursachen abhängige Bilder.
In Wirklichkeit stellt das mittlere Muskelfaserblatt keine mäan-
drische Zeichnung dar, sondern die Querstreifungen kreuzen
sich unter verschiedenen Winkeln.
Somit glaube ich mit volistem Recht zu behaupten, was
ich schon viele Male ausgesprochen habe: Jedes elektrische
und pseudoälektrische Organ, wenigstens bei Torpedo, bei allen
Arten von Mormyrus, bei den Rochen und ganz sicher auch
bei Gymnotus, ist ein metamorphosirtes Muskelorgan. Die
Degeneration trifft mehr die Muskelfaser als den Nervenend-
apparat. Dieser entsteht als motorische Endplatte und bleibt
als solche bei allen möglichen Metamorphosen der Muskelfasern
bestehen. Obwohl die Muskelfasern sich immer nach demselben
Gesetze metamorphosiren, wandeln sie sich doch am Ende zu
verschiedenen Körpern um, wenn sie auch überall dieselbe ge-
netische Bedeutung haben. Es sind Formen, für welche der
Name Platte ganz unpassend ist, und da dieser Name nicht
selten mit Nervenplatte verwechselt wird, so glaube ich, dass
die „elektrische Patte* aus der Beschreibung der elek-
trischen Organe ganz und gar entfernt werden muss. Die
Nomenklatur der Hauptbestandtheile dieser Organe wäre am
besten nach ihren physiologischen Eigenschaften zu bilden. Da
aber diese so gut wie unbekannt sind, so bleibt nichts übrig,
als die Nomenklatur auf embryologische, gut bekannte Erschei-
nungen zu gründen. Man kann sagen: Das elektrische Organ
besteht aus elektrischen Elementen; jedes Element zerfällt in
zwei Glieder. Das eine Glied entsteht aus Muskelprotoplasma;
es muss darum als metasarkoblastisches Glied bezeichnet
werden. Der andere Hauptbestandtheil aber muss nervöses
Glied genannt werden. Die einzelnen Elemente sind von einander
Uebersicht der neuen Untersuchungen über Entwickelung u. s. w. 541
durch Bindesubstanz, was für eine es auch sei, getrennt und
haben immer eine regelmässige Anordnung. Damit, glaube ich,
können verschiedenartig gebaute und in verschiedenen Theilen
des Körpers gelagerte elektrische Elemente zusammengefasst
und auf ein allgemeines Schema reducirt werden. Der mor-
phologische Hauptunterschied zwischen elektrischen und pseudo-
elektrischen Organen besteht darin, dass dort embryonale,
aber schon contractionsfähige, hier aber schon ganz entwickelte
und functionirende Muskelfasern zum metasarkoblastischen
Glied sich umzuwandeln beginnen. Dort geht die anisotrope
Substanz zu Grunde, hier aber bleibt sie unversehrt bestehen.
Erklärung der Abbildungen Taf. XI.
Zitterroche.
Fig. 1. Eine primitive elektrische Säule — resp. ein Bündel von
embryonalen Muskelfasern, dicht mit äusseren Belegzellen umgeben.
Fig. 2. Eine isolirte embryonale Muskelfaser aus dem Bündel.
Fig. 3. Anfang der Metamorphose der embryonalen Muskelfaser
(quastenförmiges Gebilde). A Plattenbildner; a protoplasmatischer Theil;
5 die Kerne; B unveränderter Abschnitt der Muskelfaser.
Fig. 4. Weitere Entwickelung des Plattenbildners. Die Bestand-
theile sind aus Obigem ohne Weiteres begreiflich.
Fig. 5. Plattenbildner von derselben Stufe der Entwickelung, nur
von inneren Belegzellen umgeben.
Fig. 6. Mehr vorgerücktes Stadium des Plattenbildners ohne
Belegzellen.
Fig. 7. Ein Stück von der embryonalen elektrischen Säule von
eben genannter Stufe der Entwickelung. «a die Plattenbildner — de
Sanctis’sche Schleimzellen; 5b äussere Belegzellen; c innere Beleg-
zellen. r
Fig. 8. Die Plattenbildner von der Zeit, wo sie schon abgeplattet
sind, aber noch nicht den ganzen Diameter der Säule einnehmen.
a durchsichtige Schicht; 5 Kernschicht; ce Rest der embryonalen
Muskelfaser.
Fig. 9. Optischer Durchschnitt der elektrischen Platte (Max
Schultze) des metasarkoblastischen Gliedes (von mir). Die Zellen-
haufen, welche die dorsale Oberfläche bedecken, sind entfernt.
542 A. Babuchin: Uebersicht der neuen Untersuchungen u. s. w,
Roche,
Fig. 10. EineMuskelfaser aus dem M.sacrolumbalis von einem sehr
kleinen Rochen. a die Stelle, wo die Muskelfaser anzuschwellen beginnt
und wo die Kernvermehrung stattfindet; 5 motorische Endplatte,
Fig. 11. Nach hinten nächstliegende Muskelfaser.
Fig. 12. Eine Muskelfaser schon zum kolbenförmigen Körper
umgewandelt.
Fig. 13. Weitere Entwickelung sowohl des Plattenbildners wie
auch der motorischen Endplatte.
Fig. 14. Der Plattenbildner ist von vorne mit Nervenverzwei-
gungen bedeckt. a eine Nervenfaser mit Schwann’scher Scheide.
Erklärung der Abbildungen Taf. XII.
Fig. 15. Pseudoelektrische Platte von der vorderen Seite. Die
grossen Kerne gehören der Oberfläche der mäandrischen Schicht. Der
Rest der Muskelfaser ist im Begriff zu atrophiren. Von der Nerven-
faserschicht ist nur die vorderste, markhaltige, diehotomisch getheilte
Lage, der Klarheit wegen, abgebildet.
Fig. 16. Die Kehrseite des kolbenförmigen Körpers, welche nach
ihrer Stufe der Entwickelung zwischen den in Fig. 12 und 13 ge-
zeichneten Körpern steht. Im Centrum «a des Plattenbildners findet
starke Kernvermehrung und Protoplasmaentwickelung statt.
Fig 17. Anfang der Bildung der Balken aus dem oben genannten
Protoplasma (erste Anlage des Schwammkörpers).
Fig. 18. Kehrseite des pseudoelektrischen Elementes, welche
Fig. 15 abgebildet ist. (Schwammkörper aus Balkennetz bestehend.)
Die mäandrische Zeichnung, welche viel tiefer liegt, ist nicht ange-
geben.
Fig. 19. Kolbenförmiger Körper in polarisirtem Licht.
Fig. 20. Querschnitt von einem sehr jungen aber schon ganz
ausgebildeten elektrischen Elemente in polarisirtem Lichte. « Binde-
gewebsschicht; d Nervenfaserschicht; ce mäandrisch gezeichnete Sub-
stanz; d Schwammkörper; e Schleimschicht ; f Blutgefässe. »
AR:
em
LITE
i
Archiv f Anat u. Phys. 1876 Tax.
Dr Dogel del. e I Grohmann sc
Ein Beitrag zur Kenntniss des vermehrten mensch-
lichen Fruchtwassers (Hydramnion).
Von
TH. WEyL, cand. med.
(Aus dem physiologisch-chemischen Institut des Hrn. Prof. Hoppe-
Seyler zu Strassburg i. E.)
Die erste Analyse des vermehrten menschlichen Frucht-
wassers (Hydramnion) wurde von Siewert ausgeführt.') Sie
ist bisher die einzige geblieben. Die bei derselben befolgte
Methode genügt den heutigen Ansprüchen kaum mehr. Glaubt
doch Siewert von der Aufsuchung und Trennung der ein-
zelnen organischen Stoffe in der untersuchten Flüssigkeit Ab-
stand nehmen zu können, da dieselben seiner Meinung nach
in dem unveränderten Fruchtwasser nicht vorhanden seien,
sondern erst durch die Manipulationen der Chemiker aus den
Eiweisskörpern entständen! Dem zu Folge fasst er unter dem
Namen der „albuminösen Substanzen“ alle organischen Stoffe
mit Ausnahme der Fette und des Harnstoffes zusammen. Diese
Anschauung ist selbstverständlich unrichtig.
Das Interesse des Arztes an dieser Analyse ist beinahe noch
geringer als das des Physiologen, da die zum Verständniss und
zur Charakteristik des Falles, von welchem das Fruchtwasser
tsammt, nothwendigen klinischen Angaben durchaus fehlen.
Unsere Kenntnisse von der Zusammensetzung des mensch-
lichen Fruchtwassers bei Hydramnion sind also bisher äusserst
geringe geblieben. Diese in etwas vermehren zu können, danke
1) Zeitschr. f. d. ges. Naturw. 1863. Bd. XXI. S, 146 (Referat
Centralbl, f. d. med. Wiss, 1863. S. 399.
544 Th. Weyl:
ich der Freundlichkeit des Hrn. Prof. Gusserow, welcher mir
das Material für die folgenden Analysen überliess und die
Benutzung der geführten Krankenjournale gütigst gestattete.
Hydramnion I.
Marie Müller, 22 Jahr alt, Dienstmagd, menstruirte seit
dem 15. Jahre regelmässig alle vier Wochen. In ihrem
14. Jahre bestand sie das „Schleimfieber*. Sonst ist sie stets
gesund gewesen.
Erste Geburt Mai 1871 (Bürgerspital zu Strassburg). Die
Geburt dauerte 35 Stunden und wurde durch Kunsthülfe (Zange?)
beendigt. Todtes Kind. Bis auf eine Vesico-Vaginal-Fistel
normales Wochenbett.
Zweite Geburt 1873:
Seit der ersten Entbindung erschienen die Menses unregel-
mässig. Noch im Jahre 1871 machte sie die Pocken durch.
Sie ist jetzt von gesundem Aussehen. An der Schleimhaut der
labia minora suspecte Röthungen. Im achten Schwangerschafts-
monate wurde wegen Beckenenge die künstliche Frühgeburt
nach Tarnier eingeleitet. Kind in zweiter Steisslage. Die
unreife, lebende Frucht wog 2160 Grm. und war 43 Cm. lang.
Gewicht der Placenta 445 Grm. Länge der Nabelschnur 54 Cm.
Dauer der Geburt 9'!/, Stunde. Das Kind ging nach zwei
Monaten durch schlechte Pflege zu Grunde.
Dritte Geburt November 1875:
Die Kreissende ist von gesundem Aussehen. Abdomen stark
aufgetrieben. Deutliche Fluctuation. Geburt spontan im sie-
benten Schwangerschaftsmonate. Schädellagee Wendung auf
die Füsse. Das weibliche todte Kind wog 1447 Grm. und war
39 Cm. lang. Gewicht der Placenta 650 Grm. Länge der
Nabelschnur 59 Cm. 5500 Cem. Fruchtwasser. Geburtsdauer
9°/, Stunden.
Das Fruchtwasser war fast klar, gelblich, von alkalischer
Reaction. Spec. Gewicht 1:007. 50 Cem. der ältrirten,
völlig klaren Flüssigkeit wurden in einer Platinschale zur
Trockne verdunstet und im Luftbade bei 120° so lange
getrocknet, bis sich keine Gewichtsabnahme mehr bemerklich
Beitrag zur Kenntniss des vermehrt. menschl. Fruchtwassers. 545
machte. Der feste Rückstand betrug 11'855 p. M. Derselbe
ergab bis zum völligen Verschwinden der Kohle geglübt 6°55
p. M. anorganische Stoffe. Hieraus wurde die Summe der
organischen Stoffe zu 5'3 p. M. berechnet. Der Wassergehalt
betrug somit 958'15 p. M.
Mucin. Versetzte man die Flüssigkeit mit wenigen
Tropfen einer verdünnten Essigsäure, so erfolgte ein deutlicher
Niederschlag, der sich im Ueberschusse der Säure nur unvoll-
kommen löste. Der Niederschlag reducirte nach dem Kochen
mit verdünnter H, SO, Kupfer in alkalischer Lösung, war so-
mit Mucin.!) Dieser Körper liess sich aus seiner natürlichen
Lösung durch CO, + viel H,O nicht fällen. Hierdurch war
die Möglichkeit gegeben über die im Fruchtwasser enthaltenen
und durch H,O + CO, fällbaren Globulinsubstanzen (siehe unten)
Aufschluss zu erhalten. — Zur quantitativen Bestimmung des
Mucins wurden 50 Cem. Fruchtwasser mit einem grossen Ueber-
schuss mässig starker Essigsäure versetzt und drei Tage hin-
durch bei niederer Temperatur stehen gelassen. Der Nieder-
schlag wurde auf aschefreiem, gewogenem Filter mit Wasser,
Alkohol und Aether ausgewaschen und bei circa 120° im Luft-
bade getrocknet. Die Wägung ergab 0°] p. M. Mucin.
Das Vorkommen dieses Körpers im menschlichen Frucht-
wasser ist bereits von Scherer?) nachgewiesen worden. Seine
Angaben scheinen in Vergessenheit gerathen zu sein; wenig-
stens finde ich sie in den Lehrbüchern von Kühne, Gorup-
Besanez (dritte Auflage) und Hoppe-Seyler (vierte Auflage)
nicht erwähnt. —
Das Mucin im Fruchtwasser stammt vielleicht aus der
Wharton’schen Sulze des Nabelstrangs, in welcher sein Vor-
kommen constatirt ist.?)
Eiweisskörper. Das Vorhandensein von „Eiweiss“ in
1) Hoppe-Seyler: Handbuch u. s. w., vierte Auflage, S. 260.
2) Scherer: Zeitschrift f. wiss. Zoologie. Bd. I. S. 89 (1849). —
Lassaigne (Ann. de chim. et de phys. t. XVII. p. 300 (1821) scheint
einen ähnlichen Körper im Fruchtwasser der Kuh gefunden zu haben.
3) Hoppe-Seyler: Handbuch u. s. w., vierte Auflage, S. 259.
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 35
546 Th. Weyl:
der Flüssigkeit liess sich mit den bekannten Reaetionen nach-
weisen.
Das mit verdünnter Essigsäure neutralisirte Fruchtwasser
zeigte nach Sättigung mit NaCl] (Steinsalz) noch nach 48 Stun-
den keine Fällung. Die Flüssigkeit konnte also wesentliche
Mengen von Myosin, fibrinoplastischer (Paraglobulin) und fibrino-
gener Substanz nicht enthalten. Es ist dies zugleich ein
Zeichen dafür, dass das Fruchtwasser mit Blut kaum verun-
reinigt war.
Verdünnte man das Fruchtwasser mit dem 20fachen Volum
destillirten Wassers und leitete andauernd CO, hindurch, so
erfolgte mit Eintritt der schwach sauren Reaction eine nicht
unbedeutende Fällung eines Körpers, der sich durch seine
Löslichkeit in NaCl-Lösung (10 pCt.) als Globulinsubstanz docu-
mentirte. Kurze Zeit nach der Fällung!') löste sich der
Niederschlag vollkommen in der NaCl-Lösung auf. Es war
also das Mucin (s. 0.) durch H, O + CO, nicht mitgefällt
worden.
Der durch H, O+CO, erhaltene Niederschlag wurde durch
Filtration in der Kälte isolirt und in NaCl (10 pCt.) gelöst,
Die Lösung reagirte neutral. Sie gerann bei 75—80°. Der
gefällte Körper war also Vitellin?) (Hoppe-Seyler) oder eine
demselben sehr nahestehende Globulinsubstanz. Die Herkunft
und physiologische Bedeutung dieses Körpers an dieser Stelle
bleibt zunächst vollkommen unverständlich.
Die klare, über dem Vitellin-Niederschlage befindliche
Flüssigkeit gab, nachdem durch verdünnte Essigsäure eine
Fällung nicht mehr erreicht werden konnte, noch einmal beim
Kochen Coagulation. Hierdurch ist das Vorhandensein von
Serumalbumin wahrscheinlich gemacht.
1) Lässt man den gefällten Körper längere Zeit mit H,O in Be-
rührung, so lösst er. sich in NaCl nicht mehr vollkommen. Er ist in
ein Albuminat verwandelt.
2) Hoppe-Seyler: Handbuch, 4. Aufass, S. 235 und Weyl:
Pflüger’s Archiv, Bd. XII, S. 635.
Beitrag zur Kenntniss des vermehrt. menschl. Fruchtwassers. 547
Die quantitative Bestimmung des „Gesammt-Eiweisses“
ergab, nach Scherer’s') Methode ausgeführt, 3:5 p. M.
Allantoin. Das Vorhandensein dieses Körpers wurde
durch Darstellung einer organischen Ag- und Hg-Verbindung
wahrscheinlich gemacht, welche ich nach dem Meissner’schen ?)
Verfahren aus eirca 300 Cem. Fruchtwasser erhielt. Nach
Zersetzung dieser Verbindung durch H, S gewann ich aus der
concentrirten wässrigen Lösung beim Trocknen über H, SO,
Krystalle, welche mit denen des Allantoins übereinzustimmen
schienen. Zu einer As-Bestimmung reichte das gewonnene
Material nicht aus.
Auf Harnsäure wurde nicht geprüft.
Harnstoff. Der Nachweis von Harnstoff gelang nach Ent-
fernung der Eiweisskörper durch Coagulation, Ausfällung der
Phosphorsäure und der Chloride durch die Liebig’sche Reaction;
ferner nach Neutralisation des Fruchtwassers mit verdünnter
Essigsäure durch das Fermentpapier von Musculus;°) endlich
durch Darstellung der Krystalle, welche in H, O oder Alkohol
gelöst die bekannten Reaetionen zeigten.
Zucker liess sich nicht nachweisen (vergl. Hydramnion II.)
Beim Aufsuchen der Milchsäure nach dem Verfahren
von Liebig,*‘) wurde ein entscheidendes Resultat nicht er-
halten.°)
In dem HCl-Auszug der Asche fand sich CaO, der als
oxalsaurer Kalk nachgewiesen wurde.°)
Hydramnion 11.
Barb. Hirn, 27 Jahre alt, Dienstmädchen, war stets gesund
und menstruirte seit dem 15. Jahre meist regelmässig in drei-
wöchentlichen Perioden. — Erste Geburt: 1869 normal, ohne
Kunsthülfe. Das Kind starb nach neun Monaten. Zweite Ge-
1) Hoppe-Seyler: Handbuch, 4. Auflage, S. 336.
2) Hoppe-Seyler: Handbuch, S. 175.
3) Musculus: Pflüger’s Archiv XII, 8. 214.
4) Hoppe-Seyler: Handbuch. S. 96.
5) Siehe Hydramnion II. \
6) Siewert a. a. 0. konnte CaO in der Asche des von ihm
untersuchten Fruchtwassers nicht auffinden.
3
NEE NT BR RT TAN
548 Th. Weyl:
burt 1874: Schieflage. Wendung. Profuse Blutung nach der
Geburt. Kind lebte !/s Jahr.
Dritte Geburt den 20. Januar 1876: Die Kreisende ist
kräftig gebaut. Gesichtsfarbe etwas blass. Seit der ersten
Entbindung besteht unterbrochen Fluor albus. Die Messung
ergab ein fast normales Becken. Starke Fluctuation des Leibes.
Andauernde Krampfwehen. Künstlicher Blasensprung. Das
Kind, weiblichen Geschlechts, stellte sich in zweiter Schädel-
lage und ward ohne Kunsthülfe geboren. Es lebte, war aber
schlecht entwickelt. Länge 46 Cm. Gewicht 2380 Grm. Es
entsprach also ungefähr der Mitte des neunten Monats.
Die Placenta wog 460 Grm. Länge der Nabelschnur 46 Cm.
Dauer der Geburt 22 Stunden. Es wurden 4000 Cem. Frucht-
wasser aufgefangen.
Das Kind starb nach 24 Stunden. Die Section ergab starke
Atelektase der Lunge, besonders des mittleren rechten Lappens.
Nirgends Oedeme. Das Wochenbett verlief normal.
Das Fruchtwasser ist mit geringen Spuren von Blut ver-
unreinist, von röthlich gelber Farbe, etwa trübe. Sparsame
Fibrincoagula. Reaction neutral oder schwach alkalisch. Menge
4000 Cem. Spec. Gewicht 1'008,
Die Analyse dieses Fruchtwassers wurde nach Hoppe-
Seyler’s Angaben!) mit geringen Abänderungen ausgeführt.
Die Resultate derselben sind unten zusammengestellt.
Mucin wurde in einer besonderen Portion nach der bei
Hydramnion I angegebenen Methode bestimmt.?) Es wurden
0:2 p.M. erhalten.
Von Eiweisskörpern enthielt die Flüsigkeit ausser
Serumalbumin auch noch Paraglobulin (fibrinoplastische Sub-
stanz). Letzterer Körper ist wahrscheinlich als Verunreini-
gung durch das Blut zu betrachten. Da, wie ich mich
überzeugt habe, Paraglobulin aus seinen neutralen Lösungen
durch NaCl bei Sättigung nicht vollkommen‘) ausgefällt wird,
1) Hoppe-Seyler: Handbuch, S. 373.
2) Wenn nicht anders angegeben ist, so gelten im Folgenden für
den Nachweis der Körper die bei Hydramnion I befolgten Methoden.
3) Weyl: Pflüger’s Archiv, Bd. XII, S. 636.
Beitrag zur Kenntniss des vermehrt. menschl. Fruchtwassers. 549
so konnte nicht versucht werden, das Vorhandensein des vitellin-
artigen Körpers (vergl. Hydramnion I) zu constatiren, welcher
durch CO, oder durch H, O + verdünnte Essigsäure in gleicher
Weise wie das Paraglobulin gefällt worden wäre und noch dazu
in 10pCt. NaCl-Lösung denselben Coagulationspunkt!) hat wie
dieses.
Wir haben also bisher kein Mittel Paraglobulin und Vitellin
nachzuweisen, wenn sie in derselben Flüssigkeit neben einander
vorkommen.
Harnstoff wurde sicher, Allantoin mit grösster Wahr-
scheinlichkeit constatirt. Das Allantoin stammt jedenfalls aus
dem Harne des Foetus.?) Sein Vorkommen im Fruchtwasser
ist ein neuer Beweis dafür, dass der Harn des Kindes eine
Quelle des Fruchtwassers ist.°)
Da Frerichs und Staedler, später auch Köhler‘) das
Allantoin im Harne von Hunden nach gestörter Respiration
auftreten sahen, so wäre zu untersuchen, ob sich dieser Körper
im Fruchtwasser und Harne von Kindern, welche stark asphyk-
tisch geboren werden, vielleicht besonders reichlich vorfindet.
} Zucker konnte in diesem Fruchtwasser ebensowenig con-
statirt°) werden als in Hydramnion I. Das Fehlen dieses
1) Weyl: Pflüger’s Archiv, Bd. XII, S. 636."
2) Hoppe-Seyler: Handbuch, S. 174. — Gorup-Besanez;
phys. Chemie (3. Auflage) S. 246; — Neubauer und Vogel: Harn-
analyse (7. Auflage) S. 111; — Parrotet Robin: Compt.-Rend. 1876,
p. 105 und Archiv. gen. de med. 1876, p. 312 und 329 No. 9.
3) Will man durch die S. 547 angegebenen Reactionen das Vor-
handensein des Allantoins im Fruchtwasser aus dem sieberten
Schwangerschaftsmonate für bewiesen erachten, so wäre zu folgern,
dass der Fötus bereits im siebenten Monate in das Fruchtwasser
urinirt.
4) Neubauer und Vogel: Harnanalyse, 7. Auflage, S. 409.
— Gorup-Besanez: phys. Chem. $. 610.
5) Auch Cl. Bernard (Physiol. exper. I, 403 [1855]) und Ma-
jewsky (de substantiarum quae liquoribus amni et allantoidis in-
sunt diversis rationibus. Diss. inaugrls. Dorpat 1858 [eitirt nach
Schmidt’s Jahrbücher, Bd. UI, S. 155]) fanden, im menschlichen
Fruchtwasser niemals Zucker.
550 Th. Weyl:
Körpers scheint für das menschliche Fruchtwasser charakte-
ristisch zu sein. Im Fruchtwasser des Schweins und der Kuh
wurde Zucker von Majewsky und anderen stets aufgefunden.t)
Aus eirca 500 Cem. Fruchtwasser liess sich nach Liebi g’s
Methode zur Aufsuchung der Milchsäure?) das Zink-Salz
einer Säure darstellen, welches in seinen chemischen Eigen-
schaften mit denen des milchsauren Zinks übereinstimmte.
Das erhaltene Material war für eine Zink-Bestimmung nicht
ausreichend.
Kalk wurde im HOl-Auszuge der Asche nachgewiesen (vergl.
Hydramnion I).
Zusammenstellung der Analysen des vermehrten menschlichen Frucht-
wassers (Hydramnion).
Siewert
lg! | Weyl. Weyl.
Zahl der Schwangerschaft . | keine Angabe 3 3
Monat der ln keine Angabe VIl IX (Mitte)
Spec. Gewicht... . . 1021 1'007 1'008
Massen na erlae : 985°88 98815 98822
Fester Rückstand NE AUUNG | 1412 11'85 11'78
Organische Stofe ... . . 7:06 9'350 6:13
ASCHem NA REDEN. N 7:057 6'55* 565*
Bösliche Salze . 2»... — —_ 546
Unlösliche Salze... . . — — 019
Wasser- Auszug .......... — = 1:48
Aether-Auszug. . . .. . _ _ | 1:04
Motte male re AN (EYE 0'277 _ | —
Alkohol-Auszug . . . . . N, = 1:04
ZUCKER NEN CR EN nein nein nein
Nilchsaures El a een — zweifelhaft -| wahrscheinl.
Eiweiss. . . NR RN — 3:50 E37
Serumallumin ERBEN AH — wahrscheinl. | wahrscheinl.
Nivellinee une do cm Dane — ja _
IMueinaı a ner: anal — 01 02
Hannstolt sc nee. ra A 0'352 ja ja
Allantouns en. — wahrscheinl. | wahrscheinl.
Albuminöse Substanzen. . 6'434 —_ —
NEE Be nein ja ja
* Die Werthe für die Aschen sind durch zu lange fortgesetztes
Glühen wohl etwas zu niedrig ausgefallen.
1) Majewsky a. a. O.
2) Hoppe-Seyler: Handbuch, $. 96.
Beitrag zur Kenntniss des vermehrt. menschl. Fruchtwasseis. 551
Soweit die Analysen.
Ehe wir daran denken könnten, dieselben zu irgend welchen .
Schlüssen zu benutzen, ist sicher zu stellen, dass es sich in
den beiden mitgetheilten Fällen wirklich um Hydramnion ge-
handelt hat.
H. Jungbluth!) hat bekanntlich in den von ihm unter
Rindfleisch’s Leitung untersuchten Fällen von Hydramnion Ca-
pilargefässe — von ihm als Vasa propria bezeichnet — in der
oberflächlichsten, dem Amnion dicht anliegenden Schicht der
Placenta durch Injection nachgewiesen. Da er diese Gefässe
bei normaler Fruchtwassermenge stets obliterirt fand, schloss er,
dass Hydramnion durch das Offenbleiben dieser Gefässe und
durch die anormale Fortdauer des Transsudationsprocesses
aus dem Blut entstände, welcher bei Obliteration dieser Oapil-
laren zur physiologischen Zeit unmöglich gemacht sei. Diese
Beobachtungen Jungbluth’s haben durch Lewison?) ihre
Bestätigung gefunden.
In jüngster Zeit versuchte nun Sallinger in seiner unter
Frankenkhäuser’s Leitung angefertigten Dissertation Jung-
bluth’s Lehre der Entstehung von Hydramnion zu erschüttern.
„Mechanische Störungen des foetalen Kreislaufes, oder Ver-
änderungen der foetalen Blutmasse, nicht besondere anatomische
Einrichtungen der Placenta, wie Jungbluth will, erzeugen
das Hydramnios.“ °)
In den zwei Fällen von Hydramnios, welche oben mitge-
theilt sind, wurden keine Gründe für die Annahme einer
mechanischen Störung des foetalen Kreislaufs aufgefunden.
1) H. Jungbluth: Beitrag zur Lehre vom Fruchtwasser und
seiner übermässigen Vermehrung. Jnaugr. Dissert. Bonn 1869.
2) Lewison: Bidrag til Laron om Fostervandet og den ab-
norme Forygelse af dettes Monz de Kjöbenharn. Kurzes Referat in
Virchow-Hirsch’s Jahresbericht für 1873, II, 650. Das Original
war mir nicht zugänglich.
3) Sallinger: Ueber Hydramnios im Zusammenhange mit der
Entstehung des Fruchtwassers. Inaugr. Dissert. Zürich 1875. S. 18.—
Ich verdanke die Kenntniss dieser Abhandlung der Freundlichkeit des
Hrn. Cand. med. A. Hoffmann in Strassburg.
552 Th. Weyl:
Dass in Fällen von Hydramnion eine Veränderung der
foetalen Blutmasse vor sich gegangen wäre, ist meines Wissens
von Niemand bewiesen.
Jungbluth’s Vasa propria sollen mit der Entstehung von
Hydramnion nichts zu thun haben, weil Sallinger')Fällekannte,
„bei welchen gerade in den späteren Monaten der Schwanger-
- schaft eine plötzliche und rapide Vermehrung des Frucht-
wassers beobachtet wurde, und schon durch Gassner’s Unter-
suchungen nachgewiesen ist, dass die Fruchtwassermenge in
den letzten Monaten der Gravidität nicht ab- sondern zunimmt“.
Sind das wirklich Einwände gegen Jungbluth’s An-
schauungen ? 3
Wie, wenn die fast obliterirten Vasa propria bei einer plötz-
lichen Drucksteigerung im mütterlichen Kreislauf dem unge-
stümen Andrange des Blutstromes nicht hätten widerstehen
können und nach Loslösung oder Zertrümmerung der frischen
Thromben eine neue Transsudation in die Amnioshöhle hätten
gestatten müssen ?
Ferner ergiebt sich aus Gassner’s Beobachtungen,?) dass
die Zunahme des Fruchtwassers vom siebenten bis zum zehn-
ten Monate der Schwangerschaft ungefähr 0:87 Kilgr. beträgt.
Sollte sich also nicht die Zunahme des Fruchtwassers in
den letzten Schwangerschaftsmonaten mit Leichtigkeit durch
die auch von Sallinger°) acceptirte Thatsache erklären lassen,
dass der Foetus in’s Fruchtwasser urinirt?
Wie dem auch sei — jedenfalls ist dadurch, dass Sal-
linger eine unter hohem Drucke durch die Nabelvene gepresste
Flüssigkeit, an deren Oberfläche transsudiren sah,*) nicht „zu-
gleich der Nachweis geliefert... .., dass es keiner eignen
Gefässe (vasa propria) zur Abscheidung... .... (des Frucht-
wassers) bedarf.“ >)
IN a. 0080
2) Gassner: Monatsschrift für Geburtskunde XIX, 31 (1862)
3) A. 2. 0,8. 60%
4) A. a. O., S. 78. Versuch Nr. 2.
5) A. a. O., S. 76.-- Sallingers Transsudationsversuche von der
uterinen Fläche der Placenta aus (S. 100) sind erst recht nicht be-
Da
> +,
Beitrag zur Kenntniss des vermehrt. menschl. Fruchtwassers. 553
Gesetzt aber auch, die Transsudationsversuche Sallinger’s
hätten bewiesen, „dass!) sowohl das Fruchtwasser sowie auch des-
sen übermässige Vermehrung (Hydramnios) das directe Transsu-
dationsproductder Vene der Nabelschnurund deren Verzweigungen
in der Placenta foetalis ist,* so bliebe immer noch zu beweisen
übrig, dass normales und vermehrtes nicht auch durch die
Vasa propria transsudiren könnten.
Sallinger hat sich offenbar von dem Vorhandensein oder
Fehlen der Vasa propria überhaupt nicht überzeugt; er hat —
was für ihn nahe genug liegen musste — nicht einmal ver-
sucht, die Vasa propria in der Placenta einer ausgetragenen
Frucht bei normaler Fruchtwassermenge nachzuweisen und da-
durch Jungbluth’s Lehre zu entkräften.
Für mich bleibt es also vorläufig bei Jungbluth’s Lehre.
Ja, ich bin geneigt anzunehmen, dass bei Hydramnion die
Störungen im mütterlichen und im foetalen Kreislaufe zum
grösseren Theile nicht Ursache sondern Folge des Hydram-
nion sind.
Obgleich nun in den zwei Fällen, deren Fruchtwasser von
mir untersucht wurde, weder mechanische Störungen des foe-
talen Kreislaufs noch Veränderungen der foetalen Blutmasse
constatirt wurden, so halte ich mich trotzdem für berechtigt
sie als Hydramnion zu bezeichnen.
Es geschieht dies in Uebereinstimmung mit Schröder,?)
der jede übermässige Anhäufung von Fruchtwasser in der
Amnionhöhle—ohne Rücksicht auf deren Entstehung— Hydram-
nion nennt.
In unserem Falle I wurden über 5:5 K. Fruchtwasser auf-
gesammelt, in Fall II 4 K. Wir finden also, wenn wir Gass-
ner’s Angaben?) zu Grunde legen: 1'004 K. für den siebenten
Monat, 1'618 K. für den neunten Monat — das Fruchtwasser
ım Fall Ium 45 K., ım Fall II um 2'4 K. vermehrt.
weisend. — Ich glaube, dass bei genügendem Druck die meisten
thierischen Gewebe Flüssigkeiten durch sich durchlassen werden.
HD) AvIar 0:8. 76.
2) Schröder: Lehrbuch der Geburtshülfe, 4. Aufl. S. 409.
3) Gassner: Monatsschrift für Geburtskunde (1862). Bd. 19, 31.
954 Th. Weyl:
Ferner darf ich hinzufügen, dass es Hrn. Prof. Waldeyer
gelang, im Amnios von Fall I die Vasa propria durch Injection
nachzuweisen. ?)
Gestützt auf Gassner’s Angaben über die normale Frucht-
wassermenge, auf Schröder’s Definition des klinischen Be-
sriffes Hydramnion, endlich auf den Nachweis der J ungbluth’-
schen Öapillaren in Fall I, sind wir anzunehmen berechtigt,
dass es sich in den beiden mitgetheilten Fällen um Hydram-
nion gehandelt habe. Welche Schlüsse gestatten nun die mit-
getheilten Analysen ?
Durch Scherer’s,’) Majewsky’s,‘) Gassner’s’) und
Anderer Arbeiten sind die Veränderungen des normalen mensch-
lichen Fruchtwassers in den einzelnen Schwangerschaftsmonaten
mit einiger Sicherheit ermittelt worden.
Es musste versucht werden, ob sich ähnliche Gesetze nicht
auch für das Fruchtwasser bei Hydramnion auffinden liessen,
was bißher nicht geschehen ist.
Da nur die eine oben besprochene Analyse des vermehrten
Fruchtwassers von Siewert publicirt ist, muss dieser Versuch
für jetzt unterbleiben.
Als ich nun ferner die mir zugängliche Literatur durch-
suchte, um Analysen des normalen menschlichen Fruchtwassers
aus dem siebenten und neunten Schwangerschaftsmonate auf-
zufinden und deren Ergebniss mit den Resultaten der Analysen
des Fruchtwassers bei Hydramnion zu vergleichen, ergab sich,
dass solche bisher nicht existiren, obgleich sich Chemiker und
Physiologen bereits seit mehr als fünfzig Jahren‘) mit der
chemischen Zusammensetzung dieser Flüssigkeit beschäftigen.
2) In Fall II konnte der Nachweis der Vasa propria aus äusseren
Gründen nicht versucht werden.
3) Scherer: Zeitschrift für wiss. Zoologie. I, 89 (1849) und
Würzburger Verhandlg. II, 2 (1851).
4) Majewsky,.a.a.0.
HrA:.a.LO.
6) Die erste Analyse des menschlichen Fruchtwassers von Buniva
und Vauquelin stammt aus dem Jahre 1800. Ich kenne bisher
überhaupt nur 15 Analysen dieser Flüssigkeit und habe Grund zu
zweifeln, dass sich in der Literatur mehr vorfinden,
Beitrag zur Kenntniss des vermehrt. menschl. Fruchtwassers. 555
Die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen möchte dem
Einzelnen kaum gelingen.
Hier ist für Viele ein Feld zu lohnender Arbeit.
Hrn. Prof. Hoppe-Seyler, meinem verehrten Lehrer,
sage ich für seine freundliche Unterstützung, die mir auch bei
dieser Arbeit zu Theil wurde, meinen besten Dank.
Strassburg i. E., August 1876.
Ueber das Verhältniss der Kohlensäure-Abgabe
zum Wechsel der Körperwärme.
Von
Dr. Huco ERLER.
(Aus dem physiologischen Institut zu Königsberg i. Pr.)
Es ist eine bekannte Thatsache, dass den respiratorischen
Gasaustausch, d.h die Umwandlung der O-reichen Inspirations-
luft in O-ärmere und CO,-reichere Exspirationsluft die mannig-
faltigsten Umstände beeinflussen. So wissen wir, dass nicht
nur die Athembewegungen, wie Athemfrequenz und Tiefe der
Athemzüge, sondern auch das Lebensalter, die Ernährung, die
Beschaffenheit der Einathmungsluft u. s. w. auf den CO,-Gehalt
der Exspirationsluft von erheblichem Einfluss sind. Da nun
die thierische Wärme mit der Lebensprocessen des Thiers
gradezu identisch ist, und da als Maass für die vitalen Processe
ein Product derselben, die CO,, angesehen wird, so musste von
vornherein angenommen werden, dass mit den Aenderungen der
Temperaturen im thierischen Körper ebenfalls ähnliche Aende-
rungen der CO,-Ausscheidungen einhergehen werden. Es war
daher die Aufgabe der vorliegenden Arbeit, genauer zu prüfen,
welchen Einfluss der Temperaturwechsel im thierischen Körper
auf die CO,-Ausscheidungen ausübe. Es schliessen sich meine
hierüber angestellten Versuche an die unlängst im Druck er-
schienene Arbeit von A. Adamkiewicz: Die Analogien zum
Dulong-Petit’schen Gesetz u. s. w.!) an, auf dessen Anregung
1) Dies Archiv 1875. 8. 78.
ar
Ueber das Verhältniss der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 557
sie unternommen ist, indem ich das Verhältniss der CO,-Abga-
ben zu denjenigen Temperaturänderungen, deren Gesetze in der
erwähnten Schrift näher erörtert sind, festzustellen suchte.
Methode.
Der Apparat, welchen ich zu meinen Untersuchungen be-
nutzte, war folgendermaassen construirt: Dem Thier wurde
über die Schnauze eine Kautschuckkappe mit gabelförmig ge-
theiltem Rohr gezogen, durch dessen einen Arm, welcher mit
einem Müller’schen Flaschenventil in Verbindung stand, die
Inspirationsluft einströmte; der andere Arm, der Weg der
Exspirationsluft, stand durch einen Kautschuckschlauch mit
einer gekrümmten Glasröhre in Verbindung, in welcher sich
mit concentrirter Schwefelsäure getränkte Glasperlen befanden,
um den in der Exspirationsluft enthaltenen Wasserdampf zu
binden. Von da strömte die Luft durch den mit Kalilauge zur
Hälfte erfüllten Geissler’schen Kugelapparat zur Absorption
der CO,. Dieser letztere Apparat wurde vor und nach jedem
Versuch auf’s genaueste gewogen; die Differenz zeigte dann
die Menge der absorbirten CO, an. Um den Moment zu er-
kennen, wo die Kalilauge von der aufgenommenen 00, gesät-
tist war, stand diese letzte Vorrichtung noch mit einer Baryt-
lösung in Verbindung, die sich trübte, sobald CO, mit über-
geführt wurde, und so den Zeitpunkt angab, die gesättigte
Kalilauge zu erneuern. War das Respirationshinderniss wegen
der verschiedenen flüssigen Medien, welche die exhalirte Luft
durchströmen musste, für besonders kleine Thiere zu gross, so
verband ich den ganzen Apparat mit einer Saugvorrichtung,
bestehend in einer mit Wasser gefüllten Flasche, an deren
Boden sich zum Abfluss des Wassers ein Ausflussrohr befand,
so dass durch Verringerung der Wassermenge im oberen Theil
der Flasche ein luftverdünnter Raum entstand, der die im Apparat
befindliche Luft ansog.
Als Versuchsthiere dienten mir Kaninchen, deren Gewicht
und Temperatur vor jedem Versuch festgestellt und deren
CO,-Abgaben zuerst im freien Zustand gemessen wurden, ehe
558 Hugo Erler:
ihre Temperatur physiologisch oder physikalisch modificirt wurde.
Wie schon erwähnt, schliessen sich meine Untersuchungen an
die Wärmebestimmungen von Adamkiewicz an, der zunächst
feststellte, dass, sobald man Thieren die Freiheit nimmt, ihre
Temperatur continuirlich bis zu einer gewissen Grenze, die
„minimale“ von ihm genannt, herabsinkt, dann aber Schwan-
kungen unterworfen ist, die bald über bald unter das Niveau
jener Grenze fallen und bezüglich des Umstandes, dass dieser
Temperaturabfall lediglich eine Folge der Muskelruhe ist, nennt
er ihn einen „physiologischen“. Meine Versuche sind
gewissermaassen Controlversuche zu den seinigen, die nur in-
sofern eine Erweiterung erlitten haben, als ausser der Tempe-
ratur noch die jedesmalige CO,-Abgabe unter den verschiedenen
Bedingungen gemessen worden ist.
Es wurden daher zur ersten Reihe meiner Versuche Ka-
ninchen verschiedenen Gewichts auf das von Czermak ange-
gebene Brett gebunden und ihre CO,-Ausscheidung nach vor-
heriger Messung der Temperatur bestimmt.
I. CO,-Abgaben im gefesselten Zustand.
It Adamkiewicz’s Bezeichnung und Erklärung des
physiologischen Temperaturabfalls die richtige, so muss nach-
zuweisen sein, dass mit dem Abfall der Temperatur während
der Ruhe ein Abfall der CO, stattfinde: denn das Sinken der
Temperatur soll ja nur durch Verminderung der Oxydations-
processe im Muskel entstehen, und eine solche Verminderung
muss sich an der Veränderung der Oxydationsproducte erkennen
lassen.
Die Versuche der ersten Reihe wurden daher an Kanin-
chen im freien und gefesselten Zustand bei einer Zimmertem-
peratur von 15—18° Cels. angestellt; die Zeit, während welcher
die Thiere im Apparat athmeten, dauerte stets zehn Minuten;
die Resultate sind im Folgenden tabellarisch zusammengestellt.
Ueber das Verhältniss der Kohlensäure-Aagabe u. s. w. 559
Tabelle Nr. 1.
Temperatur-
Grad Cels. Durch- | Gewicht
Nr. A 60, le
Umge- a schnitt. | in Grm.
bung.
1 15'6 391 0'060
2 0:040 0 050 1020
3 0'050
Gefesselt:
1 380 0:038
2 36'235 0:05
3 3655 0'046 0:042
4 36°5 0°:030
5 367 0:038
Tabelle Nr. 2.
Temperatur-
Grad (Cels. Durch- | Gewicht
Nr. CO, a
ehnitt. | in \
Umge Thier ; en
bung.
il 144 | 39:2 | 0°073
2 | \ 0'070 8°074 1020
| | 0:078
Gefesselt:
1 | 384 | 0'074
2 | 372 | 0062
3 376 0'052
4 31221 20:050, 1 0002
5 374 0°060
6 378 0°056
60, auf
1000 Gr.
0.0049
0:0041
60, auf
100'0 Gr.
0:0072
0:0057
560 Hugo Erler:
Tabelle Nr. 3.
Temperatur-
Nr. Grad Cels. 00, Durch- | Gewicht | CO, auf
Umge- Thier. f schnitt. | in Grm. 100°0 Gr.
bun
ı | ı92 | 397 | o0ss Be 1112 AN
2 0'042
Gefesselt:
1 39:6 0 032
2 391 0'048
3 388 0'028
4 38°5 0:020
5 3814 1 0.016, | 008 0:0026
6 382 0'038
7 18°0 38°6 0:032
8 38°5 0'018
Tabelle Nr. 4.
Temperatur-
Nr. Grad Cels. | co, Dusch: Senicht CO, auf
Umge-| pier. schnitt. | in Grm. | 1000 Gr.
bung.
1 | 15:6 330 | OEL N, 1112 ne
1 0:054
Gefesselt:
1 16°8 391 0:048
2 384 0'051 |
3 3825 0'034
4 381 0'041
6) 381 0:035
6 A a | Doaı 0:0027
7 3770, | 0:092
8 37° 0014
9 380 | 0'024
10 379 | 0'020
Ueber das Verhalten der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 561
Tabelle Nr. 5.
Temperatur-
Grad Cels. Durch- | Gewicht | . CO, auf
Nr. Co, r \
Umge- | Mpjer schnitt. | in Grm. | 100°0 Gr.
bung.
1 16°8 331 0:041 1372
2 0:032 0'045 0:0032
3 0:062
Gefesselt:
1 385 | 0'024 |
2 377 0'030
3 37:3 0°:025 0:022 0:0016
4 378 0'019
5 | | 372 | 0014
Tabelle Nr. 6.
Temperatur-
Grad Cels. Durch- | Gewicht | CO, auf
Nr. CO, e N
Umge- Thier schnitt. | in Grm. | 100'0 Gr.
bung.
1 15°0 392 0°081 1372
2 0:092 0:095 0:0069
3 0'114
Gefesselt:
1 15°6 38°9 0:084
"2 | 38°2 0:048
3 38°7 0:036
4 376 0:065 0:049 0:0035
5 371 0'024
6 37:5 0'029
In vorstehenden Versuchsprotokollen ist ersichtlich, dass
mit dem Abfall der Temperatur während der Ruhe der Abfall
der CO,-Abgaben ziemlich genau Schritt hält. Wenn äuch die
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 36
562 Hugo Erler:
7
Temperaturänderungen der vorstekenden Versuche ebenfalls
jene ausgesprochene Regelmässigkeit, wie siein Adamkiewicz’s
Versuchen nicht vermisst wird, zeigen, so ist die Gleichmässig-
keit in den Aenderungen der CO,-Ausscheidungen doch nicht
so deutlich ausgeprägt, ein Umstand, dessen Ursache augen-
scheinlich in der Doppelseitigkeit eines jeden meiner Versuche
liegt: denn ausser der Temperatur musste auch die jedesmalige
CO,-Abgabe genau gemessen werden, und während des Wiegens
der CO,-haltigen Kaliflüssigkeit bewegte sich nun das unbeob-
achtete Thier trotz seiner Fesseln oft ziemlich stark. Und dass
Bewegungen besonders von kleinen Thieren, zu denen ja Ka-
ninchen auch zu rechnen sind, sofort die Oxydation erhöhen,
beweisen auch die von Adamkiewicz (S. 101) angegebenen
Temperaturcurven. Wegen der langen Dauer konnten die ein-
zelnen Versuche ferner nicht so weit ausgedehnt werden, bis
mehrfache Schwankungen von Temperatur und CO,-Ausgaben
eintraten; ich begnügte mich daher, sobald ich aus mehreren
CO,-Abgaben einen folgerichtigen Schluss zu ziehen mich be-
rechtigt fühjte.
Auf die Führung einer genaueren Controle über die Ab-
hängigkeit der CO,-Ausscheidungen unter gleichen Verhältnissen
von der Grösse der Thiere, musste ich in dieser wie in den
folgenden Versuchsreihen verzichten, weil ich mich auf Kanin-
chen nahezu derselben Grösse beschränkte, in denen sich deut-
liche und maassgebende Gewichtsdifferenzen nicht haben er-
warten lassen.
Um einen allgemeinen Ueberblick über Temperatur und
CO,-Aussche;dungen unter den gegebenen Verhältnissen zu ge-
winnen, ist die folgende Tabelle angefertigt worden, in welcher
ausser der höchsten und niedrigsten Temperatur und CO,-Aus- '
gabe noch die Durchschnittssummen der im freien und im ge-
fesselten Zustand ausgeathmeten CO,-Mengen angegeben sind;
um mir ferner über das Verhältniss der im freien zu der im
gefesselten Zustand ausgeschiedenen CO, Aufschluss zu ver-
schaffen, habe ich dasselbe am Ende jeder Rubrik verzeichnet,
nachdem die genannten Durchschnittssummen auf 100 Gr. des
Körpergewichts als Gewichtseinheit berechnet sind.
563
Ueber das Verhalten der Kohlensäure-Abgabe u. s. w.
CE00.0 : 6900.0
I100.0 : 6800.0
L800:0 : 6&00-0
9200.0 : 0700-0
2900.0 : 21.00.0
1?00-0: 6700-0
0.007 ae °09
ZLEIL ZLEL un SLıı 0201 0301 ee Fe LS LT)
670.0 | C60-0 | 220.0 | CF0.0 | TEO.0 | 060.0 |680.0 | C70:0 |6C0.0 |F20.0 | 270.0 |0c0.0 | ° ' " ° ° " Yrugosypung
620.0 | 180.0 |FT0-0 | TE0.0 |FL0.0 | 8F0.0 |910:0 | 270.0 ||0C0.0 | 020.0 | 080.0 |0F0.0 | ° ° ' * " " ° ogsätperu (og
780.0 | FIT-O 1080-0. | 90.0 | 190.0 | 70:0 | 870-0 | 650.0 |F20.0 | 820.0 |GC0-.0 |090.0 | * " ' * * ° * * "oysuoog
C.1E &.LE C.LE 6.88 G.LE 2.98 " * o9sdrıporu
6.68 I:6€ 9.68 1.68 6.68 T.68 JO | angerod
68€ 9.8E T68 9.68 7.88 0.88 “2 rogsupoy
-woL,
8-91 8.91 91 2.61 vH 9.91 “9° Jungodun
y[ossaf yIossoF NERER) WEREEN 108507 IGERL)
191 T941 1941 N
=: TO} en 194} ah 101} es To1F En To} en toaF
HN N Fun N N HN
"2 IN STIPgeL
36*
564 Hugo Erler:
Bringen wir sämmtliche Durchschnittssummen in Eine
Tabelle zusammen, so erhalten wir folgende:
Tabelle Nr. 8.
frei gefesselt
Umgebung) a. 15°7
Temperatur höchste . .. . 38'7
hier 39:3
niedrigste . . . 373
Menge Hochstor Pr an e " -.0:069 0'057
der abgegeb. } niedrigste... ... - 0'052 0'025
00, Dürchschnut a. 28: 0'060 0:039
GESICHE e ekee alyeeelihe 1168
BEOMaAUTLLOOLO N EAN Ste euere 0:0051 : 00034
Il. CO,-Abgaben im gelähmten Zustand.
Ist der Temperaturabfall gelähmter Thiere ebenfalls auf
eine Verminderung der physiologischen Stoffwechsel- und Ver-
brennungsprocesse im Muskel zurückzubeziehen,!) so muss hier
der Abfall der CO, in noch höherem Grade hervortreten, als
während der einfachen Ruhe: denn durch Lähmung der will-
kürlichen Muskeln wird der Freiheitsverlust vervollkommnet,
die Bewegungsfähigkeit gänzlich ausgeschlossen, die Oxydation
gestört. Zur Prüfung dessen wurden folgende Versuche nach
erfolgter Durchschneidung des Rückenmarks unterhalb der Ver-
tebra prominens angestellt und soviel als thunlich bis zum Tode
der Thiere, der gewöhnlich nach 20 bis 30 Stunden unter den
Symptomen der allgemeinen Paralyse erfolgte, fortgesetzt.
1) A. a. 0. S. 106 und 117.
[SE SB
Sonn Ppon-m
Ueber das Verhalten der Kohlensäure-Abgabe u. s. w.
Tabelle Nr. 9.
565
Temperatur- \
Grad Cels. co Durch- | Gewicht CO, auf
| 2 . .
Umge- schnitt. | in Grm. 100:0 Gr.
bung. |
16°8 39:6 0'036 706
0:057 0'046 0'0065
0:045
Gelähmt:
37:05 0'007
35°05 0'009
33°8 0'011
332 0'010
9222 0:005
30:9 0:013
305 0:002
29:8 0'006 0:008 0:0011
28:6 0'006
28°5 0°007
284 0'012
278 0'011
2376 0'007
ale) 0:007
DT 0:008
Tod.
Tabelle Nr. 10.
| — | en, | 0:074 | 186 | 0.0094
Gelähmt:
16:9 | 38:8 | 0020 | |
3220. 12.0:036
36°9 0'031 |
15'6 369 0°:031
36° 0:040
892 0'034
349 | 0033
Nach einer längeren Pause:
26°2 0:021
258 0:019
2 0°018
25°2 0°010 0:0173 0°0022
251 0°:006 t
DAR 0'013
248 0'011
247 0°013
24°6 0'005
24°8 0:006
24°6 0°002
246 0:005
244 | 0:001
Tod.
ei, 70%
566 Hugo Erler:
Tabelle Nr. 11.
Temperatur- | | |
Nr. Grad Cels. co, | Durch- | Gewicht CO, auf
Umge- Thier. | schnitt. | in Grm. ! 100'0 Gr.
bung. |
1 | 15'6 390 0'122 1306
2 0104 | gogı 00070
3 0'077 |
4 | 0.062 |
Gelähmt:
1. [ 38:35 | 0:019 |
2 371 0:030
3 36°8 0'030
4 3675 0021
6) 39°5 0:027
6 14°5 355 0:018
7 35°5 0'017
3 15°6 304 0'019
9 301 0'019 0'016 0'0012
10 18:0 29:8 0°009
a1 290 0:018
12 231 0'008
13 27°5 0008
14 16°8 26:9 0:010
15 26°5 0'010
16 261 0'006
17 26°0 | 0:003
Trotz der Befunde von Weber,!) Quincke?) und
Naunyn,°) die nach Rückenmarksverletzung und acuten
Rückenmarkserkrankungen Temperatursteigerung zu con-
1) Commun. to the clinical Soc. oft London. 1868.
2) Berliner klin. Wochenschrift. 1869. Nr. 29.
3) Dies Archiv, 1869. S. 174.
Ueber das Verhalten der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 567
statiren Gelegenheit hatten, hat doch kein einziger meiner
Versuche dasselbe Resultat aufzuweisen; ja im Gegentheil
die Temperatur und mit ihr auch die (60,-Aus-
scheidung sinkt vom Zeitpunkt der Verletzung an
continuirlich bis zum Tode, der „physiologische“ Ab-
fall der Ruhe steigert sich zu einem „pathologischen* der
Lähmung, wie Adamkiewicz in seiner Schrift (S. 106)
treifend sagt. — Hierin aber liest wiederum ein Beweis, dass
Wärme- und 0O,-Production abhängig sind von den Lebens-
processen, die im thätigen Muskel vor sich gehn, und dass mit
der Aufhebung der Bewegungsfreiheit auch jene Production
gehindert werden muss.
Zur Controle möge hier noch eine von Adamkiewicz
„beobachtete, doch nicht veröffentlichte Temperaturcurve nach
erfolgter Lähmung ihren Platz finden:
Tabelle Nr. 12.
Umgebung 16°8 Grad Cels.
Körper- Körper- Körper-
temperatur. temperatur. “ temperatur.
U. Min. Grad Cels. | U. Min. | Grad Cels.|| U. Min. | Grad Cels.
10 12 393 1 55 898 11 35 38'5
bis bis bis bis bis bis
12 15 376 EURER 392 11 46 381
Rückenmarksdurchschneidung.
12 22 369 2 15 392 11 50 | 379
122229 365 27,116 391 37:8
12 36 36°0 2 18 88:9 377
12 45 35° 2 20 38°8 11 58 376
12 55 330 2 21 887 37:5
154 34° 2 23 38°6 374
12715 340 2 24 38°5 22 | 374
1 40 32:9 2 27 374 37:3
1 47 320 2 31 37:3 372
1 50 Sl 20202033 372 371
1 55 sl’. | 234 371 a) 37:3
568 Hugo Erler:
Körper- Körper- Körper-
eu temperatur. zen temperatur. Sn temperatur.
U. Min. | Grad Cels.| U. Min. | Grad Cels. | U. Min. Grad Cels.
2016 31°0 2 35 370 37:2
2. 18 30°5 2 45 35°8 12 14 371
2 89 29'3 2 48 35'7 O2 36'3
2 42 23:0. 121190 35°6 36'2
2 45 AT A 2 102 35'5 361
2 47 275 35 35'2 12 25 36°0
2 58 270 3.6 351 35°9
ER 26°5 30,8 35°0 35°8
a | 242 EN) 349 35°7
4 2 23°5 39°6
4 11 23:0 35'5
4 31 22°5 354
6 25 220 12 39 „35'3
6 28 21°5 12 42 351
6 34 210 34:9
6 40 20°5 348
6 52 20:0 347
= 20:7 12 48 347
ST 20°5 346
8 12 20:0 345
8 15 20°5 344
|
Dass in dieser Versuchsreihe Temperatur und CO, nach
ihrem Abfall nicht in die Schwankungen der „Constanten“!) über-
gehen konnte, liegt einfach darin, dass hier die Tendenz einer
Einstellung auf die „Constante* natürlich fehlt und die Lebens-
processe wegen des Verlustes der Bewegungsfähigkeit continu-
irlich sinken.
Sehr auffallend ist namentlich der plötzliche sehr erheb-
liche Abfall der CO, im Beginn der Lähmung. Er erklärt sich
aus der plötzlichen Unterbrechung, die die normalen Oxyda-
tionsprocesse durch die Lähmung erfahren, aus dem schroffen
Uebergang normaler Functionen des Muskels in einen Zustand
pathologisch herabgesetzter Lebensprocesse. Das an den an-
fänglich plötzlichen Abfall der CO, sich anschliessende all-
mähliche Sinken derselben aber erklärt sich aus dem continu-
irlich und allmählich erfolgenden Abfall een Lebens-
processe zu ihrem lethalen Ende.
1) Vergl. Adamkiewicz a. a. 0.
Ueber das Verhältniss der Kohlensäure-Abgabe u. s. . 569
Zur besseren Debersicht folgen die Durchschnittssummen
aller drei Versuche in näherer Zusammenstellung.
Tabelle Nr. 13.
al N
aaa ee,
oO © ©
=tı) {=10) {etı}
8 Umgebung... . 16°8 16'8 15°6
324 „.. [höchste . 37:05 38:8 38:35
© S| Thiers . .. 39:6 - 39:3 39:0
= niedrigste Del 244 26° 0
höchste ... . 0:057 | 0:013 || 0'077 | 0040 0122| 0:030
” 4 niedrigste . . | 0036| 0:002| 0070| 0'001 | 0'062 | 0'003
Abgabe i |
Durchschnitt . 0:046 | 0:008 || 0'074 | 0:017 | 0'091 0'016
Gewichu 4 len. 706 786 1306’
CO, auf 1000 . . . . [0°0065 : 0'00110'0094 : 0°0022|0 0070 : 0:0012
Diese Resultate in eine Tabelle gebracht, ergiebt folgendes:
| Tabelle Nr. 14.
| frei. gefesselt.
Umeebungy. ... ... $ 16°4
Temperatur hochsten.2 a .0% 38°6
Mn Thi | I, 39:3
niedrigste . . . 26:1
höchstes m 5 5 005 | 008
CO,-Abgabe ! niedrigste. .... . . 0.056 0'002
Duxchsehmitt an. aa 0:070 0:014
GEWIChti gi 1 a ee a ne 932
COF3UT 1000ER a 0:0076 : 0:0015
‘Waren bei den bisher ausgeführten Versuchen die Oxyda-
tionsprocesse das primäre, die Temperaturänderungen das secun-
däre, so tritt bei den folgenden Versuchen das umgekehrte ein.
Wie erwähnt, sind Wärmeprocesse und Lebensprocesse im
Thier identisch; es muss daher auch leicht zu zeigen sein, dass
mit den physikalischen Temperaturänderungen secundäre Aen-
derungen der exhalirten CO,-Menge stattfinden.
IRRE 0
570 Hugo Erler:
Darauf hin habe ich nun Versuche an Kaninchen angestellt,
um zu sehen, von welchem Einfluss veränderte Umgebungs-
temperatur auf die CO,-Production und ob auch hier wie in
den vorigen Versuchen ein annähernd gleiches Verhältniss
zwischen ihr und der Temperatur vorhanden sei. Es wurden
daher Thiere aufgebunden in einen verdeckten doppelwandigen
Zinkkasten gesetzt, dessen Temperatur durch Anfüllung mit
Eisstücken zunächst erniedrigt und dann zur zweiten Versuchs-
reihe durch Erwärmung des Wassers, das sich in dem von den
Wänden des Kastens begrenzten Raum befand, durch unter-
gestellte Gasflammen erhöht wurde. Der übrige Apparat blieb
derselbe.
Ill. CO,-Abgaben bei erniedrigter Umgebungstemperatur.
Tabelle Nr. 15.
Temperatur- |
Grad Cels. Durch- | Gewicht CO, auf
Dr Umge- j Oo schnitt. | in Grm. | 100'0 Gr.
ba Thier. |
16°8 392 | 0034 805
0'954 0°049 0:0060
3 0'058
In Eis:
1 12:0 36°8 0:009 |
2% 5. 10:2.% 3592, .0:010 | 3
3 9:6 35'2 0017 |
4 343 | 002 |
5 345 | 0012 |
e.| 30. | 30 | 0056 |, 00 NR
7 84 339 0'035
8 334 0:021
$) 329 0'032
10 324 0:024
Nr.
SAAB OD
ww
ee
Pom Hm ©O%000 IN Om N Mi
Ueber das Verhältniss der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 571
Tabelle Nr. 16.
Temperatur-
Grad Cels. co Durch- | Gewicht CO, auf
Umoe- 5 o schnitt. | in Grm. | 100°0 Gr.
> | Thier.
bung,
20:20, 3351 4.0:037 945
0:041 0:039 00041
In Eis.
16°8 38°7 0:033 |
150 | 378 | 0031 |
1339309 ..0:095
13°2 366 0:012 |
144 | 362 | 0.009 |
358 0:006 |
15°0 38° 0:005 0°014 0:0014
144 347 0:006
15'0 343 0:014
33°9 0:013
330 0:007
331 0:006
327 0:010
Tabelle Nr. 17.
19'2 395 0:030
0:042 0:034 1032 0:0033
0:031
In Eıs:
163 38'7 0.030
15°6 374 0'022
15°0 367 0:009
360 0011 |
35°8 0:008
132 362 0'005
349 0:020 i A
347 0022 0:016 0°0015
345 0:017
13°8 345 0'022
342 0:010
14°4 33:9 0'012
337 0'018
33°6 0:019
972
RENT DI
Hugo Erler:
Tabelle Nr, 18.
Temperatur-
N Grad Cels. co, Durch- 9, auf
Umge- Thier. schnitt. 100°0 Gr.
bung.
1 | 18:0 393 0:068 0061 00058
2 0'055
In Eis.
1 | 126 | 384 | 0:046
2 102 | 376 | 0'066
3 | 371 | 0045
4 367 0'033
5 | 108 | 86811.0:019: | nigag | 0:0026
6 358 0'025
7 35°2 0'006
8 114 34°8 0:004
9 12°0 344 0:004
Tabelle Nr. 19.
183 394 0.031
0'047 0'039 0'0038
0'040
In Eıs.
1 15°6 38°5 0'029
2 15'0 380 0'037
3 374 0'025
4 36°9 0'012
5 13'2 36°3 0'019
6 35'8 0°:009
7 12°6 399 0:008 0'016 0:0015
8 352 0'014
9 347 0:021
10 344 0'013
11 13'2 33°9 0'014
12 33°6 0:010
13 | 33'2 0'008
Ueber das Verhältniss der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 573
Liebermeister und nach ihm Roehrig und Zuntz'!)
fanden eine Zunahme der CO,-Ausscheidung in derjenigen Pe-
riode, während welcher unter der Einwirkung peripherischer
Abkühlung die Temperatur steigt. Diese Zunahme der CO,,
die auch Senator?) festgestellt hat, ist von allen diesen For-
schern nur in derjenigen kurzdauernden Anfangsperiode,
während welcher jene eigenthümliche Temperatursteigerung in
der Achselhöhle stattfindet, die von Liebermeister bekannt-
lich auf Regulationsvorgänge bezogen wird,°) gefunden worden.
Bei meinen Versuchen aber handelt es sich um weitergehende
Einwirkung der peripherischen Abkühlung, um wahre durch
sie erzeugte Temperaturherabsetzungen, mit welchen
ich in der That gleichzeitig einen continuirlichen Abfall der
CO, nachweisen konnte. In den ersten Zeiten zeigt sich aller-
dings ein unerhebliches Ansteigen der CO,, wenn man den
Abfall in Rechnung zieht, den das gefesselte Thier vermöge
der Ruhe an sich erfahren haben würde. Es muss dahin ge-
stellt bleiben, ob dieses Ansteigen auf irgend welche Vermeh-
rung der CO,-Bildung bei der Abkühlung beruht, die etwa auf
reactive Temperatursteigerung (Liebermeister) bezogen wer-
den könnte. Senator erklärt das in dieser Periode vermehrte
Auftreten von CO, in der Exspirationsluft nur als Folge ver-
mehrter Ausscheidung derselben. Es kann ferner dieser Abfall
nicht eine directe Folge der Muskelruhe allein sein: denn es
erreichen in der ersten Reihe meiner Versuche, die zur Prü-
fung jenes Einflusses oben angestellt sind, die Durchschnitts-
zahlen der exhalirten CO,-Mengen nirgends so geringe Grössen
wie hier. Dort sind sie 0'029 und 0'022, hier dagegen 0016
und 0'014. Daher kann man wohl mit Fug und Recht diese
Abnahme von Wärme und die CO,-Ausgaben wohl nur auf
Rechnung der niedrigen Umgebungstemperatur setzen. — Zur
schnelleren Uebersicht und zum Vergleich der Resultate dieser
Versuchsreihe mit denen der ersten diene hier wieder eine aus
den Durchschnittssummen zusammengestellte Tabelle:
1) Pflüger’s Archiv. Bd. IV. 8. 57.
2) Centralblatt 1871, S. 737 und dies Archiv 1872, S. 1.
3) Vergl. Adamkiewicz: Mech. Prineip. der Homöothermie u.s.w.
Dies Archiv 1876. S. 248 fi.
.
.
Hugo Erler
574
GT00.0 : 8800-0
I800.0 : 8400.0
GT00.0 : 8800-0
7109.0 : TF00.0
6800.0 : 0900 0
* 0.007 ne °09
E201 FOL 2801 976 08 ee)
910.0 |680.0 || 820.0 | 190.0 | 910.0 | FE£0.0 || FIO.0 |6E0.0 || 720.0 | 6r0.0 nr umosgorn|
800.0 | 180.0 | 700.0 |9C0.0 || 800.0 |080.0 || G00.0 |280:.0 || 600.0 | FE0.0 7 Sorsonpertel ln
260.0 | 10.0 | 990.0 | 890.0 | 0800 [270.0 | 880.0 | 170.0 | 940.0 | 850.0 SE SEE UpQN
3.88 vr 9.88 1.38 P.58 " OSSLIporU
P.68 8:68 9.68 9.68 3.68 AoIq,],
G.88 v.88 1.88 1.88 8.98 * » 09s700y anyeıodwo],
6.87 | E81 FIT 1081 87T |261 FI [9.08 8-6 8-91 + Zungodun
stq ur | Teag | siq UT] To SI ur) To sig ur) To |sıq us | To
u
San N EIN ZN TAN
‘0% IN OTIPgeL
Ueber das Verhältniss der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 575
Und diese wiederum zu einer zusammengezogen ergiebt:
Tabelle Nr. 21.
| frei gefesselt
Umgebung... 2.000 | 18°3 12:4
Temperatur | höchsten... or 38:2
\ Tier Ent 39:3
niedrigste . . . 33°4
höchste un U u rule 0:051 0:044
on DIEOTIESEON N N 0:037 0°006
Durehschntin a Sun 0044 | 0'019
Gewichts ne Luis Ne BR 970
EOFAURLOO NE ee 0.0045 : 00019
IV. CO,-Abgaben bei erhöhter Umgebungstemperatur.
Da die Kälte, wie wir gesehen haben, die Lebensprocesse
herabsetzt, so muss die Wärme bis zu einem gewissen Grade
dieselben steigern. Es war daher zu erwarten, dass in erhöhter
Umgebungstemperatur mit dem Wachsthum der Temperatur
des Thiers auch die CO,-Ausscheidungen einige Analogie zeigen
würden. — Daher wurden die Kaninchen in den Zinkkasten
gesetzt, nachdem dessen Temperatur vorher erhöht worden war.
Tabelle Nr. 22.
Temperatur-
Grad Cels. Durch- | Gewicht CO, auf
T. Co, o 2
Umge- Thier schnitt. | in Grm. | 1000 Gr.
bung. ‘
ı | 156 | 330 | os | |
2 0:029 0°027 0:0035
3 | | 0080 | | |
Temperatur erhöht 24—30° C.
240 | 381 | 0'028
246 | 374 | 0'030
25°8 31.9 0'025 Rd 2
264 | 272 | og | 00% ganz
25°8 al 0°031
26°4 371 0'055
Dvpov-
£
576
DD +
So ı 9 np DD -
er
Ne ©
oo so np @ DD - 8 M
en
DD AM ©
Hugo Erler:
Tabelle Nr. 23.
Durch-
schnitt.
0:029
Gewicht
in Grm.
771 |
Temperatur 24—30°C.
0041
Tabelle Nr. 24.
0'048
825 |
|
Temperatur 30—36° C.
Temperatur-
Grad Cels. co,
Umge- | hier
bung.
15°6 30°2 0:030
0'028
264 38°6 0'034
38°3 0:038
270 38'2 0:045
38.1 0'042
26°4 38°3 0'038
382 0:043
383 0'035
38'3 0°:029
25°8 38°1 0'038
381 0'043
330 0'058
25'2 38°1 0'051
168 390 | 0'035
0'053
| 0:056
30°6 38°5 0'056
31'8 384 0'060
38°4 0'062
31'2 384 0'058
38:6 0:070
38°7 0:076
31'8 33:9 0:068
324 389 0'074
39:0 0:063
31'2 3I°0 0:066
30'6 38:9 0'068
39:0 0:074
0'066
CO, auf
100'0 Gr,
0'0053
0:0058
0:0088
OD -
[orKo EI. usb SB
[SU SE
A199 PWmD m
8
9
10
11
12
13
14
Ueber das Verhalten der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 577
Tabelle Nr. 25.
Temperatur-
Grad Cels. Durch-
SE chnitt
e- nitt.
ae Thier. n
bung.
18'0 39:3 0:070
0'076 0:073
0:072
393
38°3
38'6
38:9
393
39:6
39:9
40'2
40°4
40'7
40°8
41'0
399
0:068
0074
0:084
0'072
0:071
0°:077
0:074
Dyspnoe.
0 064
0'055
0:033
0'034
0'033
0:037
Tabelle Nr. 26.
0-084
0:068
6:086
0:076
Gewicht
in Grm.
325
emperatur 36—42° C.
| 1092
Temperatur 36—42° 0.
387
382
378
881
386
38'838
390
33:2
395
396
40°0
401
402
40°5
0:050
0:074
0:095
0°088
0083
0:080
0:096
0:081
|
Dyspnoe.
0:057
0'046
0'032
0'074
0'073
0:030
0:043
0:051
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876.
|
CO, auf
100'0 Gr.
37
9:0090
0:0051
0:00969
0:007&
9:0046
mc
> Nee „EL Her)
a
IE SE
HOBSD IND
gen
Temperatur-
Grad Cels.
Umge-
bung.
| 15:6
372
36°0
42°6
42:0
Thier.
38°9
Temperatur 36—42° C.
381
376
380
384
38°8
395
39-9
40°5
407
410
411
39°5
394
39:1
39:3
395
39:8
40'2
40°5
411
41°5
417
42°3
Hugo Erler:
Tabelle Nr. 27.
Durch-
C0, :
schnitt.
0°:030 Ri
oo: | 0081
0:021
0'050
0'063
0'044 |
0'042
0'054
Dyspnoe.
0'032
0'020
0'045 0029
0024
0'016
0015 |
Tabelle Nr. 28.
0:091
0:094
Temperatur 42° C,
0073
0'061
0:081
0°072
Dyspnoe.
0'051
0'033
0:034
0'043 0°042
0'045
0:040
0'045
0'046
0092 | 847
CO, auf
100°0 Gr.
0:0035
0:0048
00032
0:0109
0:0049
0:0084
Ueber das Verhalten der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 379
Die schlechte Leitung') der thierischen Gewebe verhindert
es, dass mit dem Augenblick der Einführung der Thiere in
eine warme Umgebung sofort die Temperatur des betreffenden
Thiers zunimmt. Es verstreicht erst einige Zeit, bis sich eine
Temperatursteigerung in.der höher temperirten Umgebung ein-
stellt, und während dieser Zeit kommt noch der gewöhnliche
physiologische Abfall zur Geltung, da die Versuche nur an
gleichzeitig gefesselten Kaninchen angestellt werden konnten.
Daher nehmen wir auch mit der Temperaturabnahme gleich-
zeitig einen anfänglichen CO,-Abfall wahr; aber mit dem Be-
sinn der Wärmezunahme im Thier stellt sich auch
eine Vermehrung der CO,-Ausscheidung ein, die bis
zu denjenigen Momenten anhält, wo die hohe Körpertemperatur
Veranlassung zur Dyspnoe wird. Hier erklärt die vermin-
derte Respiration den Ausfall der CO,-Abgaben: denn durch
verringerte Zahl und mangelhafte Tiefe der Athemzüge wird
die Berührungsfläche zwischen Blut und Luft verkleinert und
der respiratorische Gasaustausch beeinträchtigt. Bei meinen
Versuchen trat diese plötzliche Unterbrechung der ansteigenden
CO,-Curve gewöhnlich bei einer Körpertemperatur von durch-
schnittlich 394° ©. ein. Bei einer Umgebungstemperatur von
der enormen Höhe von 42° C. in Tabelle 28 trat die Dyspnoe
des Thiers so früh ein, dass ein deutliches Exacerbiren der
CO, nicht mehr beobachtet werden konnte.
In der folgenden Uebersichts-Tabelle sind die Durchschnitts-
summen von Temperatur und CO, vor und während der Dyspnoe
wegen der plötzlichen durch sie bedingten Veränderung beson-
ders angegeben.
1) Vergl. Adamkiewicz: Die Wärmeleitung des Muskels. Dies
Archiv 1875. S. 239.
.
.
Hugo Erler
380
»oudskq 39mepaq ( )
"6% IN S1IP98L
6010-0 van I: 2900-0 || 8800.0 : 800.0 || 2700.0 : 98000 | * * * * "7° 007 me E09
086 928 12L ae ea. ee marken
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260.0 0200 [| 090.0 || 990.0 870.0 || 9E0.0 880.0 ruyospang
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IN 13 0 98 ‘0 "IN N "eg 0 ga ıN
Ueber das Verhalten der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 581
Ich will hier noch bemerken, dass ausser Sanders-Ezn,!)
der auch unter längerer Einwirkung hoher Wärmegrade stär-
kere CO,-Ausscheidung gefunden hat, nach Moleschott?) schon
lange vor mir ähnliche Versuche, allerdings an Kaltblütern,
nämlich an Fröschen angestellt hat und zu demselben Resultat
gelangt ist, dass Steigerung der Temperatur in der Umgebung
der Thiere eine vermehrte CO,-Abgabe zur Folge hat. Nur
weichen seine Befunde von den meinigen darin ab, dass bei
ihm die CO,-Abgaben kurz vor dem Tode der Thiere während
des Todeskampfes ihre höchste Höhe erreichten; während bei
mir grade, sobald die Thiere dyspnoetisch geworden waren,
dieselben continuirlich bis zum Tode abnehmen oder
wenigstens um vieles geringer werden, als sie vorher
gewesen sind.
V. CO,-Abgaben im gefirnissten Zustand.
Wenn auch durch meine vorstehenden Versuche der Nach-
weis geliefert ist, dass Körpertemperatur und Oxydationsprocesse
im Thier einander parallel gehen und einander gegenseitig be-
einflussen, so schlug ich zur Vervollständigung und Bekräfti-
gung dieses Befundes noch einen anderen Weg ein, die Körper-
wärme des Thieres zu modificiren, um zu zeigen, dass die
Temperaturen des Körpers, wodurch sie auch modifieirt werden,
immer direct den Lebensprocess beeinflussen. Um also die
Körpertemperatur auf andere als physicalische Weise herab-
zusetzen, wurden die Thiere in pathologische Zustände versetzt,
von denen es feststeht, dass sie Temperaturabfall zu erzeugen
vermögen. Dahin gehört bekanntlich die Unterdrückung
der Hautperspiration, die stets von einem lebhaften Sinken
der Temperatur begleitet ist.
Zu diesem Zwecke wurden nun Kaninchen zu ?2/, ihrer
Körperoberfläche mit Oelfirniss überzogen, und es ergab sich
gleichzeitig ein mit der Abnahme der Temperatur Hand in
Hand gehender CO,-Abfall in folgender Art:
1) Sächs. acad. Sitzber. Math, phys. Cl. 1867. S. 58.
2) Untersuchungen z. Naturl. d.M. u. d. Th. 1857. Bd.II. 8.315.
582 Hugo Erler:
Tabelle Nr. 30.
Temperatur- .
. | Grad Cels. Durch- | Gewicht | CO, auf
bs 00: hnitt. | in G 1000 G
X E schnitt. | in Grm. :0 Gr.
Umge-| qnier.
bung.
1 16°8 394 0:038 113
2 0'034 0 032 0°0042
3 0'026
Gefirnisst:
1 36°8 | 0'022
2 3621) 0025
3 351 0'015
4 352 | 0012
5 15'6 349 0° 09
6 345 | 0018
7 342 0'018
8 340 0°009 ß :
9 343 | 0010 ums OT
10 337 ‘0 015
11 SE) 0'015
12 332 0014
13 32:61211 20208
14 322 0'016
115) 51'8 0'014
16 iso 0014
Tabelle Nr. 31.
Temperatur-
Grad Cels. Durch- | Gewicht CO, auf
ah | a oe 100°0 6
= schnitt. ın Grm. "DO ur.
Umge- | per.
bung.
ı | 124 | 393 | oo2ı 758
2 0019 | 0021 0:0027
3 0.022
Gefirnisst:
1 86:7.21.,.0:012
2 35:6 | 0:008
3 551 0'012 E S
a 947 0.012 0'013 00018
d 368 0020
6 36 3 0:017
4
Ueber das Verhalten der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 583
Tabelle Nr. 32.
Temperatur-
Grad Cels. Durch- | Gewicht | CO, auf
an ea hnitt ne on %
Umge- Thier. schnitt. | ın Grm. 1000 Gr.
bung.
1 144 33:9 0:046 896
2 0:031 0:039 00043
8 0'041
Gefirnisst:
1 38°0 0:024
2 36°6 0'028
6) 361 0:016
4 39'8 0:011
6) 35'3 0'021
6 13°6 353 0018 0:013 0:0017
7 347 0:018
8 34 6 0:024
9 34:0 0:006
10 34:0 0:005
ıl 335 0:004
Tabelle Nr. 53.
N 13°6 397 0'056 1074
2 0:056 0:042 0:0039
3 0:035
Gefirnisst:
1 369 0:012
2 360 0:019
3 394 0:018
4 351 0:013
6) 34°8 0:007
6 344 0:006
7 34:0 0:005 N h
8 33-6 0:006 0°008 0:0007
9 349 0 005
10 342 0:004
11 32'2 0'004
12 314 0'001
13 309 | 0.006 | |
14 30:0
0:005 |
Tod. |
584 Hugo Erler:
Schon lange vor mir ist von Laschkewitsch,!) Tsche-
schichin,?) Socoloff°) u. a. der Einfluss der Unterdrückung
der Hautperspiration geprüft und immer als schädliche Folge
derselben stete Temperaturabnahme bis zum Tode gefunden
worden. Meine Versuche lehren, dass auch mit dieser, durch
Lähmung der peripherischen Gefässe bekanntlich erklärten
Temperaturabnahme, Herabsetzung der CO,-Ausscheidung Hand
in Hand geht.
Die Tabelle der Durchschnittssummen gestaltet sich in
folgender Art:
- and
rm {er} oO [er] - {ce} Q
g.o (do) © ha [= je) {=}
Q o m a BT ae
© on A > SIMSMLSO oO
Sp) 52) I2 3
= ©
i 5 a:
a = S SINN S
= SEE Q
©
{) > Zn
a een
N Der ESS OERS S
a en) - Se) np) = = > d
= A See, Zei) iS)
[er) a
2 x = ler) SO Re NaR
1 = o = [ap} op) =}
Ai o = = SE NE =
H SONO Q
>)
1 oo
En ee -
ENT 8-2 ER 2
on ap) = (>) je») [e>) {ee} =)
“ en & ..
. = = ne} ao >
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5 De SH orEo 5
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& co 2 in OD Q
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En o %
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S 5 5 : S
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. . {eb} . . . . .
7
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UNE N SEHR
| :o ur e © = ”
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an © „og E=) {>} >}
= = Bo 1 a Wr
5) = Seal ae
3
—_— — =
ınygerod ai E a
© oe ©
wo] ® SE
1) Dies Archiv 1868, S. 61.
2) ibid. 1866, S. 151. ;
3) Centralbl. f. med, Wissensch. 1872, S. 689.
Dar N,
Ph IM BL,
Ueber das Verhalten der Kohlensäure-Abgabe u. s. w. 585
Diese Angaben in eine Rubrik gebracht ergeben:
'Tabelle Nr. 35.
| frei. gefirnisst.
Umeebuner ua u | 14'8 14°3
Temperatur höchste 371
p | Thier | Br N 39:3
U niedrigste . . 32:3
Höchstens. m Su an 0:023 0'023
GOR/ Fniedrieste. ha nee. 0:027 0:005
Durchschnitt en ea 0033 0'013
BIC HR RE TR UNE 875
EOFTAUL LOGO RE N N 0:0037 : 00015
Um noch zum Schluss einen Vergleich anstellen zu können,
wie sich Temperatur und CO,-Abgaben während der drei ab-
normen Zustände des physiologischen und pathologischen Frei-
_ heitsverlustes und der Unterdrückung der Perspiratio cutanea
verhalten, möge hier noch eine Zusammenstellung der am
Schluss jener Versuchsreihen angefügten Reductions-Tabellen
folgen.
Tabelle Nr. 36.
Nr. 8. Nr, 14. Nr. 25.
Gefesselt.| Gelähmt. | Gefirnisst.
Umgebung . 15:7 16°4 | 14°3
Temperatur PAR . 387 386 371
Thier
I niedrigste. . 37:3 261 32°3
hachste Ban 2 nO-087 0:028 0:023
BROS Medraostenne a. 0:025 0:002 0:005
Direhschnitt ng a 0:039 0'014 0'013
Gewicht EA EL NN, 1168 932 875
COS aut 10007 2. 2.22 0:0934 0:0015 0°:0015
586 H.Erler: Ueber das Verhalten der Kohlensäure-Abgabe u. s. w.
Hieraus und namentlich aus den Verhältnissangaben der
im freien zu der im veränderten Zustand exhalirten und auf
100 Gr. des Körpergewichts berechneten CO, ist ersichtlich,
dass Temperatur und CO, ihren stärksten Abfall während der
pathologischen Freiheitsberaubung durch die Lähmung erfahren.
Nichts kann den hohen Einfluss der normal fungirenden Mus-
culatur auf den Lebensprocess besser beweisen.
Aus allen vorstehenden Versuchen geht hervor, dass die
CO,-Ausscheidungen in gewissen Grenzen mit den Aen-
derungen der Temperatur im thierischen Körper
vollkommen parallel einhergehen, und aus der Ab-
hängigkeit der CO,-Abgaben von den physikalischen und patho-
logischen Temperatur-Aenderungen des Thierkörpers lässt sich
direct die Abhängigkeit der vitalen Processe von der Körper-
wärme erschliessen. Wissen wir ja doch, dass jene Processe
moleculare Bewegungsvorgänge sind und dass die Bewegung
der Molecule durch die Wärme direct beherrscht wird.
Schliesslich will ich nicht verabsäumen, Hrn. Prof. Dr.
v. Wittich für die freundliche Bereitwilligkeit, mit der er
mir zur Anstellung obiger Versuche sein Laboratorium zur
Verfügung gestellt hat, sowie meinem lieben Freunde und Col-
legen Hrn. Dr. Albert Adamkiewicz für die gütige Unter-
stützung in meinen Versuchen hierdurch öffentlich meinen herz-
lichsten Dank auszusprechen.
Dioptrik der Kugelflächen und des Auges.
Von
J. HiRSCHBERG, M. D.
I. Theil.
Hierzu Tafel XIII.
Die dioptrischen Untersuchungen von Gauss (1341), welche
die Strahlenbrechung im Auge zuerst vollständig klar legten,
und welche von Listing, Helmholtz und Töpler erweitert
wurden, sind trotz ihrer einfachen Eleganz und trotz der mehr
elementaren Darstellungen von Helmholtz, Neumann, von
Lang, Reuss u. A. noch keineswegs Gemeingut der Medi-
einer geworden.
Wenn man mit G. Kirchhoff der Ansicht ist, dass die
Physik die Aufgabe hat, die vorkommenden Bewegungen voll-
ständig und möglichst einfach zu beschreiben, so dürfte
die folgende Darstellung einige Berechtigung haben, da sie
wenigstens für das medicinische Bewusstsein einfacher ist als
die bisherigen, ohne darum an Allgemeinheit und Schärfe ein-
zubüssen. Gleichzeitig haben sich dabei einige Resultate er-
geben, die nicht ohne Interesse sind.
I. Brechung an einer Kugelfläche.
$ 1. Die Hauptbrennpunkte.
B,BB, (Fig. 1) stelle die kugelige Trennungsfläche dar
zwischen den beiden gleichförmigen Mitteln I und II mit den
absoluten Brechungszahlen n, und n,; B sei ihr Scheitel, M ihr
Krümmungsmittelpunkt; die Grade AC, welche durch 2 und
M geht, heisst die Hauptaxe. Ki
/ B,MB, die halbe Apertur des einfachen Kugelflächen-
systems B, B,, sei ein so kleiner Winkel, dass sein Unter-
schied von dem zugehörigen Sinus verschwindet.!)
» a
588 J. Hirschberg:
Der Lichtstrahl DE falle parallel der Axe zwischen B und
B, auf die Trennungsfläche. Der Radius MEF ist das Einfalls-
loth, da er auf demjenigen Theil der Kugelfläche, zu dem er
hingeht, senkrecht steht. (ME=R).
£ FED=i ist der Einfallswinkel,
/ MEG=r ist der Brechungswinkel.
Unter der gemachten Voraussetzung gilt, da arc EB < are
BB,, das vereinfachte Brechungsgesetz:
P 2 Na
Dim, om sr 2
un (2)
Der gebrochene Strahl EG bleibt in der Einfallsebene DEM.
Ferner ist
2) EMB=Y/i=/r+ /0oodrir=a,
oder, für r seinen Werth aus 1) eingesetzt
3) —- : —. (1%,
Es sei EJ senkrecht auf BM und gleich c. Für die klei-
nen Winkel © und @ werden ihre sinus genommen. (BJ ist
sehr klein gegen BM.)
(ns =. 5 = Tor wenn BG=JG=F, gesetzt wird.
Die Grösse c hebt sich fort; es bleibt
UF ER! a An
1.) BR Ze oder F, = ne
Ia.) N, Du
! Pi EJ
sın BME = EM
ang : sin = EB: EJ
N "
re Eu -
Dan AR HENER.:
Für Einfallswinkel <9° (oder kleiner als — u. für das Breehungs-
verhältniss des Glases weicht der nach dem approximativehi Brechungs-
gesetz (n,i=n,r) berechnete Brechungswinkel von dem wahren um
weniger als eine Bogenminute ab, demnach um eine Grösse, welche
geringer ist als das Minimum unseres Distinctionswinkels. Dies ist
der Sinn der Vernachlässigurg der kleinen Grössen zweiter und
höherer Ordnung. {
Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 589
Unter den gemachten Voraussetzungen hängt die Lage des
Punktes @, in welchem der gebrochene Strahl die Hauptaxe
schneidet, lediglich von den optischen Constanten des Systems .
(n,, 2, und R), nicht aber vom Einfallspunkt (nicht von ec)
ab; alle zwischen B und 2, parallel der Hauptaxe auf die Con-
vexität der Kugel einfallenden Lichtstrahlen werden in einem
Punkte der Hauptaxe vereinigt, in @, dem zweiten Haupt-
brennpunkt, dessen Entfernung vom Scheitel BG = F, durch
Gl. I gegeben ist.
Was wir für die Ebene der Zeichnung bewiesen haben,
gilt für jede Ebene eines grössten Kreises der Kugel, welche
durch B gelegt werden kann. Alle parallel der Axe auf das
Kugelsegment B,BB, fallenden Strahlen werden im zweiten
Hauptbrennpunkt vereinigt. Fällt ein Strahl parallel der Haupt-
axe vom zweiten Medium her auf E, also auf die concave Seite
derselben Kugelfläche, so ist statt £ zu setzen — R,
statt nn aber n,,
statt n, endlich n, : es folgt
DDR — eB oder
R ( 1 En) ( )F 1)
N, N No N, 1
DH en Bun
Alle I der Hauptaxe zwischen DB, und B auf die
concave Seite des Kugelflächensegments einfallenden Strahlen
werden in einem Punkt der Hauptaxe vereinigt, in ZL, dem
ersten Hauptbrennpunkt, dessen Entfernung vom Scheitel
(LB=F,) durch Gl. II gegeben ist. F, wird als erste, A,
als zweite Hauptbrennweite bezeichnet.
1) Man findet dieses Resultat auch direct:
a er ae
N,
(n,—n,) = b,
um
N ZE RRE (IRRE
NEE RT ABER
Hieraus folgt F',= ns a y’ so dass (da n, jetzt das erste Me-
2
dium vertritt), wenn Lichtstrahlen auf eine concave Kugelfläche
fallen, R negativ zu setzen ist.
590 J. Hirschberg:
$ 2. Die conjugirten Vereinigungspunkte,
In Fig. 2 sei O ein beliebiger Axenpunkt, von dem ein
beliebiger Strahl OJ im Punkt J zwischen B und 2, auf die
kugelige Trennungsfläche fällt. Der Radius MJK ist das Ein-
fallsloth, {2 OJK= 7 J ist der Einfallswinkel, 7 MJP=/7p der
Brechungswinkel. Wenn alle Strahlen nahezu senkrecht auf
BB, einfallen, d. h. alle Einfallswinkel so klein sind, dass sie
gleich ihren Sinus gesetzt werden dürfen, so ist
Mo, a
ı N5
Ferner ist immer
9) ZIJ= /dHti
3) i=o+e; i-e=0; Ü-e) = a (nach 1);
Gleichung 2) und 3) vereinigt geben
4) 2 G-o=itd oder
un
€ € € €
5) Na (3-5). . Be . iR
wenn OB=OQ=f, und BP=QP=1f, gesetzt wird.
€ hebt sich fort, es bleibt
6) (N. — Mn.) m 9
Fan Ten age
wenn man rechts für n, und n, ihre Werthe aus Ia und Ila einsetzt,
(nz; —n,) (ns —n,) F (N. —nR,) 1
oder,
BT Re RR NE
d.’he,, Im) n + - =| A
I) =, - EIS oder
N
Ib) fı en
@. 6 wie Gl. I (oder IIIa oder IIIp) zeigt, dass die Lage
des Punktes P, in welchem der gebrochene Strahl die Hauptaxe
schneidet, unter den gemachten Voraussetzungen nicht von dem
Einfallspunkt, also nicht von c, sondern lediglich von /,, d.h.
von der Objectsdistanz und von den Constanten des Systems,
Nz, N,, R oder F, und F,, abhängt. Alle von O ausgehenden
Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 591
und zwischen B und B, (und ebenso zwischen D und 5,),
kurz alle auf das Kugelsegment B,BB, auffallenden Strahlen
werden in demselben Punkt der Hauptaxe, nämlich in P
vereinigt. P ist dasBild des Objectes 0. Wird der Gang
der Lichtstrahlen umgekehrt, so vertauschen der einfallende
und der gebrochene Strahl ihre Rollen: O ist auch das
Bild von P, wie aus Gl. III) ersichtlich is, Da die Gl. II
linear, d. h. vom ersten Grade ist, so giebt es für ein gege-
benes System zu einem bestimmten Objectpunkt nur einen be-
stimmten Bildpunkt und umgekehrt: O und P werden deshalb
als zwei conjugirte Axenpunkte des gegebenen Systems
bezeichnet.')
Setzen wir OL=y,=fı-F,, alo ı=yı+ Fi;
GE 9 5 RI also y, ı,: so folet
1
9, Mm+9ıFfa =yıfa+F,F, oder
IHe) 4,9 =F,F, : die eleganteste Darstellung
der conjugirten Vereinigungsweiten, welche hier von
aus IIl2) Y3 +M,=
den respectiven Brennpunkten ab gerechnet werden; y, positiv,
wenn im Sinne des Lichtstrahlenganges O vor L; p, positiv,
wenn im Sinne der Lichtstrahlen P hinter @ liegt.
Da OÖ beliebig gewählt wurde, so giebt es in jedem System
unendlich viele Paare conjugirter Axenpunkte.
$3. Wahl der Vorzeichen.
Um die Regeln der gemeinen Rechenkunst auf unsere
Formeln anwenden zu können, sind wir nicht blos berechtigt,
sondern sogar genöthigt, jeder der darin vorkommenden Grösse
das negative Vorzeichen zu geben, so bald sie continuirlich
abnehmend kleiner als Null geworden ist.
1) Setzt man in Gl.6 f, =», so wird /, die hintere Haupt-
N, Tn,
brennweite, also —- = ; für f,= © folgt ebenso
—- 2 1. die Resultate des $1.
592 3. Hirschberg:
a) Den Radius BM=R haben wir positiv gerechnet, wenn
das Kugelflächenstück dem einfallenden Licht seine convexe
Seite zukehrt. R nimmt ab, wenn BD näher an M heranrückt
und wird null, wenn B mit M zusammenfällt. Rückt B noch
weiter, so nimmt das Kugelflächenstück die entgegengesetzte
Lage gegen die einfallenden Lichtstrahlen an, die Strahlen
fallen auf die Concavität der Kugel. Die Note auf S. 589 zeigt
auch direct, dass, wenn wir in diesem Fall R negativ setzen,
wir in Uebereinstimmung mit dem Brechungsgesetz bleiben.
b) Wenn R positiv ist, wird (nach Gl.) F, positiv, falls
N,—n, positiv, d.h. n,>n,, oder Medium II optisch dichter als I.
Dann ist auch immer F\, positiv (nach Gl. II); durch Division
von Gl. II durch I erhalten wir
nn
Iilzın,
d. h. F, und F, müssen in jedem Fali dasselbe Vorzeichen
besitzen, da n, und n,, die Brechungsexponenten, nothwendig
positive Zahlen sind (>21 und <3). Negativ wird F, (d. h.
der zweite Hauptbrennpunkt hat zur Kugelfläche die entgegen-
gesetzte Lage; er liegt im Medium ]),
a) wenn R negativ, (n,—n,) positiv;
ß) wenn R positiv, (n—n,) negativ.
Diese beiden Fälle bedeuten dasselbe System, von zwei
verschiedenen Seiten betrachtet; man kann auch sagen, F, und
F, sind negativ, wenn die concave Seite der Kugelfläche dem
optisch dünneren Mittel zugekehrt ist.
Durch Subtraction der Gl. II von I folgt
Ai = GR per
F (n—n,)
V) F,-F,=R.
Für positive Systeme (d. h. Systeme mit positiven Haupt-
brennweiten) ist #3>F'\ : dieses Resultat stimmt mit den Fest-
setzungen über das Vorzeichen von R.
Setzen wir den einfallenden Strahl OJ in ungeänderter
Richtung nach dem zweiten Medium fort, (sei OJT die Richtung
des einfallenden Strahles); so wird durch unser positives System
der Strahl durch Brechung gegen die Axe hin (in Richtung JP)
IV)
’
Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 593
abgelenkt. Fällt der Strahl ?J in umgekehrter Richtung ein
auf dasselbe positive System, so wird er durch die Brechung
gleichfalls gegen die Axe hin (in Richtung JO) abgelenkt.
Der Ablenkungswinkel ö wird positiv gerechnet für diesen Fall
d=J—o= Ra an) My,
N,
Bedeutet Fig. 2, ein negatives System (R positiv, n,<n,),
so wird der einfallende Strahl OJ nach UJ abgelenkt, der
Strahl wird durch die Brechung von der Axe entfernt, der
Ablenkungswinkel ö wird negativ. Ist aber für dasselbe nega-
tive System UJ. der einfallende Strahl, so stellt OJ den ge-
brochenen Strahl dar, der gleichfalls von der Hauptaxe abge-
lenkt ist. Mithin hängt die Art der Ablenkung, ob zur Axe
oder von der Axe, nur von dem (positiven oder negativen)
Charakter des Systems, nicht von der Richtung des Durch-
gangs ab.
c) OB=f, haben wir positiv gesetzt, wenn O im ersten
Medium d. h. im Gange der einfallenden Lichtstrahlen vor 2
gelegen ist; /f, nimmt ab, wenn ÖO näher an DB heranrückt,
und wird null, wenn O mit 5 zusammenfällt. In dem letzteren
Fall wird auch (nach Gl. IIla) %=0: dieses Resultat ist selbst-
verständlich, da von B aus Lichtstrahlen nach beiden Medien
vordringen, somit in B der Öbjeet- und der Bildpunkt zu-
sammenfallen. Rückt O in gleichem Sinne weiter, d.h. über 2
hinaus in das zweite Medium hinein, so wird f,<0, d.h. negativ.
BP=f, haben wir positiv gerechnet, wenn P im Sinne der
vordringenden Lichtstrahlen jenseits D liest; f, nimmt ab, wenn
P näher an B heranrückt und wird Null, wenn P mit DB zu-
sammenfällt. Rückt P in gleicher Richtung noch weiter über
B hinaus, also in das erste Medium hinein, so muss %<0, d.h.
negativ werden. Für ein negatives System wird 7, und A,
negativ; es wird also aus
RN
Ila) f Ar)
d. h. für positive /, wird /, immer negativ: für einen im ersten
Mittel gelegenen Objeetpunkt liest auch der Bildpunkt im
ersten Mittel.
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 33
594 J. Hirschberg:
$4. Abbildung von Objecten.
Es sei in Fig. 2 ausser O noch ein anderer Punkt O'
neben der Hauptaxe vorhanden, so dass OM=O'M und OMO!
ein kleiner Winkel (etwa / OMO'<,.).
Wir betrachten jetzt O'M als Axe des Systems. Alle von
O' auf B,B, fallenden Strahlen besitzen so kleine Einfalls-
winkel, dass diese gleich ihren Sinus gesetzt werden können:
folglich werden alle einfallenden Strahlen (nach $ 2) in einen
und denselben Punkt P' der Axe Ö'M vereinigt, so dass
MP'-MP.
Liegen zwischen O und O' leuchtende Punkte auf der um
M mit dem Radius OM construirten Kugelfläche, so liegen ihre
. Bildpunkte zwischen P und P‘ auf der Kugelfläche, welche um
M mit dem Radius MP construirt wird. Object und Bild
sind geometrisch ähnlich (oder perspectivisch zu
einander), weil alle Axen in M sich kreuzen. Object und
Bild haben die entgegengesetzte Lage zur Hauptaxe aus dem
nämlichen Grunde. Sehr kleine Stücke einer Kugelfläche
weichen von der Tangentialebene nicht merklich ab, d. h. der
kleine Bogen O'O in Fig. 2 kann durch die Grade O'0 1 OMP,
und der kleine Bogen P'P durch die Grade P'P1OMP er-
setzt werden.
Von einem ebenen und zur Hauptaxe senk-
rechten Object O'O, dessen scheinbare Grösse (vom
Mittelpunkt des Systems M aus gesehen) sehr klein
ist,!) entwirft das System ein bestimmtes ebenes und
zur Hauptaxe senkrechtes Bild, welches dem Object
ähnlich ist.
Für ein negatives System gelten analoge Schlussfolgerungen;
nur liegt (Fig. 2,) für positive /, der kleine Bogen pp’, welcher das
Bild von O0' darstellt, von M aus auf derselben Seite wie
OÖ! und hat deshalb auch dieselbe Lage gegen die Hauptaxe
(vergl. $3 zu Ende). Wird (Fig.2) O0‘ mit $, und P’P mit —ß2
1) muss im Verhältniss zu R eine kleine Zahl darstellen.
Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 595
bezeichnet, (das Minuszeichen bedeutet die entgegengesetzte
Lage gegen die Hauptaxe), so folgt aus der wegen Gleichheit
der Winkel stattfindenden Aehnlichkeit der rechtwinkligen
Dreiecke O'OM und P'PM
Br OM _ fı+R u ne
2 : F,+(fhı=
8% PM 5,-R 7-
HU r)
Fr F,
hıza-a,3h. 8 a DA F, — (8361. Ille).
Pı REEL IN _ (Ey +91) Pı _(F3+9.)9ı
pa ach Gl. V)=:
ER I IE Ana ln TE on
F +
$ı
Pı
P) F}
VI) Pı N U Sa.
a
oder, wenn für g, und 9, wieder aus $ 3 ihre Werthe eingesetzt
werden,
Ba 7 12 L = I el 2
Die Formel VIa) ist abgeleitet für positive Systeme und
Bı
besagt, dass für positive /,, die grösser sind als F\, 8,
2
negativ wird, d. h. die beiden conjugirten Bilder im Verhält-
niss zur Hauptaxe die entgegengesetzte Lage besitzen, und dass
das directe Bildgrössenverhältniss 5: abnimmt, wenn f, ab-
nimmt, also der absolute Werth von + (f,- #,) abnimmt.
Für 2 NA Can 1 oder = an
EB B
für fı= #ı wird — 0 oder, wenn £, endlich, &, =—»,
2
d. h. für ein endliches Object im ersten Hauptbrennpunkt
wird das Bild a gross. Das inverse Bildgrössenver-
Re _hE
hältniss FT — nimmt ab mit abnehmendem /;;
1 I)
=
für ,=2 F, wird =
ft
= 1'oder fı = Ba
für f,= F, wird En = 0 oder f,=—
ID
38*
hi, Ba a A
"596 J. Hirschberg:
Bı _fıt
a2 Mr Fi 2 +R’
sie das directe Bildgrössenverhältniss eines negativen Systems
dar, für welches aber bei positivem f, immer /, negativ, also
Pı DE ı+R_W
Ba JetR pp’
und VI, auch für negative Systeme.
so stellt
Schreiben wir Gl. 1 dieses $ jetzt
wie Fig. 2, ergiebt: somit gelten die Gl. 1, VI
Setzen wir in VI und VIa) F, resp. F, negativ, f, aber
positiv, so folgt für ein negatives System
Br RN Bi ur. MER
a Pa an F,34+fs
d. h. bei positiver Objectsdistanz ist das Bild stets dem Object
gleich gerichtet.
$5. Einfachste Darstellung des Gesetzes der con-
jugirten Bild-Distanzen und der conjugirten Bild-
grössen.
Die Objectsdistanz OB=f, und die Bilddistanz PB=f,
(Fig.2) wurden vom Scheitel B aus gerechnet. Man kann sie aber
auch von anderen festen Punkten der Hauptaxe aus rechnen,
die Objectsdistanz vom ersten Hauptbrennpunkt Z, die Bild-
distanz vom zweiten Hauptbrennpunkt @.
Wir haben dazu die Zeichen 9,, g, gewählt und erhielten
FF;
’ı
1) 9,9, = FıF, le $3) oder 9 =
2) - En = B VI $ 4)
9; ist umgekehrt proportional zu y,; wenn g, abnimmt,
nimmt d, regelmässig zu, und umgekehrt.
%ı=+%, giebt nach Gl. 1) 9,= 0,
9,=+F, » E) » $a=+tF»
gr, 0 > » » P9=-+®,
=» » » » $3=-F5,
ee ar 2 > RN
Wählt man die Zahl F,.F, als Einheit des Längenmaasses,
setzt man F.. F,=1, so wird überraschend einfach p, =
L
Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 597
Aus Gl. 2) folst für
ßı Ba
=+o0, —= = ı)
e2 "Ba Pı :
B%
a et an
Bı Ba
= 0, ———= NO ee io
ET N TEN ;
3 22 _
9,=-F,—=-Hl en lo
Ba u
Bi Ba
Yı = 09) a 0)
8$6. Die Divergenzwinkel.
Fällt von dem Object O00' (Fig. 2) ein beliebiger Strahl
O0J auf die Trennungsfläche des Systems, so ist d der Diver-
genzwinkel zwischen dem einfallendem Strahle und der
Hauptaxe, tang d = no 1 oder, sehr kleine Divergenzwinkel
vorausgesetzt;
1) fı d=
Der zu OJ conjugirte Strahl JP macht mit der Haupt-
axe den Winkel D_e. Das Minuszeichen ist einleuchtend;
denn wird durch P die Grade PS+0J gezogen, so dass
zd=_/d'!, so hat ZJPB gegen die Hauptaxe die entgegen-
gesetzte Lage wie d'.
JQ (6
tang (-e) = op ni
2 hnOZE.
Aus 1 und 2 folgt
a) dead Fi,
Fa d
Jı F,
Dr G1. II, 8 2).
N SE b$ )
= I el ea, ed ae ren giebt
Pa la;
fı Ba ER Toy \
ze
an a NN
ES NR u |
7) j7 nr Die eingesetzt in 3, giebt — mc :
598 J. Hirschberg:
oder, wenn die absolute Werthe der Divergenzwinkel für den
einfallenden Strahl statt d jetzt &,, für den gebrochenen Strahl
statt e jetzt «, genannt werden,
VID) nıcı ßı = Nng05P>.
$7. Die charakteristischen oder fundamentalen
Punktpaare der Hauptaxe.
Während 9, von + bis O0 und von O0 bis — varlirt
wird, nimmt auch 4, jeden Werth von O0 bis +0 und von —
bis O an, aber jeden Werth nur einmal, d. h. für ein bestimm-
tes g,. Aus der unzähligen Anzahl conjugirter Axenpunkte
wollen wir einige charakteristische oder fundamentale
hervorheben.
1) 9, =+%, %=0. Zu dem vorderen in unendlicher
Ferne gelegenen Endpunkt der Hauptaxe ist der zweite
Hauptbrennpunkt conjugirt. (Vgl. $1 und $5.)
2) 9 =+%, $%,=0. Zu dem hinteren in unendlicher
Ferne gelegenen Endpunkt der Hauptaxe ist der erste Haupt-
brennpunkt conjugirt.
3) 9ı=-Fi, m=-Fr.
y,=-F, bedeutet (Fig. 2) den Scheitel 3, da LB=F, und
gı negativ ist, wenn es im Gange der Lichtstrahlee hinter Z
liegt.
„= —F, bedeutet auch den Scheitel B, da @GB=F,, und
negativ ist, wenn es im Gange der Lichtstrahlen vor G liegt.
(Vgl. $2 zu Ende.)
Der Punkt B ist sich selber conjugirt (vgl. $ 3, ce) und wird
als Hauptpunkt des Systems, die in B auf der Hauptaxe
senkrechte Ebene als Hauptebene bezeichnet.
Setzen wir in VI) m Tr jetzt
2 1
Yı=-F,, so folgt
Pı
Ba
als charakteristische Eigenschaft der Hauptebene:
Object und Bild sind gleich und gleich gerichtet.
($ 3.) Aus VII $ 6 folgt für die Hauptebene m - _
v2
ug
Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 599
4) ıı=-P, 9%p=-Fı. %ı=- F, giebt den Krümmungs-
mittelpunkt M, ML=-(F,ıR)=-FR, (G.V) %=-F,
giebt denselben Punkt M, GM=-(F,- R)=-F..
Auch der Punkt M ist sich selber conjugirt, wie selbst-
verständlich, da die von M ausgehenden Strahlen (Radien)
vollkommen lothrecht auf die Kugelflächen fallen und unge-
brochen in das andere Medium austreten, und umgekehrt.
M wird der Knotenpunkt des Systemes genannt, und
die in M auf der Hauptaxe senkrechte Ebene die Knoten-
punktsebene.
Setzen wir in VI) a = menu jetzt
r2 EN
Q,= —F',, so folgt
a m
BE en,
oder ar
Bı N
RR: { n SOME
Dies eingesetzt in VII) _! = Pr giebt
Naty Bı,
ı@ı _Nr oder
N
En =1
9
als charakteristische Eigenschaft der Knoten-
punktsebene: die Divergenzwinkel sind gleich d.h.
ein nach dem Knotenpunkt zielender Strahl wird nicht ab-
gelenkt.
$8. Erweiterung des Begriffs der Hauptbrennweiten.
Befindet sich das Object B,= 1 im ersten Hauptbrennpunkt,
so ist die directe Vergrösserung v E Au NN vn gleich null,
Ba =
da pı=o ($5). Wird das Object ß,=1 um — F\, auf der Axe
verschoben, d. h. nach dem Hauptpunkt, so ist u=4+ gt
2
($ 7), da 9,=-Fı. Wird dasselbe Object 8,=1 beliebig auf
der Axe verschoben, so erlangt die directe Vergrösserung
IR Real EA ER
609 J. Hirschberg:
Me
= jeden beliebigen Werth zwischen +0 und -o ($5),
b
aber jeden nur ein Mal d. h. für einen bestimmten Werth der
variablen g,. Wird das Object B,=1 von einem beliebigen
Axenpunkt aus um die Strecke — F, verschoben, so wächst
die directe Vergrösserungszahl » jedes Mal um die Einheit an.
Es sei nn F =d, wo a eine beliebige Zahl; ferner
Pı Pr B
BES FreHt l. Gesucht wird y,'.
2 1
PNÜNEN URN ieh l ‘ F, wodurch B
ah N pn? also g2 =g> - £, wodurch unsere De-
hauptung erwiesen und eine allgemeinere Definition der
vorderen Hauptbrennweite gewonnen ist.
Es sei für ß,=1 das inverse Bildgrössenverhältniss, wel-
ches auch (nach $5) jeden Werth zwischen +0 und —
annehmen kann,
il - =, wo a eine beliebige Zahl; ferner
IN HN
Banıaı fa’ helm N. ht wird 1
ae esucht wird g,'.
J ) nell. . .
en = +1= 27 2, also 9a'=4s—F,. Wird das Bild
ß, des Objectes 6, um —F, auf der Hauptaxe verschoben
(durch Verschiebung des Objectes 8,), so wächst das inverse
Bildgrössenverhältniss um die Einheit.
Diese erweiterte Definition der Hauptbrennweiten giebt
die sicherste Methode zur empirischen Bestimmung derselben,
ll. Brechung an beliebig vielen Kugelflächen.
89. Unter der Voraussetzung, dass die sämmtlichen
vorkommenden Lichtstrahlen mit der Hauptaxe eines beliebigen.
centrirten!) Systemes von m Kugelflächen zwischen (m+]1)
isotropen Medien nur kleine Winkel (= 9° oder = bilden, gel-
1) d.h. eines solchen dessen m Krümmungsmittelpunkte a der-
selben Geraden, der Hauptaxe, liegen.
TER Tr
e,
/
F
Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 601
ten die folgenden Sätze!) wie für eine einzelne Brechung so
auch für alle m Brechungen:
1) Ein homocentrisches Strahlenbündel bleibt homocentrisch
($ 2 und $4).
Fällt ein homocentrisches Strahlenbündel auf die erste
Kugelfläche, so bleibt es nach der Brechung homocentrisch.
Folglich gelangt ein homocentrisches Strahlenbündel auf die
zweite Kugelfläche, welche dasselbe nach der Brechung wieder
homocentrisch hervorgehen lässt u. s. f.
2) Von einem ebenen Object ß, das senkrecht zur Haupt-
axe steht, wird nach den m Brechungen ein ebenes Bild £’
gebildet, das senkrecht zur Hauptaxe steht und dem Object
geometrisch ähnlich ist. |
a) Die erste Brechung entwirft von 8 das Bild ß,, dieses
dient als Object für die zweite Brechung, welche das Bild ß,
liefert u. s. f. Ist 8 senkrecht zur Hauptaxe, so bleibt auch
ß, senkrecht zur Hauptaxe; ist &, senkrecht zur Hauptaxe, so
bleibt auch ß, senkrecht zur Hauptaxe, u. s. f. ($ 4.)
b) en see
Bneo 9%
3) Ist das Object 8 nach Lage und Grösse bestimmt, so
ist auch das definitive Bild 8', welches nach den m Brechungen
hervorgeht, nach Lage und Grösse bestimmt.
Von dem nach Lage und Grösse bestimmten Object ß lie-
fert die erste Brechung an der ersten gegebenen Kugelfläche
ein nach der Lage und Grösse bestimmtes Bild 8, ($4); ß,
wird Object für die zweite gegebene Kugelfläche, welche von
ß, das nach Lage und Grösse bestimmte Bild ß, liefert, u. s. f.
bis ß'. Das directe Bildgrössenverhältniss . des zusammen-
1
gesetzten Systems hängt, abgesehen von den Constanten der
m Kugelflächen, lediglich von der Grösse und Lage des Ob-
1) Helmholtz, physiol. Optik S. 50.
602 J. Hirschberg:
jectes ab, also, wenn die Grösse des Objectes als constant be-
trachtet wird, lediglich von seiner Lage (Objectdistanz) und
den Constanten der m Kugelflächen.
4) Es ist nßa =n'ß'a', wenn die Grössen ohne Index sich
auf das erste, die mit dem Index ' sich auf das letzte der
(m+1) Medien beziehen. ($ 6.)
n, 0, ßı =, ß,
N, 5 & =n; 0; ß;
Nm Am Bm = Nm + 1&m + 1m +1
n,c, ßı = Nm+1&m+1ßm+ı oder
nianB nah.
$10. Die Hauptbrennpunkte des zusammengesetzten
Systems.
Aus dem ersten Satz des $ 9 folgt, dass das aus m Kugel-
flächen zusammengesetzte System auf der Hauptaxe einen
zweiten Brennpunkt B‘ besitzt, den Vereinigungspunkt der im
ersten Medium (von einem unendlich fernen Punkte der Haupt-
axe herkommenden) parallel der Hauptaxe einfallenden Licht-
strahlen; und einen ersten Brennpunkt D, den Vereinigungs-
oder Ausgangspunkt der im letzten Medium parallel der Haupt-
axe verlaufenden Strahlen.
Die Lage der Brennpunkte ist auf empirischem Wege
einfach zu ermitteln.) (Wie dieselbe theoretisch aus den Con-
stanten der m Kugelflächen gefunden wird, soll im nächsten
Abschnitt gezeigt werden.)
In B befinde sich das Object ß=1. Wir betrachten irgend
einen von B ausgehenden Strahl, dessen Divergenzwinkel «
einen endlichen Werth besitzt; der zugehörige definitive Bild-
strahl tritt parallel der Hauptaxe aus, x'=0. Nun ist immer
9) a
lee ee
1) Teleskope, d.h. solche Systeme, denen bei endlicher Dimen-
sion unendlich entfernte Brennpunkte zukommen, müssen zu diesem
Behufe in ihre beiden Hälften zerlegt und jede Hälfte besonders unter-
sucht werden.
Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 603
Der eingeklammerte Factor rechterseits ist von endlichem
1 ? BER,
Werth, da = nach der Annahme endlich, — seiner Natur nach
endlich und zwischen den Grenzen 3 und '!/, eingeschlossen
ist; &' aber ist null: folglich wird die rechte Seite des GI. null,
also & = 0, wenn die vom ersten Hauptbrennpunkt des zu-
ß
sammengefassten Systems, nämlich von B ab, gerechnete Object-
distanz =0. (Wir rechnen die Objectdistanz positiv, wenn
8 vor B liest und umgekehrt.)
Da das directe Bildgrössenverhältniss oder die Vergrösse-
rung des zusammengesetzten Systems m für ein Object ß=1
lediglich von der Objectdistanz und den Constanten der m
Kugelflächen abhängt (8 9, 5), dergestalt, dass für das gegebene
System zu einer bestimmten Distanz des Objectes 8=1 nur
eine bestimmte Vergrösserung = gehört; so kann die Gleich-
. ß
ung, welche den Zusammenhang zwischen 7
eine lineare sein. Die allgemeinste Form einer solchen
und regelt, nur
| Gleichung vom ersten Grade ist bekanntlich 2, = Cp+C', wo
C und C’ Constanten.
Da für 9=0 auch == 0 wird, wie oben bewiesen worden,
so fällt C’ fort; es bleibt = Cy. (Selbstverständlich darf
man nicht setzen E= 2 da für g=0 auch 7=0, nicht aber
gleich &).
$11. Die Hauptbrennweiten des zusammengesetzten
Systems.
Hat das Object ß=1 eine bestimmte Entfernung von B,
folglich $ einen bestimmten Werth; so bedeutet ($ 9,3) das
directe Bildgrössenverhältniss des zusammengesetzten Systems
- eine bestimmte Zahl v. Jetzt verschieben wir (nach Töpler)
604 J. Hirschberg:
dem Gange der einfallenden Lichtstrahlen entsprechend, so
dass p abnimmt, 8 auf der Hauptaxe um eine so grosse Strecke
F, dass v um die Einheit angewachsen ist; b’ sei dann die
Grösse des definitiven Bildes.
rue
ß |
mw. N Op“. ‚Subtr: i
LAU DR RL NIGHT
1=—- CEH'ooder I) Ve
Damit - noch weiter um eine Einheit anwachse, muss
von hier ab 8 wieder in demselben Sinne um dieselbe Strecke
F' verschoben werden, da der absolute Werth der Vergrösse-
rungszahl v, von der wir ausgingen, ganz beliebig war. F ist
also für das aus m Kugelflächen zusammengesetzte System eine
Constante von endlichem Werthe, welche wir als die erste
Hauptbrennweite des Systems definiren. Wir erhalten so-
mit aus >= Cp ($ 10) und aus ee schliesslich
ae
BR
p ist variabel, da die Objectsdistanz (gerechnet von B)
jeden beliebigen Werth von + bis — oo annehmen kann.
Dabei muss für 8=1 auch das directe Bildgrössenverhältniss
wegen der linearen Gl. 2) jeden beliebigen Werth von +
bis —co annehmen, aber jeden nur ein Mal d. h. für ein be-
stimmtes q.
Für = 0 wird = 0
ß
=ıF —— et
op Sr ß'
F ä
=— _- 1
p B' air
= [e'o) = [2.0] u.S: I
Wir können aber auch ß' als Object betrachten und gleich
Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 605
1 setzen. Für eine Objectdistanz 9'!) gleich null wird auch
a (Vgl. $ 10). Deshalb können wir setzen
B'
3) = Dy',
B 2
wo D eine noch zu ermittelnde Constante darstellt.
Für irgend ein bestimmtes 4‘ sei > =w, wo w irgend
eine Zahl bedeutet. Wir verschieben ß', so dass „' abnimmt,
auf der Hauptaxe um eine so grosse Strecke F", dass w um
die Einheit angewachsen: 5 sei jetzt die Grösse des definitiven
Bildes.
ß'
_=-Du'=
Ba
=Dip—P)=w+1
— DE‘ = 1 oder 3) D= 7
folglich 4) — —
Da die Zahl w, von der wir ausgingen, ganz beliebig, ist
F' für das aus m Kugelflächen zusammengesetzte System eine
Constante, welche wir als die zweite Hauptbrennweite
des Systemes definiren.
Aus 2 und 4 folst allgemein
r? RG En |
Bi
und hieraus
I pp/= ER":
genau so wie für eine einzelne Kugelfläche.
y ist die Objectdistanz, welche wir positiv gerechnet haben,
wenn im Gange der vom ersten Medium her einfallenden Licht-
strahlen 8 vor B liegt; @' ist die Bilddistanz, welche wir po-
sitiv gerechnet haben, wenn im Gange der vom ersten Medium
her einfallenden Strahlen ß' hinter B' liegt. F ist die
erste Hauptbrennweite, F" die zweite Hauptbrennweite des zu-
1) Gerechnet von B', positiv, wenn %' im Gange der jetzt aus
dem letzten Medium herkommenden Strahlen vor B’ liegt.
606 J. Hirschberg:
sammengesetzten Systems. Wann diese Grössen positiv zu
rechnen sind, soll später definirt werden (Abschn. III). Jeden-
falls nennen wir ein zusammengesetztes System collectiv,
wenn es reelle Brennpunkte besitzt, wenn also ein parallel
der Hauptaxe im ersten Medium auffallendes Strahlenbündel
zu einen auffangbaren Bildpunkt im letzten Medium wirklich
vereinigt wird. Man sieht sofort, dass, wenn der eine Brenn-
punkt des zusammengesetzten Systems reell ist, auch der andere
reell sein muss. Wäre dies nicht der Fall, so würde ein zur
Hauptaxe paralleles Strahlenbündel durch dieselben (identischen)
m Kugelflächen bei der einen Durchgangsrichtung nach der
Axe zugebrochen, bei der Entgegengesetzten von der Axe weg-
gebrochen, wodurch für ein oder mehrere Kugelflächen ein
Widerspruch mit $ 3,c entstehen mässte.
@l. I regelt die Grösse, Gl. Il die Lage zweier conjugirter
Bilder des zusammengesetzten Systems.
Wenn % abnimmt, nimmt 4‘ zu, da
FR
a
Wenn p von +o bis - « variüirt wird, nimmt @‘ jeden
Werth von + bis — oo an, aber jeden nur ein Mal d.h. für
4
G
ein bestimmtes 4.
Für = Owird p=+o
g= F p'= F
ol NE
y=+» [pr — 10 US
Wegen = = -- muss auch 5, wenn p von + w bis —
ß
varürt wird, jeden Werth von + bis — © annehmen, aber
jeden nur ein Mal d. h. für ein bestimmtes g.
Deshalb ist die Frage zulässig, für welche Werthe von
die Vergrösserung 5; gleich den einfachen Zahlen
+%©,+1,0,-1, -©. (Siehe unten $ 14.)
$13. Zweiter Beweis, dass m Kugelflächen durch
ein System zu ersetzen.
Waren die m Kugelflächen vollständig gegeben, so mussten
Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 607
ihre Brennweiten und ihre Brennpunkte, folglich auch die
gegenseitigen Abstände der letzteren bekannt sein. Wir wollen
für die m Brechungen an je einer Kugelfläche der Bilddistanz
p und der Brennweite F' für jede einzelne Kugelfläche einen
unteren Index 1, 2, 3 bis m beilegen, welcher die Ordnungs-
zahl der brechenden Kugelfläche bezeichnet, und einen oberen
Index ‘' oder ‘, je nachdem die betreffende Grösse sich auf das
erste oder zweite Medium irgend einer der m Kugelflächen
bezieht. Es sind dann gegeben
Biss Blau Allau., su Re bis Braunau;
und ferner d, = Bi" B,';
DB Ban Bas
dm 1 = BR“ Ban’.
Für die einzelnen Kugelflächen gelten jetzt die folgenden
Relationen (I. $5, Gl. VL)
a Em
ENT, m p"
Ä [L
a ana es
Ba IE P2
Bm 1 mi em Fam
Pm PB" Fm Em’
Multiplieirt man diese Gleichungen mit einander, in dem
man setzt
OR ZEN NG a A im DR
Nur
BP) Pa 93" 93" - - . . Pm'=y
VER SHNESN R mn — Bi
ÖR B Rae he sontolet,
a oder
P
DER Ce )
B® NR +Pp
Da ß ganz beliebig, so Ei diese analytische Formel
geometrischh dass es ein einfaches analoges System
geben muss, welches genau dasselbe leistet, wie die
Summe der m einzelnen Kugelflächen d. h. von jedem
nach Lage und Grösse gegebenen Object ß dasselbe nach Lage
608 J. Hirschberg:
und Grösse bestimmte Bild ß’ liefert, wie die m Brechungen
der m Kugelflächen. Unsere Substitutionen a bis ö sind er-
laubt, da die sämmtlichen Grössen y: mit zwei Indices nur von
der ersten y,' und von den Constanten der einzelnen Kugel-
flächen abhängen.
s REN ER
N Dr
dı=g1"+ pa" oder ag EREN {a8 Sa Hu ae
Yı Yı
u ae Eh
Pa = 4 = D 4 Mm
Pa ®,.dı -Fı'F,
s Yr'd,d - 9, F (FE u
a a a nn.
m Au gr FE,
Geben wir in unserer Gl. I dem +‘ dieselbe Bedeutung
wie im vorigen $, d. h. rechnen wir die Objectsdistanz von
demselben Punkte (BD) wie dort; so hat auch F" hier dieselbe
Bedeutung wie dort.
Die Brennweiten des substitutiven Systems müssen das
Product der entsprechenden Brennweiten der einzelnen Kugel-
flächen enthalten; es muss sein die erste Brennweite F" des
substitutiven Systems
NEN Pippi einen lm leide
und die zweite Brennweite
PUR, BU er int ADD
‘X einen noch zu ermittelnden Factor darstellt, der bei Aus-
führung der Multiplication @,'43'*"ym' in den Nenner, bei
Ausführung der Multiplication y5”'P-3‘' "4 m‘' in den Zähler des
resp. Bruches tritt ($ 20). Aber auch ohne den Factor A zu
kennen, können das Verhältniss F’: F“ ermitteln, da diesen
beiden Grössen A gemeinsam ist.
Das zweite Medium der ersten Kugelflläche ist identisch
mit dem ersten Medium der zweiten Kugelfläche u. =. f.
Also ist nach. ($ 3, IV)
Fa NR
DEF
1 U2
751 N
Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 609
Fm' Nm
Em“ ® Nnm+1
« Multipl.
Fy' F,' F,' ee. Fm' _MeNng N, Heim 1
Ru Fz4u Ru Ra] Em" SW Ny sm ER
TE OD
also [nach I] II) m = en
wenn n das erste, n' das letzte der (m-+1) Medien charakterisirt;
genau wie bei einem einfachen System. ($ 5, IV.)
14. Die fundamentalen Axenpunkte des zusammen-
P
gesetzten Systems. (Vgl. Fig. 5.)
)) g=+» giebt (aus Gl. III $ 12) 9'=0. Zu dem vor-
deren in unendlicher Ferne belegenen Endpunkte der Hauptaxe
ist der zweite Hauptbrennpunkt 5’ conjugirt. ($ 10.)
ß ß
gi =—- 0, —=(.
Zu jedem im ersten Medium parallel der Hauptaxe ver-
laufenden Strahl gehört ein conjugirter Strahl, der im letzten
Medium durch den zweiten Hauptbrennpunkt geht, und um-
gekehrt.
2) g'=+© giebt (aus Gl. II $ 12) 9=0. Zu dem hin-
teren in unendlicher Ferne belegenen Ende der Hauptaxe ist
der erste Hauptbrennpunkt conjugirt. ($ 10.)
Bar: Br
B 5 gi =0.
Zu jedem im ersten Medium durch den ersten Hauptbrenn-
punkt gehenden Strahl gehört ein conjugirter Strahl, der im
letzten Medium parallel der Hauptaxe verläuft, und umgekehrt.
3) o=—F giebt (aus Gl. III $ 12) y’=- F'. Trägt man
von B aus auf der Hauptaxe die Strecke -— ab, so dass
HB=-F, und von B' aus die Strecke - F', so dass H'B'=_F':
so sind H und H' zwei conjugirte Axenpunkte. Dieselben
werden als Hauptpunkte des zusammengesetzten Systems
und die in ihnen auf der Hauptaxe senkrechten Ebenen als N
Hauptebenen bezeichnet. Wird in Gl. IV © =) jetzt
p=-F gesetzt, so folst für die conjugirten Hauptebenen
Reichert’s und du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 39
610 J. Hirschberg:
5-1 oder ß=Pß' als charakteristische Eigenschaft der-
selben: Object und Bild sind gleich und gleich ge-
richtet. Aus la folgt für dieselben Ebenen = =
Ein Object in der ersten Hauptebene hat ein Bild in der
zweiten Hauptebene, welches dem Object gleich und gleich
&erichtet ist; und umgekehrt. Ein Strahl, welcher auf die
erste Hauptebene einfällt in der Entfernung +«a vom ersten
Hauptpunkt, tritt hervor aus der zweiten Hauptebene in der-
selben Entfernung +a vom zweiten Hauptpunkt; die Gerade,
welche die Durchschnittspunkte der Strahlenbahn durch die
beiden Hauptebenen mit einander verbindet, ist der Hauptaxe
parallel. In einem zusammengesetzten System stehen die bei-
den Hauptpunkte um die Distanz D von einander ab, bei
einem einfachen fallen sie in denselben Punkt, den Scheitel der
brechenden Fläche, zusammen. Von den Hauptpunkten des
zusammengesetzten Systems aus werden die Brennweiten ge-
rechnet, BA=F von H aus und B’H'= F' von H' aus: positiv
im Sinne der Lichtbewegung. Auch die Bilddistanzen (con-
jugirten Vereinigungsweiten) können von den Hauptpunkten
aus gerechnet werden, indem man setzt
S=y+F odr =f-F und
f=gp'+F oder y=f!- = dann folgt aus II)
W-AGH=RR; j-,- an oder
nr = 7, und ebenso VD f= Fr an
4) 9=-F" giebt (nach Gl. I1$ 12) g'=—-F. Trägt man
auf der Axe von B aus die Strecke BK=-F' ab und von
B' aus die Strecke B’K'=-F; so stellen K und Ä' zwei
conjugirte Punkte dar. Dieselben werden als Knotenpunkte
und die in ihnen senkrecht zur Hauptaxe errichteten Ebenen
als Knotenpunktsebenen bezeichnet. Wird in Gl. IV & =-7
jetzt 9=— F' gesetzt, so folgt für die conjugirten en.
= er — (Gl. II $9) und (aus IIs $ 9)
Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 611
Be
BERN ne! a
en =1 oder «=«’
&
als charakteristische Eigenschaft derselben: ein Strahl
der im ersten Medium nach dem ersten Knotenpunkt zielt,
geht im letzten Medium vom zweiten Knotenpunkt aus und
bleibt nach der Brechung seiner ursprünglichen Richtung par-
allel.e Ein Object 8 in der ersten Knotenpunktsebene hat sein
Bild 8‘ in der zweiten Knotenpunktsebene, so dass ß'= er &
Während in einem einfachen System die beiden Knotenpunkte
in einen, den Krümmungsmittelpunkt, zusammenfallen, sind
sie in einem zusammengesetzten System um die Strecke D!
von einander entfernt. D'=-D; denn es ist identisch
2,2, 1 MD.
da hierdurch dieselbe Strecke BB', die Distanz zwischen den
beiden Hauptbrennpunkten auf zwei verschiedene Arten aus-
gedrückt wird. |
9) Setzen wir weiter (nach Töpler) Dr 1, so erhalten
wir die beiden negativen Hauptpunkte AR und A‘, für welche
die conjugirten Bilder gleich gross, aber entgegengesetzt ge-
richtet sind und für welche
mn
a DE SE ON
er Til
6) Setzen wir endlich 2 =-1, so erhalten wir die nega-
tiven Knotenpunkte %& und k‘, für welche die conjugirten
Divergenzwinkel an absoluter Grösse gleich, aber entgegen-
gesetzt zur Axe gerichtet sind, so dass die gebrochene Bahn
eines im ersten Medium durch k, also im letzten durch k' ge-
gehenden Strahles über AK‘ als Basis ein gleichschenkeliges.
Dreieck bildet und dass für k und k'
y=+F'; y'=+F; en
39°
612 J. Hirschberg:
$15. Die Construction conjugirter Strahlen und
Bilder
für ein beliebiges System, dessen fundamentale Punkte bekannt
sind, folgt aus den in $ 14 geschilderten Eigenschaften der
letzteren. (S. Helmholtz, physiol. Opt. 41 und Töpler,
Poggendorff’s Annalen u.s.w.Bd. 142, S. 234 ff.) Da fünf Paare
fundamentaler Punkte existiren, so sind, wenn diese Paare zu
je zweien als gegeben betrachtet werden, zehn verschiedene
Constructionen ausführbar, von denen die folgenden die
einfachsten sind:
1) In Fig. 3 sei ae der einfallende Strahl. Man be-
trachte die vier Hauptpunkte als gegeben, und mache Z'e'=He
sowie —h'a' - ha: so ist e'a' der gesuchte austretende Strahl.
2) In Fig. 4 sei a ein leuchtender Punkt. Man be-
trachte die vier Knotenpunkte als gegeben, errichte im Halbi-
rungspunkte von KK' ein Loth, und ziehe die Gerade ak,
welche das Loth in m schneidet; verbinde m mit &' und ziehe
von K' zu aK eine Parallele: wo diese mk schneidet, liegt der
gesuchte Bildpunkt a.
Fig. 5 giebt nach Töpler die zehn fundamentalen Punkte
für das menschliche Auge.
$ 16. Substitution eines zusammengesetzten Systems
durch ein einfaches.
Für jedes zusammengesetzte System wie für das einfache
(se. die einzelne Kugelfläche) gelten die folgenden Relationen
FE n'
De ar
f N a
I) g'p"=F'E" oder — + — =1.
) pp ar
p' p' Fi
Ih) — =-— =--—.
) B“" F' po‘
Denken wir uns das einfache und ein zusammengesetztes
‘System, für welche n‘, n‘ sowie F' und F“ identisch sind, so
besteht der Unterschied, dass bei dem ersteren die beiden
Hauptpunkte in den Scheitel zusammenfallen, bei dem letzteren.
Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 613
um die Strecke D von einander entfernt bleiben. Die Wirkung
des zusammengesetzten Systems besteht in einer parallelen
Verschiebung des einfallenden Strahles um die Strecke D’
und aus derjenigen Brechung, die dem homologen einfachen
System zukommt. Ist D klein gegen die Grössen F, so kann
man ohne erheblichen Fehler das zusammengesetzte System
ersetzen durch das einfache, dessen Krümmungsradius 7"! - F",
oder noch genauer durch dasjenige einfache System, dessen
Krümmungsradius (F"+d')-(F'+d'), indem man D derart.
theilt, dass
D=d'+d'"
diyduzına: ek
also
Firdi: Ri d!—n!'n!.
Für das menschliche Auge ist ungefähr D=d'+d''=0'4 Mm,,
dagegen F'=15, F"=-20 Mm., mithin die beschriebene Re-
duction oder Substitution zulässig.
Il. Zusammensetzung von zwei beliebigen Kugelflächen-Systemen
mit gemeinschaftlicher Hauptaxe.
817. Bedingungsgleichungen.
Für das erste System gilt ($ 11,1)
Pı [CPI ie am
1 = s=- 18-7
f Pa IN ’ı ;
ebenso für das zweite
a um LE Am,
Ps JE Pa
Der untere Index 1, 2 der Grössen g',, F bezieht sich auf die
Ordnungszahl des Theilsystems, der obere Index ' auf das erste, '
auf das zweite Medium des bezüglichen Theilsystems; die ent-
sprechenden Grössen ohne unteren Index (F", F'') beziehen sich
auf das zusammengesetzte System und stellen die Unbekannten
der Aufgabe dar. Durch B und HZ mit den entsprechenden
Indices werden die Brenn- und Hauptpunkte bezeichnet. Die
beiden Theilsysteme sind gegeben durch ihre Brenn- und
614 J. Hirschberg:
Hauptpunkte;!) deshalb ist auch gegeben d=B," B,' d. h. die
Distanz zwischen dem zweiten Brennpunkt des ersten und dem
ersten Brennpunkt des zweiten Theilsystems. Positiv ist d,
wenn in Richtung der einfallenden Lichtstrahlen B,' hinter B,''
liegt. Das letzte Medium des ersten Theilsystems ist noth-
wendig identisch mit dem ersten Medium des zweiten Theil-
systems und nothwendig ist für jede Lage des Objectes ß,
3) d=g9,"+@,' oder gy, =d-g,",
Ist d=Q,.,2 solwird. 2440,
d>gp,', so wird «,‘ positiv,
d<y,', so wird @,' negativ.
Sind die Constanten der beiden Theilsysteme (F\' F,"
Fy' F,'') gegeben und das Object nach Lage und Grösse be-
stimmt, d. h. 8, und 4,‘ bestimmt, so ist durch die Doppel-
gleichungen 1 und 2 und durch die Relation 3 jedes Mal das
definitive Bild nach Lage und Grösse eindeutig bestimmt d. h.
3‘ und ß, gefunden, folglich muss ein combinirtes System
existiren, welches dasselbe leistet, als die beiden Einzelsysteme
zusammen genommen.
$S18. Die charakteristischen Punkte des combinirten
Systems.
A) Setzt man (in Gl. I, $ 17) gı'=+%, so giebt der durch
(pa‘' charakterisirte Axenpunkt nothwendig den zweiten Haupt-
brennpunkt des combinirten Systems durch seinen Ab-
stand von dem gegebenen zweiten Brennpunkt des zweiten
Theilsystems; y,'=+o giebt p,"=0, also (nach 3, $ 17) 9,'=d,
folglich nach 2, $ 16)
aa
7 d
19" ee
B) Setzt man (in 2, $ 17) yx'=+®, so giebt nothwendig
der durch p,' bestimmte Axenpunkt den ersten Hauptbrenn-
punkt des combinirten Systems durch seinen Abstand
1) Sind statt der Hauptpunkte der Theilsysteme ihre Knoten-
punkte gegeben, so kann man entweder für diese eine durchaus ana-
loge Rechnung durchführen oder aus den Brenn- und Knotenpunkten
die Hauptpunkte construiren. ($ 14.)
Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 615
von dem a ersten Brennpunkt des ersten Theil-
systems. ya" =+%» giebt 9,'=0, also (nach 3, $ 17) p,''=d,
folglich e II, $16)
I) > BB,
C) Durch Multiplication der Doppelgleichungen 1, 2 $ 17
anit einander erhält man
Br. @1. Er)
1) —- = 13
IN an
Bı Va RT AR
9, Zı
ar: Du Pa"
In diesen Gleichungen muss nothwendig, wenn ß,=ß, ge-
setzt wird, @,' den ersten Hauptpunkt des combinirten
Systems bestimmen durch seinen Abstand von dem gegebenen
ersten Brennpunkt des ersten Theilsystems; und ebenso 3’
den zweiten Hauptpunkt des combinirten Systems
bestimmen durch seinen Abstand von dem gegebenen zweiten
Brennpunkt des zweiten Theilsystems.
Somit ae aus 1, C):
F,'
1= Fr he, oder, da p,'=d—p,"= ı_ (817; $11,M),
Ayskzıg nd an Gy. also
P,
II) “m F, En LH -HB,'
Ebenso folgt aus 2, C):
FR," FF,"
1= der, da pı=d-py'=d-— 222.817; $1,D.
m oder, da pu'=d- pa =d- 17; 1,0
a (d- 2 det si ) -—F UNE SIKU also
Pz2"
m a, ma:
ein Resultat, das man (mit Rücksicht auf die Gl. 1, 2, C un-
seres $) auch durch cyclische u der Indices aus
III erhalten konnte.
_ ___D) Durch Subtraction der Gl. III von II folgt BB —
H'B,'=B’H'=F' d. h. die erste Hauptbrennweite des zu-
sammengesetzten Systems; und ebenso, durch Subtraction dex
a li, 5 5 AR.
RE Run IRRE! PAR
NIE w
616 J. Hirschberg:
Gl. IV von D B" B',"—H" B,"=B"H"=F" d.h. die zweite Haupt-
brennweite des zusammengesetzten System. Wir erhalten
mo ut
Ur m
E) An Stelle von B,“B,'=d kann auch gegeben sein
H,"B,'=D, d. h. die Distanz zwischen dem zweiten Haupt-
punkt des ersten Theilsystems und zwischen dem ersten Haupt-
punkt des zweiten Theilsystems. Da nothwenig D=F\''+d+F,'
oder -d=F,'+Fy'—-D, so folgt aus Gl. I, und II,
ie PR:
h)F Fun:
ZZ Hugh
WI TRTER FD
F) Da somit die Brenn- und Hauptpunkte des combi-
nirten Systemes gefunden, sind dieKnotenpunkte bekannt ($ 13,4):
BIRZRN, K'B'"=f",
$19. Linsen,
welche in Luft oder, wie die des menschlichen Auges, in eine
optisch gleichförmige Flüssigkeit eingetaucht sind, haben zur
Bedingungsgleichung (s. Helmholtz a. a. O.)
les
1 F=F" _ NıNaTıTa
(n,—n, )[n,(r, 7 )+R2—-n1)d]
Die Entfernungen der Hauptpunkte (welche hier mit den
Knotenpunkten zusammenfallen, da (F'= F“), von den Linsen-.
flächen sind
n,dr
2 h' > ı 1
nz, #,-r,)+R,—n,)d
3) A =— n,dr,
n, W2-7,)+n,—n,)d
Die Entfernung der Hauptpunkte von einander:
(nz -n,)(d+r2,—r})
ed
) N, ra —-r,)+(n, —n,)d
Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 617
Endlich ist
5) r=(-n)E| ar Vi — .
für symmetrische Linsen.
Werden zwei gewöhnliche Glaslinsen, bei denen die Haupt-
ebenen innerhalb der Linsensubstanz liegen, mit einander com-
binirt, so bedeutet d=0 das Teleskop (F'=&-F") und zwar
D=-F,''ıF,' das astronomische,
D=F,“"_F,' das Galilei’sche Fernrohr.
Ein negativer Werth von #" (I, , I, $ 17) bedeutet nur,
dass im Gange der einfallenden Lichtstrahlen B’ hinter H'
liegt, womit ein collectiver Charakter des combinirten Systems
nicht unvereinbar ist.')
Zwei dispansive Linsen vereinigt geben stets ein dispan-
sives System. Zwei collective Linsen (oder Systeme) ein col-
lectives, ausser wenn
DER Rn.
Dies.
Für diese Grenzen von D wird ein parallel auf die erste
Linse fallendes Strahlenbündel divergent aus der zweiten aus-
treten. Hierdurch ist ein neues Optometer gegeben, das
vor den Instrumenten von A. v. Graefe und Snellen durch
Kürze und Handlichkeit sich auszeichnet. An den Enden eines
ausschiebbaren Tubus befinden sich starke, aber verschiedene
Convex-Gläser (z. B. von 1 und von !/, Zoll Brennweite oder
von 1'!/, und 1 Zoll Brennweite). Der Untersuchte blickt durch
1) Ein Beispiel wird dies klar machen: Zwei Glaslinsen von je
1'' Brennweite stehen 10’ von einander. In der Mitte zwischen bei-
den befinde sich das Object ?=+1. Die beiden Linsen entwerfen
von £ die Bilder #, und £,, die gleich gross und gleich gerichtet
sind; $, liegt 4'' vor dem ersten Brennpunkt, £, aber 4'' hinter dem
zweiten Brennpunkt der zweiten Linse: folglich liegen hier die Haupt-
punkte des combinirten Systems. Fällt ein paralleles Strahlenbündel
ein in Richtung 1, 2; so wird es 4'' hinter dem zweiten Brennpunkt
der zweiten Linse zu einem reellen Bildpunkt vereinigt. Fällt es in
Richtung 2, 1 ein, so wird es #' vor dem ersten Brennpunkt der
ersten Linse vereinigt. Das combinirte System ist collectiv, aber die
Hauptpunkte liegen (um je #) vor den Brennpunkten.
618 J. Hirschberg:
den Tubus nach einer auf dem Kopf stehenden Schriftproben-
tafel und bringt durch Schrauben die beiden Gläser in die für
sein Auge passende Entfernung. Die intermediäre Hauptpunkt-
distanz der beiden Gläser kann aussen am Tubus genau ab-
gelesen werden und bestimmt durch den Grad der Convergenz
des austretenden Strahlenbündels die Einstellung des unter-
suchten Auges. Die erstgenannte Combination ergiebt ungefähr
für Hypermetropie 1/3422... 2%... D=As y Mm,
für dEimmetropie:! en. en RD A
füröMyopie ll... Daun) So, DEBSDR NE
die zweitgenannte Combination ergiebt
TUE U Se ns ehe DD
Ba BR LT ee a Re I
für MR RS NER sm we a
Das Instrument kann monocular und binocular und gleich-
zeitig auch zur Bestimmung der Sehschärfe angewendet werden.
D<F,'" charakterisirtt ein zusammengesetztes Objectiv
eines einfachen Mikroskops, D>F,'+F,' aber giebt das ein-
fache Schema eines zusammengesetzten Mikroskops.
$ 20. Schluss.
Zwar könnten wir die Untersuchung als beendigt ansehen,
da die Formeln des $ 18 ausreichen, um nach einander beliebig
viele Systeme zusammenzusetzen, aber wir wollen noch einige
Schritte weiter gehen, weil wir dann zu einem höheren Stand-
punkt gelangen, von dem wir unseren Ausgangspunkt und die
durchlaufene Bahn überschauen.
Wir nehmen eine Reihe von m beliebigen Kugelflächen-
systemen auf derselben Axe an.
Für das erste System gilt 1) 2 =— z =— =
Vu bebirnzweibeit is 02) ß, =— = en ee
N anke SUN 5 =— - =- Sn
A EN AANLELLEN 225 SUR) nn us
a nn ci,
Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 619
B,' bedeutet den ersten Brennpunkt, 7,‘ den ersten Haupt-
punkt, F,' die erste Brennweite des ersten Systems u. s. £.
Gegeben sind selbstverständlich auch die intermediären
Distanzen:
a) BiuERu d,
b) BAIBS d:
OL BENBRZ dureh
Wir combiniren System 1 und 2 zu einem neuen System
A, für dessen Constanten wir ohne unteren Index schreiben,
also B', B"; F', F'; H', H''. Wir combiniren darauf System
1, 2 und 3 zu einem neuen System B, dessen Constanten wir
mit Bu BUS HN HN 2 Mel) bezeichnen.
Wir combiniren System 1, 2, 3 und 4 zu einem neuen
System C, dessen Constanten wir mit 5‘, DB; H', H"; F', F“
bezeichnen u. =. £. Mare We
Um die Formeln des $ 18 direct anwenden zu können,
berechnen wir aus den Brennweiten und Abständen der gege-
benen Systeme (sc. aus der Grösse F mit 2 Indices und den
Grössen d mit einem Index) die Abstände
BB dh
BUB. = d,usf.
a) Nach $ 18 gilt für die Combination der beiden ersten
‚Systeme 1 und 2 zu dem System 4.
. En
ID B7B2 = N
1
F'F)"+F,F,
um DB, =
Be a
VE-BB-mB- Zr ine.
1 1
vn F"= BB —HB,"= A =Fi"F,". _
b) Um die Systeme 1, 2 und 3 zu dem einen System B
zu combiniren, fügen wir nach den Formeln sub a) zu dem
System A (sc. 1,2) das System 3, indem wir berücksichtigen, dass
620 J. Hirschberg:
d,=B" By =B,"B,—B"B,;"
d PunBar 8 du d,F,F,'
Te R dı d, \
EN Jan isn Rene Va
DE aaa ee
a
a en Fury“
Pe RN De ı a ıF,' 1 IF Hp"
m a pr 4 u 1 [X En u u u
x) MB" =Fı = Di a
Ma oe
BEE oo,
PUR," a U
A a
= ya) TR Ba x4+1
dd, d, —Fı Fu")
Hiermit wäre den practischen Anforderungen Genüge
geleistet, welche die Dioptrik des Auges mit seinen drei
brechenden Flächen an uns stellt. Sind für diese drei Flächen
(Hornhaut, vordere und hintere Linsenoberfläche) die Brenn-
weiten (F\' Fı" F,' F,' F,' F,'') und die intermediären Ab-
stände (d,, d,) gegeben; so kann man nach den Formeln VII
bis XII die optischen Constanten des Auges direct hinschreiben.
Aber aus theoretischen Gründen, um das Bildungsgesetz
zu erkennen, wollen wir noch ein Glied hinzufügen.
c) Um die Systeme 1, 2, 3 und 4 zu einem neuen System
C zu combiniren, fügen wir auch unseren Formeln sub a) zu
dem System B (sc. 1, 2, 3) das System 4, indem wir berück-
sichtigen, dass
d,= BB =B,"BBUB,”,
F3F,"d, Yn dd, d,—d; Der ek FE
d,=d, -— — 1 _ =
ur aa nn d,d,—Ly'F,"
F'F,' x(-1)
IDez22 2 ee ıgı m ıpı
x F d; F, F, Fa F, d,dad,—d, F,'F3"—d, F,'F,"
FF. x(-1)
XIV, = _—= 0 _Fupupı a
N d, a ah dı da, Fr Fra ED
Dioptrik der Kugelflächen und des Auges. 621
Dieselben Resultate I bis XIV erhält man auch direct aus
den Bedingungsgleichungen 1—4 und a bis c dieses $$, nach
Anleitung der Rechnungen in $ 18.
Nunmehr haben wir eine werthvolle Bestätigung des
Satzes gewonnen, dass, wenn auf derselben Axe m einzelne
Kugelflächen gegeben sind, die erste Brennweite des aus den
m Kugelflächen combinirten Systems gleich dem Product
TE EN NE SENAT Fn';
multiplicirt mit einem constanten Factor; und die zweite Brenn-
weite des combinirten Systems gleich dem Product
ar DIET RS N
multiplieirt mit demselben Factor. ($ 13.) Ja wir sehen, dass
dieser Satz ganz allgemeine Gültigkeit besitzt für m beliebige
gegebene Kugelflächensysteme.
Die vordere Brennweite F'' eines Systemes geht, wenn
ein zweites System hinzukommt über in
ER RX = 5
und wenn dazu ein drittes System hinzukommt, in
xC-Dxe)
OR PIE 2 Be
und wenn dazu ein viertes System hinzukommt, in
» i 1 ı x(-1)
naar da
FF xXF,'
Es ist aber
4 “u
And, Rs Fy0=d, (d,- 27)
1
4 4 Ü N] N d F ıF u
dd, dad; F,'F,'—d,F,'Fz'=(dıd,— F,'F,' AZ, Top Ä
Also schreiten die Nenner der hinzukommenden Glieder
fort nach dem Gesetz
77
ab—a'
abe — ca— ab':
dies ist, wie vorauszusehen war, ein Analogon des von Gauss
benutzten Euler’schen Algorithmus.
(Schluss des I. Th.)
Optische Notizen.
Von
J. HIRSCHBERG.
(Nach einem am 14. Juli 1876 in der Berliner physiologischen Gesell--.
schaft gehaltenen Vertrage.)
I. Binoculare Verschmelzung von zwei identischen
Netzhautbildern,
Dem Bildhauer erwächst öfters (so jetzt beim v. Graefe-
Denkmal) die Aufgabe, nach einem Portrait eine naturgetreue-
Büste zu bilden; aber nicht immer ist es leicht, die Schatti-.
rungen einer ebenen Zeichnung plastisch zu deuten. Nimmt man
zwei zwiefach spiegelnde Glasparallelepipeda (S. die Fig.), wie
sie an dem binocularen Augenspiegel von Giraud-Teulon
ne u
Optische Notizen. 623
angebracht sind, und betrachtet hierdurch binocular eine
grössere Photographie, so erscheint diese zunächst in gleich-
namigen Doppelbildern. Es gelingt aber sogleich durch pas-
sende (parallele) Richtung der Sehlinien die beiden binocularen
Doppelbilder zu einem überraschend plastischen Ganzbilde zu
vereinigen, namentlich wenn man aus der Entfernung von
einigen Fussen die Betrachtung des Portraits beginnt und all-
mählich heranrückt. Ist die Verschmelzung erfolgt, so wird
die Accommodation für ein näheres Object mit der Convergenz
für ein ferneres verbunden, wodurch eine merkbare Vergrösse-
rung des Ganzbildes gegenüber den noch nicht verschmolzenen.
Halbbildern entsteht. Dass nur eine Scheinvergrösserung vor-
liegt, ist nach den Gesetzen der Katoptrik anzunehmen und
wird sofort deutlich, wenn man von seinen Fingern den einen
durch den Apparat hindurch und central, den anderen neben
dem Apparat vorbei und leicht excentrisch betrachtet: die Grösse
der Netzhautbilder beider Finger erscheint hierbei. gleich.
Sowie wir aber (mit convergirenden Gesichtslinien) zur Fixa-
tion des anfangs excentrisch betrachteten Fingers übergehen,
drängt sich uns der Eindruck auf, dass der letztere dem Auge
bedeutend näher steht als der zuerst fixirtte. Dass eine Schein-
vergrösserung vorliegt, erkennt man noch klarer, wenn man
ein Blatt mit gleichförmigen grossen Druckproben erst bino-
cular und einfach durch den Apparat hindurch anschaut, dann
neben dem Apparat vorbei betrachtet; das Netzhautbild der
Buchstaben ist in beiden Fällen gleich gross.
Schiebt man, während das betrachtete Portrait in zwei
Halbbildern erscheint, statt die Gesichtslinien parallel zu stellen,
vor jedes Auge ein schwaches Prisma, die brechende Kante
medianwärts gerichtet; so geschieht die Verschmelzung der
Doppelbilder bei einem Convergenzgrade, welcher der accom-
modativen Einstellung der Augen d. h. dem räumlichen Ab-
stande des Gesichtsobjectes entspricht. Dann ist auch die
scheinbare Grösse des Ganzbildes von der der Halbbilder nicht
verschieden. In dieser Hinsicht ist der kleine Apparat von
physiologischem Interesse, weil er in bequemer Weise die ex-
perimentelle Erläuterung des Satzes giebt, dass bei gegebener
624 J. Hirschberg:
Grösse des Netzhautbildes eines binocular betrachteten Objectes
die scheinbare Grösse und also auch die scheinbare Entfer-
nung von dem Convergenzwinkel abhängt. Diese Abhängigkeit
ist aber keine mathematisch strenge. Das bei parallelen
Sehachsen gewonnene Ganzbild erscheint mir nicht unendlich
gross im Verhältniss zu dem Halbbild, sondern etwa zwei Mal
so gross; dem entsprechend wird es auch in eine Entfernung
projieirt, welche etwa zwei Mal so gross ist als die wirkliche
Entfernung des Portraits.
Betrachtet man ein körperliches Object (z. B. einen Ofen)
durch den Apparat, so erscheint dasselbe bekanntermaassen
platter als bei freier Betrachtung wegen Verkleinerung der
stereoskopischen Grundlinie; somit stellt der Apparat die Um-
kehrung des Helmholtz’schen Telestereoskopes dar, welches
durch Vergrösserung der Basallinie das Relief ferner körper-
licher Objecte vergrössert.
Kehren wir nunmehr zu unserem Ausgangspunkt zurück,
so erscheint es schwierig, anzugeben, worauf der plastische
Eindruck beruht, der sich bei Verschmelzung der binocularen
Doppelbilder eines ebenen Portraits einem jeden Beobachter
unwillkürlich aufdrängt. Soviel ist sicher, dass hierbei kein
stereoskopisches Sehen stattfindet. Sollen zwei ebene Zeich-
nungen zu einem stereoskopischen Eindruck verschmolzen wer-
den, der identisch ist mit dem bei binocularer Betrachtung des
entsprechenden körperlichen Gegenstandes gewonnenen Eindruck,
so müssen jene beiden Zeichnungen gewisse Verschiedenheiten
darbieten, wie wir sie bei einäugiger Betrachtung des körper-
lichen Objectes von den beiden verschiedenen Standpunkten
unserer beiden Augen aus gewinnen: die Mittelpunkte unserer
beiden Augen, mit denen wir die körperliche Welt anschauen,
sind eben um ungefähr 60 Mm. von einander entfernt. Aber
absolut identisch sind, nach den Elementen der Katoptrik, die
beiden Bilder, welche durch unseren Apparat zunächst auf
verschiedenen Stellen der Projectionsebene entworfen werden.
Aber die Lehre von der konischen oder perspectivischen
Projection giebt uns vielleicht eine Hypothese zur Erklärung
der Thatsache an die Hand. Wenn man von einem festen Punkt
FEN DER NEE NN RR UROD EU reTe
Optische Notizen. 625
im Raume nach allen Punkten der Oberfläche eines Körpers
gerade Linien zieht und dieses konische Strahlenbündel durch
eine Ebene schneidet, (welche in der Regel gegen den Axen-
strahl senkrecht gestellt ist,) so entspricht jedem Punkt der
Oberfläche des Körpers ein Punkt in der Projectionsebene;
durch Verbindung aller Punkte der Projection gewinnen wir
ein ebenes Bild, welches dem Körper vollkommen ähnlich ist,
Damit es uns aber vollkommen ähnlich erscheine, müssen
wir unser Auge an den Punkt stellen, welcher der Spitze des
Projectionskegels entspricht. Die Maler pflegen ihre ebenen
Gemälde nicht nach diesem strengen Gesetz der Perspective
einzurichten, weil die Gemälde von mehreren Standpunkten
aus gleichzeitig ähnlich erscheinen sollen.
Betrachten wir binocular ein ebenes Gemälde, so muss es im
Allgemeinen jedem unserer beiden Augen fehlerhaft erscheinen,
im Vergleich zu dem Original; und der Fehler ist proportional
unserer stereoskopischen Grundlinie: d. h. dasjenige körperliche
Object, welches wir uns bei der binocularen Betrachtung des
ebenen Portraits nothwendig vorstellen, muss von dem wirklichen
körperlichen Original des Portraits verschieden sein. Durch
unser Instrument wird die Basallinie bedeutend verkürzt, etwa
im Verhältniss von 4:1; der Fehler verringert; das vorgestellte
Object dem wirklichen ähnlicher. Die Täuschung wird ver-
mehrt durcn Anschluss des Seitenlichtes und durch die Schein-
vergrösserung. Etwas Aehnliches findet statt, wenn wir zwei
"identische Photographien mit Hülfe eines gewöhnlichen Stereos-
"kopes zu einem Ganzbilde vereinigen.
ll. Naturgetreue Abbildung von Mikrotom-Präparaten.
Durch Vervollkommnung der medicinischen Diagnostik
sind die Ansprüche an die Anatomie erheblich gesteigert, aber
in ausgiebiger Weise befriedigt durch Anwendung des Mikro-
toms. Eine gewisse Schwierigkeit erwächst bei der natur-
getreuen Abbildung grosser topographischer Schnittpräparate.
Allerdings bietet die Photographie ein unübertreffliches Hülfs-
mittel dar; aber nicht jeder Mediciner ist in der Lage, die
photographische Technik zu diesem Behuf zu erlernen und
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 40
Erle, Saal N
. 626 J. Hirschberg:
auszuüben oder mit einem willigen und geübten Photographen
zusammenzuarbeiten. Die Meisten bleiben auf das Abzeichnen
der Präparate angewiesen. Hierbei sind zwei Fehlerquellen
unvermeidlich: |
Erstlich die Phantasie, welche namentlich an der Grenze
des Sichtbaren geschäftig die vorhandenen Lücken der Natur-
objecte ausfüllt; zweitens der Mangel an künstlerischer Aus-
bildung, welcher wenigstens die Mehrzahl der Aerzte behindert,
selbst richtig angeschaute Formen vollkommen naturgetreu dar-
zustellen. Die gewöhnlich benutzten Vorrichtungen, welche
das Abbilden zu einer mehr mechanischen, von gröberen Feh-
lern freien Arbeit machen sollen und auf der Anwendung des
Prisma beruhen, sind darum ziemlich unvollkommen, weil sie
das virtuelle Bild benutzen, welches die kleinen unvermeid-
lichen Bewegungen unseres Kopfes mitmacht, so dass bald die
Contourlinien des Präparatbildes und unserer Bleistiftskizze
sich nicht mehr decken.
Unzweifelhaft ist es bequemer, über eine gute Lupe mit
durchfallender Beleuchtung eine hölzerne Camera zu stülpen,
welche vorn einen Ausschnitt als Lichtfenster und als Deckel
eine im Rahmen gefasste Glasplatte besitzt, die durch eine
Schraubenvorrichtung dem Öbjectiv genähert oder entfernt
werden kann. Auf die Glasplatte wird feines Durchzeichen-
papier aufgeklebt; das objective umgekehrte Bild des Präpa-
rates malt sich in überraschender Schärfe auf der Ebene des
Papiers und kann auf das bequemste mit dem Bleistift um-
zogen werden. Das achromatische Objectiv meiner Zeiss’-
schen Lupe, welche im virtuellen Bild eine fünfzehnfache Ver-
grösserung giebt, gestattet bei gewöhnlicher Tagesbeleuchtung
dem umgekehrten Bild der Camera eine sechs- bis zwanzigfache
Vergrösserung, die natürlich bei Anwendung directen Sonnen-
lichtes noch gesteigert werden kann. Das Princip des Appa-
rates ist seit Porta (1583) bekannt, von Einzelnen angewendet,
aber nicht nach Verdienst verbreitet.
Will man den Kasten über ein gewöhnliches Mikroskop
stülpen, so thut man gut, das Ocular zu entfernen und nur
schwache Objective anzuwenden. Sehr einfach ist die Mikro-
Optische Notizen. 627
metrie. Man misst einen Hauptdurchmesser des Präparates,
indem man dasselbe direct auf einen ausgespannten Bogen
Millimeterpapier legt; man misst denselben Durchmesser in der
Zeichnung und hat so die Vergrösserungszahl. Man überträgt
die Zeichnung mechanisch auf das ausgespannte Millimeter-
papier und hat sofort die Abmessungen aller einzelnen Theile
des Präparates.
Der Fabrikant,!) welcher den Kasten nach meinem Modell
anfertigt, wird übrigens auch auf Verlangen einen einfachen
und billigen Apparat zum Photographiren beilegen.
Ill. Das schematische Auge.
Porta, der Erfinder der Camera obscura, hat bereits das
menschliche Auge mit seinem Instrument verglichen: mit dem-
selben Vergleich beginnen seitdem fast alle anatomischen und
physiologischen Betrachtungen des Auges; aber die allzustrenge
Durchführung dieses Vergleiches hat die genauere Erkenntniss
der Dioptrik des Auges gehindert, bis durch die bahnbrechenden
dioptrischen Untersuchungen von Gauss der Unterschied klar
wurde Gauss lehrte zuerst die allgemeinen Gesetze der
Brechung paraxialer Strahlen an beliebig vielen Kugelflächen
und zeigte, dass in einem beliebigen centrirten System von
Kugelflächen die vordere Brennweite sich zu der hinteren ver-
hält wie der Brechungsexponent des ersten Mediums zu dem
des letzten. Bei einer Camera obscura wie bei allen unseren
optischen Instrumenten, welche Glaslinsen in Luft eingetaucht
darstellen, ist die erste Brennweite somit gleich der zweiten;
beim menschlichen Auge aber verhält sich die erste Brennweite
zur zweiten wie 3:4 d. h. wie der Brechungsindex der Luft,
des ersten Mittels, zu dem des Glaskörpers, des letzten Mittels.
Obwohl dieser wichtige Satz durch eine elementare und sogar
ziemlich einfacheRechnung nachgewiesen werden kann, istes doch,
bei der im Allgemeinen ablehnenden Haltung der Mediciner gegen
alles Mathematische, vielleicht von einigem Interesse, denselben
durch einen einfachen Apparat experimentell zu erläutern. Auf
1) Hr. Romain Talbot in Berlin.
40”
a N
628 J. Hirschberg:
einem Stativ befindet sich eine horizontale eylindrische Messing-
xöhre, deren vorderes Ende durch ein convex-planes Sammel-
glas von 3'' (also etwa 80 Mm.) Brennweite geschlossen ist,
während das hintere Ende durch eine plan-plane Glasplatte «
geschlossen ist, welche auf der Mitte ihrer Hinterfläche einen
kleinen mattgeschliffenen Kreis enthält. Der Messingtubus be-
steht aus zwei in einander verschiebbaren Röhren, so dass die
Entfernung der Glasplatte von dem Öbjectiv vergrössert und
verkleinert und stets an einer seitlichen in Millimeter ge-
theilten Stange genau abgelesen werden kann. Der Apparat
muss einigermaassen wasserdicht sein.
Leer d. h. nur mit Luft gefüllt wird der Apparat mit dem
Objeetiv gegen eine etwa 20 Fuss entfernte Lichtlamme ge-
richtet. Ein scharfes umgekehrtes Bild der Lichtflamme er-
scheint auf der mattgeschliffenen Stelle der planen Glasplatte,
wenn die Stelle um die hintere Brennweite d. h. um 3 Zoll
oder 80 Mm. vom Objectiv entfernt ist. Genau eben so gross
ist auch die vordere Brennweite, wie man sofort sieht, wenn
man den Apparat umdreht und mit der Planglasplatte gegen
das Licht kehrt. Um in dieser Stellung das Bild der Flamme
auffangen zu können ist an dem Tubus eine vom Objectiv aus-
gehende, freie, in Millimeter getheilte Stange befestigt, auf
welche eine mattgeschliffene Planglasplatte 5 gebracht und mittelst
eines Schiebers hin und her bewegt werden kann. Diese
Platte muss 80 Mm. vom Objectiv entfernt sein, wenn sie bei
der zweiten Stellung des Apparates ein scharfes Bild der
20 Fuss entfernten Lichtflamme auffangen soll.
Nunmehr wird die matte Glasplatte 5 wieder entfernt, der
Apparat in seine ursprüngliche Lage zurückgedreht, so dass
das Objectiv gegen die 20 Fuss entfernte Lichtflamme schaut,
und Wasser in die Höhle des Tubus gegossen. Das vorher
scharfe Bild auf dem matten Kreise der plan-planen Glasplatte
a ist verwaschen. Verlängert man jetzt allmählich die Röhre
durch Ausschrauben, während Wasser nachfliesst, bis das um-
gekehrte Flammenbild auf der Glasplatte wieder scharf gewor-
den ist; so findet man, dass jetzt der Tubus eine Länge von
circa 100 Mm. besitzt. Durch diesen Wert wird jetzt die
Archiv f. Anat.u.Phys.1870'. Taf. KIT.
I
|
|
|
Hirschberg del. 2 W. Grohmannse.
Optische Notizen. 629
hintere Brennweite des combinirten Glas-Wasser-Systems aus-
gedrückt. Ermittelt man aber nunmehr die vordere Brennweite
desselben combinirten Systems durch einfaches Umdrehen des
Apparates und Aufschieben der matten Glasplatte 5 auf die
vordere graduirte Stange, so findet man dieselbe unverändert
gleich 80 Mm. Uebrigens ist ja auch ohne jede Rechnung
klar, dass ein von der fernen Lichtflamme ausgehendes und
fast senkrecht einfallendes paralleles Strahlenbündel durch die
plan-plane Glasplatte, welche den Tubus abschliesst und durch
die von zwei senkrechten Ebenen begränzte Wasserschicht keine
nennenswerthe Ablenkung erfahren kann, sondern fast ebenso
auf die Convexlinse gelangt, als wenn nur Luft dazwischen
läge. Man hat alsce für den Fall eines solchen Glas-Wasser-
Systems empirisch ermittelt
210,
rn 13 m
Macht man die Füllung nicht mit Wasser, sondern mit
einer durchsichtigen Flüssigkeit von bekanntem Brechungs-
verhältniss, so wächst die hintere Hauptbrennweite proportional
dem Brechungsindex der Flüssigkeit, während die vordere un-
verändert bleibt. Somit ist der behauptete Satz experimentell
bewiesen.
Dreht man den mit Wasser gefüllten und entsprechend
d. h. auf 100 Mm. verlängerten Apparat mit dem Convexglas
gegen die ferne Lichtflamme, so stellt derselbe ein künstliches
Auge weit getreuer dar, als die seit Huyghens’ Zeiten üblichen
zahlreichen, meist trockenen Modelle. Durch ein vor das Ob-
jecetiv gesetztes Sammelglas von 8 Zoll Brennweite stellt man
die Accommodation eines emmetropischen Auges für 8 Zoll An-
näherung dar. Durch Vergrösserung oder Verkleinerung der
Axenlänge kann man verschiedene Grade von Kurz- und Ueber-
sichtigkeit hervorrufen, und durch passende Concay- und Con-
vexgläser, welche dem Objectiv vorgehalten werden, auch neu-
tralisiren.
Zur Theorie des Sehens. Zweite Abhandlung.')
Von
Dr. EUGEN DREHER.
Bei dem Eindruck, den ich vermittelst des Stereoskopes
von der der ersten Abhandlung beigefügten (stereoskopischen)
Aufnahme der Matrize (Form) des Basreliefs der Petrusbüste
empfing, war es mir auffallend, dass derselbe mit dem seines
Gypsoriginales nicht übereinstimmte, in sofern nämlich sich
bei ihm eine verhältnissmässig übertriebene Tiefenwahr-
nehmung geltend machte. Diese vom Originale stattfindende
Abweichung glaubte ich von einem zu grossen gegenseitigen
Abstande, in welchem die bei der Aufnahme wirksamen Brenn-
linsen des Photographen gestanden hatten, herleiten zu können.
Eine nachträgliche Messung der Linsenentfernung der Camera
obscura ergab denn auch, dass dieselbe den denkbar grössten
Abstand der Augen des Menschen übertraf.
Um die getreue Wiedergabe der in Frage stehenden Ma-
trize zu erlangen, liess ich bei abermaliger Aufnahme die
Linsen bis auf (meine) Augenweite einander nähern, wodurch
denn auch ein mit dem Originale vollkommen übereinstimmen-
der Effect wachgerufen wurde.
Es warf sich mir die Frage auf: Welche Abweichungen
- von dem Originale:
I. Durch sehr bedeutende gegenseitige Entfernung der
Linsen,
I. Durch eine sehr grosse gegenseitige Annäherung
derselben zu erreichen sind.
1) S. den vorigen Jahrgang dieses Archivs, S. 417.
Eugen Dreher: Zur Theorie des Sehens. 631
Bei einer neuen Aufnahme der Matrize war der Abstand
der Linsen von einander circa 1 Meter; der parallaktische
Winkel, (die Parallaxe) unter dem sich die auf das Original
gerichteten Axen der Linsen schnitten, circa 40°.
Bei einem zweiten Versuch wurden die Linsen bis auf
circa 1 Centimeter einander genähert, wodurch denn, (bei Bei-
behaltung der. Entfernung vom Modelle) der parallaktische
Winkel selbstverständlich sehr klein wurde.
Unter das Stereoskop gebracht, gestaltete sich die durch
den ersten Versuch gewonnene Aufnahme zu einer deutlich
vertieften Büste, die jedoch immer mehr und mehr noch ein-
sank und erst dann am Endpunkte ihrer Gestaltung anlangte,
als die Tiefendimension schon verhältnissmässig bei weitem
Längen- und Breitenrichtung überwog, so dass eine vollkommene
Verzerrung der Form in die Tiefe hinein eintrat.
Die durch den zweiten Versuch gewonnene Aufnahme
gestaltete sich beim Betrachten durch das Stereoskop ebenfalls
zu einer deutlich vertieften Büste, die jedoch, gegen das
Original gehalten, in Anbetracht der Tiefendimension eine
Verkürzung erfahren hatte, wodurch denn ebenfalls eine
Entstellung, diesmal jedoch ein Eingedrücktsein der
Form in Erscheinung trat.
Erwähnt sei, dass wenn man die Photographien zer-
schneidet und alsdann die Bilder vertauscht in das
Stereoskop legt, sich keine Vertiefungen, wohl aber die den
Vertiefungen entsprechenden Reliefs gestalten. — (Vergl. die
erste Abhandlung.)
Anfangs war ich geneigt zu glauben, dass der Eindruck,
den Matrizen (Formen) auf den Beschauer machen, je nach
seinem gegenseitigen Augenabstand ein verschiedener sein
müsse; und zwar bei weiter Augendistanz, (wo zwei stark
von einander abweichende Bilder zur Deckung gebracht werden),
hinsichtlich der Tiefendimension verhältnissmässigein erwei-
terter, bei naher Augendistanz, (wo zweinur schwach diver-
girende Bilder zur Verschmelzung gelangen), hingegen ein ver-
kürzter; dass also beispielsweise ein Elephant, der das gedachte
Gypsoriginal in einer seiner photographischen Aufnahme gleichen
632 Eugen Dreher:
Entfernung betrachtete, von ihm hinsichtlich der Tiefenwahr-
. nehmung einen erweiterten, ein Kolibri dagegen einen
verkürzten Eindruck empfangen müsste,
Um dem Grunde der Erscheinungen näher zu kommen,
liess ich von einem plastischen Werke, und zwar der Hebe von
Canova beieiner sehr grossen Standlinie, unter einem grossen
parallaktischen Winkel eine stereoskopische Aufnahme an-
fertigen.
Durch dieses Verfahren wurde selbstverständlich eine sehr
bedeutende Divergenz der beiden Bilder herbeigeführt.
Trotz langer Betrachtung unter dem Stereoskope konnte
ich nur eine partielle Verschmelzung der beiden Bilder zu
Stande bringen und zwar diese bei dem rechten Arme der
Figur, welcher hierdurch in einer kaum zu erwartenden Weise
in die Länge gezerrt wurde; sonst machte sich der Wett-
streit der Sehfelder geltend, wodurch denn bald das eine,
bald das andere Bild vorwiegend zur Perception gelangte. —
Da nur von verhältnissmässig nahen Gegenständen wesent-
lich verschiedene Bilder in unsere beiden Augen gelangen
können, so glaubte Helmholtz für ferne Gegenstände dieser
Unvollkommenheit dadurch abzuhelfen, dass er die Distanz der
beiden Augen gleichsam künstlich erweiterte.
Zu diesem Zwecke construirte er das sogenannte „Tele-
stereoskop“, bei dessen Anwendung durch zwei weit von ein-
ander aufgestellte Spiegel Lichtstrahlen von einem fern ge-
legenen Gegenstande auf zwei rechtwinklich zu einander
stehende Spiegel geworfen werden, hinten denen sich dann die
Augen des Beobachters befinden, dessen Aufgabe es ist, die
so in die Augen gelangenden, wesentlich von einander ab-
weichenden Bilder auf correspondirende Theile der Netzhäute
zu bringen und sie alsdann körperlich zu verschmelzen.
Die von Helmholtz erstrebte künstliche Erweiterung der
Augendistanz glaubte man gleichfalls dadurch zu erreichen,
dass man bei einer grossen Standlinie, so unter einem grossen.
parallaktischen Winkel, photographische Aufnahmen von fern
gelegenen Objecten machte.
Zur Theorie des Sehens. 633
So benutzte Wheatstone die Libration des Mondes, durch
welche dies Gestirn uns das eine Mal mehr von seiner rechten,
das andere Mal mehr von seiner linken Halbkugel zuwendet,
um bei der weiten Entfernung des Mondes zwei möglichst
verschiedene Bilder von ihm zu erhalten, welche er alsdann
durch das Stereoskop zur Deckung brachte.
Der Mond gestaltete sich hierdurch zu einem deutlich
eiförmigen Körper, dessen grosse Axe dem Beschauer (der
Erde) zugekehrt war. Auf eine solche Gestalt des Mondes
hatte man schon früher aus rein theoretischen Gründen ge-
schlossen und zwar aus der grösseren Anziehungskraft, die
die Erde auf die ihr stets zugekehrte Hälfte des einst feurig-
flüssigen Mondes ausüben musste, als auf die ihr stets ab-.
gewandte Halbkugel.
So glaubte man denn durch das Stereoskop den ex-
perimentellen Beleg für die theoretisch vorausgesagte Gestalt
des Mondes geben zu können.
Was jedoch den stereoskopischen Beweis für die Gestalt
des Mondes anbelangt, so muss ich denselben für unzulässig
erklären, da die durch das Stereoskop vermittelte Wahrnehmung,
so wie alle durch das Helmholtz’sche „Telestereoskop“ wach-
gerufenen Erscheinungen nur Zerrbilder ihrer Originale
sind, vollkommen denen analog, die im Anfange dieser Ab-
handlung besprochen wurden.
Dass der -Reiz an den aufgenommenen ÖObjecten bisweilen
durch einen nicht zu stark übertriebenen Abstand der Spiegel oder
Linsen gesteigert werden kann, thut der gemachten Behauptung
keinen Abbruch, da wir vom wissenschaftlichen Standpunkte aus
von den so uns vermittelten Anschauungen Naturtreue bean-
spruchen, welche sie jedoch, wie gezeigt, keineswegs gewähren.
So habe ich bei einer Menge vorräthig gekaufter stere-
oskopischer Aufnahmen von mir durch eigene Anschauung
bekannten Gegenständen, wie von Sculpturen, Bauwerken, Ge-
birgslandschaften u. s. w. eine übertriebene Perspective bei
stereoskopischer Betrachtung wahrgenommen, welche unzweifel-
haft durch einen zu grossen gegenseitigen Linsenabstand der
Camera obscura veranlasst wurden.
634 Eugen Dreher:
Lange konnte ich keine Erklärung für diese bei zu gross
oder zu klein gewählter Augendistanz unverkennbar auftreten-
den Entstellungen finden.
Die sich zuerst darbietende Annahme, dass bei ver-
schiedenem gegenseitigem Augenabstande auch die Dinge
verschieden gesehen werden, ergab sich nach einiger Ueber-
legung als irrig, Denn denken wir uns ein Wesen mit einem
grossen Augenabstande und ein anderes mit einem geringen in
einer gleichen (senkrechten) Entfernung ein und denselben
Gegenstand betrachtend, so sind in beiden Fällen durch die
Netzhautbilder zwei Richtungen für einen jeden Punkt des
Objectes gegeben, wodurch dann die geometrische Gestalt des
Gegenstandes vollkommen bestimmt ist, woraus wir alsdann
schliessen müssen, dass die von den beiden Wesen erlangten
(geometrischen) Anschauungen des ÖObjectes auch dieselben
sind, — mit dem alleinigen Unterschiede, dass bei einem nicht
durchsichtigen Körper bei grösserem (gegenseitigem) Augen-
abstande die Anschauung seiner Körperlichkeit umfassender
ist als bei näherer Augendistanz, in welchem letzteren Falle
die Augen nicht so weit um den Körper herumzugreifen ver-
mögen.
So werden wir durch natürliches Wachsthum der Augen-
distanz bei den nicht durchsichtigen Körpern wohl zu einer
umfassenderen körperlichen Wahrnehmung gelangen, niemals
aber zu einer Verzerrung.
Wenn wir jetzt die in der vorigen Abhandlung gegebene
Theorie, der unbewussten psychischen Constructionen, die
in alle Sehprocesse eingreifen, in Betracht ziehen, so ergeben
sich die angeführten Entstellungen, gleichviel ob sie durch
Spiegel oder Linsen herbeigeführt werden, sehr einfach als
nothwendige Folgerungen aus derselben.
Zwei für unsere Augendistanz widernatürliche Bilder
ein und desselben Gegenstandes werden auf correspondi-
rende Theile der Netzhäute geworfen und durch Nervenreize der
Psychezur Auslegungübermittelt. Wasthutsie? Der Erfahrung
Rechnung tragend, dass diese Bilder von einem wirklichen,
in der Aussenwelt vorhandenen Gegenstand herrühren
Zur Theorie des Sehens. 635
müssen, construirt sie sich aus den ihr zur Deckung zu-
geführten Bildern einen Körper zurecht, der, wenn er wirklich
in der Aussenwelt vorhanden wäre, auf die entsprechenden
Netzhäute Bilder werfen würde, die den durch die Spiegel
oder Linsen vermittelten gleich sein würden. — (Vergl. die
erste Abhandlung.)
Dass ein solcher Körper, gegen sein Original gehalten,
eine Verzerrung sein muss, ist selbstverständlich. Die Art und
Weise der auftretenden Entstellung ist leicht durch mathe-
matische Gesetze darzulegen.
Tragen wir jetzt den entwickelten Gesetzen bei Anwendung
des Stereoskopes Rechnung, so ergiebt sich, dass ein Kind
(kleiner Augenabstand) die für einen Erwachsenen (grosser
Augenabstand) bestimmten stereoskopischen Bilder in der
Tiefendimension auseinandergezerrt sehen muss, während
umgekehrt ein Erwachsener die für ein Kind bestimmten
Aufnahmen in der Tiefendimension eingedrückt erblicken
würde.
So sieht denn ein jedes Wesen die Gegenstände nur für
seine eigene Augendistanz naturgetreu. Die von Wheat-
stone und Helmholtz erstrebte künstliche Erweiterung
der Augendistanz erweist sich somit als eine Unmöglichkeit.
Anm. Da sich durch die der vorigen Abhandlung bei-
gefügten Lithographien herausgestellt hat, dass Lithographie,
selbst bei der vollendetsten Ausführung, zur Anstellung ge-
nannter Versuche keine hinreichende Schärfe gewährt, so sind
dieser Abhandlung keine Tafeln beigegeben.
Eine Hypothese psycho-physiologischer Natur über das
Verhältniss des Unbewussten zum Bewussten in der Psyche
habe ich in meinem soeben erschienenen Werke „Der Darwinis-
mus und seine Stellung in der Philosophie“. (Berlin 1877.
Verlag von Hermann Peters) auf Grund psychologischer wie
anatomischer Erscheinungen zu geben versucht.
Beiträge zur zoologischen und zootomischen
Kenntniss der sogenannten anthropomorphen Affen.
Von
ROBERT HARTMANN.
(Hierzu Taf. XIV. u. XV.)
Fortsetzung.
Das von mir im zuletzt veröffentlichten Abschnitte dieser
meiner Arbeit!) erwähnte „Sesambein“ des Affencarpus
wurde an drei Chimpanse- und drei Orang-Cadavern beiderlei
Geschlechtes und verschiedenen Alters sowie an zahlreichen
Skeleten untersucht.) Dasselbe artieulirt bei den genannten
Thieren mit den Ossa naviculare und multangulum majus und
es liegt an derjenigen Stelle, an welcher die Faserbündel der
Ligamenta carpi dorsale und carpi volare in einander übergehen.
Von dieser Stelle aus zieht ein Bandstreif an das Knöchelchen,
dessen Faserrichtung nicht auf seine alleinige Zugehörigkeit
etwa zum Ligamentum carpi dorsale schliessen lässt. Denn
diese selbigen Faserbündel, welche schräg vom Processus
styloideus ulnae über die Handwurzel führen, geben, um den
Radius sich herumziehend, zugleich Fortsetzungen an das Ligam.
carpi volare ab. (Taf. XV Fig. 5, 6“ beim Chimpanse). Beim
1) Dies Archiv 1875, S. 743.
2) Vergl. hier Taf. ı, 2, 3, 4. Vrolik bemerkt: „Le tendon de
Vabducteur (A. magnus pollicis) s’attache en passant & un cartilage
isole et lentieulaire, plac& entre l’os scaphoide et le trapeze,
et que jai cite en parlant du carpe“ (V, p. 15). A.a. 0. S. 20.
Vrolik’s Abbildungen der Handmusculatur des Chimpanse sind
in Bezug auf diese Verhältnisse leider sehr undeutlich.
Beiträge zur Kenntniss u. 8. w. 637
Orang konnten auch dergleichen Bandstreifen präparirt werden,
in ihnen mischten sich Faserbündel der Streck- und Beugeseite
der Fascia antibrachii dergestalt (das. Fig. 7«), dass schon
daraus ihre Gemeinsamkeit für die Ligam. carpi dorsalia und
volaria ersichtlich wurde. Dann beim Chimpanse sah ich, wie
die Sehne des Abductor pollicis longus einen Streifen zu dem
Sesambeinchen sandte. Dagegen setzten sich die übrigen Streifen
der sich hier zwei-, aber auch wohl drei- und noch mehrmal
spaltenden Sehne des erwähnten Muskels an die Basis Ossis
metacarpi I und an das Os multangulum majus an. Ueber das
Verhalten dieses Muskels äussert sich Bischoff wie folgt:
„Der Abductor pollicis longus verhält sich beim Orang, Cyno-
cephalus, Pithecia und Gorilla wie beim Menschen. Beim
Gorilla, Chimpanse, Hylobates, Cercopithecus und Macacus lässt
sich dagegen die Sehne in zwei Theile theilen. Dabei gehört
nicht etwa die eine Sehne wie beim Menschen einem Extensor
pollieis brevis an, sondern dieser fehlt (wie angegeben) wirklich
ganz und die Theilung der Sehne erscheint nur als eine weiter
fortgesetzte Spaltung des Ansatzes an das Os multangulum
majus und an den Mittelhandknochen des Daumens u. s. w.')
Ich vermag dies nicht ganz zu bestätigen. Der Extensor
pollieis brevis fehlt den Thieren nicht, aber der Abductor
longus verhält sich, so wie Bischoff es angegeben hat, nur
dass seiner Beziehung zum Sesambeinchen dabei nicht erwähnt
worden ist.?2) Viel wichtiger erscheinen mir übrigens die Be-
ziehungen des Abductor pollicis brevis zu dem Sesam-
knochen, als sich diejenigen des langen Abductor zu dem-
1) Beiträge zur Anatomie des Hylobates leueiscus u.s.w. Aus
den Abhandlungen der k. bayer. Akadem. der W. II Kl. X. Bd. III.
Abtheilung, München 1870, S. 17.
2) Alix und Gratiolet sagen in Bezug auf diesen Muskel: „Le
tendon qui s’attache au trapeze ne presentait pas d’os sesamoide. Il
est probable que cela tient au jeune äge du sujet; car ce sesamoide
(trapeze hors de rang) existe sur le Chimpanse adulte.* (Troglodytes
Aubryi u. s. w. p. 103, vergl. auch daselbst p. 82). Ich freilich be-
merke das Sesambein schon an ganz jungen (noch nicht einjährigen)
Chimpanses, wenngleich auch erst noch im knorpligen Zustande.
638 R. Hartmann:
selben Gebilde herausgestellt haben. Ersterer entspringt nämlich
beim Chimpanse mit einem radialen Bündel an dem Sesam-
beine selbst. Ein anderes mittleres Bündel entspringt an dem
zum genannten Knochen tretenden Bandstreifen. Der übrige
mittlere Theil des Muskels nimmt am Ligamentum carpi volare
seinen Ursprung. (Fig. 5s, 68)').
Beim Orang-Utan entspringt an dem Sesambeinchen eben-.
falls ein radialer Fascikel des Abductor pollicis brevis, während
die mittleren Bündel desselben wieder am Ligamentum carpi
volare entspringen. Die manchmal vielspaltige Sehne des.
Abductor pollieis longus — die Spaltung erstreckt sich noch
oft bis tief in. die Muskelsubstanz hinein — giebt auch hier
einen Streifen an jenen Knochen ab. Mittlere Sehnenstreifen
desselben Muskels sah ich zum Ligament. carpi volare und
starke dorsale zur Basis oss. metacarpi I ziehen. (Fig. 7*, 8°).
Bei einem Orang-Präparate sendete der Musc. flexor pollieis
longus einen sehr dünnen Sehnenfaden an den Knochen ab
(Fig. 8**). Für den Gorilla fehlen mir zur Zeit, wo ich dies
schreibe, noch die eigenen Erfahrungen.
Am Hylobates (leuciscus, albimanus), an sonstigen Affen und
an Halbaffen arbeite ich z. Z. noch und werde ich die Resulate
der betreffenden Untersuchung bei Gelegenheit meiner Studien
über die Myologie der ganzen Gruppe veröffentlichen, mich dort
auch über die Beziehungen des Sesambeinchens zu seiner
Umgebung noch näher auslassen.?) Sonderbarerweise
1) Bischoff bemerkt: „Von den kurzen Muskeln des Daumens.
zeigen der Abductor pollieis brevis und opponens in ihrer Anordnung bei.
allen Aficn keins heimerkenswerthe Abweichung.“ A. 0.2.0.8. 19.
Auch bei den englischen Autoren Humphrey, Wilder, Maca-
lister, Champneys u.s. w. finde ich keine genügende Aufklärung
über das Verhalten der Abductoren des Daumens zum Sesambein.
2) Flower bemerkt über dies von ihm am Carpus von Üynoce-
phalus Anubis Fig. 87 abgebildete Knöchelchen: „and there is usually
a small rounded radial sesamoid articulating moveably to the border
of the scaphoid and trapezium and connected with the tendon of the
flexor carpi radialis (An introduction to the Osteology of the
Mammalia. London 1870, p. 258). Lucae’s Angabe, der Knochen
sei nichts Anderes als die von dem Os multangul. majus getrennte.
Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 639
erfahren wir in einer sonst so fleissigen Arbeit Duvernoy’s
nichts über die Existenz dieses Knochens beim Gorilla. Zwar
scheint mir ein radialerseits erkennbarer Vorsprung an Duver-
noy’s Figur C der Vorderarmmuskeln des Gorilla (Pl. VII)
zwischen den Buchstaben 21 und 22, 23 darauf hindeuten zu
sollen, dass der Knochen zwar beobachtet, wenn auch nicht
weiter beachtet worden sei. Im Texte geschieht des Gebildes
keine Erwähnung. An den das Handskelet des Gorilla und
Troglodytes Tchego Duvern. behandelnden Abbildungen (a. a. O.
Pl. III) sieht man es gleichfalls nicht. Es ist hier sicherlich
durch Unachtsamkeit des pariser Präparators verloren gegangen.!)
Ueber die Existenz desselben beim Gorilla kann aber nicht der
geringste Zweifel obwalten, denn jedes verständig präparirte
Skelet muss dasselbe zeigen. (Vergl. Taf. XV. Fig. 1, 2*)
Ich bin so häufig nach der beständigen Zahl der Hand-
wurzelknochen des Chimpanse befragt worden, dass ich hier
einige Worte darüber zu sagen mich veranlasst fühle. Beim
Orang-Utan zeigt sich nämlich regelmässig ein neunter Hand-
wurzelknochen, das seit Blainville sogenannte Os inter-
medium. Vrolik bemerkt über dasselbe: „Dans le premier
rang (c. &. d. des os du carpe de l’Orang) se trouve en commen-
Eminentia carpi radialis.inferior des Menschen, finde ich ungenügend.
(Die Hand und der Fuss. Aus den Abhandlungen der Senckenberg.
naturforschenden Gesellschaft, V. Band, Frankfurt a. M. 1866, S. 33).
Ich stehe vorläufig nicht an, diesem Knochen die Bedeutung eines
Sesambeinchens an der Ansatz- und Ursprungsstelle von Fascien und
Muskeln bei Thieren zuzusprechen, welche gerade diese Partie ihrer
Hand so häufig beim Klettern und Gehen gebrauchen. Champneys
beschreibt am Extensor ossis metacarpi pollieis des Oynocephalus
Anubis: „a double insertion into the Trapezoid bone and the base
of the metacarpal bone of the thumb, its tendon oontaining a sesamoid
cartilage (replaced in man by a bursa mucosa) in relation with the
quadrupedal habits of the animal (Journal of anatomy and physiology
vol. VI. (sec. series vol. V.) p. 184.
1) Archives du Museum d’histoire naturelle, T. VIII. Auch
Rosenberg vermisst dies Knöchelchen beim Gorilla. Er sagt:
„Beim Gorilla scheint es zu fehlen, da auch Duvernoy, der den
Muskel (d.h. Abd. poll. long.) beschreibt, es nicht angiebt. Gegen-
baur’s Morpholog. Jahrbuch, Heft. I, S. 187,
640 R. Hartmann.
cant par la cöte radial l’os naviculaire ou scaphoide a. qui
ressemble a celui de l’homme, mais a une forme plus allongee.
Sa partie superieure s’eleve vers le radius avec une surface
articulaire convexe, couverte d’un cartilage, et se prolonge alors
en arriere en un tubercule osseux, formant une eminence & la
face palmaire du carpe, et s’articulant la avec un os sesamoide
que d’autres observateurs ont d&ja reconnu, et qui semble servir
pour le tendon du long abducteur du pouce. Vers le cöte cu-
. bital, le scaphoide se reunit a l’os semi-lunaire et plus en bas
a l’os intermediaire, et s’articule alors avec le trapeze. L’os
semilunaire b. est relativement bien plus gros que chez l’homme,
mais a les m&mes rapports que chez lui. Le triquetrum c. est
tres-fort, ne s’articule pas avec le cubitus, mais se reunit avec
lui par un ligament. L’os pisiforme, qui se reunit & la surface
palmaire du carpe au triquetrum, est tres developpe et se
termine en un tubercule arrondi, qui represente assez la forme
d’un talon. Je n’ai pas remarque qu’il fut divise en deux,
comme Owen l’assure. Ainsi le premier rang du carpe est
dispose comme celui de’l’homme. Le second se compose en
commencant par le cöte radial du trapeze d. (Os multangulum
majus), du trapezoide (Os multangulum minus), du grand os f£.
(Os capitatum) et de l’os unciforme g. En tout cela il ressemble
au second rang du carpe de ’homme, et il s’articule de la
meme maniere, avec les os du metacarpe; car l’os metacarpien
du pouce se r&unit au trapeze, celui de l’index au trapezoide;
celui du doigt du milieu au grand os; celui du quatrieme et
cinquieme doigt a l’os unciforme. Mais en sus il y a un os
surnumeraire, meconnu par tous mes devanciers, que jai designe
par la lettre h., et qui se trouve entre les deux rangs, ayant
Yair d’&tre un demembrement de l’os scaphoide, dont il a un
peu la forme. J’ai retrouve le möme os intermediaire dans les
Gibbons et d’apres les recherches de Blainville, il parait commun
a tous les autres Quadrumanes. Son existence chez l’Orang-
oetan et son absence chez le Chimpanse me paraissaient d’une
certaine importance etc.“ !)
1) A. a. 0. 8.13, Tab. VI, Fig. 2h.
Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 641
Owen bildet das Os intermedium des Orangs in derselben
‚ Weise wie Vrolik ab.!)
Lucae bemerkt: In dem Carpus (d. h. des Orang) findet sich
nämlich zwischen Multangulum, Capitatum, Naviculare ein eigener
Carpusknochen, welcher mit dem Multangulum minus, sowie
mit dem Capitatum articulirt und die vordere Gelenkfäche des
Os naviculare (für das Capitulum des Os capitat.) ergänzt und
vergrössert.?)
Während das Intermedium an der Streckseite des Orang-
Carpus breit, mit leicht gewölbter Fläche sichtbar wird und,
wenn man die Knochen etwas von einander biegt, auch seine
Articulationslächen mit dem Multangulum minus und Capi-
tatum zeigt (vergl. hier Taf. XV Fig. 3i), ist von demselben
Knochen auf der Beugeseite selbst beim mässigen Auseinander-
zerren der übrigen Ossa carpi nur sehr wenig zu sehen.
(Tat. XV Fig. 4).
Gegenbaur hat diesen Knochen mit seinem Os centrale
des Carpus identificirt. Er will letzteres als ein aus einem
früheren Zustande stammendes, echtes Carpuselement erkennen,
vermag aber nicht zu ermitteln, wo es, bei seiner späteren
Nichtexistenz, geblieben sei. Für die Annahme, es sei mit
dem Capitatum (Cuvier) oder mit dem Scaphoideum (Owen)
verbunden, bestehen für Gegenbaur keine Gründe.°)
Rosenberg hat in einer sehr fleissigen Arbeit Gegen-
baur’s Ideen weiter ausgeführt und den Nachweis zu führen
gesucht, dass das Os centrale carpi (Os intermedium) auch
beim Menschen vorkomme, hier aber vorzugsweise nur im
1) Todd Cyclopaedia Vol.IV, Pt. I, p. 204, Fig. 124. On the
anatomy of vertebrates Vol. Il, p. 544, Fig. 361. Diese Copien des
Vrolik’schen Originales sind eben nicht gelungen.
2) Die Hand und der Fuss, S. 32, Taf. XXXVII, Fig. 8a, 9a,
Diesen Passus verstehe ich nich. An den von mir untersuchten
Orang-Carpus artieulirt nämlich das Intermedium mit dem Navieu-
lare, Multangulum majus, minus und Capitatum. Die gegenseitigen
Gelenkfacetten sind an diesen Knochen deutlich zu erkennen.
3) Carpus und Tarsus. Leipzig 1864, S. 50.
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 41
642 R. Hartmann:
embryonalen, seltener im entwickelten Zustande In Rosen-
berg’s Arbeit wird übrigens auch der Arbeiten Gruber’s über
denselben Gegenstand gedacht und dem Petersburger Forscher hin-
sichtlich des Nachweises eines Centrale carpi beim (erwachsenen)
Menschen die Priorität eingeräumt.!) Nach Rosenberg ist
dieser Knochen nicht nur dem Centrale der Säugethiere, sondern
sogar den beiden Centralia der Enaliosaurier homolog, er ist
aber nach Massgabe der eingetretenen Reduction dort in-
complet.?)
In derHandwurzel des noch sehr jungen, (kaum einjährigen)
Orang-Utan fand ich das Os intermedium oder centrale mit
seinem von demjenigen des Os naviculare gänzlich gesonderten
Knochenkerne versehen. Die Ossification zeigte sich hier der
Reihenfolge nach am weitesten vorgeschritten: 1) am Os capi-
tatum und Os hamatum. Dann folgten in der Knochenbildung
2) Os naviculare, 3) Os multangulum majus, 4) Os lunatum,
5) Os triquetrum, 6) Os intermedium (centrale), 7) Os multang.
minus. 9) Os styliforme°) und das hier vielbesprochene Sesam-
beinchen waren erst in der rein knorpligen Anlage vorhanden.
Ein Bild der Verknöcherung der Ossa carpi an einem jungen
Gibbon (Hylobates agilis) bietet unsere Taf. VIX, Fig. 12. Beim
jungen (etwa einjährigen) Chimpanse war das äusserlich durch
zwei tiefe Rinnen dreifach, aber nur oberflächlich segmentirte
Os naviculare mit einem einzigen sich durch alle drei Segmente
erstreckenden Knochenkerne versehen. (Taf. XIV, Fig.11*). Von
einem Intermedium waren bei den mir zu Gebote stehenden
Chimpansepräparaten keine Spuren mehr vorhanden. An Em-
bryonen dieser Thiere fehlte es leider bis jetzt. Auch hin-
1) Ueber ein dem Os intermedium s. centrale gewisser Säuge-
thiere analoges neuntes Handwurzelknöchelchen beim Menschen.
Dies Archiv 1869. Nachträge zur Osteologie der Hand und des
Fusses II. Bullet. Acad. Imp. d. sc. d. St. Petersbourg. XV, 1870.
Nachträge zu den supernumerären Handwurzelknochen d. Menschen.
Das. Taf. XVII, 1872. Weitere Nachträge zum Vorkommen des Ossi-
culum intermedium carpi beim Menschen. Dieses Archiv 1873.
2) Gegenbaur’s morphologisches Jahrbuch, I, S. 172 £.
3) Vergl. diese Zeitschrift 1875, S. 743.
Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 643
sichtlich des Gorilla gebrach es mir am nöthigen Materiale. So
muss ich leider die Frage, wie es mit einer ursprünglichen An-
lage des Knochen bei den genannten Affenformen steht, noch
gänzlich in der Schwebe belassen. Gegen eine organologische
Beziehung dieses Knochens zum Naviculare scheint mir übrigens
der ganze anatomische Thatbestand zu sprechen.)
Nach dieser, wie mir schien, ganz nützlichen Abschweifung
kehre ich wieder zur Betrachtung der vorliegenden Extremitäten-
knochen des Bam Chimpanse zurück, welche ich mit denen
anderer Specimina verglichen habe.
Die Mittelhandknochen des Bam sind im hinteren
Theile?) ihrer Dorsalfläche etwas convex und platten sich nach
vorn zu breit ab. Dasselbe ist bei dem Quillu-Chimpanse der
1) St. George Mivart, vom Intermedium sprechend, bemerkt:
„In one manus of a Chimpanzee (Plate XIV, Fig. 1), I have found
the scaphoides develope a large process, embracing the magnum dor-
sally, while at the same time the part passing beneath the trapezium
is much developed, so that in this case it, I think, evidently and
completely responds to both the scaphoides and the intermedium of
the Orang (Plate XIV, Fig. 2). — On the appendicular skeleton of
the Primates. Philosophic. Transaction 1867, p. 317. Bei
Gratiolet und Alix heisst es: „Le scaphoide dessine une saillie
assez forte a la face dorsale du poignet et de plus il est muni d’un
crochet palmaire saillant et vigoureux.“ Ferner wird gesagt, man
könne nicht durchaus behaupten, dass das Intermedium dem Chim-
panse fehle. „Il est seulement soud& au scaphoide. D’autre part, on
doit observer que la portion de ce scaphoide, qui correspondant a l’os
intermediaire, par la maniere dont elle enveloppe la tete arrondie du
grand os, dont elle s’insinue par un bord tranchant entre le grand os
et le trapezoide et par la convexite de la face qui s’articule avec le
trapezoide et le trapeze, rappelle tout & fait ce qu’on veit sur un
Macaque ou sur un Papion.“ (A. a. O. p. 82). Ich selbst habe von
dem angeführten Fortsatze des Os naviculare carpi an keinem der mir
zu Gebote stehenden Chimpanse-Skelete auch nur eine Spur finden
können. Ich fühle mich aus diesem Grunde und anderen Voraus-
setzungen zufolge ausser Stande, den Erklärungen angeführter Forscher
mich direct anzuschliessen, stelle vielmehr Alles auf die Probe derein-
stiger Untersuchungen an foetalen Präparaten.
2) Vergl. d. Archiv 1875, Taf. VII, VIII und Figurenerklärung
das. S. 303, ferner d. Archiv 1875, S. 743.
41*
644 R. Hartmann:
Fall, wogegen die Metacarpalknochen unseres Chimpanse
Nr. 16111 vorn schmaler und weniger deutlich abgeplattet er-
scheinen. An den Volarflächen derselben sind keine auffälligen
Unterschiede wahrnehmbar.
Die ersten Fingerglieder von Digit. II—IV sind digital-
wärts beträchtlich gekrümmt und im zweiten wie letzten Drittel
seitlich verbreitert (Dig. II = 10 Mm., Dig. II =12':5 Mm.,
Dig. IV=11Mm.) Dasselbe zeigt sich beim Quillu-Chimpanse,
woselbst die Verbreiterung (Dig. II = 16 Mm., Dig. III = 13 Mm.,
Dig. IV = 11'5 Mm.) vom brachialen gegen das digitale Drittel
nicht so schroff als bei jenem Bam ist. Bei unserem Tro-
glodytes niger dagegen sind die entsprechenden Fingerglieder
schmal (Dig. II=8 Mm, II= 10 Mm., IV=9 Mm.) Diese
Knochen sind an ihrer Dorsalfläche beim letztgenannten Thiere
und beim Quillu-Chimpanse gestreckter und convexer als
beim Bam.
Die Ossa metacarpi 1 und V, sowie die ersten Phalangen
des Daumens und des kleinen Fingers sind bei allen diesen
Thieren klein und gracil.
Die zweite, stets sehr flache Phalanx des II., III. und IV.
Fingers des Bam sind an ihrer Basis breit und verjüngen sich
sehr allmählich nach vorn. Am Quillu-Chimpanse und am
Präparat 16111 ist die entsprechende Phalanx des III. Fingers
breit, die Phalangen der übrigen Finger dagegen sind sehr
schmal. Die Nagelglieder des Bam zeichnen sich durch grosse
Graceilität aus. Ihre Endverbreiterung ist sehr unbedeutend im
Vergleiche zu derjenigen der übrigen Thiere,
An den vorliegenden Knochen der oberen Extremität sind
die untere Epiphyse der Ulna, die obere und untere des Radius
mit den entsprechenden Diaphysen noch nicht verwachsen. Die
Handwurzelknochen sind vollständig ausgebildet. Selbst das
Sesambeinchen fehlt nicht. Am I. Mittelhandknochen zeigt sich
die brachiale Epiphyse von der Diaphyse getrennt, bei den
Mittelhandknochen 2—5 dagegen ist die digitale getrennt, die
brachiale verwachsen. An den Fingergliedern ist immer die
brachiale Epiphyse noch getrennt. Es entspricht dies bekannt-
lich dem Gange der Verknöcherung dieser Theile auch bei den
Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 645
übrigen Affen!) Die obere Apophyse der Ulna ist am Bam
rauher, schmaler und mehr zugeschrägt als bei Troglodytes
niger, woselbst dieser Theil abgestumpfter erscheint.?) Die
Epiphysen des ersteren Thieres sind noch zu wenig ausgebildet,
zeigen noch nicht die energische Ausprägung der Höcker-
Furchen und anderer Unebenheiten erwachsener Thiere,
weshalb es auch schwer ist, in dieser Hinsicht jene Theile beim
Bam und gemeinen Chimpanse in Vergleich zu ziehen. Sonst
finde ich keine irgend wesentlichen Unterschiede in der Bildung
der Vorderarmknochen beider Thiere, nur dass diese Theile
beim Bam viel graciler, feiner, ich möchte sagen, eleganter
gebaut sind, als beim Westafrikaner. Der Arm des von Dr.
Pechuäl-Loesche erlegten, grossen, angeblich männlichen
Chimpanse°) hat sehr kräftige Ossa antibrachii mit stark aus-
geprägten Unebenheiten. Sonst entdecke ich in diesen Theilen
keine beträchtlichen Unterschiede Nur ist das Spatium inter-
osseum zwischen den sehr gebogenen Knochen dieses mächtigen
& Thieres mit breiten, dicken Armen verhältnissmässig viel breiter
als an unserem Q Troglodytes niger. Bei letzterem ist jenes
Spatium aber auch schmaler als beim Bam.
Das Os triquetrum des Bam zeist auf der Seite eine breitere,
glattere Fläche als dasjenige desQ Troglodytes niger und jenes
oben erwähnten 5. Bei beiden letzteren Individuen ist diese
Fläche ulnar- und vorwärts gegen die Richtung auf die Finger-
- spitzen zu mit einem Knochenkamm versehen, welcher radialwärts
breit und convex ist, ulnarwärts aber schmaler und niedriger
wird.
Von der deutsch-afrikanischen Loango-Expedition war durch
Hrn, Stabsarzt Dr. Falkenstein eine angebliche Gorillahaut und
ein angeblich zu derselben gehörendes Skelet eingeliefert worden.
Letzteres erwies sich nun nach meiner Untersuchung bald als
dasjenige eines älteren kräftigen 5 Chimpanse, an dessen Schädel
die Nähte meist noch nicht vollständig verwachsen sind.*)
1) Vergl. diese Zeitschrift, Jahrgang 1875, Tat. VI.
2) Vergl. das, Taf. VIII.
3) Vergl. das. Taf. VII.
4) Vergl. dies Archiv 1875, S. 739 ff.
ee 2.
646 R. Hartmann:
Das Thier stammt von dem an Anthropomorphen so reichen
Quillu-Flusse her. Dies etwa 1200 Mm. hohe Specimen hat
230 Mm. lange Hände (Mittelfinger), ohne III Phalange, denn
diese fehlten dem Skelet. Auch an ihm sind die oberen (proxi-
malen, brachialen) Phalangen breit. So z.B. beträgt die Breite
der ersten derselben am Zeigefinger = 10 Mm., am 3. Finger
=12 M., die der zweiten am Zeigefinger = 11 Mm., am 3. Finger
=12 Mm. Das ist eiue lange, breite Hand, deren kräftige
Phalangen sehr gegen die zierlichen unseres Bam abstechen.
Man hat bekanntlich seit Huxley die hintere Extre-
mität des Affen für eine dem menschlichen Fusse homo-
loge Bildung erklären wollen, wogegen in vergangener Zeit
nach Tyson und Blumenbach jenes Gebilde für eine hin-
tere Hand — daher die Ordnungsbezeichnung Quadrumana
— gegolten hatte,
Huxley, nachdem er die äusserlicheAehnlichkeit der hinteren
Extremität des Gorilla mit einer Hand zugegehen hatte, bemerkt
darüber Folgendes: „Aber die oberflächlichste anatomische
Untersuchung weist sofort nach, dass die Aehnlichkeit der so-
genannten „hinteren Hand“ mit einer wirklichen Hand nur bis
auf die Haut geht, nicht tiefer und dass in allen wesentlichen
Beziehungen die Hinterextremität des Gorilla so entschieden
mit einem Fusse endigt wie ‘die des Menschen. Die Mittel-
fussknochen und Finger sind andererseits relativ länger und
schlanker, während die grosse Zehe nicht bloss relativ kürzer
und schwächer, sondern durch ein beweglicheres Gelenk mit
ihrem Metatarsalknochen an die Fusswurzel gelenkt ist. Gleich-
zeitig steht der Fuss schräger am Unterschenkel als beim
Menschen. „Die hintere Gliedmaasse des Gorilla endigt daher
in einen wahren Fuss mit einer sehr beweglichen grossen Zehe.
Es ist allerdings ein Greiffuss, aber in keiner Weise eine Hand:
es ist ein Fuss, der in keinem wesentlichen Charakter, sondern
in bloss relativen Verhältnissen im Grade der Beweglichkeit
und der untergeordneten Anordnung seiner Theile von dem des
Menschen abweicht.“ „Man darf nun indess nicht glauben, weil
ich (Huxley) von diesen Differenzen als nicht fundamentalen
spreche, dass ich ihren Werth zu unterschätzen suche. Sie sind
Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 647
in ihrer Art wichtig genug, da ja in jedem Falle der Bau des
Fusses in strenger Beziehung zu den übrigen Theilen des Or-
ganismus steht. Auch kann nicht bezweifelt werden, dass die
weitergehende Theilung der physiologischen Arbeit beim
Menschen, sodass die Function des Stützens gänzlich dem Bein
und Fuss übergeben ist, für ihn ein Fortschritt im Baue von
grosser Bedeutung ist; nach Allem aber sind anatomisch be-
trachtet die Uebereinstimmungen zwischen dem Fusse des
Menschen und dem Fusse des Gorilla viel auffallender und be-
deutungsvoller als die Verschiedenheiten.“
Huxley kommt fernerhin zu dem Schluss, dass „möchten
die Differenzen zwischen der Hand und dem Fusse des Menschen
und denen des Gorilla sein, welche sie wollten, — die Diffe-
renzen zwischen denen des Gorilla und denen der niedrigeren
Affen noch viel grösser seien.“
„Der Fuss des Orang weicht noch mehr ab; seine sehr
langen Zehen und kurze Fusswurzel, kurze, grosse Zehe und in
die Höhe gerichtete Ferse, die grosse Schiefe der Gelenk-
verbindung mit dem Unterschenkel und der Mangel eines langen
Beugemuskels für die grosse Zehe trennen denselben noch viel
weiter vom Fusse des Gorilla, als der letztere vom Fusse des
Menschen entfernt ist.“ Nachdem Huxley noch manches
Bemerkenswerthe über die Muskelbildung der Menschen- und
Affenhand, des Menschen- und Affenfusses angeführt, endigt der-
selbe mit folgenden Worten: „So verschiedenartig die relativen
Verhältnisse und die Erscheinung des Organes sein mögen, so
bleibt die terminale Abtheilung der hinteren Extremität im
Plan und Grundgedanken des Baues ein Fuss und kann in
dieser Hinsicht nie mit einer Hand verwechselt werden.“!)
Flower bemerkt, dass der Hauptunterschied zwischen
Menschen- und Affenfuss darin besteht, dass letzterer zu einem
Greiforgan modifieirt worden sei. Fusswurzel-, Mittelfussknochen
und Zehenglieder zeigten sich bei beiden Ordnungen in gleicher
1) Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur. Deutsche
Ausgabe, S. 103 fl. Ders. in A Manual of the anatomy of verte-
brated animals. London 1871, p. 481 ff.
648 R. Hartmann:
Zahl und in gleicher gegenseitiger Stellung, nur sei beim
Affenfusse die Gelenkfläche des Cuneiforme I für die grosse
Zehe sattelförmig und schief gegen die innere oder Tibialseite
des Fusses gekehrt. Die grosse Zehe stehe deshalb getrennt
von den übrigen und sei so angeordnet, dass, wenn sie gebeugt:
werde, sie sich zur Sohle herabbiege und den anderen Zehen
sich entgegensetze, weit mehr, als dies mit dem Daumen der
Menschenhand geschehen könne u. s. w.
Auch Owen spricht sich!) über die charakteristische Um-
gestaltung des Affenfusses in „an opposable grasping"thumb*
der grossen Zehe aus?) K. E. v. Bär vermag Huxley
nicht zuzustimmen, wenn dieser behauptet, die Abweichung des
Menschen von dem Gorilla sei geringer, als diejenige der
verschiedenen Affen untereinander. Man könne Unterschiede
verschiedener Art unter den Affen finden. Bei einigen sei der
Daumen nur ein Stummel, bei den anderen, wie beim ÖOrang-
Utan, seien die Finger der hinteren Extremität so lang und
gekrümmt, dass sie auf ebenem Boden gar nicht ausgestreckt
werden könnten; bei vielen kleineren Affen sehe die Hinter-
hand noch mehr handähnlich aus, als bei den grossen schweren
Affen, und die Finger könnten sehr gut auf dem Boden aus-
gebreitet werden. Hier sei nämlich das Fussgelenk ein viel
1) An introduction to the osteology of the Mammalia. London
1870, p. 310.
2) Z. B. On the anatomy of vertebrates. Vol. II, p. 551. Vergl.
hierüber auch noch: G.M. Humphry: The human foot and the
human hand, London 1861, p. 89. St. George Mivart: Man and
Apes, London 1873, p. 88. Ferner: Burmeister: Geologische Bil-
der zur Geschichte der Erde und ihrer Bewohner. Leipzig 1851, I,
S. 101 fl. Letztere Abhandlung, welche übrigens vieles Vortreffliche
enthält, ist leider zu einer Zeit geschrieben, in welcher es um die
Kenntniss der Anthropomorphen, namentlich des Gorilla, noch ziem-
tich dürftig stand. Lucae: Die Hand und der Fuss. Abgedruckt
aus den Abhandlungen der Senckenberg. naturforsch. Gesellschaft,
V Bd., 1865. Bischoff: Beiträge zur Anatomie des Hylobates leu-
eiseus. München 1870, S. 68 ff. Brühl: Myologisches über die Ex-
tremitäten des Schimpanse. (Aus der Wiener mediein. Wochenschrift
1871, S. 4, 52, 78.) G. Seidlitz: Beiträge zur Descendenztheorie.
1876, S. 148 f. Jaeger: Zoolog. Briefe, S. 438.
Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 649
weniger scharf ausgebildetes und es erlaube daher mannig-
fache Beugungen, so dass auch die Sohlenfläche, welche eigert-
lich nach innen gerichtet sei, auf dem Boden zu liegen komme.
Je schwerer der Körper werde, desto schärfer müsse das Fuss-
gelenk ausgebildet werden, und desto weniger könne es daher
die freien Bewegungen gestatten, die dem Handgelenk zukom-
men. Alle diese Modificationen seien aber nur Modificationen
eines Kletterfusses oder eines greifenden Gliedes, d. h. einer
Hand, nicht aber Modificationen eines festen, den ganzen Rumpf
auf dem Boden tragenden Fusses. Die Zehen des Gorilla
zeigten deutlich die Form einer Hand, indem die grosse Zehe
wie ein Daumen abstehe, die übrigen Zehen aber nach der
äusseren Seite gedacht seien. Die Fusswurzel sei beim Gorilla
verkürzt, der Fersenhöcker nach innen gekrümmt. Die ein-
zelnen Knochen des Fusses vom Menschen fänden sich aller-
dings in der Hinterhand des Gorilla wieder, allein es sei ein
ganz anderes Organ daraus geworden, ein Organ zum Greifen,
d. h. eine Hand. Es sei diese letztere aus denselben Elemen-
ten gebildet, wie der Fuss des Menschen, aber zu einem an-
deren Organ. Das Verhältniss sei also dasselbe, wie in den
Mundtheilen der Insecten, die bei einigen gegen einander be-
wegliche Kiefer bildeten, bei anderen aber dünn und lang seien
und einen Stachel formten. Wenn man behaupte, die Affen
hätten keine hintere Hand, sondern einen Fuss, so sei das ganz
ebenso, als wenn man sagte, die Mücke habe keinen Stachel,
sondern verdünnte Kiefern u. s. w.!)
Hier interessirt uns nun zunächst die hintere Extre-
mität des Chimpanse. Ich habe schon früher Taf. VII,
3, 4°), Jahrgang 1875 und VIII 3, 4 die ganze Extremität des
Troglodytes niger (Nr. 16111) und des Bam, sowie jetzt Tafel XIV
die Fusswurzelknochen des in diesem Archiv 1875, S. 733 ££.
erwähnten Quillu-Chimpanse abbilden lassen. Ein selbst ober-
1) Studien aus dem Gebiete der Naturwissenschaften. II. Theil
1876, S. 315 ft.
2) Das. steht im Text S. 303 Zeile 7 der Tafelerklärung fälsch-
lich statt 4 in der Plantaransicht 5 u. s. w.
650 R. Hartmann:
flächlicher Blick auf diese Abbildungen muss jeden mit der
Osteologie des Menschen und der Wirbelthiere nur einiger-
maassen Vertraueten davon überzeugen, dass wir es im Tarsus
dieser Thiere ganz mit denselben Elementen zu thun haben,
welche den Tarsus des Menschen charakterisiren. Es sind
hier der Astragalus, der Calcaneus, das Os naviculare, Cunei-
forme I, I, IM und cuboideum vorhanden. Freilich zeigen
diese Theile mancherlei von den menschlichen Verhältnissen
abweichende Eigenthümlichkeiten. Das Os metatarsi I der
grossen Zehe ist am Cuneiforme I mittelst eines von der Streck-
zur Beugeseite verlängerten Freigelenkes eingesetzt. Dieses
Fussglied spielt hier also durchaus eine ähnliche Rolle wie der
Daumen der menschlichen Hand.
Fig. 12 der oben citirten VII und VIII Tafel mögen hier
sofort zu Vergleichen dienen. Die Basis des Os metac, I ist
nur sehr wenig von derjenigen des Os metac. I] entfernt. Die
übrigen Mittelhand- und Zehenglieder der hinteren Extremität
des Chimpanse entfernen sich so wenig von denselben Theilen
des Menschen, dass hier unsere Betrachtungsweise dadurch
nicht weiter beeinflusst zu werden vermag.
Es frägt sich meiner Ueberzeugung nach zunächst darum,
wie die Affen, vorzüglich die anthropomorphen, ihre Hinter-
extremität gebrauchen? Vor. Allem dient sie, da diese Thiere
meistens ein Baumleben führen, zum Klettern, wozu die Affen
sich aber auch der Hände bedienen. Der Gorilla setzt beim
Gehen die eingesehlagenen Finger der Vorderextremität auf den
Boden, selbst im beschleunigten Tempo. Die hintere Extre-
mität, an welcher der längliche mehr frei hervorragende Tuber
Calcanei schon mehr den Eindruck einer wirklichen plastisch
hervortretenden Hacke macht, als bei Chimpanse, Orang und
Gibbon, wird beim Gehen meist mit der Soble platt auf den
Boden gesetzt. Zuweilen aber auch, namentlich auf der Flucht,
dient selbst die Streckseite mit den eingeschlagenen Zehen zum
Aufstützen auf die Unterlage. Aeltere Gorillas haben daher
Gangschwielen an der Streckseite der Finger- und Zehenglieder,
welche zuweilen knotig geschwollen und sehr hart erscheinen.
Wenn Bär die hintere Extremität des Gorilla so darstellt, dass
N
Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 651
die Zehen II—V nach der Aussen- oder Fibularseite gekrümmt
erscheinen, so beruht das nur auf der Willkür seines Präpa-
rators. Denn der Gorilla kann die Zehen sehr gut flach über
den Boden strecken, so dass die Beugeseite der Phalangen in
voller Breite die Unterlage berührt. Die ganze Fusssohle stützt
sich dabei auf die Erde. Dergleichen kann man beim lebenden
Gorilla des Berliner Aquariums tagtäglich beobachten. Der
Chimpanse benutzt beim Gehen die eingeschlagenen Finger der
vorderen und die eingeschlagenen Zehen der hinteren Extre-
mität. Selbst laufend bewegt er sich so mit ziemlicher Schnellig-
keit fort, häufig sieht man ihn aber auch die ganze Sohle der
Hinterextremität auf die Erde stützen. Beim Orang-Utan zeigt
sich dieselbe Gangart. Letzteres Thier setzt aber auch beim
Gehen häufig den Aussenrand der Hinterextremität mit ein-
geschlagenen oder wenigstens doch gegen die Sohle hin ge-
krümmten Zehen auf die Erde. Dies konnte man sehr schön
an dem unlängst gestorbenen grossen & Orang des Berliner
Aquariums beobachten.!) Dies Thier stützt beim Gehen aber
auch die ganze hintere Sohle platt auf. Den Aussenrand des
letztgenannten Theiles scheinen dagegen Gorilla und Chim-
panse seltener zu gebrauchen. Wenn sich dieselben und der
Orang gerade emporrichten und in dieser Stellung eine kurze
Strecke weit — lange halten sie es dabei nicht aus — vor-
wärts bewegen, so gebrauchen sie die hintere Extremität häu-
figer mit platt ausgestreckten, selten nur mit eingeschlagenen
Zehen. Die Gibbon’s (Hylobates) gehen nicht, wie die ande-
ren anthropomorphen Affen, auf allen Vieren, sondern sie gehen
weit häufiger aufıscht, auf den mit platter Sohle gegen den
Boden gestemmten Hinterextremitäten. Sie halten sich bei dieser
Bewegung ziemlich gerade, setzen Knie und Füsse nach aussen,
ziehen die Schultern zusammen und kehren die Arme in halb-
gebeugter Stellung nach auswärts, wobei die Hände schlaff
herunterhängen. Die oberen Gliedmaassen wie Balancirstangen
1) Vergl. auch die Abbildung bei Schlegel und L. Müller im
Atlas zu: Verhandelingen over de natuurlijke Geschiedenis der Neder-
landsche overzeesche besittingen. Zool.
652 R. Hartmann:
leicht auf- und nieder-, hin- und herwiegend, laufen sie mehr
als sie hüpfen, sobald sie sich nur auf platter Erde bewegen.
Auf unregelmässigem Boden dagegen ergreifen sie mit weit
ausgestrecktem Arm jeden nur irgend sich darbietenden An-
haltpunkt und geben an ihm jedesmal dem Körper einen
mächtigen Schwung nach vorwärts. Ist eine solche Unter-
brechung in ihrem Laufe überwunden, so geht es desto besser
auf den Füssen fort. Solche Hindernisse ermöglichen es ihnen,
einen jedesmaligen neuen Anhub zu nehmen, und mit dessen
Hülfe die Schwierigkeiten eines coupirten Terrains leichter zu
bewältigen. Werden sie nun zufällig zu grösserer Eile ange-
trieben, so laufen sie wohl auf allen Vieren, hüpfen und sprin-
gen alsdann auch noch nebenbei. |
Andere Affen, die Cynopitheken u. s. w., stützen beim
Gehen öfters die ganzen Beugeseiten beider Extremitäten auf.
Alle Affen, auch die anthropomorphen, bedienen sich der
hinteren Extremität gelegentlich zum Ergreifen von Gegen-
ständen. Ja beim flüchtigen Klettern, wenn sie z. B. eine er-
griffene Frucht vor dem Futterneide ihres Gleichen sichern
wollen, so nehmen sie letztere wohl zwischen die Zehen der
Hinterextremität, seltener noch einer vorderen, und bedienen
sich der übrigen Extremitäten mehr nur zur beschleunigten
Locomotion.
Werden anthropomorphe Affen angegriffen, setzen sie sich
zur Wehre, so stellen sie sich wie kampfbereite Bären auf die
Hinterextremitäten und gebrauchen die vorderen zum Schlagen,
Kratzen, Festhalten u. s. w. Verfolgte Paviane ergreifen mit
einer Vorderextremität Zweige, Früchte, Steine oder dergl. und
werfen damit nach ihrem Gegner.')
Fassen wir nun Dasjenige, was wir hier über Bau und
Verrichtungen der Hinterextremität dieser Thiere kennen ge-
lernt haben, zusammen, so müssen wir doch die Ueberzeugung
gewinnen, dass wir es hier mit einem zum Gehen in man-
1) Vergl. die hübschen Abbildungen G. Mützel’s über die Stel-
lungen der anthropomorphen Affen in der Zeitschr. f. Ethnologie 1876,
Taf. I, III und in Brehm’s Thierleben, II. Aufl.; Bd. I, S. 46 u. 79.
EN
Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 653
‘ cherlei Form und zugleich auch zum Greifen geschickten Or-
gane zu thun haben, für dessen Bezeichnung ich die, wie wir
wissen, schon von Aelteren gebrauchte Benennung „Greiffuss“
von Neuem vorschlagen möchte. Ueber die Beziehungen dieses
letzteren zum Menschenfusse werde ich an einer anderen Stelle
berichten. Zu einer Hand gehört Rotationsfähigkeit.
Die wenigen vorliegenden Unterschenkel- und Greiffuss-
knochen des Bam-Chimpanse') zeigen sich in jeder Beziehung
ungemein viel schlanker und feiner gebildet als diejenigen des
vielbesprochenen Troglodytes Nr. 161112), als diejenige des
Quillu-Chimpanse (S. 649) und des zuletzt erwähnten, von der
deutschen Loango-Expedition herstammenden Exemplares (S. 645).
Die Tibia des Bam hat eine Länge von 175 Mm. Die-
jenige von Nr. 16111 225 Mm. Während die Fibula des Bam =
17 Mm. Länge hat, beträgt diejenige jenes Chimpanse =
21 Mm. Die Altersunterschiede machen sich natürlicherweise
auch hier bemerkbar.
Die sämmtlichen von mir in dieser Zeitschrift beschriebenen
Bam-Schädel gehören jüngeren und älteren weiblichen Thie-
ren an.’) Aelteren 5 Individuen entstammen überhaupt nur
die hier 1875 T. XVII, Fig. 2 und S. 739 behandelten Schädel.
Es bleibt ein nicht genug zu beklagender Uebelstand, dass uns
keine Reste alter männlicher Bam vorlagen. Die Beschaffung
‚derselben müsste eine Hauptaufgabe der von jetzt ab das Niam-
Niam-Land bereisenden wissenschaftlichen Expeditionen werden.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Bam-Schädel in
ihrem ganzen Bau etwas Eigenthümliches zeigen. Die Pro-
gnathie der meisten derselben ist beträchtlich. So beträgt der
Abstand zwischen den Augenhöhlenbögen oberhalb der Sutura
nasofrontalis und dem Alveolarrande (zwischen den inneren
Ineisiy.):
1) Vergl. diese Zeitschr. 1875, Jahrgang Taf. VII, Fig. 3, 4, 5, 6.
2) Das. Taf. VIII, Fig. 3—6.
3) Ueber die Verschiedenheiten des & und Q@ Chimpanse-Schädels
vergleiche meine Angaben in diesem Archive 1872, S. 147 ff.
654 R. Hartmann:
Am Bam-Schädel Nr. 127-102 Mm.
5 $ an
& i 199
& \ el.
{ 5 go
2 N sag
5 5 „135 2100.%
1 N se
5 E „ 157=100 „
An den Schädeln Nr. 132 und 134 ist die Zahl gering ge
rechnet, weil hier nämlich die Incisivalveolen bereits schad-
haft, ausgebrochen erscheinen. Nr. 128, 129, 132, 134, 136,
137 gehören sehr alten Individuen an. Nr. 133 war noch nicht
alt. Dümichen’s Schädel Nr. 24182, bei welchen obige
Distanz nur 78 Mm. ausmacht, entstammt einem noch jungen
Thiere, dessen Epiphysen noch nicht verwachsen sind.!) Ich
gebe zu bedenken, dass es sich oben um weibliche Individuen
handelt.
Dieselbe Distanz beträgt aber
bei dem Chimpanse-Schädel 16111= 86 Mm.
DUHSL 88°,
n N N
„n 7 D 152 (der Loango-Expedition)
— 107 Mm.,
»n n Nr. 11 (vonLenz) = 95 Mm.
7 13. nat, AO
N n Rz]
Die Schädel 13, D 152 und 16111 entstammen alten Indi-
viduen. Der merkwürdig breite Lenz’sche Schädel Nr. 11
ist ein noch jugendlicher. Nr. D 152 gehört ebenfalls einem
jungen Thiere an. Wir sehen an diesen verschiedenen Ge_
bieten entnommenen Präparaten einen Ogöwe- und einen Lo-
ango-Schädel von beträchtlicher Prognathie. Nr. 13 ähnelt in
seiner Configuration den Bam-Schädeln. Dagegen zeichnen sich
die Schädel D 151, D 152, 11 und 16111 in dieser Hinsicht
durch Breite und Kürze aus.
Die Messungen der Schädelcapacität ergaben man-
1) Vergl. diese Zeitschr. Jahrgang 1872, S. 484.
Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 695
cherlei Differenzen. Dieselbe betrug
beim Bam-Schädel Nr. 128= 350 Cbem.
„ RN „. 136-370 „
5 5 „ 1897=3% „
a 5 „24182= 8309 „
beim Chimpanse-Schädel D 152=370 „
x 5 61117 3497,
R D 151=3%0 „
N
Nr. 24182 und 16111 gehören ungefähr gleichaltrigen Thieren
an. Weitere Nummern der Sammlung waren für diese Mes-
sungen nicht mehr brauchbar.
Die Bam-Schädel sind durchschnittlich schmal, namentlich
in ihrer Kieferparthie, die Knochentheile derselben erscheinen
fein stulptirt, haben meist recht ausgeprägte Vertiefungen, Fort-
sätze und Muskelleisten, sie sind leicht und spröde. Uebrigens
varüiren sie in Einzelnheiten untereinander beträchtlich, wie sich
das auch aus den früher von mir veröffentlichten Beschreibungen
ergiebt. Bedenkt man nun, dass sich diese Thiere durch einen
gewissen charakteristischen Gesammthabitus des Schädels, durch
dunkle Gesichts- und Gliederfarbe, sowie durch den fuchsigen
Schiller ihres langen, feinen, schwärzlichen Haarkleides auszeich-
nen, so würde ich, nach meinen jetzigen Erfahrungen, gerade
nichts Unzulässiges darin erblicken, wollte man wenigstens vor-
läufignoch den Bam zueiner besonderen Varietät der Chimpanse’s
erheben. Weniger würde ich auf Grösse und Form der Ohren
geben, denn diese Theile verhalten sich bei allen Chimpanse’s
individuell gar zu verschieden. In dem Zahnbaue aller dieser
Thiere findet sich so wenig Abweichendes, dass derselbe hier
nicht weiter in Betracht kommen darf. In den vorliegenden
Extremitätenknochen lässt sich leider kein zur Charakterisirung
der systematischen Beziehungen der Bam geeignetes Material
aufinden. Denn obwohl sich an ihnen, wie oben $. 653 bereits
dargethan worden, eine auffallende Schlankheit der einzelnen
Knochen nicht verkennen lässt, so ist das Thier doch noch
sehr jung gewesen, auch darf man das (9) Geschlecht desselben
hierbei nicht ausser Acht lassen. Es erscheint daher bedenk-
lich, auf die oben angedeuteten Charaktere hin weitere Schlüsse
656 R. Hartmanu:
zu bauen. Endlich fehlen uns bis jetzt zum Gesammtbilde des
Bam das übrige Skelet des alten Weibchen und jeglicher
Knochenrest vom älteren Männchen.') Will man aber doch
den Bam, wie es mir ja selbst räthlich erscheint, vom eigent-
lichen Troglodytes niger sondern, so mag man ihn Troglodytes
niger var. Schweinfurthii (Giglioli)?) benennen. Da-
gegen würde ich lebhaften Protest einlegen, wollte man noch
fernerhin von einer besonderen Species: TroglodytesSchwein-
furthii Gigl. reden. Denn der Artbegriff bedarf gerade
im Hinblick auf die sogenannten Anthropomorphen einer ge-
hörigen Erweiterung. Die Grenze der Species darf hier keines-
wegs so knapp gezogen werden, als dies bisher im Sinne der
alten engherzigen Doctrin geschehen ist.
Es erscheint mir völlig unstatthaft, den Bam mit den an-
geblichen von du Chaillu und seinen Vertretern geschaffenen
Chimpanse-Species zu identifieiren. Denn du Chaillu’s An-
gaben sind in dieser Hinsicht verworren, dürftig, die sogenannte
Artcharakteristik ist so mangelhaft, dass die wissenschaftliche
Untersuchung nichts damit zu thun haben darf. Du Chaillu’s
biologische Phantastereien sind übrigens von Winwood Reade
u. A. hinlänglich widerlegt worden. Du Chaillu’s Abbildun-
gen vermeintlicher Chimpanse-Arten sind meist schlechte Fa-
brikate aus unberufenen xylographischen Ateliers.”) Text und
Bilder des amerikanischen Reisenden können überhaupt nur
unwissende Literaten begeistern. Die Schädelabbildungen zu.
seinem Werke taugen aber womöglich noch weniger als seine
Habitusbilder. Wie ich schon oben (1875, S. 266) bemerkte,
- 1) Giglioli besass einen jungen zweifelhaft männlichen
Schädel (!)
2) A.a. 0.—Hartmannim zoologischen Anhange zu Schwein-
furth: Im Herzen von Afrika, II, S. 525.
3) Du Chaillu’s Troglodytes calvus (Travels and adventures
p. 359) ist die einzige, noch einigermaassen brauchbare Figur seines
Werkes. Dagegen ist sein N’schiego Mbouve p. 232 nichts als eine
schlechte Copie des von J. Geoffr. St. Hilaire abgebildeten jungen
Chimpanse, sein Kooloo-Kamba S. 270, 360 ist ein schlecht ausgestopfter
Chimpanse gewöhnlichen Schlages.
Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 657
sucht daher Giglioli aus den Schädelbefunden nachzuweisen,
dass in Centralafrika neben dem Bam noch der wirkliche
Chimpanse vorkomme. Unter den von mir beobachteten Bam-
Schädeln zeigt zwar kein einziger volle Uebereinstimmung mit den
von mir als typisch erklärten Schädeln des Trogledytes niger,
z. B. mit Nr. 16111 des anatom. Museums zu Berlin ; indessen will
ich doch selbst danach die Möglichkeit nicht in Abrede stellen,
als könnten im Njam-Njam-Lande oder in irgend einem ande-
ren Gebiete Afrikas nicht zwei Varietäten des Chimpanse neben-
einander vorkommen. Eine etwaige Bastardirung derselben
unter einander würde dann zu mancherlei Zwischenbildungen
Veranlassung geben.
Gewiss ist, dass auch die Varietät Troglodytes niger
mannigfache individuelle Variation aufweist. Die Grösse der
Ohren, sowie deren Bildung in Bezug auf Leisten, Gräben,
Ecken, Gegenecken u. s, w. zeigten sich sehr verschiedenartig.
Junge Troglodytes niger haben gewöhnlich ein schmutzig-Heisch-
farbenes, in gelblich und bräunlich spielendes Gesicht. Das-
selbe färbt sich mit zunehmender Entwickelung dunkler, indem
sich schwärzliches Pigment flecken- und gebietsweise von der
Stirn und Nase her ablagert, wodurch ein schwach russfarbenes
Colorit entsteht. Nun finde ich in einer mir von dem bekann-
ten F. Binder aus Alwinez-Borberek (Juli 1874) zugesandten
Notiz, dass nach von ihm hervorgerufener Aussage der berbe-
rinischen und Denka-Jäger bei dem Bam die Gesichtsfarbe
bereits in frükester Jugend sehr dunkel, fast schwarz er-
scheine.
Auch unter den westafrikanischen Chimpanses kommen
einzelne sehr prognathe Individuen vor. Bereits die S. 654 von
mir publieirten Maasse lehren uns dies. Flach-prognathes Ant-
litz zeigte z. B. ein sehr junger durch Prof. Bastian von der
Loango-Küste mitgebrachter © Chimpanse mit kleinen Ohren,
welchen ich auf Taf. IV, Fig. 2 habe abbilden lassen. Das. -
findet sich Fig. 4 ein nach dem Leben gezeichneter Chim-
panse, angeblich vom Gabun-Tl'erritorium, dessen Ohren recht
gross sind. Sehr prognath ist der merkwürdige das. Fig. 1 von
mir abgebildete Anthropomorphenkopf. Ich sah ihn am 7. Sept.
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 42
a
658 R. Hartmann:
1873 bei einem herumziehenden Händler zu Nürnberg, der ihn
in einem mit verdorbenem, fauligem Weingeist und mit Lumpen
gefüllten Blechgefässe aufbewahrte und für denselben 200 Gul-
den (eine verhältnissmässig ungeheuere Summe) verlangte.
Der Kopf war, bis auf einige stark verletzte Stellen in der
rechten Gesichtshälfte, noch ganz gut erhalten. Nur gegen
Erlegung eines entsprechend hohen Douceur erlaubte mir der
Mann, sogleich vor dem Thore eine Zeichnung von dem höchst
auffallenden Specimen zu nehmen, dessen Fundort mir nicht
angegeben werden konnte. Grösse und Zahnbildung liessen auf
ein noch junges ® schliessen. Höchst sonderbar waren das
kleine menschenähnliche Ohr, die vorstehenden Augenwülste,
unter denen stark entwickelte Augenhöhlenbögen fühlbar wur-
den, die breite Nase, die prognathe Kieferparthie und die
lange, gewölbte, vorragende Oberlippe.!)
Damals leider machten die Sorge um eine alte, schwer-
kranke, von mir begleitete Verwandte und die in Folge des-
sen beschleunigte Abreise weiteren Negotiationen um Erwerbung
des höchst interessanten Specimens ein Ende. Nie habe ich
von dem Verbleib desselben wieder gehört. Seine Weichtheile
mögen vielleicht bald unter dem Einflusse der sich schon da-
mals bemerkbar machenden Fäulniss und der Wärme verdorben
sein, der Schädel kann ja in irgend ein Museum gewandert
sein. Ich gab hier die Abbildung des Kopfes, entschlage mich
aber vorläufig jedes weiteren Urtheiles über dies Präparat.
Fig. 3 das. zeigt den Kopf eines 5 etwa dreijährigen Chim-
panse und eine Profilbildung, wie sie bei jüngeren Exemplaren
von Troglodytes niger (ungefähr desselben Alters) häufig be-
obachtet wird.
Man kann nicht behaupten , dass die Prognathie bei alten
& Chimpanse’s durchaus grösser sei, als bei alteno. Bischoff’s
Gypsmodell des alten & zeigt hinsichtlich der S. 654 erörterten
Distance 105 Mm. Der 1875 S. 739 erwähnte, allerdings noch
1) Ich habe bisher nie weiter ein Wort über dieses sonderbare
Präparat verloren, weil ich dasselbe früher für die Missbildung eines
Chimpanse gehalten hatte. Jetzt denke ich freilich anders darüber.
Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 659
nicht völlig erwachsene & Schädel lässt diese Distance auf
100 Mm. abschätzen. Man vergl. damit die S. 654 angegebenen
Zahlen bei © Schädeln. Jedenfalls zeigt sich die Prognathie
bei verschiedenen Individuen von Chimpanses verschiedenartig
ausgeprägt. Am Bam und ähnlichen Formen ist die Nasen-
und Lippengegend bei starker Prognathie flach, bei anderen
ist sie erhaben, gewölbt. Man vergl. über diese Contraste
Fig. 1, 2, 4 der Taf. IV.
Im Nachfolgenden soll uns nun zunächst die allge-
meine Morphologie des Chimpanse-Schädels und
Chimpanse-Skeletes beschäftigen.
(Fortsetzung folgt.)
Tafel-Erklärung.
Taf. XIV.
Fig. 1-10. Tarsalknochen des Jahrgang 1875 S. 733 erwähnten
Quillu-Chimpanse.
Fig. 11. Verknöcherung des Os navieulare bei einem jungen
etwa & Jahr alten) Chimpanse.
& Knochenkern.
Fig. 12. Carpus der rechten Hand eines jungen Hylobates agilis.
mit den Knochenkernen.
on. Os naviculare.
1 „ lunatum.
t. „ triquetrum.
st. „ styliforme.
ma. „ multangulum majus.
mil, 5 minus.
c. „ eapitatum.
h. „ hamatum.
i. ,„ intermedium,
Taf. XV.
Fig. 1. Linker Carpus eines erwachsenen 9 Gorilla. Volarseite..
A. Ulna. B. Radius. C—G. Ossa metacarpi.
42*
660
* Sesambein.
H. Hartmann:
Os naviculare.
lunatum.
triquetrum.
styloideum.
multangulum majus.
n minus.
capitatum.
hamatum.
Für Fig. 2—4 gelten dieselben Bezeichnungen.
Fig. 2. Dasselbe.
Dorsalseite,
Fig. 3. Rechter Carpus eines erwachsenen Orang-Utan. Dorsal-
seite. Die Ulna A ist der leichteren Uebersicht wegen zur Seite
gezerrt worden.
Fig. 4. Dasselbe.
Volarseite.
i. bedeutet das (in Fig. 3 dorsalseits, in Fig. 4 aber volarseits
verdeckt liegende Os intermedium) (Os centrale carpi).
Fig. 5. Theil der linken Hand eines 5 Chimpanse.
ae
1.
2.
6.
3.
4.
4
5.
T.
8.
9.
9a.
Musculus extensor digitorum communis.
3 carpi radialis brevis.
% '» A longus.
n pollieis longus und brevis.
n carpi rad. brevis,
abduetor pollicis longus.
supinator longus.
flexor carpi radialis.
abductor pollicis brevis.
interosseus dorsalis I.
adduetor pollicis.
ce. Ligamentum carpi commune.
* Qs sesamoideum.
Fig. 6. Theil der rechten Hand eines © Chimpanse.
2,2a. Musculus extensor carpi radialis longus und brevis.
” pollieis brevis.
abductor pollieis longus.
flexor digitorum communis sublimis.
abductor pollicis brevis.
interosseus dorsalis 1.
extensor pollieis longus.
5 digitorum communis.
Fig. 7. Theil der linken Hand eines jungen Orang-Utan.
1. Museulus
extensor digitorum communis.
£ pollieis longus.
abductor y A
6)
I
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-
Y
7
Archio
Taf. XV
)
187
Archiv f. AnatuPhyf.
R_ Hartmann ad nat del
Beiträge zur Kenntniss u. s. w. 661
4. Musculus extensor pollicis brevis.
8 u abductor pollieis brevis.
9. = interosseus dorsalis 1.
13 5 flexor digitorum comm. sublim.
14. & pronator quadratus.
15. 5 supinator longus.
16. 5 extens. carpi radialis longus et brevis.
«. Ligament. carpi commune.
* Sesambein.
Fig. 8. Thenar-Theil der rechten Hand eines älteren Q Orang-
Utan.
3. Musculus extens. digitor. commun,
4, 4a. - abductor pollieis longus.
8. a extens. digitor. brevis.
12. 5 flexor pollieis longus.
** Sohnenfaden desselben, welcher sich an das Sesambein * an-
heftet.
Anatomische Untersuchung der Gefässnerven
der Extremitäten.
Von
HERMANN FREY aus Zürich.
Zweite Abhandlung.
Hierzu Tafel XVI u. XVII.
Die Beschreibung der makroskopisch erkennbaren Gefäss-
nerven findet man in den Lehrbüchern der Anatomie unter der
Rubrik Sympathicus, während deren mikroskopisches Verhalten
an einer anderen Stelle erörtert oder ganz den Lehrbüchern
der Histologie überlassen wird. Diese Trennung will ich auch
der Uebersichtlichkeit halber in dieser kleinen Abhandlung
durchführen. Der erste Abschnitt soll also die Literatur und
meine eigenen Beobachtungen über die gröberen Verzweigungen
der Nervi vasorum enthalten, der zweite einen Abriss dessen
bringen, was bis jetzt mit dem Mikroskop darüber gefunden
worden ist.
Die Gefässnerven des menschlichen Körpers sind in ein-
zelnen Theilen so genau erforscht worden, dass schwerlich mehr
viel Neues darüber gefunden werden wird. Man erinnere sich
nur an die Verfolgung des Plexus caroticus bis in den Plexus
tympanicus, in’s Ganglion oticum, sphenopalatinum, an die ge-
naue Bearbeitung der Aortenplexus u. s. w. Dagegen haben,
sich nicht viele Anatomen gefunden, die auf den Verlauf der
Nervi vasorum an den Extremitäten Rücksicht genommen haben,
und es soll der Zweck der vorliegenden Arbeit sein, diese
Lücke in der Literatur, so gut als ich es vermochte, auszufüllen,
Anatomische Untersuchung u. s. w. 663
Ein Theil der desceriptiven Anatomien geht über mein
Thema stillschweigend hinweg oder begnügt sich mit der kur-
zen Notiz, dass der Nervenplexus, der die Aorta umspinnt,
sich auch auf die Gefässe des Armes und des Beines fortsetze.
Führer in seiner topographischen Anatomie erwähnt peri-
pherische Nervengeflechte, die sich an den grossen Gefäss-
stämmen zunächst den Gelenken finden. Selbst Rüdinger in
seinem ausgezeichneten Werke: „Die Anatomie der mensch-
lichen Gehirnnerven“, spricht bei Behandlung des Sympathicus
gar nicht von den Nervenplexus an der axillaris und femoralis.
Dagegen findet sich in seiner Abhandlung über die Gelenk-
nerven folgende Stelle:
„Der Nervus tibialis gelangt in den oberen Theil der
Fossa poplitea und schickt einen Nervenast von seiner vorderen
Fläche ab,. der sich in schräger Richtung nach unten, vorn und
etwas nach innen zieht. Nach einem Weg von 1—2 Zoll theilt
er sich in zwei schwächere Aestchen, die beide in leicht ge-
schlängelter Richtung die Theilungsstelle der Arteria poplitea
erreichen und hier einen zweiten, tiefer unten vom Nervus
tibialis weggehenden Zweig und einen später zu beschreibenden
Nervus fibularis aufnehmen. Sie bilden um die Arteria und
Vena poplitea ein reiches, viel verschlungenes Geflecht, einen
wirklichen Plexus popliteus, wovon feine Fäden in die Scheide
der Arteria und Vena poplitea eindringen, und in ihren Wänden
Aufnahme finden. Die aus dem Geflecht hervorgehenden grossen
Nervenzweige, theilweise Fortsetzung der Stämmchen, verhalten
sich folgender Art: Das dünnere, obere, mehr nach innen ge-
legene gelangt in seinem weiteren Verlauf in den Winkel
zwischen Vena saphena parva und Vena popliteas, verbindet
sich vor und etwas nach aussen von den Gefässen mit einem
langen Ast vom Nervus übularis, um mit ihm ein gemeinsames
Stämmchen zu bilden. Dies Stämmchen nun gelangt an der
inneren Seite der Gefässe vorbei und nimmt seinen Weg durch
das hier in Masse liegende Fett nach dem unteren Dreieck der
Fossa poplitea, wo es sich in mehrere Fäden spaltet, die in
der Umgebung des lig. popliteum in den fettigen Lücken ver-
schwinden. Das dickere Stämmchen giebt dann, sobald es
664 Hermann Frey:
etwas tiefer in den oben genannten Winkel der beiden Venen
gekommen ist, nochmals Fäden zum Plexus popliteus und einen
Faden, der dem Verlauf der Art. articularis media folst und mit
ihr sich in der hinteren Kapselfläche und den Ligg. eruciatis
vertheilt. Der Endast schlingt sich nach vorn um die Arterie
und Vene herum, gesellt sich zur Art. articul. genu super. int.
begleitet dieselbe und vertheilt sich zuletzt unter dem Caput
internum musc. gastrocnem. in und zwischen den Sehnenbün-
deln der hinteren, inneren Kapselfläche. Ein zweites, kleineres
Aestehen entspringt 1—1%' tiefer als das vorige, in der Regel
von einem Muskelzweig des N. tibialis, das auf kürzerem Wege
nach aussen das Fett in schräger Richtung durchbohrt und in
der Umgebung der Gefässe sich mit dem oben beschriebenen
verbindet.
Vom Nervus fibularis erhält die Kapsel zwei ziemlich starke
Nerven. Ein dünner langer Zweig entspringt hoch oben, einen
Weg von 5—7 Zoll zurücklegend. Er läuft hinter dem Mus-
culus biceps femoris nach innen gegen die Gefässe, und wendet
sich hinter denselben nach aussen, um die oben beschriebene
Verbindung mit dem ersten Ast vom Nervus tibialis einzugehen.
Er nimmt somit an dem Plexus popliteus Antheil und nimmt
sodann den oben angegebenen weiteren Ver.auf.
Henle kommt in seiner allgemeinen Anatomie 8. 510,
wo er über die Gefässe und deren Nerven handelt, auf die
weiter unten zu erwähnende Arbeit Lucaes zu sprechen und
sagt S. öll: „Indess will auch Pappenheim an vielen Ar-
terien die Nerven bis in die mittlere Haut verfolgt haben“ und
später: „Zweige der Cerebrospinalnerven zu den Arterien stellte
auch Goering (de nervis vasa adeuntibus) dar“.
Das Lehrbuch der Anatomie von Quain-Hoffmann enthält
8. 738 folgende Stelle: „Die Arterien werden gewöhnlich von
grösseren Nerven begleitet, allein ausserdem sind auch Nerven
in ihren Wandungen verbreitet, welche wahrscheinlich deren
Contractionen beeinflussen. Die Gefässnerven stammen vorzugs-
weise aus dem sympathischen System, jedoch auch aus dem
Gehirn und Rückenmark. Sie bilden um die grösseren Arterien
Geflechte und verlaufen mit den kleineren Gefässen in Form
Anatomische Untersuchung u. s. w. 665
feiner Nervenfädchen. Von diesen dringen sie durch die
Adventitia bis zur Media vor und lösen sich in ein feines Netz
äusserst feiner, blasser Fasern auf“. Während die Verfasser
auf S. 1314 von den Gefässplexus der Carotis, ja der Arteria
maxillaris interna und Thyreoidea inferior, also relativ kleiner
Gefässe, sprechen, erwähnen sie die der Axillaris und Femoralis
gar nicht. S. 1314 bringen sie die Literatur des Sympathicus;
es findet sich aber auch hier keine auf mein Thema bezügliche
Angabe. Von anderen Lehrbüchern der Anatomie spricht nur
W. Krause in seiner allgemeinen Anatomie eingehender über
die Nervi vasorum 8. 532:
„Die Aa. subelavia, axillaris, brachialis u. s. w. werden
auf ihrem ganzen Verlauf von sehr feinen Nervenstämmchen
begleitet, welche sie in Form eines weitmaschigen Plexus mit
langsgestellten Maschen umspinnen“, und weiter unten: „So
findet man an der Arteria axillaris feine Zweige vom Nervus
musculo-cutaneus und von der Ansa, wolche die Nervi cervi-
cales VIII und dorsalis I mit einander bilden. Diese Schlinge
giebt einen stärkeren Zweig zum Bündel der übrigen, den
Plexus cervicalis zusammensetzenden Rückenmarksnerven, wel-
cher Zweig in den Nervus medianus übergeht. Von demselben
trennt sich ein dünneres Nervenästchen ab, welches längs der
Art. brachialis zu verfolgen ist. (Siehe Plexusbildung unten.)
Das beschriebene Verhalten scheint nicht ganz constant zu sein.
Auch die Aeste der subelavia sind von feinen Nervenzweigen
begleitet“. Später folgt noch: „Im Allgemeinen gelangen die
Gefässnerven unter spitzen Winkeln zu den betreffenden Blut-
gefässen. Zuweilen kommen auch rückläufige, ehenfalls unter
spitzen Winkeln herantretende Aestchen vor. Die Stämmchen
der Gefässnerven führen neben vielen blassen, von kernhaltigem
Neurilem umgebene einzelne doppelteontourirte Nervenfasern.
Wie beide Faserarten enden, ist uicht ausgemacht. Man weiss,
dass einige doppeltcontourirte an der Abgangsstelle der Arteria
profunda femoris mit 2—3 Vater’schen Körperchen aufhören
(siehe unten). Auch die grösseren Venen besitzen ähnliche
aber sparsamere Gefässnerven“.
666 Hermann Frey:
Ausserdem citirt Krause noch eine von mir herrührende
Arbeit: |
„Gefässnerven des Arms“, die im Archiv für Anatomie und
Physiologie von Reichert und du Bois-Reymond im Jahr-
sang 1874 erschienen ist.
Ein französisches Werk: nouveaux elements d’anatomie
descriptive et d’embryologie par H. Beaunis et A. Bou-
chard bringt folgende Daten: pag. 382. Quant aux
nerfs des vaisseaux, ils constituent les nerfs vasomoteurs.
Luschka pretend avoir vu leurs terminaisons arriver jusque dans
la tunique interne. Jl nous semble plus probable, qu’ils |
n’atteignent que la membrane contractile, avec laquelle il est
evident, qu’ils doivent avoir des rapports, ce que demontre la
figure 112 (aus dem Werk von Gimbert ausgezogen, worüber
unten mehr). Pag. 685: A la suite d’experiences multiplies,
Schiff a pu determiner l’origine des nerfs vasomoteurs dans
la moölle, au moins de ceux qui se rendent aux extremites.
I a vu que les nerfs vasomoteurs du pied et de la jambe
naissent dans la region lombaire et qu’une grande partie d’entre
eux se distribuent avec le crural et le sciatique, tandıs que
d’autres se rendent directement sur les vaisseaux. Ceux de la
cuisse, du bassin et de l’abdomen proviennent de la fin de la
moölle dorsale. Ceux de la main et de l’extremite inferieure
de l’avant-bras cheminent avec les branches du plexus brachial.
Ceux du bras et de l’epaule gagnent l’aröere sousclaviere par
le cordon du sympathique et tirent leur origine de la partie
de la moelle, qui donne naissance au troisieme, quatrieme,
cinquieme et sixieme nerfs dorsaux“.
Ziehen wir endlich noch die umfangreiche Anatomie von
Sappey zu Rathe, so finden wir in der zweiten Hälfte des
ersten Bandes Pag. 384 folgende Angaben:
„Des nerfs penetrent dans les parois des arteres sous la
forme de filets extremement greles et fort difficiles a suivre
dans le trajet, qu’ils parcourent. Cependant Wrisberg a suive
dans les arteres de la face et du front des filaments nerveux,
qui proviennent de la cinquieme paire. M. Ribes (konnte
leider nicht nachgesehen werden, weil keine weitere Angabe
Anatomische Untersuchung u. s. w. 667
des betreffenden Werkes dabei stand) dit avoir suivi des
rameaux du grand sympathique sur la carotide interne jusque
dans la substance du cerveau, des branches du plexus brachial
jJusqu’ a la partie inferieure de l’artere humerale et de ses
divisions, des ramifications du systeme nerveux ganglionaire
sur l’artere crurale jusqu’a l’artere popliteee Rudolphi,Lucae,
Purkinje, Henle etc. rapportent des observations analogues.
Il est presque impossible de suivre ces filaments nerveux au
dela des couches superficielles de la tunique moyenne. Onde-
mann, il est vrai, assure les avoir suivi jusque dans la mem-
brane interne, mais cette assertion exigerait une demonstration“.
Was nun die Specialarbeiten über Gefässnerven anbetrifft,
so fand ich deren zwei. Frühere Bearbeitungen sind in der
Einleitung zu Göring’s Abhandlung angegeben. Weitere
Untersuchungen habe ich mit den mir zu Gebote stehenden
Hülfsmitteln nicht auffinden können.
Die erstere der beiden Specialuntersuchungen von D. Lucae
erschien im Jahrgang 1809 von Reils Archiv für Physiologie
und enthält die Angabe, dass sich kurze Aestehen, vom Haupt-
nervenstamm abtretend, in die Arterien einsenkten, um sich
strahlenförmig, ausgebreitet, in deren Adventitia zu verlieren.
Die zweite viel eingehendere ist:
Dissertatio inauguralis anatomico-physiologica de nervis
vasa praecipue extremitatum adeuntibus, Auctore Gustavo
Goering, Gothano. Jenae 1836.
In der Vorrede giebt er an, dass Wrisberg, Lucae,
Lobstein und andere darüber zu widersprechenden Resultaten
gekommen seien.
Wrisberg (in: de nervis arterias venasque comitantibus)
dieit: Talium sane ansarum plures dietis (laqueis nempe circa
arteriam thyreoideam inferiorem et subselaviam et nervo inter-
costali) longe majores fortioresgque in chiasmate nervorum
brachialium arteriam axillarem transmittente et nervo tibıali
communi in poplite divisiones arteriae popliteae sustinente ani-
madvertuntur.
Klint (in: de nervis brachii Göttingae 1784) scribit: ner-
vus medianus arteriae brachiali venisque profundis parallelus
hi il
668 Hermann Frey:
descendit parvos tamen surculos manifeste tunicis vasorum
subjacentium impertit.
Item Lucae (Quaedam observationes anatomicae circa ner-
vos arterias adeuntes et comitantes Francofurtii ad Moenum
1810) surculos nervorum descripsit atque icone expressit plures
pro tunica media arteriae brachialis.
Lobstein (in: de nervi sympathici humani fabrica, usu
et morbis Parisiis 1823) fand nie einen Nerven, der vom
Sympathicus zu den Gefässen der Extremitäten direct hinge-
gangen wäre, was Goering nach eigenen Erfahrungen bestätigt.
Er praeparirte die Nervi vasorum auf einem Pechteller
unter Weingeist, nach vorgängiger Härtung in Alcohol oder er
tauchte sie für kurze Zeit in Salpetersäure. Mit diesen Me-
thoden gelangte der Verfasser nun zu folgenden allgemeinen
Sätzen: „Die Gefässnerven gehen in spitzem Winkel vom
Hauptstamm ab und breiten sich in den Gefässhäuten aus.
Besonders an den Stellen, wo die Arterien sich theilen, werden
sie gefunden. Oft überschreiten sie Gefässe, ohne ihnen Aeste
zu geben, um in benachbarten Theilen zu enden z. B. die
Leber- und Magenäste, die aus dem Sympathicus stammen.
Wie die Gefässe der Extremitäten, so haben auch deren Nerven
einen gestreckteren und direkteren Verlauf als die Aeste des
Sympathicus
Goering fand an der Arteria brachialis nervi vasorum, die
vom Nervus medianus herkommen, und zwar einen oder meh-
rere Aeste, aber diese gehen nur ins umliegende Bindegewebe.
Am Vorderarm bekommen die Gefässe von den begleitenden
Nerven Zweige; also versorgt der Nervis ulnaris die Arteria
ulnaris, der Ramus superficialis nervi radialis die Arteria
radialis, der Medianus die Interosseas antica und zwar weit
unten und auch mit solchen Aesten, die auf ihr enden. An
der Arteria interossea postica fand er keinen Nerven.
Schon Klint sah mit der Arteria nutriens humeri vom
Nervus musculocutaneus herkommend einen Ast in den Knochen
eintreten, was Goering bestätigt. Das gleiche Verhältniss
findet sich am Bein. An die femoralis, sobald sie unter dem
Ligamentum Pouparti hervorgetreten ist, sah Goering Nerven
Anatomische Untersuchung u. s. w. 669
vom cruralis gehen, und zwar in Form mehrerer kurzer
Aestchen.
Dann fährt er fort:
„Et ex nervo proprio arteria femoralis nervos accipit, qui
a tertio pari nervorum lumbalium enatus, nervo crurali modo
longiori modo breviori spatio laxe tantum imcumbens, extra
ligamentum Poupartii quam primum ad arteriam cruralem accedit
et illam pluribus surculis amplectitur, (vide Joannes Adamus
Schmidt in libro suo: Commentarius de nervis lumbalibus
eorumque plexu anatomico-pathologicus cum quatuor tabulis
aeneis Vindebonae 1794), quorum unus in posteriore arteriae
cruralis parte ante musculum pectineum ad arteriam femoris
profundam flectitur et divisa omnes huius arteriae ramulos
comitatur. Surculi arteriae eruralis superficialis inter venam et
arteriam cruralem descendentes ramulos huius arteriae tunieis
admittunt, qui multimodo illam circumdantes, partim in tela
cellulosa partim in tunieis arteriae ipsis evanescunt. Ad arte-
rias femoris circumflexas nullos ex nostro nervo ramulos per-
serutari valui. Ab nervo sapheno, qui in externa arteriae
eruralis parte descendit, nervus arteriae crurali proprius non-
nullorum surculorum augmentum capit.
Tertia parte inferiori femoris, ubi arteria eruralis musculum
adductorem magnum perforat, ramus ex nervo obturatorio, inter
musculum adductorem brevem et magnum descendens vices
nervi modo descripti suscipit. Hic nervus continuatione tenui
neryi arteriae cruralis proprii auctus, totam arteriam popliteam
comitans usque ad inferiorem popliteae partem decurrit, qua
via non solum arteriam popliteam nonnullis sureulis compleecti-
tur, qui instar manus, quae corpus quoddam rotundum com-
prehendit, tunicae externae arteriae arctissime adhaerent, sed
etiam arteriis articularibus cuique ramulum cum illa conjuncte
decurrentem tribuit. Truncus nervi ipse arteriae popliteae
adhaeret et quia arteriae, ceteris partibus exceptis, destinatus
est, nervus arteriae popliteae proprius apte nominari potest.
Hie nervus desinit illo loco, quo arteria poplitem relin-
quens, in arteriam tibialem anticam et posticam discedit, quae
propriis nervis utuntur.
670 Hermann Frey:
Arteria tibialis postica accipit a nervo tibiali sex ad octo
ramulos, qui arteriae imcumbentes eam comitantur et singuli
in eam evanescunt.
Idem nervus tibialis ad arteriam peroneam duo vel tres
ramulos admittit, qui huie arteriae plane distinati (muss wohl
„destinati“ heissen) sunt.
Arteria tibialis antica contra a nervo peroneo ramulis in-
struitur; hie nervus enim fibulam ceircumgressus, arteriae
tibiali anticae, ligamento interosseo egressae, impertit surculum,
qui iterum in plures ramulos divisus, in tunicis arteriae ipsis
‘ decurrens, omnes, qui ad musculos abeunt, nervulis consulit.
Sie igitur nervus cruralis arteriam eruralem, nervus obtu-
ratorius arteriam popliteam et nervus ischiadicus arterias eruris
moderat, ita ut illi tres maximi pedis nervi cum omnibus fere
pedis arteriis conjuncti sint. Im zweiten Theil seiner Arbeit
behandelt Goering den physiologischen Theil seines Themas,
was uns hier weiter kein Interesse bietet.
Im Verlaufe meiner Auseinandersetzung werde ich auf die
Punkte zu sprechen kommen, in denen die Resultate meiner
Untersuchungen von meinen Vorgängern abweichen.
Was die Art anbetrifft, wie ich präparirte, so geschah die
erste Präparation in situ an der Leiche; auch die Zeichnungen
1—20 in der vorher erwähnten Arbeit und 1—14 in dieser
wurden auf dem Präparirtisch gemacht, um dann später noch
genauer ausgeführt zu werden. Die feinere Verfolgung der
Gefässnerven (Fig. 14—17) wurde auf einem Pechteller unter
Wasser gemischt mit Weingeist vorgenommen. (Weiteres später.)
Gehen wir zur Beschreibung der Bahnen über, die die
vasomotorischen Nerven benutzen, so findet man, dass auch
hier wie bei allen anderen Nerven der Grundsatz gilt, so schnell
wie möglich zum Ziele zu gelangen. Dieser Weg ist aber den
nervis vasorum schon durch die die Gefässe begleitenden sen-
siblen und motorischen Nerven vorgezeichnet.
Beaunis und Bouchard sprechen auch davon, dass sich
die vasomotorischen Nerven direct ans Gefäss begeben könnten.
Leider kann man aus dem wenigen, was sie anführen,
nicht erkennen, ob sie die Stellen der Gefässe meinen, die
Anatomische Untersuchung u. s. w. 671
den Orten, wo die Gefässnerven entspringen, zunächst liegen
oder weiter entfernte. Wäre das erstere der Fall, so wäre es
natürlich, dass sie meinten, dass z. B. eine Stelle der Aorta
von einem direct an sie tretenden Gefässnerven versorgt würde.
Sonst liesse sich ihr Ausspruch schwierig erklären und noch
schwieriger anatomisch begründen.
Nach obigem Satze sieht man sehr selten eine Arterie
ohne begleitenden Nerven und das geht, wie schon lange be-
kannt, so weit, dass Arterie und Nerv an der Stelle eines
Muskels eintreten, an dem die aus den Capillaren desselben
gesammelte Vene austritt, wobei der Nerv, soweit ich es nach-
weisen konnte, immer den Gefässen die Nervi vasorum lieferte.
Auch die Hautvenen verlaufen selten ohne die Begleitung
eines grösseren oder kleineren Nerven.
Diese Regel gilt aber nicht nur von den grösseren Arte-
rien und Venen, sondern selbst bei Nerven, die einen Durch-
messer von 0'012 Mm. zeigen, wurden immer begleitende Ge-
fässe gefunden. Dadurch ist den vasomotorischen Nerven nicht
nur ihr Weg vorgezeichnet, sondern sie finden an den viel
kräftigern sensiblen und motorischen Nerven auch eine Stütze.
Der oben ausgesprochene allgemeine Satz, dass eine Ar-
terie oder Vene vom begleitenden Nerven versorgt werde, muss
aber nicht so verstanden werden, dass nur ein Nerv das be-
treffende Gefäss versorge, sondern es können auch mehrere
sein. So wird die Arteria brachialis in ihrem oberen Theil
von kurzen Aesten versorgt, die aus dem Plexus brachialis
hervorgehen, weiter unten aber von verschiedenen Aesten.
Sehr schön zeigt dies ein Fall, wo der Nervus cutan. int.
femoris und der Nervus cutan. medius ungefähr in gleicher
Höhe Aeste an die Vena saphena magna abgaben. Auch kann
ein Stämmchen bei den tiefliegenden Gefässen nur eines der-
selben innerviren und anderen Nerven das zweite Gefäss über-
lassen. Auch braucht es nicht der grösste, dem entsprechenden
Gefäss zunächstliegende Nervenstamm zu sein, der dieses ver-
sorgt, sondern irgend ein anderer, wobei sich aber der erstere
noch an der Innervation betheiligen kann. Die Arteria colla-
teralis ulnaris prima z. B. wird vom Ramus collateralis nervi
672 Hermann Frey:
radialis (Wenzel Gruber) versorgt und nicht vom ulnaris, an
dessen Seite sie doch gegen das Ellenbogengelenk hinunter-
läuft. Ebenso fand ich nie Aeste vom Nervus ischiadicus ab-
gehen, um die Rami perforantes der Arteria profunda femoris
zu versorgen. Nachdem ich nun den Verlauf der vasomoto-
rischen Nerven ganz im Allgemeinen behandelt habe, welcher
Verlauf sich übrigens schon aus physiologischen Daten ohne
besondere Präparation erschliessen lässt, will ich nun die Haupt-
resultate anführen, die ich in Folge meiner (10—12) Präpara-
tionen gefunden habe, muss aber, um Missverständnisse zu ver-
meiden, erklären, dass ich „primäres Aestchen“ ein solches
nenne, das von irgend einem Nerven abgehend, meist ohne
Theilung an das Gefäss tritt, wo es dann in die „secundä-
ren“ Aeste ausläuft.
Die primären Nervi vasorum treten fast immer unter einem
spitzen Winkel an das zu innervirende Gefäss, wie auch Goe-
ring und Lucae anführen. [Ueber eine Ausnahme siehe bei
der Vena cephalica] Man findet ja auch bei den sensihlen
und motorischen Nerven recurrirende Aeste sehr selten. Sollte
eine oberhalb des Zutrittspunktes des Nervus vascularis gele-
gene Stelle des Gefässes noch nicht innervirt sein, so findet
sich immer bei der Vertheilung in secundäre Zweige ein sol-
cher recurrirender, dem dann diese Aufgabe zufällt. Ueber-
haupt sind bei den secundären Gefässnerven die recurrirenden
Aeste sehr häufig und es möchte fast scheinen, dass ein solches
einen kreisförmigen Bezirk versorge, wobei die Eintrittsstelle
im Centrum liegen würde. Nie habe ich, wie O. Lucae es
gefunden zu haben behauptet, ganz kleine kurze Aestchen ge-
sehen, die sich ohne weitere Theilung strahlenförmig ausbrei-
teten und so sich ins Gefäss einsenkten, sondern immer ist ein
grösseres oder kleineres Stämmchen vorhanden, das, aus den
motorischen oder sensiblen Nervenstämmen abtretend, sich in
mehr oder weniger zahlreiche secundäre Aeste theilt.
Manchmal kommt ein Aestchen vor (das man wohl am
besten Nervus vasi proprius nennen würde) das sich durch
diese Theilung nicht erschöpft, sondern eine kürzere oder län-
Anatomische Untersuchung u. s. w. 673
gere Strecke neben dem Gefässe hinläuft, wie auch Goering
es zuweilen gefunden hat.
Wenn Goering angiebt, dass einzelne seiner Gefässnerven
nur im Bindegewebe endigten, und dadurch zwei Abtheilungen
machen will, so glaube ich doch diesem Beispiel nicht folgen
zu müssen. Ich habe mich immer bemüht, auch bei den Fig.
1—14, natürlich noch mehr bei Nr. 14—17, die Nervi vasorum
in die Gefässwand selbst hinein zu verfolgen. Allein bei den
feinsten Verzweigungen ist mir das nicht immer gelungen;
wenn ich einen Nerven in dem wenigen Bindegewebe, was ich
um die Gefässe bestehen liess, verschwinden sah, glaube ich
doch immer, fest versichern zu können, nur Gefässnerven be-
schrieben zu haben. Wenn ich einen Nerven nur bis in die
Adventitia im weiteren Sinne verfolgen konnte, habe ich nie
daran gedacht, einen solchen als Nervus vasi anzusprechen,
Es kommt aber, worauf ich noch besonders aufmerksam machen
muss, vor, dass ein Nerv längere Zeit neben einem Gefäss
herläuft, ohne ihm einen einzigen Gefässnerven zuzuschicken.
Dieser Nerv kann dann in die Haut (wo sich dieses Verhalten
besonders an den kleinen Venen sehr häufig findet) oder in
einen Muskel gehen und so einen Nervus vasi vortäuschen.
Bei den Hautvenen kommen, ihrem histologischen Bau
entsprechend, nur ganz wenige und kurze Aestchen, fast nie
ein Nervus vasi proprius vor. Es sind ja längere Zweige auch
‘ schon deswegen unnöthig, weil sich ja, wie man bei genauer
Präparation sieht, über beide Extremitäten ein dichtes, subeu-
tanes Nervennetz ausbreitet, so dass jeder Punkt der Haut-
venen mit Leichtigkeit innervirt werden kann. Zwischen den
als typisch geschilderten Hautnerven finden sich noch sehr
viele Verbindungen, was auch, wie man später sehen wird, auf
die Innervation Einfluss hat.
Die einzige Ausnahme von obigem Gesetz macht der obere
Theil der V. cephalica, worüber noch weiter unten gesproch en
werden wird.
Bei den Arterien und tiefliegenden Venen finden sich theils
kurze Aeste, theils längere, die dann auch als Nervi vasorum
proprii auftreten können. (Vide art. ulnaris.) Es kann ein
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 43
N N
674 Hermann Frey:
Gefässnerv mit seinen secundären Aesten Arterie oder Vene
oder beide zugleich (was häufiger ist) innerviren.
Die Vertheilung der Nervi vasorum geschieht bei kurzen
Aesten meist in einer Ebene, d. h., liegt ein primäres Aest-
chen auf dem Gefäss, so gehen seine secundären Verzwei-
gungen nicht unter dieses hinunter (Ausnahme Fig. 8). Dies
gilt natürlich nur für die letzten Verzweigungen, die man mit
dem Scalpell präpariren konnte, und nicht für die mikrosko-
‚pischen Endigungen, da, wie schon bemerkt, für diesen Theil
meiner Arbeit nicht einmal eine Lupe benutzt wurde. Eine
eigentliche, das Gefäss umspinnende Plexusbildung habe ich
beim Präpariren am Cadaver an der Vena basilica in der Nähe
der Ellenbogenbeuge und eine ähnliche Bildung an einem
Muskelast der Arteria femoralis gefunden.
Quain-Hoffmann gesteht nur den grösseren Arterien
Plexus zu, während er mit den kleineren feine Nervenfädchen
verlaufen lässt, sich also sehr reservirt ausdrückt. Denn ob
er „gross“ relativ oder absolut nehmen will, sagt er nirgends,
könnte also der brachialis einen Plexus eben so gut zu- wie
aberkennen. |
Aus den Angaben von W. Krause muss man entnehmen,
das ser der A. brachialis, vielleicht auch der ulnaris und radialis
einen Plexus zugesteht. Um so befremdender ist es, dass er
oben sagt, dass ein dünnes Stämmchen die A. brachialis begleite
und nicht, dass es sich in den die Arterie umspinnenden Plexus
einsenke; diese Angabe ist nicht meinem Aufsatz in Rei-
chert’s und du Bois-Reymond’s Archiv entnommen.
Ausser der allgemeinen Annahme sprechen sich wie oben
bemerkt, noch Führer und Rüdinger für die Existenz eines
Plexus aus.
Diesen Angaben muss ich meine Beobachtungen entgegen- -
setzen, wobei ich allerdings gestehe, dass ich beim Präpariren
am Cadaver, weil sich hier die Gefässe nicht drehen liessen,
oft einige Gefässnerven und somit vielleicht den fraglichen
Plexus zerschnitten habe, um einen besonders viel versprechen-
den Nerven zu verfolgen. Ich sah die Nerven in die Gefässe
Anatomische Untersuchung u. s. w. 675
sich einsenken, ohne sich mit den naheliegenden zu verbinden.
Uebrigens werde ich bei Besprechung der feineren Präparation
noch einmal auf diesen Punkt zu sprechen kommen.
Was die Beschaffenheit der Gefässnerven anbetrifft, so
unterscheiden sie sich, wie zu erwarten ist, in nichts von an-
deren, ebenso dünnen Nerven. Lucae hat behauptet, dass sie
weicher und gallertartiger seien, als andere Nerven, obwohl
seine Zeichnungen ergaben, dass er nicht von sympathischen
Nerven redet. Allein das gleiche könnte man von anderen
Nerven behaupten, die geschützt liegen, wie z. B. von den
Nervenästen am Unterarm.
Um nun auf die Dicke der Gefässnerven zu kommen, so
fand ich solche von 1 Mm. Dicke, die 40—50 Primitivfasern
zeigten bis zu solchen von 0'012 Mm. Dicke, die nur noch
6—7 aber alles markhaltige Fasern führten. (Vergl. noch
den Text zu den Figuren 13—17, der beweist, dass auch die
dünnsten (0:012 Mm. Dicke) Nerven als solche sicher (durch’s
Mikroskop) erkannt wurden.)
Die Länge der Gefässnerven variirt ausserordentlich. Ich
habe primäre Stämme bis zu 10 Ctm. lang gefunden, während
die secundären Aeste, wie aus den Figuren ersichtlich ist,
selten länger wie 4 Otm. sind.
- Gegenüber den Vasa vasorum zeigen die Gefässnerven ein
ähnliches Verhalten, wie die in ein Organ eintretenden Nerven
und Gefässe. Nie Vasa vasorum treten auf dem kürzesten
‘Wege, also an jeder Stelle der Oberfläche an’s Gefäss, während
die einem Organ bestimmten Nerven meist eine gewisse Strecke
neben demselben laufen. |
In dem Lagenverhältnisse der Nervi vasorum zu den Ge-
fässen findet keine solche Regelmässigkeit statt, dass man dar-
über bestimmte Sätze aufstellen könnte. Oft treten sie von
hinten, oft von vorn an die Gefässe, worüber in der Erklärung,
zu den Figuren mehr gesagt werden wird.
Die Nervi vasorum proprii wechseln oft ihre Stellung
gegen die Gefässe, indem sie sich bald auf die vordere, bald
auf die hintere Seite begeben, dabei oft zwischen Arterie und
Vene durchtreten. Es ist geradezu auffallend, wie gegen den
43*
676 Hermann Frey:
sonstigen Verlauf der Nerven man bei längeren Nervis pro-
priis, deren Länge grade schon an und für sich vor Verwechs-
lung mit den Vasa vasorum schützt, einen gewundenen Verlauf
findet, wie aus den Figuren ersichtlich ist.
Auch die Ernährungsgefässe der Nerven zeigten manchmal
eine so gewundene Bahn,
Doch kann man so viel sagen, dass bei den subeutanen
Venen die Nervi vasorum nur von der Hautseite oder doch
wenigstens nicht von unten an die Gefässe treten. (Eine Aus-
nahme fand ich einmal am Rete nervosum dorsi pedis, wo ein
Aestchen von unten her sich in eine Vene einsenkte). Dies
geht soweit, dass in einem Fall an der Vena cephalica ein
unter ihr liegender Nerv sie nicht von unten versorgte, sondern
sich über das Gefäss hinüberbog, um an die der Haut nähere
Oberfläche des Gefässes zu gelangen und sich dort zu theilen.
Für die Arterien und tiefliegenden Venen lässt sich kein
allgemeiner Satz aufstellen.
Wenn nun für eine genauere Beschreibung der Gefässnerven
das Verlangen gestellt werden muss, dass für ein jedes Gefäss
und dessen Verzweigungen der Stammnerve angegeben werde,
so muss doch in Betreff dieses Postulates bei den Hautvenen
zweierlei bemerkt werden: Erstens findet man so genau
gezeichnete Hautvenenstämme, wie sie die geläufige Beschrei-
bung aufstellt, nicht immer, so dass es in einem speciellen
Falle unmöglich sein kann, eine der Beschreibung entsprechende
z. B. Saphena major (wie Fig. 24 zeigt) nachzuweisen. Die
Hautvenen zeigen sich in der feineren Ausbreitung als ein Netz
von Gefässen, in dem allerdings der Regel nach der V. cephalica
oder basilica entsprechende grössere Aeste gefunden werden,
aber die Gebiete der beiden Venen haben keine scharfe Grenze
gegen einander. Zweitens sind, wie schon oben gesagt, die
Hautnerven auch nicht so einfache Stämme, wie man den ge-
wöhnlichen Beschreibungen nach glauben könnte und zwei
oder mehrere von ihnen bilden ein solches Anastomosennetz,
dass es ganz unmöglich sein kann, zu entscheiden, von welchen
von beiden ein bestimmter Punkt der Vene innervirt wird,
(Wie man es sehr schön an der Dorsalseite von Hand und
2 a a ET Re EN
Anatomische Untersuchung u. s. w. 677
Fuss sehen kann.) Dass Nerven- und Gefässvarietäten hier
noch in’s Spiel treten können, braucht kaum mehr erwähnt zu
werden.
Doch kann man so viel sagen, dass die subeutanen Venen
von den Nerven versorgt werden, durch deren Gebiet sie ge-
rade laufen. Laufen sie auf der Grenze zweier Nerven, so
betheiligen sich bald nur einer, bald beide an der Innervation.
Am Oberarm und der inneren Seite des Unterarms laufen
die Hautnerven entweder unter den oberflächlichen Venen
durch oder doch in einer Ebene mit denselben. Dort sieht
man dann die Nervi vasculares sich in das Gefäss einsenken,
nachdem sie kürzere oder längere Zeit neben diesem herge-
laufen sind, während auf der dorsalen Seite des Unterarms
und besonders der Hand die letzten Verzweigungen der sen-
siblen Nerven über die subcutanen Venen hinlaufen. Bei
dieser Anordnung werden die Gefässe dann von oben durch
feine Nervenfädchen innervirt, die sich dann meist nicht oder
doch wenig theilen.
Auch verdient noch ein Verhältniss Berücksichtigung, das
fast nur am Oberschenkel bei fetten Personen schön ausgeprägt
gefunden wird. Die in den Lehrbüchern der Anatomie als
typisch angeführten Hauptnervenstämme laufen gewöhnlich auf
der Fascie unter dem Panniculus adiposus, während, wenn ein
Panniculus gut entwickelt ist, die Venen auf einer ziemlich
dicken Fettlage laufen. Es müssen also die Nerven, die zur
Innervation neben den Gefässen laufen sollen, aus der tiefsten
Schicht des Panniculus (Nervenschicht) gewissermaassen auf-
steigen, um in die obere (Gefässschicht) zu gelangen. Nie sah
ich, wie man etwa erwarten könnte, von den tiefgelegenen
Nerven Aeste aufsteigen, um sich gleich in die Gefässe einzu-
senken, sondern diese wurden immer von den aus der Nerven-
schicht ausgetretenen Nerven versehen, die sich, nachdem sie
einige Zeit neben den Gefässen hingelaufen waren, wieder von
ihnen entfernten, um sich im Fett zu verlieren.
Ich werde nun die Gefässe des Armes und des Beines zu-
erst im Allgemeinen besprechen, hauptsächlich aber die Punkte
andeuten, in denen meine Beobachtungen von denen früherer
678 Hermann Frey:
Untersucher differiren und dann bei Erklärung der Figuren
die Innervirung jedes besonderen Gefässabschnittes der Extre-
mitäten erläutern.
Goering giebt an, dass er an der Arteria und Vena
brachialis nur Aeste vom N. medianus gefunden habe, ohne
anzudeuten, von wo aus die Gefässe oberhalb des Ursprunges
des N. medianus aus dem Plexus brachialis innervirt würden. Ich
fand oberhalb Aeste aus dem genannten Plexus, unterhalb ausser
solchen vom N. medianus auch Aeste vom N. radialis und ulnaris;
doch war das Verhalten sehr wechselnd.
Im Betreff des die Arteria nutriens in den humerus be-
gleitenden Nerven, siehe unter „femoralis“. Wenn Krause
angiebt, dass an die A. axillaris Aeste vom N. musculocutaneus
gehen, so kann ich diesem Forscher nicht beistimmen,
Aus der oben erwähnten Arbeit Rüdinger’s entnehme
ich allerdings nichts Besonderes für das Ellenbogengelenk,
allein er giebt doch an, dass dessen Nerven vielfach mit der
Arteria brachialis verlaufen, so dass vielleicht manche identisch
sein können mit den von mir beschriebenen Nervi vasorum.
Verfolgen wir die Arteria brachialis weiter nach unten, so
finden wir, dass Arteria und Vena ulnaris vom Nerv gleichen
Namens begleitet und versorgt werden, während der Arteria
radialis eine Zeit lang kein Nerv zur Seite geht, der Ramus
superficialis N. radialis aber erst später an sie herantritt.
Um diese Lücke auszufüllen, begleitet ein vom Nervus medi-
anus kommendes Aestchen die Arterie eine Zeit lang und en-
dete endlich, nachdem es sich durch Innervirung des Gefässes
erschöpft hat, auf diesem. Eines Falles von der Radialis muss
seiner Eigenthümlichkeit wegen noch Erwähnung gethan wer-
den. Bei einem Individuum nämlich begab sich der Stamm
des R. superficialis N, radialis sehr früh an die dorsale Seite
des Unterarms, um dort die Haut zu versorgen; das Stück der
Arterie nun, das ohne begleitenden Nerv war, wurde nicht etwa
durch einen längeren Ast innervirt, der dann dem Gefäss ent-
lang hätte gegen die Handwurzel laufen müssen, sondern ein
Zweig vom Hautnerven kommend, durchbohrte die Unterarm-
fascie, um zur Arterie zu gelangen.
Anatomische Untersuchung u. s. w. ...8%9
-. Wenn Goering an der Interossea antica einen Ast vom
N. medianus fand, so kann ich ihm für die von mir unter-
suchten Fälle nicht Recht geben. Iınmer lieferte der N. inter-
oSseus nervi vasorum, die zum Theil sicher auf der Arterie
endigten. Dass ich auf der Arteria und Vena perforans tertia
der Arteria und Vena interossea Nerven fand, beweist Fig. 20
obigen Aufsatzes, während Goering Nichts gefunden zu haben
angiebt.
Gehen wir nun zur A, femoralis über, so muss ich Goering
Recht geben, dass der N. cruralis die Arteria und Vena femoralis
versorgt. Leider ist mir seine Abhandlung erst dann zu Ge-
sicht gekommen, als ich meine Präparationen am Cadaver
schon beendet hatte und nicht mehr Zeit fand, neue Unter-
suchungen vorzunehmen, und bin ich also nicht in der Lage,
dessen Angaben zu prüfen, dass ein vom dritten Lendennerven
kommender Ast die Arteria profunda femoris innervire; welchen
Zweig er meint, ist allerdings aus seiner Angabe nicht er-
sichtlich.
Einmal fand ich auch in Uebereinstimmung mit der An-
gabe von Krause einen Nerven an der Abgangsstelle der
A. profunda mit einem Vater’schen Körperchen enden, habe
aber später nicht mehr darauf geachtet.
Was nun den Nerven betrifft, der nach Goering mit der:
Arteria nutriens ossis femoris in den Knochen hineingeht, so
fand ich aus schon erwähntem Grunde dies nicht. Allein bei
Sappey wird diese Angabe bestätigt, der noch hinzufügt,
dass beim Pferde sich am Foramen nutritium ein Ganglion
finde, aus dem dann Fäden sich in den Knochen begeben.
Was Goering über die Versorgung der Arteria poplitea
sagt, ist durch meine Erfahrungen nicht bestätigt worden. Nie
fand ich vom N. obturatorius einen Zweig an dieser Stelle,
sondern immer fiel die Innervirung dem N. ischiadieus zu. Auch
habe ich in den nachgeschlagenen Büchern nie eine Angabe
gefunden, dass der N. obturatorius ausser den Muskeln noch
einem anderen Organ (natürlich der Ramus cutaneus ausge-
nommen) Aeste zuschicke. Auch Rüdinger, der, wie man
oben gesehen hat, den Plexus popliteus und dessen Bildung
680 Hermann Frey:
so genau beschreibt, giebt Nichts der Art an, was er doch ge-
wiss gethan hätte, falls er es gefunden haben würde. Ich
glaube mich also bestimmt gegen das regelmässige Vorkommen
eines Nervus popliteus proprius (nach Goering) aussprechen
zu müssen. Dagegen bestätigt Rüdinger, dass die Arteriae
articulares genu Nerven — bei ihm allerdings vom Plexus
popliteus stammend — führen, während Goering an alle
Arteriae articulares aus seinem Nervus popliteus Zweige
gehen sah.
Dieser Nerv versorgt dann auch, wie ich aus Goering’s
Worten schliessen zu müssen glaube, noch die Theilungsstelle
der A. poplitea, während ich hier Nervenäste vom N. tibialis fand.
Ebenso wie Goering fand ich auch an der Tibialis pos-
tica und antica Nervi vasorum proprii (in meinem Sinne) aber
nicht constant. Dagegen giebt Goering nicht an, dass er
auch solche an der A. peronea fand, wie es bei mir in einzelnen
Fällen geschah.
Was die obere Extremität anbetrifft, so habe ich bereits
in dieser Zeitschrift (siehe oben) eine genaue Detailangabe
nebst entsprechenden Figuren veröffentlicht. Bezüglich der
letzteren verweise ich auf die gegebenen Zeichnungen. Eine
kurze Beschreibung der hierhergehörenden Thatsachen glaube
ich aber im Interesse des Zusammenhanges und der Verglei-
chung der beiden Extremitäten beifügen zu müssen.
Die Vena cephalica wird den allgemeinen Gesetzen gemäss
versorgt, nur an ihrem obersten Theile, wo sie zwischen dem
Musc. pectoralis und deltoides liegt, weicht ihre Innervation
von diesen Regeln ab. Ich fand nämlich nicht etwa Nervi
vasorum von den Rami acromiales der oberflächlichen Hals-
nerven; sondern ein Ast des Nerv. cutan. post. vom radialis
durchbohrt die Fascie etwas oberhalb des Austrittes dieses
Hautnerven und läuft neben der‘ Vene, ihr Aeste gebend,
gegen die Clavicula hinauf.
Die Vena basilica war je nach der Lage der einzelnen
Abschnitte des Gefässes theils vom Nervus cutan. int. minor
theils vom Nerv. cut. int. maior versorgt.
Kurze Nerven, aus dem Plexus brachialis heraustretend,
Anatomische Untersuchung u. s. w. 681
versorgen den obersten Theil der Arteria und Vena brachialis,
deren unterer Theil vom Nerv. medianus (ziemlich constant
mit einem längeren Ast), seltener vom N. ulnaris oder radialis
oder allen zusammen innervirt wird.
Die Art. radialis gehört in ihrem obersten Theil dem
Nervus medianus, im mittleren und unteren dem Ramus super-
ficialis nerv. radialis an. Hier finden sich meist nur kurze
Nervi vasorum.
Dagegen fand sich häufiger vom Nerv. ulnaris herkommend
an den gleichnamigen Gefässen ein reiner Gefässnerv. An der
Hand liegt für den Arcus arteriosus superficialis die Grenze
zwischen den Gebieten des Nerv. medianus und Nerv. ulnaris
in der Mitte des vierten Fingers, während der Ramus profundus
nervi ulnaris den Arcus arteriosus profundus versorgt.
Gehen wir nun specieller zu den Gefässen der unteren Extre-
mität, zunächst zu den Hautvenen des Oberschenkels über, so
finden wir hier einen immer vorkommenden Stamm, die Saphena
magna. Nach aussen von ihr geht nun der vom N. crur. kommende
Nervus cutaneus medius in viele Aeste gespalten in die Haut,
der schon unter dem Ligamentum Ponparti die Fascie durch-
bohrt; weiter unten tritt der N. cutaneus internus seu saphenus
minor in der Mitte des Oberschenkels etwa unter dem Muscu-
lus sartorius hervor und durchbohrt hier die Fascia lata, wäh-
rend der Ramus cutaneus nervi obturatorii unter dem Musculus
gracilis hervortretend, ebenfalls an die innere Seite des Beines
geht. Nach den allgemeinen Gesetzen könnten sich alle drei
Nerven an der Versorgung der Vene betheiligen, allein obwohl
der Hautast des Nervus obturatorius manchmal so stark werden
kann, dass er den internus ganz ersetzt, habe ich doch nie ein
Aestchen von ihm an die Vene treten sehen. Da ich auch vom
N. ileo-inguinalis, ileo-hypogastricus, spermaticus ext. und ingui-
nalis nie Nervi vasorum an die Saphena gehen sah, was aller-
dings bei der Feinheit dieser Nerven hätte geschehen können,
welches Aestchen mir dann entgangen sein mag, so bleiben
uns noch für den oberen Theil des Gefässes der N. cutaneus
medius, für den unteren bis zur Kniegegend hin der N. cuta-
neus internus. Es zeigten sich nun meist längere Aeste, die,
682 Hermann Frey:
neben der Saphena hinlaufend, ihr die primären nervi vasorum
abgaben, um nach einiger Zeit sich dann wieder von der Vene
zu entfernen und sich im Fett des panniculus zu verlieren. Der
neben ihr laufende Ast des Nervus cutaneus medius ging bald
an ihrer äusseren, bald an ihrer inneren Seite nach unten, ein-
mal sogar unter ihr und doch gingen auch in diesem Fall die
Nervi vasorum in die Höhe, um sich seitlich oder von der
Hautseite her in sie einzusenken.
Einmal lieferte der Cutaneus medius einen Ast, der nach
aussen von der Saphena ihr Aeste abgebend gegen das Knie
hinunterlief, während auf der inneren Seite sich noch ein Zweig
vom Cut. internus fand, der ihr ebenfalls Nervi vasorum zu-
schickte.
Man sieht daraus, dass die Grenzen zwischen den Inner-
vationsgebieten des medius und internus nicht so streng ab-
getheilt sind, wie auch ein Fall beweist, wo der Gefässnerv
schon hoch oben in der Gegend der Symphysis pubis die Fascia
lata durchbohrte, um dann an die Vene zu treten, während
sich doch bei genauer Präparation zeigte, dass er aus dem
Bündel des Cutaneus internus stammte. Auch kann der von
diesem herkommende Zweig nach aussen von der Vene laufen,
so dass auch in verticaler Richtung diese nicht etwa die Ge-
biete beider Nerven trennt.
Fig. 1. Vordere Seite des Oberschenkels. A Gegend der Crista
ant. sup. ossis ilei, 3 Gegend der Symphysis pubis, c Patella, d Sa-
phena magna, die sich hier in die Vena femoralis einsenkt, e Nerv,
der aus dem Bündel des Nervus cutaneus medius femoris vom Nervus
eruralis stammend in zwei Aeste getheilt das Gefäss versorgt. Der
Hauptstamm geht unter dem Gefäss durch an dessen äussere Seite
und verliert sich bei f und g im Fettgewebe.
Fig. 2. Vordere Seite des Oberschenkels. a Gegend der Crista
ant. sup. ossis ilei, 5 Gegend der Symphysis pubis, ce Patella, d Vena
saphena magna, die sich bei e in die Vena femoralis ergiesst, f Ast
vom N. eutan. medius, der sich bei g im Fette verliert, Ast vom
cutaneus internus, der hier aus der Fascie hervorkommt, neben der
Vene hinunterläuft, ihr Nervi vasorum gebend, und bei © im Fett
verläuft.
Fig. 3. Stück aus der Vena saphena magna in der Kniegegend,
das sehr schön die Vertheilung zweier Nervi vasorum zeigt. a Vene
Anatomische Untersuchung u. s. w. 683
5 Nervenstamm (Theil des Cut. medius), ce Nervus yasi, der sich bei
d ins Gefäss einseukt, bei e auf dem Gefäss abgeschnitten wurde, bei
f in den panniculus geht, g zweiter Nervus vasi, der mit den Aesten
hkoxins Fett geht, während der Zweig e sich theilt, mit dem
Stämmchen m dem Gefäss folgt, (das leider wie die Hauptvene beim
Herausnehmen abgeschnitten wurde, da dies Stück nicht am Cadaver
präparirt worden ist) und mit dem Zweigchen n das Gefäss innervirt,
Am Unterschenkel versorgt die Vena saphena magna der
sie begleitende Nervus saphenus maior und zwar mit Aesten
von verschiedener Länge, welcher Nerv allerdings gewöhnlich
mit der Art. artieularis genu superficialis verlaufend in der
Kniegegend an die Haut tritt, der aber auch wie Fig. 24 zeigt
den Musculus vastus externus durchbohren kann.
Fig. 4. Innere Seite des Unterschenkels. «a Patella, & Malleolus
externus, c Musculus rectus femoris, d Musculus vastus internus,
e Vena saphena magna, die sich in drei Zweige theilt, wovon der
hinterste sich bei / in eine tiefere unter der Fascie gelegene Vene
einsenkt, während die beiden anderen sich bei g wieder zu einem
Stamm vereinigen, den man nach seinem Verhalten auf dem Fuss-
rücken als Vena saphena magna bezeichnen muss, h Nervus cutaneus
femoris internus, der bei ? die Vene innervirt, um sich bei & und Z
im Fett zu verlieren, nachdem er unter dem vorderen der beiden
Gefässe (von ihr durch Fettgewebe getrennt) hindurchgetreten ist, m
Theil des Nervus saphenus maior, der bei n aus der Substanz des
Musculus vastus internus hervortritt, um mit der vordersten Vene,
sie innervirend, gegen den Fuss hinunter zu laufen und sich bei o im
Fett zu verlieren, während dies der obere Ast schon bei s thut,
p anderer Stamm des gleichen Nerven, der den gewöhnlichen Weg
gemacht hat und hier, nachdem er früher direct auf der Fascie ver-
laufen, aus dem Fett empor tritt und ohne dem mittleren Ast Nerven
zu geben (vielleicht sind einige abgeschnitten worden) bei g sie inner-
virt, nachdem er schon weiter oben unter sie getreten ist. Vom Punkt
r bis f wurde kein begleitender Nerv an der Vene gefunden und
äuch kein Nervus vasorum.
Fig. 5. Ansicht des am Punkt g aus der obigen Vene ausge-
schnittenen Stückes von der fascialen Seite her mit der ihr zugehö-
rigen Nervenvertheilung.
Die Vena saphena minor wird vom Nervus suralis magnus
begleitet und im unteren Theil immer von ihm versorgt, wäh-
rend der obere Theil, wenn dieser Nerv etwa sehr weit unten
die Fascie durchbohrt, vom Nervus cutaneus posterior innervirt
wird wie in Fig. 26.
“>
684 Hermann Frey:
Fig. 6. Der Unterschenkel von hinten. a Vena saphena minor,
5 Cutan. femoris post., der den oberen Theil des Gefässes innervirt
und sich mit den Aesten ef im Fette verliert, ce Nervus suralis mag-
nus, dem die Versorgung des unteren Theils der Vene zufällt.
Die innige Verflechtung der drei es constituirenden Ner-
ven erlaubt es beim Rete nervosum dorsi pedis nicht, die Ver-
sorgung des Rete venosum genauer anzugeben. Der äussere
Theil des Venennetzes gehört eben in’s Gebiet des N. suralis
magnus, der innere in das des N. saphenus maior, während
der obere und mittlere Theil der Endausbreitung des N. pero-
neus superficialis zufällt. Einmal fand ich hier einen Nervus
vasorum der von der fascialen Seite an seine Vene ging, wäh-
rend alle andern (allerdings habe ich wenige gefunden) von
der Hautseite her in die Gefässe eindrangen.
Gehen wir nun zu den Arterien und tiefliegenden Venen
des Beines über, so umspinnt die iliaca ein dichtes Nerven-
geflecht, das mit dem Plexus aorticus abdominalis in engstem
Zusammenhang steht. Ebenso besitzt die Arteria hypogastrica
einen besonderen plexus, der sich wahrscheinlich auch auf
deren dem Bein angehörige Aeste erstrecken wird. An den
Artt. und Venae gluteae habe ich nie Nervi vasorum finden
können (auch Goering erwähnt nichts darüber). Fbenso er-
ging es mir mit der Art. obturatoria, die wohl in das Gebiet
des Nervus obturatorius gehören wird.
Die Arteria und Vena cruralis wird im oberen Theil, wie
auch Goering angiebt, mit kurzen Aesten von hinten her ver-
sorgt, die aus dem unter dem Ligamentum Pouparti schnell
auseinanderfahrenden Nervus cruralis stammen. Ein Ast kann
beide Gefässe innerviren oder er beschränkt sich auf das eine.
Der untere Theil der Femoralis wird von Aesten innervirt, die
theils aus den länger mit den Gefässen gehenden, den -Muskeln
bestimmten Nerven stammten, theils aus dem Nervus saphenus
major (wie auch Goering angiebt). Am Adductorenschlitz
hörte manchmal das Innervationsgebiet des Nervus cruralis auf,
manchmal gingen noch Aeste weiter hinunter bis in die Mitte
der Kniekehle. Einige Male fand ich besondere Nervenstämm-
chen, die neben oder unter den Gefässen liegend, zwischen
Anatomische Untersuchung u. s. w. 685
Arterie und Vene gegen den Adductorenschlitz hinunterliefen,
indem sie ihnen reichlich Nervi vasorum zuschickten, sich dann
aber meist dem Stamm des N. saphenus maior anschlossen,
Bei diesen Aesten fand sich dann oft eine Lageveränderung
den Gefässen gegenüber, wie ich schon oben angeführt habe.
Die Arterien für die Muskeln werden ebenfalls vom cru-
ralis versorgt. Besonders bei der Art. profunda femoris fand
sich oft ein längerer Stamm, der dann, wie auch Goering an-
giebt weiter: mit ihr verlief und ihr bald von hinten bald von
vorn her Nervi vasorum zuschickte. Vom Nervus ischiadicus
sah ich nie solche an die Rami perforantes der profunda gehen.
An den Artt. circumflexae femoris konnte ich ebensowenig
wie Goering Gefässnerven entdecken.
Fig. 7. a Lendenwirbelsäule, 5 Crista superior anterior ossis
ilei, e Symphysengegend, d Stück der Bauchhaut, e Musculus iliacus,
f Musculus psoas, g Musculus sartorius, h oberer, unterer Theil des
reetus, & Musculus tensor fasciae latae, / Vastus medius, m Vastus
externus, 2 Vastus internus, o Musculus pectineus, p Musculus adduc-
tor longus, g Musculus adductor magnus, r Musculus graeilis, s Ar-
teria u. vena femoralis, ? Arteria profunda femoris, Nervus cruralis,
der bei v Aeste in die A. femoralis von unten her schickt, w längerer Ast,
der bei y abgeschnitten wurde, z Ast in die Art. und Vena profunda
von oben her,
Fig. 8. Stück aus der Vena femoralis von hinten her gesehen.
a Vene, 5b Gefässnerv, der sich, nur die Vene innervirend, bei cdu.e
in’s Gefäss von hinten her einsenkt, mit dem Zweige f sich nach vorn
wendet, und endet, indem er sich um die Vene g, die aus einem
Muskel kommt, herumdreht.
Fig. 9. Muskeläste der Art. und Vena femoralis in den Vastus
externus und rectus. a Arterie, 5 Vene, c Nerv, der sich bei d mit ei-
nem anderen Nerven verbindet, der auch vom N. cruralis gekommen
ist, aber aus einem anderen Bündel als c, der sich dann in die Aeste
e f g theilt, die mit den Gefässen in die Muskeln eindringen. Hier-
bei sah ich gar keine Nervi vasorum entstehen.
Die Arteria poplites wird vom tibialis versorgt und zwar
mit sehr vielen Aesten, die bald von hinten, bald von vorn
an sie herantreten.
Fig. 10. Vena und Arteria poplitea von hinten. a Arterie,
5 Vene, c Nerv, der einen Ast abschickt, der sich theils bei d in’s
Gefäss einsenkt, theils mit e u. f, der Art. und Vena articularis genu
ARTEN RESET BEE SR
686 Hermann Frey:
‚media in's Gelenk geht, theils bei g sich auf dem Gefäss verlor und
dessen Fortsetzung nicht mehr zu finden war.
An der hinteren Seite des Unterschenkels findet sich für
die beiden Arterien nur ein Nerv, der tibialis; für die Arteria
und Vena tibialis finden sich meist kurze Nerven, die aus dem
Hauptstamm oder aus Muskelästen entspringen und sich meist
von hinten her in die Gefässe einsenken, oder es findet sich,
wie Fig. 1 zeigt, ein längerer Nervus vasi proprius. Die
A. peronea versorgt im oberen Drittheil der Nervus tibialis mit
kurzen Zweigen; im unteren Theil fand ich zweimal einen
eigenen Gefässnerven. Einmal begab sich ein Ast in halber
Höhe des Unterschenkels an die Gefässe von aussen her kom-
mend, trat dann zwischen Arterie und Vene durch auf ihre
innere hintere Seite, und lief in dieser Stellung bis gegen die
Malleolengegend hinunter, wobei er den Muskelästen Zweige
abgab und endlich im Bindegewebe um die Gefässe sich verlor,
so dass es nicht festzustellen war, ob er sich in die Gefässe
direct einsenkte.
Am Fusse habe ich sehr wenige Nervi vasorum gefunden.
Am Arcus plantaris superficialis fand ich nie einen Gefäss-
nerven, da er gewöhnlich sehr wenig entwickelt ist und das
viele Fett in der Fusssohle die Präparation unmöglich macht.
Am Arcus plantaris profundus fand ich auch nur wenige
Nerven, die von der Hautseite her eintrafen, so dass ich aus
ihrer Anordnung nur mit Wahrscheinlichkeit entnehmen
konnte, dass die Verhältnisse denen an der Hand analog sind,
d. b. soweit das Gebiet eines Nerven reicht, versorgt er auch
die Gefässe, und es findet sich also die Grenze zwischen dem
Plantaris externus und internus in der Mitte der vierten Zehe,
Ich bin auch nicht im Stande, eine genügende Figur über die
Innervationsverhältnisse zu liefern und muss auch in dieser
Beziehung auf deren Beschreibung und Zeichnung an der Hand
verweisen. |
Fig. 11. Hintere Seite des Unterschenkels. a Condylus internus
ossis femoris, 5 Condylus enternus ossis femoris, c Calx, d Musculus
semimembranosus, e Musculus biceps femoris, f Caput inter. musculi
gastrocnemii, g Caput exter. musculi gastrocnemii, A musculus popli-
teus, © Portio tibialis museuli solei, k Portio fibularis musculi solei,
Anatomische Untersuchung u. s. w. 687
2 Musculus digitalis communis longus, m Musculus flexor hallucis
longus, n Musculus peroneus brevis, o Musculus peroneus longus,
p Musculus tibialis posticus, y Arteria poplitea, die sich bei r in die
Tibialis postica und s peronea spaltet, £ Nervus tibialis, der oben die
kurzen Nervi vasorum n u. u abgiebt unten, v, einen langen Ast, der
'auf der hintern Seite der Arterie hinunterlaufend auf ihr endigt;
‘w kurzer Nervus vasi vom N. tibialis an die A. peronea, x längerer Ast,
der nach aussen an die Arterie geht, dann hinter beiden durch an
ihre innere Seite tritt, um unter ihnen hergehend, zwischen Arterie
und Vene durch, an die äussere hintere Seite zu gelangen. Bei y ist
er durchgeschnitten worden, und seine Fortsetzung war nicht mehr
‚aufzufinden. Die Aeste 2, «, ß, y, senken sich in die Gefässe ein.
Die Arteria tibialis antica wird von vielen kleinen Aesten
versorgt, zweimal fand ich auch einen längeren Nervenstamm
vide Fig. 12 und 13, und zwar senkten sich die Nervi vasorum
meist von vorn her ein. An der Arteria metatarsea fand ich
einmal vom Nervus peroneus herkommend ein kurzes Aestchen
von der Seite her in das Gefäss eindringend. Sonst ist es mir
nicht gelungen, Nervi vasorum auf dem Fussrücken darzu-
stellen.
Fig. 12. Vordere Seite des Unterschenkels. a Patella mit dem
Ligamentum patellae, 5 Fibula, ce äusserer Knöchel, d innerer Knöchel,
e ein Schenkel des Ligamentum eruciatum, f Sehne des Musculus
sartorius, g M. gemellus surae, A M. soleus, © M. peroneus longus,
k M. peroneus brevis, Z M. extensor digitorum communis longus, m
M. extensor hallueis longus, n M. tibialis anticus, o Arteria und
Vena tibialis antica, 9 Nervus peroneus, der mit dem Zweige g theils
in’s Gefäss, theils in den Musculus tibialis anticus geht, mit dem
Zweig r in’s Gefäss und mit dem Zweig s aufihnen nach unten läuft,
indem er theils den Muskel versorgt, theils bei ? auf der tibialis endet,
d. h. in ihrer Wandung.
Fig. 13. Unterer Theil der Arteria und Vena tibialis antica von
vorn: @ Arterie, 5 Vene, c Gefässnerv, der mit dem Zweige d sich
von oben in’s Gefäss einsenkt, dann unter die Gefässe tritt, diese von
unten versorgt und endlich in ihren Wandungen endet.
Nachdem ich die Bahnen und das Verhalten der Gefäss-
nerven am Cadaver studirt hatte, versuchte ich auch ihre En-
digung mit dem Mikroskop ausfindig zu machen, Zu diesem
Behufe präparirte ich nun solche Gefässstücke auf dem Pech-
teller, an denen ich schon makroskopisch Gefässnerven nach-
gewiesen hatte. Um nun aber sicher zu sein, nur solche Stücke
er ENT aan Aal NP
688 Hermann Frey:
aus der Arterienwand herauszuschneiden, in die sich makros-
kopisch erwiesene Nervi vasorum einsenkten, schnitt ich aus
deren Continuität Stücke aus, die ich nach Färbung in am-
moniakalischem Karmin und Aufhellung in Essigsäure (oder
in salzsaurem Glycerin) unter dem Mikroskop untersuchte.
Denn bei so feinen Nervenfädchen muss ich nach meinen Er-
fahrungen gestehen, ist die sichere Diagnose ohne das Mikros-
kop unmöglich und ich muss zugeben, dass ich mich auch
einige Male getäuscht habe. Gerade bei diesen feineren Nerven
fand ich immer im Bindegewebe neben ihnen Gefässe ver-
laufen, was die sichere Diagnose natürlich noch erschwerte.
Bei diesen Untersuchungen nun wäre es zu erwarten ge-
wesen, dass ich einen Plexus um die Gefässe finden würde,
will es aber dem Leser überlassen, die Fig. 14—16 zu deuten.
Auch habe ich einige Messungen über die Dicke der Nervi
vasorum angestellt, wie aus dem Text zu obigen Figuren zu
ersehen ist.
Es muss noch bemerkt werden, dass ich auch in den
dünnsten Stämmchen nur markhaltige Fasern fand, die sich
manchmal durch die Dicke ihrer Scheide auszeichneten. An
einzelnen Stämmen habe ich auch die Zahl der Primitivfasern
gezählt. (Siehe im Text zu den Figuren.) Bei den Figuren
wird man Stellen angegeben finden mit der Bemerkung „siche-
rer Nerv“.
Diese Stellen sind unter dem Mikroskop untersucht worden
und mikroskopisch sicher als Nerven erkannt worden. Wo
angegeben ist, dass sich die Nerven in’s Gefäss einsenken, ist
das Stück aus der Wandung herausgeschnitten worden, um
nach später auzugebenden Methoden auf die Endigung der
Nervi vasorum untersucht zu werden.
Fig. 14. Stück aus der Arteria und Vena tibialis postica, « Ar-
terie, 5 Vene, c Nerv, der nach unten über das Gefäss hinläuft und
einen Nervus vasorum abgiebt. Stück a—Ö sicherer Nerv, Stück c—d
sicherer Nerv, Stück e—f zweifelhaftes Bündel, das sich bei e in’s
Gefäss einsenkt, Stück g—h sicherer Nerv, der sich bei n in’s Gefäss
einsenkte, Stück «—%k sicherer Nerv, der abgeschnitten wurde als ich
das Gefässbündel aus dem Cadaver entfernte.
Fig. 15. Stück aus den gleichen Gefässen; a—b sicherer Nerv,
der sich weiter unten spaltet, ein recurrirendes Aestchen abgiebt und
Anatomische Untersuchung u. s. w. 689
mit seinem Ende unter das kleinere Gefäss (Muskelast) geht, um sich
auf ihm zu verlieren. Stück a—b sicherer Nerv, Stück e—f sicherer
Nerv, 16 markhaltige Primitivfasern enthaltend, Dicke = 0:03 Mm. Stück
c—-d sicherer Nerv, der sich in die Gefässwand einsenkt, 6 markhaltige
Primitivfasern enthaltend, Dicke=0'012 Mm. Stück g-h sicherer
Nerv, der sich im Gefäss verliert.
Fig. 16. Arteria und Vena femoralis. Die Vene lag auf der
Arterie und ist so herumgeklappt worden, dass man ihre hintere Seite
sieht, und so weit von der Arterie entfernt festgesteckt worden, dass
das zwischen beiden Gefässen sich findende Bindegewebe stark ge-
spannt ist. Stück a—-5 sicherer Nerv, dreizehn Primitivfasern ent-
haltend, Stück c-d sicherer Nerv mit sieben Primitivfasern (Dicke
0:012 Mm.), der sich mehrfach tkeilt, bei e im Bindegewebe abge-
schnitten wurde. Stück e—f sicherer Nerv, Stück g—h ebenso bei m
sich in’s Gefäss einsenkend, Stück @-% nicht sicher ob Nerv oder
nicht, beı n sich in’s Gefäss einsenkend, Stück o—p sicherer Nerv,
der bei g im Bindegewebe endet (abgeschnitten).
Fig. 17. a Arteria femoralis, 5 Vena femoralis, e Nervus saphe-
nus maior, neben den Gefässen laufend. Beide Enden sind mit Haken
stark abgezogen. Ein Gefässnerv theilt sich in zwei Partien, wovon
die obere von d—e und f—g als sicherer Nerv erkannt sich bei h
in's Gefäss einsenkt; das untere Aestchen verlor sich im Adventitial-
gewebe, Stück ©—% sicherer Nerv, Stück n—o ebenso. Aus der plexus-
artigen Anordnung ergiebt sich ein Nerv, der bei g mit dem Gefäss
abgeschnitten worden war, Z-m sicherer Nerv, n—o ebenso, Bei p
und s senken sich zwei Stämme in’s Gefäss ein, r verliert sich im
Adventitialgewebe.
Wenn ich nun in Kürze auch noch auf die histologischen
Verhältnisse der Gefässnerven eingehe, so geschieht das nur,
um einmal alles über dieselben’ in anatomischer Hinsicht Be-
kannte zusammenzufassen.
Während Kölliker in seiner Gewebelehre S. 584 nur
berichtet, dass beim Frosche die Gefässnerven, marklose, blasse
Fasern, an gewissen Stellen in der Gefässwand Netze bilden,
führt Arnold in Stricker’s Gewebelehre (Bd. I S. 142)
drei Netze von Gefässnerven an, In der Adventitia findet sich
der Grundplexus, der stellenweise Ganglienzellen führt; das
intermediäre Netz liegt den Muskelschichten direct auf oder
zwischen solchen, und zwischen den contractilen Faserzellen
findet sich der feinste Plexus, der intramusculäre, aus dem dann
feine Fädchen in die Kerne der Zellenkörper treten sollen.
Reichert’s du Bois- u. Reymond’s Archiv 1376. 44
690 Hermann Frey:
Dieser Auffassung tritt Frey in seiner Histologie S. 335 ent-
gegen, der nur ein feines Nervennetz in der Gefässwan-
dung sah.
Zu gleichen Resultaten gelangte Klein. (Quart. Journ.
of mikrosc. science 1872 pag. 123. Auch His (Virchow’s
Archiv Band XXVII S. 427) sah nur ein Netzwerk von Nerven
an den Mesenterialgefässen in den tiefsten Schichten der Ad-
ventitia und der Muscularis.
Vergleiche noch Beale: the nerves of capillary vessels
and their probable action in health and disease. Monthly
microscop. journal VII pag. 4=-9 und Part II Volum VIII
pag. 95—66.
Beale: Philosophical Transactions for the year 1363 Part II
pag. 562.
Lavdowski: Medicinisches Centralblatt Nr. 17 S. 259.
W. Tomsa: Centralblatt 69 S. 562, sowie dessen Beiträge
zur Anatomie und Physiologie der menschlichen Haut. Prag
1873. S. 55.
J. Kessel: Stricker’s Histologie S. 853.
Gimbert: Memoire sur la structure et la texture des
arteres im: Journal de l’anatomie et de la physiologie normales
et pathologiques de Charles Robin 1865, November- und
Decembernummern; — der Nerven an menschlichen Gefässen
beobachtete. |
Wenn ich nun auch noch einzelne mikroskopischen Schnitte
habe abzeichnen lassen, obgleich sie keine neuen Thatsachen
liefern, so war der wesentliche Zweck der Mittheilung, zu be-.
weisen, dass die makroskopisch verfolgten Nerven auch mikros-
kopisch als solche nachzuweisen waren. Die angewendeten
Methoden waren folgende: Ich legte die herausgeschnittenen
Stücke der Gefässwandung in Goldchloridlösung [1 : 1000] und
stellte sie, bis sie strohgelb geworden waren, in’s Dunkle 3 —
24 Stunden]. Dann brachte ich sie in destillirtes Wasser, dem
ein Tropfen Essigsäure zugesetzt war, und setzte sie dem
Lichte aus, bis sie sich violett gefärbt hatten, was ein bis
mehrere Tage dauerte.
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"Anatomie u. Phyf. 1876.
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Anatomische Untersuchung u. S. w. 691
Fig. 18. Stück aus einer Vene. [Combinationspräparat. Je ein
Dritttheil gehört einem anderen Präparate an.] Es fanden sich von
der gleichen Vene noch mehrere Schnitte, die aber den Verlauf der
Nerven nicht so gut zeigten. Die Adventitia geht von a—Öb, die
Museularis geht von 5—c. Die Nerven d und e laufen nur in der
Adventitia, ohne sich in die Muscularis einzusenken. d verzweigt sich
in der Adventitia noch. Die Nerven //f gehen von der Grenze zwischen
Adventitia und Museularis in schräger Richtung in der letzteren gegen
die Intima hin und endigen scheinbar ungefähr in der Mitte der Media,
und zwar werden sie auf diesem Wege nicht etwa immer dünner,
sondern zeigen in Mitte der Muscularis die gleiche Dicke wie an der
Grenze dieser und der Adventitia.
Fig. 19. Stück aus einer Arterie. Auch bei diesem Präparate
wurden noch mehrere ähnliche gefunden, die die gleichen Verhältnisse
wie Fig. 19 zeigen. Die Adventitia geht von a—Ö, die Muscularis
geht von &—c. Die Intima war in diesem Präparate nicht erhalten.
In der Adventitia zeigen sich nun Nerven d und e, die untereinander
Anastomosen eingehen. Während aber der Verbreitungsbezirk von
d auf die Adventitia beschränkt ist, schickt e einen Nerv gegen die
Muscularis hin, der bei / zwischen zwei Muskelbündel eindringt. Nerv
g tritt in unveränderter Dicke durch die Adventitia hindurch und
überschreitet ebenfalls die Grenze zwischen Adventitia und Media,
während Ak an ihr endet und nicht mehr in die Muscularis zu ver-
folgen ist.
Fig. 20. Schnitt parallel der Oberfläche einer Arterie. a Ad-
ventitia; 5 Grenze zwischen Adventitia und Media, zwischen .den
Muskelbündeln der Media sieht man nur e und d Nerven in gestreck-
tem Verlauf, die sich untereinander nicht verbinden.
Ich kann also mit meinen Präparaten erweisen, dass Ner-
ven in unveränderter Dicke in der Muscularis verlaufen,
habe aber keine solchen Schnitte erhalten, die mir die Plexus-
bildung und das Ende der Nerven gezeigt hätten.
Endlich habe ich immer nur markhaltige Fasern, keine
marklosen mikroskopisch in der Gefässwand verlaufen sehen,
kann also anderen Angaben darüber nicht zustimmen.
Zum Schluss bleibt mir noch übrig, meinen Dank Hrn.
Prof. Dr. Waldeyer auszusprechen, für die vielfältige Unter-
stützung, die er mir sowohl beim Durchsuchen der Literatur
als auch bei meinen Arbeiten hat zu Theil werden lassen.
44*
ee
Untersuchungen über das Gehirn.
Neue Folge.
Von
Dr. EpuArD Hiırzıs,
Professor in Zürich.
IV:
Ueber die Einwände des Hrn. Professor &oltz in Strassburg.
Exstirpationsversuche am Grosshirn des Hundes liefer-
ten das thatsächliche Material zu einer Arbeit '), mit der Goltz
die von mir geäusserten Anschauungen über die Functionen
dieses Organes widerlegt zu haben glaubt. Analoge Versuche,
den von mir sogenannten Gyrus e betreffend, hatte ich selbst
bereits im Verein mit Hrn. Fritsch?) in geringer Zahl ange-
stellt, später aber in systematischer Weise auf die ganze Con-
vexität des Grosshirns auszudehnen begonnen. Aus der letzteren
Versuchsreihe sind Beobachtungen °), durch die ich „den letzten
und nicht mehr anzufechtenden Beweis für die Localisation im
Grosshirn gegeben“ zu haben glaubte, publieirt worden. Leider
haben mir äussere Verhältnisse nicht gestattet, diese Versuche
derart zu fördern, dass ich aus ihrer immerhin grossen Zahl
1) Ueber die Verrichtungen des Grosshirns. Pflüger’s Archiv
u.s. w. Bd. XII.
2) Untersuchungen über das Gehirn. Berlin 1874. S. 28 fi. —
Alle Citate, bei denen nicht ausdrücklich Anderes gesagt ist, sind
nach diesem Buche.
3) Untersuchungen u. s. w. S. 271. — Untersuchungen u. s. w. Neue
Folge II. Dies Archiv 1874.
Hitzig: Untersuchungen über das Gehirn. 693
schon jetzt dem Leser ein weiterreichendes, abgeschlossenes
und mit der erforderlichen Beweiskraft ausgerüstetes Ganze
vorzulegen vermöchte.
Aehnliche Versuche sind ferner von Nothnagel'),
Carville und Duret’), Schiff’), L. Hermann‘) und
endlich von Soltmann°) ausgeführt worden‘).
Die Resultate meiner eigenen Untersuchungen haben durch
die Arbeiten der genannten Forscher unter gelegentlicher Anwen-
dung anderer Methoden manche Erweiterung erfahren. Ich
muss mir nun vorbehalten, den mannichfachen hier ange-
regten Fragen dann in extenso näher zu treten, wenn
ich das erforderliche Material beisammen haben werde,
1) Virchow’s Archiv Ba. 57.
2) Archives de physiol. 1875.
3) Archiv für exp. Path. Bd. 3.
4) Pflügers Archiv Bd. X.
5) Jahrb. für Kinderheilk. N. F. Bd. IX.
6) Goltzeitirt ferner einen Aufsatz vonBouillaudinMagendie’s
Journal T. X. sowie einige Beobachtungen von Vulpian in seinen
Lecgons sur la physiol. etc. Paris 1866. Ich habe diese beiden Arbei-
ten bei Abfassung meiner bezüglichen Abhandlungen nicht gekannt.
Hätte ich sie jedoch gekannt, so weiss ich nicht, ob ich sie angeführt
haben würde; denn sie stehen mit dem, was ich beweisen wollte,
kaum in Connex. Bouillaud stiess ein Glüheisen von der Seite her
durch Trepanlöcher in jede der beiden Hemisphären. Welche Zer-
störungen es anrichtete, giebt er nicht an. Vulpian legte bei zwei
Hunden Frontalschnitte durch die Hemisphäre und zwar möglichst
vor dem Corp. striat., einem dritten Hunde nahm er ca. 1 Ce. Hirn-
masse, und einem vierten durchwühlte er das Hirn mit einer Klinge.
Beide Forscher sahen nachher die vielbesprochenen Motilitätsstörungen
eintreten.
Goltz hat von seinem Standpunkte des Nicht localisirens frei-
lich ganz recht, wenn er sich auf diese Arbeiten bezieht. Da ich hin.
gegen lediglich auf das Localisiren ausging, Lähmungserscheinungen
nach Hirnverletzung sonst ja weder beim Menschen noch beim Thiere
(vgl. z. B. Schiff) etwas Neues waren, und da von Localisation in den
angeführten Arbeiten sogut wie gar nicht die Rede war, so sehe ich
nicht recht, in welche Beziehung ich dieselben zu meinen Bestrebun-
gen hätte bringen können. Das Auftreten mit dem Fussrücken
an und für sich ist ja etwas ganz Nebensächliches.
694 Eduard Hitzig:
und insbesondere auch zu zeigen, in wie weit das rein That-
sächliche meiner. eigenen Erfahrungen die Angaben anderer
Autoren deckt. Für den Augenblick beschränke ich meine
Aufgabe auf die Erörterung der Frage, ob Goltz durch
die angeführte Arbeit wirklich den Nachweis ge-
führt hat, dass die von mir ausgesprochenen An-
sichten über die Functionen der Grosshirnrinde
irrig sind, und bei dieser Erörterung werde ich
vorzugsweise dieStörungen derBewegungberück-
sichtigen.
Meine Ansicht über das, was durch meine und andere
Versuche am Grosshirn bewiesen ist, habe ich sehr oft in
einer, wie ich glaube, ganz klaren und nicht misszuverstehenden
Form ausgesprochen. Es soll mich aber nicht verdriessen, eine
oft eitirte Stelle heut noch einmal anzuführen:
„Wir hatten nicht ohne Absicht gerade an den Schluss
unserer Arbeit folgenden Satz gestellt:
„„Es geht ferner aus der Summe aller unserer Versuche
hervor, dass keineswegs, wie Flourens und die Meisten nach
ihm meinten, die Seele eine Art Gesammtfenction der Ge-
sammtheit des Grosshirns ist, deren Ausdruck man wohl im
Ganzen, aber nicht in seinen einzelnen Theilen durch mecha-
nische Mittel aufzuheben vermag, sonderndass vielmehr
sicher einzelneseelischeFunctionen,wahrschein-
lichalle, zuihrem Eintritt in die Materie oder zur
Entstehung aus derselben auf circumscripte
Centra der Grosshirnrinde angewiesen sind.““
Denn in der That folgt die Wahrheit dieses Satzes mit
aller wünschenswerthen logischen Schärfe aus unseren Ver-
suchen, und wir betrachten diese Wahrheit als die werth-
vollste Errungenschaft unserer Arbeit.
Wenn Reizung bestimmter Stellen bestimmte Muskeln in
Bewegung setzt, und Zerstörung dieser Stellen die Innervation
derselben Muskeln alterirt, wenn Reizung und Zerstörung
anderer Stellen ganz und gar keinen Einfluss auf die Muskel-
innervation ausübt, so scheint mir das hinreichend beweisend
zu sein für den Satz, dass die einzelnen Theile des Gross-
Untersuchungen über das Gehirn. 695
hirns nicht gleichwerthig sind; und diesen Satz wollten wir
beweisen ')“.
Goltz ist zunächst bei seinen Versuchen und sodann fol-
gerecht bei seinen Schlüssen zu anderen Resultaten gelangt.
Es liegt mir vor allem ob, die Ursachen der Meinungsver-
schiedenheit, was die Thatsachen angeht, in unzweideutiger
Weise aufzuklären. Vielleicht wäre es sogar richtiger gewesen,
wenn schon Goltz selbst diese Aufklärung beizubringen ver-
sucht hätte.
Im Gegensatz zu dem Inhalte der soeben aus meinem
Buche eitirten Stelle schreibt Goltz: „Wir werden sehen, dass
der Grad der Störungen im Allgemeinen gleichen Schritt
hält mit der Grösse des Substanzverlustes. Dagegen ist der
Ort des Substanzverlustes, soweit bis jetzt meine Unter-
suchungen gediehen sind, von keinem entschei-
denden Einfluss, d. h. der Charakter der Störungen ist
derselbe, ob nun das Trepanloch weiter nach vorn z. B. am
vorderen Rande der sogenannten erregbaren Zone von Hitzig
angebracht ist, oder ob dasseibe weit hinten im Bereich des
Hinterlappens angelegt wird“ ?).
Die Fassung dieses Satzes könnte zu Missverständnissen
Veranlassung geben, denn während in seinem ersten Theile
Grad und Ort verglichen werden, treten sich in seinem zweiten,
den ersten erklärenden Theile Art (Charakter) und Ort gegen-
über. Immerhin kann man den Inhalt auffassen wie man will,
er ist höchstens in einer ganz bedingten Weise richtig, nämlich
dann, wenn man wieGoltz„beijederÖperationeineerhebliche
Ausrottung von Hirnmasse beabsichtigt und erreicht.“ Ich zweifle
nicht an derRichtigkeitdervon Goltzpublieirten Resultate, aber
er hat eben ganz andere Versuche angestellt als ich, und
unterlassen hierauf die erforderliche Rücksicht zu nehmen; da-
her stammt die Differenz in den thatsächlichen Angaben.
Wenn man kleine, jaselbst minimale Theile Hirn
ausschaltet, wie ich dies bei den beweisenden Versuchen that,
so ist der Ort der Operation einzig und allein von ent-
}) S. 56.
DE Aa: 0.,.9231,,82,,38.
696 Eduard Hitzig:
scheidendem Einfluss dafür, ob Motilitätsstörungen ein-
treten werden oder nicht. Öperirt man in dem von mir
sogenannten Gyrus e, so sind die Beine afficirt, operirt man an
einer anderen Stelle, insbesondere hinten, so sind die Beine
nicht afficirt. Ja wenn man an anderen Stellen sogar sehr viel
mehr Hirnmasse herausnimmt, alsim Gyruse zur Hervorbringung
deutlicher Störungen genügen würde, so sieht man immer noch
nichts. Das ist eine Thatsache, an der noch Niemand, auch
Goltz nicht zu rütteln versucht hat, und an der auch nicht zu
rütteln ist. Wenn dem aber so ist, so sehe ich auch nicht, wie
man den Schluss angreifen will, „dass die einzelnen Theile. des
Grosshirns nicht gleichwerthig sind.“
Sobald bewiesen sein wird, dass ein Stich in jeden belie-
bigen Theil des Hirns, oder die Herausnahme eines linsen-
grossen Stückchens grauer Substanz aus jeder beliebigen Stelle
des Hirns dieselben Motilitätsstörungen hervorbringt wie das
bei identischen Läsionen des Gyrus e der Fall ist, werde ich
zugeben, dass ich mich geirrt habe, und dass die einzelnen
Theile des Grosshirns gleichwerthig sind; vorher aber nicht.
Goltz führt unter Anderem gegen meine Auffassung an, dass
ich selbst den von mir anlässlich der Verletzungen des Gyrus d
zuerst beschriebenen „Defect der Willensenergie* gleichzeitig
auch als Folge grösserer Verletzungen des Hinterhirns con-
statirt habe, und ist geneigt jenes Symptom als eine geringere
Stufe dessen, was ich Störung des Muskelbewusstseins nenne,
aufzufassen. Ich will jetzt von allen Deutungen absehen,
hingegen noch einmal hervorheben, dass auch dieses Symptom
eben nur bei grossen Ausschaltungen grauer Substanz des
Hinterhirns zur Beobachtung kommt, bei kleinen aber nicht,
Um nun dem Leser einen Begriff von der verschiedenen
Wirkung verschieden localisirter Eingriffe zu geben, führe
ich folgenden Doppelversuch an.
In den ersten Tagen des Mai 1876 wurde einem kleinen
Pinscher der Schädel links neben Gyrus sigmoides (d e) mit
einer Trephine von 14 Mm Durchmesser eröffnet und eine an-
nähernd der Oeffnung entsprechende Menge Hirnsubstanz auf
ca. 4 Mm Tiefe entfernt. Demselben Hunde wurden sodann
Untersuchungen über das Gehirn. 697
am 19. September 1876 zwei Kronen von Il Mm mit einer
stehenbleibenden intermediären Knochenbrücke über Hinter-
und Schläfenlappen rechterseits aufgesetzt, und sowohl die frei-
liegende Substanz, als die unter der Brücke liegenden Partien
auf mindestens 4 Mm Tiefe gänzlich entfernt. Der lange Durch-
messer der Hirnwunde betrug ca. 30 Mm also mehr als das
Doppelte der linksseitigen. Beide Exstirpationen nahm ich mit
dem Löffel vor.
In Folge der linkseitigen Operation erschienen nun rechter-
seits sehr erhebliche Störungen des Muskelbewustseins, die in
der gewöhnlichen Weise verliefen, und noch heute spurweise
aber deutlich in der Art nachweisbar sind, dass der Hund bei
Beobachtung gewisser Cautelen die Vorderpfote mit dem Dor-
sum oder in Fuss- und Zehengelenken eingeknickt aufsetzen
lässt und diese Extremität sogar gelegentlich activ in charak-
teristischer Weise nach innen und hinten oder nach innen und
vorn setzt.
Hebt man ihn mit zwei Händen an der Rückenhaut auf und
lässt ihn dann herab, so stehen die Zehen der rechten Vorder-
pfote eigenthümlich krallenartig und der Fuss gelangt mehr
mit der Spitze der Zehen als mit der Planta auf den Tisch.
In Folge der rechtsseitigen Operation wurde der Hund
auf dem linken Auge blind, zeigte aber keinerlei Störungen
des Muskelbewustseins, wenn man nicht den Umstand dafür
gelten lassen will, dass er in den zwei ersten Tagen nach der
Operation zitternd und heulend vor Furcht die Pfoten manch-
mal, bei Weitem nicht immer, auf 2—3 Sec. mit dem Dorsum
aufsetzen liess. Auch das war ungeachtet aller Vorsicht nach
Ablaufdieser zwei Tage nicht mehr möglich, während alle anderen,
bei analogen Läsionen des Gyrus e unausbleiblichen Störungen,
das Ausrutschen, das active Aufsetzen mit dem Dorsum, das
Einknicken, die Deviationen absolut und vom ersten Augen-
blicke an fehlten.
Recapituliren wir also diese Erfahrungen mit einem
Worte, so ergiebt sich, dass eine kleine Verletzung im
GyruseSymptome inden Bewegungsapparaten setzt, die noch
EN RE '
698 Eduard Hitzig:
nach ca. 5 Monaten ') wahrzunehmen und aller Wahrscheinlich-
keit nach permanent sind, während eine grosse Zerstörung
des Hinterhirns zu keinen oder höchstens sehr gering-
fügigen und vorübergehenden Störungen analoger Verrich-
tungen führt.
Endlich besteht noch eine thatsächliche Differenz zwischen
den Goltz’schen Beobachtungen und den meinigen, sie betriftt
die Reitbahnbewegungen, welche Goltz anführt, während ich
ihrer nicht erwähnte. Auch ich habe anlässlich einiger im
Jahre 1874 ausgeführter Operationen Reitbahnbewegungen oder
eorrecter ausgedrückt Voltelaufen beobachtet, indessen habe
ich das Symptom bisher nicht angeführt,‘ einmal weil es nur
ganz ausnahmsweise und dann auch bei ausnahmsweisen Be-
dingungen auftrat, und zweitens weil es bei den bisher von mir
in extenso publieirten Experimenten überhaupt nicht vorkam.
Soviel steht fest, dass es keine regelmässige Begleiterschei-
nung von Läsionen ist, die erhebliche Störungen des Muskel-
bewusstseins auslösen.
Alles in Allem liegt die Streitfrage mit Rücksicht auf
das Thatsächliche jetzt so, dass Goltz nur grosse Aus-
schaltungen vornahm und deshalb die gleichen Erscheinungen
von allen Regionen des Grosshirns aus hervorbringen konnte,
welche ich bei kleinen lediglich von bestimmten Bezirken
aus zu erzeugen vermochte. Wir werden später sehen, dass ein
derartiges Verhalten meinen Anschauungen nicht nur nicht
widerspricht, sondern dass ich dessen Möglichkeit ausdrücklich
zugelassen habe.
Welchen Antheil nebenher etwa die von Goltz angewen-
dete Methode des Ausspülens an den erzielten Resultaten ge-
habt hat, das vermag ich vor der Hand nicht zu beurtheilen.
Immerhin steht für mich soviel fest, dass der Hund recht grosse
Abtragungen des Hinterlappens mit dem Löffel erträgt, ohne
nachher Störungen des Muskelbewusstseins zu zeigen, und dass
ich eine Methode, welche Symptome von Druck auf die Medulla
oblongata (Stillstand der Respiration nnd Herzaction bei
1) Jetzt über 7 Monaten.
Uutersuchungen über das Esithn. 699
Goltz’s Versuchsthieren) involvirt, nur mit einem gewissen
Misstrauen anwenden würde.
Wenden wir uns nunmehr zu den Deutungen. Auch
hier wird mir wieder die Pflicht erwachsen, thatsächliche Irr-
thümer richtig zu stellen.
Goltz glaubt, dasses von höchster theoretischer Bedeutung
sei, zwischen vorübergehenden und dauernden Störungen zu
unterscheiden, indem er die ersteren als Hemmungs-Reizungs-
erscheinungen gedeutet wissen will, und nur den letzteren den
Werth von wirklichen Functionsschädigungen des Grosshirns
zugesteht. Er meint, ich habe die hierher gehörigen Bemer-
kungen von Lussana und Lemoigne nicht gekannt, ohne
dass dies zuträfe. Das Werk dieser Autoren ist .mir sehr wohl
bekannt gewesen, aber ich glaubte weder früher, noch glaube
ich jetzt, dass ihre von G oltz angezogenen Ansichten irgend eine
Bedeutung für die hier in Frage kommenden Versuche bean-
spruchen dürfen.
Wenn die Eintheilung in vorübergehende und dauernde
Störungen einen Werth haben soll, so ist vor allen Dingen
erforderlich, dass genau definirt wird, welche Störungen vor-
übergekend und welche dauernd sind. Ich sehe nicht, dass
Goltz diese Aufgabe gelöst hat.
Er bezeichnet als dauernde Störungen die Neigung mit
den Pfoten auszugleiten und zweitens die Vernachlässigung
der affieirten Pfote, wenn es gilt, dieselbe als Hand zu benut-
zen. Gleich darauf gesteht er aber zu, dass auch diese Stö-
rungen möglicher Weise vergänglich sein könnten. Dann gäbe
es also überhaupt keine merklichen Functionsschädigungen
des Grosshirns nach Ausrottung von Hirnsubstanz.
In der That sagt nun Goltz selbst, dass einige von seinen
Hunden die Fähigkeit, die Pfote zu reichen, wiedergewannen,
andere aber nicht. Man kann diese Störung also doch nicht
wohl mit mehr Recht zu den dauernden zählen, als jene von
mir in dem oben mitgetheilten Doppelversuch angeführten. Was
aber das Ausgleiten mit den Pfoten angeht, so sehe ich nicht
ein
‚ in wiefern ıman dasselbe von den übrigen, von mir be-
schriebenen Motilitätsstörungen trennen kann. Es zeigt eine
700 Eduard Hitzig:
Unsicherheit, eine Schwäche des Beines, vielleicht eine mangel-
hafte Orientirung über dessen Zustände an. Dieselben be-
dingenden Momente werden aber auch dann vorauszusetzen
sein, wenn der Hund die Pfote mit dem Dorsum aufsetzen
lässt, ohne sie zu reponiren, wenn er sie in falsche Stellungen
bringt, wenn er in ihren Gelenken einknickt. Es kommt dazu,
dass die zuletzt angeführten Symptome ebensowohl zu der
gleichen Periode der theilweisen Restitution in den Vorder-
grund treten können, als das Ausgleiten. Während wir dem-
nach die von Goltz für so wichtig gehaltene Trennung in vor-
übergehende und dauernde Störungen, was die Bewegung an-
geht, als undurchführbar, jedenfalls aber als bisher noch nicht
durchgeführt erachten, kann man allerdings die Frage auf-
werfen, ob diese Störungen und die Alterationen der Bewegung
überhaupt direete Motilitätsstörungen sind, oder ob
sie einer Beeinflussung der Sensibilität ihren Ursprung ver-
danken.
Wenn man diese Frage erörtern will, so muss man in
jedem Falle zwischen der Hautsensibilität und den sensibeln
Eigenschaften des Bewegungsapparates unterscheiden. Goltz
hat schon mit Recht darauf hingewiesen, dass man den Ver-
lust der Fähigkeit, die Pfote zu geben, nicht wohl durch eine
Sensibilitätsstörung erklären könne. Man kann aber noch auf
andere Art nachweisen, dass der Bewegungsapparat direct von
einer Störung getroffen ist, die ihre Wirkungen ohne Da-
zwischenkunft der Hautsensibilität zur Geltung bringt.
Ich habe darauf aufmerksam gemacht, dass operirte Hunde,
welche an der Rückenhaut schwebend gehalten, oder unter
dem Kinn gefasst, nur mit den Vorderfüssen vom Tisch ent-
fernt werden, eine merkwürdige Deviation der Extremitäten
und auch der Wirbelsäule (Goltz) zeigen. Diese Deviation
kann mit der Hautsensibilität nichts zu thun haben. Ebenso-
wenig kann das sonderbare Einknicken in den Gelenken auf
einen Ausfall innerhalb dieses Gebietes von Wahrnehmungen
bezogen werden. Ferner, wartet man bis der grössere Theil
der initialen Störungen sich ausgeglichen hat, so lässt sich
nachweisen, dass die Hautsensibilität zu einer Zeit intact ist,
Untersuchungen über das Gehirn. 701
zu der doch noch das oben beschriebene charakteristische Bild
der Störung des Muskelbewusstseins von dem Kundigen und
Geduldigen zur Anschauung gebracht werden kann. Setzt man
nämlich dem Hunde die Spitze einer Nadel auf die Pfote, so
sieht er hin, sticht man zu, so zieht er die Pfote fort. Hebt
man ihn dann mit zwei Händen an der Rückenhaut auf, und
berührt leise eine Pfote nach der andern mit der Hand, so
entzieht er sie sämmtlich und gleichmässig der Berührung, eine
Bewegung, die er nach entsprechenden Eingriffen in das Gross-
hirn mit den kranken Pfoten unter Umständen anfänglich nicht
ausführt.
Wenn der Hund nun nicht nur die Fähigkeit Schmerz zu
empfinden besitzt, sondern wenn er auch durch so überaus
geringfügige Tastreize zu Aenderungen in der Stellung seiner
Glieder veranlasst wird, warum sollten so viel gröbere Be-
rührungen, wie das Aufsetzen des Dorsum der Zehen auf den
Tisch nicht die gleichen Centralapparate zur Bethätigung
bringen, vorausgesetzt dass wirklich die Hautsensibilität hier
die entscheidende Rolle spielte.
Giebt man zu, dass die von mir sogenannten Störungen
des Muskelbewusstseins in einer späteren Periode nicht von
Störungen der Hautsensibilität herrühren, so kann man un-
möglich annehmen, dass sie während einer früheren Periode
diesen Ursprung hatten, wenn sie auch zu der Zeit vielleicht
mit solchen Symptomen vergesellschaftet waren.
Bevor wir uns nun näher auf die Erörterung des wahr-
scheinlichen Grundes aller der sonderbaren Bewegungs-
störungen einlassen, wollen wir noch einige andere, nach
Exstirpationen im Gyrus e beobachtete Erscheinungen zu-
sammenstellen.
Ich hatte bereits früher') angeführt, dass Hunde mit
Störung des Muskelbewusstseins blindlings mit der kranken
Pfote über den Tischrand in’s Leere treten, so dass sie vom
Tische fallen, gerade als wenn sie blind wären, obwohl sie
nachweislich auch auf dem Auge der affieirten Seite nicht
1) Untersuchungen. Neue Folge. Dies Archiv 1874. S. 440.
a en. ut) oe
702 Eduard Hitzig:
blind sind und sich selbstverständlich der vollen Integrität
des andern Auges erfreuen. Diesen Zustand hatte ich dahin
charakterisirt, „dass die Hunde sich mit der kranken Vorder-
„pfote so benehmen, als ob für dieses Glied die Gesichtsein-
„drücke nicht existiren, oder als ob die Gesichtseindrücke nicht
„zur Bildung von Vorstellungen für dasselbe verwerthet wür-
„den.* Andere Erklärungen und Hypothesen hatte ich meinem
Principe der Zurückhaltung gemäss nicht hieran geknüpft, aber
doch ist Goltz gar schnell bereit gewesen, meine „Erklärung“
ohne weitere Discussion als unrichtig zu bezeichnen. Seiner
Meinung nach tritt der Hund wegen mangelnder Sensibilität
in’s Leere.
Etwas dem geschilderten Verhalten ganz Aehnliches kann
man nun beobachten, wenn operirte Hunde sich an einem
Tische bewegen, dessen Füsse nahe dem Boden mit einer hori-
zontalen Leiste versehen sind, oder wenn man ihnen auch ein
Seil dorthin spannt. Sie stossen sich dann mit dem kranken
Vorderbeine an der Leiste oder dem Seile. Hat man aber beide
Seiten operirt, so stossen sie sich mit beiden Vorderbeinen,
wodurch übrigens die Beobachtung wesentlich erleichtert wird.
Hingegen stossen sie niemals mit dem Kopfe oder gesun-
den Extremitäten an, sondern bewegen sich in dieser Be-
ziehung mit vollkommener Sicherheit zwischen einem Walde
von Stuhlbeinen dahin. Sie sehen also und doch stossen sie
mit den afficirten Beinen an. Hunde, die in Folge einer
grossen Laesion des Hinterlappens blind geworden sind, ver-
halten sich ganz anders. Sie stossen mit der Schnauze statt
mit der Pfote an diejenigen Dinge an, welche sie nicht sehen,
und treten nicht in’s Leere, sondern orientiren sich mit dem
gesunden Auge.
Auch jenes Anstossen mit den Pfoten würde Goltz wahr-
scheinlich durch eine Sensibilitätsstörung erklärt wissen wollen,
ohne dass ich ihm bei dieser, wie bei der schon früher er-
wähnten Beobachtung über das in’s Leere Treten beipflichten
könnte. Denn wenn der Mangel an Tastsinn Veranlassung
zu den abnormen Bewegungen sein sollte, so müsste voraus-
gesetzt werden, dass der unverstümmelte Hund jene Fehler in
Untersuchungen über das Gehirn. 103
der Norm mit Zuhülfenahme des Tastsinns vermiede, dass
er dabei taste, was nachweislich nicht der Fall ist und auch
gar nicht der Fall sein kann.
Nehmen wir nämlich an, dass das gesunde Thier nicht
durch die aus den Gesichtsbildern sich entwickelnden Vor-
stellungen an dem unzweckmässigen Ueberschreiten des Tisch-
randes gehindert würde, sondern dass es hierzu tasten müsse,
so ist nicht ersichtlich, welches Tastobject bei dem Hinaus-
treten in die Luft etwa zur Regulirung dienen könne, weil
keines vorhanden ist. Niemand, der einen gesunden Hund auf
einem Tische laufen sieht, dürfte wohl auch den Eindruck er-
halten, dass derselbe an den Rändern taste, ob jenseits eine
Stütze für den Fuss vorhanden sei, sondern er wird finden,
dass sich das T'hier mit den Augen orientirt. Das von Goltz
bei dem Gesunden vorausgesetzte Verhalten würde nicht dem-
jenigen eines gesunden, sondern demjenigen eines seit längerer
Zeit blinden Hundes entsprechen, welcher erst tasten muss,
bevor er die intendirte Bewegung ausführt; der gesunde Hund
intendirt die unzweckmässige Bewegung aber gar nicht, er
tritt nicht über den Tischrand, um vielleicht dann erst die Pfote
zurückzuziehen und er bringt sein Bein gar nicht in die Gefahr,
an die Leiste zu stossen, um es vielleicht erst nach Beginn der
Berührung zurückzuziehen. Der Verstümmelte hingegen stösst
plump an die Leiste, als wenn sie nicht da wäre, und schreitet
besinnungslos in’s Leere, als wenn die Tischplatte sich dort-
hin fortsetzte. H
Wir finden also, dass hier eine Anomalie scheinbar im
Gebiete der Sehorgane vorhanden ist, welche mit dem was
man Blindheit nennt, insofern nichts zu thun hat, als die auf
die Ausbreitung des Sehnerven wirkenden Reize nach dem
Gehirn fortgeleitet und für eine Anzahl von Körpertheilen
in der normalen Weise, für andere aber gar nicht verwerthet
werden.
Ich bedauere, dass ich der mir auferlegten Beschränkung
gemäss an dieser Stelle nicht auf gewisse überaus interessante
Beobachtungen, welche Goltz über Störungen des Sehver-
mögens und der Empfindung nach grossen Exstirpationen
- { e
704 Eduard Hitzig:
machte, eingehen kann. Die Lücke, welche hierdurch in meiner
Beweisführung und in dem Bilde, welches ich nun zu zeichnen
gedenke, entsteht, entgeht mir nicht, aber ich hoffe doch, dass
das für jetzt benutzbare Material dem Leser meine Ansicht
hinreichend begründen wird. Die Zeit wird dann mehr bringen.
Beginnen wir mit der schönen Beobachtung von Goltz,
dass der verstümmelte Hund, welcher ziemlich ordentlich gehen
kann, nicht im Stande ist, die Pfote zu geben, obwohl er gern
möchte. Goltz sagt hierüber: „Zwischen dem Organ des
„Willens und den Nerven, die den Willen ausführen, hat sich
„irgendwo ein unbesiegbarer Widerstand aufgebaut. — —
„Nur wenn der Willensimpuls zum Gehen und Laufen gegeben
„wird, spielt die rechte Vorderpfote in dem regelmässigen
„Maschinengetriebe mit.“
Ich stimme dieser Ausführung zu, aber ich gehe weiter,
indem ich den fraglichen Widerstand seinem Wesen nach zu
erklären suche. Meiner Ansicht nach reicht der Hund die
Pfote darum nicht, weil er sich keine oder nur unvollkommene
Vorstellungen von dem Zustande der Bewegungsorgane dieses
Gliedes bilden kann. Denn wenn er die Zustände seiner
Bewegungsorgane auf Grund eines Willensactes isolirt und
in zweckmässiger Weise ändern soll, so ist erforderlich, dass
sein Sensorium von diesen Zuständen, wenn auch nur in der
hier die Regel bildenden unklaren Weise Kenntniss hat. Ein
Organ, durch welches diese Kenntniss vermittelt wird, muss
im Gehirn nothwendiger Weise existiren, und ich glaube, dass
der Gyrus e, ich will nicht grade sagen, dieses Organ ist,
aber doch etwas damit zu thun hat.
Zur Auslösung von Bewegungen ganz allgemein ge-
sprochen, also z. B. von Ortsbewegungen, ist die Gesammt-
summe dieser Kenntniss, welche sich nämlich aus den einzel-
nen Factoren der die einzelnen Glieder betreffenden Bewusst-
seins-Vorgänge zusammensetzt, nicht erforderlich. Es genügt
hier, dass der Bewegungsimpuls überhaupt von der Grosshirn-
rinde zu den niederen Bewegungscentren gelange, um ihre
Maschinerie in Thätigkeit zu setzen. Die kranken Glieder
spielen dann so gut es ohne dasihnen zugehörende Theil
Untersuchungen über das Gehirn. 705
Grosshirn eben gehen will mitte Sofort macht sich
aber der Defect im Grosshirn bei der Bewegung bemerklich
dadurch, dass der Hund die Pfote in den einzelnen Ge-
lenken ungeschickt bewegt, sie nach Innen oder Aussen
setzt, sie mit dem Dorsum aufsetzt u. s. w. Nähme er
wahr, dass die Pfote sich in diesen abnormen Stel-
lungen befindet, so würde er dieselben aufgeben, oder
vielmehr, hätte er vollkommene Kenntniss von dem Zustande
seiner Bewegungsorgane, so würde er diese abnormen Stellungen
überhaupt nicht einnehmen, denn die Beobachtung lehrt, dass
eine absolute Unmöglichkeit normale Stellungen und Be-
wegungen einzunehmen durchaus nicht vorliegt. Es ist aber
nur ein Zufall, wenn die Pfote solche normale Bewegungen
macht, in der Regel fällt die der Norm adaequate Begrenzung
der einzelnen Bewegungsglieder, die nur aus der unaufhör-
lichen Kenntnissnahme jeder einzelnen Bewegungsphase re-
sultiren kann, dahin.
Auf dieselbe Linie stelle ich endlich die Erscheinung, dass
der Hund sich mit den affıcirten Pfoten stösst und sie in’s
Leere setzt. Auch hier entstehen unzweckmässige Bewegungen,
weil das Sensorium nicht über die Zustände des Gliedes orien-
tirt ist. Die Bewegungsmaschinerie ist einmal in Thätigkeit
gesetzt, ihre Verrichtungen spielen sich annähernd in der ge-
wöhnlichen Weise ab, aber deren Einzelheiten werden nicht
in der normalen Weise durch die vermöge des Gesichtssinnes
im Sensorium hervorgebrachten Aenderungen regnlirt, mit
anderen Worten: „die Gesichtseindrücke werden nicht zur
Bildung von Vorstellungen für das fragliche Glied verwerthet.®
Alle diese Phaenomene besitzen also das Gemeinschaft-
liche, dass äusserliche Zustände — einmal die der
Muskeln, das andere Mal die der Objecte des Raumes vom
Sensorium für die Bewegungen des kranken
Gliedes, aber nur für diese nichtin Rechnung ge-
stellt werden.
In dieser Weise erkläre ich mir die verschiedenen, nach
Laesionen des Gyrus e auftretenden Functionsstörungen, ihre
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 45
706 Eduard Hitzig:
Verknüpfung mit einander und ihre Localisation auf eine
kleine cerebrale Stelle. So weit ich die Sache übersehen
kann, dürften auch die Sensibilitätsstörungen einer analogen
Deutung unterliegen. Ich bin wenigstens nicht im Stande eine
andere Auffassung ausfindig zu machen, welche die Summe
dessen, was wir bis jetzt sicher wissen, in befriedigender Weise
zu erklären vermöchte. —
Goltz schreibt mir über die Thatsache der Restitution
verloren gegangener cerebraler Functionen Ansichten zu,
welche ich mit der von ihm vorausgesetzten Bestimmtheit
nicht ausgesprochen, ja sogar solche, von denen ich das Ge-
gentheil gesagt habe. Nach Goltz würde ich diese Restitution
lediglich als Folge unvollkommener Zerstörung dieses oder
jenes Centrums auffassen und anderen Deutungen, insbeson-
dere derjenigen, dass die gesunde Hirnhälfte für die verletzte
einträte, keinen Raum gelassen haben. Die von mir gebrauch-
ten Worte lauten folgendermaassen:
„Daraus (Restitution) lässt sich aber nicht das Geringste
„schliessen, denn der sich eröffnenden Möglichkeiten sind zu viele.
„Eine sehr einfache Annahme ist z. B. die, dass man nicht
„das ganze Centrum zerstört hat u. s. w. ') — — — Dennoch
„bin ich weit entfernt, ihn (diesen Gedanken) für den ein-
„zig richtigen auszugeben, — — Wir haben nicht daran ge-
„dacht in dieser Beziehung irgend welche Grenzen für irgend
„ein Centrum anzugeben, noch die Möglichkeit zu behaupten
„oder auszuschliessen, dass ein solches doppelt vorkäme,
„sondern wir haben nur den Satz aufstellen wollen und wir
„erhalten ihn aufrecht, dass die einzelnen in Frage stehenden
„Hirnfunctionen sich bestimmter, irgendwo aber wohl begrenz-
„ter Hirnorgane bedienen u, s. w.“?)
Wenn ich also die unvollkommene Zerstörung eines Cen-
trums nur als eine von vielen Möglichkeiten aufzählte, so-
habe ich, weit entfernt davon, die Möglichkeit des Eintretens
1) S. 57.
2) S. 58.
DREI A DIN w, RT A oc nie N
;y ARRTAR NS } N s
Untersuchungen über das Gehirn. 707
der anderen Hemisphäre zu bestreiten, sogar Beweise dafür
beigebracht, dass dieselbe schon in der Norm durch ihren
Linsenkern zu den Bewegungen der ihr gleichnamigen Seite
mitwirkt. !)
Ich bin vielfach durch allerlei Angriffe und Deutungen
Anderer gezwnngen worden, auf Möglichkeiten hinzuweisen,
die von anderer Seite nicht berücksichtigt waren, mich in
psychologische Erörterungen einzulassen, die mir unerwünscht
kamen. Aber doch bin ich mir bewusst, überall mit der nöthi-
gen Vorsicht verfahren zu sein, und namentlich wohl unter-
schieden zn haben, was eine nothwendige Folgerung aus den
vorhandenen Thatsachen und was eine subjective Meinung; des
Autors war. Wir werden im Folgenden noch sehen, wem
von Beiden, ob Goltz oder mir mitgrösserem Recht der Vor-
wurf der Unvorsichtigkeit in den Schlüssen gemacht wer-
den kann.
Ich hatte oben den Nachweis versprochen, dass das
Auftreten von Bewegungsstörungen nach Verletzungen anderer
als der in der erregbaren Zone gelegenen Hirntheile meinen
früher geäusserten Anschauungen keineswegs widerspräche.
In der That fand ich mich anlässlich des von mir selbst bei-
gebrachten Nachweises eines auf Zerstörungen anderer Hirn-
partien folgenden „Defeetes der Willensenergie“* bereits be-
wogen, an folgenden im Jahre 1870 geschriebenen Pässus zu
erinnern:
„Es ist nicht undenkbar, — dass der Hirntheil, wel-
„cher die Geburtsstätte des Wollens der Bewegung
„einschliesst, noch ein anderer oder vielleicht ein vielfacher
„ist; dass die von uns ÜÖentra genannten Gebiete nur Ver-
„mittler abgeben, Sammelplätze u. s. w.“
Es ist ja einerseits klar, dass die Zerstörung von „Sammel-
plätzen“ bei Weitem stärkere und mehr Symptome zur Folge
haben muss, als die Zerstörung eines Theiles der Plätze auf:
deren Summe alles das entsteht, was nachher gesammelt wird.?)
1) S. 48. 49.
2) Vgl. hierzu auch Untersuchungen S. XII u. XII.
45*
708 Eduard Hitzig:
Aber dass Eingriffe und noch dazu sehr grosse Eingriffe in
die letzteren überhaupt nichts der Art nach Aehnliches her-
vorbringen sollten, davon ist nicht nur nichts gesagt, sondern
es ist das Gegentheil gesagt.
Was hat nun Goltz an die Stelle der von mir mit aller
Vorsicht und Zurückhaltung ausgesprochenen Anschauungen
zu setzen versucht? Einen Satz, den er für ebenso sicherge-
stellt hält, als ich ihn für unrichtig halte. Er erklärt die von
mir und Anderen beschriebenen „groben Störungen der Be-
wegung nach Verletzung des Grosshirns durch einen Hemmungs-
vorgang, welcher sich von der Hirnwunde aus nach hinten
fortpflanzt. Vermöge dieser Hemmung werden eine sehr grosse
Zahl von Centren, die selbst durch die Operation nicht im
Geringsten geschädigt werden, für kürzere oder längere Zeit
gelähmt.* Diese Centren sollen ihren Sitz im Kleinhirn
haben.
Vergegenwärtigen wir uns die Thatsachen. Wenn ich
im Gyruse eine kleine Verletzung anbringe, sehe ich, kurz
gesagt, Lähmungserscheinungen, Wenn ich aber dieselbe Ver-
letzung hinten oder ganz vorn anbringe, so sehe ich keine
Lähmungserscheinungen. Setze ich nun mit G oltz voraus, dass
die Lähmungserscheinungen, wenn sie entstehen, durch Fort-
pflanzung eines Reizes nach dem Kleinhirn bedingt werden,
so folgt, dass der Reiz an denjenigen Stellen, wo Lähmungs-
erscheinungen zu erzeugen sind, zunächst einmal Bahnen findet,
auf denen er sich nach dem Kleinhirn fortpflanzen kann, und
dass er an den anderen Stellen keine solche Bahnen findet. Die
in den Windungen des Grosshirns vorkommenden Nerven
münden aber in graue Massen der Rinde, sind also nicht
einfache Bahnen, sondern gehören zu Oentren. Beide wirken
selbstverständlich zu derselben Function mit, also haben diese
Centren jedenfalls wie die Bahnen etwas mit der Bewegung zu
schaffen, magihr Weg nun durch das Kleinhirn gehen oder nicht.
Wenn aber hier mit solchen specifischen Eigenschaften
begabte Centren liegen, so bedarf man der Annahme einer-
Passage durch das Kleinhirn gar nicht. Sie erscheint über-
Untersuchungen über das Gehirn. 709
flüssig, und darum künstlich. Das Wenige, was wir bis jetzt
über die Restitution wissen, ist an und für sich nicht geeignet,
eine derartige Annahme zu rechtfertigen, und was von der an-
geblichen Vollständigkeit der Restitution zu halten ist, das
lehrt der oben angeführte Doppelversuch,
Etwas Anderes wäre es, wenn alle gleichartigen. also
auch die kleinen Verletzungen an allen Stellen des Gehirns
den gleichen Effect hätten. Dann wäre von Localisation keine
Rede, dann könnte man auch die Hemmungstheorie verfechten
Aberdassdem nicht so ist, das habe ich durch meine im Jahr-
gang 1874 dieses Archivs mitgetheilten localisirten Exstirpations-
versuche bewiesen, und ich kann mich durch Versuche, bei
denen von Localisation gar keine Rede ist, von meinen
Ueberzeugungen nicht abbringen lassen.
Goltz befindet sich ferner im Irrthum, wenn er meint, es
seien gerade die Organe der groben maschinenmässigen Be-
wegungen, wie Gehen, Laufen u. s, w., welche geschädigt wer-
den. Meine Hunde liefen und gingen vielmehr gleich nach
der Operation gelegentlich ganz vortrefflich, zeigten aber Stö-
rungen in den feineren Details der Anordnung und der Con-
trolle ihrer Bewegungen, wie ich das eben geschildert habe.
Mir wird es nun ganz unmöglich zu verstehen, wie diese Stö-
rungen, wenn sie wirklich auf Hemmungsvorgängen beruhten,
nach Massgabe der Grösse der Exstirpation an Umfang zu-
nehmen, anhalten und verschwinden sollen.
Kennt man irgend einen pathologischen Nervenreiz, der
wie dieser Monate lang continuirlich anhaltende Wirkungen
produeirt? Wie ist der Umstand zu erklären, dass der elek-
trische Reiz Bewegungen und, nach seiner Unterbrechung, Nach-
bewegungen, nicht aber Hemmungen setzt? Wie gedenkt
Goltz mit den Erfahrungen am Menschen, mit den dauernden
Hemiplegien nach Läsionen des vorwärts vom Kleinhirn ge-
legenen Linsenkerns fertig zu werden, wie mit den anatomi-
schen Daten? Alles das sind Fragen, die sich durch eine
einfache Uebertragung von am Rückenmark und am Frosche
gemachten Beobachtungen auf das Gehirn höherer Thiere
keineswegs erledigen lassen.
710 Eduard Hitzig:
Endlich kommen neben den Bewegungsstörungen auch
die Störungen der Empfindung und des Sehvermögens in Be-
tracht. Ich kann ungeachtet der für weitergehende Schlüsse
nicht zureichenden Zahl meiner Beobachtungen doch versichern,
dass nach vielen Verletzungen des Gehirns nichts davon wahr-
nehmbar ist, und dass nach anderen Verletzungen die Symptome
gerade wie bei den Bewegungsorganen wieder verschwinden.
In den von Goltz mitgetheilten Beobachtungen finden sich
gleichfalls Beispiele von schneller Restitution dieser Functionen
dort nämlich wo die vorgenommene Ausschaltung nicht allzu
massenhaft war. Sollen nun auch die wesentlichen. Centra
für die Sensibilität und das Sehvermögen ihren Sitz im Klein-
hirn haben, und durch Hämmungsvorgänge temporär ausser
Thätigkeit gesetzt werden können? Hypothesen, welche alle
modernen Anschauungen so gründlich erschüttern, sollten, wie
ich meine, nur mit grösster Vorsicht und nicht ohne eine
sehr weitreichende Begründung ausgesprochen werden.
Resumiren wir den Inhalt dieses Aufsatzes, so finden wir
1) dass durch die Summe der vorhandenen Thatsachen
die Annahme von Hemmungsvorgänge nicht erfordert wird,
sondern dass man mit der einfacheren Annahme von Ausfalls-
vorgängen auskommt.
2) Dass, wenn dies nicht der Fall wäre, und man dem-
nach einige Berechtigung zur Annahme von Hemmungsvor-
gängen hätte, inzwischen noch jede klare Definition dessen
fehlt, was man als Product der Reizung — Hemmung auffassen
soll und was nicht.
3) Dass Goltz zu ganz irrthümlichen Ansichten um des-
willen gelangte, weil er den in der Localisirung liegenden
Fortschritt verkennend, wieder zu den früher üblichen grossen
Ausschaltungen zurückkehrte, ohne den neuen Methoden die
ihnen gebührende Berücksichtigung zu schenken.
Wenn ich also auch die zahlreichen neuen von Goltz bei-
gebrachten Thatsachen und ihre anmuthige Darstellung wie
wohl jeder Forscher mit wahrem Vergnügen begrüsst habe,
so kann ich doch nicht umhin, den von Goltz eingeschlagenen
en Ei ei
Untersuchungen über das Gehirn. 11
Weg als einen solchen zu bezeichnen, der nicht gerade zum
Ziele führt, mit einem Worte als einen Umweg. —
Möge mir endlich G oltz die Bitte verzeihen, dass er sich
durch diese Vertheidigung meiner Arbeiten und meines Stand-
punktes nicht zu noch grösserer Herbe fortreissen lasse, als
ich schon einmal ganz ahnungslos bei ihm erregen musste,
Zürich im October 1876.
Versuche über dipolar-elektrische Ladung
materieller in Wasser suspendirter Theilchen.
Von
Ta. Weyt, Cand. med. in Strassburg.
(Aus dem physiologischen Laboratorium der Universität zu Berlin.)
$1. Das Phaenomen.
Wenn man grob zerkleinerte Parä-Nüsse, die Samen der
Bertholletia excelsiorr Humb. et Bonpl., mit Aether einige
Zeit schüttelt, so fällt aus denselben ein weisses Pulver heraus,
welches sich leicht mit dem Aether abgiessen lässt, indem man
es zu diesem Zwecke durch Schütteln des Gefässes im Aether
suspendirt. Dasselbe setzt sich schnell am Boden ab und kann
dann durch Abgiessen des Aethers isolirt werden. Es zeigt,
nachdem es wiederholt mit destillirtem Wasser gewaschen ist,
unter dem Mikroskop bei circa 250facher Vergrösserung eine
deutlich krystallinische Structur.
Bei einer chemischen Untersuchung dieser von Hartig!)
entdeckten und seit Naegeli?) als Krystalloide bezeichneten
Gebilde, über welche ich an einem anderen Orte zu berichten
gedenke, unterwarf ich dieselben unter dem Mikroskope der
Einwirkung des elektrischen Stroms.
Zu diesem Zwecke diente mir ein einfacher Apparat, wel-
chen ich im folgenden als Reizplatte bezeichne Er stimmt
1) Hartig, Botanische Zeitung 1855, S. 881; — 1856 8. 257; —
Entwickelungsgeschichte des Pflanzenkeims, 1858, S. 108 ff.
2) Naegeli, Sitzungsberichte der Münchener Akademie. 1862.
Bd. 1], S. 121.
Versuche über dipolar-elektrische Ladung u. s. w. 7113
im Wesentlichen mit einer von E. H. und Ed. Weber wohl
zuerst ausdrücklich beschriebenen, seitdem von den Physiologen
bei der elektrischen Reizung von Muskel und Nerv unter dem
Mikroskope häufig benutzten Vorrichtung überein.
Auf eine rechteckige Glasplatte von 145 Mm. Länge und
40 Mm. Breite klebte ich mit alkoholischer Schellacklösung
zwei gleichschenklige Dreiecke von Stanniol, so dass deren
Basis der kürzeren Seite der Platte parallel stand. Die Ränder,
welche den Schenkeln der Dreiecke entsprachen, übeızog ich
mit Schellacklösung. Frei blieben nur die Spitzen der Drei-
ecke, welche von einander 2 Mm. entfernt waren. Zwischen
denselben befanden sich die in einem Tropfen Wasser suspen-
dirten Krystalloide. Ein Deckgläschen, wie man es bei mikros-
kopischen Untersuchungen anwendet, schützte das Präpa-
rat vor Verdunstung. Die Reizplatte klemmte ich zwischen
die Schlitze zweier Klemmschrauben, an welchen die stromzu-
führenden Drähte befestigt waren. Um die Glasplatte beim
Anziehen der Schrauben vor Zerbrechen zu schützen und um
leitende Verbindung der Stanniolbelegungen mit dem Mikroskop
zu vermeiden, schob ich zwischen Klemmschrauben und Glas-
platte ein Guttapercha-Scheibchen.
Diese Reizplatte befand sich im secundären Kreise eines
du Bois’schen Schlitteninductoriums, dessen primäre Rolle
eirca 136, dessen secundäre Rolle 5826 Wendungen hatte. Es
wurde durch fünf kleine Grove in Bewegung gesetzt. Die
Reizplatte war mittels des du Bois’schen Schlüssels als Neben-
schliessung eingeschaltet, um die unipolaren Wirkungen auszu-
schliessen, welche ich befürchten musste, da alle Versuche mit
übereinandergeschobenen Rollen angestellt wurden. Die Feder
des Apparates war so gestellt, dass die Anzahl der Unter-
brechungen möglichst gross wurde.
Sobald nun nach Hinwegräumung der Nebenschliessung
dem Strome der Zutritt zur Reizplatte gestattet wird, ordnen
sic“ die Krystalloide, welche bis dahin regellos zer-
streut im Wassertropfen suspendirt waren, in voll-
kommen regelmässigen Ourven an, welche guirlan-
denartig nach oben und nach unten die beiden Stan-
714 Th. Weyl:
niol-Pole mit einander verbinden. Ist genügend Mate-
rial vorhanden, so beobachtet man häufig 6—8 solcher Curven
hinter einander fa“t concentrisch geschichtet. Diese Anordnung
geht beinahe momentan vor sich, wenn der Wassertropfen nicht
zu gross ist und die Krystalloide in demselben mit der Nadel
möglichst fein vertheilt waren.
Ist die Anordnung einmal hergestellt, so bleiben
die Theichen in Ruhe auf dem eingenommenen Platze
stehen, ohne dass sich irgend eine weitere Einwir-
kung des Stromes auf die Stellung der Theilchen
bemerkbar machte.')
Wird der Strom durch Schluss des Schlüssels vom Präpa-
rate abgeblendet, so bleibt die Anordnung erhalten, da keine
Kraft vorhanden ist, welche sie zerstören könnte.
Aber auch die Lage des einzelnen Krystalloides in der
durch den Strom hervorgebrachten Anordnung ist beachtens-
werth.
Durch die Wechselströme des Schlitteninduc-
toriums werden die Krystalloide so gerichtet, dass
sich ihre Längsaxe in die Richtung der Curven stellt,
in welchen die Theilchen sich anordnen.
Leider gelingt es auch noch nach so häufigem Schlämmen
mit destillirtem Wasser nur schwierig die Krystalloide der
Parä-Nuss rein und isolirt von anderen Bestandtheilen darzu-
stellen. Sie zeigen sich unter dem Mikroskop beinahe stets
untermischt mit gewissen Gebilden, welche Hartig?) als
Weisskerne, Pfeffer?) als Globoide bezeichnet. Es sind dies
grau-weisse Körperchen von rundlicher, fast kugeliger Gestalt,
1) Allmälig werden die in der Nähe der Pole befindlichen Kry-
stalloide durch den Strom verflüssigt. Ob dies auf einem elektrolytischen
Processe beruht, oder ob die Krystalloide von dem durch Elektrolyse
aus dem suspendirenden Wasser entwickelten Sauerstoff oder Wasser-
stoff gelöst werden, sollen weitere Versuche entscheiden.
2) Bot. Zeitung 1856, S. 262.
3) Untersuchungen über die Proteinkörner und die Bedeutung
des Asparagins beim Keimen der Samen: Pringsheim's Jahrbücher
für wissenschaftliche Botanik. Bd. VIII, S. 430 (1872).
a u
Versuche über dipolar-elektrische Ladung u. s. w. 715
von denen häufig mehrere zusammentreten, um dann ein trauben-
förmiges oder drusenförmiges Gebilde darzustellen. Sind sie
in zu grosser Menge vorhanden, so können sie die oben be-
schriebene Anordnung und Richtung der Krystalloide stören.
Im Grossen und Ganzen aber kommt das Phänomen trotz ihrer
Anwesenheit zu Stande.
Bereits im April dieses Jahres durfte ich die geschilderten
Erscheinungen meinem verehrten Lehrer Hrn. Prof. E. du Bois-
Reymond demonstriren. Ich bin demselben für die Freund-
lichkeit, mit welcher er mir die Räume und Hülfsmittel seines
Laboratoriums auch während der Ferien zur Verfügung stellte,
und für das Interesse, mit welchem derselbe diese Untersuchung
begleitete, zu wärmstem Danke verpflichtet. Auch Hrn. Prof.
H. Munk bin ich in gleicher Weise Dank schuldig.
Es stellte sich bald genug heraus, dass das Zustande-
kommen des Phänomens keineswegs an die Krystalloide der
Parä-Nuss gebunden sei.
Es gelang mir dasselbe mit folgenden Körpern, welche
fein zerrieben in Wasser vertheilt wurden, hervorzurufen.
Kupferoxyd.
Chromoxyd.
Schwefeleisen.
Zinnober.
Smalte.
Glaspulver.
Fluorcaleium.
schwarze Tusche.
Carmin.
Kohle (Herkunft?).
Sauerstoff. :
Wasserstoff } Siehe S. 720 Anmerkung 2.
Lykopodium. Streupulver, wie man es in jeder
Apotheke erhält, wurde nach der Angabe von G. Quincke!)
1)G.Quincke, Ueber die Fortführung materieller Theilchen durch
strömende Elektricität. Poggendorff’s Annalen. Bd. CXIII, S. 579.
(1861.)
716 Th. Weyl:
längere Zeit mit destillirtem Wasser gekocht, um die an den
Sporen haftende Luft zu entfernen. Ohne diese Procedur
bildet das Streupulver bei Berührung mit Wasser Klumpen,
durch welche sich der elektrische Strom nur mit Mühe einen
Weg bahnt. Das Material ist zur Darstellung des Phaenomens
selbst bei Anwendung dieser Vorsichtsmassregel sehr wenig
geeignet, weil die Grösse und Schwere, welche allmählich noch
durch Wasser-Imbibition zunimmt, sehr starke Ströme verlangt,
deren Anwendung, wie unten gezeigt werden wird, andere:
Nachtheile mit sich bringt.
Kupfer (elektrolytisch abgeschieden aus CuSO,).
Platin.
Zink.
Messing.
Alle Metalle wurden auf einem Schleifsteine oder auf einer
rauh geschliffenen Glasplatte fein zerrieben.
Nächst den Krystallen der Para-Nuss, deren Reindarstel-
lung leider etwas zeitraubend ist, eignet sich das zu einem
feinen Mehle zerriebene Glas ganz besonders für diese Versuche.
Wenn man ein paar Stäubchen davon mit einer durch Wasser:
benetzten Nadel im Wassertropfen zwischen den Polen der
Reizplatte durch schnelles Rühren vertheilt, findet man immer:
Theilchen genug, welche nach der Längsrichtung besonders
ausgebildet sind und daher die Richtung durch den Strom sehr
gut zeigen.
Das Verhalten der Leiter (Platin, Kupfer, Zink,
Messing) unter dem Einflusse der Wechselströme des Schlitten-
inductoriums muss genauer besprochen werden. Ein scheinbar
viel verwickelteres Phaenomen als das, welches wir bisher be-
obachteten, bietet sich uns dar.
Die Metalltheilchen wechseln unter rotirenden und wir-
belnden Bewegungen äusserst schnell ihren Ort. Dabei schie-
nen sich bisweilen zwei Theilchen wie durch Anziehung ein-
ander zu nähern um sich mit grosser Intensität von einander
zu entfernen, sobald sie sich bis auf eine gewisse Strecke
nahe gekommen waren.
Versuche über dipolar-elektrische Ladung u. s. w. 117
Zugleich kommt aber noch eine andere auffallende
Erscheinung zur Beobachtung. Es schiessen nämlich von den
sehr zahlreichen, spitzen Vorsprüngen des Theilchens, dessen
Peripherie unter dem Mikroskope wie angefressen erscheint,
zahlreiche kleine Gasbläschen in die Flüssigkeit hinein, in
welcher sich die Theilchen befinden. Mit dem Aufhören des
Stromes verschwindet diese Gasentwicklung, welche nichts
zu thun hat mit einem ähnlichen Vorgange an den Stanniol-
Polen. Von letzterem wird unten die Rede sein.
G. Quincke!) scheint bereits Aehnliches beobachtet zu
haben, als er auf Blattgoldstückchen, welche durch Schütteln
mit Wasser in demselben fein vertheilt worden waren, in sei-
nem Ueberführungsapparate den Entladungsstrom einer Leydener
Batterie wirken liess. Quincke meint, dass es sich hierbei
um Luftbläschen gehandelt habe, welche an der Oberfläche der
Metallstückchen hingen und durch den elektrischen Strom von
derselben losgelöst worden wären.
Auch in meinen Versuchen ist die der Oberfläche des
Metalltheilchens adhaerirende Luft vielleicht eine Quelle der
Gasentwicklung gewesen. Dass sie aber die einzige Quelle
des beschriebenen Phaenomens gewesen sei, ist mir zweifelhaft.
Ich nehme vielmehr an, dass die Metalltheilchen
durch die kurz dauernden Ströme dielektrisch po-
larisirt worden sind, dass sie folglich bei genügen-
der Stärke dieser Polarisation das Wasser, in welchem
sie sich befanden, zersetzten.
Für diese Annahme scheint mir zu sprechen, dass ich eine
derartige Gasentwicklung auschliesslich bei den Metallen
(Platin, Kupfer, Zink, Messing), niemals bei Nichtleitern (Glas
u. Ss. w.) beobachtete, obgleich sich beide unter denselben
Bedingungen befanden. Meine Annahme von der dipolar-elek-
trischen Ladung der Metalltheilchen würde hinfällig, wenn be-
wiesen wäre, dass die Luft an Glas schlechter adhaerirt als
an Metall. Doch dies ist bisher meines Wissens nicht ge-
schehen.
1) A. a. 0. 8. 574.
718 Th. Weyl:
Diese Gasentwicklung durch die Metalltheilchen macht
nun die rotirenden Bewegungen der Theilchen verständlich.
Das Theilchen gleicht einem elektrischen Rade, welches
die Lufttheilchen nach einer gewissen Richtung hin abstösst,
um dann selbst in entgegengesetzter Richtung zu rotiren.
Aber alle diese soeben beschriebenen Erscheinungen an
Leitern (Metallen) zeigen sich nur, wenn die Wechselströme
eine gewisse Zeit lang auf das Präparat wirken.
Gestattet man dem Strome nur so lange Zeit Zutritt
zur Reizplatte, als zwischen einer » möglichst schnellen
Schliessung und Oeffnung des Schlüssels durch die Hand ver-
geht, so überzeugt man sich ganz deutlich, dass diese Rotations-
und Wirbel-Bewegungen nur secundäre, durch die Gasent-
wicklung an den Spitzen der Metalltheilchen hervorgebrachte
Phaenomene sind. |
In diesem Falle bilden die Metalltheilchen Curven von
derselben Form wie die Nichtleiter; nur sind sie meistens
weniger zahlreich, und ihre concentrische „Schichtung“* ist
weniger regelmässig als bei Anwendung von Glas u. s. w.
Die Richtung der Metalltheilchen in diesen Curven geht
mit derselben Regelmässigkeit bei den Leitern und bei den
Nichtleitern vor sich. Ein Stillstand des Systems, wie ich ihn
oben bei Anwendung von Glaspulver u. s. w. beschrieb, tritt
eben wegen dieser Gasentwicklung nicht ein.
Die guten Leiter (Platin, Kupfer, Messing, Zink)
unterscheiden sich also dadurch von den übrigen
untersuchten Körpern (Glaspulver, Kupfer-Oxyd u. s. w.),
dass sie die durch die Wechselströme erlangte Stel-
lung wegen einer von den Metalltheilchen ausgehen-
den Gasentwicklung, welche auf einer dielektrischen La-
dung der Theilchen beruht, sehr schnell wechseln, und
dass ein Stillstand des Systems wie bei den Nicht-
leitern und Halbleitern aus demselben Grunde nicht
zu Stande kommt.
he ER NT ana EL EN!
Versuche über dipolar-elektrische Ladung u. s. w. 719
$2. Störungen durch fehlerhafte Beschaffenheit der
Reizplatte.
Häufig gerathen die in Wasser vertheilten Körperchen in
wirbelnde Bewegung, ohne dass irgend welche Richtung oder
Anordnung erreicht würde, während die Wechselströme das
Präparat treffen,
Dies findet statt bei fehlerhafter Beschaffenheit der Stan-
niol-Pole.
Man hat nämlich bei Anfertigung der Reizplatten mit
peinlichster Sorgfalt darauf zu achten, dass von aer Schellack-
lösung nichts über die Stanniolspitzen in den Raum gelangt,
welcher den Wassertropfen mit den Theilchen aufnehmen soll.
In diesem Falle löst der Strom allmählich die Schellack-
Stückchen von der Glasplatte los und schleudert sie in das
Gesichtsfeld. Man erhält dann ganz unregelmässige Erschei-
nungen.
Deutliche Flüssigkeitswirbel, in welche die Theilchen mit
hineingerissen wurden, traten auf, wenn zufällig nur ein Pol
wirksam, der andere mit Schellacklösung verunreinigt war.
Ich kann vorläufig nicht mit Sicherheit angeben, ob es sich
bei dieser Erscheinung um unipolare Wirkungen gehandelt
habe.
Aehnliche Störungen, wie diejenigen, welche wir soeben
auf eine Verunreinigung der Pole mit Schellack bezogen, beob-
achtet man auch, wenn ein oder beide Pole nicht vollkommen
fest auf dem Glase haften. Hierdurch wird die metallische
Oberfläche, welche mit der suspendirenden Flüssigkeit in Be-
zührung kommt, vergrössert und Gelegenheit für eine reichlichere
Gasentwicklung an den Polen gegeben. Eine zu grosse Menge
von Gasblasen verhindert aber die Theilchen sich anzuordnen.
In jedem Falle muss ich vor einer zu häufigen Benutzung
derselben Reizplatte warnen.
Bei Anwendung stärkerer Ströme wird man kaum mehr
als 30 Versuche mit demselben Exemplare vornehmen können.
720 Th. Weyl:
83. Störungen durch die Gasentwicklung an den
Polen.
Aber selbst bei gutem Zustande der Reizplatte sieht man,
wenn sehr starke Ströme benutzt werden, die in Wasser ver-
theilten Körperchen wirbelnde Bewegungen ausführen. Ein
Blick auf die Stanniol-Pole lehrt uns, dass die Bewegung der
Theilchen von ihnen ausgeht und dass sie von einer mehr oder
minder reichlichen Gasabscheidung durch die Elektrolyse des
Wassers abhängt.
Es soll hier zu zeigen versucht werden, dass die Gasent-
wicklung an den Polen nur ein störender, nicht ein bestim-
mender Factor des beschriebenen Phaenomens ist.
Bei Anwendung der bisher!) benutzten Ströme tritt das
Phaenomen ($ I) viel früher ein als die Gasentwicklung an
den Polen.
Die Theilchen sind längst gerichtet und angeordnet: dann
erst sehen wir einzelne Gasbläschen an den Polen auftauchen.?)
Aber selbst bei Anwendung bedeutend stärkerer Ströme
(kleinen Ruhmkorff mit vier Deleuil)°) lässt sich das Phaenomen
demonstriren, ohne dass eine irgendwie namhafte Gasentwick-
lung zu Stande käme. Ich erreichte dies, indem ich die
Körperchen in einer Mischung von 20 Vol. absoluten Alkohols
mit 80 Vol. destillirten Wassers der Einwirkung des Stromes
unterwarf.
Wäre endlich das Phaenomen durch die Gasentwicklung
bedingt, so müsste es bei stärkerer Gasentwicklung besonders
1) S. oben S. 713.
2) Um mir eine ungefähre Anschauung davon zu verschaffen,
wie viel Gasblasen während einer bestimmten Zeit durch die Wechsel-
ströme des Schlitteninductoriums bei bestimmter Stromstärke ent-
wickelt würden, liess ich dieselben auf einen Wassertropfen wirken,
in welchem keine Theilchen suspendirt waren. Ich beobachtete hier-
bei, dass sich die Gasblasen in denselben regelmässigen Curven an-
ordneten wie die in Wasser vertheilten Körperchen. — Hierauf bezieht
sich die Angabe S. 715, dass es mir gelungen sei, das Phaenomen
mit Sauerstoff und Wasserstoff hervorzurufen.
3) Sie unterscheiden sich kaum von Bunsen’schen Elementen.
Versuche über dipolar-elektrische Ladung u. s. w. 721
deutlich hervortreten. Das gerade Gegentheil davon tritt ein.
Je stärker die Gasentwicklung um so undeutlicher das Phae-
nomen.
Wir haben jetzt, wie ich meine, bewiesen, dass die be-
schriebenen Erscheinungen durch die Gasentwicklung an den
Polen nicht veranlasst werden, da sie um so deutlicher hervor-
treten, je geringer die Gasentwicklung ist,
Ich fasse die bisher geschilderten Erscheinungen noch ein-
mal zusammen.
Werden Nichtleiter oder Halbleiter in destillir-
tem oderalkoholhaltigem Wasser vertheilt von kurz-
dauernden (Inductions-) Wechselströmen getroffen, so
ordnen sie sich zwischen den Polen der den Strom
zuleitenden Vorrichtung in regelmässigen, von Pol
zu Pol sich erstreckenden Ourven an. Dabei werden
die Theilchen so gerichtet, dass sich ihre längste
Axe in Richtuug der Curven stellte Für runde Kör-
perchen fällt diese Richtung weg. Ist die Anord-
nung der Theilchen einmal hergestellt, so bleibt das
ganze Curvensystem in Ruhe, ohne dass der Strom
eine weitere Veränderung in dessen Form hervor-
ruft.!)
Die Leiter geben ähnliche Phaenomene, Sie
werden durch die Wechselströme elektrisch geladen
und elektrolytisch wirksam. In Folge dessen wechseln
sie die unter dem Einflusse des Stromes erlangte
Stellug äusserst schnell.
$4. Einfluss des Leitungswiderstandes der suspen-
direnden Flüssigkeit.
Es muss jetzt versucht werden, ob wir durch Modification
der Bedingungen, unter welchen wir die beschriebenen Phae-
nomene auftreten sahen, zu ihrem Verständnisse gelangen
können.
1) Ueber gewisse secundäre Wirkungen des Stromes auf die
Krystalloide, s. S. 714 Anm. 1.
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1376. 46
723 Th. Weyl:
Zunächst soll vom Einflusse des Leitungswiderstandes der
suspendirenden Flüssigkeit die Rede sein.
Verringert man den Leitungswiderstand des
destillirten Wassers, in welchem die Theilchen sus-
pendirt sind, durch Hinzufügung von Kochsalz oder
von ein paar Tropfen Schwefelsäure, so bleiben die
Phaenomene der Richtung und der Anordnung aus.)
$5. Wirkung constanter Kettenströme.
Lässt man auf die in Wasser vertheilten Körperchen (Lei-
ter, Halbleiter und Nichtleiter) den Strom einer Kette von
siebzehn kleinen Grove, wie sie seit du Bois-Reymond in
der Elektrophysiologie gebräuchlich sind, wirken, so beobachtet
man die zuerst von Jürgensen?) beschriebenen, später von
G. Quincke?) eingehend studirten anaphorischen Phaenomene.
Die Theilchen wandern bei einer gewissen Stromstärke‘) dem
positiven Pole zu. Häufig aber constatirte auch ich, ganz wie es _
Quincke?°) angiebt, bei geringerer Stromintensität unter dem
Mikroskope gleichzeitig eine doppelte Bewegung der Theilchen
„im Sinne und im entgegengesetzten Sinne der positiven Elek-
trieitätsströmung“. ©)
Bei Anwendung des alkoholhaltigen Wassers war eine
Gasentwicklung an den Stanniolpolen kaum bemerkbar. Eine
Gasentwicklung in der Nähe der metallischen Theilchen (s. oben
1) Die Krystalloide der Parä-Nüsse eignen sich für diese Ver-
suche nicht, da sie in verdünnter Salzlösung und in verdünnter
Schwefelsäure löslich sind.
2) Jürgensen in diesem Archiv, 1860. S. 673 fi.
3) G. Quincke in Poggendorff’s Annalen u. s. w. 1861.
Bd. CXIIL, S. 565 £.
4) Dieselbe wurde durch ein als Nebenschliessung eingeschaltetes
Rheochord nach du Bois’ Construction varlrt.
Ha (0 a
6) Leider habe ich zu notiren vergessen, ob sich die Theilchen-
auch unter dem Einflusse des constanten Stromes mit ihrer Längsaxe
in die Stromrichtung stellen — was nach später (S. 725) zu ee
dernden Versuchen wahrscheinlich ist.
Versuche über dipolar-elektrische Ladung u. s. w. 123
S. 717) konnte ich selbst bei voller Stromstärke (siebzehn kl.
Grove ohne Rheochord) nicht constatiren.
Bei Hinzufügung geringer Mengen NaC] oder H,SO, zum
"Wasser hörten die Fortführungserscheinungen auf.
Die constanten Kettenströme haben also nur wenige Er-
scheinungen geliefert, welche an das in $ 1 beschriebene Phae-
-nomen erinnern. Uebereinstimmend mit demselben hörten bei
gut leitender Flüssigkeit die Fortführungserscheinungen auf.
Von einem Stillstande des Curvensystems dagegen wurde nichts
‚beobachtet.
$6. Wirkung intermittirender, gleichgerichteter
Kettenströme.
Intermittirende, gleichgerichtete Kettenströme rufen die
bereits von Jürgensen!) geschilderten Erscheinungen hervor.
Den Strom einer Kette von siebzehn kleinen Grove unter-
brach ein Neef’sches Blitzrad, welches mit der Hand schnell
gedreht wurde.
In einer zweiten Versuchsreihe war am Hebel des Halske’-
schen Unterbrechers ein Stück starken und dicken Kupfer-
drahtes, durch Kautschuk gegen die Unterlage isolirt, befestigt.
An denselben löthete ich einen Draht, der mit dem einen Pole
der Grove’schen Kette in Verbindung stand. Den anderen
Pol nahm ein Quecksilber-Näpfchen auf, das sich dicht unter
dem Ende des am Hebel befestigten Kupferdrahtes befand.
So oft nun der Anker des Hebels vom Elektromagnet ange-
zogen wurde, tauchte der Kupferdraht in das Näpfchen und
schloss den Kreis, in welchem sich die Reizplatte befand.
Verlor der Elektromagnet seinen Magnetismus, so liess er
den Anker los. Hierdurch wurde der Kupferdraht aus dem
Quecksilber-Näpfehen emporgehoben und der Kreis der Reiz-
platte geöffnet. Der Kupferdraht war zugespitzt und amalgamirt.
Den Halske’schen Unterbrecher setzten zwei Daniell in
Bewegung. Die Unterbrechungsanzahl war eine möglichst
grosse,
DEAL ONTESE6S0-
46*
et
I
24-7 Th. Weyl:
Dass durch den eben geschilderten einfachen !) Mechanismus
der Kreis der Reizplatte wirklich häufig unterbrochen wurde,
zeigte der Funke, welcher zwischen der Kuppe des Quecksilber-
Näpfchens und der Spitze des Kupferdrahtes übersprang, so
oft derselbe aus dem Näpfchen emporgehoben wurde. Dieser
Funke konnte aber nicht durch den im Hammer kreisenden
Strom hervorgerufen sein, weil ein zwischen Quecksilbernäpf-
chen und Kupferdraht eingeschaltetes Galvanometer keinen
Strom anzeigte, während der Hammer in Thätigkeit war.
Nach beiden Methoden wurden identische Resultate erzielt.
Die Theilchen (Leiter, Halbleiter, Nichtleiter), bewegten
sich unbekümmert um die Anzahl der Unterbrechungen dem
positiven Pole zu. Die Fortbewegung ist für das Auge eine
stetige, keine sprungweise, wenn die Anzahl der Unterbrech-
ungen nicht allzu gering ist.
Wird die Leitungsfähigkeit des Wassers durch Zusatz von
Kochsalz oder Schwefelsäure erhöht, so bleiben die beschrie-
benen Erscheinungen aus. Die Intensität der benutzten Ströme
— stärkere standen mir nicht zu Gebote — war nicht genügend,
um grössere Glastheilchen fortzuführen. Aus diesem Grunde
wurde wahrscheinlich auch die Richtung der Theilchen nicht
beobachtet.
So hätten denn also auch die Wirkungen der intermit-
tirenden constanten. Kettenströme das Verständniss des Phae-
nomens nicht wesentlich fördern können.?)
1) Noch einfacher wäre es gewesen, den Kreis der Reizplatte
‘durch den direct eingeschalteten Halske’schen Hammer unterbrechen
zu lassen. Ich unterliess dies, weil ich fürchtete, durch die starken
Ströme die Gontacte des Apparates zu zerstören.
2) Dass Jürgensen (a. a. 0. S. 687) bei Anwendung gleich-
gerichteter Inductionsströme keine Fortführung der Theilchen beob-
achtete, kann ich mir nur so erklären, dass die Stärke der von ihm
benutzten Ströme, über welche er keine Angaben macht, zu gering
war. Mir fehlten die experimentellen Hülfsmittel, um dies zu ent-
scheiden.
Versuche über dipolar-elektrische Ladung u. s. w. 7125
87. Wirkung von Oeffnungsinductionsschlägen,
Quincke!) erzielte bereits eine Fortführung der Theilchen
als er durch seinen Ueberführungsapparat die Oeffnungsschläge
eines Inductionsapparates kindurchleitete.
Meine Versuchsanordnung war die folgende.
Im primären Kreise eines kleinen Ruhmkorff befanden sich
vier Deleuil.) Der Hammer der Unterbrechungsvorrichtung
war gegen den Eisenkern vermittels einer Schraube gepresst.
Der Kreis konnte durch einen Pohl’schen Gyrotropen mit
herausgenommenem Kreuz geöffnet und geschlossen werden.
Im secundären Kreise war durch einen du Bois’schen
Schlüssel die Reizplatte als Nebenschliessung eingeschaltet.
Es wurden einzelne Oeffnungsinductionsschläge durch das
Präparat geleitet, die Schliessungsschläge durch den im secun-
dären Kreis befindlichen Schlüssel abgeblendet.
Es befinde sich im Wassertropfen zwischen den Stanniol-
elektroden fein zerriebenes Glaspulver. Wir benutzen eine
250-fache Vergrösserung.
Nehmen wir wiederum an, die Stromrichtung im Wasser-
tropfen sei durch die kürzeste Verbindungslinie zwischen den
Spitzen der Stanniolpole gegeben. Wir stellen das Mikro-
skop auf ein Theilchen ein, welches mit der gedach-
ten Linie ungefähr einen rechten Winkel bildet.°)
Der erste Oeffnungs -Inductionsschlag verwandelt
diese Richtung in eine parallele.
Durchmustern wir jetzt das Präparat, so werden wir schon
nach diesem einen Stromstosse,, jedenfalls aber nach mehreren
die meisten Theilchen parallel der Stromrichtung gerichtet
finden.) Einige Theilchen scheinen jedech den Oeffnungs-
EA 2.0.88 369:
2) S. oben S. 120.
3) Indem man mit einer Nadel auf das Deckgläschen einen
Druck ausübt, gelingt es bei einiger Uebung leicht ein oder mehrere
Theilchen in diese Lage zu bringen.
4) Diese Erscheinung gestattet den Schluss, dass auch bei An-
wendung starker constanter Ströme erst eine Richtung der Theilchen,
726 Th. Weyl:
schlägen Trotz bieten zu wollen. Es sind die grössten Glas-
theilchen, wie wir bald bemerken. Ein Druck mit einer Nadel
auf das Deckglas überzeugt uns, dass die Reibung der Theil-
chen gegen das Deckgläschen und den Objectträger eine Be-
wegung überhaupt nur schwierig gestattet. Glas, Fluorcaleium,
Smalte, Quarzstückchen, CuO, FeS, Cu, Pt, Zn, Messing ver-
hielten sich vollkommen gleichmässig. Nur schien es mir —
worüber messende Versuche allein Auskunft geben können —,
dass die Einstellung der Metallstückchen schneller und lebhafter
erfolgte als die der anderen Substanzen.
Dies die erste Wirkung der Oeffnungsschläge auf das
Präparat.
Fassen wir jetzt ein durch den ersten Oeffnungsschlag
gerichtetes Theilchen in’s Auge.
Ein zweiter Oeffnungsschlag treibt es um ein bedeutendes
Stück vorwärts dem positiven Pole zu. Jeder folgende Strom-
stoss wirkt in gleicher Weise. Ich konnte häufig durch drei
oder vier Schläge ein Theilchen durch die ganze Breite des
Gesichtsfeldes treiben.
Als ich einmal Kupferpulver, das durch Reiben an einem
Schleifsteine gewonnen war und in Folge dessen nicht unbe-
deutende Mengen von Quarzsplittern enthielt, in destillirtem
Wasser vertheilt den Oeffnungsschlägen aussetzte, kam die
Richtung der Theilchen ganz wie gewöhnlich zu Stande. Als
nun ein weiterer Oeffnungsschlag die Theilchen dem positiven
Pole zutreiben sollte, sah ich zu meinem Erstaunen das
Kupfer dem positiven, die Quarztheilchen dem negativen Pole
zu wandern.
Eine Täuschung ist wegen der verschiedenen Farbe der
Theilchen — das Kupfer erschien schwarz, die Quarztheilchen
weiss — ausgeschlossen. Verständlich wird diese Erscheinung,
wenn wir mit Quincke!) annehmen, dass die leichteren Quarz-
dann deren Fortführung eintritt. Der Oefinungsschlag einer constan-
ten Kette unterscheidet sich ja nur durch seinen Verlauf und durch
seine Intensität von einem Inductions-Oefinungsschlage.
1) A. a. 0. S. 582 ff. Quincke erklärt auf diese Weise die
Fortführung von Stärkekörnchen in verschiedener Richtung. Die
Versuche über dipolar-elektrische Ladung u. s. w. LIT
theilchen durch das vom Strom zum negativen Pole fortgeführte
Wasser mit fortgerissen wurden, während die Kupfertheilchen
zum positiven Pole geführt wurden, da sie durch ihre Schwere
der Wasserströmung widerstehen konnten.
Aber noch eine dritte Erscheinung kommt zur Beobachtung,
welche unsere Aufmerksamkeit in vielleicht noch höherem
Grade verdient als die Richtung und Fortführung der Theilchen.
Wir schicken 20—30 Oeffnungsschläge kurz hinter einander
durch das Präparat, indem wir alle Schliessungsschläge durch
den Schlüssel im secundären Kreise abblenden. Wir benutzen
‚eine 60-fache Vergrösserung. Die Theilchen stehen mit ihrer
Längsaxe in der Stromrichtung. Sie sind aber auch in
denselben Curven angeordnet, welche wir in $ | be-
schrieben haben.
Jeder neue Oeffnungsschlag bringt eine Veränderung des
Bildes in sofern hervor, als die Theilchen durch denselben
dem positiven Pole genähert werden. Diese Bewegung ist
natürlich bei 60-facher Vergrösserung betrachtet eine minimale.
Sie wird erst bei 250-facher Vergrösserung deutlich wahr-
nehmbar.
Bei Zusatz von Kochsalz oder Schwefelsäure zum
destillirten Wasser hören alle in diesem $ beschrie-
benen Erscheinungen auf.
Feste, in Wasser suspendirte Theilchen (Leiter,
Halbleiter, Nichtleiter) werden also durch starke
Inductions-Oeffnungsschläge so gerichtet, dass sich
ihre Längsaxe in die Stromrichtung!) derselben
stellt. Dabei werden sie dem negativen Pole zu-
getrieben und zwar, wie wirschliessen, auf dem Wege,
welchen uns die unter dem Einflusse mehrerer Oeff-
nungsschläge auftretenden Ourven andeuten.
Quincke’sche Erklärung gilt selbstverständlich ebenso für einzelne
Inductionsschläge, wie für constante Ströme.
1) Wir werden später erkennen, dass auch die Theilchen, deren
Längsaxe nicht in der kürzesten Verbindungslinie zwischen den
Spitzen der Stanniolpole liegt, in der Stromrichtung stehen.
7128 Th. Weyl:
Die eben geschilderten Wirkungen der Oeffnungsschläge
geben uns wichtige Fingerzeige für das Verständniss unseres
Grundphaenomens ($ 1) an die Hand.
Wir sehen durch eine Reihe starker Inductions-Oeffnungs-
schläge!) alle die Erscheinungen auftreten, welche wir bei An-
wendung von Inductions-Wechselströmen beobachteten. Der
„Stillstand des Curvensystems“ allein fehlte. Wir werden schon
jetzt gewillt sein, diesen auf Rechnung der Wechselströme zu
setzen. Für die Richtigkeit dieser Annahme wird der nächste
$ die Beweise bringen.
$8. Wirkung von Wechselströmen einer constanten.
Kette.
Ein Poggendorff’scher Inversor, welcher mit der Hand
möglichst schnell gedreht wurde, unterbrach den Strom einer
Kette von 17 kleinen Grove.
Wirkte dieser auf Glaspulver, Kohle, Tusche und
Carmin, welche in Wasser vertheilt waren, so be-
hielt jedes Theilchen denselben Platz, welchen es
vor der Einwirkung des Stromes inne gehabt hatte,
auch während der Zeit, in welcher der Strom das
Präparat durchfloss.
Es zeigte sich ferner, dass die Theilchen zwischen
den Stanniolpolen in den schon oft beschriebenen,
regelmässigen Curven angeordnet waren, als ich
durch Anwendung einer 60-fachen Vergrösserung einen grös-
seren Theil des Präparates mit einem Male zu überblicken im
Stande war.
Dabei richteten sich die Theilchen so, dass ihre
Längsaxe in der Richtung der gebildeten Curven lag.
Durch die in diesem Paragraphen geschilderten Versuche
hat sich also gezeigt, dass die Wirkung der Inductionswechsel-
ströome ($ 1) und der Wechselströme einer constanten Kette
die gleichen sind. Sie zeigen aber vor allem anderen,
1) Inductions-Schliessungsschläge von genügender Stärke werden
dieselben Erscheinungen hervorrufen.
Versuche über dipolar-elektrische Ladung u. s. w. 129
dass der Stillstand des Curvensystemsals eineFunc-
tion der Wechselströme betrachtet werden darf.
$9. Wirkung von Inductions-Wechselströmen mit
Helmholtz’scher Anordnung.
Bei Anwendung von Inductions-Wechselströmen, deren
Schliessungs- und Oeffnungsstrom in Verlauf und Intensität
nahezu gleich waren, ') erhielt ich weder Richtung noch An-
ordnung noch Stillstand der Theilchen.
Die grossen Theilchen blieben trotz der Einwirkung des
Stromes unbeweglich auf ihrem Platze liegen.?) Die kleinen
Theilchen pendelten mit sehr geringer Amplitude um eine
Gleichgewichtslage hin und her. Sie hatten ihren Ort, der
durch ein Hartnack’sches Ocularmikrometer markirt wurde,
beim Aufhören des Stromes nicht merkbar gewechselt. Für
diese Versuche benutzte ich dasselbe Schlitteninductorium,
welches mir die in $ 1 beschriebenen Erscheinungen finden half.
Die Phaenomene änderten sich nicht, als ich statt fünf klei-
ner Grove deren zehn anwandte. Ohne die secundäre Spirale
des Apparates zu gefährden konnte ich den Strom im primären
Kreise nicht weiter verstärken. Ein grösseres ‚Inductorium
stand mir nicht zur Verfügung.
Die benutzten Ströme waren wahrscheinlich mich stark
genug um die Phaenomene der Richtung u. s. w. hervorzurufen.?)
$ 10. Erklärungsversuche.
Die geschilderten Erscheinungen der Richtung und des
Stillstandes des Theilchen*) werden verständlich, wenn wir mit
1) Vergl. E. du Bois-Reymond, Monatsberichte der Berliner
Akademie. 1862. S. 372 fi.
2) Ein Druck mit einer Nadel auf das Deckgläschen überzeugte
mich, dass sie leicht beweglich waren.
3) Siehe E. du Bois-Reymond, a.a. 0. S. 402, letzter heat,
4) Ich bemerke ausdrücklich, dass die durch constante und inter-
mittirende Kettenströme, ferner durch die Oeffnungsschläge auftreten-
den Fortführungserscheinungen (anaphorischen Wirkungen) durch die
folgende Annahme nicht erklärt werden. Sie haben auch wahrscheinlich
mit den Phaenomenen der Richtung u. s. w. wenig zu schaffen.
730 Th. Weyl:
Faraday annehmen, dass jedes vom Strome getroffene Theil-
chen (Leiter, Halbleiter, Nichtleiter) durch denselben dipolar-
elektrisch geladen wird.
In dem Wassertropfen, welcher von einem Inductions-
Oeffnungsschlage oder von den Wechselströmen einer con-
stanten Kette oder von den Wechselströmen des Schlitten-
induetoriums durchflossen wird, befinde sich ein einzelnes
Theilchen. Dasselbe (Glassplitter, Metalltheilchen) sei in einer
Richtung des Raumes (in der Längsrichtung) vorwiegend aus-
gebildet. Die durch Vertheilung (Faraday) getrennten Elek-
tricitäten häufen sich an seinen beiden Polen an. Bildet nun
das Theilcben mit der Richtung des Stromes einen Winkel,
welcher kleiner!) als 2 R ist, so muss es sich „richten“. Es
muss sich so lange drehen, bis sein positiver Pol dem negativ
geladenen Stanniolpole gegenüber steht, sein negativ geladener
Pol dem positiv geladenen. Die Drehung wird aber veranlasst
durch die Anziehung, welche die Pole ungleichen Vorzeichens
auf einander ausüben.
Diese Richtung fällt für Körper von ee) (Lyko-
podium, Gasblasen) natürlich weg.
Befinden sich nun mehrere Theilchen in dem vom Strom-
stosse getroffenen Wassertropfen, so wird ein. Theilchen das
andere anziehen müssen. Hierdurch wird eine Kette von
Theilchen entstehen, deren entgegengesetzt geladene Pole ein-
ander zugekehrt sind, welche selbst aber wiederum von den
entgegengesetzt geladenen Stanniolpolen angezogen worden sind.
Dies alles gilt für den Fall, dass ein einzelner kurzdau-
ernder Stromstoss die in Wasser suspendirten Theilchen ge-
troffen hat, auf dessen Richtung es selbstverständlich nicht
ankommt.
Wechselt nun die Richtung der auf das Präparat wirkenden
kurzdauernden Ströme in jedem Augenblick, so wird die durch
den ersten Stromstoss bewirkte Anziehung und Richtung der
Theilchen durch den zweiten, dem ersten entgegengesetzt ge-
1) Der Fall, dass der Winkel >2R ist, kommt für die mitge-
theilten Versuche nicht in Betracht. Natürlich gelten dieselben Ge-
setze auch für ihn.
Versuche über dipolar-elektrische Ladung u. s. w. 731
zichteten Stromstoss keine Aenderung erfahren können, da der
zweite Stromstoss nur das Vorzeichen der Pole umdreht. Die
Theilchen brauchen aber unter dem Einflusse des zweiten
Stromstosses ihren Ort nicht mehr zu verändern, da sie sich
durch den ersten Stromstoss bereits an dem Orte befinden, an
welchen sie die anziehenden oder abstossenden Kräfte je zweier
Nachbar-Pole von entgegengesetztem Vorzeichen geführt haben.
Alle folgenden Stromstösse wirken in gleicher Weise.!)
So wäre also mit Hülfe unserer Annahme die Richtung
der Theilchen und ihr Stillstand erklärt.
Was bedeuten ferner die Curven, in welchen sich die
Theilchen anordnen? Sie sind, wie ich meine, die Stromcurven.
Sie geben an, auf welchem Wege der Strom das Präparat dureh-
fliesst, dessen in Wasser suspendirte Theilchen in unseren
Versuchen die Stromvertheilung in gleicher Weise sichtbar
machen wie die durch den Strom fortgeführten und glühend
gemachten Partikelchen der Elektroden im elektrischen Ei.?)
Dass endlich die beschriebenen Erscheinungen ausbleiben,
sobald der Leitungswiderstand der Flüssigkeit durch Hinzufü-
sung von NaCl oder H,SO, verringert wird, verträgt sich auf’s
Beste mit unserer Annahme. In diesem Falle wird der Strom
an den Theilchen vorbeigehen ohne sie zu laden, da er sich
leichter (schneller?) in der Flüssigkeit ausbreiten kann als in
den Theilchen, welche ihm einen grösseren Widerstand ent-
gegensetzen als die Flüssigkeit. Diese‘ bildet gewissermaassen
eine gut leitende Nebenschliessung zu den Theilchen.
$& 11. Schluss.
Die vorstehende Arbeit ergiebt die folgenden Resultate:
1) Materielle, in Wasser oder alkoholhaltigem Wasser be-
1) Die wirbelnden Bewegungen der Metalltheilchen unter dem
Einflusse der Wechselströme habe ich schon oben durch die von
ihnen ausgehende Gasentwickelung zu erklären versucht.
2) Ob die von Holtz (Poggendorff’s Annalen u. s. w. Ergän-
zungsband VII, S.492) beschriebenen Curven mit den meinigen iden-
tisch sind, kann ich aus der kurzen Beschreibung nicht mit Sicherheit
ersehen.
132 Th. Weyl: Versuche u. s. w.
findliche Theilchen, welche in Wasser unlöslich sind, werden:
durch kurzdauernde, elektrische Ströme dipolar-elektrisch ge-
laden.
2) Es existirt eine dielektrische Polarisation (Faraday).!)
3) Durch diese dipolar-elektrische Ladung, welche mit dem
Verschwinden des vertheilenden Stromes aufhört, werden feine
Metallsplitterchen befähigt, das Wasser in ihrer Umgebung zu
zersetzen.
4) Die dipolar-elektrische Ladung bewirkt, dass sich
Theilchen von länglicher Gestalt mit ihrer längsten Axe in die
Richtung des Stromes stellen. Runde Theilchen richten sich
nicht.
5) Die geladenen Theilchen ordnen sich bei Wirkung ein-
zelner Inductions-Oeffnungsschläge erst allmählich, schneller
bei Wirkung von Inductions-Wechselströmen und von Wechsel-
strömen einer constanten Kette in den Stromcurven an. Hierbei
stellt sich die längste Axe des Theilchens in die Richtung der
Stromeurven.
6) Kurzdauernde Wechselströme bewirken einen Stillstand
des Curvensystems, in welchem sich die gerichteten Nichtleiter
und Halbleiter angeordnet hatten. Die Leiter gerathen unter
dem Einflusse derselben Ströme in wirbelnde Bewegung.
7) Alle in Nr. 1) bis Nr. 6) beschriebenen Erscheinungen
bleiben aus, sobald der Leitungswiderstand der Flüssigkeit, in
welchem sich die Theilchen befanden, durch Zusatz von Koch-
salz oder von Schwefelsäure verringert wird.
Strassburg i. E., November 1876.
1) Zu demselben Resultate kommt auch E. Root (Poggendorffs
Annalen u. s. w. 1876) von dessen Arbeit ich leider erst Kenntniss
erhielt, als mich äussere Gründe zwangen, meine Versuche vorläufig
abzubrechen.
Ueber den Musculus atlantico-mastoideus.
Von
Dr. WENZEL GRUBER,
Professor der Anatomie in St. Petersburg.
Hierzu Taf. XVII. A.
J. B. Winslow!) erwähnt unter: „Les muscles, qui
meuvent particulierement la teste sur le tronc“ auch „Les
petits accessoires ou surnumeraires*. Von diesen beschreibt
er einen nach ihm „quelquefois* vorkommenden Muskel,
welcher mit dem einen Ende an die Spitze des Processus
transversus des Atlas mit dem anderen Einde hinter (derriere)
dem Processus mastoideus sich befestigt. J. Bankart, P. H.
Pye-Smith a. J. J. Phillips?) erwähnen eines Beispieles des-
selben Muskels. Sie lassen den kleinen Muskel vom Processus
transversus des Atlas aufwärts zum Processus mastoideus
zwischen den Musculus digastricus maxillae inferioris und M.
obliquus capites superior (upwards to the mastoid process
between the digastricus and obliquus superior) gehen.
Die Muskeln von Winslow und Bankart u. s. w. sind
unser M. atlantico-mastoideus. Die von Winslow angegebene
Ansatzart des Muskels ist die Ausnahme und von der Ansatz-
art, welche Bankart u. s. w. angegeben hatten, ist entweder
das Erstere (an den Processus mastoideus) oder das Letztere
(zwischen dem Digastricus und Obliquus superior) unrichtig,
weil der Muskel, wenn er an den Processus mastoideus sich
inserirt, sich nicht zwischen dem Digastricus und Obliquus
superior ansetzen kann und umgekehrt.
1) Exposition anat. de la structure du corps humain, Paris 1732
4° p. 245. $ 735.
2) „Notes of abnormalities observed in the disseeting room during
the Winter-Sessions of 1866—1867 and 1867—1868. — Guy’s Hos-
pital Reports Ser. III Vol. XIV. London 1869. 8°. p. 438. —
734 Wenzel Gruber:
Der Muskel gehört aber zu den häufiger vorkommenden
anomalen Muskeln, ist deshalb werth, genauer gekannt zu
sein. Ich habe deshalb über ihn Untersuchungen geflissentlich
vorgenommen, deren Resultate ich im Folgenden vorlege:
Vorkommen.
Zur Bestimmung der Häufigkeit des Austretens des Mus-
kels hatte ich 50 Cadaver (45 männl. u. 5 weibl.) untersucht,
Der Muskel war an elf, und zwar an vier beiderseitig und an
sieben nur linksseitig zugegen. — Darnach ist der Muskel etwa
unter je 5 Cadavern an einem beiderseitig oder und fast noch
einmal so oft einseitig, namentlich überwiegend häufiger links-
seitig als rechtseitig, zu erwarten und zu den häufiger vor-
kommenden anomalen Muskeln zu zählen. —
Gestalt.
Der Muskel (a, a‘) tritt meistens schmal oder breit-band-
förmig oder strangförmig; aber auch spindelförmig oder läng-
lich-dreiseitig auf. Im ersteren Falle verbreitet er sich gegen
das obere Ende (häufiger) oder gegen das untere, oder gegen
beide (bisquitförmig); in den letzteren Fällen verschmälert er
sich gegen das untere Ende. Er ist von aussen nach innen
und vorn (gewöhnlich) aber auch von hinten nach vorn, also in
sagittaler Richtung (ausnahmsweise), comprimirt. Er ist an
einem oder an beiden Enden sehnig-fleischig, an einem oder
an beiden Enden mit einer kürzeren oder längeren, platt-
rundlichen oder bandförmigen Sehne, oder kürzeren oder län-
geren Aponeurose, die am oberen stark ist, versehen. Er kann
am Ansatzende fast ganz fleischig sein und am Ursprungsende
Fleischbündel der am Processus transversus des Atlas sich in-
serirenden oder von da entspringenden Zacken der Cervical-
muskeln, namentlich vom M. transversalis cervicis aufnehmen.
(Fig. 1, 2, 5.) Die Länge seiner Endsehnen oder Endaponeu-
rosen, namentlich am Ansatze, kann bis auf '/)—!/; der Länge
des Muskels steigen. |
Lage.
In der Tiefe der hinteren Partie der Regio-mastoidea am
oder selbst in dem Dreiecke, welches aussen und vorn vom
hinteren Rande des Processus mastoideus und einer von dessen
Spitze zum Processus transversus des Atlas vertical abwärts
gezogen gedachten Linie und hinten vom M. obliquus capitis
superior begrenzt wird. Ueber ihm liegen drei Muskelschichten,
d. i. Mm. sterno-cleidomastoideus, splenius capitis und trachelo-
mastoideus. Der M. trachelo-mastoideus immer und der M.
splenius capitis bisweilen (oben) sind es, welche ihn zunächst
bedecken.
Ueber den Musculus u. s. w. 735
Ursprung.
Von dem Endrande des Processus transversus des Atlas,
abwärts vom Ursprunge des M. obliquus capitis superior
zwischen ihm und dem M. rectus capitis lateralis Heischig-sehnig,
oder mit einer verschieden starken und langen oder kurzen
bandförmigen Sehne, oder mit einer gewöhnlich dünnen Apo-
neurose von verschiedener Höhe und Breite, welche durch
ihren Zusammenhang mit einer oder mehreren oder allen hier
inserirten Zacken der Mm. scalenus medius, levator anguli
scapulae, splenius capitis et transversalis cervicis, bei vor- und
rückwärts gerichteten Flächen, auf- und abwärts gekehrten
Rändern gegen die Mittellinie und abwärts gespannt erhalten
wird; ausnahmsweise vom Tuberculum posterius superius und
dem hinteren oberen Rande des Processus transversus zwischen
dem M. obliquus capitis superior und dem M. rectus capitis
lateralis. (Fig. 4.)
Verlauf.
Vom Processus transversus fast gerade rück- oder schräg
rück- und auf- und wenig auswärts, entweder das beschriebene
Dreieck seiner Lagerung schräg kreuzend (gewöhnlich) oder
durch dessen Mitte (Fig. 3) und selbst in seiner Tiefe (Fig. 4)
zur Pars mastoidea in verschiedene Höhe der letzteren, selbst
bis über das hintere obere Ende der Incisura mastoidea und
bis zum Foramen mastoideum (davon aussen und vorn) und in
verschiedene Höhe zum Ansatzende des M. obliquus capitis
superior (bis 8 Mm. unter letzterem) aufwärts, bei sehr vari-
irender Divergenz vom letzteren Muskel, die nur 2—3 Mm.
aber auch 17 Ctm. betragen kann.
Ansatz.
Fast ganz fleischig, oder sehnig-fleischig, oder mit einer
platt-rundlichen Sehne oder mit einer starken, verschieden
langen und breiten Aponeurose immer nur an die Pars mas-
toidea des Temporale, und zwar: entweder an den hinteren
Rand des Processus mastoideus oder an den äusseren Rand der
Incisura mastoidea (Fig. 1, 5, 6), also auswärts vom Digas-
trieus maxillae inferioris (meistens); oder an diesen und zu-
gleich an den Umfang des hinteren oberen Endes der Incisura
mastoidea (Fig. 2); oder an letzteren Umfang allein (Fig. 3)
also über dem Ende des Digastricus; oder an die Crista mas-
toidea, zwischen der Incisura mastoidea und dem Sulcus arteriae
occipitalis (Fig. 4), also einwärts von der Incisura mastoidea
und dem Digastricus und auswärts von der Art. oceipitalis.
Der Ansatz geht in verschiedener Höhe über der Spitze des
Processus mastoideus vor sich, kann schon 2—3 Mm. aber auch
erst 1’7 Ctm. darüber beginnen. Die Länge der Ansatzlinie
ist gleichfalls sehr variabel. Diese kann 3—18 Mm. betragen.
736 Wenzel Gruber:
Grösse.
Die Länge variirt: von 20 oder 2:2 Ctm. bis 5'0 oder
5'5 Otm.; die Breite: an der Mitte von 0'2—1'0 Ctm., am
oberen Ende von 0:3—1'8 Ctm., am unteren Ende von 0'2—
24 Ctm.; die Dicke: am Fleischbauche von 1—4 Mm., an der
Sehne bis 1 Mm.
Der kleinste Muskel war 2'0—2'2 Ctm. lang, 2—3 Mm,
breit und 1—1'5 Mm. dick. Ein Beispiel des grössten Muskels
war 5'°5 Otm. lang; in der Mitte 1 Ctm., am Ursprunge 0'8,
am Ansatze 1’3 Ctm. breit und bis 4 Mm. dick; ein anderes
Beispiel war 3°8 Ctm. lang, in der Mitte 1'0 Ctm., am Ursprunge
2:0 Ctm., am Ansatze 1'6 Ctm. breit; 2—3 Mm. dick u. s. w.
Bedeutung.
Der Musculus rectus capitis lateralis inserirt sich an den
Processus jugularis des Occipitale, der beschriebene Muskel an
die Pars mastoidea des Temporale — ersterer ist somit ein
M. atlantico-oceipitalis, letzterer der M. atlantico-mastoideus.
Der Processus jugularis des Oceipitale und die Pars mastoidea
des Temporale sind aber nach Rich. Owen!) der Parapo-
physe (=Processus transversus) eines Wirbels homolog, also ist
ersterer der Processus transversus des Oceipitalwirbels, letztere
der des Parietalwirbels des Schädels.
Ist dem so, so ist der M. atlantico-mastoideus auch ein
M. rectus capitis lateralis, hat, wie der gewöhnliche, die Be-
deutung eines M. intertransversarius, ist aber ein M. intertrans-
versarius zwischen dem Atlas und dem Parietalwirbel, während
der gewöhnliche M. rectus capitis lateralis einen M. intertrans-
versarius zwischen dem Atlas und dem Occipitalwirbel des
Schädels darstellt. Beim Vorkommen des M. atlantico-mas-
toideus handelt es sich daher nicht blos um Duplicität des M.
rectus capitis lateralis der Norm, sondern um einen davon
verschiedenen supernumerären Muskel, welchen ich zugleich
mit der wahren Duplicität des ersteren auftreten gesehen
habe. —
Besonderheiten.
In einem Falle linkseitigen Vorkommens des Muskels war
beiderseitig der M. rectus capitis anticus medius, in einem
anderen Falle linkseitigen Vorkommens desselben war an der-
selben Seite Duplicität des M. rectus capitis lateralis (mit
supernumerärem, innerem Muskel); in einem dritten Falle bei
beiderseitigem Vorkommen desselben (Fig. 5) war ein sehr
kleiner M. rectus capitis minor der rechten Seite (/); in einem
vierten Falle beiderseitigen Vorkommens desselben (Fig. 6)
1) Prineipes d’osteologie compar&ee ou Recherches sur l’archetype
et les homologies du squelette vertebre. Paris 1855. 8°. p. 284.
Ueber den Musculus u. s. w. 7137
waren die Ansätze der Mm. obliquus capitis superiores (e e‘)
‘6 Ctm. weit von einander abgestanden, die Mm. recti capitis
postici minores (/, f') sehr breit (3°8 Ctm.) und jederseits seit-
lich ein schmaler supernumerärer M. rectus capitis minor (9, 9‘)
vorgekommen, wie ich schon Fälle mitgetheilt habe.) Jeder
Muskel war in einem Falle 4 Otm. lang, am Ursprunge 3:5 Mm.,
am Ende 6—8 Mm. breit. Er hatte eine länglich-dreiseitige
‚oder platt-spindelförmige Gestalt, wies an jedem Ende eine
starke Sehne und einen fleischig-sehnigen Bauch auf. Er hatte
seinen Ansatz neben dem Rectus capitis posticus minor unter
dem äusseren Theile des Rectus major und mittelbar unter und
vor dem Öbligquus superior. In einem fünften Falle des Vor-
kommens desselben hatte der M. rectus capitis posticus minor
der rechten Seite mit dem innersten, isolirten Bündel durch
eine rundliche Sehne von dem Processus spinosus des Epistro-
pheus seinen Ursprung genommen. Unter den zur Unter-
suchung des Atlantico-mastoideus verwendeten Cadavern war
an drei (beiderseitig oder einseitig) das innerste, einfache oder
wieder getheilte Fleischbündel des Rectus major fast ganz
separirt.
Erklärung der Abbildungen.
Fig. 1—4.
Regio mastoidea der linken Seite mit nächster Umgebung.
Fig. 5—6.
Regio oceipitalis mit der beiderseitigen Regio mastoidea und der
obersten Partie der Regio cervicalis.
Bezeichnung für alle Figuren.
1. Pars mastoidea des Os temporale.
2. Os oceipitale. _
3. Theile des Atlas.
4. Theile des Epistropheus.
«@. Christa mastoidea.
‘a. a‘. Musculus atlantico-mastoideus.
bb. > digastricus maxillae inferioris.
GC n obliquus capitis superior.
d. d'. 2 obliquus capitis inferior.
e. e'. > rectus capitis posticus major.
Pal. = rectus capitis posticus minor.
4) W. Gruber: Abhandlungen a. d. menschl. und vergleich.
Anatomie. St. Petersburg, 1852. 4°. S. 125.
Reickert’s u, du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 47
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Br; 738 Wenzel Gruber: Ueber den Musculus u.
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9. 9’. Musculus reetus capitis postieus minor
a numerarius. jr
ER ’ h. » rectus capitis lateralis.
ae % Zacke des M. scalenus medius.
BR » » levator anguli scapulae.
Y
& A 8 LuT. a » » splenius colli.
Te3 nam N > „» transversalis cervicis.
A eR * Institut für die practische Anatomie.
5 St. Petersburg i. Juni 1876.
Archiv f.Anat: u Eiyf. 1876 Tap XVII
3 ayı A, "
MW firehmann $c.
Ein Musculus cleido-epistrophicus bei Existenz des
Musculus cleido-mastoideus der Norm.
Von
Dr. WENZEL GRUBER,
Professor der Anatomie in St. Petersburg.
(Hierzu Taf. XVII. B.)
Ueber zwei von mir schon vor 1847 beobachtete Fälle
dieser Species der supernumerären Museuli cleido-cervicales s.
trachelo-claviculares hatte ich schon vor 29 Jahren in Kürze
berichtet und daselbst auch angegeben, dass an der Stelle der
Insertion dieses Muskels an die Clavicula, an letzterer ein
Höcker vorkommen könne.!)
Trotzdem seit jener Zeit eine Reihe Fälle der Mm. cleido-
cervicales zur Beobachtung gekommen waren, so hat man, so
viel ich weiss, diese von mir zuerst angegebene Species denn
doch nicht wieder gesehen. ?)
Dies und die Behauptung mancher Anatomen, namentlich
von J. Wood: „dass auch dieser Cleido-cervicalis s. Trachelo-
elavicularis beim Menschen — Leyator claviculae Wood, dem
Levator elaviculae Tyson, s. Acromio-trachelien Cuvier, s.
Clavio-trachelien Duvernoy, bei den Säugethieren, welcher von
dem Querfortsatze des Atlas und bisweilen von den Querfort-
sätzen der beiden folgenden Halswirbel entspringt, und an das
Acnomion oder an dieses und die Clavicula, oder an die
Acromialportion der letzteren, sich inserirt, analog, also eine
1) W. Gruber. Vier Abhandlungen a. d. Gebiete d. medic.-chir.
Anatomie. Berlin 1847. 8°. S. 22.
2) Sieh: J. Wood. On a group of varieties of the muscles of
the human neck, shoulder and chest, with their transitional forms and
homologies in the mammalia. — Philos. Transact. of the roy. soc. of
London. Vol. 160. Part 1. London 1870. 4°. Art.: „Levator claviculae“
p- 88. A. Macalister: A descriptive Catalogue of muscular ano-
malies in human anatomy. Dublin 1872. 4°. p. 21.
47*
740 Wenzel Gruber:
Thierbildung sei“, veranlasst mich folgenden neuen von mir
beobachteten und in meiner Sammlung aufbewahrten Fall zu
veröffentlichen:
Vorgekommen am 28. April 1376 an der Leiche eines
jungen Mannes an der rechten Seite.
Ein sehr langer, ziemlich breiter und starker, bandförmiger
Muskel (a), welcher seinen Nerven vom Nervus cervicalis III.
erhalten hatte.
Lage. Oben hinter dem cleido-mastoideus von der Vena
jugularis interna bedeckt, weiter abwärts neben dem Cleido-mas-
toideus im Trigonum omotrapezoideum, hier vorn von der Vena
jugularis externa posterior, noch weiter abwärts vor dem
hinteren Bauche des Omohyoideus und abwärts davon über
dem Trigonum omo-claviculare, auswärts und in Distanz vom
Cleido-mastoideus, an seiner Insertion von dem bogenförmig
gekrümmten Endstücke der zur Vena subelavia tretenden Vena
jugularis externa posterior seitwärts umgeben.
Ursprung. Mit einer bandförmigen, 6 Mm. breiten, am
inneren Rande 1'4 Ctm. und am äusseren Rande 3 Ctm. langen
Sehne von der vorderen Seite der vorderen Wurzel des Pro-
cessus transversus des Epistropheus (3) zwischen der Sehne
‘des Intertransversarius anticus I. (%), die sich einwärts von der
unseres Muskels am oberen Rande dieses Processus ansetzt,
und zwischen der Ursprungssehne des Scalenus medius (m) von
diesem Wirbel, am unteren Rande rückwärts und auswärts
davon, welche sie von der Ursprungssehne des Bündels des
Levator anguli scapulae (0) von diesem Wirbel scheidet. An
der vorderen und äusseren Partie der vorderen Fläche dieser
Sehne etwa in der Mitte ihrer Länge endet ein Fleischbündel
(«) von dem vom Querfortsatze des Atlas entspringenden
Bündels des Scalenus medius (m).
Verlauf. Vom Querfortsatze des Epistropheus vor dem
unteren Bauche des Omo-hyoideus (c), diesen kreuzend, fast
gerader zur Clavicula (4), neben der Insertion des Cleido-
mastoideus (b) abwärts; oben zwischen dem Rectus capitis
anticus major (d) und dem Scalenus medius (m) unten: vor
dem äusseren Theile des Scalenus anticus in grosser Distanz
(l), und auswärts vom Cleido-mastoideus (5), aber tiefer als
letzterer gelagert.
Ansatz. Mit einer 1'5 Ctm. breiten und kurzen Sehne am
hinteren oberen Rande der Clavicula, 1'1 Ctm. auswärts von
dem Ursprunge des Cleido-mastoideus an ihrer oberen Fläche,
und 5 Ctm. auswärts von dem Sternalende der Clavicula, die
nach dem Abstande ihrer Enden gemessen 15 Ctm., nach ihrer
Krümmung gemessen 16 Ctm. lang ist, also neben innerem
Drittel der Länge der Clavicula und um die Breite der oberen
Fläche der letzteren mehr rückwärts, als der Cleido-mastoideus.
Grösse. Seine Länge beträgt 14 Ctm., wovon 14 Ctm.
auf die Ursprungssehne kommen; seine Breite beträgt am,
"Ein Museulus cleido-epistrophicus u.s. w. 741
Ursprunge: 0:6 Ctm., an der Mitte: 1'’4 Ctm., über der Juser-
tion: 1 Ctm., an der Insertion: 1’5 Otm.; seine Dicke: bis
ö Mm.
Bedeutung. Einen Fall von Cleido-cervicalis s. Trachelo-
clavieularis imus, welcher an der rechten Seite eines männlichen
Körpers bei Mangel beider ÖOmohyoidei vorgekommen war,
hatte W. G. Kelch!) beobachtet. Der % Zoll breite Muskel
war von dem unteren Rande des Processus transversus des
sechsten Halswirbele, nahe an der Spitze des ersteren, ent-
sprungen und hatte sich an die untere Fläche des Schulter-
endes der Clavicula inserirt. Einen ähnlichen Fall hatte auch
ich ?) angetroffen. Einen Fall von Cleido-cervicalis s. Trachelo-
clavicularis inferior hatte Fr. W. Theile?) an der rechten
Seite eines Mannes, von seinem Entdecker als Verdoppelung
des Scalenus anticus gedeutete Muskel war von den Querfort-
sätzen des vierten und fünften Halswirbels fleischig-sehnig ent-
sprungen, war nach unten und aussen verlaufen, vor dem
unteren Bauche des Omohyoideus hinweggegangen und hatte
sich zollbreit an der Mitte des oberen Randes des Schlüssel-
beiness, nach aussen von den Kopfnickern, angesetzt.
M.Whinnie*) hatte in einem Falle die erste vom Atlas kom-
mende Portion des Levator scapulae als besonderen Muskel-
Cleido-atlanticus (Cleido-cerviculis s. Trachelo-clavicularis supre-
mus) — auftreten und an die Clavicula mit dem vorderen
Rande des Cucullaris ansetzen gesehen, und ich’) habe einen
Cieido-atlanticus am inneren Drittel der Clavicula inserirt an-
getroffen. M.’Whinnie°) hatte in einem anderen Falle eine
wirklich beträchtliche Portion — Cleido-cervicalis s. Trachelo-
clavicularis — mit dem (with it) Levator scapulae von den
Querfortsätzen der Halswirbel (welchen?) entstanden und an-
die Mitte der Clavicula, dicht an der äusseren Seite des Sterno-
cleido-mastoideus, inserirt angetroffen. J. Wood’) hat den
1) Beiträge zur pathologischen Anatomie. Berlin 1813. 8° min.
8. 32. Nr. XXIV.
2) Dies Archiv: „Museulus cleido-cervicalis imus“.
3) Lehre von den Muskeln. Leipzig 1841. S. 170.
4) „On the anomalies in the muscular system of the human
body“ — The London medical Gazette. New-Series. Vol. II. London
1846. p. 194. Art. „Levator claviculae“.
5) Dies Archiv.
6) A. a. 0.
7) a. Op. cit. 1870, p. 88. Art.: „Levator claviculae muscle“.
b. „On some varieties in human myology* — Proceed. of the
roy. soc. of. London. Vol. XIII. London 1864, p. 300 — (Bei zwei
Subjecten beiderseitig von den Processus transversus des dritten und
vierten Halswirbels (arising with the levator anguli scapulae) zum
äusseren Drittel der Clavicula unter dem Cucullaris).
c. „Additional varieties in human myology“. — Daselbst Vol. XIV.
1865, p. 379—370, Fig. 1a. (Bei einem Subjecte beiderseitig von
dem Tuberculum posterius des dritten und vierten Halswirbels, ver-
2 bahn er = r 7
Beh) or 0 = BR SL
742 Wenzel Gruber:
Cleido-cervicalis s. Trachelo clavicularis superior, welchen er
beim Menschen, wie Tyson bei den Affen: „Levator claviculae*
nennt, unter 202 Subjecten (131 männl. und 72 weibl.) an
sechs (5 männl. und 1 weibl.) angetroffen. Bei 3 Subjeeten
war der Muskel beiderseitig, bei zwei nur linkseitig und noch
an einem männlichen Individuum an der linken Seite, wo er
vom Processus transversus des dritten Halswirbels kam und in
der Fascie, hinter der Clavicula endete, zugegen. Der Muskel
war gewöhnlich 1—1% Zoll breit, entsprang mit zwei oder
mehreren Digitationen von den Querfortsätzen des ersten und
zweiten, zweiten und dritten, dritten und vierten Halswirbels,
gemeinschaftlich mit dem Ursprung des Levator anguli scapulae,
oder vor diesem Ursprunge (in common with and in front of
the origin of the levator anguli scapulae). Er kreuzte das
Trigonum colli posterius schief und inserirte sich fleischig-sehnig
am mittleren oder äusseren Drittel der Clavicula an der medianen
Seite oder hinter den Fasern des Cueullaris. A. Macalister‘)
hatte bei einem weiblichen, mageren Subjecte auch einen Cleido-
cervicalis superior angetroffen, welcher von den oberen Hals-
wirbeln seinen Ursprung und am äusseren Drittel der Clavicula,
hinter dem Cucullaris seinen Ansatz genommen hatte.
Vergleicht man die angegebenen Fälle mit einander und
mit dem "Cleido-epistrophieus (mihi), so ergiebt sich Folgendes:
l. Der Musculus cleido-cervicalis s. trachelo-elavieularis
war ın den zwei Fällen seines Vorkommens als Gleido-atlan-
ticus entweder durch die oberste Zacke des Leevator scapulae,
welche sich mit dem Cucullaris an die Acromialportion der
Clavieula inserirte, repräsentirt (M’Whinnie erster Fall) oder
ein Muskel, welcher vor und neben der Zacke des Scalenus
medius entstanden war und an die Sternalportion der Clavicula
neben dem Cleido-mastoideus sich inserirt hatte. (Gruber.)
2. Derselbe stand in den drei Fällen seines Vorkommens
als: Cleido-epistrophicus (Gruber) mit dem Levator scapulae
in keiner Beziehung, entstand vor der Zacke des Scalenus
medius und inserirte sich neben dem Cleido-mastoideus.
3. Derselbe war, wenn er von einem oder mehreren
einiget mit den Bündeln des Levator scapulae (arising with the fibres
‚of the levator scapulae, zum äusseren Drittel der Clavicula, hinter
dem Cueullaris).
d. „Variations in human myology“. — _Daselbst. Vol. XV. 1867,
p. 230. — (Bei zwei Subjecten linkseitig, bei einem von den drei
oberen Halswirbeln vor dem (in front) Levator scapulae zur äusseren
Hälfte der Clavicula, hinter den vorderen Bündeln des Cucullaris.
e. „On a group of a varieties of the muscles ete. — Daselbst.
Vol. XVII. 1870. — (Wiederholung des früher Angegebenen.) —
1) Op. eit. p. 21 (dann) „Notes on museular anomalies in human
anatomy“. — Proceed. of the roy. Jrisch-Academie 1866, p. 7. (Steht
mir nicht zur Verfügung aber bei Wood, Philosoph. Transact. Vol.
CLX. London 1870. p. 89.
Ein Musculus eleido-epistrophicus u. s. w. 743
oberen Halswirbeln (erster — vierter) seinen Ursprung genom-:
men hatte, mit dem Levator scapulae verwachsen oder doch.
vor diesem und wenigstens am dritten und vierten Halswirbel
vom Tuberculum posterius der Querfortsätze abgegangen und
gewiss in der Regel an das äussere Drittel. oder Hälfte der:
Clavicula neben und hinter dem Cucullaris inserirt (Wood ’s
Fälle, Macalister’s Fall, M’Whinnie’s zweiter Fall?)
4. Derselbe war, wenn er vom vierten und fünften Hals-
wirbel seinen Ursprung genommen hatte, immer von dem
Tuberculum anterius der Querfortsätze abgegangen, konnte in.
keiner Beziehung zum Levator scapulae stehen, wenn er sich
auch an verschiedenen Stellen der Clavicula und selbst an
deren Schulterende inserirt hatte.
Ist dem nun so, so folgt, dass M’Whinnie’s Cleido-
atlanticus, vielleicht auch sein anderer Fall von Oleido-cervicalis;
Wood’s Fälle und Macalister’s Fall von Levator claviculae
beim Menschen analog sind dem Cleido-cervicalis s. Trachelo-
clavicularis, (Clavio-trachelien) mancher Säugethiere z. B. dem
beim Gorilla, Chimpanse, der wieder homoiog ist dem Clavio-
acromio-trachelien anderer Säugethiere, z. B. dem beim Orang-
Utang (Duvernoy) und Acromio-trachelien noch anderer der-
selben; dass aber mein Fall von Gleido-atlanticus, meine
Fälle von Cleido-epistrophicus, Theile’s Fall von
Cleido-cervicalis inferior und Kelch’s und mein Fall
von Cleido-cervicalis imus mit dem Cleido-cervicalis
(Clavio-trachelien) der Säugethiere nichts zu thun haben.
Dass der Oleido-cervicalis (Clavio-trachelien u. s. w.) bei
den Säugethieren, wie M’Whiennie’s, Wood’s und Maca-
lister’s Levator claviculae beim Menschen zum Levator sca-
pulae in Beziehung steht, kann nicht bestritten werden. Der
Acromio-trachelien der Säugethiere wurde ja von G. Cuvier‘)
früher dahin gerechnet und der Acromio-trachelien, welchen
Cuvier et Laurillard?) beim Neger, sowohl als mit drei
Zacken von den Querfortsätzen der drei oberen Halswirbel ent-
sprungen, und an der Scapula inserirt, abgebildet haben, ist
weiter nichts als die äusserste und vorderste, selbständig. ge-
wordene Portion des Levator scapulae — Omo-trachelien ou
Trachelo-seapulien, — auch ist M’Whinnie’s Oleido-atlantieus
beim Menschen die ein selbständiger Muskel gewordene, aber
an die Clavicula inserirte oberste Zacke des Levator scapulae.
Dass Kelch’s, Theile’s und meine Fälle von Cleido-
cervicales ihrem Ursprunge nach wohl mit den Scaleni, aber
nicht mit dem Levator scapulae, in Beziehung gestanden haben
und daher keine Analoga des Cleido-cervicalis (Clavio-
trachelien) der Säugethiere sein können, ergiebt sich aus den
1) Lee. d’anat. comp. 2. Edit. Tom. I. Paris 1835. p. 371.
2) Anat. comp. recueil de Planches de Myologie. Paris 1849.
Pl. VIE Rio. Vet 2,.d.
7144 Wenzel Gruber:
obigen Angaben. Dass Kelch’s und mein Fall von Cleido-
cervicalis imus und Theile’s Fall von Cleido-cervicalis inferior
wohl nur verirrte supernumeräre Scaleni waren, ist mit
Wahrscheinlichkeit anzunehmen, und dass mein Fall von Qleido-
atlanticus und meine Fälle von Cleido-epistrophicus nur die
Bedeutung von selbständigen Muskeln gewordene supernume-
rären Bündeln des Cleido-mastoideus haben, die statt
des Processus mastoideus den Atlas oder Epistropheus zum
Ursprunge wählten, wird durch die von mir gemachte Beob-
achtung des Auftretens den ganzen Üleido-mastoideus beim:
Menschen als Cleido-epistrophicus gestützt.!) 2
— Es giebt somit Mm. cleido-cervicales s. trachelo-clavi-.
culares beim Menschen, welche als Thierbildungen gedeutet
werden können, und andere Mm. cleido-cervicales, worunter
auch der von mir nachgewiesene Cleido-epistrophicus gehört,
die bestimmt keine Thierbildungen und nur dem Men-
schen eigen sind. Ob beide Arten der supernumerären Mm.
cleido-cervicales beim Menschen gleich interessant oder nur die
nach der modernen Anschauung von Interesse sind, welche
auch beim lieben Vieh vertreten sind, ist Geschmackssache. —
Besonderheiten. An der Leiche mit dem beschriebenen
M. cleido-epistrophicus war beiderseitig der M. rectus capitis
anticus medius und rechtseitig auch der supernumeräre M.
transversalis cervicis anticus (X) zugegen, welcher schon von
S. Th. Sömmering?) erwähnt, von Retzius°) als ein Muskel
angegeben worden war, der, verborgen mit dem Longus colli
verbunden, vom Processus obliquus des sechsten, fünften und
vierten Halswirbels entspringt und am dritten, zweiten und
ersten Halswirbel sich inserirt, 21 Jahre später von Luschka®)
fälschlich wie ein Muskel der Norm beschrieben worden war,
welcher von der Spitze der vorderen Spange der Querfortsätze:
der vier unteren Halswirbel mit dünnen, sehnigen Bündeln
entspringt und mit zwei sehnig-fleischigen Zipfeln unter der:
oberen Gelenkfläche des Epistropheus und gegen die Basis vom
Querfortsatze des Atlas sich inserirt.
Ueber den Rectus capitis anticus medius werde ich’) be-.
sonders handeln. Was den Transversalis cervicis anticus an-
belangt, so war dieser vom Tuberculum anterius des Querfort-
satzes des sechsten und fünften Halswirbels entsprungen und
hatte sich an das Tuberculum anterius des Querfortsatzes des
1) Dies Archiv.
2) Vergl. Baue des menschl. Körpers. Th. III. Frankfurt a. M.
1800. S. 229.
3) Forhandlinger, ved de Scandinavisk Naturforsk. 1841. p. 767.
(Bei Macalister. — A descriptive Catalogue etc. p. 44. —)
4) Die Anatomie d. menschl. Körpers. Bd. I. Abth. I. Tübingen
1862. S. 76,
ö) Dies Archiv.
Ba
ERNEST UN
Ein Musculus cleido-epistrophicus u. s. w. 745
dritten Halswirbels und vereiniget mit der Zacke des Scalenus
medius auch an den Querfortsatz des Epistropheus inserirt. —
Erklärung der Abbildung.
Hinterer Abschnitt der Schädelbasis mit dem Halse und dem
Schultergürtel der rechten Seite.
1. Schädelbasis.
2. Atlas.
3. Epistropheus.
4. Claviecula.
5. Scapula.
Musculus cleido-epistrophicus.
n cleido-mastoideus.
omo-hyoideus.
Q.
b.
@ 5
d. > rectus capitis anticus major.
e. 5 5 n 3 medius.
‘f: g x x 5 minor.
g- 2 »„ lateralis.
h. iS intertransversarius anticus 1.
i. 5 SS
R. = transversalis cervieis anticus anomalus.
l. = scalenus antieus.
mM. 5 S medius.
N. 2 5 posticus.
0. & levator anguli scapulae.
gl » splenius colli.
7. > ” capitis.
2 eueullaris.
&. Fleischbündel der Zacke des M. scalenus medius vom Atlas
zur vorderen Fläche der Ursprungssehne des Cleido-epistrophieus vom
Epistropheus.
£. Ein isolirtes, mit dem Splenius capitis verwachsenes Bündel
vom Processus mastoideus zur obersten Zacke des Splenius colli.
Institut für die practische Anatomie.
St. Petersburg i. Juni 1876.
Ueber den Musculus rectus capitis anticus medius
s. minimus.
Von
Dr. WENZEL GRUBER,
Professor der Anatomie in St. Petersburg.
(Hierzu Taf. XIX. A.)
Es giebt drei Musculi recti capitis antiei d. i. ausser dem
M. major et minor auct. noch einen M. medius s. minimus.
Der M. major ist constant; der M. minor kann fehlen und
zwar, wie ich nach Untersuchungen an 50 Cadavern gefunden
hatte, in !/,, d. F. nach Cadaver- und Seitenzahl: der M. me-
dius s. minimus kann aber öfters vorkommen. Ueber den
anomalen Musculus rectus capitis anticus medius =.
minimus (Fig. 1. c, c') lege ich nachstehende Beschreibung vor:
Vorkommen. Unter 50 Cadavern (45 männl. u. 5 weibl.)
an neun und zwar beiderseitig an fünf, rechtseitig an zwei,
linkseitig an zwei, d. i. in !/,—!/, d. F. nach Cadavern und‘
in !/,—!/, nach Seiten, etwas häufiger beiderseitig als nur ein-
seitig.
an einem Falle an der rechten Seite also in !/, d. F. nach
Cadavern und in !/,, d. F. nach Seiten war das Muskelchen
doppelt, ein inneres und ein äusseres, zugegen.
Gestalt. Eines platt-spindelförmigen oder bandförmigen
-Muskelchens, bald mit Sehnen an beiden Enden oder nur mit
einer Sehne an einem der Enden, namentlich an dem oberen
derselben.
Lage. Oben zwischen der äusseren Portion des M. rectus
capitis anticus major (vorn) und der inneren Portion des M.
rectus capitis anticus minor (hinten), von beiden, namentlich
vom letzteren, durch eine stärkere Membran oder selbst apo-
neurotisches Blatt geschieden; unter frei auf der Massa late-
rales des Atlas zwischen dem M. rectus capitis anticus major
einwärts, dem M. reetus capitis anticus minor und dem M.
a
Ueber den Musculus rectus capitis u. s. w. 747
intertransversarius anticus I auswärts. Die Muskelchen beider
Seiten stehen bis 1'8 Mm. von einander ab.
In dem Falle seiner Duplicität hatte das äussere Muskel-
chen (c') dieselbe Lage, das innere Muskelchen (c) aber lag
vom inneren Rande des M. rectus capitis anticus major bedeckt
auf dem Arcus anterior des Atlas neben dessen Tuberculum
und vor der Membrana obtur atoria anterior atlantis, neben
und am Lacertus medius — Weitbrecht — 5. Lig. atlantico-
oceipitale anticum superficiale — Barkow — (x) derselben,
am Ursprunge 1 Ctm. an der Insertion 4—5 Mm. einwärts vom
äusseren Muskelchen.
Ursprung. Gewöhnlich kurzsehnig von der Vorderseite
der Massa lateralis des Atlas, abwärts vom äusseren Pole der
Grube an der Vorderseite des Arcus anterior und der Massa
lateralis des Atlas, über dem Rande des Processus obliquus
inferior desselben und knapp über der Anheftung der Capsula
articularis atlantico-epistrophica, einwärts neben dem Ursprunge
des M. intertransversarius anticus 1.
In dem Falle seiner Duplieität entsprang das äussere
Muskelchen, wie angegeben, das innere Muskelchen aber mit
einer bandförmigen Sehne von dem Tuberculum atlantis arte-
rius (*).
Verlauf. Mässig schräg ein- und aufwärts zur Pars basi-
laris des Occeipitale.
In dem Falle mit Duplicität verlief das äussere Muskelchen
so, das innere aber stieg, gerade aufwärts.
Insertion. Gewöhnlich mit einer bandförmigen Sehne, die
immer von dem M, rectus capitis anticus minor geschieden ist,
bisweilen mit dem M. rectus capitis anticus major zusammen-
hängt, hinter dem Ansatze des letzteren und in Distanz vor
dem Ansatze der inneren Portion des ersteren.
In dem Falle mit Duplicität ging die Insertion des äus-
seren Muskelchens auf dieselbe Weise, die des inneren Muskel-
chens aber hinter dem M. rectus capitis anticus major, neben
dem Ansatze des Lig. occipito-atlanticum anticum, 5 Mm. ein-
wärts vom äusseren Muskelchen und 2 Mm. ein- und vorwärts
vom M. rectus capitis anticus minor, kurzsehnig an der Pars
basilaris des Oceipitale vor sich.
Grösse. Länge gewöhnlich 3'0—3'2 Ctm., ausnahmsweise
4—5 Ctm., wovon auf die Insertionssehne bis % oder sogar %
kommen kann; Breite am Fleischbauche 3—6 Mm., an der
Insertionssehne 2—3 Mm.; Dieke am Fleischtheile 1 3 Mm.
In dem Falle mit Duplieität an der einen Seite war das
innere Muskelchen 2'2 Ctm. lang, wovon auf die bandförmige
Ursprungssehne % der Länge kam; am Fleischbauche 3 Mm.
in transversaler Richtung und 2 Mm. in sagittaler dick und
an der Ursprungssehne 2°5 Mm. breit.
Verschiedenheit von anderen in der Gegend seiner Lage-
zung vorkommenden ungewöhnlichen Muskelbündeln.
748 Wenzel Gruber:
1. Das Muskelchen ist nicht zu verwechseln mit dem
Muskelchen, welches die selbständig gewordene, anomaler
Weise vorkommende Zacke des M. rectus capitis anticus major
vom Processus transversus des Atlas repräsentirt.!) Ich traf
diese Art supernumerärer Muskelchen unter 50 Cadavern an:
zwei an einem beiderseitig und an einem rechtseitig. Das
Muskelchen (Fig. 2, c) hatte an der Spitze des Querfortsatzes
des Atlas mit seiner 1-09—1'5 Ctm. langen, 1—2 Mm. breiten
Sehne, welche durch ihre Vereinigung mit den hier entsprin-
genden Zacken anderer Halsmuskeln (e. f.) bogenförmig gekrümmt
war, seinen Ursprung genommen, war schräg von dem M. rectus
capitis anticus minor, unten: aussen vom M. rectus capıtis an-
ticus major, oben: hinter diesem aufwärts gestiegen und hatte
sich sehnig hinter diesem, nahe dem Seitenrande der unteren
Fläche der Pars basilarıs des Oceipitale, 4 Mm. vor und unter
dem M. rectus capitis anticus minor, inserirt. Dieses Muskel-
chen war 4 Ctm. lang, 4—5 Mm. am Fleischkörper breit und
2 Mm. dick.
2. Dasselbe hat nichts gemein mit dem Verstärkungs-
bündel zu seinem medialen Rande, welches, wie Henle?) und
nach ihm Macalister?) unvollkommen entwickelt beobach-
teten, vom Epistropheus mit dem obersten Intertransversarius
anticus entspringt. Ich habe ein derartiges Bündel und auch
ein anderes mit dem Intertransversarius I verschmolzenes Bün-
del vom Querfortsatze des zweiten und dritten Halswirbels ent-
springen gesehen.
3. Dasselbe ist auch nicht gleich bedeutend mit einem
des doppelten Muskelchens, welches Macalister‘) mit dem
M. rectus capitis anticus major verbunden oder zum Lig. atlan-
tico-oceipitale anticum laufen (running into the anterioo occipito-
atlantoid ligament) gesehen hat und nicht analog jenen etlichen
Fasern (some fibres) des M. rectus capitis anticus minor, welche
Macalister®) von der vorderen Hälfte des Bogens des Atlas
entspringen und sich von dem Rest des Muskels separiren
können.
1) Von ungewöhnlichen Zacken des M. rectus capitis anticus.
major, welche von „einigen der obersten Halswirbel“, oder von „dem
Querfortsatze des ersten und zweiten Halswirbels“ entstehen, erwähnen
S. Th. v. Sömmering. — Vergl. Baue d. menschl. Körpers. Frank-
furt a. M. 1800. S. 229. J. Fr. Meckel: Handb. d. menschl. Anat.
Bad. II. Halle u. Berlin 1816. S. 476. $ 1091. — Fr. W. Theile:
Muskellehre, Leipzig 1841. S. 176. — Auch ich hatte diese Abwei-
chung mehrere Male angetroffen.
2) Handb. d. Muskellehre d. Menschen. Braunschweig 1871.
8. 137. Fig. 61.
3) A deseriptive Catalogue of muscular anomalies in human ana-
tomy. Dublin 1872. 4°. p. 44.
4) A. a. 0.
5),A.a.:0:
EN ER ER R
Ueber den Musculus rectus capitis u. s. w. 749
Besonderheiten. Mit dem beiderseitig vorkommenden
Muskelchen war in einem der Fälle an der rechten Seite der
M. cleido-epistrophicus, in einem anderen der Fälle der M.
atlantico-mastoideus an der linken Seite zugegen.
Erklärung der Abbildungen.
Fig. 1.
Rechte und mittlere Partie des hinteren Abschnittes der Schädel-
basis mit den entsprechenden Theilen des Atlas und der Epistropheus
(Ansicht von vorn bei entferntem M. rectus capitis anticus major
u.s. w.)
1. Schädelbasis.
2. Atlas.
3. Epistropheus.
Ligamentum atlantico-oceipitale anticum.
Lig. colummae vertebralis anticum.
Musculus reetus capitis anticus minor.
Musculus rectus capitis lateralis.
Museulus rectus capitis antieus medius internus.
‘'.M. rectus capitis anticus medius externus.
d.d'.Mm. longi colli (der linke weit am Lig. atlantico-occipitale
anticum hinaufreichend).
e. M. intertransversarius anticus I.
(*) Tubereulum atlantis anterius.
Fig. 2.
Partie der rechten Hälfte des hinteren Abschnittes der Schädel-
basis mit der entsprechenden Hälfte des Atlas und des Epistropheus.
1. Schädelbasis.
2. Atlas.
3. Epistropheus.
a. Musculus rectus capitis anticus minor.
b. M. rectus capitis lateralis.
c. Anomale vom Querfortsatz des Atlas entsprungene Zacke des
M. rectus capitis anticus major als selbständiger Muskel.
d. M. intertransversarius 1.
e. Zacke des M. scalenus medius.
f. Zacke des M. levator anguli scapulae.
ASFSTR
Institut f. d. practische Anatomie.
St. Petersburg i. Juni 1876.
Ein neuer Fall von
Musculus extensor hallucis longus tricaudatus.
Von
Dr. WENZEL GRUBER,
Professor der Anatomie in St. Petersburg.
Hierzu Taf. XIX. B.
Ich kenne diese Varietät des Musculus extensor hallueis
longus seit mehr als 25 Jahren. Dieselbe war mir bis 1876
in vier Fällen zur Beobachtung gekommen und zwar beider-
seitig 1 Mal; rechtseitig 2 Mal.)
Diesen Fällen kann ich einen neuen (5) Fall (Fig.) hin-
zufügen, welcher mir an der linken Seite eines Erwachsenen
am 12. März 1876 zur Beobachtung gekommen war. Das
Präparat ist in meiner Sammlung aufbewahrt.
Ursprung. Der Muskel entspringt von der Fibula, bis zu
dessen Oapitulum (bis 2—3 Ctm. von der Spitze seiner höchsten
Zacke entfernt) auf- und bis 8 Ctm. über der Spitze des
Malleolus externus abwärts, und theilweise vom Ligamentum
interosseum.
Theilung in Bäuche (Schwänze). Der Muskel (a) theilt
sich 6°5—10°5 Ctm. vom Ursprunge entfernt in drei platte,
dreiseitige, halbgefiederte Fleischbäuche, einen oberen, mittleren
und unteren, deren Bündel in dem Anfangsstücke ihrer Sehnen
am vorderen Rande enden.
Der obere kleinste Fleischbauch (x), welcher der oberen
6°5 Ctm. breit entspringenden Portion des Muskels angehört,
trennt sich 10:5 Ctm. vom Ursprunge des Muskels entfernt,
vom mittleren Bauche, ist 4 Ctm. lang und am Anfange 12 Ctm.
1) W. Gruber: a) Abhandlungen a. d. menschl. u. vergleich,
Anatomie. St. Petersburg 1852. 4° VIII. Abh. S. 123. b) „Ueber die
Varietäten des M. extensor hallueis longus.“ — Dies Archiv. 1875.
S. 568 u. 581.
Wenzel Gruber: Ein neuer Fall u. s. w. 751
breit; der mittlere grösste Fleischbauch (ß), welcher der mitt-
leren 14°5 Ctm. breiten Portion entspricht, ist am oberen, vor-
deren Rande 150 Ctm., am unteren, hinteren Rande 5'0 Ctm.
lang und am Anfange 105 Ctm. breit; der untere Fleischbauch
(y), welcher der unteren, 4 Ctm. breiten Portion des Muskels
zukommt, trennt sich 6°5 Ctm. vom Ursprunge des Muskels
entfernt vom mittleren Bauche, ist 8:5 Otm. lang und am An-
fange 2 Ctm. breit.
Ueber der Trennung des oberen Fleischbauches vom mitt-
leren begaben sich vom letzteren zur inneren Seite des ersteren
ein starkes und zur äusseren Seite ein Paar schwache Fleisch-
bündel zur inneren Seite desselben und über der Trennung des
mittleren Fleischbauches vom unteren auch ein starkes
Bündel vom letzteren zur inneren Seite des ersteren.
Lage. Wie beim Muskel der Norm.
Verlauf. Wie gewöhnlich und mit allen drei, neben ein-
ander liegenden Sehnen durch die mittlere Synovialscheide
des Lig. lambdoideum der Fascia eruro-pedica.
Ansatz. Der obere Fleischbauch' inserirt sich mit seiner
platt-rundlichen Sehne von 2:5 Mm. Breite, welche 1'4 Ctm.
lang die Fleischbündel aufnimmt und 26 Ctm. lang von Fleisch-
bündel-Aufnahme frei ist, an die Tibialseite der Basis der
ersten Phalanz der grossen Zehe; der mittlere Fleischbauch
inserirt sich mit seiner starken, platt-rundlichen, 5 Mm. breiten
Sehne, welche in einer Strecke von 12:5 Ctm. die Fleischbündel
aufnimmt und 17 Ctm. lang frei ist, an die Nagelphalanz der
grossen Zehe. Der untere Fleischbauch endlich inserirt sich
mit seiner platt-rundlichen 2'0—2°5 Ctm. breiten Sehne, welche
in einer Strecke von 4:5 Ctm. Fleischbündel aufnimmt und
11:5 Ctm. lang frei ist, mit dem 10 Ctm. langen Endstücke
der Sehne des Extensor hallucis brevis (d) verwachsenen an
die Fibularseite der Basis der ersten Phalanz der grossen Zehe.
Der Nervus peroneus profundus, nachdem er den Extensor
digitorum longus durchbohrt hatte, trat vor dem oberen Ende
des Extensor hallucis longus tricaudatus zu den Vasa tibialia
antica.. Der Musculus extensor digitorum brevis (e) hatte nur
3 Bäuche, sein vierter Bauch wurde vom M. peroneus brevis
(f) ersetzt, der eine Sehne (d) zur fünften Zehe sendete.
In den vier früheren Fällen löste sich der obere Fleisch-
bauch von der inneren oder oberen und inneren Seite des
Fleischkörpers des Muskels, in dem neuen Falle begriff er die
ganze Portion des Fleischkörpers in sich; in drei früheren Fällen
löste sich der untere Fleischbauch von der äusseren oder äusseren
und unteren Seite des Fleischkörpers desMuskels ab, in dem neuen
Falle begriff er, wie in dem Falle von 1875, die ganze untere
Portion in sich; in zwei früheren Fällen inserirte sich die Sehne
des unteren äusseren Bauches für sich an die erste Phalanz
der grossen Zehe, im neuen Falle ging die Insertion der star-
ken Sehne dieses Bauches vereinigt mit der Sehne des Extensor
hallueis brevis, wie dieselbe der schwachen Sehne desselben
752 Wenzel Gruber: Ein neuer Fall u. s. w.
Bauches in zwei anderen früheren Fällen, vor sich. — Der
Muskel im neuen Falle hatte daher nebst Gleichem manches
von den früheren Fällen Abweichendes an sich, —
Erklärung der Abbildung.
Linker Unterschenkel mit dem Fusse (bei Erhaltung nur einiger
(Muskeln).
a. Musculus extensor hallueis longus tricaudatus.
&. Oberer Bauch.
ß. Mittlerer Bauch.
y. Unterer Bauch.
b. M. extensor digitorum pedis longus.
c. M. peroneus tertius.
d. M. extensor hallucis brevis.
e. M. extensor digitorum pedis brevis.
J. Sehne des M. peroneus brevis.
g. Sehne des M. peroneus longus.
d. Sehne des M. peroneus brevis zur fünften Zehe.
Institut f. d. practische Anatomie.
St. Petersburg i. Juni 1876.
Arche Anat:u Ühyf. 1810.
|
Kamowier dd, i = = ” s > = = 2 e|
e Dannenberg del, W. Grehmann se.
Ueber eine
congenitale Articulatio hyo-thyreoidea anomala.
Von
Dr. WENZEL GRUBER,
Professor der Anatomie in St. Petersburg.
(Hierzu Taf. XIX. C.)
Vorgekommen an der Leiche eines Weibes in den hohen
Zwanzigern am 19. April 1876. (Fig. 1, 2.)
Os hyoideum. Dieses ist theilweise missgebildet. Seine
Cornua minora sind noch gelenkig vereiniget, seine Cornua
majora aber mit dem Corpus vollständig knöchern verwachsen.
Am Corpus und an der Cornua minora ist nichts Ungewöhn-
liches zu bemerken, wohl aber an den Cornua majora. Das
Cornua majus der linken Seite ist zwar wie gewöhnlich be-
schaffen und sein Capitulum in verticaler Richtung comprimirt,
in dieser 3:5 Mm. dick und in transversaler Richtung 6 Mm.
breit, aber sein äusserer Rand liegt gegen die Norm etwas
höher als der unsere. Das Cornu majus der rechten Seite (A),
sieht wie geknickt und O-förmig gekrümmt aus, ist mit der
6 Mm. tiefen Concavität aufwärts gerichtet und an seiner
unteren Seite mit einem Tuberculum anomalum versehen.
Die vordere Portion, welche */, seiner Länge entspricht,
liegt horizontal, die hintere Portion, welche °/, seiner Länge
einnimmt, steigt schräg auf- und rückwärts. Die horizontale
Portion (a) stellt eine länglich-vierseitige, etwas gekrümmte
Platte dar, mit einer oberen und unteren Fläche, mit einem
äusseren und inneren Rand. Die obere Fläche ist concav in
sagittaler und convex in transversaler Richtung und nach aussen
abhängig; die untere Fläche ist an der vorderen, grösseren
Partie concav und weiset am hinteren Endtheile das genannte
Tubereulum anomalum (e), welches an der unteren Seite eine
überknorpelte Fläche, also Gelenkfläche (x) besitzt, die sattel-
förmig und zwar convex in transversaler und concav in sagit-
taler Richtung gestaltet ist.
Reichert’s u, du Bois-Reymond’s Archiv 1876, 48
754 Wenzel Gruber:
Von den Rändern ist gegen die Norm der innere der
dickere; das hintere Ende des äusseren Randes ist entsprechend
dem Tuberculum an der unteren Fläche in eine stumpfe Zacke
(d) ausgezogen. Die aufsteigende Portion (b) stellt einen drei-
seitigen Stiel dar, mit einer vorderen äusseren sehr convexen,
hinteren äusseren und inneren fast planen Fläche, welcher an
seinem freien Ende in ein ovales Capitulum (c) angeschwollen
ist. Die horizontale Portion nimmt in sagittaler Richtung an
Breite (von 7’zu 8 Mm.) zu und in transversaler Richtung von
innen nach aussen (von 3—5 Mm. zu 1—2 Mm.) an Dicke ab.
Die stumpfe Zacke am äusseren Rande ist 2:5 Mm., das Tuber-
culum an der unteren Fläche ist 6 Mm. in sagittaler und 8 Mm.
in transversaler Richtung dick. Die aufsteigende Portion nimmt
gegen das Capitulum bis 3 Mm. an Dicke ab, ist am 5—6 Mm.
langen Capitulum aber wieder bis 4 Mm. dick. Der Abstand
der Enden des rechten Cornu majus ist um : Mm. kürzer als
derselbe des linken Cornu.
Larynx. Die Cartilago thyreoidea ist deform. Ihr oberer
Rand weiset gegen die Norm zwischen der Incisura media und
den Incisurae laterales an jeder Lamina einen fast geradlinigen,
schwach schräg aus- und rückwärts aufsteigenden Abschnitt
auf. An der Grenze zwischen diesem Rande und der Incisura
media findet sich ein stumpfer Winkel; an der Grenze aber
zwischen demselben Rande und den Incisurae laterales, schräg
vorwärts über dem Tuberculum laminae an der linken Lamina
eine kurze dreiseitige Zacke, an der rechten Lamina sogar ein
starker Processus vor. Auch ist die Stellung des rechten
Cornu majus eine abnorme.
Der Processus anomalus der rechten Lamina (f) erhebt
sich wie die angegebene kleine Zacke an der linken Lamina,
zwischen dem fast geradlinigen Abschnitte des oberen Randes
und der Ineisura lateralis, schräg vor und über dem Tuberculum
Jaminae, mit einer dreiseitig-prismatischen Basis, die eine vor-
dere äussere, hintere äussere und innere Seite aufweiset,. Er
steigt etwas schräg rückwärts zum Tuberculum anomalum des
Cornu majus des Os hyoideum aufwärts, ist an seiner Mitte
fast cylindrisch und wie eingeschnürt und endet etwas ange-
schwollen und abgestutzt. An diesem Ende hat er eine sattel-
förmige in transversaler Richtung concaye und in sagittaler-
Richtung convexe Gelenkfläche (8) zur Articulation mit dem
genannten Tuberculum anomalum am Os hyoideum.
Dieser Processus hat folgende Durchmesser: Höhe 8 Mm.
Dicke an der Basis in sagittaler Richtung 9-10 Mm., Dicke an
der Basis in transversaler Richtung vorn 2 Mm., hinten 5 Mm.,
Dicke am Ende in sagittaler und transversaler Richtung je 8 Mm.
Der Processus anomalus ist mit dem Tuberculum anomalum
des Cornu majus des Os hyoideum durch eine starke aber
straffe Gelenkkapsel (y) vereiniget, die eine vollständige Be-
wegung des Os hyoideum auf dem genannten Processus ano-
Ueber eine congenitale Artieulatio u. s. w. 755
malus oder dieses am Os hyoideum in sagittaler Richtung, aber
nur eine geringe Bewegung in transversaler Richtung gestattet.
Das supernumeräre Gelenk — Articulatio hyo-thyreoidea —
(e, /, &, 8, y) ist daher ein Ginglymus.
Das linke Cornu majus hat die gewöhnliche schräge Rich-
tung, das rechte (9) aber hat eine verticale Richtung. Ersteres
ist 11—12 Mm., letzteres 9—10 Mm. lang, jenes auch etwas
stärker als dieses.
Das Ligamentum hyo-thyreoideum medum verhält sich
wie gewöhnlich; das Lig. hyo-thyreoideum laterale der rechten
Seite ist 1’6 Ctm., das der linken Seite 1'8 Ctm. lang. Die
Ligamenta hyo-thyreoidea lateralia enthalten kein Corpuseulum
triticeum.
Die rechte Hälfte des Spatium hyo-thyreoideum, seitwärts
vom Lig. hyo-thyreoideum medium, ist durch den Processus
anomalus der Cartilago thyreoidea in eine vordere und hintere
Lücke geschieden. Die medianwärts vom Lig. hyo-thyreoideum
medium seitwärts vom Processus anomalus u. s. w. begrenzte
vordere Lücke ist abgerundet-dreiseitig; die vorn vom Processus
anomalus der Cartilago thyreoidea, hinten von dem Cornu majus
derselben und dem Lig. hyo-thyreoideum laterale, oben von der
aufsteigenden Portion des rechten Cornu majus des Os hyoideum
und unten von der Incisura lateralis der rechten Lamina der
Cartilago thyreoidea begrenzte hintere Lücke ist elliptisch, in
verticaler Richtung 2'4 Otm. und in sagittaler Richtung bis
2 Mm. weit.
Das Tubereulum und die Linea obliqua sind an beiden
Laminae der Cartilago thyreoidea gut ausgesprochen. Die linke
Lamina weiset unter und hinter dem Tuberculum und 8 Mm.
abwärts von der Ineisura lateralis superior das bekannte Loch
für die Arteria laryngea superior auf; die rechte Lamina besitzt
deren zwei für Aeste derselben Arterie, wovon eines vor dem
Tubereulum in fast gleicher Höhe mit der Incisura lateralis
superior, das andere 7—8 Mm. tiefer hinter der Linea obligqua
und an der Mitte zwischen dem Cornu majus und minus sitzt.
Der‘ Angulus, die Processus und Incisurae am unteren
Rande und die hinteren Ränder der Cartilago thyreoidea ver-
halten sich wie gewöhnlich.
Messungen der Cartilago thyreoidea ergeben folgende
Durchmesser: Höhe an Angulus 1’5 Ctm., Höhe der Laminae
im Bereiche des grössten Vorsprunges des oberen Randes in
einer vor dem Tuberculum und hinter dem Processus des un-
teren Randes gezogen gedachten Linie an der rechten Lamina
3-2 Ctm., Höhe an der linken Lamina 25 Ctm., Höhe zwischen
dem Ende des Processus anomalus am oberen Rande und der
Spitze des Processus des unteren Randes an der rechten La-
mina 3'3 Ctm., Höhe zwischen der Zacke am oberen Rande
und dem Processus am unteren Rande an der linken Lamina
48”
756 Wenzel Gruber:
2-5 Ctm., Höhe zwischen den Spitzen der Cornua jeder Lamina
2:5 Otm.
‘ Die Cartilago thyreoidea ist frühzeitig ossifieirt: am Pro-
cessus anomalus, an einem Punkte unterhalb des Cornu majus
der rechten Lamina, an einer kleinen Stelle des hinteren Randes
jeder Lamina, längs beiden Incisurae laterales inferiores an den
Processus des unteren Randes und an den Cornua inferiora.
Die übrigen Cartilagines und die Musculatur zeigen nichts
Ungewöhnliches. Die Insertion des Musculus hyo-thyreoideus
der rechten Seite war am Os hyoideum, vorwärts von der
Artieulatio hyo-thyreoidea anomala vor sich gegangen. Die
Arteria lingualis dextra hatte wie gewöhnlich über dem Cornu
majus hinter dem M. hyo-glossus ihren Verlauf genommen.
Der Nervus laryngeus superior dextra war hinter dem Pro-
cessus anomalus in den Kehlkopf gedrungen.
Einen diesem Falle ähnlichen Fall hat Luschka!) er-
wähnt und abgebildet. Die anomale Articulation war an einem
männlichen Kehlkopfe der linken Seite vorgekommen. Das
Cornu superius der Lamina dieser Seite fehlte. Im langen
Lig. hyo-thyreoideum laterale, nicht weit abwärts vom Capitu-
lum des Os hyoideum, war ein Corpusculum triticeum, welches
Luschka für das abgelöste Cornu superius der Cartilago thy-
reoidea deutete, eingeschlossen.
Erklärung der Abbildungen.
Kie.T.0®
Weiblicher Larynx mit dem Os hyoideum (Ansicht von vorn bei
aufgehobenem Os hyoideum). N
ie. 2
g- 2.
Dasselbe Präparat. (Ansicht von der rechten Seite.) Bezeichnung
für beide Figuren:
. Cornu majus der rechten Seite des Os hyoideum,
Horizontale Portion.
Schräg rückwärts aufsteigende Portion.
Ovales Capitulum.
Stumpfe Zacke am äusseren Rande.
Tuberculum anomalem an der unteren Fläche.
Processus anomalus des oberen Randes der rechten La-
mina der Cartilago thyreoidea.
Cornu majus der rechten Lamina der Cartilago thyreoidea.
Sattelförmige Gelenkfl. am Tubereulum des Os hyoideum,
Sattelförmige Gelenkfläche am Ende des Processus ano-
malus der Cartilago thyreoidea.
y. Capsula hyo-thyreoidea anomala. (Vorn geöffnet.)
Institut £. d. practische Anatomie.
St. Petersburg i. Juni 1876.
BR mrÄaSTsh
5 1) Der Kehlkopf d. Menschen. Tübingen 1871. S. 69. Tab, V.
ig. 14.
Ein Musculus
cleido-cervicalis s. trachelo-clavicularıs imus.
Von
Dr. WENZEL GRURER,
Professor der Anatomie in St. Petersburg.
Zur Beobachtung gekommen am 9. Januar 1869 an der
rechten Seite der Leiche eines Jünglings.
Ein schmaler, dünner, an beiden Enden kurzsehniger,
bandförmiger Muskel.
Ursprung. Vom Höcker des vorderen Querfortsatzes des
sechsten Halswirbels-Tuberculum caroticum Chassaignac. —
Verlauf. Schräg ab-, aus- und vorwärts, zuerst hinter
dem Cleido-mastoideus, dann 4 Mm. aus- und rückwärts von
demselben; dann vor der Zwischensehne des Omohyoideus und
vor den Gefässen des Trigonum omo-claviculare zur Clavicula.
Ansatz. Am hinteren oberen Rande der Clavicula, 4 Ctm.
von der Articulatio sterno-clavicularis auswärts, neben dem
Cleido-mastoideus, also noch am inneren Drittel der Länge der
Clavicula, oder an der Verbindung des inneren mit dem mitt-
leren Drittel.
Grösse. Seine Länge betrug 5°5 Ctm.; seine Breite 4 Mm.;
seine Dicke 1—2 Mm.
Bedeutung. Einen gleichen, davon nur durch seine Länge
und etwas grössere Stärke verschiedenen Muskel hatte meines
Wissens nur noch W. G. Kelch!) an der rechten Seite eines
männlichen Körpers, dem beide Omo-hyoidei fehlten, beobachtet.
Der Muskel dieses Falles war 6 Mm. breit und hatte sich an
der unteren Fläche des Schulterendes der Clavicula befestiget.
Der Muskel beider Fälle ist als ein auf die Olavicula verirrter
supernumerärer Scalenus zu nehmen. Weil er in Kelch’s
Falle an das Arcomialende der Olavicula sich inserirte, ist
1) Beiträge zur pathologischen Anatomie. Berlin 1813. 8° min
S. 32. Nr. XXIV.
Ei ) "le
in Musculus
man noch nicht Becher ihn als Analogen des von den < Ale
Halswirbeln kommenden und an die Extremitas acromialis nn F
thiere, der zum Levator ne in cha steht, zu er
klären. A
Institut f. d. practische Anatomie.
. St. Petersburg i. Juni 1876.
Vorkommen des Musculus cleido-mastoideus als
Musculus cleido-epistrophicus.
Von
Dr. WENZEL GRUBER,
Professor der Anatomie in St. Petersburg.
Mir ist dieser Fall im Januar 1855 an der Leiche eines
Mannes zur Beobachtung gekommen.
Der Musculus sterno-cleido-mastoideus war an beiden Seiten
in die gewöhnlichen Portionen: Sternalportion — M. sterno-
mastoideus — und QClavicularportion — M. cleido-mastoideus —
geschieden.
Der M. cleido-mastoideus inserirte sich wie der Muskel
der Norm an der Clavicula, aber er entsprang nicht vom
Processus mastoideus, sondern mit einer platt-rundlichen,
schmalen Sehne vom Querfortsatze des Epistropheus.
Ob diese Abweichung beiderseitig oder nur einseitig exi-
stirt hatte, weiss ich, nach 21 Jahren, nicht mehr mit voller
Sicherheit anzugeben, da in der Notiz über diese Beobachtung
in dem XVII. Hefte meiner Jahresbücher darüber nichts ver-
zeichnet ist. Jedenfalls muss der Cleido-mastoideus, abgesehen
von seinem Ursprunge, sich ähnlich wie der Muskel der Norm
verhalten haben, weil, wenn dieses nicht der Fall gewesen wäre,
sicher eine Angabe darüber gemacht worden wäre.
In diesem Falle ist somit der Cleido-mastoideus mit ge-
wöhnlicher Insertion selbst als Cleido-epistrophicus auf-
getreten. Ich erwähne dieser Beobachtung jetzt, weil seine
Kenntniss für die Deutung des supernumerären Oleido-epistro-
phieus, welchen ich in einem anderen Artikel abhandele, von
Wichtigkeit ist.
R. Owen!) giebt an, dass er bei einem Orang-Utang den
Cleidaltheil des Sterno-cleido-mastoideus an den Querfortsatz des
Epistropheus ansetzen gesehen hatte. Owen scheint mit die-
sem Qleidialtheil beim Orang-Utan wohl nicht den Olavio-
1) On the anatomy of Vertebrates. Vol. III. London 1868. p. 53.
760 Wenzel Gruber:
trachelien — Duvernoy — gemeint zu haben wie. wirklich
W. Vrolik) in Betreff des Muskel vom Querfortsatze
des zweiten Halswirbels zur Clavicula neben dem Acromion,
weil G. Cuvier et Laurillard?) beim Orang-Utan nebst dem
Sterno-cleido-mastoideus mit einer Sternal- und Clavicular-
portion auch den Acromio-trachelien abgebildet haben und
Duvernoy°) bei demselben Thiere nebst einem Sterno-cleido-
mastoideus mit einer Sternal- und doppelten Clavicularportion
auch einen Ülavio-trachelien unterscheidet, der sich an die
Extremitas acromialis der Olavicula und etwas an das Acromion
befestiget, und nach ihm, wie beim Gorilla, wohl vom Tuber-
culum anterius des Atlas entspringt.
Hätte Owen unter dem Cleidaltheil des Sterno- cleido-
mastoideus beim Orang-Utan den Cleido-mastoideus wie z. B.
Cuvier und Duvernoy verstanden, so würde beim ÖOrang-
Utan der gewöhnliche Cleido-mastoideus auch, und wohl aus-
nahmsweise, als Cleido-epistrophicus, wie in meinem Falle beim
Menschen vorkommen können. Dieser Cleido-epistrophicus
beim ÖOrang-Utan würde ganz verschieden sein von Vrolik’s
Cleido-epistrophicus dieses Thieres, welcher analog dem Cleido-
cervicalis (Levator claviculae Tyson, Acromio-trachelien Cuvier,
Olavio-trachelien Duvernoy) bei den Affen und anderen Säuge-
thieren.
Institut f. d. practische Anatomie.
St. Petersburg i. Juni 1876.
1) Recherches d’anat. comp. sur le Chimpanse. Amsterdam 1841.
Fol. p. 25.
2) Anat. comparee recueil de planches de myologie. Paris 1849.
Fol. Pl. XV. Fig. 2. bb‘, d.
3) Des characteres anatomiques des grands singes pseudoanthro-
pomorphes Mem. III. — Arch. du Museum d’hist. nat. Tom. VIII. 4°,
Paris 1855—1856, p. 175—176. —
Ein Musculus cleido-atlantieus.
Von
Dr. WENZEL GRUBER,
Professor der Anatomie in St. Petersburg.
Zur Beobachtung gekommen an der linken Seite eines
Mannes im November 1862.
Ein sehr langer und schmaler Muskel.
Ursprung. Vom Processus transversus des Atlas, ueben
der Zacke des Scalenus medius medianwärts, mit einer 1-2—
15 Otm. langen, strangförmigen Sehne.
Verlauf. Fast gerade abwärts zur Clavicula, zuerst hinter
dem Cleido-mastoideus, dann neben diesem im vorderen Winkel
des Trigonum omo-trapezoideum und, nach Kreuzung des un-
teren Bauches des Omo-hyoideus, über dem Trigonum omo-
claviculare in abwärts allmählich zunehmender Distanz vom
Cleidomastoideus, zur Clavicula.
Ansatz. An die Clavicula 1:3—2 Ctm. auswärts vom An-
satze des Cleido-mastoideus, mit einer membranartigen Sehne.
Bedeutung. Der Muskel ist verschieden von dem von
M.’Whinnie!) erwähnten Cleido-atlanticus. Letzterer wird durch
die erste vom Atlas entspringende, anomaler Weise mit dem
vorderen Rande des Cucullaris an die Clavicula inserirte und
als ein. besonderer Muskel abgelöste Portion des Levator anguli
scapulae repräsentirt; er wird auch vom Verfasser als Analogon
des Levator claviculae — Tyson — beim Örang-Utang und
anderen Thieren gedeutet. M.’Whinnie’s Üleido-atlanticus
ist also eine selbstständig gewordene Zacke des Levator
anguli scapulae und eine Thierbildung; unser Cleido-
atlanticus aber ist ein abirrendes und selbstständig gewordenes
Bündel des Oleido-mastoideus und keine Thierbildung.
Institut f. d. practische Anatomie.
St. Petersburg i. Juni 1876.
1) The London medical Gazette. New-Series. Vol. II. London
1846. p. 194.
Beiträge zur Lehre von der Leukämie.
Von
Dr. GEORG SALOMON,
erstem Assistenten an der medicinischen Universitätsklinik zu Berlin.
Unter den zahlreichen Publicationen über Leukämie, welche
uns die letzten Jahre gebracht haben, befindet sich nur eine
einzige, die sich mit chemischen Fragen beschäftigt. Die
Gründe dieser Erscheinung treten bald zu Tage, wenn man die
Literatur bis zum Jahre 1870 einer Durchsicht unterzieht.
£ine Zeit lang war durch Mosler’s zahlreiche Mittbeilungen
ein gewisses Interesse für das Hypoxanthin, als einen für die
lienale Leukämie charakteristischen Harnbestandtheil, wach
erhalten worden. Durch Salkowski’s eingehende Unter-
suchungen!) büssten nun Mosler’s und seiner Schüler Befunde
ihre Stütze ein und das Interesse für die Xanthinkörper nahm
ab, um so mehr, als ihr spärliches Vorkommen sie zu einem
ziemlich undankbaren Untersuchungsobject machte. Der Haupt-
repräsentant dieser Gruppe, nämlich die Harnsäure, war zur
Genüge studirt, und ihr vermehrtes Auftreten im Harn von
verschiedenen Forschern constatirt worden, ohne dass damit
ein sicherer Gewinn für das Verständniss des Krankheits-
processes erzielt worden wäre. Die Resultate schienen eben
der angewandten Mühe nicht zu entsprechen und naturgemässer
Weise trat die aussichtsreichere mikroskopische Forschung in
den Vordergrund.
Was bis zum Jahre 1870 über die chemische Zusammen-
setzung des leukämischen Blutes und Harnes bekannt geworden
war, findet man bei Salkowski?) zusammengestellt, und be-
gnügen wir uns auf seine Abhandlung zu verweisen. In der
leukämischen Milz hatte Scherer schon vor geraumer Zeit
Glutin, Hypoxanthin, Milchsäure und Harnsäure nachgewiesen.
1) Virchow’s Archiv. Bd. L.
2) A.a. OÖ
dan art
u a. = mg
Beiträge zur Lehre u. s. w. 163
Salkowski selbst fand im leukämischen Blut Milchsäure,
Hypoxanthin, Xanthin, Ameisensäure, Essigsäure und eine
phosphorhaltige organische Säure (vielleicht Glycerinphosphor-
säure); ausserdem einen Körper von den physikalischen Eigen-
schaften des Glutins, der aber beim Zersetzen mit Schwefel-
säure kein Glycocoll lieferte. lm Harn constatirte er neben
Vermehrung der Harnsäure das Vorkommen eines dem Hypo-
xanthin nahestehenden Körpers, den er aber cebensowohl aus
normalem Harn darstellen konnte. Reichardt!) bestätigte
‚den Befund für das Blut, vermisste jedoch die Milelısäure;
nebenbei fand er einen bisher noch unbeschriebenen Körper,
das „Albukalin“. Im Harn sah er die Menge der Harnsäure
‚ebenfalls gesteigert; Hypoxanthin fand er nicht. — Die Arbeit
von Gorup-Besanez, welche erst drei Jahre später erschie-
nen ist,?2) beschäftigt sich nur mit dem leukämischen Blut.
G. untersuchte mit positivem Erfolge anf Glutin und Hypo-
xanthin, mit negativem auf Milchsäure. Um gewöhnliches
Glutin konnte es sich übrigens auch in seinem Falle nicht
handeln, da bei der Untersuchung im Polarisationsapparat eine
Linksdrehung nicht nachzuweisen war.
Die nachfolgenden Untersuchungen schliessen sich denen
‚der oben genannten Autoren an und liefern weitere Beiträge
zu der noch allzu spärlichen Casuistik. Sie beschäftigen sich mit
dem Nachweis des Glutins, der Milchsäure und des Hypoxanthins
in. Milz, Blut und Harn leukämischer Individuen und bringen
eine kleine -Anzahl quantitativer Bestimmungen dieser Körper,
so genau ausgeführt, wie es das complicirte Darstellungsver-
fahren eben zuliess. Das Material und zugleich auch die An-
regung zu diesen Studien boten zwei Fälle von lienaler Leu-
kämie, die im Lauf der Jahre 1875 und 1876 im städtischen
allgemeinen Krankenhause behandelt wurden und beide im
Frühjahr 1876 zur Obduction kamen. Meinem damaligen
Chef, dem ärztlichen Director der inneren Abtlıieilung Hrn.
Dr. Riess, bin ich für die liberale Ueberlassung der Kranken-
geschichten, sowie für manchen freundlichen Rath zu grossem
Dank verpflichtet.
Objecte der chemischen Analyse waren in dem einen von
mir selbst klinisch beobachteten Falle Harn, Milz und Blut, in
dem anderen ausschliesslich das Blut. Letzteres war in beiden
Fällen der Leiche entnommen. Während des Lebens eine
Blutentziehung vorzunehmen, erschien aus ärztlichen Rücksichten
unzulässig, um so mehr, weil die Blutmenge, die man aus
einigen Schröpfköpfen oder durch einen gewöhnlichen Aderlass
erhält, für unsere Zwecke doch nicht genügt haben würde.
Zur Controle der am leukämischen Blut gewonnenen Resultate
diente eine grosse Quantität Blut, die. aus der Pleurahöhle
1) Jenaische Zeitschr. Bd. V. S. 389.
2) Sitzungsber. der phys. med. Soc. zu Erlangen. 1873,
TR NE TE EN a RR SE aan 26 ee
{ 4 { £ ur k $ 1 EN RT
764 G. Salomon:
eines nicht leukämischen, an carcinomatöser Pleuritis leidenden
Individuums durch Thoracocentese entleert worden war.
Die Methoden zur Trennung, Reindarstellung und Prüfung
der einzelnen Substanzen sind die von Salkowski angewandten.
Ich kann hinsichtlich ihrer Begründung auf seine oben eitirte
Abhandlung verweisen und beschränke mich hier auf eine
kurze Skizze des Untersuchungsganges.
I. Prüfung auf Glutin, vorgenommen am wässrigen
Auszug der Milz und am Blut. — Die in bekannter Weise
enteiweissten Flüssigkeiten wurden eingedampft, mit Alkohol
gefällt, der Niederschlag mit Alkohol gewaschen, zwischen
Fliesspapier abgepresst und zur Prüfung der Quellungsfähigkeit
mit kaltem Wasser übergossen; dann wurde das Product durch
Anwärmen gelöst, mit Bleiessig von Farbstoffen und Eiweiss-
resten befreit, das Filtrat vom Bleiniederschlag entbleit, die
Reaction gegen Tannin geprüft. In einem Falle wurde zur .
Darstellung von Glycocoll eine Zersetzung mit Schwefelsäure
vorgenommen. Auf optische Untersuchungen musste wegen
allzu dunkler Färbung der Lösungen Verzicht geleistet werden.
Il. Prüfung auf Harnsäure, Hypoxanthin und
Xanthin, vorgenommen am wässrigen Auszuge der Milz, am
Blut und am Harn. — Die alkoholischen Extracte (vgl. oben)
wurden eingedampft, die Rückstände in H,O gelöst, zur Aus-
fällung der Phosphate mit ammoniakalischer Magnesiamischung,
seltener mit Ammoniak versetzt,!) das Filtrat mit ammonia-
kalischer Silberlösung gefällt, der flockige, die Xanthinkörper
enthaltende Niederschlag auf dem Filter bis zum Verschwinden
der Chlorreaction gewaschen, in Wasser fein vertheilt, mit H,S
zerlegt, heiss filtrirt.°) Das Filtrat vom Schwefelsilber zur
Trockne gedampft, mit SO, (1:30) in der Wärme extrahirt,
der ungelöste Rückstand (Harnsäure) der Murexidprobe unter-
worfen. Das Filtrat ammoniakalisch gemacht, auf’s Neue mit
AsNO, gefällt, der Niederschlag bis zum Verschwinden der
SO,-Reaction gewaschen, in einen Kolben gebracht und nach
Neubauer’s Verfahren) in heisser Salpetersäure gelöst; beim
Erkalten fiel etwa vorhandenes Hypoxanthin als salpetersaures
Silber-Hypoxanthin in mikroskopischen Krystallen (Büscheln
1) Beim Harn bildete die Ausfällung der Phospbate den Anfang
des ganzen Verfahrens; es folgte darauf, wie beim Blut, die Fällung
der Filtrate mit ammoniakalischer Silberlösung u. s. w.
2) Hierbei geht fast immer Schwefelsilber durch’s Filter. Im
späteren Verlauf meiner Arbeiten habe ich daher stets nach Sal-
kowski’s Rath mit dem Schwefelsilber zur Trockne gedampft und
den Rückstand mit heissem Wasser behandelt. In einzelnen Fällen
habe ich dieses Verfahren mehrmals wiederholen müssen, ehe es ge-
lang alles Silber zu entfernen.
3) Neubauer und Vogel, Anleitung zur Analyse des Harns.
6. Aufl. S. 24.
en ne I
Beiträge zur Lehre u. s. w. 765
langgestreckter, zuweilen fast nadelähnlich schmaler rhombischer
Prismen) aus, meist verunreinigt mit etwas Xanthin. Nach
Feststellung der Krystallform wurde mit H,S zerlegt, heiss
filtrirt, unter Zusatz von NH, eingedampft, mit heissem Wasser
aufgenommen; beim Erkalten fiel Hypoxanthin in mikro-
skopischen Krystallen aus. — Das Filtrat vom salpetersauren
Silber-Hypoxanthin wurde mit NH, übersättist, ein etwa ent-
standener flockiger Niederschlag (Xanthinsilber) mit H,S zer-
legt, heiss filtrirt, eingedampft, mit NH, aufgenommen; beim
Verdunsten schied sich Xanthin in gelblichen Blättern ab.
Es folgten nun die von Salkowski eingehend besprochenen
Reactionen zur Feststellung der Identität des Xanthins resp.
des Hypoxanthins. Wie schon oben erwähnt, wurden auch
quantitative Bestimmungen des Hypoxanthins ausgeführt, deren
Resultate aber natürlich durch die Zersetzlichkeit der feuchten
Silberniederschläge häufig beeinträchtigt wurden. Während der
zeitraubenden Procedur des Auswaschens tritt fast regelmässig
eine leichte Bräunung ein, und ganz besonders neigen zu einer
raschen Zersetzung solche Niederschläge, die aus nicht ganz
frischem Material stammen. Dagegen hält sich salpetersaures
Silber-Hypoxanthin, das bei gewöhnlicher Zimmertemperatur
auf dem Filter eingetrocknet ist, wochenlang unverändert. —
Ill. Prüfung auf Milchsäure, vorgenommen an Milz,
Blut und Harn. — Das ammoniakalische Filtrat vom ersten
Silberniederschlage (vgl. oben) wurde mit SO, neutralisirt, vom
ausgeschiedenen AgCl abfiltrirt, das Filtrat mässig eingedampft,
stark mit SO, angesäuert, mit viel Aether ausgeschüttelt; der
Rückstand vom Aether mit kaltem Wasser behandelt, filtrirt,
das Filtrat durch Eindampfen bis zur Syrupsdicke von flüch-
tigen Säuren befreit, der Rückstand in Wasser gelöst, mit ZnCO,
gekocht, wieder filtrirt und zur Krystallisation. stehen gelassen.
Was nach einigen Tagen ausgeschieden war, wurde mikro-
skopisch untersucht, endlich der Gehalt an Krystallwasser und
an Zink festgestellt. Das Zink wurde als kohlensaures Zink
bestimmt.
Einige Male wurde die Prüfung auf Milchsäure der auf
die Xanthinkörper vorangeschickt. Die wässrige Lösung des
Rückstandes vom alkoholischen Auszuge wurde in diesen Fällen
sofort mit SO, angesäuert und mit Aether ausgeschüttelt, die
nach der Aetherbehandlung restirende saure Flüssigkeit mit
NH, übersättigt, filtrirt, das Filtrat mit AgNO, gefällt u. s. w.
Die Modification ist für den Erfolg der Untersuchung ohne
besondere Bedeutung, da die Gegenwart des schwefelsauren
Ammoniaks bei der Darstellung der Xanthinkörper keinen stö-
renden Einfluss übt,
Im Harn wurde theils nach dem oben gegebenen Schema,
theils direct und ausschliesslich auf Milchsäure gearbeitet. Zur
Entfernung störender Bestandttheile, wie z. B. der Farbstoffe,
der Hippursäure, dienten dabei Fällungen mit Bleizucker und
766 G. Salomon:
Bleiessig, die theils im Harn selbst, theils in den wässrigen
Lösungen der Aetherrückstände ausgefübrt wurden. Die ent-
bleiten Filtrate wurden in der bereits beschriebenen Weise
weiter behandelt.
Ich gehe nun zur Mittheilung meiner ersten Kranken-
geschichte über.
Anamnese. H. H., ein 27jähriger Cigarrenarbeiter, vom
18. bis zum 21. Jahre viel mit Geschwüren behaftet, sonst
gesund, erkrankt im Juni 1874 mit profusen blutigen Diar-
rhöen, Schmerzen im Leibe, Beklemmungen, allgemeiner Mat-
tigkeit. Im Winter 74—75 vorübergehende Besserung; Ende
Januar 75 jedoch bereits Wiederkehr der Beschwerden. Auf-
nahme ins Krankenhaus am 16. Februar 1875.
Stat. praes. Kräftig gebauter, jedoch sehr blasser und
abgemagerter Mann. Enormer, die Linea alba nach rechts um
6 Ctm. überschreitender, indolenter Milztumor. Maximale Ver-
mehrung der weissen Blutkörperchen (Verhältniss zu den rothen
etwa wie 1:2). Drüsen und Knochengerüst ohne wahrnehmbare
Veränderung. — Häufige blutig-wässrige Stühle; Mattigkeit,
Schlaflosigkeit, kein Fieber. Ord. Opium, warme Bäder. —
Rasche Besserung aller Beschwerden; Entlassung am 8. April.
Beschaffenheit des Blutes und der Milz wie bei der Aufnahme.
Mehrere Monate vergehen ohne wesentliche Störung. Im
August plötzliche Verschlimmerung (zunehmende Anschwellung
des Leibes und der Füsse, Schlaflosigkeit, Mattigkeit). Ende
September bildet sich unter bedeutenden Schmerzen ein Abscess
am rechten Kieferwinkel, der den Patienten am 11. October
zum zweiten Mal der Anstalt zuführt.
Stat. praes. Abmagerung weiter vorgeschritten; Oedeme
der Beine, besonders links stark ausgesprochen. Milz noch
grösser als früher, über die convexe Fläche gemessen 55 Ctm.
lang. Apfelgrosser Abscess am rechten Kieferwinkel. Blut
unverändert; systolisches Geräusch am Herzen. — Heftige
Schmerzen, Schlaf gänzlich fehlend.
Ineision des Abscesses, von schwer stillbarer Nachblutung
gefolgt. Einige Tage später Erysipel des Gesichts und des
Kopfes mit 6tägigem hohen Fieber. Während der Dauer des
letzteren verkleinert sich die Milz in allen Dimensionen, die
Länge von 55 auf 39, die Höhe in der Linea alba von 22 auf
16 Ctm. Das früher starre Organ ist in Folge der Dicken-
abnahme biegsam geworden.
Von Ende November bis Ende Januar leidliches Befinden,
nur grosse Neigung zu Abscessbildungen (im Velum palatinum,
am Öberkiefer, hinter dem linken Ohr); die Milz wieder grösser.
Im Februar nimmt die Schwäche des Patienten allmählich zu,
so dass er das Bett hüten muss. Es stellen sich Athemnoth
und Stiche in der rechten Seite ein. Am 10, Februar wird
eine rechtsseitige Bronchopneumonie constatirt. Patient ver-
fällt rasch und stirbt am 15. Februar Morgens 8 Uhr.
Beiträge zur Lehre u. s. w. 767
Section 8 Stunden nach dem Tode. Obd. Dr. Kühne-
mann. Anatomische Diagnose: Leucaemia lienalis. Tumor
lienis (Länge 41, Breite 23:5, Dicke 9-5 Ctm.; Gewicht 4390
Grm.). Tumor hepatis. Endocarditis aortica. Pneumonia catar-
rhalis lobi inferioris pulmonis dextri. Pleuritis fibrinosa recens
dextra. Oedema pulmonum. Hydropericardium.
Das Knochenmark der Claviceula, das Sternum und der
Rückenwirbel zeigte keine pathologische Veränderung.
Zur chemischen Untersuchung wurden die Milz, die
Pericardialflüssigkeit und das Blut gewählt. Letzteres wurde
mit grosser Sorgfalt gesammelt und zwar in zwei Portionen,
deren eine (A) den reinen Inhalt des Herzens und der grossen
Gefässe darstellte, während die andere (B) geringe Beimen-
gungen von peritonäalem Transsudat enthielt.
I. Milz.
. Das blaurothe, sehr derbe Organ wurde unmittelbar nach
Beendigung der Section in Streifen zerschnitten, fein zerhackt
und in einem grossen Küchenreibenapf mit einer hölzernen
Keule portionsweise zu Brei verrieben, eine Operation, die
nahezu 3 Stunden in Anspruch nahm. Die Masse blieb, mit
8 Litern Wasser übergossen, an einem kühlen Ort über Nacht
stehen. Am nächsten Tage wurde durch Leinwand colirt, der
ausgepresste Rückstand mit Wasser soweit erschöpft, dass nur
eine faserige, ziemlich zähe Masse zurückblieb. Die vereinigten
Filtrate wurden, in mehrere Portionen vertheilt, unter Zusatz
von Essigsäure coagulirt und weiter behandelt, wie oben
(S. 763) beschrieben.
Nach dem Eindampfen bis zur dünnen Syrupconsistenz
erstarrte das enteiweisste Filtrat zu einer festen durchschei-
nenden Gallerte, deren Oberfläche von einer Krystallhaut über-
zogen war. Sie wurde durch Anwärmen gelöst und mit starkem
Alkohol gefällt. Der noch mässig eiweisshaltige Niederschlag
wurde in Wasser gelöst, mit Bleiessig gefällt; das entbleite
Filtrat lieferte, vorsichtig eingedampft, eine sehr schöne klare
gelbliche Gallerte. Letztere wurde von Neuem gelöst, mit
Alkohol in der Wärme gefällt, nach 24stündigem Stehen der
Niederschlag gesammelt, gewaschen und abgepresst. Beim
Uebergiessen mit kaltem Wasser entstand allmählich eine be-
trächtliche Quellung, und nur ein geringer Theil des Nieder-
schlages ging mit bräunlicher Farbe in Lösung.
Da der gequollene Niederschlag noch etwas durch Bleiessig
fällbare Substanz enthielt, so wurde er noch einmal gelöst
und mit dem genannten Reagens behandelt. Das entbleite
Filtrat schien hinreichend rein, um auf Glycocoll verarbeitet
zu werden. Es wurde 3 Stunden mit Schwefelsäure am Rück-
Ausskühler gekocht, mit BaCO, neutralisirt, das Filtrat vom
schwefelsauren Baryt verdünnt, noch einmal mit Bleiessig ge-
fällt, filtrirt, H,S eingeleitet, das Filtrat vom Schwefelblei zur
768 G. Salomon:
Syrupdicke eingeengt. Im Verlauf von 14 Tagen schied sich
eine geringe Menge sehr harter mikroskopischer Krystalle aus.
Die Mutterlauge wurde abgegossen, die Krystalle zwischen
Fliesspapier abgepresst, in heissem Wasser gelöst, mit CuO
gekocht, filtrirt, die dunkelblaue Lösung eingedampft. Es bil-
deten sich im Verlauf einiger Tage mikroskopische Krystalle
von der Form langgestreckter rhombischer Prismen. (Glycocoll-
Kupferoxyd.) Hiernach konnte der Nachweis des Glycocolls
als erbracht angesehen werden. Von einer optischen Unter-
suchung hatten wir, wie bereits oben erwähnt, Abstand nehmen
müssen.
Die vom Glutin abfiltrirte alkoholische Lösung hinterliess
beim Verdunsten einen reichlichen braunen Rückstand, der in
Wasser gelöst und zunächst durch Fällen mit Bleizucker,
Filtriren, Entbleien und nochmaliges Filtriren gereinigt wurde.
Im Filtrat wurden nach dem oben geschilderten Verfahren
Xanthinkörper und Milchsäure aufgesucht. Es ergab sich, dass
bei der Behandlung mit dreiprocentiger Schwefelsäure Nichts
ungelöst blieb, Harnsäure also nicht vorhanden war.
Die Thatsache war um so auffallender, als ein ungewöhnlich
grosses Material in Arbeit genommen war. In dem Bleizucker-
niederschlag konnte die Harnsäure nicht wohl vermuthet werden,
da sie nur nach langem Stehen in diesen überzugehen pflegt.
Eine Untersuchung des Niederschlages fiel denn auch, wie zu
erwarten war, negativ aus. Dem Darstellungsverfahren eine
Schuld beizumessen lag natürlich noch weniger Grund vor, da
die Methode der Silberfällung an Feinheit sicher von keiner
Art des U-Nachweises übertroffen wird. Dass bei der gewöhn-
lichen Methode der Harnsäurebestimmung mittelst Zusatz von
Salzsäure nicht unerhebliche Mengen von U gelöst bleiben, die
durch ammoniakalische Silberlösung leicht gefällt werden, ist
durch Salkowski’s Untersuchungen hinlänglich bekannt ge-
worden. Ich kann aber ausserdem noch einen directen Beweis
für die Genauigkeit der Silbermethode beibringen. Es gelang
mir mit ihrer Hülfe eine kleine Menge sehr schöner Harnsäure-
krystalle aus dem Blute eines durch Halsschnitt getödteten
Hahnes darzustellen, während Meissner!) zu dem gleichen
Zwecke das Blut von 10—18 Exemplaren verwenden musste
und Pawlinoff?) bei der Untersuchung des Blutes von 13,
resp. 20 und 41 Hühnern nur in dem ersten Falle ein positives
Resultat erhielt. Die Harnsäure war allerdings, wie dies bei
kleinen Mengen nicht selten vorkommt, mit in die schwefelsaure
Lösung übergegangen, hatte sich aber nach 24stündigem Auf-
bewahren in der Kälte ausgeschieden. Es erhellt daraus, dass
die letztgenannte Vorsichtsmaassregel sorgfältige Berücksichti-
gung verdient. Sie ist für alle zweifelhaften Fälle unerlässlich
1) Henle’s und Pfeufer’s Zeitschr. (3) XXXI, 144—223,
2) Centralbl. f. d. med. Wissensch. 1873. Nr. 16.
a ac
Beiträge zur Lehre u. s. w. 769
und wurde auch bei der Untersuchung der Milz nicht ausser
Acht gelassen.
Keine Schwierigkeiten bereitete dagegen der Nachweis des
Hypoxanthins. Es wurde eine beträchtliche Menge der salpeter-
sauren Silberverbindung dargestellt und zunächst. die characte-
ristische Beschaffenheit der mikroskopischen Krystallform con-
statirt; darauf wurde durch Zerlegen des Doppelsalzes mit H,S
das Hypoxanthin für sich gewonnen. Es stellte ein hellgelb-
liches, aus sehr kleinen mikroskopischen Krystallbüscheln zu-
sammengesetztes Pulver dar, das sich leicht in Salpetersäure,
ziemlich leicht auch in NH, löste. Beim vorsichtigen Ein-
dampfen mit Salpetersäure entstand eine blassgelbe Färbung;
der Rückstand zeigte die Krystallformen des salpetersauren
Hypoxanthins.') Beim Eintragen in ein Gemisch von Chlor-
kalk und Natronlauge trat keine Grünfärbung auf. — Die
Menge des Hypoxanthins wurde zu 0'238 Grm. bestimmt.
Xanthin erhielt ich durch Zerlegung des Silbersalzes in
geringer Menge als gelbe Krystallhaut. Die Gelbfärbung rührte
jedenfalls von zu starker Einwirkung der Salpetersäure und
dadurch bedingter Bildung eines Nitrokörpers her; ich habe
sie niemals ganz vermeiden können.
Das Filtrat vom ersten Silberniederschlag der Xanthin-
körper wurde nicht dem Schema entsprechend sofort auf Milch-
säure geprüft, sondern erst eine andere Untersuchung voran-
geschickt. Nach dem Entsilbern setzte nämlich die mässig
eingedampfte Flüssigkeit im Verlauf einiger Tage eine dunkel-
gefärbte Krystallmasse ab. Diese wurde von der Mutterlauge
getrennt, gut abgepresst und unter Zufügen von Thierkohle mit
heissem Alkohol behandelt. Das Filtrat hinterliess beim Ver-
dunsten eine blättrige Masse, mikroskopisch zusammengesetzt
aus blassen fetttropfenähnlichen Kugeln, allem Anschein nach
Leuein. — Der Rückstand von der Alkoholbehandlung löste
sich leicht in NH,. Die Lösung lieferte beim Verdunsten eine
fast weisse, aus feinen mikroskopischen Nadelbüscheln zusammen-
gesetzte Krystallmasse, deren Lösung beim Kochen mit saurem
salpetersaurem Quecksilberoyxd einen rothen Niederschlag gab.
Die Piria’sche Tyrosinprobe (Bildung von Tyrosinschwefelsäure)
misslang zwar; indessen glaubte ich mit Rücksicht darauf, dass
schon von anderer Seite gelegentlich ein Fehlschlagen dieser
Reaction beobachtet worden ist, den Nachweis von Tyrosin auch
ohne sie für genügend erachten zu dürfen. Das Gewicht des
trocknen Tyrosins betrug 0808 Grm.
Die vom Leuein und Tyrosin abgegossene Mutterlauge
wurde äusserer Umstände halber erst mehrere Monate später
auf Milchsäure verarbeitet und zwar mit negativem Erfolg.
1) Vgl. dieAbbildung bei Frey. (Das Mikroskop, Leipzig 1873,
S. 280.
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1876. 49
TO G. Salomon:
Der Grund lag möglicherweise in einer Zersetzung des in
relativ starker Verdünnung aufbewahrten Präparats.
Il. Blut.
A. Reines Blut aus dem Herzen und den Ge-
fässen (1555 Cetm.) Die schmutzig himbeerrothe mit zahl-
reichen gelben wurstartigen Gerinnseln untermischte klumpige
Masse wird 24 Stunden p. m. im Reibenapf zerquetscht und
unter Zusatz von Essigsäure in siedendes Wasser eingetragen.
Weitere Bearbeitung nach S. 763 ff.
Glutin wurde nicht gefunden, ebensowenig Harnsäure.
Die Menge des Hypoxanthins (aus dem Gewicht der schön
krystallisirten salpetersauren Silberverbindung berechnet) betrug
0'116 Grm. Eine Zerlegung der letzteren zur Darstellung des
Hypoxanthins wurde nicht vorgenommen.
Das Filtrat vom salpetersauren Silber-Hypoxanthin gab,
mit NH, übersättigt, einen flockigen Niederschlag, vermuthlich
Xanthinsilber.
Sehr reich war die Ausbeute an Milchsäure. Das nach
S. 764 dargestellte milchsaure Zink, ein schneeweisses Pulver,
wog 1'5 Grm., woraus sich ein Procentgehalt an Milchsäure
von 0'064 ergiebt. Die mikroskopische Krystallform entsprach
der von Hoppe-Seyler') gegebenen Beschreibung; es waren
wohlgebildete mitunter etwas bauchige vierkantige Säulen,
theils isolirt, theils in Drusen angeordnet. Dazwischen kamen
vereinzelte radiär angeordnete Nadelbüschel vor, von denen ich
nicht zu entscheiden wage, ob sie die Zinkverbindung der von
Salkowski erwähnten phosphorhaltigen Säure oder einfach
eine andere Krystallform des milchsauren Zinks darstellten.
Wahrscheinlicher ist mir letztere Annahme, da man bei
‘schnellem Verdunsten das milchsaure Zink gar nicht selten:
in ähnlicher Form sich abscheiden sieht.
Um die Identität der Milchsäure sicher zu stellen, nahm
ich eine Bestimmung des Krystallwassers und des Zinkgehaltes
vor. Hierbei musste sich zugleich ergeben, ob es sich um
Gährungs- oder Fleischmilchsäure handelte, da das Zinksalz
der ersteren mit 3 Mol., das der letzteren mit 2 Mol. Kırystall-
wasser krystallisirt.
ZnO. Krystallwasser.
‘Gefunden: 33°3 pCt. des wasserfreien Salzes 131 pCt.
Berechnet: 33°4 pCt. des wasserfreien Salzes 12'3 pCt. (F.)
15:2 pCt.(G.)
Hiernach war die Gegenwart von Milchsäure und zwar
von Fleischmilchsäure im Blut mit hinreichender Sicherheit
bewiesen.
B. Blut mit Transsudatflüssigkeit vermengt. (1000
‘Cetm.) Gleichmässig graurothe gut coagulirte Masse. Beginn der
1) Handb. d. physiol.-chem. Analyse. 3. Aufl. S. 89.
Beiträge zur Lehre u. s. w. 1
Untersuchung 24 Stunden p. m.; Gang derselben wie oben.
Gefunden wurden: Hypoxanthin in beträchtlicher Menge als
salpetersaure Silberverbindung von der gewöhnlichen Krystall-
form; Xanthin in geringer Menge als gelbliche Krystallhaut.
Nicht gefunden wurden Glutin und Harnsäure. Auf Milch-
säure wurde nicht untersucht.
IN. Pericardialflüssigkeit. (210 Octm.)
Helles, vollkommen klares Fluidum. Beginn der Unter-
suchung 10 Stunden p. m.
Von dem gewöhnlichen Gange wurde hier insofern ab-
gewichen, als die ziemlich aussichtslose Untersuchung auf
Harnsäure unterblieb. Der erste Silberniederschlag wurde des-
wegen nicht noch einmal mit H,S zerlegt, sondern sofort in
heisser Salpetersäure gelöst, natürlich nach sorgfältigem Aus-
waschen. Letztere Procedur machte übrigens wegen der
schleimigen Beschaffenheit des Niederschlages grosse Schwierig-
keiten; die Filtration stockte gleich zu Anfang. Ich setzte
deswegen das nasse Filter in eine vielfache Schicht etwas
grösserer Filter ein und liess, indem ich die äusseren Lagen
des Filtrirpapiers jedesmal, wenn sie durchfeuchtet waren,
durch neue ersetzte, eine ziemliche Menge Waschwasser hin-
durchsaugen.
Aus der heissen Salpetersäure krystallisirte das salpeter-
saure Silberhypoxanthin hier in makroskopischen Krystallen
aus. Es waren wie gewöhnlich langgestreckte rhombische
Prismen, die aber nicht zu Drusen, sondern nur zu kleineren
Gruppen von 3—4 vereinigt waren. Die Zerlegung mit H,S
unterblieb der zu geringen Menge wegen.
Glutin wurde nicht aufgesucht, Milchsäure trotz vielfacher
Bemühungen nicht gefunden.
IV. Urin.
Die Diurese des Pat. H. war meist etwas reichlicher als
in der Norm, der Urin stets sauer, vom specifischen Gewicht
1014—1020, frei von Eiweiss. Häufig kamen reichliche Sedi-
mente von reiner Harnsäure, untermischt mit harnsäuren Salzen
zur Beobachtung,
Noch bei Lebzeiten des Kranken wurde der Harn zweimal
auf Hypoxanthin resp. Milchsäure verarbeitet. Zuerst ergab
die Untersuchung einer 5tägigen Quantität nach beiden Rich-
tungen ein negatives Resultat. Bei der zweiten an einer
gleichen Harnmenge vorgenommenen Untersuchung erhielt ich
im Filtrat von der Harnsäure mit ammoniakalischer Silber-
lösung einen geringen Niederschlag, der sich in heisser HNO,
löste und beim Erkalten ausfiel, jedoch nicht in Krystallen,
sondern völlig amorph; einige äusserst spärliche Krystalle von
dem Aussehen des salpetersauren Silber-Hypoxanthins waren
beigemengt. Milchsäure fehlte auch diesmal vollständig.
49*
772 6. Salomon:
Eine dritte nur auf das Hypoxanthin gerichtete Unter-
suchung wurde endlich post mortem an 9650 Cctm. in den
letzten Lebenstagen gesammelten Urins ausgeführt. Auch hier
trat an Stelle des krystallisirten salpetersauren Silber-Hypo-
xanthins ein amorpber mit vereinzelten Krystallen untermischter
Körper auf. Er wurde mit H,S zerlegt. Die schliesslich er-
haltene Lösung des Xanthinkörpers trübte sich bald durch Aus-
scheidung makroskopisch leicht sichtbarer Nadeln.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass es sich hier um den
von Salkowski beschriebenen hypoxanthinähnlichen Körper
handelte. Die beiden Hauptkriterien, die amorphe Beschaffen-
heit der salpetersauren Silberverbindung und die makroskopische
Krystallform des daraus dargestellten Xanthinkörpers, treffen
zu. Leider gestattete, wie so oft bei Untersuchungen auf die-
sem Gebiet, die geringe Ausbeute keine regelrechte Prüfung.
Ebenso wie Salkowski haben wir eine hypoxanthin-
ähnliche Substanz auch im nicht leukämischen Harn gefunden,
die sich indessen von der seinigen wieder etwas unterscheidet.
Wir werden darüber unten zu berichten haben.
Die Notizen über den zweiten Krankheitsfall verdanke ich
der Güte meines Collegen am Krankenhause Hrn. Dr. Schlötke,
in dessen Behandlung sich der Patient befand. Ich gebe hier
einen kurzen Auszug des Journals.
Anamnese. H.F., ein 32jähriger früher gesunder Kellner,
hat im Herbst 1874 an einem hartnäckigen Wechselfieber ge-
litten. Im Winter 74—75 bildet sich unter heftigen Schmerz-
anfällen eine Geschwulst hinter dem linken Rippenbogen, es
treten Oedeme der Beine auf. Ailmählich stellen sich Mattig-
keit, Beklemmungen, Schwindel ein; der Tumor wächst rasch
bei fortschreitender Abmagerung. Kurz vor der am 10. No-
vember 1875 erfolgten Aufnahme ins Krankenhaus öfters pro-
fuses Nasenbluten,
Stat. praes. Mittelgrosser Mann von bleicher Gesichts-
farbe; an den Beinen leichte Oedeme. Sehr bedeutende Ver-
grösserung der Milz und der Leber; erstere überschreitet nach
rechts hin die Mittellinie. Keine Drüsenanschwellungen.
Weisse Blutkörperchen enorm vermehrt. Urin trübe, sauer,
1025, kein Eiweiss.
In den nächsten Tagen bildet sich unter lebhaften Schmerzen
ein Abscess an der Wade. Öefters mässiges Nasenbluten.
Am 20. November Abends erbricht Pat. plötzlich ca. 500
Cetm. dunkler blutiger Flüssigkeit, eine halbe Stunde später
die gleiche Menge. Während der Nacht mehrere theerartige
Stühle. Morgens 5 Uhr ergiesst sich aus dem Munde des Pat.
plötzlich ein dicker Strahl hellrothen Blutes; Patient wird blass,
‚pulslos und stirbt nach wenigen Minuten. Die Gesammtmenge
der seit dem 20. Abends ausgeworfenen grossentheils rein blu-
tigen Massen betrug ca. 5000 Cetm.
Section am 22. November 75. Obd. Dr. Kühnemann.
Beiträge zur Lehre u. s. w. ie
Anatomische Diagnose: Leucaemia lienalis. Hyperplasia
permagna lienis et hepatis. Infaretus lienis. Gastritis chro-
nica. Uleus ventriculi cum arrosione arteriae permagnae. Oe-
dema pulmonum. Anaemia cordis, renum, pulmonum .....
Sanguis in ventriculo .....
In Arbeit wurden genommen: 1,560 Cetm. graurothen dick-
flüssigen Blutes aus dem Herzen und den grossen Gefässen.
2,1485 Cetm. coagulirten, schmutzig-rothen, geruchlosen Blutes
ohne jede Beimengung von Speiseresten, welche den Inhalt des
strotzend gefüllten Magens gebildet hatten.
I. Blut aus den Gefässen (560 Cetm.) Glutin und
Harnsäure wurden, wie in dem ersten Falle, nicht gefunden;
dagegen konnte eine ziemliche Menge salpetersauren Silber-
Hypoxanthins dargestellt werden. Die Ausbeute an Hypoxan-
thin, aus dem Trockengewicht des letzteren berechnet, belief
sich auf 0:07 Grm. Bei der mikroskopischen Untersuchung
fanden sich zwischen den regelmässig gebildeten Krystall-
büscheln des salpetersauren Silber-Hypoxanthins Spuren einer
amorphen gelblich gefärbten Substanz. Xanthin wurde in ge-
ringer Menge erhalten.
Aus dem Filtrat vom Silberniederschlage der Xanthin-
körper gewann ich milchsaures Zink als schneeweisses, schön-
krystallisirtes Pulver. Die Menge betrug 0'238 Grm. Es wurde
eine Krystallwasserbestimmung vorgenommen, welche bewies,
dass es sich auch hier um Fleischmilchsäure handelte (gefunden
12:3 pCt., gefordert 12:8 pCt... Die Zinkbestimmung verun-
glückte zu meinem grossen Bedauern.
H. Blut aus dem Magen. (1485 Cetm.) Glutin wurde
nicht gefunden, ebensowenig Harnsäure. Die Menge des Hypo-
xanthins betrug nur 0:05 Grm., was auf eine ziemlich starke
Verdünnung des in den Magen ergossenen Blutes schliessen
lässt. Das mikroskopische Verhalten der salpetersauren Silber-
verbindung stimmte mit dem für das reine Blut beschriebenen
überein.
Auf Milchsäure wurde nicht untersucht, weil der Nachweis
dieser Substanz in einer aus dem Magen stammenden Flüssig-
keit doch nur von sehr zweifelhaftem Werth gewesen sein
würde.
Eine vergleichende Zusammenstellung unserer Blutanalysen
zeigt eine im Ganzen befriedigende Uebereinstimmung in den
Resultaten. In beiden Fällen war mit Sicherheit Hypoxanthin
nachgewiesen, in beiden Fällen die gleiche Modification der
Milchsäure aufgefunden worden. Es erschien mir deswegen
interessant, in einem Controlversuche am nicht leukämischen
Blute zu prüfen, ob Hypoxanthin und Fleischmilchsäure als
specifische Bestandtheile des leukämischen Blutes zu betrachten
wären oder nicht. Abgesehen von einer älteren Angabe von
Scherer ist über das Vorkommen von Hypoxanthin im nor-
774 G. Salomon:
malen resp. nicht leukämischen Blute bisher Nichts berichtet.
Salkowski!) konnte aus Rinderblut nur „geradezu verschwin-
dend kleine Mengen eines in Ammoniak unlöslichen (Silber)-
Niederschlages* darstellen und ist deswegen geneigt, bis auf’
Weiteres dem von ihm im leukämischen Blut nachgewiesenen
Hypoxanthin eine gewisse Bedeutung beizumessen. Was die
Milchsäure betrifft, so war zwar ihr gelegentliches Auftreten
in normalem Blut und Transsudaten ziemlich sichergestellt,
jedoch der specielle Nachweis von Gährungs- resp. Fleisch-
milchsäure hier ebensowenig wie am leukämiscnen Blut geführt
worden.
Ein günstiger Zufall führte mir ein für diese Fragen sehr-
werthvolles Untersuchungsmaterial zu. Am 20. Februar 1876
wurde im städtischen Krankenhause bei dem an carcinomatöser-
Pleuritis leidenden Patienten B. wegen bedrohlicher Athemnoth
die Thoracocentese vorgenommen. Es wurden etwa 3000 Cctm.
einer Flüssigkeit gewonnen, die sich dem äussern Ansehen:
nach in Nichts von reinem Blut unterschied, unter dem Mikro-
skop nur dichtgedrängte rothe Blutkörperchen zeigte und von
flockigen Beimengungen gänzlich frei war. Mein College am:
Krankenhause, Herr Dr. Fleischer, hatte die Güte, mir das
von ihm nach andern Richtungen untersuchte Object zur wei-
teren Verwerthung zu überlassen, und fand ich so die Gelegen-
heit, an einer aus dem lebenden Körper stammenden, von
reinem Blute wenig verschiedenen Flüssigkeit die mich inter-
essirenden Fragen zu studiren.
Die Flüssigkeit war gleich nach der Punction ohne Zeit-
verlust enteiweisst, eingedampft und mit Alkohol extrahirt
worden. Der nach dem Verdunsten des Alkohols gebliebene
Rückstand wurde nun nach dem bereits mehrfach geschilderten
Verfahren auf Hypoxanthin und Milchsäure untersucht.
Ich erhielt einen ziemlich reichlichen Niederschlag mit
ammoniakalischer Silberlösung, der mit H,S zerlegt wurde.
Hierbei gingen leider durch einen unglücklichen Zufall fast */,
des Präparats verloren. Der Rest, welcher keine Harnsäure
enthielt, lieferte einen zweiten Silberniederschlag, der in heisser
Salpetersäure gelöst beim Erkalten in mikroskopischen Kry-
stallen sich ausschied. Die Krystallform glich anfangs nicht
ganz der des salpetersauren Silber-Hypoxanthins; es kamen
abnorm gestaltete, an den Enden umgebogene oder unter wel-
ligen Biegungen in eine feine Spitze auslaufende Exemplare
vor. Einige Wochen später waren jedoch diese eigenthümlichen
Formen verschwunden und an ihre Stelle die gewöhnlichen
Krystallbüschel des salpetersauren Silber-Hypoxanthins getreten.
Die quantitative Bestimmung der Substanz wurde durch den
unvorhergesehenen Verlust vereitelt; die schliesslich erübrigte
1). A. a..0. 8. 37.
Beiträge zur Lehre u. s. w. 775
Menge war zu gering, um eine weitere Zerlegung mit H,S
rathsam erscheinen zu lassen.
Die Untersuchung auf Milchsäure lieferte ein weisses Zink-
salz von der bekannten, auch hier’ wieder sehr wohl ausgeprägten
Krystallform. Die Menge des Salzes betrug 0'35 Grm., der
Krystallwassergehalt 11'8 pCt., das Gewicht des Zinkoxyds
342 pCt. (letztere Zahl auf das Gewicht des bei 120° getrock-
neten Salzes bezogen). Ein Vergleich mit den durch die
Rechnung geforderten Procentsätzen (s. oben) lehrt, dass es
sich hier ebenso wie beim leukämischen Blut um Fleischmilch-
säure handelte.
Anhangsweise sei hier noch erwähnt, dass auch unser mit
Salkowski’s Angaben übereinstimmender Befund am Harn
des Leukämikers einer Controlprobe am nicht leukämischen
Harn unterworfen wurde. Wir fanden in 6000 Cetm. nicht
leukämischen Harns ebenfalls einen hypoxanthinähnlichen Kör-
per, der hinsichtlich der amorphen Form seiner salpetersauren
Silberverbindung mit Salkowski’s Substanz übereinstimmte.
Ein Unterschied bestand dagegen insofern, als der rein dar-
gestellte Körper nicht in makroskopischen Krystallen, vielmehr
völlig amorph aus seiner Lösung ausfiel und durch kein Mittel
zum Krystallisiren zu bringen war. Wir müssen es dahin-
gestellt sein lassen, ob dieser Differenz im Befunde ein beson-
derer Werth beizulegen ist.
Das Gesammtresultat der obigen Untersuchungen ist für
die Annahme von specifischen Bestandtheilen im leukämischen
Blut und Harn entschieden ein ungünstiges. Sowohl die Milch-
säure als auch besonders das Hypoxanthin haben im nicht leu-
kämischen Blut ihre Analoga gefunden. Für den Harn konnten
Salkowski’s gegen die Specificität sprechende Befunde be-
stätigt werden, wenn auch nicht mit Gewissheit, so doch mit
grosser Wahrscheinlicheit. Weitere Untersuchungen müssen
lehren, ob das Glutin des leukämischen Blutes, welches wir
freilich in unsern beiden Fällen vermissten, mit grösserem
Recht den Namen eines specifischen Bestandtheils beanspruchen
darf. Neben dem Glutin verdienen die zuerst von Charcot
im leukämischen Blute gefundenen, von Zenker!) kürzlich
ausführlich besprochenen Krystalle, sowie das Reichardt’-
sche „Albukalin“ die Aufmerksamkeit künftiger Forscher.
Deutlich genug sind die quantitativen Unterschiede im
Milchsäure- und Hypoxauthingehalt des leukämischen und nicht
leukämischen Blutes hervorgetreten. Das leukämische Blut
enthielt an Milchsäure 0'064 resp. 0'050 pCt., das des Carcinom-
kranken nur 0'007. Was den Hypoxanthingehalt betrifft, so
vermag ich denselben zwar für das nicht leukämische Blut mit
Zahlen nicht zu belegen. Indessen war der Mehrgehalt des
1) Archiv f. klin. Med. Bd. XVII. H. ı.
1776 G. Salomon:
leukämischen Blutes zweifellos ein sehr bedeutender, meiner
Schätzung nach der 5—10fache.
Von den Detailergebnissen möchte ich die wichtigeren
noch einmal kurz berühren. Zunächst gehört hierher der Nach-
weis, dass aus dem Glutin der leukämischen Milz durch Kochen
mit Schwefelsäure Glycocoll sich bildet. Es wird dadurch seine
nahe Verwandtschaft mit dem gewöhnlichen Glutin bewiesen.
Bemerkenswerth ist, dass das Glutin des leukämischen Blutes
sich anders verhielt. Salkowski konnte aus ihm kein Gly-
cocoll gewinnen und nahm, gleichzeitig gestützt auf den von
Gorup-Besanez!) constatirten Mangel der optischen Wirk-
samkeit, an, dass es sich um einen eigenthümlichen, vom ge-
wöhnlichen Glutin verschiedenen Körper handeln müsse.
Nächstdem ist der Nachweis von Hypoxanthin im nicht
leukämischen Blute zu erwähnen, der früher noch nicht mit
genügender Schärfe geführt worden war, jetzt aber durch die
Krystallform und die Löslichkeitsverhältnisse der salpetersauren
Silberverbindung wohl gesichert erscheint. Freilich besteht ein
Bedenken gegen die Verallgemeinerung meiner Beobachtung.
Es ist die Frage, ob man berechtigt ist, einen rein blutigen
Pleuraerguss von einem unter dem Einfluss heftiger Dyspnöe
stehenden Individuum in chemischer Beziehung normalem Blut
gleichzusetzen. Was mich bestimmte, trotz dieser Bedenken die
Flüssigkeit für meine Untersuchungen zu verwenden, war die
Erwägung, dass ich auf andere Weise schwerlich jemals in den
Besitz einer so grossen Menge Blut vom lebenden Individuum
gelangen würde. Für eine Wiederholung der Untersuchung
würde ich indess selbst gesammeltes Aderlassblut von gesunden
Personen vorziehen.
Von allgemeinerem Interesse ist endlich der durch Krystall-
wasserbestimmung und Analyse der Zinksalze geführte Nach-
weis von Fleischmilchsäure im Blut. Es ist zu vermuthen, dass
sie aus den Muskeln, ihrer seit langer Zeit bekannten Bildungs-
stätte ausgewaschen und im Blute bis auf geringe Reste rasch
zerstört werde, dagegen unter pathologischen Verhältnissen,
besonders bei gehemmter Oxydation zu relativ grossen Mengen
sich ansammeln könne. Etwas auffallend erscheint unserem
Befunde gegenüber eine Beobachtung von Gscheidlen,?) nach
welcher die saure Reaction der Grosshirnrinde nicht durch
Fleischmilchsäure, sondern durch Gährungsmilchsäure bedingt ist.
Für den speciellen Zweck dieser Untersuchungen war es
von Belang, dass die Identität der im nicht leukämischen Blute
vorkommenden Milchsäure mit der des leukämischen Blutes
festgestellt werden konnte.
Schliesslich hebe ich als Bestätigung eines bisher wenig
beachteten interessanten Befundes den Nachweis des hypo-
1). A. a. 0.
2) Pflüger’s Archiv. Bd. VIII. 1873.
xanthinähnlichen Körpers im leukämischen Harn hervor. Ich
zweifle nicht, dass man bei Verarbeitung sehr grosser Urin-
mengen zu einer genaueren Kenntniss dieses, vielleicht sogar
noch anderer unbekannter Xanthinkörper gelangen werde.
Unter allen Umständen kann demjenigen, der sich dieser frei-
lich etwas mühseligen Aufgabe unterziehen will, die Silber-
methode als sehr brauchbar empfohlen werden.
Die vorstehenden Untersuchungen sind theils im städtischen
Krankenhause, theils im chemischen Laboratorium des Anatomie-
gebäudes ausgeführt worden.
Einige Bemerkungen
über die Injection von Leichen.
Von
Dr. L. STIEDA,
o. Professor der Anatomie in Dorpat.
Bekanntlich injieirt man zum Zweck des Studiums und
des Unterrichts die Blutgefässe von Leichen oder Leichen-
theilen mit farbigen Massen. Kaltflüssige Mischungen, wie z.
B. die von Shaw, von Weber und anderen Anatomen angege-
benen werden verhältnissmässig selten gebraucht, obgleich zu
ihrer Anwendung die Leiche oder die Leichentheile nicht be-
sonders vorbereitet werden müssen. — Gewöhnlich wird seit
Swammerdamm eine erwärmte und in der Kälte erstarrende
Wachsmischung in Gebrauch gezogen. Es verlangt aber die
Wachsmischung eine gehörige Durchwärmung der Leiche oder .
der Leichentheile, wenn die Injection in gehöriger Weise ge-
lingen soll (Hyrtl, Handbuch der practischen Zergliederungs-
kunst, Wien 1860, S. 617), Das Erwärmen geschieht durch
Eintauchen der betreffenden Leichen oder Leichentheile in
heisses Wasser. Diese Anwendung der feuchten Wärme hat
grosse Nachtheile: die zeitweilige Erhitzung befördert die
Fäulniss der Leichentheile in bedeutendem Grade; zugleich
findet eine Durchtränkung der Oberhaut mit Wasser statt und
in Folge davon eine solche vollständige Maceration, dass die
Epidermis sich in grossen Fetzen ablöst, die entblösste Cutis
aber eintrocknet und der Präparation grosse Schwierigkeiten
bereitet.
Um die hervorgehobenen Nachtheile der Anwendung der
feuchten Wärme zu vermeiden, habe ich seit Jahren die
trockene Wärme mit Erfolg benutzt. Das dabei anzuwen-
dende Verfahren habe ich bereits im Jahre 1870 in diesem
Archiv mitgetheilt. (Eine Notiz über die Injection von Leichen
S. 753 u. 754.) So weit es mir bekannt geworden, hat die
empfohlene Methode keine Nachahmung gefunden, — aus dem
einfachen Grunde, weil derartige kolossale Oefen mit Nischen,
A a IE A ERDE N EN AU AURREN ER ME a IS En ha Pau 1
L. Stieda: Einige Bemerkungen u. s. w. 1779
dass sie sich zur Erwärmung von Leichen eigneten, nur hier
im Norden zu finden sind und weil man keine Lust hatte, be-
sondere Heizapparate, welche die Anwendung der trocknen
Wärme erlaubte, zu bauen. —
Allein auch bei der von mir empfohlenen Anwendung der
trocknen Wärme bleibt der durch die Erwärmung bedingte
Nachtheil der Beschleunigung der Fäulniss. Ich suchte daher
nach einer Methode, welche den Gebrauch der üblichen Wachs-
masse ohne vorhergegangene Erwärmung der Leiche zulässt.
Eine solche Methode besteht in Folgendem:
In die Gefässe der Leiche oder der Leichentheile wird zu-
erst ein Gemisch von Carbolsäure, Spiritus, Glycerin und Wasser
gespritzt. Ich nehme 1 Pfund Carbolsäure, 1 Pfund Spiritus,
1 Pfund Glycerin und 17 Pfund Wasser; zur Injection einer
ganzen unversehrten Leiche gebrauche ich bis 15 Pfund der
Mischung, zur Injection einer Leiche, deren Eingeweide entfernt
sind, 10 Pfund, zur Injection einzelner Theile entsprechend
weniger Flüssigkeit. Die so injicirte Leiche lasse ich 24 Stun-
den in gewöhnlicher Zimmertemperatur und dann injieire ich
in gewöhnlicher Weise die übliche Wachsmischung (Wachs,
Talg, Oel und Terpenthin, gefärbt durch Zinnober). Ich achte
dabei insbesondere darauf, dass die Mischung recht heiss und
Hüssig ist, und die Injection möglichst schnell ausgeführt wird. °
Die Injection gelingt sehr leicht, und man erhält für den
Präparirsaal völlig ausreichende Resultate: es füllen sich sehr
kleine Hautäste und die kleinen Arterien der Finger und der
Zehen. Ich erkläre mir das leichte Zustandekommen der In-
jeetion dadurch, dass die vorausgeschickte Carbolsäurelösung
die Arterien dilatirt und daher für die nachfolgende Wachs-
mischung leichter durchgängig macht. Dass man dazu aus-
schliesslich Carbolsäure und zwar in dem oben angegebenen
Verhältniss gebrauchen muss, ist keineswegs meine Ansicht.
Jede beliebige Flüssigkeit wird dieselbe Aufgabe erfüllen. Ich
benutze seit Jahren die Carbolsäure in der angezeigten Lösung,
um die Leichen vor zu schneller Fäulniss zu bewahren, nach
mancherlei Experimenten bin ich bei jenem oben angegebenen
Verhältniss stehen geblieben. Es liessen sich gewiss auch an-
dere fäulnisswidrige Stoffe in ähnlicher Weise benutzen. (Sali-
cylsäure, Thymolsäure.)
Da die hiermit beschriebene Methode der Injection einer
erwärmten Wachsmischung ohne vorhergehende Erwärmung der
Leichen gar keine Schwierigkeiten macht, so empfehle ich sie
allen Fachgenossen zur Nachahmung.
Dorpat, den 17. bis 29. October 1876.
Druck von Gebr. Unger (Th. Grimm) in Berlin, Schönebeı
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